Der Faktor Kinesis: Zum philosophischen Bewegungskonzept des Thukydides [1 ed.] 9783666363948, 9783525363942

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Der Faktor Kinesis: Zum philosophischen Bewegungskonzept des Thukydides [1 ed.]
 9783666363948, 9783525363942

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Robert Müller

Der Faktor Kinesis Zum philosophischen Bewegungskonzept des Thukydides

THOUKYDIDEIA Studies in Thucydides

Herausgegeben von Ernst Baltrusch, Edith Foster, Neville Morley, Clifford Orwin, Oliver Schelske, Christian Wendt

Band 2

Vandenhoeck & Ruprecht

Robert Müller

Der Faktor Kinesis Zum philosophischen Bewegungskonzept des Thukydides

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e. V. Überarbeitete Fassung der Dissertation »Bewegung und Wandel als philosophische Erklärungsansätze im 6. und 5. Jh. v. Chr.«, angenommen 2019 am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Läufer, Bronzeskulptur von Ludwig Habich, Neue Aula Tübingen. Photo by Jasmin Sessler on Unsplash Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-5537 ISBN 978-3-666-36394-8

Inhalt

Häufig verwendete Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Zur Bedeutung der κίνησις bei Thukydides: Problemstellung, Methode und Zielsetzung der Untersuchung . . . . 13 2. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Bedeutung und Kontext des Kinesis-Begriffes im Proömium (I, 1, 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.2 Die Theorie der κίνησις: Bewegung und Ruhe als Darstellungsmotive bei Thukydides . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3. Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 55 3.1 Das »Sein« des Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.1.1 Die Attribute des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.1.2 Die Konnotation der κίνησις im Text . . . . . . . . . . . . . . 70 3.1.3 Das Attribut »unbeweglich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.1.4 Das »Cornford-Fragment« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.2 Die vier Elemente des Empedokles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.2.1 Ruhe und Bewegung im System des Empedokles . . . . . . . 85 3.2.2. Zur Charakteristik der κίνησις bei Empedokles . . . . . . . . 93 3.2.3 Wahrheit durch Unbeweglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.2.4 Göttlichkeit, ἀνάγκη und Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.3 Der Nous des Anaxagoras . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die Philosophie des Anaxagoras . . . . . . . . 3.3.2 Zum Verhältnis von κίνησις und περιχώρησις 3.3.3 Der Nous und die κίνησις . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . 105 . . . . . . . . . 105 . . . . . . . . 108 . . . . . . . . . 114

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Inhalt

3.4 Bewegung als Hauptproblem: zur Betrachtung weiterer vorsokratischer Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3.4.1 Die Ionier: Anaximander und Anaximenes . . . . . . . . . . 127 3.4.2 Die Gottesbeschreibung des Xenophanes . . . . . . . . . . . 138 3.4.3 Alles im Fluss? – Heraklit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3.4.4 Die Atomisten – Leukipp und Demokrit . . . . . . . . . . . . 153 3.4.5 Die Eleaten: Melissos und Zenon . . . . . . . . . . . . . . . . 168 4. Die κίνησις bei Thukydides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4.1 Die größte Bewegung I, 1, 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4.2 »Wie sie gegeneinander Krieg führten« – Athen und Sparta in der κίνησις . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 4.2.1 Die Dichotomie von Ruhe und Bewegung: die Tagsatzung in Sparta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 4.2.2 Die Entdeckung der Langsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 200 4.2.3 Der »bewegte Beweger«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 4.3 Die κίνησις jenseits von Athen und Sparta . . . . . . . . . . . . . . 241 4.3.1 Die Oligarchen auf Kerkyra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 4.3.2 Das gesamte Griechentum in Bewegung . . . . . . . . . . . . 248 4.3.3 Die Debatte in Syrakus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 4.4 Athenische Spartaner, spartanische Athener – Individuen in der κίνησις . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 4.4.1 Perikles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 4.4.2 Nikias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 4.4.3 Alkibiades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 4.4.4 Kleon und Brasidas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 4.5 Götterdämmerung – Glaube, Recht und κίνησις . . . . . . . . . . 344 4.5.1 Das Erdbeben auf Delos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 4.5.2 κίνησις als Sakrileg und Gesetzesverstoß . . . . . . . . . . . . 353 4.6 Die größte Unkontrollierbarkeit? – Zur Bedeutung der μεγίστη κίνησις des Proömiums . . . . . . . . 357 5. Die κίνησις bei Thukydides und den Vorsokratikern . . . . . . . . . . 365 6. κίνησις als historischer Faktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

Inhalt

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7. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 7.1 Textausgaben und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 7.2 Monographien, Aufsätze und Nachschlagewerke . . . . . . . . . . 393 7.3 Internetseiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 8. Index locorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Fragmente der Vorsokratiker (nach Diels-Kranz) . . . . . . . . . . . . . 407 Thukydides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 9. Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

Häufig verwendete Abkürzungen

AF I / II Classen-Steup Gomme Hornblower KRS Steup

Allen, R. E. / Furley, D. J. (edd.), Studies in Presocratic Philosophy – Vol. I. The Beginning of Philosophy, London 1970 – Vol. II. The Eleatics and the Pluralists, London 1975 Classen, J., Thukydides I–VIII. Erklärt v. Classen, J., bearbeitet v. Steup, J., Berlin 41897/51914/31892/31900/31912/31905/31908/21885 Gomme, A. W. / Andrewes, A. / Dover, K. J., A Historical Commentary on Thucydides I–V, Oxford 1945–1981 Hornblower, S., A Commentary on Thucydides Vol. I–III, Oxford 1991–2008 Kirk, G. S. / Raven, J. E. / Schofield, M., The Presocratic Philosophers, Cambridge 1983 Steup, J., Quaestiones Thucydideae, Diss. Bonn 1868

Danksagung

Mein größter Dank gebührt meinem Lehrer, Christian Wendt, ohne dessen Inspiration, Förder- und Forderung, sowie ununterbrochene Unterstützung dieses Buch nicht geschrieben worden wäre. An zweiter Stelle sind all meine Eltern zu erwähnen, die bei allem, was ich bisher getan habe, vorbehaltlos unterstützten und auf die ich mich immer verlassen konnte. Großer Dank geht an die Menschen, durch deren Fragen, Kritik, Anregungen und Beiträgen dieses Buch an Tiefe und Struktur gewonnen hat: Hans Kopp, ­Florian Sittig, Melanie Möller, Norbert Blößner, Bernd Roling und vor allem Ernst Baltrusch, der schon zu Beginn meines Studiums mein Interesse an der Alten Geschichte zu wecken wusste. Für die persönliche und fachliche Weiterentwicklung sowie die anregenden Gespräche danke ich Stefan Jörg, Vera Franke, Petra Seipolt, Karina H ­ ofmann, Wolfgang Rafelt und dem gesamten Kollegium des Lessing-Gymnasiums Kamenz. Meiner gesamten Familie und meinen Freunden sei an dieser Stelle ebenfalls gedankt, haben sie doch durch ihre Inspiration und Begleitung die Gedanken mitgeformt, die diesem Buch zugrunde liegen. Besonders erwähnt sei hier Merten Lips, mit dessen Hilfe ich trotz einiger Rückschläge meinen Humor nie verloren habe. Zum Schluss möchte ich mich bei Birte Ehrich bedanken, die mich selbst dann zu motivieren weiß, wenn ich längst abgewunken habe. Ohne sie alle wäre dieses Buch nicht entstanden – daher ist es ihnen gewidmet. Berlin, 31.06.2021

1. Zur Bedeutung der κίνησις bei Thukydides: Problemstellung, Methode und Zielsetzung der Untersuchung

Beschäftigt man sich mit der Geschichte des antiken Griechenlands kommt man an Thukydides’ »Geschichte des Peloponnesischen Krieges« kaum vorbei. Gleich zu Beginn dieser äußerst bedeutenden historiographischen Quelle zur griechischen Antike verwendet der Autor den Begriff »κίνησις« und verbindet so sein Werk über den Krieg zwischen den damals größten Mächten des antiken Griechenlands mit der Vorstellung einer κίνησις. Die vorliegende Arbeit soll der Frage nachgehen, inwiefern eine breite Untersuchung des Bedeutungsspektrums dieses Begriffes dabei helfen kann, die Forschung des Thukydides an seinem Betrachtungsgegenstand, dem Krieg zwischen Athen und Sparta, und dessen Interpretation durch den Autor besser und tiefgründiger zu verstehen.1 Dies ist unabdingbare Voraussetzung, um die Struktur und die Intention des Werkes, welches bis heute nicht nur in den Altertumswissenschaften, sondern in vielen weiteren gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen zentraler Forschungsgegenstand ist,2 in seiner Vielschichtigkeit zu durchdringen. Denn trotz einer unüberschaubaren Masse an Publikationen ist eine umfangreiche Erläuterung der Bedeutung des Postulats der μεγίστη κίνησις im Proömium des Werkes weiterhin ein Desiderat der Forschung. Dementsprechend ist bisher auch die Möglichkeit einer Werkkonzeption, die mit diesem Begriff beschrieben wird, lediglich in Ansätzen untersucht. Eine eingehende Beschäftigung mit vorliegenden Arbeiten zeigt, dass der Kinesis-Begriff3 hauptsächlich mit sich selbst erklärt und mit Bei1 Einen wichtigen Impuls für eine solche Untersuchung gab das Postulat Martin Heideggers: »In der κίνησις und deren Interpretation gründet die Möglichkeit, das, was die Griechen an Forschung geleistet haben, von Grund aus zu verstehen.« in Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie (Martin Heidegger Gesamtausgabe, II . Abteilung: Vorlesungen 1919–1944, Bd. 18), hrsg. von M. Michalski, Frankfurt a. M. 2002, S. 327 (im Folgenden als GA 18 angegeben). 2 Vgl. z. B. die verschiedenen Beiträge in E. Baltrusch / C. Wendt (Hgg.), Ein Besitz für immer? Geschichte, Politik und Völkerrecht bei Thukydides, Baden-Baden 2011. 3 Ich verstehe unter diesem Terminus generell alle grammatischen Formen von κίνησις und κινεῖν.

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Problemstellung, Methode und Zielsetzung der Untersuchung

spielen aus dem Text illustriert wurde, sodass man »Bewegung« mit »Bewegung« erklärt hat.4 Der Bezug auf die κίνησις ist aber, wie ein Blick auf andere Texte, die vor oder während Thukydides’ Lebenszeit entstanden sind, zeigt, kein Alleinstellungsmerkmal dieses Autors, sondern kommt vor allem in den Fragmenten der Vorsokratiker5 in einer Zentralität vor, die eine vergleichende Untersuchung von Funktion und Bedeutung des Begriffs sowohl bei Thukydides als auch bei den Vorsokratikern als einen vielversprechenden Interpretationsansatz erscheinen lässt. Die vorliegende Arbeit will diesen Umstand nutzen und versucht, das Verständnis des Kinesis-Begriffs bei Thukydides über die Betrachtung der intellektuellen Auseinandersetzung mit κίνησις in den Texten der Naturphilosophen möglich zu machen. Durch einen solchen Ansatz soll durch die Erweiterung der Textgrundlage ein vertieftes Verständnis der Assoziationen erreicht werden, die die Autoren des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. mit dem Begriff κίνησις verbanden. Dafür werden zentrale Texte der vorsokratischen Philosophie bezüglich ihrer Verwendung des Begriffs untersucht und aus dieser Verwendung eine Begriffscharakteristik entwickelt. Dies wird die bisher hauptsächlich textimmanente Untersuchung der Bedeutung des Kinesis-Begriffs bei Thukydides erweitern, um durch den Vergleich die Möglichkeit einer gemeinsamen Idee von κίνησις6 in der intellektuellen Auseinandersetzung im Griechenland des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. zu untersuchen. Es wird dabei vorausgesetzt, dass sich mit dem Bezug auf die μεγίστη κίνησις im Proömium des Thukydides auch die Möglichkeit der Verarbeitung eines philosophischen Konzeptes im Werk verbindet, welches sich an den Vorstellungen 4 Vgl. dazu unten Kap. 2.1. 5 Ich bin mir der Problematik des Begriffes bewusst, habe mich jedoch der Einfachheit halber und aufgrund seiner Etablierung für die bei H. Diels in den »Fragmenten der Vorsokratiker« gesammelten Autoren für seine Verwendung entschieden, ohne dabei jedoch das Interesse dieser Autoren an »sokratischen« Themen wie Ethik, Psychologie, etc. marginalisieren zu wollen und bin mir der Unmöglichkeit, feste inhaltliche oder zeitliche Zäsuren zwischen den unter dem Begriff »Vorsokratiker« subsumierten Autoren und Platon, bzw. Sokrates, zu ziehen, bewusst. Zur Problematik der Terminologie »Vorsokratik« vgl. A. A.  Long, Das Anliegen der frühen griechischen Philosophie. In: Ders. (Hg.). Handbuch frühe griechische Philosophie. Von Thales zu den Sophisten, Stuttgart / Weimar 2001, S. 5–9; P. Curd, New Work on the Presocratics (JHPh 49, No. 1 (2011)), S. 29–30; P. Curd / D. W.Graham, Introduction. In: Dies. (edd.), The Oxford Handbook of Presoscratic Philosophy, Oxford 2008, S. 4. Ich verwende entsprechend auch die Begriffe »Natur­philosoph« und »Naturphilosophie« in gleicher Weise. Die in der Arbeit verwendeten griechischen Texte entstammen der 6. Auflage der von H. Diels und W. Kranz herausgegebenen Sammlung »Die Fragmente der Vorsokratiker«, Bd. I, Berlin 1951 und Bd. II, Berlin 1952. 6 Vgl. M. Hrezo, Thucydides, Plato and the Kinesis of Cities and Souls. In: L. S. Gustafson (ed.), Thucydides’ Theory of International Relations. A Lasting Possession, Baton Rouge 2000, S. 43.

Problemstellung, Methode und Zielsetzung der Untersuchung

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von κίνησις und ihrem Charakter orientiert, sodass der Kinesis-Begriff mehr darstellen kann als eine bloße Metapher.7 Ein Ausgangspunkt für diese Prämisse ist wiederum der Blick auf die Verwendung des Bewegungsbegriffes und des durch ihn ausgedrückten Prozesses in den Kosmologien der Vorsokratik, in denen die κίνησις als physikalischer Vorgang und nicht als bloße Metapher in die Erklärung der Welt integriert wird. Somit müssen für einen derartigen Vergleich die Konnotationen des Begriffs sowohl bei den Vorsokratikern als auch bei Thukydides einander gegenübergestellt werden. Finden sich bezüglich der Charakterisierung des Prozesses zentrale Übereinstimmungen, so kann dies als Ausgangspunkt dafür verwendet werden, auch bei Thukydides zu untersuchen, inwiefern dieser eine Erklärung der Welt mithilfe der κίνησις, wie es bereits bei den Vorsokratikern zu beobachten ist,8 seinen Lesern anbieten könnte. Dieser Ansatz kann aus der Idee heraus entwickelt werden, dass Thukydides’ Schilderung geprägt ist von einem »Leitgedanken«, der die vielfältigen historischen Ereignisse und Entwicklungen zu einer Einheit formt.9 Dabei ist die Freiheit des Autors, das historische Geschehen einerseits faktisch wiederzugeben, andererseits nach subjektiven Schwerpunkten anzuordnen und zu gestalten, ein Merkmal besonders antiker Geschichtsschreibung und erlaubt es uns, die Verarbeitung von Darstellungskonzeptionen unter der Berücksichtigung verschiedener Motive, wie eben der κίνησις, zu untersuchen, und ihre möglichen philosophischen Hintergründe zu betrachten, denn von einer »Verpflichtung« des Thukydides gegenüber dem modernen Verständnis von »wissenschaftlicher Objektivität« kann nicht a priori ausgegangen werden.10 Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Betrachtung der Textgestaltung des thukydideischen Werkes und ihr spezifisch begrifflicher Vergleich zur Verwendung des Kinesis-Begriffes bei den Vorsokratikern. Dadurch will sich die Arbeit einer möglichst umfassenden Rekonstruktion der Idee von κίνησις bei Thukydides annähern und diese Idee in ihrem zeitgenössischen Kontext veror7 Die philologisch-inhaltlichen Grundlagen für eine solche These werden unten in Kap. 4.1 erläutert. 8 Anschließend an F. Nietzsches Perspektive auf Thukydides: »Man muß ihn Zeile für Zeile umwenden und seine Hintergedanken so deutlich ablesen wie seine Worte: es gibt wenige so hintergedankenreiche Denker.« F. Nietzsche, Werke in drei Bänden II, München 1954, S. 1028. 9 Vgl. H.-P.  Stahl, Thukydides. Die Stellung des Menschen im geschichtlichen Prozess, München 1966, S. 126. 10 Vgl. H. Strasburger, Thukydides und die politische Selbstdarstellung der Athener (Hermes 86 (1958)), S. 32; Ders., Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung, Wiesbaden 1966, S. 73–74; A.  Tsakmakis, Thukydides über die Vergangenheit, Tübingen 1995, S. 14; K.  Vössing, Objektivität oder Subjektivität, Sinn oder Überlegung? Zu Thukydides γνώμη im »Methodenkapitel« (1, 22, 1) (Historia 54 (2005)), S. 210–215; H. Kopp, Das Meer als Versprechen. Bedeutung und Funktion von Seeherrschaft bei Thukydides, Göttingen 2017, S. 12–13.

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Problemstellung, Methode und Zielsetzung der Untersuchung

ten. Sie orientiert sich dabei an einem Verständnis von Ideengeschichte, welches vor allem durch Q. Skinner vertreten wird: »klassische« Texte werden nicht ausschließlich aus sich selbst heraus erklärt, sondern im geistigen Kontext der Diskurse ihrer Zeit betrachtet, um so die Valenz und den Umfang ihres Beitrages zu diesen Debatten und Diskursen einschätzen und sie überhaupt auch als solche verstehen zu können.11 Da eine solche Methodik aber vor allem auf der Analyse intertextueller Beziehungen beruht, welche in antiken Texten in angemessenem Umfang kaum bestimmt werden können,12 muss sie hier in dem Sinne modifiziert werden, als dass Thukydides in sein intellektuelles Milieu »eingebettet« werden soll,13 wobei zwar explizite Bezüge zu anderen Texten fehlen, die Fokussierung auf den spezifischen Kinesis-Begriff aber eine angemessene Grundlage bietet, um von dort aus etwaige Berührungspunkte sowie Thukydides’ eigenen Umgang mit und seine Idee von κίνησις zu untersuchen. Bewusst wird dabei auf eine ausführliche Betrachtung der sicherlich vielversprechenden, im Umfang der Arbeit aber kaum zu bewältigenden Diskussion zur κίνησις bei Platon und Aristoteles verzichtet. Gelegentlich wird aber auf zentrale Überschneidungen, Entsprechungen und Weiterentwicklungen in diesen Texten auch im Rahmen ihrer modernen Interpretationen im Laufe der Untersuchung verwiesen. Für die Untersuchung der Frage, ob und inwiefern Parallelen zwischen Thukydides und den Vorsokratikern bezüglich ihrer Vorstellungen von κίνησις und der Verarbeitung des Prozesses in ihren Werken besteht, ist es erst einmal unerheblich, wann genau Thukydides welchen Teil seines Werkes geschrieben hat. Die »thukydideische Frage« wird daher in den folgenden Ausführungen nicht diskutiert werden. Umgekehrt aber eröffnen möglicherweise die Ergebnisse der Arbeit neue Perspektiven auf diese zentrale Forschungsfrage – z. B. dann, wenn sich eine kohärente Darstellungskonzeption, die auf den Vorstellungen von κίνησις basiert, bei Thukydides plausibel machen lässt. Diese Aspekte sollen jedoch im Rahmen dieser Untersuchung lediglich aufgezeigt, nicht jedoch weiterverfolgt werden.14 11 Vgl. Q. Skinner, Is it Still Possible to Interpret Texts? (IJP 89 (2008)), S. 652. 12 Vgl. Kopp, Seeherrschaft, S. 38. 13 Zur Diskussion der Frage, inwieweit eine solche Kontextualisierung für Thukydides gewinnbringend angewendet werden kann, vgl. E. Greenwood, Thucydides and the Shaping of History, London 2006, S. 3; grundlegende methodische Überlegungen bei N.  Morley, Contextualism and Universalism in Thucydidean Thought. In: C. Thauer / C. Wendt (edd.), Thucydides and Political Order. Concepts of Order and the History of the Peloponnesian War, New York 2016, S. 23–40. 14 Vgl. für einen Überblick A. Rengakos, Thukydides. In: B. Zimmermann (Hg.), Handbuch der griechischen Literatur der Antike I: Die Literatur der archaischen und klassischen Zeit, München 2011, S. 382–387. Generell orientiert sich die Untersuchung an der heutzutage dominierenden »unitarischen« Position und geht von einer einheitlichen Geschichtsauffassung und eines damit verbundenen einheitlichen Geschichtsverständnisses des Autors, sowie der hauptsächlichen Abfassung nach 404 aus, vgl. ebd. S. 385. Für die Be-

Problemstellung, Methode und Zielsetzung der Untersuchung

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Entsprechend dem Ansatz historischer Kontextualisierung konzentriert sich die Arbeit auf die Untersuchung von Begriffsverwendungen in vorsokratischen Texten, die allgemein als »authentisch« gelten, wobei absolute Gewissheit über solche Authentizität aufgrund der lückenhaften Überlieferungslage unmöglich ist.15 Die Betrachtung soll aber bisweilen unter Berücksichtigung der spezifischen Quellenlage auch über diese Stellen hinausgehen. Dabei muss immer wieder dargelegt werden, inwieweit die Rekonstruktion der ursprünglichen Idee von κίνησις bzw. Bewegung im Text anhand dieser Stellen gelingen und dann mit bereits erworbenen Erkenntnissen verknüpft werden kann. Dadurch soll ein möglichst umfassendes Bild des vorsokratischen Denkens über κίνησις gezeichnet werden, welches schließlich als Vergleichsfolie für den thukydideischen Text fungiert. Aus dieser Methodik heraus ergibt sich schließlich die Struktur der vorliegenden Arbeit: nachdem im Anschluss die Erkenntnisziele, Potentiale, aber auch Grenzen der Untersuchung dargestellt werden, soll der bisherige Stand der Forschung erläutert werden. Darauffolgend werden die vorsokratischen Texte untersucht, deren Anordnung nicht streng chronologisch aufgebaut ist, sondern sich nach Umfang der überlieferten authentischen Textmenge und der erkennbaren Zentralität des Kinesis-Begriffes richtet. So stehen Parmenides, Empedokles und Anaxagoras an erster Stelle, da bei diesen Autoren der Kontext der Begriffsverwendung in größerem Umfang erhalten ist. Im Anschluss werden die Texte anderer Vorsokratiker eingehender betrachtet, bei denen der Kinesis-Begriff entweder gar nicht, nur indirekt oder sein Kontext nur in geringem Umfang überliefert ist. Dies soll einerseits die Charakteristik von Bewegungsprozessen allgemein deutlich machen und andererseits die sprachliche Konnotation des Begriffes möglichst umfassend darstellen, sodass am Ende der Betrachtung der vorsokratischen Texte ein umfassendes Panorama des Denkens über die Bewegung im Allgemeinen und des Kinesis-Begriffes im Speziellen in der vorsokratischen Philosophie vorliegt, auf das sich im Laufe der Untersuchung des thukydideischen Textes immer wieder bezogen werden kann. Die Auswahl der Autoren erhebt dabei keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit, sondern orientiert sich hauptsächlich an der Zentralität des Kinesis-Begriffes im jeweiligen philosophideutung der Ergbnisse der Arbeit für diese »unitarische« Position vgl. unten S. 379. Eine weiterführende Studie zu dieser Frage soll im Anschluss an dieses Buch vorgenommen werden. 15 Zu den Quellen vgl. Curd, Presocratics, S. 1; D. T. Runia, The Sources for Presocratic Philosophy. In: Curd / Graham (edd.), Presocratic Philosophy, S. 27–54. Die Einteilung von H. Diels in Fragmente und Testimonien ist bis heute maßgeblich und dient daher auch hier als Grundlage der Bewertung der Authentizität der Quelle, vgl. Curd / Graham, Introduction, S. 16. Wo neuere Forschung Zweifel an der von Diels postulierten Authentizität eines hier betrachteten Textstücks hervorgerufen hat, wird dies in die Betrachtung aufgenommen und diskutiert werden.

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schen System. Entscheidend ist im hier vertretenen Ansatz, dass auf Grundlage der vorsokratischen Texte eine plausible Rekonstruktion der Konnotation des Kinesis-Begriffes vorgelegt werden kann. Nach Abschluss dieses Untersuchungsabschnitts erfolgt die Betrachtung zentraler Stellen der Verwendung des KinesisBegriffes im thukydideischen Werk und ihre Einordnung in den Gesamtkontext. Entgegen der ursprünglichen Fassung der Promotion wird von einem textchronologischen Durchgang abgerückt und stattdessen eine Subsumierung der Stellen unter zentrale Darstellungsthemen des Textes vorgenommen. Dadurch kann die Möglichkeit aufgezeigt werden, dass die Verwendung des Kinesis-Begriffes im Werk durchaus auf eine kohärente Vorstellung hinweist, die Thukydides mit dem Begriff selbst verbunden haben könnte und die er mit den Vorsokratikern gemeinsam hatte. Durch diese aufzeigbare Kohärenz ist die letztendliche Einbettung des Thukydides in das intellektuelle Milieu der Vorsokratiker unter dem übergeordneten Thema der Vorstellung von κίνησις möglich. Die Rekonstruktion dieser Vorstellung durch die Betrachtung der Begriffsverwendung im Werk und der Verarbeitung von Bewegungsvorstellungen darüber hinaus soll schließlich wieder zum Ausgangsort der Untersuchung führen, zu Thukydides’ berühmten Satz im Proömium: »Denn dies war die größte Bewegung (κίνησις γὰρ αὕτη μεγίστη) für die Hellenen und einen Teil der Barbaren, ja sozusagen für einen größten Teil der Menschheit.«16 Von entscheidender Bedeutung ist die Beobachtung, dass die κίνησις im Proömium des thukydideischen Werkes mit dem Darstellungsgegenstand des Werkes, dem »Krieg der Peloponnesier und der Athener, wie sie ihn gegeneinander führten« (Thuk. I, 1, 1), kausal durch γάρ verbunden wird. Zu Beginn der Betrachtung des Thukydides-Textes wird näher erläutert, inwiefern das Verständnis dieser Stelle sowohl auf sprachlicher, als auch auf logisch-inhaltlicher Ebene bis heute problematisch ist: Weder ist es gelungen, eine zufriedenstellende Übersetzung für die Phrase μεγίστη κίνησις vorzulegen, noch konnte der kausale Zusammenhang umfassend erläutert werden. Diese Verknüpfung aber erlaubt es uns nicht nur, nach ihrem ideengeschichtlichen Hintergrund zu fragen, sondern sie verlangt es geradezu. Das Auftreten des Begriffes gleich zu Beginn, in solch zentraler Position, rechtfertigt bereits den Versuch, seinen Stellenwert im Werk insgesamt zu analysieren, um somit seine Beziehung zur »Leitidee«,17 der Darstellung des Ablaufs eines spezifischen Krieges,

16 Thuk. I, 1, 2. Als Textgrundlage dient in der vorliegenden Arbeit die Ausgabe von H. S. Jones und J. E. Powell, Thucydidis Historiae I–II, Oxford ²1942. Die Übersetzungen stammen, sofern nicht anders angegeben, vom Verfasser. 17 Vgl. H. Leppin, Thukydides und die Verfassung der Polis. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte des 5. Jahrhunderts v. Chr., Berlin 1999, S. 15; E.  Baltrusch, »Der passendste aller Feinde?« Sparta bei Thukydides. In: Ders. / Wendt (Hgg.), Thukydides, S. 149; Kopp, Seeherrschaft, S. 41.

Problemstellung, Methode und Zielsetzung der Untersuchung

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klarer darlegen zu können als bisher, denn noch immer kann die μεγίστη κίνησις nur durch Behelfskonstruktionen mit der Darstellung des Krieges verbunden werden. Im folgenden Überblick zum Forschungsstand wird dabei sichtbar, dass Übersetzungen wie »Bewegung« und »Erschütterung« und das in ihnen transportierte Bild des Krieges keine umfassende Erläuterung des Stellensinns bieten können, sodass eine ideengeschichtliche Untersuchung des Kinesis-Begriffes allgemein nicht nur für die Übersetzung, sondern auch für das Verständnis der Werkkonzeption ein Desiderat ist, welches durch die vorliegende Arbeit zumindest im Ansatz bearbeitet werden soll. Durch die Gesamtbetrachtung der im Werk verarbeiteten Vorstellungen von κίνησις, rekonstruiert durch eine Analyse der Kontexte des Begriffs, wird es möglich, besser zu verstehen, was Thukydides ausdrücken möchte, wenn er die von ihm beschriebenen Vorgänge und Prozesse als μεγίστη κίνησις bezeichnet. Die Beziehung von Krieg und κίνησις ist schließlich, aufgrund der auffälligen Seltenheit direkter »Botschaften« des Autors oder seiner eigenen Ansichten im Text,18 nur über die Betrachtung der Erzählung selbst zugänglich, über die Thukydides die Aspekte verdeutlicht, die er dem Leser mitteilen möchte.19 Thukydides’ Idee der κίνησις und sein Umgang mit ihr müssen also aus dem Textzusammenhang erschlossen werden, sodass sich die Betrachtung nicht nur auf den bloßen Verwendungskontext des Begriffes beschränken kann, sondern darüber hinausgehen muss. Eine für Thukydides notwendige Erschließung der Textaussage20 kann somit hier über die Wechselwirkung zwischen den philosophischen Texten und der historiographischen Quelle erreicht werden: die Vorsokratiker können die Grundlage für die Texterschließung des Thukydides bieten, diese Texterschließung wiederum Grundlage für die Rekonstruktion des philosophischen Prinzips der κίνησις allgemein. Abschließend sollen die Ergebnisse zusammengefasst und ihre Bedeutung für die Beantwortung der im Laufe der Arbeit entwickelten Fragen, sowie für die Forschung zu Thukydides generell, zentral hier vor allem zur Konzeption der Charakterdarstellungen im Werk und der Frage der Rationalität der Darstellung, erläutert werden. Dabei wird vor allem untersucht, inwieweit sich die Charakterisierung des Kinesis-Begriffes von der verwandter Begriffe im Werk wie μεταβολή oder von bereits umfassender untersuchten Themen wie der τύχη21 oder der ἀνάγκη22 unterscheiden lässt, um anschließend herauszuarbei18 Vgl. W. R. Connor, Thucydides. In: T. J. Luce (ed.), Ancient Writers. Greece and Rome I: Homer to Caesar, New York 1982, S. 287–289. 19 Vgl. Kopp, Seeherrschaft, S. 42. 20 Vgl. Baltrusch, Sparta, S. 149. 21 So bei Stahl, Thukydides; Ders., Literarisches Detail und Historischer Krisenpunkt im Geschichtswerk des Thukydides: Die Sizilische Expedition (RhM 145, No. 1 (2002)), S. 68–107; T. Rood, Thucydides. Narrative and Explanation, Oxford 1998, S. 27. 22 Vgl. dazu M. Ostwald, ΑΝΑΓΚΗ in Thucydides, Atlanta 1988.

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ten, wie sich die Konnotation des Begriffes und seine Verwendung zu anderen Darstellungsmotiven verhalten. Mit der gewählten Methode einher geht eine Verlagerung der Untersuchungsperspektive: Der Text wird nicht ausschließlich als historische Quelle genutzt, sondern im Mittelpunkt stehen seine Gestaltungs- und Darstellungsprinzipien, denen für die historiographische Aussageabsicht eine ungemeine Zentralität zukommt,23 denn »vieles wird nicht gesagt, sondern durch die kunstvolle literarische Gestaltung implizit gezeigt«, wie J. Grethlein u. a. festgestellt haben, sodass die literarische Darstellungskonzeption der Geschichtsschreibung selbst dient.24 Damit muss der Interpret mit dem Text in einen Dialog treten, um die Methoden und Mittel der impliziten Sinngebung durch die literarische Gestaltung des Textes zu erfassen,25 sodass deutlich wird, wie wichtig eine solche, primär philologisch-literarische Untersuchung, auch für das historiographische Verständnis des Textes ist,26 zumal wenn eine solche auch den ideengeschichtlichen Kontext zu erfassen sucht.27 Damit liegt Thukydides’ Quellenwert in der vorliegenden Untersuchung nicht mehr in der Beschreibung des Peloponnesischen Krieges allein, sondern in seiner Art der literarischen Gestaltung dieses historischen Geschehens. So bleibt die Frage nach der historischen Korrektheit seiner Darstellung und deren Bewertung außen vor: Ob Nikias, Brasidas oder Alkibiades wirklich von der Art waren, wie sie Thukydides beschreibt, bleibt in diesem Kontext genauso unberücksichtigt wie die Untersuchung, inwiefern das Geschehen wirklich eine »Bewegung« dargestellt haben mag, denn allein der Umstand, dass Thukydides es mit diesem Begriff verbindet und die Frage, was er sich darunter vorstellen könnte, sind von zentralem Interesse. Der Vergleich des Thukydides mit den Texten der vorsokratischen Philosophie, angeregt durch die gemeinsame Verwendung an zentralen Stellen, kann darüber hinaus als Ausgangspunkt für nachfolgende Untersuchungen zur Vernetzung des intellektuellen Denkens in der antiken Welt dienen und einen Hinweis auf die Existenz themenspezifischer Diskurse liefern, die die Grenzen klassisch-moderner Genre-Einteilungen überschreiten. Obwohl der Einfluss zeitgenössischer Gedanken auf Thukydides und seine Auseinandersetzung mit 23 Vgl. Kopp, Seeherrschaft, S. 42. 24 Vgl. J. Grethlein, Gefahren des λόγος. Thukydides »Historien« und die Grabrede des Perikles (Klio 87 (2005)), S. 70. 25 Zur Diskussion der Möglichkeit der Konstruktion einer textuellen »Doppelbödigkeit« vgl. Kopp, Seeherrschaft, S. 44. 26 Vgl. ebd., v. a. zur »Gefahr« der »Überinterpretation« in diesem Kontext. 27 Der Ansatz von W. Schmitz, Antike Demokratie und Atomistik. Politische Ordnungsvorstellungen im Spiegel antiker Kosmologien, Stuttgart 2015, macht das geschichtswissenschaftliche Potential deutlich, welches einer solchen ideengeschichtlichen Betrachtung der Texte inhärent ist.

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ihnen, hier zu nennen vor allem Bezüge zu Homer, Herodot, der antiken Medizin, der Komödie und Tragödie, sowie zu den »Sophisten«,28 Hauptperspektiven der Forschung darstellen,29 sind Untersuchungen zu Thukydides und seiner möglichen Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern selten und beschränken sich vornehmlich auf Verbindungen zu einzelnen Naturphilosophen.30 Inwieweit aber sowohl zwischen den Vorsokratikern selbst,31 als auch zwischen ihnen und Thukydides Gemeinsamkeiten in der Verwendung und der Funktionalisierung des Kinesis-Begriffes und des durch ihn ausgedrückten Prozesses angenommen werden können, soll der hier unternommene Ansatz erweisen,32 wobei sich der Nutzen einer genaueren Begriffsklärung nicht nur für ein erweitertes Verständnis des thukydideischen Werkes, sondern auch für die vorsokratischen Texte zeigen wird. Der hier vorgelegte Ansatz hat damit auch experimentiellen Charakter. Es bietet sich an, die vorsokratischen Texte nicht nur als eine Art ergänzender Perspektiverweiterung zu betrachten, sondern sich auch der Frage zu widmen, inwiefern es Schnittpunkte zwischen dem Denken der Naturphilosophen und des Thukydides gegeben haben könnte, bzw. dieser das Denken der Natur­philosophen über die κίνησις übernommen und ggf. erweitert oder seiner Darstellungsabsicht angepasst haben mag. Aus diesen Überlegungen leitet sich schließlich die Grundfrage der vorliegenden Untersuchung ab, an der sich die gesamte Struktur orientiert: Welche Vor28 Exemplarisch sei hier auf die Artikel in Sektion IV, »Contexts and Ancient Reception of Thucididean Historiography« in R. Balot / S. Forsdyke / E . Foster (edd.), The Oxford Handbook of Thucydides, Oxford 2017, S. 551–620 verwiesen, die die genannten Themen abdecken. 29 Vgl. N. Marinatos, Thucydides and Religion, Königstein / Ts. 1981, S. 56; S. Hornblower, Thucydides, London 1987, S. 110–135; T. Rood, Thucydides and his Predecessors (Historia 2 (1998)), S. 230–267; R. Thomas, Thucydides and his Intellectual Milieu. In: Balot / ​ Forsdyke / Foster (edd.), Thucydides, S. 567–586; G. Parmeggiani, Thucydides on Aetiology and Methodology and some links with the Philosophy of Heraclitus (Mnemosyne 71 (2018)), S. 229–230. 30 So E. Hussey, Thucydidean History and Democritean Theory, in: P. A. Cartledge / F. D. Harvey (edd.), CRUX . Essays Presented to G. E.M. de Ste. Croix on His 75th Birthday, London 1985, S. 118–138; L. C.  DeVanthey, Democritean Philosophy and Thucydides’ History (Diss. Halifax 2003), S. 36–51; D.  Shanske, Thucydides and the Philosophical Origins of History, Cambridge 2007, S. 133–138 und Parmeggiani, Methodology für Thukydides und Heraklit; E. Golfin, Thucydide et Anaxagore ou une origine philosophique à la ­pensée de l’historien? (DHA 33/2 (2007)), S. 35–56. 31 Zum vorsokratischen Diskurs und der gegenseitigen Beeinflussung vgl. J. Warren, Preso­ cratics, Stocksfield 2007, S. 104; J. Palmer, Parmenides and Presocratic Philosophy, Oxford 2009, S. 189–345. 32 Parallelen in der Behandlung vergleichbarer Themen bei Thukydides und den griechischen Philosophen sind bereits bei mehreren Gelegenheiten aufgezeigt wurden, so bei E.  Voegelin, Order and History II . The World of the Polis, Lousiana 1957, S. 353–358; L. Strauss, The City and Man, Chicago / London 1964, S. 236.

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stellungen verbindet Thukydides im Werk mit dem Prozess der Bewegung33 und lassen sich Reflektionen dieser Vorstellungen in der Darstellungskonzeption wiederfinden? Dabei, so wird sich zeigen, berührt die Arbeit schließlich auch die Frage nach dem Grad der Rationalität, die sich uns in den hier untersuchten Texten anscheinend präsentiert, da sie konkret untersucht, ob und, wenn ja, inwiefern sich die moderne, physikalisch-naturwissenschaftliche Vorstellung von »Bewegung« von den rekonstruierten Konnotationen der κίνησις unterscheidet34 und sich damit der Frage der Darstellung eines menschlichen Verhältnisses zu übergeordneten Prinzipien im Werk des Thukydides widmet.35 Durch die Betrachtung der spezifischen Verwendungen des Kinesis-Begriffs bei den Vorsokratikern und bei Thukydides und die jeweilige Einordnung seiner Bedeutung und Funktion in den Gesamtkontext kann die Arbeit daher verschiedene Beiträge leisten: Zum einen kann die in die Untersuchung integrierte Gegenüberstellung der Vorsokratiker und des Thukydides die Grundlage für weiterführende Untersuchungen zur Beziehung des Thukydides zu seinem intellektuellen Milieu, vor allem der Naturphilosophie, bilden. Gleichzeitig kann dadurch die Frage nach dem Metapher-Charakter des Kinesis-Begriffs bei Thukydides vertieft werden, denn ein umfassenderes Verständnis der Terminologie ermöglicht die Untersuchung, ob für Thukydides die κίνησις lediglich einen »Hilfsbegriff« darstellt, der das historische Geschehen in unbestimmter Weise subsumieren soll, oder ob nicht der Begriff selbst bestimmte Aspekte dieses Geschehens aufgreifen und auf diese hinweisen könnte. Im Falle einer 33 Die Komplexität des Begriffs und seiner Konnotationen zeigt sich bereits in der Masse an Übersetzungen, die moderne Wörterbücher wie LSJ für κινεῖν und κίνησις bieten. Auch die differenzierte Auflistung der Verwendungskontexte bei J. Chadwick, Lexicographia Graeca. Contributions to the lexicography of Ancient Greek, Oxford 1996, S. 183–188 macht deutlich, dass eine angemessene Begriffsübersetzung in moderne Sprachen, die alle Konnotationen des antiken Begriffs einschließt, unmöglich zu leisten ist, sodass Übersetzungen wie »Erschütterung« und »Bewegung« nur Behelfskonstruktionen darstellen können. 34 Einen Aufriss des Problems bei Heidegger, GA 18, S. 293–295. 35 Dies kann vor allem der Diskussion über die »Fortschrittsgeschichte« vom »Mythos zum Logos« neue Impulse geben. Vgl. für eine Übersicht und Diskussion für die Vorsokratiker R. L. Fowler, Mythos and Logos ( JHS 131 (2011)), S. 45–66; A. Gregory, The Presocratics and the Supernatural. Magic, Philosophy and Science in Early Greece, London / New Dehli / New York 2013; anders G.  Vlastos, Theology and Philosophy in Early Greek Thought (PhilosQ 2, No. 7 (1952)), S. 97–123; P. Kingsley, Empedocles for a New Millenium (AnCphil 22 (2002)), S. 354–359. Zu Thukydides diesbezüglich vgl. v. a. F. M. Cornford, Thucydides Mythistoricus, London 1907, S. 249; P. R.  Pouncy, The Necessities of War. A Study of Thucydides’ Pessimism, New York 1980, S. 35; A. Schmid, Kinesis, Physis, Politik – »Anschauungsform« bei Thukydides (WJ 22 (1998)), S. 47–72; Stahl, Thukydides, S. 171; Ders., Literarisches Detail, S. 68–107, v. a. S. 101–102; M. Meier, »Die größte Erschütterung für die Griechen« – Krieg und Naturkatastrophen im Geschichtswerk des Thukydides (KLIO 87, No. 2 (2005)), S. 329–345.

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deutlichen Übereinstimmung der Vorstellung von κίνησις bei Thukydides und den Vorsokratikern ist auch ein »philosophischer« Umgang mit dem Prozess der κίνησις als Erklärung für das Geschehen möglich. Es wird zu sehen sein, dass die Naturphilosophen auf die κίνησις als Erklärungsfaktor in ihren Kosmogonien zurückgreifen. Ob, und wenn ja, inwiefern, dies bei Thukydides ebenfalls möglich sein könnte, gilt es zu untersuchen. Des Weiteren soll, auf diesem Vergleich aufbauend, die spezifische Verwendung bei Thukydides im Rahmen seiner Darstellung herausgearbeitet werden, um somit die Frage zu beantworten, wie Thukydides mit diesem Prozess umgeht, der sich bei den Naturphilosophen als »kosmische Kraft« erweisen wird, und wie er ihn in Verbindung mit der Betrachtung der menschlichen Natur, die für die Intention des Werkes, ein »Besitz für immer« zu sein,36 eine zentrale Rolle einnimmt, funktionalisiert. Darüber hinaus wird die begriffliche Untersuchung mit der Betrachtung einer Bewegungskonzeption verbunden werden, die von verschiedenen Interpreten im Werk analysiert worden ist. Die Arbeit versucht daher diesen Ansatz weiterzuentwickeln und ggf. zu modifizieren, indem sie eine umfassende Untersuchung der spezifischen Wortverwendung mit einer von mehreren Interpreten vertretenen möglichen Darstellungskonzeption, die sich an den »Prinzipien« von »Bewegung und Ruhe« im Werk orientiert,37 verbindet. Dabei muss keine Differenzierung zwischen wörtlichen und metaphorischen Verwendungen des Kinesis-Begriffes vorgenommen werden: In beiden Fällen kann seine Funktion bezüglich der Darstellungskonzeption gleichermaßen untersucht werden. Ist nun dargestellt, welche Erkenntnisziele die Arbeit verfolgt, welche Methoden sie verwendet und an welchen Interpretationsansätzen sie sich orientiert, soll im Folgenden noch deutlich gemacht werden, was von der Arbeit nicht erwartet werden sollte, um eventuelle Missverständnisse zu vermeiden. So kann es nicht Ziel der Arbeit sein, die Funktion der κίνησις als eines philosophischen Elements in den einzelnen Systemen der Vorsokratiker umfassend zu untersuchen und damit ausschließlich philosophische Fragestellungen zu behandeln, sodass die Entwicklung eigener philosophischer Erklärungen der konkreten systemischen Funktion von Bewegung hier vermieden werden wird. Nichtsdestotrotz werden solche modernen Interpretationen und Erklärungen angesprochen, jedoch ausschließlich mit dem Ziel, die interpretatorischen Schwierigkeiten bezüglich moderner Vorstellungen von Bewegungen, die sich nur schwer mit dem antiken 36 Thuk. I, 22, 4: »Wer aber klare Erkenntnis der Vergangenheit anstrebt und damit auch der Zukunft, die wieder einmal, gemäß der menschlichen Natur, sich so oder so ähnlich gestalten wird, der wird mein Werk nützlich finden und das genügt mir. Als ein Besitz für immer, nicht zum einmaligen Hören ist es aufgeschrieben.« 37 Vgl. dazu unten Kap. 2.2.

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Problemstellung, Methode und Zielsetzung der Untersuchung

Text vereinbaren lassen, aufzuzeigen, um somit ein Bewusstsein für die Problematik des Begriffsverständnisses zu schaffen. Die Untersuchung sieht darüber hinaus Thukydides’ Werk als eine eigenständige Verarbeitung von Ideen an, die aber wiederum durch den naturphilosophischen Diskurs geprägt sein können. Sie geht nicht a priori von einer vollständigen Übernahme bestimmter vorsokratischer Ideen oder Erklärungsprinzipien aus, sondern will der Frage nachgehen, inwieweit Thukydides’ Sicht auf das historische Geschehen vom vorsokratischen Diskurs über κίνησις geprägt und beeinflusst sein könnte, um gleichzeitig zu zeigen, worin der spezifische Beitrag des Thukydides zu diesem Diskurs gesehen werden kann. Wie bereits erwähnt, wird nur marginal auf die umfangreichen Diskussionen des 4. Jahrhunderts v. Chr. über Bewegung eingegangen werden können – eine funktionale Analyse der dort verhandelten Vorstellungen von κίνησις würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, nehmen sie doch ein ganz eigenes Forschungsfeld ein. Gleichzeitig bietet sich hier eine weiterführende Verknüpfungsmöglichkeit der Untersuchungsergebnisse an, die hoffentlich in Zukunft vorgenommen werden kann.

2. Stand der Forschung

Das Erkenntnisziel der Arbeit berührt durch die gewählte Methode einer detaillierten Begriffsuntersuchung zwei Forschungsbereiche, die bisher weitgehend separat voneinander behandelt wurden. Um die Bedeutung und die Anschlussfähigkeit der Untersuchung an die bisherige Forschung in vollem Umfang deutlich zu machen, ist die Darlegung des derzeitigen Standes beider Bereiche nötig. Es handelt sich dabei einerseits um die Forschung zur konkreten Bedeutung des Begriffs »κίνησις« im thukydideischen Werk, mit starker Fokussierung auf die Bedeutung der μεγίστη κίνησις des Proömiums, andererseits um die Forschung zur Verarbeitung einer Konzeption von κίνησις im Werk, wobei besonders der Gegensatz von Bewegung und Ruhe, bzw., aufgrund der Konzentration dieses Ansatzes im angelsächsischen Sprachraum, von »motion and rest«, einen Schwerpunkt bildet. Da beide Ansätze zwar für die vorliegende Arbeit entscheidend sind, bisher aber trotz vieler Berührungspunkte kaum explizit miteinander in Beziehung gesetzt wurden, werden sie auch hier erst einmal voneinander getrennt betrachtet. Darüber hinaus ist in der Forschung allgemein die Zentralität des KinesisBegriffes für das thukydideische Werk schon aufgrund seines exponierten Auftretens im zweiten Satz des Proömiums nie bestritten wurden, sodass sich beinah jede umfangreichere Publikation zum Werk in der ein oder anderen Form und in unterschiedlicher Intensität auf den Begriff bezieht.1

1 Aufgrund dessen muss hier eine Auswahl an Forschungspositionen getroffen werden, da nicht jede Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Begriffs und seiner Funktion im Werk berücksichtigt werden kann. Ich habe mich aufgrund der Zielsetzung und Methode der Arbeit daher weitgehend auf Beiträge beschränkt, die den Kinesis-Begriff und seine Bedeutung zentral bearbeiten. Als ein Beispiel sei hier aber auf Parmeggiani, Methodology, S. 236–237 verwiesen.

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Stand der Forschung

2.1 Bedeutung und Kontext des Kinesis-Begriffes im Proömium (I, 1, 2) Vor allem im deutschen Sprachraum lässt sich früh eine kritische Betrachtung der Begriffsbedeutung erkennen, die sich in erster Linie auf das Proömium im ersten Buch bezieht. So analysierte 1846 Franz Wolfgang Ullrich in seinem Buch »Die Entstehung des Thukydideischen Geschichtswerkes«2 die philologisch-inhaltlichen Beziehungen des Begriffs in Buch I, 1, 2, um der bis dahin unwidersprochenen Annahme, κίνησις sei als bloßer alternativer Ausdruck für den gesamten Peloponnesischen Krieg zu lesen, entgegenzutreten.3 Dabei ging es ihm jedoch weniger um eine neue, genauere Begriffsbestimmung als vielmehr um eine Neudefinition des zeitlichen Bezugs des Wortes auf den »archidamischen«, zehnjährigen Krieg, anstatt auf den gesamten siebenundzwanzigjährigen Krieg, wie bis dahin als selbstverständlich angenommen.4 Diese kritische Betrachtung des zweiten Satzes fand zwar noch in einer, wenn auch ausführlichen, Fußnote statt,5 stellte jedoch als erste die Selbstverständlichkeit der Gleichsetzung von κίνησις und Krieg in Frage und steht damit am Anfang einer umfassenderen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem problematischen Verständnis der κίνησις in Thukydides’ zweitem Satz. Außerdem verwies Ullrichs Gedankengang bereits auf mehrere philologische und textstrukturelle Probleme für das Verständnis des Satzes, derer er sich jedoch nicht genauer annahm, da sie das Hauptargument seiner Darstellung, die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Werkes, nur marginal betrafen.6 Die Erklärung des Kinesis-Begriffes erfolgte daher bei ihm bereits aus der Prämisse der phasenweisen Abfassung heraus und somit entfiel für ihn die Notwendigkeit einer weiteren Untersuchung. Während die Gleichsetzung der Bedeutung von Krieg und κίνησις weiterhin unhinterfragt blieb, machte seine Diskussion dagegen auf bis dahin unbeachtete Verständnisprobleme des Satzes aufmerksam. Die weitere Auseinandersetzung beschränkte sich jedoch weitgehend auf philologische Fragestellungen,7 ohne die 2 F. W. Ullrich, Die Entstehung des des Thukydideischen Geschichtswerkes, hrsg. und eingeleitet. v. H. Herter, Darmstadt 1968 (Teilabdruck der »Beiträge zur Erklärung des Thukydides«, Hamburg 1846). 3 Vgl. dazu J. Latacz, Die rätselhafte »große Bewegung«. Zum Eingang des Thukydideischen Geschichtswerks. In: Ders. / G. Neumann et al. (Hgg.), Festschrift für Hartmut Erbse zum 65. Geburtstag (WJ 6a (1980)), S. 77–78. 4 Latacz weist außerdem auf eine logische Inkongruenz im Werke Ullrichs hin, der im gleichen Atemzug wieder den gesamten Krieg als »Bewegung« mit Bezug auf I, 1, 2 bezeichnet, vgl. Latacz, Bewegung, S. 77–78. 5 Vgl. Ullrich, Entstehung, S. 103, Anm. 119. 6 Der Bezug des Kinesis-Begriffs nur auf den zehnjährigen Krieg sollte seine These einer phasenweisen Abfassung des Werkes stützen, vgl. Ullrich, Entstehung, S. 59–60. 7 So geht J. Steup, Quaestiones Thucydideae, Diss. Bonn 1868, S. 17–19 nur auf die Problematik ein, wie καὶ μέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων zu

Bedeutung und Kontext des Kinesis-Begriffes

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Problematik des gesamten Satzes in seiner Werkfunktion und der obskuren Bedeutung von κίνησις an dieser Stelle zu berühren: Die Gleichsetzung von Krieg und Bewegung wurde konsequent nicht in Frage gestellt. 1919 sollte durch Eduard Schwartz ein neuer Lösungsansatz vorgestellt werden, der jedoch nur geringe Überzeugungskraft entfalten konnte und die Problematik ausschließlich aus dem Kontext der »thukydideischen Frage« heraus betrachtete. Schwartz plädierte in seinem Buch »Das Geschichtswerk des Thukydides« für eine Deutung von κίνησις als Synonym für den Trojanischen Krieg, da sich der zweite Satz an den ersten nicht anschließen ließe, weder formal, noch logisch-inhaltlich, da er ein zweites Motiv für die Vorkriegserwartung seiner Bedeutung darstelle, welches sich aber erst im Laufe des Krieges entwickelt habe, sodass ein zeitlich-logischer Widerspruch entstünde.8 Daran anschließend setzt er die κίνησις mit dem für ihn einzig denkbaren Krieg in Verbindung, dem Trojanischen – eine Deutung, die nur wenige Befürworter fand, da sie auf komplizierten Verbindungen von Annahmen über die Verarbeitung des Materials nach Thukydides’ Tod beruhte, die von mehreren Lücken im Text und der Neuanordnung verschiedener Passagen ausgeht, einer »Retraktation« von Proömium, Archäologie und Methodenkapitel.9 Hier musste die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Abfassungsentschluss, Werkintention und damit verbundenem Kinesis-Begriff hinter den Streit um die »thukydideische Frage« zurücktreten. Schwartz’ Interpretation vermochte aber auch die Möglichkeiten aufzuzeigen, die in der genaueren Analyse des Kinesis-Satzes für die Forschung lagen.10 Im deutschsprachigen Raum stellte Wolfgang Schadewaldts Abhandlung »Die Geschichtsschreibung des Thukydides. Ein Versuch.« von 1929 einen nächsten Schritt dar.11 Dieser Schritt war von ihm jedoch unbewusst, wie J. Latacz 1980 feststellte,12 unternommen worden: Bei seinem Unterfangen, den von Schwartz analysierten »Bruch« zwischen erstem und zweiten Satz überbrücken zu wollen, rückte Schadewaldt von der engen Gleichsetzung von beschriebenem Krieg und dem Kinesis-Begriff ab und zog indirekt eine weiter gefasste Bedeutung für κίνησις in Erwägung, die über den bloßen Krieg hinausging: »Ja, diese »Bewegung« mag auch noch weiter gegriffen haben auf Völker, von denen er [Thuky­

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verstehen sei, wenn doch der Krieg ein ausschließlich »hellenischer« war und erklärt die Stelle zum Glossem. Classen und Stahl haben vor dem Beginn des Satzes eine Ellipse angenommen, um den inhaltlichen Bezug zum ἐλπίσας des ersten Satzes zu erklären (welcher als καὶ ὀρθῶς ἤλπισα verstanden wurde). Steup hat dies verworfen und einen rein gedanklichen Bezug hergestellt, vgl. Classen-Steup I, S. 3. Vgl. Ε. Schwartz, Das Geschichtswerk des Thukydides, Bonn 1919, S. 177–178. Vgl. Schwartz, Geschichtswerk, S. 175–179 und Latacz, Bewegung, S. 81. Vgl. ebd. W. Schadewaldt, Die Geschichtsschreibung des Thukydides. Ein Versuch, Berlin 1929. Vgl. Latacz, Bewegung, S. 83.

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Stand der Forschung

dides, Anm. d. A.] in der Darstellung nicht spricht, weil er nicht die Geschichte der »Bewegung«, sondern des Krieges schreibt.«13 Dieser Ansatz, die Interpretation des Begriffes als »definitorisches Äquivalent«14 in Frage zu stellen, wurde jedoch nicht weiter verfolgt, da er für das Erkenntnisinteresse Schadewaldts unerheblich war. 1936 griff Harald Patzer die Diskussion erneut auf, auch hier wieder primär aus einer Perspektive der Datierungsfrage heraus,15 und deutete den Kinesis-Begriff als den »vor allem [der] in jedem Krieg schwankende[n] augenblickliche[n] Gebietsbesitz beider gegnerischer Gruppen.«16 Diese Bedeutung von κίνησις wurde jedoch ohne weitere Argumentation im Anhang seiner Dissertation vorgestellt, um die Spätdatierung des Proömiums und der Archäologie zu rechtfertigen.17 Weiterhin wurde aber bereits ein Verständnis der essentiellen Erweiterung des Kinesis-Begriffs über den Krieg hinaus deutlich: »Von »dieser« κίνησις als der »bis dahin größten« (NB! ἐγένετο), der gegenüber alle früheren πόλεμοι καὶ τἆλλα (also hauptsächlich auch »Bewegungen«) nur gering erscheinen, kann daher erst nach 404 gesprochen sein.«18 Hier ist vor allem auf seine Nebenbemerkung hinzuweisen, in der er κίνησις als »πόλεμοι καὶ τἆλλα« versteht. Er geht hier bereits von einer vielfältigeren Bedeutung des Kinesis-Begriffes aus, über das bloße Äquivalent für den Krieg hinaus, auch wenn dies in seiner eigenen Begriffsbestimmung als »Gebietswechsel« keinen wirklichen Niederschlag findet, da diese ebenfalls direkt auf kriegerischen Handlungen und Prozessen beruht. Patzer selbst hat 1940 in einer Rezension der Dissertation von Fritz Bizer19 seine erste Erklärung zurückgenommen und stattdessen unter Hinweis auf die von Schwartz’ angesprochenen logischen Probleme, sowie die von Schadewaldt angedeutete Bedeutungserweiterung,20 die Übersetzungen »Erschütterung« und »innerpolitischer Aufruhr« für die Historiographie herausgearbeitet, wobei er im Hinblick auf Thukydides die κίνησις als »Erschütterung des gemeingriechischen Staatengefüges«21 verstand.22 Im gleichen Gedanken löste Patzer dann auch den Begriff der »größten Bewegung« von der rein zeitlichen Komponente, 13 Schadewaldt, Geschichtsschreibung, S. 52. 14 Latacz, Bewegung, S. 78. 15 Vgl. H. Patzer, Das Problem der Geschichtsschreibung des Thukydides und die thukydideische Frage, (Diss. Berlin 1936) Berlin 1937. 16 Ebd. S. 112. 17 Vgl. Latacz, Bewegung, S. 83. 18 Patzer, Problem, S. 112. 19 F. Bizer, Untersuchungen zur Archäologie des Thukydides (Diss. Tübingen 1937) Darmstadt ²1968. 20 Vgl. H. Patzer, Rezension von F. Bizer, Untersuchungen zur Archäologie des Thukydides, Diss. Tübingen 1937 (Gnomon 16, August 1940), S. 352 21 Ebd. 22 Vgl. auch Latacz, Bewegung, S. 84.

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unter der er bis dahin immer betrachtet worden war, und lenkte den Fokus auf die Intensität und Qualität des Prozesses selbst, wobei er ebenso auf einen weiteren, psychisch-emotionalen Aspekt der κίνησις hinwies, indem er sie auch als einen »Aufruhr der Geister« verstand, der schon während der Entwicklung zum Krieg hin erkennbar war.23 Aus der Funktionalisierung der problematischen Bedeutung des Kinesis-Begriffs im Rahmen der Datierung des Werkes war damit die Erkenntnis herangereift, dass die Verwendung dieses Wortes durch Thukydides an solch einer wichtigen Stelle einer intensiveren Betrachtung und Erläuterung bedürfe, um sie in ihrer Tragweite wirklich verstehen zu können. Die bis dahin oftmals gültige Gleichsetzung der κίνησις mit dem Krieg konnte hier als unzureichend dargestellt werden: Bereits die grammatisch-logische Konstruktion des Satzes mit ihren Vorbezügen durch γάρ und αὕτη zwang die Interpreten des Werkes, einen genaueren Blick auf den zweiten Satz zu werfen, da nun durch Patzer deutlich gemacht wurde, dass der Kinesis-Begriff nicht nur den Peloponnesischen Krieg beschrieb, sondern darüber hinausgehen musste.24 Eine Einordnung der Tragweite und der Konsequenzen seines Verständnisses von κίνησις als »Erschütterung«, vor allem im Hinblick auf die Unterschiede zur bis dahin vorherrschenden Gleichsetzung mit dem Krieg, unternahm Patzer jedoch nicht, da dies sein Erkenntnissinteresse nicht betraf. So blieb die Werkfunktion der »Erschütterung« und ihr Bezug zum Werkgegenstand auch im Deutschen unklar: Welche Aspekte des Geschehens sollten damit gemeint sein? Für den »inneren Aufruhr«, die emotionale Komponente seiner Interpretation, wurden keine Belegstellen angeführt und die Frage, warum Thukydides ausgerechnet den Prozess der Bewegung in einer abstrakten Form für innere Unruhen und den Aufruhr verwenden sollte, wo dies doch eindeutiger mit Begriffen wie στάσις u. ä. möglich gewesen wäre, blieb weiterhin unbeantwortet – ebenso wie die Frage, inwiefern der griechische Begriff »κίνησις« die »Erschütterungen«, die im Werk dargestellt werden, wiederaufnehmen sollte. Trotz allem wird hier der Anfang zu einer erweiterten Deutung und einem umfassenderen Verständnis des Kinesis-Begriffes sichtbar. Patzers und Schadewaldts Bemerkungen, dass der Bezug des Kinesis-Begriffes über den Krieg hinausgehen müsse, wurden nicht weiter diskutiert25 und so fand Patzers Übersetzungsvorschlag der »Erschütterung« ihren Niederschlag in den deutschen Übersetzungen, während die bereits als unpassend erwiesene implizite Gleichsetzung von Krieg und κίνησις im größeren Kontext beibehalten wurde.26 23 24 25 26

Vgl. Patzer, Rezension, S. 352. Wie auch Voegelin später erkannt hat, vgl. oben Anm. 32. Vgl. Latacz, Bewegung, S. 85. Horneffer-Strasburger: »In der Tat ist dieser Krieg die gewaltigste Erschütterung […]«, Der Peloponnesische Krieg. Vollständige Ausgabe. Übertragen von A. Horneffer, durch-

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Stand der Forschung

Im angelsächsischen Raum fand 1952 eine vergleichbare detaillierte Auseinandersetzung mit dem Kinesis-Begriff statt: Nicholas G. L. Hammond veröffentlichte einen Artikel unter dem Titel »The Arrangement of the Thought in the Proem and in other Parts of Thucydides I«,27 in dem er das Problem des zweiten Satzes und seiner logisch-inhaltlichen Bezüge aufgriff, ohne dass dies in der deutschen Forschung große Beachtung gefunden hätte.28 Hammond beschäftigte sich auch nur am Rande mit dem Kinesis-Begriff in seiner Darstellung der Anordnung des Gedankenschemas im Proömium. Dabei ging es ihm besonders um das Verhältnis von Thesen und Begründungen, bzw. deren Argumentation am Anfang des Werkes. Er bemerkte, dass die Wortanordnung des zweiten Satzes zwar ungewöhnlich sei, jedoch viele Parallel-Stellen im Werk gefunden werden könnten.29 Beim Vergleich dieser Stellen kam er auf die Bedeutung des ἐγένετο zu sprechen, welches bei Thukydides im vorliegenden Falle »occured«, also »auftreten« hieße, womit eine futuristische Bedeutung ausgeschlossen werden könne.30 Damit hat Hammond für eine zeitliche Ausweitung des KinesisBegriffes ausschließlich in die Zeit vor den Krieg argumentiert, indem er auch den zweiten Satz als eine Begründung für die Vorkriegserwartung ansah, da die Bewegung bereits vor 431 aufgetreten sein müsste.31 Er wies außerdem auf die Steigerung der herausragenden Form der κίνησις hin, die durch die Häufung von Superlativen im Satz entstehe.32 Hammond ging gesondert auf die Frage ein, was unter κίνησις zu verstehen sei und verglich dafür die Verwendung des Wortes und seiner Verbformen an anderen Stellen im Werk, um daraus zu folgern: »These special uses of κινεῖν, κινεῖσθαι and κίνησις suggest that the general meaning of κίνησις in such a context is a movement of a political and innovative nature. […] It seems that κίνησις in I. 2 may mean such a movement, that is a series of events which radically changed the political situation for Greece and a considerable part of the non-Greek world.«33 Er bezog dann diese politische gesehen von G. Strasburger, eingeleitet von H. Strasburger, Bremen 1957, S. 3. Landmann übersetzt: »Es war bei weitem die gewaltigste Erschütterung […]« und macht damit einen etwaigen zeitlichen oder inhaltlichen Unterschied zwischen Krieg und Erschütterung für den Leser unkenntlich. Außerdem findet der logische Zusammenhang zwischen erstem und zweitem Satz, das griechische γάρ, keine Übersetzung: Geschichte des peloponnesischen Krieges, eingel. und übertr. v. G.-P. Landmann, München ²1976, S. 23. 27 N. G. L. Hammond, The Arrangement of Thought in the Proem and other parts of Thucydides I (GC 2, 3/4, 1952), S. 127–141. 28 Vgl. J. Rusten, Kinesis in the Preface to Thucydides. In: C. A. Clark / E . Foster / J. P. Hallet (edd.), Kinesis. The Ancient Depiction of Gesture, Motion and Emotion. Essays for Donald Lateiner, Ann Arbor 2015, S. 32. 29 Vgl. Hammond, Arrangement, S. 130. 30 Ebd. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. ebd. S. 131. 33 Ebd. S. 132.

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Konnotation von »Bewegung« auf den ersten Satz, um zu fragen, was damit gemeint sei und kam zu dem Schluss, es sei die Bewegung der Kriegsparteien gewesen, die ihren Höhepunkt im Erreichen des höchsten Machtpotentials beider gefunden habe und in der Parteiergreifung der restlichen griechischen Mächte für die eine oder andere Seite. Diese interessante Interpretation birgt mitunter Schwierigkeiten: So ist zum Beispiel seine angeführte Vergleichsstelle III, 75, 2 bereits ein Argument gegen eine solche ausschließliche Lesart von κίνησις als »politischer Bewegung«, da κίνησις hier, nach Hammond selbst, »wörtlich« gebraucht sei, also im Sinne physikalischer Bewegung.34 Dagegen bezieht sich die zweite herangezogene Stelle III, 82, 1 auf innerpolitische Unruhen auf Kerkyra, sodass zwar der Kontext mit III, 75, 2 übereinstimmt, die spezifische Verwendung aber jeweils wörtlich oder metaphorisch ist. Worin genau die Gemeinsamkeit zwischen III, 75, 2, III, 82, 1 und I, 1, 2 liegen soll, die eine »spezielle Verwendung«35 des Kinesis-Begriffes begründet, bleibt unklar. Die Verwendung im ausschließlich politischen Bereich lässt sich auf den Betrachtungsgegenstand des Werkes zurückführen und steht darüber hinaus im Widerspruch zu einigen anderen Stellen, die Hammond nicht gesondert betrachtet.36 So erklärt Hammond zwar einen inhaltlichen Kontext des Kinesis-Begriffes, zeigt aber mögliche Verbindungen zum historischen Geschehen und die Grundlage der Interpretation dieses Geschehens als »movement« durch Thukydides nicht auf, sodass die These einer »speziellen Verwendung« der Beschränkung der Betrachtung auf bestimmte Textstellen entspringt, ohne einen Vergleich zu anderen Verwendungskontexten zu ziehen. Auch wird der Aspekt der »innovating nature«37 des Begriffes, die Hammond konstatierte, in Bezug auf die inhaltliche Erklärung des Kinesis-Begriffes bei Thukydides nicht weiterverfolgt, sodass Hammond den Begriff »Bewegung« eigentlich nur durch sich selbst erklärt. Weiterführende Fragen, inwiefern beispielsweise die Entwicklung beider Kriegsparteien zur Höhe ihrer Macht als »Bewegung« aufzufassen sei und was sich der antike Leser darunter vorgestellt haben könnte, lässt er unbeantwortet, wobei sich doch gerade hier der Aspekt der »innovating nature« als Erklärungsansatz anböte: So könnte man argumentieren, dass die Neuheit dieser 34 Vgl. Hammond, Arrangement, S. 132. 35 Ebd. 36 Ebenso verhält es sich bei der von ihm angeführten Stelle IV, 76, 4, die zwar im Kontext politischer Unruhen steht, jedoch hier auf die Konflikte untereinander bezogen wird und auf die Ablenkung, die dadurch entsteht. Hammond selbst weist auf einen völlig anderen Bezug von κινεῖν in VI, 34, 3 hin, geht aber auf diesen Widerspruch nicht ein, ebenso wenig auf die Verwendung im Bezug auf Delos in II, 8, 3, wo das κινεῖσθαι nicht in einem eindeutig politischen Kontext vorkommt, sondern mit einem Erdbeben assoziiert wird. 37 Hammond, Arrangement, S. 132.

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außerordentlichen Machtansammlung in nie dagewesener Geschwindigkeit und Intensität die Bezeichnung als κίνησις rechtfertige, da man unter dem Begriff möglicherweise einen Prozess verstand, der sich auch durch außerordentliche Geschwindigkeit und Intensität auszeichnete. Thukydides würde dann durch die Verwendung des Begriffes auf eben solche Aspekte des Geschehens hinweisen, sodass der allgemeine Begriff »Bewegung« spezifiziert werden könnte. Hammonds Interpretation hatte weitreichenden Einfluss, sodass bis heute der Eintrag im Liddell-Scott-Jones von diesem Verständnis von κίνησις, von Hammond zuerst entwickelt, geprägt ist. So wird das Wort in III, 75, 2 etwas diffus als »movement in a political sense« übersetzt. Unklar bleibt, was man sich unter einer »Bewegung im politischen Sinne« vorzustellen habe. Eine ausführlichere Betrachtung des Kinesis-Begriffes im deutschsprachigen Raum erfolgte wieder 1980 durch Joachim Latacz,38 der die Problematik des zweiten Satzes zum ersten Mal in der deutschen Forschung unabhängig von Datierungsfragen und der Problematik des Aufbaus des Werkes untersuchte.39 Er rückte dabei die obskure Bedeutung des Wortes selbst, dessen Verständnis durch die abstrakte Verwendung an dieser Stelle, zuvor von Schadewaldt und Patzer herausgearbeitet, erschwert wird, in den Mittelpunkt. Ein Gefühl für diese Abstraktion hatte es bereits bei Ullrich und Schwartz in Ansätzen gegeben, die diese jedoch zugunsten der Funktionalisierung des Satzes für ihre Positionen in der Datierungsfrage nicht weiterverfolgten. Bei den nachfolgenden Besprechungen wurde dieses Problem zwar benannt, jedoch nicht, wie oben gezeigt worden ist, eingehend besprochen, bzw. konsequent beachtet. Diesem Umstand als eigenständigem Problem die nötige Aufmerksamkeit und Sorgfalt der Interpretation zu widmen unternahm nun Latacz, der aber wiederum Hammonds Vorschlag nicht explizit erwähnte. Latacz’ Argument gliedert sich in mehrere Teile: Zuerst wird die Argumentationsstruktur des ersten Satzes der Einleitung analysiert, um die bewusste Komposition der Einleitung durch den Autor herauszuarbeiten. Dies ist die Grundlage für die Annahme, dass bei einem konsequent logisch aufgebauten ersten Satz auch der zweite Satz einem logischen Denkmuster folgt, womit gegen 38 Latacz, Bewegung. 39 Latacz weist in seinem Forschungsüberblick noch auf einen Aufsatz Hartmut Erbses von 1970 hin (H. Erbse, Über das Prooimion (1,1–23) des Thukydideischen Geschichtswerkes (RhM 113, 1970), S. 43–69). Diese Arbeit findet hier keine gesonderte Betrachtung, da sie sich bezüglich des Kinesis-Begriffs vollständig auf Patzers Auffassung bezieht. Dennoch beinhaltet die Arbeit interessante und gute Hinweise zu anderen problematischen Aspekten des zweiten Satzes wie der Funktion von αὕτη und der Übersetzung des ἐγένετο, welche von Latacz zum Teil unterstützt, zum Teil verworfen werden. Diese Aspekte und ihre Diskussion werden in einem gesonderten Kapitel zum zweiten Satz noch einmal teilweise aufgegriffen und besprochen, vgl. unten Kap. IV, 2, S. 166–175.

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den von Ullrich u. a. erwähnte »Logiksprung«40 argumentiert wird. Gibt es eine solche »logische Lücke« nicht in der Textstruktur, so muss das problematische Verständnis des zweiten Satzes unserer unzureichenden Durchdringung des Satzes und seiner Bedeutung angelastet werden, womit sich die Notwendigkeit ergibt, alternative Interpretationen für den Kinesis-Begriff zu entwickeln: »Die genaue Kenntnis der Struktur des ersten Satzes berechtigt den Interpreten zu der Erwartung, das logische Niveau werde im Folgenden eingehalten und jedenfalls nicht unmittelbar nach seiner Etablierung durch einen krassen Illogizismus unterschritten werden.«41 Nach einer eingehenderen Analyse der Funktionen der Partikel γάρ und des Pronomens αὕτη an anderen Stellen im Werk kommt Latacz zu dem Schluss, dass αὕτη nicht den Krieg meinen kann, sondern auf eine Entwicklung zu beziehen ist, die zeitlich vor dem Krieg liege: Dies sei dann der bereits von Patzer (und Hammond) benannte Prozess der Konfliktentwicklung und die damit verbundene Blockbildung.42 Der Kinesis-Begriff stehe also metaphorisch als zusammenfassender Oberbegriff für diese Prozesse und solle die Prognose des ersten Satzes, dass dieser Krieg bedeutend und »darstellenswerter« sein werde als alle bisherigen, legitimieren und nachvollziehbar machen: Die Größe der von Thukydides beobachteten Prozesse vor dem Krieg habe es ihm erlaubt, rational-logisch auf die Größe des kommenden Krieges zu schließen. Damit könne sich κίνησις nur auf die Vorkriegsprozesse beziehen.43 Die angeschlossene Archäologie und die Pentekontaëtie, sowie der Rest des ersten Buches dienten dann dem Nachweis dieser Größe und Singularität der Bewegung, außerdem spiegele die sprachliche und formale Gestaltung des Texts die Bewegung in den politischen Strukturen Griechenlands wider.44 Diese Arbeit ist ohne Frage ein Meilenstein in der Forschung zur Bedeutung des Kinesis-Begriffs und seiner Verbindung zur Werkkonzeption: Es wird deutlich, dass hinter der Wahl des Begriffes eine bewusste, in den Aufbau des Buches strukturell eingebundene Entscheidung des Autors zu erkennen ist, der sein Thema weiter fasst als den bloßen Krieg: κίνησις bezieht sich auf einen Prozess, der über den Krieg hinausgeht, der beobachtbar war und der sich sogar, wie Latacz zeigte, in der Gestaltung des Werkes niederschlägt. Bei der logischen Analyse der Beziehung von erstem und zweiten Satz wird außerdem deutlich, dass die Größe des Krieges unmittelbar mit der Größe der κίνησις zusammenhängt – 40 Vgl. Latacz, Bewegung, S. 84; Schwartz, Geschichtswerk, S. 178; dagegen Schadewaldt, Geschichtsschreibung, S. 50. Latacz folgt hier den Impulsen Patzers von 1940, die scheinbare logische »Lücke« durch eine Begriffserweiterung von Kinesis zu schließen. Patzer selbst reflektiert diese Funktion jedoch nicht. 41 Vgl. Latacz, Bewegung, S. 87–90. 42 Vgl. ebd. S. 94. 43 Vgl. ebd. S. 95. 44 Vgl. ebd. S. 96–99.

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die Frage des Abhängigkeitsverhältnisses wird dabei aber nicht diskutiert. Die angegebene Größe der κίνησις ist für Latacz alleinige Voraussetzung für die später tatsächliche Größe des Krieges, sodass die κίνησις nur die Größe des Krieges bestätigt – ihre Bedeutung im Werk ist damit direkt vom Krieg abhängig.45 Die Erklärung der Bedeutung des Begriffes ist aber weiterhin unbefriedigend, denn sie kann die entscheidenden Verständnisfragen nicht klären: Auf Grundlage welcher Charakteristik des Geschehens interpretiert Thukydides dieses als »Bewegung«? Die Wahl des obskuren Begriffs »Bewegung« für Blockbildung und Konfliktsteigerung kann durch Latacz’ Erläuterungen allein noch nicht nachvollzogen werden. Vor allem stellt sich die Frage, inwiefern die Blockbildung und die Steigerung des Konflikts in Verbindung mit dem von Thukydides beschriebenen Übergreifen der κίνησις auf »den größten Teil der Menschheit«46 stehen. Der enge Bezug zur Vorkriegszeit ist zwar textlogisch zu begründen, gilt aber nur für den ersten Teil des Satzes, da alle anderen erwähnten Betroffenen im zweiten Satz an der Vorkriegsbewegung noch gar nicht teilhaben.47 Auch wenn die Bemerkung, dass die weitere Schilderung Assoziationen zur »Un-Ruhe« in Griechenland vor Kriegsbeginn wecke, interessant ist,48 scheint doch diese Interpretation von der Prämisse zur Bedeutung des Kinesis-Begriffes bereits stark beeinflusst zu sein. Sie kann aber nicht erklären, warum das historische Geschehen als »Un-Ruhe« wahrgenommen und von Thukydides in dieser Form beschrieben wurde, sodass sein Beweggrund, hier das Wort κίνησις als Beschreibung der Situation zu verwenden, weiterhin unklar bleibt. In Latacz’ Argumentation wird die κίνησις hauptsächlich mit Beispielen versehen, ihre Konnotation und die Grundlage der Begriffswahl aber werden nicht erklärt. Dass sich im Werk des Thukydides verschiedene Aspekte finden lassen, die mit »Bewegung« assoziiert werden können, kann allein die Wahl des Begriffes noch nicht ausreichend erklären, zumal die Assoziationen des Interpreten nicht auch automatisch die des Autors sein müssen. Es wäre auch zu fragen, warum sich Thukydides dafür 45 Schmid, Kinesis, S. 53 dreht dann dieses Abhängigkeitsverhältnis um: »Nicht der Krieg selbst ist das Erwähnenswerte, sondern die Größe der Bewegung […]«. Der Problematik der Prämisse, dass die Größe des Krieges die eigentliche Tatsache im thukydideischen Werk darstellt, widme ich mich ausführlicher unten in Kap. 4.1. 46 Thuk. I, 1, 2. 47 So auch Meier, Thukydides, S. 333, Anm. 20. Die Anmerkung Latacz’, dass dies die Ausweitung der Bewegung nachstellen solle, bezieht sich nur auf die sprachliche Gestaltung und ignoriert den Inhalt, vgl. Latacz, Bewegung, S. 99, Anm. 24. Dagegen auch G. Rechenauer, Thukydides und die hippokratische Medizin. Naturwissenschaftliche Methodik als Modell für Geschichtsdeutung, Hildesheim 1991, S. 266; Schmid weist daraufhin, dass auch nach Latacz’ Deutung die κίνησις zeitlich nicht nur auf die Prozesse vor dem Krieg beschränkt sein müsse und erklärt die zeitliche Einengung durch die Zuordnung auf ἐλπίζειν, vgl. Ders., Kinesis, S. 52. 48 Vgl. Latacz, Bewegung, S. 98–99.

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entschied, historische Prozesse und Handlungen unter dem Begriff der κίνησις nochmals zusammenzufassen, wenn doch beispielsweise durch die παρασκευή bereits Prozesse der militärischen Vorbereitung, zu denen ja auch das Gewinnen von Bündnispartnern und die Rüstung gehören, wiedergegeben werden können, bzw. warum alle anderen Handlungen vor Ausbrechen des Krieges als »Bewegung« bezeichnet werden. So ist zum Beispiel das Argument, dass man bei der Schilderung der Kapitel 24–145 und durch Erwähnungen wie der Sizilien-Fahrt in I, 44, 2–3 den Eindruck gewinne, dass etwas »in Bewegung geraten« sei,49 nicht hinreichend aussagekräftig, da es nicht erklären kann, inwiefern Thukydides diese Schilderungen als »Bewegung« verstanden hat, wenn man nicht als Zirkelschluss bereits davon ausgeht, dass zwangsläufig alle Vorkriegshandlungen mit κίνησις gemeint sein müssten. Darüber hinaus bleibt die Frage nach der Größe und der Singularität der κίνησις ebenfalls ungeklärt: Was genau macht die beschriebene Bewegung besonders groß und warum wird sie nur als eine einzige wahrgenommen? Latacz konzentriert sich in seiner Interpretation weitgehend auf das Aufzählen von Beispielen für Prozesse, die als »Bewegung« interpretiert werden könnten. Die Frage, warum Thukydides diese Prozesse als »Bewegung«, als κίνησις, wahrgenommen hat und nicht beispielsweise als μεταβολή, kann dadurch nicht geklärt werden. So leitet sich aus den Beobachtungen Latacz’ wieder die zentrale Frage ab, was all diese Bewegungsassoziationen, die er im Werk identifiziert hat, die Stimmung vor Kriegsausbruch, die Entwicklung der Kriegsparteien zur Akme, usw. gemeinsam haben, sodass sie unter einem Begriff, der κίνησις, noch dazu einer besonders großen, zusammengefasst werden können. Hier zeigt sich, dass im Begriff selbst eine Konnotation, bzw. Assoziation liegen muss, die all diese historischen Prozesse beschreiben kann, ohne einen von ihnen näher zu bestimmen, sodass die κίνησις Grundlage wird für die Beschreibung des historischen Geschehens allgemein. Die Frage, was die κίνησις ausmacht, um eine solche Funktion zu übernehmen, soll in der vorliegenden Arbeit durch die Untersuchung der Begriffskonnotation näher beleuchtet werden. Die Ansätze von Latacz und Hammond haben gezeigt, dass eine separate Betrachtung des Kinesis-Begriffs im zweiten Satz durch seine enge Verbindung zur Werkintention und -thematik zwar Aufschlüsse geben kann bezüglich seiner Bedeutung für das Werk und die Arbeit des Thukydides, den Begriff selbst aber nicht umfassend und zufriedenstellend erklärt: Die unterschiedlichen Bezüge werden zwar aufgezeigt, die Konnotationen und Assoziationen aber, aufgrund derer sich Thukydides hier für »κίνησις« entschied, bleiben weiterhin unklar und der Bezug allein auf die Vorkriegsprozesse steht im Gegensatz zur Dauer der κίνησις, von der durch die Wortwahl und den Kontext impliziert wird, dass sie 49 Vgl. Latacz, Bewegung, S. 96.

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den gesamten Krieg und alle anderen mit ihm verbundenen Prozesse ebenfalls umfasst, womit die Vorkriegsprozesse, die Latacz nachvollziehbar betont, nur einen Anteil am Bedeutungsspektrum des Kinesis-Begriffes haben können, ihn aber nicht in allen Facetten erklären.50 Der Vorschlag von Latacz und seine anschließende Argumentation erinnern an die Problematik bei Hammond: Auch hier wird »Bewegung« mit »Bewegung« erklärt, eben mit der »Bewegung« vor dem Krieg, ohne weitergehend auf mögliche assoziativ-intellektuelle Verbindungen einzugehen, die Thukydides zwischen den Ereignissen und Handlungen und dem Prozess von Bewegung gesehen haben könnte und die seine Wortwahl als besonders treffend erklären lassen. So bleibt die Frage, was denn mit dem Kinesis-Begriff nun eigentlich gemeint sei, d. h., aufgrund welcher Interpretation oder auch welchen Verständnisses der historischen Ereignisse Thukydides sich für eine Bezeichnung als »Bewegung« entschied, auch nach Hammonds und Latacz’ Arbeiten weiterhin unbeantwortet, da diese zwar einen (möglichen) inhaltlichen und zeitlichen Bereich der Bewegung spezifizierten, nicht aber ihr Wesen und ihre Charakteristik an sich: Es bleibt die Frage, wie man sich die Ereignisse als »Bewegung« vorzustellen hat.51 Latacz’ Arbeit hat leider keine größere Beachtung in der Thukydides-Forschung gefunden und die Übersetzung »Erschütterung« wurde weiterhin allgemein beibehalten.52 1998 widmete sich Alfred Schmid erneut dem KinesisBegriff und legte einen Aufsatz vor, der einige wichtige Gedanken zur Funktion des Begriffes und des damit verbundenen Konzepts im Werk und in der historischen Darstellung des Thukydides enthält.53 Diese Arbeit führt die von Latacz 50 So auch Schmid, Kinesis, S. 52. 51 Ausgenommen ist hier die Bemerkung Hammonds zur »innovating nature«, worauf im Laufe der Arbeit noch zurückzukommen sein wird. 52 So noch bei W. Furley, Natur und Gewalt – die Gewalt der Natur. Zur Rolle der Natur und der Landschaft bei Thukydides (Ktèma 15, 1990), S. 173. Der Beitrag dieser Arbeit ist ambivalent zu bewerten: Furley erweitert einerseits das Bedeutungsspektrum des Begriffs durch eine Verbindung zu den Naturkatastrophen in der sog. Pathemata-Liste I, 23, die die These von der »größten Erschütterung« stützen solle (S. 174) und eröffnet so eine neue Interpretationsmöglichkeit, die nun unabhängig von den Diskussionen über die thukydideische Frage und der Verknüpfung von erstem und zweitem Satz geführt werden kann, andererseits liest er κίνησις als Ausdruck für ausschließlich physikalische Prozesse (S. 175), womit er die von Hammond herausgearbeiteten Bedeutungsmöglichkeiten von vornherein ausschließt, ohne dafür Argumente zu bieten. Seine Betrachtung bleibt daher einseitig auf die Funktion von Umwelt und Landschaft im Narrativ des Thukydides beschränkt, ohne weiter auf den Kinesis-Begriff und seine Bedeutung einzugehen. So auch A. Parry, Logos and Ergon in Thucydides, New York 1981, S. 95. Die Verbindung zwischen κίνησις und Pathemata-Liste ist auch international bereits vor Furley zur Sprache gebracht wurden, z. B. von D. Lateiner, Pathos in Thucydides (Antichthon 11, 1977), S. 42–51 und Parry, Logos and Ergon, S. 116, jedoch ohne eine eingehendere kritische Betrachtung des Kinesis-Begriffs. Vgl. auch Rusten, Kinesis, S. 30. 53 Schmid, Kinesis, wie Kap. 1, Anm. 35.

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begonnene Ausarbeitung der Zentralität des Kinesis-Begriffes weiter fort, indem die Auswirkungen der Interpretation des historischen Prozesses als κίνησις auf die Werkgestaltung und -komposition angesprochen werden. Dabei wird deutlich, dass das von Latacz noch nicht reflektierte Problem der Mehrdeutigkeit von »Bewegung« in der Interpretation des Kinesis-Begriffes eine zentrale Rolle einnimmt, denn man muss sich als Interpret die Frage stellen, welche Prozesse eigentlich unter »Bewegung« fallen und ob diese als physikalische Bewegungen im Sinn einer Ortsbewegung oder im metaphorischen Sinn als Ausdruck eines anderen Prozesses oder einer Entwicklung gedacht werden. Diese Reflektion wird in älteren Arbeiten noch nicht berücksichtigt54 und auch in neuerer Zeit wird sie meist nur in Ansätzen erwähnt.55 Schmids Arbeit beschäftigt sich dann in einer Art Weiter- und Zusammenführung der Ansätze Latacz’ u. a. mit der Rolle der κίνησις im Gesamtwerk und schlägt eine noch umfassendere Deutung vor, die die κίνησις als zentrale Grundstruktur für alle Prozesse, die im Werk geschildert werden oder eine Rolle spielen, versteht.56 Schmid interpretiert die κίνησις als den »wahren« Prozess im Werk, dem Thukydides alles andere unterordne und der seiner Meinung nach sowohl die menschlichen, als auch die physikalischen Elemente der Darstellung beherrsche.57 Demnach habe Thukydides die Gesamtheit der verschiedenen Erscheinungen, Handlungen und historischen Ereignisse seiner Zeit als eine κίνησις verstanden und damit ihre Interpretation verbunden, womit der Kinesis-Begriff als eine übergeordnete Struktur der historischen Entwicklung für Thukydides dargestellt wird, die »kinetische Relation« aus Naturprinzip und Größe als »übergreifende Gesamtsignatur«.58 Die κίνησις selbst könne dabei als »stets vorhandenes Naturprinzip«59 zu interpretieren sein. Im Anschluss werden verschiedene Aspekte des Werkes unter einer solchen Perspektive untersucht, wobei Schmid erläutert, dass die Menschen dabei als den ihn umgebenden Prozessen ausgeliefert geschildert würden, sie stünden immer unter einem Zwang der Umstände.60 Schmid ordnet die Bedeutung des Krieges der der κίνησις unter, er nennt ihn »kinetische Potenz«61 und äußert die These, dass die κίνησις bei Thukydides vielleicht die Gott-Symbolik einnehme,62 die sonst von den höheren Mächten des Pantheon eingenommen werde. Daher sei 54 Vgl. Rusten, Kinesis, S. 30. 55 Vgl. R. V. Munson, Natural Upheavals in Thucydides (and Herodotus). In: Clark / Foster / ​ Hallet (edd.), Kinesis, S. 43. 56 Vgl. Schmid, Kinesis, S. 52. Die Verbindung zu Voegelin ist offensichtlich, wird aber von Schmid nicht explizit gemacht. 57 Vgl. ebd. S. 53–54. 58 Schmid, Kinesis, S. 55–56. 59 Ebd., S. 56. 60 Vgl. ebd. S. 57. 61 Ebd. 62 Vgl. ebd. S. 58.

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die κίνησις das Gesetz, dem sowohl der Kosmos, als auch die Menschen in ihm folgen müssten.63 Im darauffolgenden Teil verfolgt Schmid dann die Deutung, dass »κίνησις« bei Thukydides als ein Prozess des Übergangs verstanden wird, in dem der Fall Athens vom Höhepunkt der Macht zur Niederlage als eine Entwicklung höherer Art verstanden werden kann, die dem Einfluss der politischen Entscheidungsträger entzogen bleibe.64 Er macht dabei eine Unterscheidung auf zwischen der Größe des historischen Geschehens und der κίνησις: Während der Epitaphios den Höhepunkt der Macht, das Größte also, widerspiegele, sei die darauffolgende Seuche Ausdruck der kosmischen Bewegung. Damit verfolgt Schmid auch das Ziel, Zweifel an Perikles’ Kriegspolitik und seiner politischen Weitsicht zu zerstreuen, da in Thukydides’ Darstellung der Mensch keine Macht habe, um sich gegen den Prozess der κίνησις zur Wehr zu setzen.65 Er führt weiterhin aus, wie die Bewegung sowohl außenpolitische als auch innenpolitische Bereiche erfasse: Indem die Poleis miteinander in Kontakt treten und sich durch ihre Beziehungen, hier spricht er vor allem vom athenischen »Imperialismus«,66 gegenseitig beeinflussten, fände die Bewegung über die politisch tätigen Menschen und ihre Natur Eingang in die jeweilige Polis selbst, was sich dann in der στάσις äußere, die die außenpolitischen Konflikte innenpolitisch widerspiegele.67 Es folgen weitere sehr interessante Gedanken zur Rolle der κίνησις als Erklärungsprinzip im thukydideischen Werk, so z. B. dass sich die κίνησις nur in Form der Handlungen und Ereignisse zeigen könne, da es sich für Thukydides verbiete, ihr direkt eine Rolle als gleichsam »göttliches« Prinzip zuzuweisen, während er gleichzeitig den scheinbaren Widerspruch zwischen Größe der Zeit und den unmittelbar anschließenden Niedergang durch den Krieg mittels der κίνησις als einer »höheren Realität« erklären könne, die als »innerer Mechanismus« die Geschichte beeinflusse und steuere.68 Schmid schließt mit der Erkenntnis, dass vor dem Hintergrund einer solchen übergeordneten Struktur die Einordnung politischer Entscheidungen unmöglich sei, da diese durch die Umstände bereits determiniert seien: Den Akteuren bliebe also keine andere Wahl, als dem »Kausalmechanismus«, d. h. der Bewegung, zu folgen, worin Schmid auch die Überbrückung des Dilemmas durch Thukydides erkennt, wie das »große« Athen sich selbst in eine solche katastrophale Lage bringen konnte.69 Die Arbeit Schmids ist, zu Unrecht, als eine Ergänzung zu Latacz’ Aufsatz gesehen wurden und hat daher in der Diskussion um den Kinesis-Begriff bei 63 Vgl. Schmid, Kinesis, S. 55. 64 Vgl. ebd. S. 58–66. 65 Vgl. ebd. S. 63. Dieser Punkt wird unten in Kap. 4.4.1 ausführlicher diskutiert. 66 Ebd. S. 67. 67 Ebd. 68 Vgl. Schmid, Kinesis, S. 69–71. 69 Vgl. ebd.

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Weitem nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient hätte.70 Für die vorliegende Arbeit ist sie aber Inspiration und auch ein Ausgangspunkt: Schmid versteht den Kinesis-Begriff nicht mehr nur noch im Kontext seiner Stellung im Proömium, sondern sieht in der »μεγίστη κίνησις« die Bezeichnung für eine Kernstruktur des gesamten Werkes. Dies hebt sein Verständnis von κίνησις auf eine abstraktere Ebene, als es bis dahin geschehen ist, da der Begriff hauptsächlich in seiner Funktion im Proömium betrachtet wurde. Gleichzeitig zeigt er in Ansätzen die interpretativen Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn man der κίνησις des Proömiums eine solche weitreichende Bedeutung über die Einleitung hinaus zugesteht. Den entscheidenden Beitrag aber liefert Schmid, indem er bestimmte Charakteristika der κίνησις bezüglich ihrer Auswirkungen auf die Darstellung im Werk untersucht, so vor allem die κίνησις in ihrer Funktion als ewiges Naturprinzip. Eine ausführliche Untersuchung dieser Charakteristika muss jedoch im Rahmen seines Artikels ausbleiben und beschränkt sich auf eine Fußnote mit Verweis auf Leukipps Modell ewiger Bewegung.71 Schmids Ausführungen zeigen daher in Ansätzen, wie wichtig ein umfassendes Verständnis des Kinesis-Begriffes für das gesamte Werk sein kann und bietet gleichzeitig einige Beispiele, wie Thukydides das Bewegungsprinzip in der Darstellung verarbeitet haben könnte. Diese Beispiele bleiben in ihrer Ausführlichkeit im Rahmen eines Aufsatzes natürlich begrenzt, zeigen aber gleichzeitig das interpretatorische Potential, diesen Ansatz weiter und ausführlicher zu verfolgen. Vor allem zeigt sich, wie bereits erwähnt, das Potential einer kritisch-reflektierten Auseinandersetzung mit dem Bewegungsbegriff selbst, dessen Charakter auch bei Schmid noch undeutlich bleibt. Während also die Funktion des Prinzips im Werk theoretisch erörtert wird, wird das Prinzip selbst nicht weiter untersucht, weshalb auch Schmid immer wieder auf den Begriff »kinetisch« oder »Bewegung« zurückgreifen muss, ohne dabei erklären zu können, weshalb das historische Geschehen eine Bewegung sei, ähnlich, wie es bei Latacz bereits zu beobachten war. Stattdessen wird diese Diskussion zugunsten einer PeriklesApologie zurückgestellt, die den Politiker als Opfer einer solchen »kosmischen Bewegung« darstellen soll, ohne diese »Bewegung« beschreiben zu können: Sie spiegele sich in den ἔργα selbst wieder, »als kinetischer Sog der Außenpolitik.«72 Hier wird erneut das Problem der Forschung bezüglich der Beschäftigung mit dem Kinesis-Begriff sichtbar: Das Prinzip wird mit sich selbst erklärt, die κίνησις ist der »kinetische Sog« der Außenpolitik – aber was soll dieser »kinetische Sog« sein, bzw. warum und inwiefern hat Thukydides die außenpolitischen Prozesse 70 Vgl. Rusten, Kinesis, S. 32, Anm. 13: »Schmid (1998) adapts Latacz’s proposal so broadly as to deprive it of any usefulness.« 71 Schmid, Kinesis, S. 56 Anm. 70. 72 Ebd., S. 69.

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als »kinetisch« verstanden und wie kann ein solcher Prozess als »Sog« fungieren? Diese Fragen bleiben auch bei Schmid ungeklärt, obwohl sie doch eigentlich das Fundament seiner These vom »kosmischen Gesetz« bei Thukydides bilden müssten: Erst, wenn man ahnt, was mit »κίνησις« gemeint ist, kann man Aussagen treffen über ihre Funktion im Werk und ihre Rolle in der Interpretation der Ereignisse durch Thukydides. Nichtsdestotrotz zeigen Schmids Ausführungen, dass die Beschränkung der Betrachtung des Kinesis-Begriffes auf das Proömium nicht ausreichen kann, um seine Tragweite zu erfassen, sondern dass sich vielmehr hinter dem Begriff ein Prinzip verbergen könnte, welches sich immer wieder im Werk verarbeitet finden lässt. Ein Aufsatz von Mischa Meier aus dem Jahr 2005 stellt eine Verbindung des Ansatzes von Schmid mit der Verknüpfung κίνησις  – Pathemata  – Liste dar und weist darauf hin, dass die Verbindung von Naturkatastrophen, Krieg und politischen Entwicklungen auf ein weniger »rationales« Denken des Autors hindeute, als beispielsweise bei W. D. Furley angenommen.73 Die Wahl des KinesisBegriffes ließe sich auf eine holistischere Konzeption von Krieg und Konflikt zurückführen, die nicht nur politisch-militärische Handlungen einschließe, sondern eben auch andere Aspekte wie die Natur, die Religion u. ä. betrachte und all diese Aspekte als Teil des Konflikts sähe, die sich gegenseitig bedingten und beeinflussten.74 Meiers Ausführungen gehen über Schmid dahingehend hinaus, dass er den Gegensatz Epitaphios-Pestbeschreibung um die Betrachtung der Sizilischen Expedition erweitert,75 und kommen schließlich zu einem ähnlichen Schluss: Der Mensch werde von Thukydides als der Natur und den Ereignissen gegenüber weitgehend machtlos dargestellt, seine Planungen seien im besten Falle mindestens unsicher und die komplexen Verknüpfungen und Beziehungen der Ereignisse, die Zufälle und Unabwägbarkeiten, die schließlich zur Katastrophe führen, könnten nicht erklärt werden: Stattdessen folgten sie einem anderen, kosmischen Prinzip, der κίνησις,76 die Thukydides an die Stelle des Götterapparates und der Religion stelle, womit seine oft zitierte »Rationalität« in Frage gestellt sei.77 Während Meiers Beitrag die Bedeutung der κίνησις für ein tieferes Verständnis des gesamten Werkes deutlich macht, kann in seinem Umfang eine Klärung der Begrifflichkeit nicht erfolgen. Er steht aber dahingehend in Bezug zur Diskussion über die Bedeutung des Begriffes, als dass er deutlich macht, dass die Übersetzungen »Bewegung« oder »Erschütterung« allein weder der umfassenden Bedeutung des Begriffs noch seiner Komplexität entsprechen. Außerdem 73 74 75 76 77

Vgl. Meier, Erschütterung, S. 330. Vgl. ebd. S. 333. Vgl. ebd. S. 338–341. So auch J. Price, Thucydides and Internal War, Cambridge 2001, S. 208–210. Vgl. ebd. S. 342–343. Ebenfalls in die gleiche Richtung geht der Aufsatz von Munson, wie Anm. 55.

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zeigt auch er auf, dass die κίνησις als ein »Prinzip« verstanden werden kann, welches der Darstellung zugrunde liegt. Damit werden die Handlungen der historischen Akteure vor dem Hintergrund eines kosmischen Prinzips relativierbar. Sie allein entscheiden nicht mehr über das Geschehen, sondern befinden sich in einer Auseinandersetzung mit diesem Prinzip. Diese Komplexität stellt Meier durch die Verbindung zur Pathemata-Liste heraus und kann damit zeigen, dass sich Spuren einer holistischen Konzeption von κίνησις im Werk durchaus finden lassen könnten. Konsequenterweise bleibt Meier dann auch beim griechischen Begriff selbst78 und verdeutlicht damit, dass eine angemessene und tragfähige Übersetzung ins Deutsche aufgrund der oben ausgeführten Problematik schwieriger zu sein scheint, als in der älteren Forschung angenommen. 2015 wurde dann im englischsprachigen Raum von Jeffrey Rusten ein neuer Versuch unternommen, den Kinesis-Begriff des Proömiums eindeutiger zu definieren und seine spezifische Charakteristik herauszuarbeiten. Er verwendete dafür, wie Latacz und Hammond, philologische Methoden des Stellenvergleichs, um Parallelen und Querverbindungen in der sprachlichen Verwendung zu finden und daraus auf die Bedeutung des Wortes schließen zu können. Er betrachtete erstmals die Verwendungen des Begriffes in ihrem spezifischen Kontext und kam zu dem Schluss, κίνησις entspräche in seinem Gebrauch dem englischen Wort »mobilization«.79 Seine Argumentation basiert auf der Verwendung des Wortes im Kontext der Vorbereitung oder Bereitstellung von Dingen, Orten u. ä. für offensive militärische Zwecke, wobei sowohl genuin militärische (Burgen, Streitwagen, etc.) als auch eigentlich nicht-militärische Elemente (Wasser, Grabmonumente) betrachtet werden.80 Im gleichen Sinne liest er andere Verwendungen des Wortes als eine Mobilisation für militärische Zwecke, so z. B. in der Stasis-Beschreibung in III, 82, 1. Daraus schlussfolgert er, dass der Kinesis-Begriff in I, 1, 2 ebenfalls Mobilisation meine, und zwar die vor dem Krieg von Thukydides observierte.81 Rustens Ausführungen stoßen auf mehrere argumentative Schwierigkeiten, die hier kurz aufgezeigt werden sollen. Zuerst einmal ist die Verbindung von κίνησις und militärischer Handlung in einem Buch, welches fast ausschließlich über militärische Handlungen berichtet, keine Überraschung: Daraus auf die ausschließlich militärische Bedeutung zu schließen hieße, die von Schmid und Meier, die Rusten beide anführt, herausgearbeitete Mehrschichtigkeit des Begriffs als Prinzip der Erklärung und der Narration insgesamt zu reduzieren. Das Narrativ versteht ja, folgt man Schmid und Meier, militärische Handlungen nur 78 79 80 81

Ebenso auch Hrezo, Thucydides. Vgl. Rusten, Kinesis, S. 32–33. Vgl. ebd. S. 34. Vgl. ebd. S. 36.

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als einen Teilaspekt der κίνησις.82 Für einen solchen Schritt hinter Schmid und Meier zurück führt Rusten jedoch keine Argumente an außer der Behauptung, es gäbe keinen Hinweis auf eine Verbindung von Pathemata-Liste und κίνησις.83 Hier steht er aber vor dem Problem, dass die Funktion der Pathemata-Liste dann neu betrachtet werden muss und dafür greift er auf die These zurück, die Pathemata-Liste sei Teil eines Schemas, welches aus dem Wechsel von optimistischrationalen Stellen mit äußerst pessimistischen Passagen bestehe.84 Welche Funktion wiederum ein solches Schema haben sollte und inwiefern dieses gegen eine Verbindung von Pathemata-Liste und Kinesis-Begriff spräche, bleibt ungeklärt. Zweitens kann seine Übersetzung die Verwendung von κίνησις oder κινεῖν an anderen Stellen, an denen es eindeutig nicht um militärische Handlungen geht, nicht erklären, wie z. B. die Beschreibung des Erdbebens auf Delos in II, 8, 3, welches Thukydides mit »Δῆλος ἐκινήθη« bezeichnet, was schwerlich als »Mobilisation« verstanden werden kann. Um dieses Problem zu lösen, greift er auf eine schwer nachvollziehbare Argumentation zurück: Dass sich nämlich die Begriffswahl auf den Kontext der Kriegsvorbereitung beziehe, d. h., dass auch hier »Mobilisation« gemeint sei, da das Erdbeben in einer Zeit der Kriegsvorbereitung geschehe und damit auch Delos metaphorisch mit dem Erdbeben »mobilisiert« werde. Außerdem wende sich Thukydides, so Rusten weiter, damit gleichzeitig gegen den Bericht Herodots, bei dem ebenfalls durch ein Erdbeben auf Delos großes Übel für Griechenland angezeigt und mit demselben Begriff, nämlich »ἐκινήθη«, versehen werde.85 Rusten greift damit auch hier auf die von Latacz herausgearbeitete Bedeutung von »Vorkriegsbewegung« zurück, d. h. auf die an dieser Stelle referierte Aufregung vor Kriegsbeginn, die Rusten bei Thukydides ebenfalls als »mobilization« versteht.86 Dadurch können aber mehrere Aspekte der Stelle weiterhin nicht erklärt werden. So bleibt z. B. die Beziehung zwischen κινεῖν und σείεν, welches Thukydides ebenfalls in diesem Kontext verwendet, unklar, denn σείεν als Bezeichnung für »beben« hebt eindeutig den Aspekt physikalischer Bewegung hervor, sodass an dieser Stelle der Bezug des KinesisBegriffs zur »Mobilisierung« oder »Rüstung« nur indirekt über den Kontext der Kriegsvorbereitung herzustellen ist, die Bedeutung für die eigentliche Stelle aber ungeklärt bleibt: Warum Thukydides über die ungewöhnliche Verwendung von ἐκινήθη das Erdbeben auf Delos als Teil von Mobilisierung oder Rüstung kenn82 Unklar bleibt insgesamt auch der Unterschied zwischen κίνησις als »mobilization« und Begriffen wie ἀνίστημι (IV, 90, 1) und πανστρατιά (IV, 94, 1), die ebenfalls eine »Rüstung«, bzw. »Mobilisierung« ausdrücken. 83 Vgl. Rusten, Kinesis, S. 38. 84 Vgl. ebd. 85 Vgl. Ders., ΔΗΛΟΣ ἙΚΙΝ ἩΘΗ: An »imaginary Earthquake« on Delos in Herodotus and Thucydidies (JHS 133, 2013), S. 135–145. 86 Vgl. ebd. S. 144.

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zeichnen will, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Ebenso ist fraglich, inwiefern der Kontext der letzten Vorbereitungen vor dem Krieg auch Delos in die Rüstung mit einbeziehen sollte, und es könnte doch auch gefragt werden, ob nicht eher umgekehrt das »erschütterte« Delos den Kontext für die letzten Kriegsvorbereitungen biete, bevor das große Übel schließlich über Griechenland hereinbricht. Außerdem kann diese Erklärung auf die ebenfalls ungewöhnliche Verwendung bei Herodot nicht bezogen werden, sodass unklar bleibt, was Herodot dann dazu bewegt, κινεῖν zu verwenden und worin der Unterschied zur Verwendung bei Thukydides bestehen soll. Rusten führt die Verbindung von Delos und κινεῖν auf eine dichterische Tradition zurück, Delos als ἀκίνητον τέρας zu bezeichnen, worauf sich Herodot beziehe und indirekt über Herodot auch Thukydides.87 Die besondere Bedeutung für Thukydides zeige sich dann in der Einbettung in den Kontext der Kriegsvorbereitungen: Die Beziehung von Kontext und Δῆλος ἐκινήθη, welches dann streng genommen als »Mobilisierung der Insel« verstanden werden müsste, überzeugt aber kaum. Solche Schwierigkeiten lassen sich auch an anderen Stellen finden, an denen κίνησις oder κινεῖν verwendet wird und wo der Bezug zwischen »Rüstung« oder »Mobilisierung« und dem geschilderten Vorgang, wie dem Ausbreiten der στάσις in Griechenland, nur nach einigen interpretatorischen Zwischenschritten erschlossen werden kann, die die Gültigkeit einer solchen Deutung für das gesamte Werk zumindest in Zweifel ziehen. Ebenso ist der Bedeutungsunterschied zwischen κίνησις und παρασκευή wie schon bei Latacz unklar: Nach welchen Kriterien entscheidet sich Thukydides für die eine oder die andere Bezeichnung? Rusten entwickelt einen Kompromiss zwischen dem Vorschlag Latacz’ (»Vorkriegsbewegung«), unter der er jetzt die »Mobilisation« im militärischen Kontext versteht, und der Verwendung des Wortes und seiner Verbformen im Werk. Dieser Kompromiss ist jedoch vor allem vor dem Hintergrund eher naheliegender Ausdrücke wie »παρασκευή« für »mobilization« wenig zufriedenstellend, zumal die Bedeutungskonnotation der physikalischen Bewegung im Kinesis-Begriff bei Thukydides ja auch immer noch erkennbar ist, wie z. B. in VIII, 48, 1 in der Beschreibung der Ausbreitung der Umsturzidee im athenischen Heer auf Samos und ihrem schließlichen Eintreffen in Athen: καὶ ἐκινήθη πρότερον ἐν τῷ στρατοπέδῳ τοῦτο καὶ ἐς τὴν πόλιν ἐντεῦθεν ὕστερον ἦλθεν. Sein Vorschlag für die Übersetzung von μεγίστη κίνησις als größter Mobilisierung kann auch dem Umfang, in dem der Kinesis-Begriff im Werk immer wiederkehrt und zentrale Prozesse beschreibt, nicht gerecht werden, da immer der Bogen zu den Kriegsvorbereitungen gespannt werden müsste, was bereits in seiner eigenen Argumentation bei der Interpretation der Stasis-Passage nur teilweise überzeugend gelingt. Somit kann Rusten seinen eigenen Anspruch, 87 Vgl. Rusten, Earthquake, 140–143.

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eine werkumfassende Bedeutung des Begriffs zu liefern, nur bedingt erfüllen, da seine Perspektive bereits so stark von Latacz’ Ausführungen zur »Vorkriegsbewegung« und dem Bezug der Begriffsbedeutung auf die Einleitung geprägt ist, dass eine Übertragung auf den Rest des Buches, wenn der Krieg bereits im Gange ist, weitere interpretatorische Schwierigkeiten hervorbringt. Daher finden sich eindeutige Widersprüche zwischen seinem Konzept von »mobilization«, unter der er »[…] converting resources like money (1.143.1), men (1.105.4), ships (3.16.1) or even rubble (1.93.2) or water (4.98.5) to offensive use in wartime […].«88 versteht, und den angegebenen Stellen. So wird in I, 105, 4 das Wort ἐκίνησαν in Bezug auf τὸ στράτευμα, also das Heer, gebraucht. Diese Männer befinden sich bereits im Krieg, sind also schon »mobilized«, schon »converted«: Thukydides benutzt das Wort hier, um eine mögliche Verlegung des Heeres auszudrücken, keine Mobilisierung oder Rüstung. Damit ist der Aspekt des »converting resources« in diesem Falle beispielsweise nicht gegeben, da es sich bereits um ein im Krieg kämpfendes Heer handelt, welches bewegt werden soll. Noch eindeutiger werden die interpretatorischen Schwierigkeiten bezüglich der Stelle VI, 36, 2, in der Athenagoras vor der Volksversammlung in Syrakus die Verbreitung von Gerüchten durch den Kinesis-Begriff (»κινοῦσι«) beschreibt: Inwiefern dies eine »Mobilisierung« darstellen soll, ist nur durch die Annahme mehrerer interpretatorischer Zwischenschritte zu verstehen. So sollen durch das »Bewegen« dieser Gerüchte die Syrakusaner für einen Krieg gegen Athen mobilisert werden. Daraus aber wiederum eine so eng gefasste Bedeutung wie »mobilisieren« für κινοῦσι zu rekonstruieren, überzeugt wenig, da, wie bereits erwähnt, alles im Werk mit dem Krieg direkt oder indirekt zusammenhängt und die Gerüchte selbst ja nicht mobilisiert werden sollen, sondern nur als ein Mittel dazu dargestellt werden. Darüber hinaus weist Rusten auf den Gebrauch der Phrase »κινεῖν τὰ ἀκίνητα« im Kontext des Missbrauchs religiöser Gegenstände und der Entehrung religiöser Stätten hin,89 die sich auch bei Thukydides finden lässt (I, 143; II, 24; IV, 98; VI, 70; VIII, 15). Der Bezug des Begriffs zu militärischen Aktionen ist aber dem Kontext des Werkes geschuldet und nicht einem Verständnis von κινεῖν als »Mobilisierung«: Dies kann aus der Nutzung der gleichen Phrase in anderen Kontexten, die eindeutig nicht militärisch geprägt sind, geschlossen werden, so z. B. bei Platon, Theat. 181b, die Rusten selbst anführt.90 Insgesamt 88 Rusten, Earthquake, S. 137. 89 Ebd. S. 140. Bei Thukydides selbst spricht die Verwendung in II, 24, 1 gegen diese Deutung: Die Athener stellen den Antrag, Geld auf der Akropolis für etwas anderes als den Notfall im Krieg zu »bewegen«, unter Todesstrafe. Hier zeigt sich, dass es auch möglich gewesen sein muss, das Geld nicht im Kontext des Krieges zu verwenden: Genau dieses κινεῖν sollte durch das Gesetz verhindert werden. Dies widerspricht der Interpretation, κινεῖν bedeute immer »mobilization«. 90 Weitere Stellen finden sich ebd. Anm. 18.

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sprechen damit mehrere gute Gründe gegen die von Rusten vorgelegte Deutung, den Kinesis-Begriff ausschließlich als »mobilization« zu verstehen, wobei jedoch sein Ansatz, die μεγίστη κίνησις des Proömiums über die Wortverwendung im Werk zu erklären, hohes interpretatorisches Potential birgt. Die Übersicht über die Forschung zum Kinesis-Begriff des Proömiums hat gezeigt, dass trotz der stetig wachsenden Komplexität der Interpretation und des Bewusstseins für die Problematik des Begriffs eine umfassende Deutung und Erklärung weiterhin ein Desiderat darstellt. Vor allem eine eingehende, konsequente Betrachtung aller Verwendungen im Text unter Berücksichtigung und möglicher Verbindung verschiedener, bisher präsentierter Forschungsansätze fehlt weiterhin, trotz des Vorstoßes von Rusten. Auch wird die Untersuchung des Kinesis-Begriffes immer wieder in den Kontext anderer Forschungsfragen wie des Datierungsproblems oder der historischen Bewertung Einzelner gestellt, womit häufig vom Problem des unklaren Bedeutungsspektrums von κίνησις bei Thukydides abgelenkt wird. So wird oft auf den unklaren Begriff selbst zurückgegriffen, um ihn zu interpretieren, weshalb eine zufriedenstellende Erklärung sowohl der Begriffswahl selbst als auch einer möglichen zugrundeliegenden Konzeption bisher noch aussteht. Der oben skizzierte Forschungsüberblick lässt sich als folgende Entwicklung erfassen: Wurde der Kinesis-Begriff anfangs noch als Homoionym für den Krieg verstanden, entwickelte sich langsam eine Perspektive, die den ausschließlichen Bezug zum Krieg auflöste und ihm eine eigenständige Bedeutung zusprach, die mit seiner Bewegungskonnotation zusammenhing. Inhaltlich und auch in zeitlicher Dimension wurde er über den Krieg hinausgedacht, was sich in den Vorschlägen »political movement« oder Unruhe und Aufregung vor Kriegsbeginn niederschlägt. Schließlich wurde auch die Pathemata-Liste in das Bedeutungsspektrum der κίνησις aufgenommen, woraus schließlich die Ansicht entstand, hinter dem Kinesis-Begriff verberge sich ein allumfassendes, kosmisches Prinzip, unter dem sich Krieg, Politik, Naturereignisse und alle anderen Komponenten des Werkes subsumieren liessen und in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stünden, wodurch die anfangs ausschließliche Fokussierung auf den zweiten Satz des Proömiums endgültig aufgebrochen wurde. In jüngster Zeit folgte dann durch Rusten der Versuch, die Charakteristik dieses Begriffs verstehen und beschreiben zu können, ohne dabei auf den Begriff selbst zurückzugreifen, indem man verschiedene Verwendungen im Werk zusammenführt und diese Inhalte miteinander verbindet  – mit den oben angeführten Schwierigkeiten. An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an, die die Möglichkeit untersuchen will, dass die κίνησις ein wirkendes Prinzip in der Darstellung sein könnte. Sie muss daher sowohl die Bezüge der μεγίστη κίνησις des Proömiums, als auch alle anderen Verwendungskontexte des Begriffs betrachten und darüber hinaus

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auch versuchen, einen ideengeschichtlichen Entstehungskontext des Werkes über die vorsokratischen Texte einzubeziehen, um die Untersuchung auf eine breitere Basis zu stellen. Dadurch soll es möglich werden, eine umfassendere Charakteristik der κίνησις bei Thukydides zu entwickeln, mit der der Begriff beschrieben werden kann, ohne auf den unklaren und obskuren deutschen Begriff der »Bewegung« selbst wieder zurückgreifen zu müssen. Dafür müssen die beiden bisherigen Ansätze der Forschung bezüglich des Kinesis-Begriffes im Proömium, die Untersuchung der konkreten Bedeutung und des Bezugs des Begriffes im Proömium selbst (Latacz, Rusten), sowie das Postulat eines werkumspannenden Konzepts mit vielfältigen Ebenen und Schichten, welches sich in der Bezeichnung »μεγίστη κίνησις« ankündige (Schmid, Meier), zusammengeführt werden.

2.2 Die Theorie der κίνησις: Bewegung und Ruhe als Darstellungsmotive bei Thukydides Der im Folgenden vorgestellte Forschungsansatz unterscheidet sich von den bisherigen vor allem dadurch, dass hier nicht mehr die Erarbeitung der Bedeutung bzw. einer Übersetzung des Kinesis-Begriffes im Fokus steht, sondern die Verarbeitung eines Werkkonzeptes im Zusammenhang mit dem Begriff. Dadurch ergeben sich Überschneidungen vor allem mit den Ansätzen von Schmid und Meier, sodass die hier dargestellte Forschung bereits im weiteren Sinne als eine Vertiefung dieser beiden Beiträge angesehen werden kann. Während die oben vorgestellten Arbeiten die Bedeutung des Kinesis-Begriffs im Proömium erklären wollten, nimmt der hier vorgestellte Ansatz die entgegengesetzte Richtung und führt allgemeine Darstellungstendenzen im Werk auf den Kinesis-Begriff des Proömiums zurück, womit er die Überlegungen Schmids und Meiers, die κίνησις als umfassend wirkendes Prinzip im Werk zu interpretieren, weiterentwickelt. So werden Ereignisschilderungen oder Charakterzeichnungen im Werk aus der Perspektive einer Auseinandersetzung mit der μεγίστη κίνησις interpretiert, sodass verschiedene Interpretationsfragen unter Hinweis auf die Verarbeitung von Bewegung und Ruhe im gesamten Werk erklärt werden können. So können beispielsweise Tendenzen der Charakterdarstellung des Brasidas als »schnell« oder des Nikias als »zögerlich« und »langsam« auf die Erwähnung der μεγίστη κίνησις zurückgeführt werden, die die Thematik des Werkes bereits von Anfang an festlege, sodass die Darstellung immer wieder auf die Aspekte der Bewegung oder der Ruhe zurückgeführt werden könne.91 Ebenso lasse sich die Verarbeitung des Motivs des Gegensatzes von Ruhe und Bewegung immer 91 Vgl. Strauss, City, S. 213.

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wieder im Werk identifizieren, so in der Rede der Korinther auf der Tagsatzung in Sparta in Buch I.92 In diesem Sinne bedingen sich beide Ansätze, wie zu sehen sein wird, gegenseitig, sodass ihre Verbindung logisch zwingend erscheint: Die Frage von Schmid und Meier, worin sich die μεγίστη κίνησις im Werk zeigen könnte, um dann daraus abzuleiten, wie sie zu verstehen sei, wird von diesem Ansatz bearbeitet, wobei jedoch die daraus abgeleitete Entwicklung eines erweiterten Begriffsverständnisses nicht im Fokus steht. Exemplarisch sei hier die Perspektive von Eric Voegelin, die dieser bereits 1957 in seinem mehrbändigen Werk »Order and History« entwickelte, vorgestellt. Er schrieb dort: »[…] he [Thukydides] was in search of an eidos or idea of the Kinesis as well as of its causes […]«93 und kommt zu dem Schluss: »The ­science of Thucydides explored the idea only of Kinesis, of the disturbance of order; Plato explored the idea of order itself.«94 Im Anschluss ordnet er seine gesamte Analyse des thukydideischen Werkes dieser Konzeption einer κίνησις unter und stellt bereits fest, dass der Krieg selbst nur ein Teil der κίνησις sein könne, da Thukydides’ Entwicklung einer »theory of Kinesis« auch die Gründe und die Entwicklung zum Krieg hin einschließe, sodass der Krieg als Klimax dieser Bewegung anzusehen sei.95 Während Voegelin zwar bereits deutlich macht, dass jeder Aspekt des Werkes auf diese »Erschütterung der Ordnung« zurückgeführt werden könnte96 und dass Thukydides’ Bedeutung gerade darin liege, aus der Charakteristik der historischen Realität eine Form der κίνησις kreiert zu haben,97 wird dagegen die Grundlage der Verbindung des KinesisBegriffes mit dem historischen Geschehen nicht eigens betrachtet, sodass die Frage offen bleibt, auf welchen Vorstellungen Thukydides seine »Theorie der κίνησις« hinsichtlich des historischen Geschehens entwickelt hat und wie sich diese Theorie im Einzelnen darstellt.98 Voegelin zeigt aber gleichzeitig, wie auch Schmid und Meier, dass ein Bezug des Kinesis-Begriffes auf die Darstellungskonzeption insgesamt in Erwägung gezogen werden sollte und arbeitet die Grundlagen eines solchen Bezuges heraus, ohne aber auf die philologischinhaltlichen Voraussetzungen des Postulats der μεγίστη κίνησις im Proömium 92 Vgl. S. Jaffe, Thucydides on the Outbreak of War. Character and Contest, Oxford 2017, S. 67–68. 93 Voegelin, Order and History II, S. 354. 94 Ebd. S. 357. 95 Ebd. S. 364. 96 Ebd. S. 358–368. 97 Ebd. S. 368. 98 Dies ist natürlich dem Überblickscharakter der Darstellung insgesamt geschuldet und kein Versäumnis Voegelins. Sein Umgang mit dem Kinesis-Begriff steht aber exemplarisch für die Mehrzahl an Publikationen, die die Bedeutung des Begriffes durch das Werk selbst erklären, nicht aber versuchen, das Werk mithilfe des Begriffs zu verstehen.

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näher einzugehen, von denen aus wiederum Schmid und Meier ihre jeweiligen Betrachtungen entwickelten. Einen Schritt weiter ging Leo Strauss 1964 in seinem Kapitel »On Thucydides’ War of the Peloponnesians and the Athenians« in seinem Buch »The City and Man«,99 in dem er die Darstellung der historischen Ereignisse als eine philosophische Auseinandersetzung mit den Prinzipien von »Bewegung« (motion) und »Ruhe« (rest) interpretierte100 und darin die Verarbeitung eines göttlichen Gesetzes, nämlich des Zusammenspiels von Bewegung und Ruhe sah.101 Thukydides habe, so Strauss, in »motion and rest« die »ältesten Dinge« gesehen, die auch die Götter selbst einschlössen102 und daher seine Darstellung an diesen beiden Prinzipien ausgerichtet, die sich sowohl in den beiden Hauptakteuren, Athen und Sparta,103 als auch den involvierten historischen Individuen wiederfinden ließen.104 Ebenfalls seien Fragen nach Gerechtigkeit (Dike) und Zwang (Ananke) im Kontext der Beziehung von Bewegung und Ruhe im Werk behandelt,105 wie sich beide Prinzipien auch im Melier-Dialog und der Sizilien-Expedition ausdrückten.106 Insgesamt, so Strauss, sei Thukydides »a historian who sees the singulars in the light of clearly grasped universals, the changing in the light of the permanent or sempiternal, of human nature as part of the whole which is characterized by the interplay of motion and rest; he is a philosophic historian.«107 Die These, dass in Thukydides’ Werk das Wechselverhältnis von »motion and rest« als einem Naturgesetz die gesamte Darstellungskonzeption bestimme, vertrat Strauss auch in späteren Beiträgen, in denen er verschiedene Stellen des Werkes unter diesem Aspekt betrachtete und die Interpretation vertiefte. So untersuchte er, inwiefern in den Reden die Einstellung der historischen Akteure und des Thukydides selbst zu den Prinzipien Ruhe und Bewegung herausgearbeitet werden kann108 und nannte diese Einstellung, der Interpretation von »motion and rest« als göttlichem Gesetz folgend, »theology«.109 In seinem Essay »Thucydides: The Meaning of Political History«110 widmete sich Strauss 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108

Strauss, City, S. 139–241. Vgl. ebd. S. 155–160. Vgl. ebd. S. 161. Vgl. ebd. S. 160. Vgl. ebd. S. 145–157 Vgl. ebd. S. 212–215. Vgl. ebd. S. 174–192. Vgl. ebd. S. 192–209. Ebd. S. 236. Ders., Preliminary Observations on the Gods in Thucydides’ Work. In: Ders., Studies in Platonic Political Philosophy, Chicago 1985, S. 89–104. 109 Ebd. S. 12. 110 Ders., Thucydides and the Meaning of Political History. In: T. L. Pangle (ed.), The Rebirth of Classical Political Rationalism: An Introduction to the Thought of Leo Strauss, Chicago 1989, 72–102.

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der Frage nach den Prinzipien der »political history«, die Thukydides wie kaum ein anderer in ihrer Form als »the essence of political life, the life of politics as it actually is«111 dargestellt und damit auch Einsichten in die menschliche Natur verbunden habe, deren umfassendste Darstellung ihm nur im Rahmen der »größten Bewegung« möglich gewesen sei: »Everything becomes visible in the biggest movement, and it becomes visible only now – with the emergence of the biggest movement itself.«112 Damit hat Strauss die Zentralität der κίνησις für die Darstellung erneut hervorgehoben und die Darstellung des größten Krieges, ebenso wie Schmid, von der Darstellung der größten Bewegung direkt abhängig gemacht und die Bedeutung der »theory of Kinesis«, wie Voegelin sie postulierte, für die Analyse der Verarbeitung von überzeitlichen Prinzipien, die dem Krieg selbst zugrunde liegen könnten, herausgestellt. Auf eine kritische begriffliche Auseinandersetzung mit κίνησις im Werk hat er jedoch im Rahmen seiner Interpretation verzichtet. Die Thematik der Antithese von »motion and rest« hat Clifford Orwin 1994 in seinem Buch »The Humanity of Thucydides«113 erneut als Ausgangspunkt seiner eigenen Betrachtung der Verarbeitung von Prinzipien wie Gerechtigkeit ­(»justice«), Frömmigkeit (»piety«) und Zwang (»necessity«) gewählt.114 Seine Analyse der Darstellung dieser Triebkräfte und Prinzipien, die der politischen Entwicklung im Werk zugrundeliegen, basiert vor allem auf der Annahme, dass Sparta und Athen durch die Korinther im Rahmen der Tagsatzung in Sparta unterschiedliche Charakteristika zugewiesen werden, die der Antithese von »motion and rest« entsprächen.115 Diese Charakteristik definiere schließlich auch das Verhältnis, in dem die Polis zu den im Fokus stehenden Prinzipien der Gerechtigkeit und Frömmigkeit stehe und darüber hinaus die Rolle des Zwangs in der Gestaltung ihrer Politik,116 die schließlich in der »Athenian Thesis« gipfele: Nicht Gerechtigkeit, sondern die Notwendigkeit bestimme nach der Interpretation der Athener größtenteils das politische Handeln.117 Der hauptsächliche Unterschied zwischen Athen und Sparta äußere sich, so Orwin, darin, wie viel Raum jeweils der Notwendigkeit und dem Zwang zugestanden werde: Im Gegensatz zu Athen sehe Sparta die Möglichkeit, sich gerecht und fromm zu verhalten, durch den äußeren Handlungszwang nicht eingeschränkt, sodass ihre Position als moralisch den Athenern überlegen dargestellt werde.118 Im Laufe der Dar111 112 113 114 115 116 117 118

Strauss, Political History, S. 75. Ebd. S. 83. C. Orwin, The Humanity of Thucydides, Princeton 1994. Vgl. ebd. S. 8 und 87–96. Vgl. ebd. S. 44. Vgl. ebd. S. 49. Vgl. ebd. S. 49. Vgl. ebd. S. 61.

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stellung zeige sich jedoch, dass der Kontrast zwischen Athen und Sparta nicht so stark zu sein scheine, wie diese Interpretation anfangs glauben mache: »The Athenian manner and the Spartan manner have proved less opposite than they first appeared. […] Each displays the virtues and vices characteristic of its distinctive manner of balancing piety and impiety, its claim to justice and its deference to necessity […].«119 Clifford Orwin hat 2017 in einem Artikel im »The Oxford Handbook of Thucydides« die Verbindung der »Athenian Thesis« zur Interpretation von »motion and rest« als einem übermenschlichen, göttlichen Prinzip im Werk noch stärker herausgestellt:120 Vor dem Hintergrund der Einbettung menschlicher Natur in die Natur selbst, die durch Bewegung charakterisiert sei, könne der Mensch nur eingeschränkt Kontrolle über sein Handeln ausüben.121 Die »Athenian Thesis« sei eine im Ansatz intuitive Erkenntnis dieser tieferen Wahrheit: Die Notwendigkeit, die Athens politisches Handeln bestimme, entspräche einer allgemeineren, natürlichen Struktur, in der menschliche Entscheidungen zwar Entwicklungen initiierten, die Macht dieser Entwicklungen jedoch die Macht der ursprünglichen Entscheidung übertreffe.122 Der Theorie von »motion and rest« entsprechend, spiegele die »Athenian Thesis«, ausgedrückt u. a. im Melier-Dialog,123 diese allgemeinere Konzeption des Werkes wider. Die von Strauss und Orwin betonte Funktion von »motion and rest« als übermenschlichem, göttlichen Prinzip soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit grundsätzlich auf begrifflicher Ebene genauer betrachtet werden, auch in Hinsicht auf das intellektuelle Milieu des Thukydides, um die Plausibilität des An­satzes mittels einer erweiterten Interpretationsgrundlage zu prüfen. Die grundsätzliche Frage, ob mit der κίνησις überhaupt das Wirken einer übermenschlichen Kraft in der griechischen Antike verbunden werden konnte, wird in den hier vorgestellten Arbeiten kaum ausführlich diskutiert, sodass sich die vorliegende Untersuchung unmittelbar mit der Grundlage des Interpretationsansatzes von Strauss und Orwin beschäftigen wird. Sie überprüft außerdem, inwiefern sich die hier vorgestellten Interpretationen auch plausibel an Stellen belegen lassen, an denen der Kinesis-Begriff selbst verwendet wird, denn eine solche Analyse könnte zwar die These der Darstellungskonzeption von »motion and rest« auf eine breitere Textgrundlage stellen, wird aber weder bei Strauss noch bei Orwin explizit durchgeführt.

119 Orwin, Humanity, S. 142. 120 Ders., Thucydides on Nature and Human Conduct. In: Balot / Forsdyke / Foster (edd.), Thucydides, S. 355–372. 121 Vgl. ebd. S. 370–371. 122 Vgl. ebd. S. 371–372. 123 Vgl. ebd. S. 356–357.

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Abschließend sei noch auf einen Aspekt der Forschung hingewiesen, der auch in der vorliegenden Arbeit eine entscheidende Rolle einnehmen wird und der sich bereits in den Ansätzen Strauss’ und Orwins abzeichnete. Gemeint ist damit die Darstellung eines gemeinschaftlichen, überindividuellen Charakters der beiden Hauptakteure des Krieges, Athen und Sparta, der die beiden Mächte jeweils mit dem Prinzip der Bewegung (Athen) oder der Ruhe (Sparta) assoziiert. Die Betrachtung dieser Darstellung basiert hauptsächlich auf der Korintherrede im Rahmen der Tagsatzung in Sparta im ersten Buch, die diese Antithese bezüglich beider Poleis entwickelt. Robert Luginbill legte 1999 eine umfassende Untersuchung124 dieser Rede und des auktorialen Kommentars in Buch VIII, 96, 5 vor und verband die Darstellungsanalyse der menschlichen Natur im Werk mit dem Aspekt der Präsentation des »national character« bei Thukydides.125 So hätten sich die beiden konträren Charaktere aus verschiedenen Emotionen, Angst und Hoffnung, heraus entwickelt, deren jeweilige Zentralität im Verhalten der Polis durch »traumatische Erlebnisse« in der Vergangenheit (Perserkriege, Kampf gegen die Heloten) begründet worden sei,126 worauf sich schließlich die im Werk zu findenden Verhaltenstendenzen beider Poleis zurückführen ließen. Neben Einzeluntersuchungen zur konkreten Konzeption dieser Darstellung127 hat besonders in jüngster Zeit Seth Jaffe128 die Bedeutung des gemeinschaftlichen Charakters der Poleis für die Darstellung des Thukydides herausgearbeitet.129 Er interpretiert die Charakterdarstellung Athens und Spartas als eine Darstellung der beiden Prinzipien Bewegung und Ruhe im Rahmen der μεγίστη κίνησις aus Buch I130 und leitet daraus die fundamentale Bedeutung dieser Charakteristika für die Darstellung ab. Durch die Charakteristik in der ersten Korintherrede würden dem Leser die Grundlagen für das Verständnis des Wirkens beider Prinzipien im Laufe der politischen Entwicklung vermittelt: 124 Die Beobachtung, dass in der Korintherrede zwei konträre Charakter der beteiligten Poleis skizziert werden, die ihren Niederschlag auch im weiteren Verlauf der Darstellung finden, ist bereits älter, hat jedoch bis dahin noch keine umfassende Betrachtung erfahren, vgl. L. Edmunds, Chance and Intelligence in Thucydides, Cambridge (Mass.) 1975, S. 89–97; Pouncy, Necessity, S. 57–63; W. R. Connor, Thucydides, Princeton 1984, S. 39–42; S. Ford, The Ambition to Rule. Alcibiades and the Politics of Imperialism in Thucydides, New York 1989, S. 17–40; Rood, Thucydides. S. 43–45, 47, 149, 189, 235–237, 317; Jaffe, Thucydides, S. 67–68. 125 R. D. Luginbill, Thucydides on War and National Character, Boulder 1999. 126 Vgl. ebd. S. 74–75. 127 Vgl. P. Cartledge / P. Debnar, Sparta and the Spartans in Thucydides. In: A. Rengakos / ​ A. Tsakmakis (edd.), Brill’s Companion to Thucydides, Leiden / Boston 2006, S. ­559–587, besonders S. 561–562 und P. Debnar, Speaking the same Language: Speech and Audience in Thucydides’ Spartan Debates, Ann Arbor 2001. 128 Jaffe, Thucydides wie Anm. 132. 129 Vgl. ebd. S. 197–210. 130 Vgl. Jaffe, Thucydides, S. 67–68.

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Die Charaktertypen selbst seien »manifestations of common natural drives.«131 Damit weise auch die Frage nach der Kriegsschuld unmittelbar auf solche Prinzipien (Ruhe, Bewegung und damit verbunden dem Zwang (»necessity«)) hin, die schließlich fundamentale Probleme in der Darstellung politischen Handelns bildeten.132 Jaffe verknüpft damit die detaillierte Betrachtung der Charakterdarstellung mit der Theorie des Wirkungsprinzips von Bewegung und Ruhe im Werk und vertieft so den Ansatz von Strauss und Orwin, wobei er feststellt, dass Thukydides den nationalen Charakter vor allem als Herausforderung für die jeweiligen politischen Führungsfiguren analysiere.133 Genau diesen Punkt hat 2018 Drew Stimson erneut aufgegriffen im Rahmen der Frage nach Aufbau, Konzeption und Funktion der Charakterdarstellung bei Thukydides134 und dabei die Interdependenz der Darstellungstendenz der individuellen Akteure und ihrer Fähigkeit, mit dem gemeinschaftlichen Charakter umzugehen, noch stärker herausgearbeitet.135 Er betont, dass eine eindeutige positive Tendenz für einen der beiden Poleis-Charaktere nicht festzustellen sei.136 Er weist nach, dass die Charakterdarstellung im Werk über die von Luginbill betrachteten Stellen hinausgeht und konsistent über das gesamte Werk verteilt wieder aufgegriffen wird, woraus auf ihre Zentralität in der Darstellung des Thukydides geschlossen werden könne.137 Eine Verbindung dieser Darstellungskonzeption zur μεγίστη κίνησις bzw. zum Kinesis-Begriff generell unternimmt aber auch er nicht, obwohl er immer wieder auf den Gegensatz von Ruhe und Bewegung hinweist.138 Wie der vorangegangene Überblick gezeigt hat, birgt ein umfassender konzeptioneller Ansatz, der die Funktion von κίνησις im Werk insgesamt untersucht, das Potential einer tiefgehenden Interpretation bezüglich der Verarbeitung möglicher philosophischer Ideen des Autors. Diese können u. a. in der Charakterisierung von Individuen und Gemeinschaften abgebildet und in der Schilderung ihrer Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des historischen Geschehens selbst gefunden werden. Die vorgestellten Ansätze sind im Rahmen der vorliegenden Arbeit besonders deshalb von Bedeutung, weil der Grad ihrer Gültigkeit und ihres Interpretationspotentials auch von der Bewegungsterminologie im Werk, dem Kinesis-Begriff selbst, abhängt, sodass die Frage, ob sich solche Darstellungskonzeptionen auch in der direkten Verwen131 132 133 134 135 136 137 138

Jaffe, Thucydides, S. 198. Vgl. ebd. S. 210. Vgl. ebd. S. 204–205. D. Stimson, Characterization and Politics in Thucydides (Diss. 2018), Michigan 2018. Vgl. ebd. S. 264. Vgl. ebd. S. 71. Vgl. ebd. S. 26–71. Vgl. ebd. S. 212, Anm. 317.

Die Theorie der κίνησις

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dung des Kinesis-Begriffes wiederfinden lassen, letztlich ebenso als eine Grundfrage dieser Ansätze und des Potentials ihrer zukünftigen Weiterentwicklung angesehen werden kann. In der Darstellung des Forschungsstandes hat sich gezeigt, dass das Prinzip der Bewegung bisher entweder allein begrifflich oder allein konzeptionell betrachtet worden ist: Es finden sich Beiträge ausschließlich zur Wortbedeutung selbst, die die mögliche Verarbeitung eines von diesem Begriff abhängigen Darstellungskonzeptes zwar erwähnen, aber nicht umfassend betrachten und es finden sich Beiträge, die ausschließlich ein von Bewegung abhängiges Darstellungskonzept betrachten, ohne den Begriff selbst und seine Verwendung im Text im Detail zu untersuchen. Die vorliegende Arbeit möchte beide Ansätze miteinander verbinden und sowohl die Charakteristik und Konnotation des Kinesis-Begriffes bei Thukydides untersuchen, als auch die mögliche Verarbeitung einer von diesem Begriff direkt abhängigen Konzeption im Werk. Die Untersuchung entwickelt damit zum einen bereits vorhandene Ansätze weiter, indem sie die Verwendungskontexte des Begriffs in die Betrachtung einbezieht, liefert dabei aber auch gleichzeitig eine philologische Grundlage für konzeptionelle Ansätze wie der »theory of Kinesis«, die es erlaubt, die Tragfähigkeit dieser Interpretationen zu überprüfen. Der Einbezug der vorsokratischen Texte und die Betrachtung des Kinesis-Begriffes und seiner Charakteristik in ihnen, sowie ihrer Verbindung zu Thukydides, betrifft dann auch unmittelbar die Theorie eines göttlichen Naturgesetzes von »motion and rest«. Ein Vergleich zwischen den Theorien der Vorsokratiker über die Entstehung und Entwicklung des Kosmos in Verbindung mit Bewegung und der Rolle von Bewegung bei Thukydides lässt schließlich Aussagen zu bezüglich der Plausibilität der These, dass für Thukydides die Prinzipien der Bewegung und der Ruhe als ihres Antipols gleichsam göttliche Wirkung im Bereich des Menschlichen entfalten können: »Thucydides hints at a world in which rest and motion have replaced the gods as first principles.«139 Durch die Erweiterung der Untersuchung auf andere Texte, die das Denken vor Thukydides und zu seiner Zeit wiederspiegeln können, wird es nicht nur möglich, die Wahrscheinlichkeit einer solchen Konzeption bei Thukydides generell zu bewerten, sondern auch seinen Anteil an intellektuellen Diskussionen und Auseinandersetzungen der Zeit durch diesen Vergleich besser abzuschätzen. Hier zeigt sich auch, warum gerade der Vergleich mit den Vorsokratikern methodisch zu begründen ist, da schließlich diese Denker als erste den Versuch unternahmen, die bis dahin herkömmlichen Erklärungen der Weltentstehung, festgehalten in den Göttermythen, durch anderen Prinzipien zu ersetzen, die aus der Beobachtung der Natur selbst abgeleitet werden konnten. Während bei den Vorsokratikern die üblichen Götter als Erklärungsprinzipien für das Ge139 Orwin, Thucydides, S. 370.

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Stand der Forschung

schehen in der Welt ersetzt werden, beispielsweise durch den Nous des Anaxagoras oder die vier Elemente des Empedokles, ist bei Thukydides zu untersuchen, ob möglicherweise die κίνησις in mit den Vorsokratikern vergleichbarer Form als Erklärungsprinzip in seinem Werk verarbeitet wird. Es ist daher vor diesem Hintergrund vielversprechend, den Umgang mit der κίνησις selbst in den Texten zu vergleichen. Von diesem Vergleich ausgehend kann dann untersucht werden, ob Thukydides, ähnlich wie die Vorsokratiker, mit Bewegung (und Ruhe)  die Götter als »erste Prinzipien« in seiner Darstellung ersetzt hat oder nicht. Daran hängt schließlich die Aussagekraft und Belastbarkeit des oben vorgestellten Interpretationsansatzes grundsätzlich: Nur, wenn sich plausibel zeigen lässt, dass Thukydides der Bewegung eine solche Bedeutung in seinem Werk einräumt, kann auch die Gestaltung des Werkes auf die Verarbeitung der Prinzipien von Ruhe und Bewegung zurückgeführt werden. Die Untersuchung der Vorsokratiker ist damit, wie der Forschungsüberblick zeigt, unabdingbare Voraussetzung zur Durchführung einer methodisch fundierten Untersuchung der Bedeutung des Kinesis-Begriffes im Werk des Thukydides. Der Einbezug des intellektuellen Kontextes des 6. und 5. Jahrhunderts, hier fokussiert auf den Kinesis-Begriff und, darüber hinausgehend, auf das generelle Denken über das Phänomen »Bewegung«, ermöglicht eine Verbreiterung des Quellenmaterials und damit eine detailliertere Untersuchung des Bedeutungsspektrums der μεγίστη κίνησις bei Thukydides selbst, wodurch auch die Interpretation möglicher damit zusammenhängender Darstellungskonzeptionen fundierter werden kann. Somit bietet die Arbeit auf vielerlei Ebenen Anknüpfungspunkte zu bereits erbrachter Forschung und versucht, die bisherigen begrifflichen und konzeptionellen Ansätze zu verbinden, auf neue Grundlagen zu stellen und weiterzuentwickeln, um sich einem tieferen Verständnis des Werkes, seiner zugrundeliegenden Konzeption und seiner ideengeschichtlichen Bedeutung weiter anzunähern.

3. Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

3.1 Das »Sein« des Parmenides   3.1.1 Die Attribute des Seins Zu Beginn soll das Lehrgedicht des Parmenides näher betrachtet werden, eine der komplexesten und sprachlich anspruchvollsten Quellen der vorsokratischen Philosophie. Parmenides wurde bereits in der Antike ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zu einem anderen Vorsokratiker, Xenophon, nachgesagt,1 welcher hier ebenfalls noch betrachtet werden wird. Parallelen finden sich nicht nur in der Art der Abfassung und Präsentation der philosophischen Gedanken, sondern auch inhaltlich: beide verfassten ihre Lehren in epischer Form zur Rezitation vor einem Publikum,2 standen der menschlichen Fähigkeit, »echtes Wissen« zu erlangen, mindestens skeptisch gegenüber und befassten sich mit dem Problem menschlicher Erkenntnis.3 Bei der Betrachtung des Textes ist zu beachten, dass Parmenides keine primär theoretisch-philosophische Abhandlung schreibt, die er allein aus Gründen der Gestaltung in epische Form kleidet, sondern dass Form und Inhalt eine Einheit bilden, sodass beispielsweise auch das epischmythische Proömium im Kontext der ihm nachfolgenden philosophischen Äuße­rungen zu lesen ist.4 Parmenides’ Gedicht gilt in der Forschung als markante Zäsur, dessen Inhalt und Methode der streng logischen Argumentation alle nachfolgenden Autoren 1 Überliefert bei Diogenes Laertius (DK28 A1). Die in der Arbeit verwendeten griechischen Texte entstammen, sofern nicht anders angegeben, der 6. Auflage der von H. Diels und W. Kranz herausgegebenen Sammlung »Die Fragmente der Vorsokratiker«, Bd. I, Berlin 1951 und Bd. II, Berlin 1952. Nach dieser Ausgabe und ihrer Zählung richtet sich auch die Angabe der Textstellen. 2 Vgl. L.  Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker II, Griechisch-Lateinisch-Deutsch, Berlin 3 2013, S. 47. 3 Vgl. die Einführung von Ernst Heitsch in Parmenides, Die Fragmente. GriechischDeutsch, herausgegeben, übers. u. erläutert v. Ernst Heitsch, Darmstadt ²1991, S. 60 (im Folgenden angegeben als »Heitsch, Parmenides«) und S. 65. 4 Vgl. Gemelli Marciano, Vorsokratiker II, S. 47; T. Rickert Parmenides, Ontological Enac­ tion and the Prehistory of Rethoric (Philosophy and Rethoric 47 (2014)), S. 475–476.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

im Bereich der Naturphilosophie zu einer Auseinandersetzung mit eben jenen zwangen.5 Parmenides führt dabei die Argumentation über das » ausgeschlossene Dritte«6 ein: es gibt nur zwei Alternativen, entweder etwas »ist« oder etwas »ist nicht«. Dieses grundlegende Prinzip wird ihm, nach einer mythischen Fahrt zu himmlischen Toren, von einer Göttin offenbart (DK28 B2). Nur diese zwei Wege des Untersuchens, so die Göttin, seien zu erkennen und einer da von, »es ist nicht und Nicht-Sein ist notwendig«, sei nicht begehbar, sodass für die Durchführung einer Untersuchung, die die Erkenntnis von Wahrheit zum Ziel hat, nur die Aussage »es ist« in letzter Konsequenz zählen könne:7 jedes Ergebnis, jede Erkenntnis, die in irgendeiner Weise auf der Annahme eines »es ist nicht« fußt, könne keine Erkenntnis sein, denn »es ist nicht« könne nicht gedacht werden und schließe daher aus, dass auf dieser Grundlage eine wahre Aussage getroffen werden kann (B2 Vers 7–8).8 Ein Schwanken zwischen beiden Alternativen schließt sie ebenfalls aus.9 Gleichzeitig wird die Möglichkeit des Erlangens von wahrem Wissen allein über die Sinnesorgane bezweifelt (B1, Vers 30), wobei jedoch, im Gegensatz zu anderen Denkern der Zeit wie beispielsweise Xenophanes oder Alkmaion, für Parmenides auch die Menschen in der Lage sind, »Wahres« zu erfahren: durch das konsequente Verfolgen der Logik.10 Dieser Aspekt der logischen Beweisführung im Gedicht des Parmenides wird in den folgenden Ausführungen die zentrale Rolle spielen. Es ist darüber hinaus zu beachten, dass sich die vorliegende Arbeit ausschließlich auf den Aspekt der Bewegung konzentriert und daher inhaltlich-formale Probleme des Textes nur insofern besprochen werden, als sie diesen Bereich betreffen. Daher wird auch hier nicht der gesamte Text betrachtet, sondern nur die Passage des Fragments B8, in der Parmenides sich konkret mit der Frage nach Bewegung beschäftigt. Im Fragment B8 beschreibt Parmenides den Weg des »es ist« und erläutert die Zeichen, die diesem Wege zukommen (Verse 1–6):

5 Vgl. P. Curd, Parmenides and after: Unity and Plurality. In: M. L. Gill / P. Pellegrin (Hgg.), A Companion to Ancient Philosophy, Malden / Oxford 2006, S. 34; C. Rapp, Vorsokratiker, München 1997, S. 101; J. Palmer, Parmenides and Presocratic Philosophy, Oxford 2009, S. 1. 6 Vgl. Heitsch, Parmenides, S. 83. 7 Zu den verschiedenen Bedeutungsnuancen und -möglichkeiten von εἶναι bei Parmenides vgl. Heitsch, Parmenides, S. 110–128; Rapp, Vorsokratiker, S. 112–119; Palmer, Parmenides, S. 125–136. 8 Vgl. A. Mourelatos, The Route of Parmenides, New Haven / London 1970, S. 74–80. 9 Vgl. Heitsch, Parmenides, S. 143; Rapp, Vorsokratiker, S. 107; Mourelatos, Route, S. 91–93; M. Furth, Elements of Eleatic Ontology. In: A. Mourelatos (ed.), The Pre-Socratics. A Collection of critical Essays, Princeton 1974, S. 248. 10 Vgl. Heitsch, Parmenides, S. 72–79.

Das »Sein« des Parmenides   

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[…] μόνος δ’ ἔτι μῦθος ὁδοῖο   λείπεται ὡς ἔστιν· ταύτῃ δ’ ἐπὶ σήματ’ ἔασι   πολλὰ μάλ’, ὡς ἀγένητον ἐὸν καὶ ἀνώλεθρόν ἐστιν,   οὖλον μουνογενές τε καὶ ἀτρεμὲς ἠδ’ ἀτέλεστον·   οὐδέ ποτ’ ἦν οὐδ’ ἔσται, ἐπεὶ νῦν ἔστιν ὁμοῦ πᾶν,  (5)   ἕν, συνεχές· […]11 »So bleibt nur noch die Rede über den Weg, dass »IST«. Auf diesem Weg gibt es sehr viele Zeichen: Da es ungeboren ist, ist es auch unzerstörbar, ganz, einzig, unbewegt und nicht unvollendet; weder war es jemals, noch wird es einmal sein, da es jetzt zugleich ganz ist, eines, zusammenhängend.«12

An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die Eigenschaften oder Merkmale, die Parmenides hier als »Zeichen« des Seins (σήματα) präsentiert, an göttliche Eigenschaften erinnern.13 Diese Zeichen sind die Eigenschaften, die etwas haben muss, um »zu sein«: Hier zeigt Parmenides, dass nur der Weg des »es ist« auch logisch zwingend als einziger gedacht werden kann und damit zu wahrer Erkenntnis führt, wenn er verfolgt wird.14 Somit schreibt er dem Sein an sich folgende Merkmale zu: unentstanden, unzerstörbar, ganz, einzig, unbewegt und vollendet. Diese Merkmale müssen einem Subjekt zu εἶναι oder dem idealen Seienden zukommen, abhängig von der jeweiligen Interpretation des Textes.15 Für die vorliegende Untersuchung ist dabei aber lediglich der Aspekt der Unbeweglichkeit in seiner Funktion als eines der zentralen Merkmale des Seins bei Parmenides von Bedeutung. Parmenides nutzt zur Beschreibung der Unbeweglichkeit das Wort ἀτρεμές, doch wird dieses im anschließenden Teil des Fragments, welches im Allgemei11 Die zitierten Textstellen für Parmenides folgen der Ausgabe von Gemelli-Marciano, Vorsokratiker II . 12 Alle Übers., sofern nicht anders angegeben, nach Gemelli Marciano, Vorsokratiker II, S. 6–41. 13 Vgl. Heitsch, Parmenides, S. 163–166, außerdem die Textkritik auf S. 154; A. H. Coxon, The fragments of Parmenides. A critical text with introduction and translation, the ancient Testimonia and a commentary. Revised and Expanded Edition edited with new Translations by Richard McKirahan and a new Preface by Malcolm Schofield, Las Vegas / ​ Zürich / Athen 2009, S.  327. 14 Vgl. Mourelatos, Route, S. 94; Rapp, Vorsokratiker, S. 129–130. 15 Ausführliche Besprechungen zur Bedeutung der einzelnen Eigenschaften bei Rapp, Vorsokratiker, S. 130; Mourelatos, Route, S. 94–133; S. Austin, Parmenides. Being, Bound, and Logic, New Haven / London 1986, S. 44–64. Für das ideale Seiende vgl. Heitsch, Parmenides, S. 165.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

nen als eine Art näherer Erläuterung der anfangs genannten Merkmale des Seins verstanden wird,16 ersetzt durch ἀκίνητον (Vers 25 und 38), worauf an späterer Stelle nochmals umfangreicher eingegangen wird. Zur besseren Übersicht sollen Parmenides’ gesamte Argumentation und ihre logische Struktur im Folgenden kurz zusammengefasst werden. In den Versen 6–21 werden die Eigenschaften »unentstanden« und »unzerstörbar« erläutert, indem sie logisch aus dem Grundsatz, dass nur »es ist« denkbar ist, entwickelt werden. Für das Sein kann kein Ursprung gefunden werden, es kann nicht wachsen, denn würde es sich entwickeln, dann aus etwas, was noch nicht »Sein« ist, was nach dem gewählten Grundsatz unmöglich ist. Dieser Grundsatz wird als logischer Ausgangspunkt für die Herleitung aller Attribute präsentiert. Außerdem gäbe es keine Erklärung für eine Veranlassung dieser Entwicklung: Sein ist immer und kann nicht aus etwas anderem, was dann Nicht-Sein wäre, entstehen (Vers 6–14). Der Verweis auf Dike in Vers 14, die das Sein in den Fesseln hält, ist dabei ein Hinweis auf die logische Notwendigkeit der Gültigkeit des Satzes, dass nur »es ist« seiend und wirklich ist, da Parmenides bereits im Proömium auf die Tore zu sprechen kommt, die nur Dike öffnen kann (B1, 14): sie ist damit die Personifikation dieser Logik17 und soll diese bei der Argumentation erneut in Erinnerung rufen. Dike ist damit sowohl eine Metapher für die Logik, als auch eine mythische Figur in der Handlung des Gedichts: beide Aspekte lassen sich nicht trennen. Schließlich seien Werden und Vergehen keine Prozesse, die das Sein betreffen könnten, da sowohl das eine als auch das andere etwas anderes als Sein voraussetzten und damit abhängig seien von etwas, was (noch) nicht ist. Es kann aber nach der gewählten Prämisse keine Entwicklung geben, die ihren Ausgangspunkt in einem Zustand hat, der nicht Sein ist, damit kann es auch vom Sein selbst keine Entwicklung als eine Art Werden oder Vergehen geben. In den Versen 22–25 werden die Merkmale »ganz« und »einzig« logisch begründet: Das Sein sei nicht unterteilt, da einzelne Teile voneinander unterschieden werden müssten. Dieser Unterschied müsste sich in einem Mehr oder Weniger von etwas, oder indem die Teile etwas sind und etwas anderes nicht, was ein anderer Teil wiederum ist, äußern. Beide Kriterien widersprächen dabei der logischen Grundlage des gewählten Weges des »es ist«, weshalb es keine unterschiedlichen Teile im Sein geben könne und keine Differenz bezüglich des Seienden: es ist daher ganz und einzig im Sinne des griechischen μουνογενές, »von einer Art / Form«.18

16 Vgl. Mourelatos, Route, S. 162; Palmer, Parmenides, S. 139. 17 Heitsch, Parmenides, S. 168; vgl. Mourelatos, Route, S. 102. 18 Vgl. Rapp, Vorsokratiker, S. 134–137, Mourelatos, Route, S. 111–114.

Das »Sein« des Parmenides   

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Die Verse 26–32 betreffen schließlich den Aspekt der Bewegung: αὐτὰρ ἀκίνητον μεγάλων ἐν πείρασι δεσμῶν ἔστιν ἄναρχον ἄπαυστον, ἐπεὶ γένεσις καὶ ὄλεθρος τῆλε μάλ’ ἐπλάχθησαν, ἀπῶσε δὲ πίστις ἀληθής. ταὐτόν τ’ ἐν ταὐτῶι τε μένον καθ’ ἑαυτό τε κεῖται χοὔτως ἔμπεδον αὖθι μένει· κρατερὴ γὰρ Ἀνάγκη  (30) πείρατος ἐν δεσμοῖσιν ἔχει, τό μιν ἀμφὶς ἐέργει, οὕνεκεν οὐκ ἀτελεύτητον τὸ ἐὸν θέμις εἶναι […]. »Ferner ist es unbeweglich in den Grenzen gewaltiger Fesseln, ohne Anfang, ohne Ende, da Entstehen und Vergehen in die weiteste Ferne verschlagen worden sind. Der wahre Beweis hat sie vertrieben. Als dasselbe und in demselben verharrend ruht es in sich selbst und bleibt so fest auf der Stelle; denn ein mächtiger Zwang hält es in den Fesseln der Grenze, die es ringsum umschließt; deswegen19 ist es nicht erlaubt, dass das Seiende unvollendet ist; […].«

Hier wird aus dem ἀτρεμές der ersten Verse das bereits erwähnte ἀκίνητον und die Wahl dieses Begriffes in Verbindung mit der von Parmenides gewählten Argumentation und der Position des Arguments im Gedicht hat das Sinn­ verständnis der Stelle bis heute erschwert,20 denn es findet sich, im Gegensatz zur Erklärung anderer Attribute, kein Argument mit Bezug auf die Grundannahme »es ist« für die Negation der Bewegung.21 Das argumentative Problem lässt sich besonders eindeutig im Vergleich zum Aspekt der Ganzheit und der Einzigartigkeit, ausgedrückt in der Beschreibung als οὖλον und μουνογενές in B8, 4, deutlich machen: in den Versen 5–15 findet sich eine Herleitung dieser beiden Aspekte. Das Sein muss demnach »ganz« sein, da es ansonsten andernfalls an irgendeiner Stelle »nicht sei«, denn wenn etwas nicht »ganz und gar« (B8, 11) ist, dann fehlt ihm etwas. Da das Nicht-Sein Voraussetzung für das Fehlen ist,

19 Diese kausale anaphorische Beziehung hat keine Auswirkungen auf die Diskussion der Frage nach der Bewegung des Seins, da sich die Begründung auf den Aspekt der Fesseln, die das Sein »ringsum umschließen« bezieht, nicht auf den Aspekt der Bewegung, vgl. H. Fränkel, Wege und Formen frühgriechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien, hg. v. F. Tietze, München ²1960, S. 191; Mourelatos, Route, S. 121; Palmer, Parmenides, S. 155; R. McKirahan, Signs and Arguments in Parmenides B8. In: P. Curd / D. W. Graham (Hgg.), The Oxford Handbook of Presocratic Philosophy, Oxford 2008, S. 201. 20 Vgl. McKirahan, Signs, S. 200; Mourelatos, Route, S. 115–117; Palmer, Parmenides, S. 155; Rapp, Vorsokratiker, S. 137. 21 Vgl. P. Curd, The Legacy of Parmenides. Eleatic Monism and Later Presocratic Thought, Princeton 1998, S. 83–84.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

das Nicht-Sein aber nicht existieren kann, so kann auch nichts fehlen, das Sein muss also »ganz« sein. Ebenso muss es einzigartig sein, denn nach dieser Logik kann nichts neben ihm entstehen, denn das Entstehen benötigt einen Zustand des »Nicht-Seins«, aus dem heraus etwas entsteht. Da es diesen Zustand nicht geben kann, kann auch nichts neben dem Sein entstehen, sodass es μουνογενές sein muss. Eine vergleichbare logische Herleitung der Unbewegtheit, die einzig auf der Prämisse, dass es Nicht-Sein nicht geben kann, aufbaut, lässt sich aber im überlieferten Text nicht finden. Somit entsteht eine logische »Lücke« in der Erklärung der verschiedenen Aspekte des Seins. Die Unbewegtheit wird nicht auf die Prämisse »nur »es ist« ist möglich« zurückgeführt, sondern direkt auf die »Grenzen gewaltiger Fesseln« und auf den »mächtigen Zwang«, der das Sein in diesen Fesseln halte. Weder sind der Ausschluss des Entstehens und Vergehens, noch die Vollendung des Seins Begründungen für die Unbewegtheit, denn der Auschluss des Entstehens und Vergehens bezieht sich auf die Abwesenheit von Anfang und Ende des Seins, die Vollendung des Seins ergibt sich aus der Möglichkeit, es ringsum zu umschließen.22 In welcher Beziehung aber die Prämisse »nur »es ist« ist möglich« mit dem Aspekt der Unbewegtheit steht, bleibt offen. Häufig findet man daher in der Literatur den Versuch, diese Stelle über verschiedene Bezüge zu anderen bereits genannten oder noch kommenden Attributen und deren Argumentationsstrukturen zu erklären, ohne dabei die Frage beantworten zu können, warum Parmenides ausgerechnet hier das enge logische Korsett seiner Argumentation verlässt und ein Merkmal durch indirekte Verweise auf andere Eigenschaften und Kausalitäten erläutert, während er sich im Rest des Fragments an die herkömmliche Struktur seiner Argumentation im Hinblick auf den Weg des »es ist« unter eindeutiger Bezugnahme zum jeweiligen betroffenen Merkmal hält.23 Die ältere Forschung, so Cornford 193924 und noch Popper 1958,25 versuchte, diese Lücke durch das Einsetzen eines Arguments des Melissos zu füllen, der die Nicht-Bewegung über den Verweis auf die Unmöglichkeit einer Leere, die Voraussetzung für jede Art von Bewegung sei, erklärte.26 Obwohl diese Erklärung mit der Grundannahme, dass nur »es ist« existieren kann, in Einklang steht, findet sich bei Parmenides kein Hinweis auf eine solche Argumentation, sodass 22 Vgl. oben Anm. 19. 23 Vgl. Rapp, Vorsokratiker, S. 137; Heitsch, Parmenides, S. 172; Mourelatos, Route, S. 116; Austin, Parmenides, S. 47–64. 24 Vgl. F. M. Cornford, Plato and Parmenides. Parmenides Way of Truth and Plato’s Parmenides translated with an Introduction and a running Commentary, London 1939, S. 42. 25 Vgl. K. Popper, Back to the Presocratics. In: D. Furley / R . Allen (edd.), Studies in Presocratic Philosophy I, London / New York 1970, S. 143 (zuerst veröffentlicht in Proceedings of the Aristotelian Society (N. S. 59 (1958–59)), S. 1–24). 26 DK 30 B7

Das »Sein« des Parmenides   

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zu fragen ist, warum er sie, wäre sie bereits von ihm entwickelt worden, nicht an dieser Stelle dargestellt hat.27 Es ist daher eher wahrscheinlich, dass bereits Melissos diese Stelle als unbefriedigend und in der Argumentation als inkonsistent empfunden haben könnte und mit der Entwicklung der o.g. Erklärung diese Lücke in der Darstellung seines Lehrers überbrücken wollte.28 Damit kann aber nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass Parmenides das Attribut der Unbeweglichkeit auf diesem Argument aufbaut, womit auch die Interpretation der Stelle, fragt man nach der Funktion dieser Stelle für Parmenides und sein philosophisches System, nicht vor dem Hintergrund einer solchen anachronistischen Argumentation durchgeführt werden sollte. Dementsprechend ist diese Deutung zusammen mit ihrer Erklärung mehrfach auf Widerspruch gestoßen.29 Aufgrund der Schwierigkeit der Zuordnung eines Arguments zum Ausschluss von Ortsveränderung für das Sein hat sich seit 1930 durch Fränkel die Deutung etabliert, ἀκίνητον generell als »unveränderlich« zu übersetzen. Durch den Ausschluss von Entstehen und Vergehen als Grundlage jeglicher Veränderung sei diese unmmöglich, wodurch sich keine Notwendigkeit für die Ausführung eines eigenen Arguments ergäbe.30 Diese Deutung kann jedoch, obwohl sie häufig akzeptiert wird, nicht alle Unklarheiten beseitigen, vor allem nicht den anscheinend fehlenden Zusammenhang von Prämisse und Unbeweglichkeit und die Frage, inwiefern sich der Ausschluss von Prozessen des Entstehens und Vergehens auch auf die Veränderung des Ortes beziehen könnte, worauf bereits oben schon eingegangen worden ist und was auch die Forschungsliteratur kritisiert.31 Insgesamt kann keine der bisher vorgebrachten Erklärungen wirklich überzeugen, da sie auf unterschiedliche Schwierigkeiten treffen, hauptsächlich auf die

27 Vgl. G. S.  Kirk / M. C.  Stokes, Parmenides’ Refutation of Motion (Phronesis 5 (1960)), S. 2–3, L. Tarán, Parmenides, Princeton 1965, S. 112. 28 Vgl. Rapp, Vorsokratiker, S. 139. Zum Unterschied zwischen Parmenides’ theoretischer und Melissos’ materialistischer Perspektive auf die eleatische Philosophie vgl. P. Curd, Anaxagoras of Clazomenae. Fragments and Testimonia. A Text with Translation and Essays, Toronto 2007, S. 141. 29 Vgl. dazu J.  Malcolm, On Avoiding the Void (OSAPh 9 (1991)), S. 75–94. Seine eigene Erklärung, dass die Feststellung jeglicher Ortsveränderung eine Änderung der Position erfordert, die von der vorherigen unterschieden ist und Unterscheidung im Sein nicht möglich ist, weshalb es keine Bewegung geben kann (S. 77), findet aber ebenfalls keine direkte Entsprechung im Text. Außerdem Kirk / Stokes, Refutation, S. 1–4; J. Warren, Presocratics, Stocksfield 2007, S. 111–114. 30 Vgl. Fränkel, Wege und Formen, S. 193; Kirk / Stokes, Refutation, S. 2; Rapp, Vorsokratiker, S. 137–138; Curd, Legacy, S. 83–87. 31 Palmer, Parmenides, S. 155; Rapp, Vorsokratiker, S. 138–140; Warren, Presocratics, S. 98; Curd, Legacy, S. 84.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

doppelte Konnotation von Lokomotion und qualitativer Veränderung im Wort κίνησις und die obskure Erklärung der Fesseln, die als einziges Argument in direk­tem Bezug zu ἀκίνητον steht, während Entstehen und Vergehen sich direkt nur auf die Attribute ἄναρχον und ἄπαυστον beziehen.32 Es ist daher festzuhalten, dass allein die textuelle Nähe, die zwischen ἀκίνητον und dem Entstehen und Vergehen besteht, noch kein ausreichendes Kriterium darstellt, um dieses Attribut zu erklären, da die grammatisch-kausale Verknüpfung mindestens zweideutig ist und sich eher auf ἄναρχον und ἄπαυστον bezieht als auf ἀκίνητον.33 Dazu kommt die bereits ausgeführte Schwierigkeit, dass nicht zu erkennen ist, wie Entstehen und Vergehen sich auf die Ortsveränderung des Seins auswirken sollten. Desweitern ist anzumerken, dass zur Begründung des Ausschlusses eines Ortswechsels (κεῖται χοὔτως ἔμπεδον αὖθι μένει) ausschließlich auf die Fesseln rekurriert wird und nicht auf Entstehen und Vergehen und beim zweiten Gebrauch von ἀκίνητον in Vers 38 ebenfalls von »festbinden« (Μοῖρ’ ἐπέδησεν) die Rede ist, während Entstehen und Vergehen nicht mehr erwähnt werden. Die häufige Wiederholung der Verbindung Bewegung-Fesseln auf engem Raum stützt die These, dass sich der Ausschluss von Entstehen und Vergehen allein auf die Merkmale ἄναρχον und ἄπαυστον bezieht34 und die »gewaltigen Fesseln« ausschließlich auf die Unbeweglichkeit, da der Aspekt der Ortsbewegung in ἀκίνητον ebenso enthalten ist wie der qualitativer Veränderung – dies lässt sich z. B. daraus schlussfolgern, dass zu Beginn des Fragments noch das Wort ἀτρεμές verwendet wird, welches sich deutlich auf den Aspekt physikalischer Bewegung bezieht. Um die Abwesenheit von Entstehen und Vergehen vollständig auf die Unbeweglichkeit zu beziehen, müsste die Formulierung der »Fesseln« in jedem einzelnen Fall mit dieser Abwesenheit deckungsgleich sein, was der Text nicht offeriert: Auch das später angeführte »den Ort wechseln« (Vers 41) wird ausschließlich durch diese Fesseln negiert und nicht durch die Abwesenheit von Entstehen und Vergehen. Es bleibt daher dabei, dass die Argumentation für ἀκίνητον in B8, 26 schwer zu erklären und mit der Prämisse »es ist« zu verbinden ist, sodass sich die Frage ergibt, warum das Sein seinen Ort nicht wechseln können sollte, bzw. wie Parmenides auf die Attribuierung ἀκίνητον kommt, ohne diesen Aspekt logisch aus seiner Prämisse abzuleiten und damit auf »gewaltige Fesseln« und einen »mächtigen Zwang« angewiesen zu sein, die dieses Pro­blem für ihn lösen? In der Forschungsliteratur wird allgemein nur von »change« oder Veränderung gesprochen, um alle Prozesse der Veränderung, ört32 Palmer, Parmenides, S. 153; Tarán, Parmenides, S. 109. 33 Diese Möglichkeit wird bei Curd nicht diskutiert: »What we are told is that it is akinẽton and ›without start or stop‹, held within the limits of mighty fetters, because (epei) there is no coming-to-be or passing away.«, Legacy, S. 84. 34 Vgl. Coxon, The fragments, S. 328.

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lich und qualitativ, abzudecken, wobei das Problem der argumentativen »Lücke«, bzw. der Schwierigkeit der Erklärung, häufig nicht angesprochen wird.35 Doch dass die Ortsveränderung ein wichtiger Teil des Attributs ἀκίνητον sein muss, wird durch die Formulierung von ταὐτόν τ’ ἐν ταὐτῶι τε μένον καθ’ ἑαυτό τε κεῖται χοὔτως ἔμπεδον αὖθι μένει nochmals deutlich: hier werden sowohl die qualitative Veränderung (ταὐτόν) als auch die physikalische Ortsbewegung (ἐν ταὐτῶι, αὖθι μένει) jeweils explizit ausgeschlossen.36 Ebenso lässt die bildliche Sprache der Fesseln und des Festhaltens auch an ein Objekt denken, das an seinem Platz bleibt. Die bildliche Sprache ist eindeutig auf die Verhinderung von Orts­veränderung ausgerichtet, womit man wieder vor dem Problem steht, dass die Abwesenheit von Entstehen und Vergehen kein zwingendes Ausschlusskriterium für die Ortsveränderung sind.37 Die epische Gestaltung des Gedichts legt es nahe, dass die Formulierungen mit Bedacht gewählt sind, um es dem Zuhörer leichter zu machen, das Gehörte zu verstehen und zu verarbeiten. Wenn Parmenides daher Bilder bemüht, die eindeutig die Ortsveränderung betreffen, so scheint konsequenterweise ein Argument gegen diese, welches mit den anderen Argumenten in seiner Struktur vergleichbar ist, zu fehlen. Damit ist es unplausibel, dass Parmenides hier für das Sein nur das ewige Gleich-Sein durch ἀκίνητον ausdrückt, ohne die Ortsveränderung zu berücksichtigen, womit die Übersetzung »unveränderlich« im allgemeinen Verständnis nur einen Aspekt insofern wiedergeben würde, als dass Sein immer Sein bleibt, womit nicht automatisch gesagt ist, dass es auf einer Stelle bleiben muss, und

35 Dazu auch J..E. Sisko, Anaxagoras betwixt Parmenides and Plato (Philosophy Compass 5/6 (2010)), S. 434, Fußnote 11. Curd diskutiert die Schwierigkeiten dieser Übersetzung, entscheidet sich aber für »change« im Sinne eines Prozesses des »displacement or disturbance from a state, understood as the alteration or change in what a thing is […].«, Legacy, S. 86. Explizit dagegen E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer Geschichtlichen Entwicklung I, 1 (Nachdruck der Ausgabe v. W.  Nestle, Leipzig, 61919), Darmstadt 71963, S. 603, Anm.1 und K. Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, Frankfurt 41985, S. 108–109. Später finden diese Anmerkungen nur noch selten Aufnahme in die Diskussion. 36 Vgl. Tarán, Parmenides, S. 109. 37 Curd, Legacy, S. 86, sieht diese Formulierungen als rein metaphorisch an, kann aber dafür keine überzeugenden Argumente liefern. Auch die angeführten Vergleichsstellen beinhalten lokomotive Elemente, die zwar Metaphern bilden, sich aber totzdem auch auf den Aspekt der Lokomotion beziehen und eben nicht nur ausschließlich auf Veränderung (in Frieden bleiben (Bacchylides V. 200) oder nach Fehlern untätig bleiben (Soph. Ant. 1027) – in beiden Fällen kann sogar für einen wortwörtlichen Gebrauch argumentiert werden, dass Menschen im Frieden nicht fliehen müssen und dass jemand sich bewegt, um Dinge wiedergutzumachen; andere angeführte Stellen enthalten gar keinen KinesisBegriff und sind zum Nachweis ungeeignet (S. 86, Anm. 55). Vgl. auch Tarán, Parmenides, S. 110.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

daher abzulehnen ist. Der Vorschlag von Fränkel,38 für »bewegungslos« »ohne Veränderung« einzusetzen, kann diese Schwierigkeit nicht lösen, wie Richard McKirahan bemerkt: ein direkter Bezug zwischen ἀκίνητον und »es ist« kann in beiden Fällen nur mit gedanklichen Hilfskonstruktionen hergestellt werden.39 Interessant ist auch, dass Parmenides an anderer Stelle, wenn er Entstehen und Vergehen für das Sein ausschließt (Vers 14–21), sowohl auf die Fesseln, als auch auf die Prämisse »nur »es ist« ist möglich« verweist – ein Indiz dafür, dass Parmenides an den Stellen, an denen es ihm möglich war, nicht allein bildliche Sprache bemühte, sondern auch auf strenge Logik zurückgriff. Als Begründung für die Abwesenheit von Entstehen und Vergehen wird nämlich einmal auf die Fesseln der Dike in ihrer Funktion als personifizierter Logik verwiesen, danach aber auf die Ausschließlichkeit der Prämisse »was ist, ist«, verbunden mit der Begründung, dass die Annahme von Entstehen und Vergehen jeweils eine Phase des »es ist nicht« implizierten, wodurch der Prämisse nicht entsprochen würde. Hier wird also das Argument der Fesseln mit einem rein logisch-deduktiven Argument verbunden. Eine solche Verbindung fehlt aber in Vers 26 ff. ebenso wie in Vers 38, in dem die Moira das Sein bindet, »ganz und unbeweglich« zu sein als Voraussetzungen für den Ausschluss von »Nicht-Sein« jetzt und in der Zukunft. Dadurch wird die Unbeweglichkeit Voraussetzung für die Beständigkeit des Seins – ein Aspekt, der anschließend weiter ausgeführt werden soll – ein Argument für diese Unbeweglichkeit, welches vergleichbar wäre mit der logischdeduktiven Präsentation in Vers 14–21 fehlt jedoch. Es ist somit unzureichend, diese Stelle allein aus dem Verweis auf andere Argumentationen im Kontext der »Fesseln«, wie es J. Palmer mit Blick auf Vers 14 versucht,40 zu erklären. Ebenso ergäbe sich bei einer ausschließlichen Auffassung von ἀκίνητον als »unveränderlich« im Sinne des Sich-Gleichbleibens eine mindestens teilweise redundante Verwendung von οὐκ ἀτελεύτητον in Vers 32: die Feststellung absoluter Vollendung schließt bereits Entstehen und Vergehen in jeglicher Hinsicht aus, da das Sein ja vollendet ist und es keinen Zustand geben kann, in dem es dies nicht wäre, also keinen Zustand, in dem Veränderung überhaupt notwendig, bzw. denkbar wäre. Hier müsste dann gefragt werden, inwiefern sich zwischen ἀκίνητον und οὐκ ἀτελεύτητον ein Unterschied ergäbe, wenn sich 38 Fränkel, Wege und Formen, S. 194. Hier gilt es besonders zu beachten, dass Fränkel vorher noch die Doppelbedeutung »unveränderlich-unbeweglich« gelten lässt (S. 193), um dann in der Erläuterung des Arguments nur »unveränderlich« zu betrachten, da nur dies durch Entstehen und Vergehen erklärt werden kann. 7 Jahre später (1962) spricht Fränkel nur noch von Bewegung im Sinne von »Veränderung« (Dichtung und Philosophie des Frühen Griechentums, München 41993, S. 406). 39 Vgl. McKirahan, Signs, S. 200 und Anm. 41. Siehe dazu auch W. Guthrie, A History of Greek Philosophy II, Cambridge 1969, S. 36, Anm. 1. 40 Vgl. Palmer, Parmenides, S. 154.

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beide nur auf die Abwesenheit von Werden und Vergehen bezögen.41 Schließlich zeigt noch die Aufzählung in den Versen 40–41, dass Ortsbewegung für das Sein aus­geschlossen wird, da hier ausgeführt wird, dass sich aus den genannten Attributen des Seins ergibt, dass alles, was die Sterblichen zu wissen glauben, nur »Name« ist, also keinen Anspruch auf Wahrheit erheben kann, u. a. »den Ort wechseln und die helle Farbe verändern« (καὶ τόπον ἀλλάσσειν διά τε χρόα φανὸν ἀμείβειν). Hier wird erneut deutlich, dass auch der Ortsbewegungs­ aspekt für das Sein ausgeschlossen wird, zusammen mit der Unmöglichkeit der Veränderung. So findet sich für die fehlende Ortsbewegung im Gedicht kein Argument, das sich direkt auf die Prämisse »es ist« zurückführen lässt, will man Melissos’ Argument der fehlenden Leere als anachronistische Übertragung nicht gelten lassen.42 Für das Attribut ἀκίνητον gibt Paremnides außer »gewaltigen Fesseln« keine andere Begründung an, vor allem keine, die der üblichen logischen Deduktion der anderen Attribute entspräche. Somit stellt sich hier die Frage, warum Parmenides sein enges logisches Korsett an dieser Stelle durchbricht, nur um auf den Aspekt der Unbeweglichkeit nicht verzichten zu müssen? Hier deutet sich bereits an, dass die Thematik der Bewegung des Seins, seiner κίνησις, anscheinend eine zentrale Stellung im Denken des Parmenides über das Sein eingenommen haben könnte. Daraus ergeben sich zwei neue übergeordnete Fragen: Warum ist die Thematik der Bewegung so zentral und warum muss das Sein dann unbeweglich, ἀκίνητον, sein? Um diese Fragen beantworten zu können, ist festzuhalten, dass die obigen Ausführungen zweierlei zeigen: 1. Es kann in der Verwendung von ἀκίνητον nicht zwischen qualitativer Veränderung (z. B.  Wechsel der Farbe)  und Ortsveränderung unterschieden werden: ἀκίνητον schließt beides aus.43 Im Hinblick auf die Untersuchung bei Thukydides soll dieser Exkurs deutlich machen, dass die Tendenz, den Ortsveränderungsaspekt in der Interpretation generell zu vernachlässigen, unzulässig ist: Wenn die Texte dieser Zeit von κίνησις sprechen, dann meinen sie nicht nur »etwas war vorher so und ist jetzt anders«, wie es die Untersuchung der Stellen im parmenideischen Gedicht gezeigt hat. Gemeint ist immer Bewegung in jeglicher Hinsicht, sowohl vom Ort, als auch von der Gestalt, Zusammensetzung, etc.44 41 Ich verdanke diesen Hinweis Alexander Mourelatos. 42 Selbst Tarán, Parmenides, S. 113, der den Aspekt der Ortsveränderung in ἀκίνητον hervorhebt, versucht, die Abwesenheit von Entstehen und Vergehen auf beide Bewegungsarten zu beziehen, ohne eine nachvollziehbare Erklärung für die Lokomotion geben zu können. 43 Zum allgemeinen Zusammenhang von Ortsbewegung und qualitativer Veränderung bei den Vorsokratikern vgl. W. Heidel, Qualitative Change in the Pre-Socratic Philosophy (AGPh 19 (1906)), S. 333–379. 44 Vgl. Tarán, Parmenides, S. 109; Fränkel, Wege und Formen, S. 193; Curd, Legacy, S. 85; Palmer, Parmenides, S. 154.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

Damit soll deutlich gemacht werden, dass eine Trennung beider Aspekte, je nach Verwendungskontext in »Veränderung« oder »(physikalische Orts-) Bewegung«, lediglich die Verständnisproblematik verdeckt. Damit liegt der Schluss nahe, dass die μεγίστη κίνησις bei Thukydides nicht einfach als »größte Veränderung« übersetzbar ist.45 2. Die Schwierigkeiten, die sich aus diesem Doppelaspekt bei Parmenides ergeben haben, können auch als Hinweis auf eine hohe Qualität des KinesisProzesses gedeutet werden. Unabhängig von der modernen Übersetzung von ἀκίνητον wird deutlich, dass die Unbeweglichkeit eine zentrale Rolle in der Beschreibung des Seins einnimmt und sich daraus mehrere andere Eigenschaften entwickeln, die für die Philosophie des Parmenides eine große Rolle spielen, wie weiter unten ausgeführt werden wird. Wenn ἀκίνητον sich auf vielfältige Arten von Prozessen beziehen kann, so muss gleichzeitig anerkannt werden, dass der Prozess selbst mit einer so hohen und komplexen Qualität in Verbindung gebracht wird, dass das Ausdrücken bloß einer qualitativen Veränderung oder einer Bewegung von Ort zu Ort nicht die ganze Bedeutung des Begriffes trifft. Diese hohe Qualität könnte der Konnotation des Kinesis-Begriffes inhärent sein, wie unten ausführlicher dargelegt wird.46 Diese zwei Punkte, die sich aus den obigen Ausführungen ergeben haben, legen es nahe zu vermuten, dass Parmenides mit dem Ausdruck ἀκίνητον nicht nur bestimmte physikalische Vorgänge für das Sein ausschließen will, sondern sich hier auch eine bestimmte Konnotation des Kinesis-Begriffs finden lässt, die die Verwendung unabhängig von systemimmanenten Fragen teilweise erklären könnte. Daher ist es zweitrangig, welchen Vorgang genau man sich unter κίνησις vorstellt, sondern in erster Linie ist hier zu untersuchen, welche Konnotationen des Kinesis-Begriffs in seiner Ablehnung und ihrer Begründung zum Vorschein kommen, um daraus zu schließen, was die möglichen Gründe für eine solche Negation sein könnten. Daher muss bei der Betrachtung der Argumentationsstruktur, in die der Begriff eingebettet ist, die hier herausgearbeitete »doppelte« Bedeutung als Lokomotion und Veränderung die Basis der Interpretation bilden. Akzeptiert man, dass sich die Bedeutung der Seinsveränderung nicht von der der Ortsveränderung trennen lässt, so müssen beispielsweise die »gewaltigen Fesseln« auch als direktes Argument gegen die Lokomotion gewertet und dürfen nicht nur als reine Metaphern für logische Zwänge47 gelesen werden. Die bereits angesprochene Lücke in der Argumentation kann also in der Untersuchung der 45 So auch Parmeggiani, Methodology, S. 237, Anm. 30. 46 So auch Curd, Legacy, S. 85–86; im Anklang bei Fränkel, Dichtung, S. 406 (»Der griechische Ausdruck für Geschehen und Veränderung im Allgemeinen ist »Bewegung«); Mourelatos, Route, S. 118. 47 Vgl. dagegen Curd, Legacy, S. 84; Tarán, Parmenides, S. 117; Heitsch, Parmenides, S. 174– 175; Palmer, Parmenides, S. 154; Guthrie, History II, S. 37.

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Konnotation des Kinesis-Begriffes und seiner Verwendung nicht einfach durch den Hinweis auf metaphorischen Gebrauch übergangen werden, da immer noch unklar bleibt, inwieweit Entstehen und Vergehen mit der Abwesenheit von Lokomotion in Verbindung stehen können.48 Somit kann davon ausgegangen werden, dass Parmenides beide Aspekte der κίνησις für sein »Sein« ausschließen will: Es ist keiner κίνησις irgendeiner Art unterworfen, es bewegt sich nicht und wird nicht bewegt, es verändert sich nicht und wird nicht verändert, usw. Was dies für die Herausarbeitung der Charakteristik des Kinesis-Begriffs bedeutet, wird weiter unten ausführlicher dargestellt. Es entwickeln sich aus den oben genannten Punkten und der Darstellung der Interpretationsproblematik bezogen auf den Text drei weiterführende Fragen, die zur Herausarbeitung der mehrschichtigen Bedeutungsebenen, die hier in ἀκίνητον impliziert sind, beitragen können: Erstens, inwiefern ist es vorstellbar, dass der Rückgriff auf die »Fesseln« als ausreichendes Argument für ἀκίνητον wahrgenommen werden konnte? Zweitens, was sagt der Rückgriff auf das »mythische« Bild der Fesseln über die Konnotation der κίνησις aus? Und drittens, lassen sich aus der Verarbeitung und dem »Bruch« mögliche Gründe ableiten, warum Parmenides trotz der Schwierigkeit in der Argumentation der Thematik der κίνησις des Seins eine solch wichtige Stellung einräumt? Zur Beantwortung dieser Fragen ist zuerst festzustellen, dass die Lösung dieser Hauptprobleme auch im heutigen problematischen Verständnis des sprachlich-gedanklichen Konzeptes von κίνησις liegen könnte: Das antike Konzept des Phänomens und das Bedeutungsspektrum des Wortes decken sich nicht mit dem modernen Begriff von Bewegung und seiner Unterscheidung von Veränderung, weshalb die betroffene Stelle ein solches Problem für die Rekonstruktion des parmenideischen Gedankenganges darstellt und daher verschiedene Erklärungen für diese Stelle kursieren. Der Kinesis-Begriff als solcher scheint von den rein physikalischen Vorstellungen unserer Zeit abzuweichen, bzw. darüber hinauszugehen und kann daher nur durch den Rückgriff auf diese nicht erklärt werden: es ist zu untersuchen, ob eine mögliche Ausweitung der Bedeutung des Kinesis-Begriffs und seiner Implikationen die Verwendung an diesen Stellen besser erklären kann. A. Mourelatos hat 1970 versucht, durch die Untersuchung der Konnotation des Kinesis-Begriffs eine Übersetzung für ἀκίνητον zu finden, auf ähnliche Weise, wie es hier vorgeschlagen wird. Er verwirft die Festlegung ausschließlich auf Ortsbewegung oder Veränderung, die für das Sein negiert werden und eröffnet stattdessen eine mögliche andere Deutung durch eine Erweiterung der Bedeutung von κινεῖν, wodurch er über den bloßen Sammelcharakter der

48 Vgl. Zeller, Philosophie I, 1, S. 603, Anm.1; Reinhardt, Parmenides, S. 108–109.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

Übersetzung »Veränderung in jeglicher Hinsicht« hinausgeht.49 Dazu sammelt er Stellen aus der Ilias und kommt zu dem Schluss: »It is noteworthy that […] the movement is sudden and violent.«50 Ausgehend von dieser Konnotation des Verbs κινεῖν schlägt er als Übersetzung das englische Wort »egress« vor, welches das antike Verständnis von Bewegung besser treffen würde. Für Mourelatos bedeutet κίνησις dann »it is a thing’s emergence or dislocation from its own proper place; it is »ecstasy« in the literal sense, a »standing out of oneself«.«51 Mit dieser Perspektive auf die Negation von Bewegung kann Mourelatos die Verbindung zum Hauptargument, der Aussage »es ist«, herstellen: Das Sein könne seinen eigenen Platz (»its own proper place«) nicht verlassen, es könne seine Grenzen nicht überschreiten, da es in den gewaltigen Fesseln gehalten werde.52 Da egress impliziere, dass man irgendwo sei, wo man nicht hingehöre,53 sei dies für das Sein selbst unmöglich, denn dann müsste dieser Platz ja vorher frei gewesen sein vom Sein. Somit kann eine solche »absolute Bewegung«54, wie Mourelatos sie versteht, nicht stattfinden. Für Mourelatos bedeutet κίνησις eine Bewegung »von sich selbst weg« (»self-estrangement or self-alienation«55), woraus sich ableitet, dass etwas zu etwas anderem wird. Aus einer solchen Perspektive heraus kann Mourelatos auch feststellen, dass sich ἀκίνητον sowohl auf die Nichtbewegung des Seins, als auch auf den fehlenden Einfluss von außen beziehen kann: Die Fesseln der Moira stünden dann für die »immunity to, or as inability for, egressive movement.«56 Obwohl diese Argumentation ohne die Verbindung der Unbeweglichkeit mit anderen Aspekten wie Entstehen und Veränderung auskommt, kann sie ein anderes Problem, nämlich die Frage, inwiefern Parmenides eine logische kausale Verbindung zwischen Nicht-Bewegung und den »gewaltigen Fesseln«, sowie der Ananke, gesehen haben kann, die sich nachvollziehbar auf die Grundannahme »es ist« beziehen lässt, nicht lösen. Es stellt sich nämlich weiterhin die Frage, selbst wenn Mourelatos’ Recht hätte, warum sich Parmenides dann für zwei mythische Bilder zur Begründung der Negation von Bewegung entscheidet und keine Argumentation präsentiert, die direkt mit der Grundannahme in Verbindung steht? Die Wahl mythischer Bilder als Erklärung ist auch in Mourelatos’ Vorschlag nicht direkt nachvollziehbar und sie behält den Eindruck eines strukturellen Bruches, den alle Versuche, die »gewaltigen Fesseln« und die Ananke als 49 Vgl. Mourelatos, Route, S. 116–117. 50 Ebd. 51 Ebd. S. 118. 52 Vgl. ebd. S. 119. 53 Vgl. ebd. S. 118. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Ebd. S. 120.

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nachvollziehbare logische Elemente der Argumentation, die sich lückenlos in die restliche Struktur einfügen lassen, nicht überbrücken können. Über die Feststellung, dass die Fesseln der Moira auch eine gewisse Immunität gegen die Bewegung darstellen, wird nicht hinausgegangen und die logische Verknüpfung nicht erklärt. Auch der Hinweis auf die Parallele zwischen Xenophanes’ θεοπρεπέςPrinzip (das Göttliche kann nur das ausmachen, was ihm allein zusteht) und dem logischen Zwang bei Parmenides, dem das Sein unterworfen sei,57 überzeugt nicht recht, denn Xenophanes hält sich in seiner Attribution streng an sein Prinzip und bleibt dabei konsistent in der Umsetzung des Konzepts, während Parmenides seine Argumentationsstruktur scheinbar verlässt. Die Übernahme eines solchen Gedankenganges kann, wenn überhaupt, erst für den Vers 32 vermutet werden.58 Auch ist diese Interpretation auf eine intrinsische Identität von Ort und Sein angewiesen, die jedoch explizit erst bei Aristoteles zu finden ist, wie Mourelatos selbst angibt.59 Somit kann zwar durch die erweiterte Konnotation von κινεῖν eine mögliche Antwort auf die Frage der Rolle der Negation für das Sein gefunden werden, sie ist aber auf die Prämisse der Gleichsetzung von Ort und Identität angewiesen und damit ebenfalls auf eine gedankliche Hilfskonstruktion, die sich in der Annahme einer solchen Gleichsetzung ausdrückt. Nichtsdestotrotz zeigt sich in diesem Ansatz das Potential einer Untersuchung der Konnotationen des κίνησις-Begriffs und seiner Übertragung auf den Kontext im parmenideischen Gedicht, da sie das Bild selbst, dass das Sein durch Fesseln von ex- und intrinsischer Bewegung abgehalten wird, auch als solches ernst nimmt und es nicht nur als literarische Figur versteht, die sich auf eine andere Stelle bezieht. Dieses Bild ernst zu nehmen scheint eine Grundlage für die Erklärung des möglichen Bezugs zwischen dem Festhalten durch Fesseln und dem Kinesis-Begriff zu sein, worauf weiter unten noch zurückzukommen sein wird. Für die Untersuchung des Thukydides-Textes ergibt sich aus dieser Erkenntnis die Schlussfolgerung, dass sich hinter der Bezeichnung »μεγίστη κίνησις« mehr verbergen könnte als eine bloß anschauliche Metapher für den Krieg  – nämlich eine tatsächliche Verbindung zwischen den Aspekten des historischen Geschehens und der Vorstellung von κίνησις im antiken Denken. Der Begriff im Griechischen kann, so zeigen die Ausführungen bisher, in einem weiteren Sinne verstanden werden, der über die rein physikalische »Bewegung« oder qualitative 57 Vgl. Mourelatos, Route, S. 120. Mourelatos sieht eine Verbindung zwischen Xenophanes’ ἐπιτρέπει, »es passt zu«, und Parmenides’ Sprache der zwingenden Logik, geht aber nicht weiter auf die Implikationen dieser Verbindung ein. Dass beide Denker ihr zentrales Element von κίνησις frei sprechen wollen zeugt eher von einer gemeinsamen Auffassung und Vorstellung der Beziehung des Göttlichen, bzw. des einzigen Seins, und der κίνησις, als von einer Orientierung des Einen beim Anderen. 58 Vgl. Heitsch, Parmenides, S. 172. 59 Vgl. Mourelatos, Route, S. 119.

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und quantitative Veränderung hinausgeht. Dies eröffnet die Möglichkeit, auch bei Thukydides ein solches Verständnis von κίνησις, welches mit modernen Bewegungsvorstellungen nicht deckungsgleich ist, anzunehmen. Dies weist auf die Notwendigkeit hin, den Begriff umfassender zu verstehen, indem man die antiken Vorstellungen, die damit verbunden gewesen sein könnten, möglichst weitgehend aus den Texten rekonstruiert. Es ist deutlich geworden, wie prominent die Frage nach der Bewegung auch bei Parmenides behandelt wird und welchen Schwierigkeiten sich eine Erklärung dieser Frage innerhalb der Quelle stellen muss. Für die Leitfrage dieser Arbeit birgt die Betrachtung dieser Stelle daher hohes Potential, denn wie der vorangegangene Überblick gezeigt hat, kann die Erwähnung der Nicht-Bewegung durch Parmenides nicht in wenigen Schritten schlüssig in die Gesamtargumentation des Gedichts eingefügt werden. Es sollen daher im Folgenden zuerst die Bedeutungsnuancen des Prozesses der κίνησις herausgearbeitet werden, die an dieser Stelle deutlich werden, bevor die Ergebnisse dieser Betrachtung dann wieder mit der Frage nach der Anbindung der Stelle zum Hauptargument des Gedichts zusammengeführt werden, um zu sehen, ob und inwiefern die aufgezeigten interpretatorischen Probleme vielleicht durch ein erweitertes Verständnis des Kinesis-Begriffes besser bearbeitet werden könnten. 3.1.2 Die Konnotation der κίνησις im Text Auf den ersten Blick lassen sich nicht viele Aussagen aus den wenigen Versen darüber gewinnen, wie Parmenides die κίνησις versteht und warum er die Freiheit von ihr zu den zentralen Eigenschaften des Seins rechnet. In einem größeren Kontext betrachtet können jedoch durchaus Rückschlüsse auf das Konzept gezogen werden, welches der Bewegungsnegation des Seins zugrunde gelegen haben könnte. Hier ist an erster Stelle die Frage von Bedeutung, welchen Charakter man dem Sein zuschreibt und in welcher Form man es verstehen will, wobei dabei schon über die Frage, ob Parmenides das Sein als ein Abstraktum oder als reale Entität darstellen will, keine Einigkeit herrscht.60 So finden sich in der Literatur verschiedene Vorschläge, wie man sich das Sein des Parmenides in B8 vorzustellen hat:61 als einen allgemeinen Terminus für jedes wirkliche 60 Zur bereits frühen Diskussion darüber vgl. G. Calogero, Studien über den Eleatismus, Hildes­heim / New York 1970 (= Studi sull’eleatismo (= Pubbliciazioni della Scuola di Filosofia della R. Università di Roma. III), Rom 1932 (Übersetzung)), S. 1–62. 61 Ausgehend von der Annahme Diels’, dass ἐόν hier kein Partizip, sondern Subjekt ist, vgl. Heitsch, Parmenides, S. 162; H. Diels, Parmenides-Lehrgedicht, Berlin 1897, S. 33. Auf solche Art wird auch in der Literatur über diese Stelle diskutiert, ohne die Frage nach der

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Objekt jedes echten Denkens und Untersuchens,62 als ideal Seiendes im Sinne einer ewig gültigen Erkenntnis,63 als Sein im prädikativen Sinne,64 als »ontologische Hypostasierung jenes Seins der Affirmation«65 oder, in neueren Ansätzen, als eine perfekte Entität, die zwingend logisch so sein muss und dabei Parallelen zum göttlichen Wesen des Xenophanes aufweist66 bis hin zur radikaleren Ansicht, das Sein habe für Parmenides eine göttliche Natur.67 Während sich die Diskussion,68 wie hier zu sehen ist, zwischen der absoluten Negation eines theologischen Erkenntnisinteresses des Parmenides69 und der genau gegensätzlichen Ansicht bewegt,70 sind doch die Parallelen der Attribution des größten Gottes des Xenophanes und des Seins des Parmenides nicht zu verleugnen: Selbst wenn Parmenides sein ἐόν nicht als göttliches Wesen im Sinne einer Macht vergleichbar mit Zeus verstanden hat, so wählte er trotzdem eine Charakterisierung, die eindeutig Assoziationen zu einer perfekten und höheren Form wecken soll und damit, wie es in der Struktur des Gedichts ja auch deutlich wird, über den Menschen und der sinnlich wahrnehmbaren Welt steht, wenn er die Göttin am Ende desselben Fragments sagen lässt: »Im Folgenden lerne die menschlichen Eindrücke indem du die täuschende Anordnung meiner Worte hörst. Sie waren nämlich der Meinung, zwei Grundformen nennen zu sollen, von denen eine zu nennen nicht erlaubt ist; an diesem Punkt sind sie im Irrtum.«71

Daraus lässt sich nun ableiten, dass für Parmenides das Sein nur dann die notwendige Perfektion erlangt (sei es als Gott im religiösen Sinne oder als ein anderes Konzept), wenn es vom Prozess der κίνησις unbeeinflusst ist, was wiederum heißt, dass alles, was diesem Prozess ausgesetzt ist, nicht perfekt sein kann. In Anbetracht der deutlichen Abgrenzung des perfekten Seins zur Welt der Menschen, ihrem Denken und ihren Ansichten, dem sog. Doxa-Abschnitt des

62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

Form von ἐόν explizit zu reflektieren: dass die nachfolgenden Attribute sich auf ein Sein als Subjekt beziehen, wird vorausgesetzt, vgl. zur Diskussion Rapp, Vorsokratiker, S. 109. P. Curd, Thinking, Supposing and Physis in Parmenides (EPlaton 12 (2016)), S. 5. Heitsch, Parmenides, S. 165. U. Hölscher, Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie, Heidelberg 1976, S. 44. Calogero, Studien, S. 21. Vgl. Palmer, Parmenides, S. 330. Vgl. J. C. DeLong, Parmenides’ Theistic Metaphysics, Diss. Kansas City 2016, S. 168–172. Einen weiterführenden Überblick bietet M.  Kraus, Art. »Parmenides«. In: H. Flashar / ​ D. Bremer / G. Rechenauer (Hgg.), Frühgriechische Philosophie (Die Philosophie der Antike 1, 1–2), Basel 2013, S. 468–469. Vgl. Reinhardt, Parmenides, S. 250. Vgl. J. C. DeLong, Parmenides, S. 174; W. Guthrie, A History of Greek Philosophy I. The earlier Presocratics and the Phytagoreans, Cambridge 1962, S. 37. Übersetzung nach E. Heitsch.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

Gedichts, der sich nun nicht mehr durch die strikte Verfolgung der logisch notwendigen Grundannahme auszeichnet, ist zu vermuten, dass es eben auch die κίνησις ist, die durch den Grad ihrer Wirksamkeit den Alitheia-Teil vom »spekulativen« (οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής) Doxa-Teil unterscheidet.72 Die Unterscheidung von perfektem Sein und Welt der Menschen deutet darauf hin, dass das Sein unter anderem durch seine Unbeweglichkeit von allen anderen Wesenheiten des Kosmos unterschieden wird. Akzeptiert man diese Annahme, so muss umgekehrt der Bewegung wiederum ein allumfassender, alles beeinflussender Charakter zukommen, der nur für das Sein negiert wird, um es dadurch über alles andere zu erhöhen. Eine solche Vorstellung von κίνησις als alles beeinflussendem Prozess könnte der Attribution »unbeweglich« zugrunde liegen. Abgesehen von diesem allumfassenden Charakter, der sich für die Bewegung aus der Negation bei singulären Wesen und Formen ableiten lässt, lassen sich aus der Verarbeitung des Prozesses bei Parmenides noch weitere Eigenschaften erschließen. So ist es auffällig, dass gewaltige Fesseln nötig sind, um die Bewegung zu verhindern. Obwohl die Formulierung ταὐτόν τ’ ἐν ταὐτῶι τε μένον καθ’ ἑαυτό τε κεῖται χοὔτως ἔμπεδον αὖθι μένει darauf hindeutet, dass sich das Sein auch selbst von sich aus nicht bewegt, so ist doch die Begründung dafür die mächtige Ananke, die das Sein festhält. Parmenides hat damit einmal den Einfluss von außen und das Sich-selbst-Bewegen voneinander unterschieden, wobei die Notwendigkeit der Fesseln darauf hindeutet, dass es sich bei der κίνησις um eine Macht handelt, die auf das Sein besonders von außen einwirkt und vor der es durch das Zurückhalten mittels weiterer Werkzeuge geschützt werden muss.73 Es sei hier an Mourelatos’ oben vorgestellten Ansatz des Verständnisses von κινεῖν als »egress« erinnert, welcher durch die Fesseln verhindert wird: Auch er geht davon aus, dass die Fesseln das Sein umgeben und seine Bewegung, sowohl die ex-, als auch die intrinsische, dadurch verhindern.74 Ebenfalls in diese Richtung weist die Erklärung P. Curds, die in ἀκίνητον vor allem den Aspekt der Freiheit von äußeren Einflüssen hervorhebt: »What-is is not subject to being moved out of or away from itself; that is, it does not change or develop in any way.«75, wobei ihre Erklärung stark an Mourelatos’ Deutung angelehnt ist.76 72 Zur Wirkung von Bewegung und Wandel in der sinnlichen Welt vgl. Heitsch, Parmenides, S. 173; Palmer, Parmenides, S. 180–188. 73 Vgl. Heitsch, Parmenides, S. 173: »Was im Sinne des Parmenides ist, ist bewegungslos für sich, d. h. isoliert, frei von Beeinflussung […].«. Curd, Legacy, S. 85–87. 74 Vgl. Mourelatos, Route, S. 120. 75 Curd, Legacy, S. 85. 76 Sie kann daher ebenfalls nicht nachweisen, dass bereits für Parmenides eine intrinsische Verbindung von Identität und Sein bestanden hat und inwiefern sich der gewalttätige Aspekt des Ortswechsels bei Homer in dem Ausschluss von Entstehen und Vergehen niederschlagen sollte, da sie unter ἀκίνητον nur »unveränderlich« versteht.

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Es stellt sich an diese Überlegung anschließend die Frage, was passieren würde, gäbe es diese Fesseln nicht: wäre dann das Sein der Bewegung ausgeliefert oder würde es sich von selbst bewegen? Wie auch immer man diese Frage beantworten will, es wird deutlich, dass die Bewegung generell hier als ein autarker Prozess verstanden wird, der neben dem Sein existiert und von dem es durch die Ananke oder die Moira ab- bzw. ferngehalten werden muss.77 Diese Assoziation entsteht dabei unabhängig, wie man die Figuren der Ananke, Dike usw. bei Parmenides verstehen will: als logischen Zwang, strukturelles Konzept der philosophischen Argumentation oder gar als personifizierte Gottheit selbst, als ein mythisch-episches Element im Gedicht.78 Gleiches gilt auch für die Verse 37–38, in denen es die Moira ist, die das Sein bindet, um ganz und unbeweglich zu sein: Auch hier ist ein höheres, übermenschliches Prinzip dafür verantwortlich, die Bewegung vom Sein fernzuhalten, wie die Ananke in der ersten Erwähnung.79 Dies wirft für die Betrachtung des Thukydides-Textes die Frage auf, in welchem Verhältnis der Kinesis-Begriff mit solchen übermenschlichen Prinzipien wie der Ananke steht, woraus wiederum Aussagen zu den Interpretationen der κίνησις als kosmischen Prinzip im thukydideischen Werk bei Schmid und Meier abgeleitet werden können. Im entsprechenden Kapitel wird darauf zurückzukommen sein.80 Dieser Aufbau legt nahe, dass die κίνησις für das perfekte Sein als bedrohend wahrgenommen wurde, da ihr Einfluss die Perfektion des Seins ausschließt. Es scheint daher für Parmenides der Einrichtung verschiedener Elemente bedurft zu haben, die den Einfluss der Bewegung auf das Sein negierten, eben der gewaltigen Fesseln, die sich der Macht der Bewegung widersetzen können. Interessanterweise ist auch nicht die Rede von einem Einfluss auf die κίνησις selbst: Was sagt es über das Verständnis vom Prozess der Bewegung aus, wenn das Sein, das dem Werden und Vergehen entzogen ist, trotzdem theoretisch ohne Fesseln der Bewegung ausgeliefert wäre? Dies würde ja bedeuten, folgt man der vorgetragenen Argumentation, dass die Bewegung zumindest metaphysisch 77 Vgl. Curd, Legacy, S. 85. 78 Vgl. ebd. S. 25–30; Fränkel, Wege und Formen, S. 162–173; Curd, Thinking, S. 12; L. Atwood Wilkinson, Reconsidering mythos and logos: Parmenides and the namelessness of to eon, Diss. Tampa 2002, S. 126; Guthrie, History I, S. 12. 79 Auch hier kann Mourelatos’ Vorschlag des Verständnisses von ἀκίνητον einer Erklärung liefern, wie Austin, Parmenides, S. 101–102 präsentiert. Gleichzeitig wird gezeigt, dass sich hier das Bedeutungsspektrum von κίνησις derart erweitert, dass jede Möglichkeit, nicht mehr »ganz« zu sein, durch die Negation von Bewegung ausgeschlossen wird. Dies wiederum kann auch als Argument für die hier vorgeschlagene Konnotation von Bewegung gesehen werden: die Befreiung von κίνησις ist nötig, um das Sein in seiner Ganzheit zu garantieren, unabhängig davon, man ob dieses Ganze qualitativ oder quantitativ versteht, vgl. ebd. S. 103. 80 Vgl. unten Kap. 4.6.

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mit dem Sein auf einer Stufe steht, wenn allein aus der Konzeption des Seins (der Grundannahme »es ist«) keine zwingende Notwendigkeit gegen den Einfluss der Bewegung abgeleitet wird und Parmenides auf eine bildliche Sprache zurückgreift.81 Dann wäre trotz der Perfektion des Seins die Bewegung immer noch eine Macht, die ihm gleichgestellt, vielleicht sogar überlegen wäre, wenn erst durch externe Maßnahmen wie das Anlegen der Fesseln dem Einfluss der Bewegung auf das Sein Grenzen gesetzt werden können,82 indem sie eine als der Bewegung zuwiderlaufende Kraft fungieren. Noch entscheidender ist aber, dass dann die κίνησις, steht sie neben dem Sein, ebenfalls frei vom Entstehen und Vergehen wäre – also eine Macht, die einfach existiert.83 Vor dem Hintergrund einer solchen Konzeption von κίνησις als allumfassender und alles beeinflussender Macht, deren Einfluss man zwar durch beispielsweise Fesseln verringern, sie selbst aber nicht kontrollieren kann, lässt sich auch ein neues Licht auf den Gedankengang der Argumentation an dieser Stelle werfen. Wenn Bewegung gemeinhin unter den Rezipienten des Parmenides, seinem intendierten Publikum, als ein solcher Prozess mit der oben entworfenen Charakteristik angesehen wurde, so kann der Umstand des Fehlens eines Rückbezugs auf die Grundannahme an dieser Stelle nicht als störend oder gar als Bruch empfunden worden sein, da es für die Negation von κίνησις, für die Begründung, warum etwas von diesem starken und für die Welt der Menschen omnipräsenten Prozess unbeeinflusst bleiben sollte, nur die Erklärung geben konnte, dass ein »mächtiger Zwang« sich der Bewegung widersetzt: Eine andere Möglichkeit, als das eine übermenschliche Macht wie die Ananke oder die Moira sich der κίνησις entgegenstellen müsste, war vielleicht gar nicht denkbar.84 81 Eine ähnliche Auffassung von κἰνησις findet sich später auch bei Aristoteles, vgl. Met. 12, 1071b: […] ἀλλ᾽ ἀδύνατον κίνησιν ἢ γενέσθαι ἢ φθαρῆναι (ἀεὶ γὰρ ἦν) […]. 82 Wilkinson verweist auf die Möglichkeit der Existenz eines solchen Raumes außerhalb des Seins, in den oder zu dem die κίνησις dann gehören würde, vgl. Reconsidering, S. 158. 83 Bedenkt man die Doppeldeutigkeit des Griechischen, nachdem sowohl die Selbstbewegung des Seins, als auch sein Bewegt-Werden durch die Fesseln ausgeschlossen werden sollen, so existiert die κίνησις auf zwei Ebenen: extrinsisch neben dem Sein, intrinsisch innerhalb des Seins. Dies ist umso bemerkenswerter, als dass ja außerhalb des Seins nach Parmenides nichts existieren könne – für die κίνησις scheint es hier aber eine Ausnahme zu geben. 84 Auf dieses Problem deutet auch L. Atwood Wilkinson hin, wenn sie darauf verweist, dass wir den Text des Parmenides, der eindeutig Elemente der »oral poetry« enthält, also auch zum Sprechen konzipiert wurde, mit unseren Konzepten für geschriebene Texte interpretieren: in einem solchen Fall entsteht ein solch großer Bruch zwischen Erwartung und Konzeption des Interpreten und der kulturell-literarischen Umwelt des Autors, dass solche Stellen für uns unverständlich werden, da wir sie nicht vermuten, während sie unter der Perspektive eines anderen Konzeptes für die gesprochene Ausführung betrachtet kein solches Problem darstellen: der Bruch oder die Lücke entsteht dann durch unsere Erwartung und unsere Konzeption eines geschriebenen Textes, nicht aufgrund einer tatsächlichen Lücke, vgl. Reconsidering, S. 8–15.

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Dies kann nur spekuliert werden, würde aber zum Bild passen, welches von der κίνησις durch die Verarbeitung im Gedicht entworfen wurde: Ein so mächtiger Prozess, vor dessen Einfluss auch das perfekte Sein selbst nicht sicher zu sein scheint und daher von gewaltigen Fesseln auf der Stelle gehalten werden muss, kann nur durch Maßnahmen der Ananke und der Moira, also ebenfalls sehr mächtigen, personifizierten Konzepten abstrakter und übermenschlicher Strukturen, dem Zwang und dem Schicksal, gegen die sich die Menschen im antiken Verständnis ebenfalls nicht wehren können,85 in seiner Wirkung eingeschränkt werden. Κίνησις steht damit mit Blick auf die Macht des Prozesses zumindest in der Nähe dieser Konzepte, mit deren Allmacht und der menschlichen Ohnmacht ihnen gegenüber sich die antike Gesellschaft immer wieder in verschiedenen Formen auseinandersetzte.86 Für eine solche Macht musste Parmenides keine weitere Erklärung liefern und vielleicht wurde sie auch nicht erwartet: Der Verweis auf verwandte Konzepte, die sich gegen den Einfluss der Bewegung richteten, konnte ausreichen, um der Publikumserwartung gerecht zu werden, wenn sich dieses in einem vergleichbaren intellektuellen Umfeld bewegte wie der Autor und Parmenides dadurch auf bereits vorhandene Assoziationen zurückgreifen konnte.87 Das Fehlen einer klar erkennbaren und eindeutig zugeordneten Argumentation für die Deduktion des ἀκίνητον aus der Grundannahme »es ist« könnte daher auch darauf hinweisen, dass Parmenides mit solchen Assoziationen im Text arbeitete. Eine weitere Möglichkeit ist, dass Parmenides auf eine im Publikum geführte oder diesem bekannte allgemeine Diskussion über Bewegung zurückgreift und damit eine direkte Antwort auf eine vom Publikum gestellte, bereits vom Dichter erwartete Frage (»Wie sollte es unbeweglich sein?«), gibt.88 In beiden Fällen weist die Verbindung zwischen Bewegung, Fesseln und den göttlich-übermenschlichen Konzepten Ananke und Moira auch auf eine Nähe dieser Begriffe im Denken des intendierten Rezipien-

85 Vgl. Austin, Parmenides, S. 103; R. Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsidee bei den Griechen, Hildesheim 1966, S. 223; H. Schreckenberg, Ananke: Untersuchungen zur Geschichte des Wortgebrauchs, München 1964 (= Zetemata 36), S. 76–78. 86 Vgl. z. B. die Auseinandersetzung mit der Ananke als Begründung für die Entstehung von Donner in Arist. Nub. 377 oder dem Hinweis auf die Ananke Physeos, Nub. 1075 als Beispiele öffentlicher Auseinandersetzung mit dem Konzept des Zwangs. Zur Dike, Moira und Ananke siehe auch F. G. Welcker, Griechische Götterlehre II, Göttingen 1860, S. 186–190. Zur Themis und ihrer Allgegenwärtigkeit in der griechischen Gesellschaft vgl. Hirzel, Themis, S. 40–53. Außerdem Nestle in Zeller, Philosophie I, 1, S. 691, Anm. 1 und Guthrie, History II, S. 37. Dagegen Tarán, Parmenides, S. 117–118. 87 Vgl. dazu Rickert, Parmenides, S. 474; Gemelli Marciano, Vorsokratiker II, S. 47; Wilkinson, Reconsidering, S. 5. 88 Vgl. dazu Wilkinson, Reconsidering, S. 30–31.

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tenkreises hin.89 Hier könnten die oben ausgeführten Assoziationen wie die Allmächtigkeit des Bewegungsprozesses durch fehlende Beschränkung und das Ausgeliefertsein des Menschen in diesem Prozess erklären, inwiefern die Bewegung im Denken der Menschen mit den Konzepten der Ananke, Moira, Dike und Themis als überzeitlichen und ebenfalls mächtig-übermenschlichen Prozessen verbunden wurde und diese als Erklärung für ihre Negation gelten konnten.90 Es sei hier erneut darauf hingewiesen, dass die aus der narratologischen Verarbeitung abgeleiteten Assoziationen zur Bewegung stark an den oben bereits vorgestellten Ansatz Mourelatos’ erinnern, der auf den »gewalttätigen« Charakter des Kinesis-Prozesses in der Verwendung bei Homer hingewiesen hat, der, im Gegensatz zu anderen Bewegungsprozessen, u. a. dafür verantwortlich ist, dass etwas seinen ihm angestammten Platz verlässt.91 Es ist auch hier davon auszugehen, dass dem Rezipientenkreis eine solche Konnotation von κινεῖν durchaus bekannt ist, wenn sie mit Homer generell vertraut ist: Dadurch kann auch Parmenides durch die Verwendung des Begriffs eine solche Vorstellung beim Rezipienten hervorrufen. Über diesen Ansatz wird hier jedoch insoweit hinausgegangen, als dass Mourelatos den Begriff selbst nur im Hinblick auf die Elemente des physikalischen Bewegungsprozesses im Sinne des Ortswechsels modifiziert, insofern, dass κινεῖν nicht das Bewegen von einem beliebigen Ort zu einem anderen meint, sondern das Wegbewegen von einem angestammten, zum Objekt der Bewegung primär gehörenden Ort.92 Damit geht er über die physikalische Komponente des Kinesis-Begriffs nicht hinaus und kann auf dieser Basis auch die Attribuierung der Negation nur aus einer solchen physikalischen Perspektive erklären, die dann das Verlassen des angestammten, geographischen Ortes in einer metaphorischen Gleichsetzung versteht als Verlassen der eigenen Identität: »To move in this sense is to be beyond oneself; it is to be where one is not – which is to be what one is not.«93 Erst durch diese bereits oben angesprochene existentielle Gleichsetzung des eigentlich physikalisch-geographischen Begriffs der Ortsbewegung ist es für Mourelatos möglich, die Verbindung zwischen der Unbeweglichkeit und der Grundannahme »es ist« herzustellen, um die augenscheinlich fehlende argumentative Deduktion zu ersetzen,94 kann jedoch die argumenta89 Eine ausführlichere Diskussion mit weiterführender Literatur zur Verbindung der Attribute des Seins zur epischen Konnotation bei G. Wöhrle, War Parmenides ein schlechter Dichter? In: W. Kullmann / J. Althoff (Hgg.), Vermittlung und Tradierung von Wissen in der griechischen Kultur, Tübingen 1993, S. 170–171. 90 Vgl. oben Fußnote 86. 91 Vgl. oben S. 68. 92 Vgl. Mourelatos, Route, S. 118. 93 Vgl. ebd. 94 Vgl. ebd. S. 119 und oben S. 69.

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tive Verbindung zu den gewaltigen Fesseln nicht überzeugend erklären. Die hier herausgearbeitete Konnotation von κίνησις als einem weitaus mächtigeren Prozess, der anscheinend von außen auf das Sein einwirkt und dessen Einwirkung zu Gunsten der Perfektion des Seins negiert werden soll, widerspricht der von Mourelatos entwickelten philosophisch-argumentativen Erklärung im Hinblick auf die Verknüpfung zur Grundannahme nicht. Sie geht aber von einem noch breiter gefächerten und abstrakteren Begriff der Bewegung als einer »gewaltvollen« Macht aus, durch welchen die direkte Rückführung der Unbeweglichkeit auf die gewaltigen Fesseln des »Zwangs« im Text erklärt werden könnte, ohne interpretative Zwischenschritte zur Füllung dieser »Lücke« in der Darstellung des Parmenides machen zu müssen. Es kann daher konstatiert werden, dass die hier entwickelte Charakteristik von κίνησις mit den Erklärungen für ἀκίνητον von Curd95 und Mourelatos insofern übereinstimmt, als dass sie die von ihnen herausgearbeitete umfassende Qualität des Begriffs näher bestimmt als eine mit dem Kinesis-Begriff im archaischen Denken verknüpfte Konnotation. Sowohl die Erklärung, dass das Sein nicht »aus sich selbst herausgehen kann«, als auch, dass es »von jeglicher Veränderung gleich welcher Art« frei ist, stehen in Einklang mit den hier herausgearbeiteten Charakteristika der κίνησις als machtvoll, allumfassend und omnipräsent, denn diese Charakteristika bilden die Grundlage für die Konstruktion einer solchen Erklärung. Die Diskussion der beiden Interpretationen oben hat jedoch auch gezeigt, dass die Verengung des Begriffs auf eine bestimmte moderne Bedeutung Schwierigkeiten in der Anbindung des Attributs mit der Argumentation mit sich bringen, die jedoch verringert werden können, wenn man auf eine solche Konkretisierung des Begriffs im modernen Sprachgebrauch verzichtet und stattdessen versucht, ausschließlich über diese Konnotationen eine Verbindung zur argumentativen Struktur zu bilden  – dann wird es möglich, allein in den Fesseln der Ananke einen ausreichenden Grund dafür zu sehen, dass die κίνησις keinen Einfluss auf das Sein haben kann und es daher ἀκίνητον sein muss. Offen bleibt dabei die Frage, warum Parmenides das Sein einem solchen Prozess entziehen wollte, wenn man annimmt, dass die im Text gegebene Erklärung für die Unbeweglichkeit die für Parmenides und sein Publikum plausibelste gewesen sein könnte.

95 Vgl. oben Anm. 75.

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3.1.3 Das Attribut »unbeweglich« Die möglichen Antworten auf diese Fragen sollen hier nicht ausführlich diskutiert werden, da das Hauptinteresse der Erarbeitung der literarischen impliziten oder expliziten Darstellung der κίνησις gilt, eine solche Frage aber weit in die Diskussion über die Philosophie des Parmenides generell führen würde. Einige Ideen seien aber kurz angeführt, um zu zeigen, dass sich ein solches Bild von Bewegung, wie es hier zum Vorschein gekommen ist, ebenfalls mit dem Text und dem philosophischen Programm des Parmenides vereinbaren ließe, wenn man verschiedene Gründe annimmt, die die Erwähnung der Unbeweglichkeit, bzw. Unbewegtheit, erklären könnten. Eine Möglichkeit wäre es, Parallelen zwischen Xenophanes’ Gottesbeschreibung96 und Parmenides’ Attribution des Seins als Hinweis auf eine göttliche Natur des Seins für Parmenides zu lesen, was, wie bereits dargestellt wurde, bisweilen abgelehnt wird, wofür es aber, wie DeLong in seiner Dissertation nachweisen konnte, mehrere überzeugende Gründe gibt.97 Auch Wilkinson schlägt eine engere Verbindung zwischen Xenophanes und Parmenides vor, die sich beide im mythisch-religiösen Kontext der epischen Rezitation bewegen und geht davon aus, dass die Ablehnung jeglichen mythisch-religiösen Einflusses auf Parmenides einer post-platonischen Perspektive geschuldet ist, die von einer strikten Trennung von Poesie und Philosophie als zwei unterschiedlichen Disziplinen ausgeht, wobei die Philosophie sich durch den Logos, das rationale Denken auszeichne.98 Erst durch eine solche anachronistische Vorannahme ergäben sich die häufig debattierten Schwierigkeiten der Parmenides-Forschung, wie der unklare Zusammenhang zwischen mythischem Proömium, Alitheia-Teil und Doxa-Teil.99 Ebenfalls stützen würde diesen mythisch-religiösen Interpretationsansatz der Hinweis auf den mystischen Charakter des Gedichts bei Gemelli Marciano.100 Auch die Erwähnung der olympischen Götter im Doxa-Teil zeigt, dass Parmenides die Integration religiös-göttlicher Elemente nicht rigoros abgelehnt hat (z. B. Eros in B13). Sofern sich Parmenides an der Definition des »Göttlichen« in irgendeiner Weise an Xenophanes orientiert bzw. von dessen Vorstellungen einer göttlichen Charakteristik beeinflusst ist, so könnte für Parmenides der Vollständigkeit halber die Befreiung von Bewegung in die Reihe 96 Vgl. unten Kap. 3.4.2. 97 Vgl. oben Fußnote 67. 98 Einen anderen Weg präsentiert Reinhardt, Parmenides, S. 102–118, der zwar die Parallele zwischen Xenophanes und Parmenides herausarbeitet, dabei aber Xenophanes aufgrund der Unbewegtheit des Gottes als (vor-)eleatischen Denker darstellt, anstatt Parmenides’ Unbewegtheit auf Xenophanes’ Theologie zu beziehen. 99 Vgl. Wilkinson, Reconsidering, S. 23–25. 100 Gemelli Marciano, Vorsokratiker II, S. 52–69.

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der Attributionen des Seins gehören, da es eben, wie bereits dargestellt, das Sein als singuläre Form auszeichnen würde, von diesem Prozess unbeeinflusst zu bleiben.101 Möglich wäre auch die von Mourelatos’ vorgebrachte Parallele bezüglich des θεοπρεπές-Prinzips,102 wobei aufgrund fehlender weiterer Belege eine solche Beziehung mit Vorsicht zu betrachten ist.103 In diesem Fall kann aber eine Ähnlichkeit nicht verworfen werden. Unter diesem Gesichtspunkt wäre die Erklärung also folgendermaßen zu formulieren: Der Aspekt der Unbeweglichkeit wird von Parmenides erwähnt, da sie für ihn zur Attribution einer Form gehört, die mit etwas Göttlichem assoziiert werden kann, bzw. zu dessen Charakteristik er auf göttliche Assoziationen zurückgreift. Eine weitere, weitaus komplexere Möglichkeit findet sich im ambivalenten Bezug zwischen Alitheia- und Doxa-Teil: Der eine beschreibt die Wahrheit, das heißt etwas, worüber oder in welche Richtung Wissen erworben werden kann im Sinne von Wissen bezüglich zeitloser Wahrheiten, während der andere Teil täuschende Dinge oder zumindest Eindrücke ohne »πίστις ἀληθής« enthält. Die Menschen hätten, wie in B6 deutlich wird, kein »echtes« Wissen, da sie Sein und Nicht-Sein nicht klar unterschieden:104 »Das, was zu sagen und zu denken ist, muss notwendigerweise sein.   Denn es kann sein, nichts aber ist nicht; das fordere ich dich auf bei dir zu bedenken. Denn zuerst halte ich dich von diesem Weg des Forschens fern, dann aber von dem, den sich die Menschen, die nichts wissen, bilden, die Doppelköpfigen: Denn Hilflosigkeit lenkt in ihrer Brust ihren umherirrenden Sinn; und sie treiben benommen dahin, taub gleichermaßen und blind, entscheidungsunfähige Haufen, denen das Sein und Nichtsein als dasselbe und wieder nicht als dasselbe gilt; ihnen allen aber ist ein Weg eigen, der sich umkehrt.«

Hier wird das Nicht-Wissen auf die fehlende strikte Unterscheidung beider Wege durch die Menschen zurückgeführt, da diese auch den Weg des Nicht-Seins beschritten: Von diesem ist aber, nach B2, kein Erkennen, und damit kein Wissen, möglich. Damit dagegen ein ewig gültiges Wissen vom Sein möglich ist, muss dieses unbeeinflusst von anderen Dingen bleiben, die außerhalb seiner selbst liegen, denn dann würde eine Vermischung stattfinden, die, wie B6 zeigt, echtes Wissen und Erkennen unmöglich macht. Daher wäre eine Beeinflussung des Seins nach den Prämissen der Göttin durch die Bewegung eine Beeinflussung 101 102 103 104

Vgl. Curd, Legacy, S. 87. Vgl. oben Fußnote 57. Vgl. Tarán, Parmenides, S. 114. Zur Forschungsdiskussion vgl. Kraus, Parmenides, S. 464–465.

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von außen, die in sich nach den gestellten Grundannahmen für das perfekte Sein unmöglich ist. Für die Phänomene in der Welt jedoch ist Bewegung nicht ausgeschlossen, genauso wenig wie Geburt und Mischung (B12). Um der Prämisse der Göttin gerecht zu werden und um die Perfektion des Seins zu garantieren, muss es ἀκίνητον, frei von κίνησις, sein, damit es selbst der Grundannahme »es ist« immer entspricht und eine Mischung beider Wege ausgeschlossen bleibt – so kann es für die Menschen κίνησις geben, für das Sein jedoch nicht. Nur so kann die von Parmenides postulierte Beziehung zwischen dem, was wirklich ist und von dem dadurch auch echtes Wissen möglich ist, aufrecht erhalten werden, damit das Sein unbeeinflusst bleibt von den temporären und flüchtigen Prozessen der sensiblen Welt.105 Eine ähnliche Auffassung, die aber aufgrund ihres Anachronismus hier nur am Rande erwähnt werden soll, findet sich in der Metaphysik des Aristoteles, in der darauf verwiesen wird, dass echtes Wissen nur vom höchsten Prinzip möglich ist, welches sich selbst nicht ἐν κινήσει106 befindet. Da sich aber alle wahrnehmbaren Dinge in Bewegung befinden, kann von ihnen kein Wissen möglich sein. Dieser Gedankengang könnte auch für Parmenides angenommen werden, der aufgrund einer solchen Skepsis gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung, wie wir sie in den oben genannten Fragmenten finden, das Sein als Element echter Erkenntnis der Bewegung entziehen muss. Da sich aber eine solche Argumentation in den überlieferten Fragmenten nicht findet, muss dies hier bloße Annahme bleiben.107 Ein weiterer wichtiger Aspekt scheint eine mögliche Verbindung zwischen der Ewigkeit und der Unbeweglichkeit zu sein, wie sie in B8, Vers 38 zum Ausdruck kommt. Hier wird die zeitlose Einzigartigkeit des Seins ausgedrückt, die durch zwei Attribute, Ganzheit und Unbeweglichkeit, garantiert wird. An dieser Stelle wird die Verbindung zwischen Sein und Denken (νοεῖν) vertieft: ein Denken ohne Verbindung zum Sein ist nicht möglich.108 Diese Aussage basiert auf der Prämisse, dass das Sein einzig und immer sei, was wiederum dadurch garantiert werde, dass die Moira das Sein gebunden hat, ganz und unbeweglich zu sein, 105 Vgl. dazu auch Curd, Anaxagoras, S. 198. 106 Arist. Met. Β, 999b: εἰ μὲν οὖν μηδέν ἐστι παρὰ τὰ καθ᾽ ἕκαστα, οὐθὲν ἂν εἴη νοητὸν ἀλλὰ πάντα αἰσθητὰ καὶ ἐπιστήμη οὐδενός, εἰ μή τις εἶναι λέγει τὴν αἴσθησιν ἐπιστήμην. ἔτι δ᾽ οὐδ᾽ ἀΐδιον οὐθὲν οὐδ᾽ ἀκίνητον (τὰ γὰρ αἰσθητὰ πάντα φθείρεται καὶ ἐν κινήσει ἐστίν): ἀλλὰ μὴν εἴ γε ἀΐδιον μηθέν ἐστιν, οὐδὲ γένεσιν εἶναι δυνατόν. 107 Eine weitere erwähnenswerte Parallele findet sich in der Met. Λ, 1072a: […] ἔστι τι ὃ οὐ κινούμενον κινεῖ, ἀΐδιον καὶ οὐσία καὶ ἐνέργεια οὖσα. Die Erkenntnis von der Notwendigkeit der Existenz eines unbewegt Bewegenden wird verknüpft mit der οὐσία, das bedeutet, dass die οὐσία direkt auf den Aspekt der Unbeweglichkeit zurückgeht. Fraglich ist aber, inwieweit die Konzepte der οὐσία und des ἐόν des Parmenides übereinstimmen. 108 Vgl. Mourelatos, Route, S. 173–180; Palmer, Parmenides, S. 116–118; Rapp, Vorsokratiker, S. 123–128.

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wodurch die Unbeweglichkeit Voraussetzung für das Denken und das Sein ist. Dies erinnert ebenfalls an die oben mehrfach herausgearbeitete Theorie, dass Erkenntnis und Wissen, die durch das Denken erreicht werden, nur von Dingen möglich sind, die ἀκίνητα sind, die also nicht durch etwas anderes bewegt werden können, sodass das Objekt des Denkens von außen nicht beeinflusst werden kann.109 Damit ist nicht nur die oberflächliche qualitative Veränderung einer oder mehrerer Eigenschaften gemeint, sondern generell jeder Prozess des Einflusses: Das Sein, um denkbar sein zu können, muss vollständig frei sein von einem solchen Prozess und ist daher weder in Bezug auf seinen Ort, noch auf seine Beschaffenheit, noch auf seine Existenz als Sein an sich in irgendeiner Weise veränderbar.110 Dies unterstreicht wiederum den allumfassenden Charakter, der der κίνησις zugesprochen wird: Was von ihr beeinflusst werden kann, muss sich zwangsläufig in irgendeiner Hinsicht verändern, sei es nur bezüglich der Lokation oder auch der Beschaffenheit. Damit sind Denken, Erkennen und die Erlangung echten Wissens von einer Wahrheit, die sich eben dadurch auszeichnet, dass sie ewig gültig ist, durch die κίνησις nicht möglich. Parmenides muss somit ihren Einfluss für das Sein ausschließen, damit das Denken und das Aussprechen des Seienden überhaupt möglich werden, wie es sowohl hier, als auch in dem bereits besprochenen Fragment B6 (»Das, was zu sagen und zu denken ist, muss notwendigerweise sein.«) zum Ausdruck kommt.111 Erst durch den Ausschluss von Bewegung wird damit das Sein zum möglichen Objekt von Denken, Sprechen und Erkenntnis, d. h. nur ohne Bewegung ist eine wahre Durchdringung der Dinge durch den menschlichen Verstand möglich,112 die als Ergebnis dann wahre Erkenntnis von ewig gültiger Wahrheit hat. Die erkenntnistheoretische Lücke zwischen bloßer Benennung und Wahrheit wird in B8, Vers 38–39 deutlich: »[…]. So wird alles Name sein, was die Sterblichen gesetzt haben, überzeugt, es sei Wahrheit (πεποιθότες εἶναι ἀληθῆ)«. Dadurch werden die folgenden Prozesse, zu denen auch die Ortsbewegung und die qualitative Veränderung gezählt werden, implizit als unwahr gekennzeichnet, da sie den bereits dargelegten Attributen des Seins widersprechen: Sie sind bloße Namen, da sie die Wahrheit nicht treffen.113 Somit muss Wahrheit unabhängig von diesen Prozessen, also Werden und Vergehen, Sein und nicht Sein, den Ort wechseln und die Farbe, bestehen und von diesen unabhängig sein, also auch unabhängig von κίνησις, wenn Parmenides das Sein als ἀκίνητον bezeichnet. 109 Vgl. Curd, Legacy, S. 87–90; zu νοεῖν vgl. Heitsch, Parmenides, S. 104–105 und 119–121. 110 Vgl. dazu J. Wiesner, Parmenides. Der Beginn der Aletheia. Untersuchungen zu B2-B3B6, Berlin / New York 1996, S. 151–155. 111 Vgl. dazu Heitsch, Parmenides, S. 123–126. 112 Vgl. dazu Palmer, Parmenides, S. 165–166. 113 Vgl. ebd. S.165–166.

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Die erkenntnistheoretische Trias von Ewigkeit, Denk- und Begreifbarkeit eines Objekts oder eines Prozesses und Unbeweglichkeit wird nicht nur bei Empedokles erneut auftreten,114 sondern findet sich auch bei Thukydides als Unterton in verschiedenen Verwendungen von κίνησις und der Negation ἀκίνητον, wie weiter unten genauer auszuführen sein wird: Dinge, die man sich als ewig gültig vorstellt, werden da als ἀκίνητον bezeichnet, ebenso wie mit κινεῖν Prozesse beschrieben werden, deren Verlauf und Ergebnis nicht durch bloße Vernunft, bzw. bloßes menschliches Denken, sicher vorhersehbar sind, weshalb für diese die Reichweite des Wissens und des damit verbundenen vorausschauenden Planens beschränkt wird.115

3.1.4 Das »Cornford-Fragment« Ein weiterer wichtiger Aspekt, der die Bedeutung der Unbeweglichkeit für Parmenides’ Konzept des Seins unterstreichen könnte, ist das sog. »Cornford-Fragment«, welches seinen Namen dem Umstand verdankt, dass es als erstes von F. Cornford als authentisches Zitat des Parmenides gewertet wurde.116 Der Vers findet sich sowohl bei Simplikios (Phys. 29, 18 und 143, 10), als auch im Theaitet Platons (180e1): οἷον [oder οἶον] ἀκίνητον τελέθει τῷ παντὶ ὄνομ’ εἶναι.

Die Frage nach der Authentizität ist umstritten, jedoch sind die Argumente für die Authentizität, wie sie Cornford und nach ihm Mourelatos vorbringen, sehr stark, während die einzigen Argumente gegen eine originale Herkunft im Gedicht die Ähnlichkeit zum Vers B8, 38 und die untypische Verwendung von »τελέθει« sind, die in ihrer Aussagekraft jedoch mindestens zweifelhaft sind und daher relativ einfach entkräftet werden können.117 Cornford liest für τελέθει »τε θέλει« und nimmt als Subjekt die Ananke oder eine andere personifizierte Gottheit an, die will, dass das All »einzig und unbeweglich« genannt wird und setzt dies als Abschluss des Alitheia-Teils.118 Moure­ latos hingegen bezieht οἷον [oder οἶον] und ἀκίνητον auf τὸ ἐόν als Attribute.119 114 Vgl. unten Kap. 3.2.3. 115 Vgl. bspw. unten Kap. 4.3.3 die Untersuchung der Hermokrates-Rede und der Verwendung von πόλεμον κινεῖν in VI, 34, 3. Die Verwendung ist Teil einer Aufzählung von bestmöglichen Alternativen, wobei aber gleichzeitig auch die Unsicherheit über den zu erwartenden Erfolg der Maßnahmen deutlich wird, die in der Rede des Hermokrates mitschwingt. 116 Vgl. Mourelatos, Route, S. 185, mit Verweis auf F. M.Cornford, A New Fragment of Parmenides (CR 49 (1935)), S. 122–123. 117 Vgl. ebd. 118 Vgl. Cornford, Fragment, S. 122–123. 119 Vgl. Mourelatos, Route, S. 186.

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Weder die Frage der Authentizität noch die philologischen Feinheiten sind aber hier von primärer Bedeutung, da das Fragment in jedem Fall eins zeigen kann, nämlich dass, im Falle der Authentiziät, für Parmenides das Attribut der Unbeweglichkeit so wichtig war, dass es entweder den Abschluss der Beschreibung des Seins bildete und damit als Kernattribut gekennzeichnet wurde (nach Cornford) oder dass nur etwas, was unbeweglich ist, den Namen »Sein« verdient (nach Mourelatos) und damit wiederum als Kernattribut gewertet wird, da außer auf »allein« auf kein anderes Attribut verwiesen wird (noch stärker wird dieses Argument liest man οἷον statt οἶον). Es ist aufgrund des Aufbaus des Fragments in Verbindung mit B8 wohl davon auszugehen, dass der Vers erst nach Vers 6 einzuordnen ist, da bei der Lesart οἶον beide Attribute (einzig und unbeweglich) bereits genannt und ausgeführt sein sollten, bei der Lesart οἷον mindestens das Attribut der Unbeweglichkeit bereits bekannt sein sollte.120 Daher muss es sich um ein Wiederaufgreifen der Attribute handeln und aufgrund der Verbindung zur Benennung kann dem Attribut der Unbeweglichkeit hier eine prominente Rolle bei der Definition des Seins zugesprochen werden: Erst, wenn diese Eigenschaft erfüllt ist, kommt dem All oder »allem« der Name »es ist« zu. Gemindert wird diese Interpretation der herausragenden Bedeutung der Unbeweglichkeit für die Definition des »es ist« auch nicht, wenn der Vers so nicht bei Parmenides gestanden hat: Dann ist nämlich die falsche Zitation, die von den Kritikern der Authentizität des Fragments angenommen wird, Zeugnis für die dennoch enge Verbindung von Sein und Unbeweglichkeit bei Parmenides in der Rezeption Platons und Simplikios’, wobei sich natürlich Letzterer auch auf Ersteren beziehen kann. Sollte Platon diese Stelle tatsächlich falsch zitiert und mit Vers 38 (οὖλον ἀκίνητόν τ’ ἔμεναι· τῷ πάντ’ ὄνομ(α) ἔσται) verwechselt haben, dessen Kontext und Aussage eine ganz andere ist (Moira hält das Sein (Pause) – alles wird Name sein, was die Sterblichen gesetzt haben) als »allem kommt der Name zu usw.«, so wird sie dennoch in Platons Augen mit der Aussage des Parmenides in keinem Widerspruch gestanden haben, da ein solcher wohl Platon oder Simplikios aufgefallen sein müsste, die mehr Originaltext besaßen als wir. Ebenfalls wäre hier eine gewollte »Fälschung« durch Platon denkbar, der Parmenides diesen Gedanken zuschreiben wollte: Auch dann müsste aber, um keinen Verdacht zu erwecken, der Inhalt des Gedichtes mit diesem Gedanken in Einklang stehen und die Unbeweglichkeit zweifelsfrei als ein zentrales Element des parmenideischen Seins zu dieser Zeit interpretiert worden sein. Dies wiederum bedeutet, dass die enge logische Verbindung der Seinsdefinition mit dem Attribut der Unbeweglichkeit in dieser expliziten Art und Weise für Platon und Simplikios ohne Weiteres zum parmenideischen Gedicht und seinem Inhalt ge120 Vgl. auch J. H.M. M. Loenen, Parmenides, Melissus, Gorgias. A Reinterpretation of Eleatic Philosophy, Assen 1959, S. 76.

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passt haben muss. Daher ist zu vermuten, dass bereits die antiken Rezipienten, die über weitaus mehr Textmaterial und -verständnis verfügten als wir, aus dem Gedicht und seinen Argumenten eine herausgehobene Bedeutung der Unbeweglichkeit in Verbindung mit der Definition des wahrhaft Seiendem herausgelesen haben, womit auch dies als ein Argument für die hier vorgeschlagene Deutung der Funktion des ἀκίνητον und seiner prominenten Stellung, die es in Verbindung mit übermenschlichen Prozessen und Konzepten bringt, gewertet werden kann. In beiden Fällen wird das Sein erst durch die Freiheit von Bewegung als etwas Besonderes konstituiert, womit gleichzeitig ex negativo die Allgegenwärtigkeit, die bedeutende Macht und die Omnipotenz des Prozesses deutlich werden, dessen Effekte nur durch gleichrangige, übermenschliche Konzepte wie Zwang, Recht, usw. beeinflusst werden können. Ein solches Bild von κίνησις geht über das moderne Verständnis von Bewegung, dem räumlichen Vorgang des Ortswechsels, der angestoßen, aufgehalten oder beeinflusst werden kann, weit hinaus. Die Attribute, die hier ex negativo aus dem Ausschluss der Beeinflussung des Seins erarbeitet werden können, erinnern eher an einen metaphysischen Prozess, dessen besondere Merkmale Unkontrollierbarkeit und die nahezu unbegrenzbare Fähigkeit zur Beeinflussung sind. Dies wird vor allem daran deutlich, dass es so allgemeine Prinzipien wie die Ananke und die Moira sind, die das Sein von der κίνησις freihalten können. Fraglich ist, inwiefern sich in dieser Konstruktion bewusste Reflektionen der mit κίνησις verbundenen Assoziationen wiederfinden, oder ob es sich um einen für Parmenides selbstverständlichen und eher unbewusst-assoziativen Umgang mit diesem Prozess handelt, der sich außerdem auf im intendierten Publikum geführte Diskussionen oder präsente Fragen bezieht. Eindeutig ist jedenfalls die Bedeutung des Prozesses, bzw. des Umgangs mit ihm, wie die schwierig zu deutende Einbindung in die logisch-argumentative Struktur des Gedichts zeigt, die bereits Melissos zu weiterführenden Erklärungen veranlasst haben könnte. Die Assoziationen, die mit dem Begriff der κίνησις verbunden sind und die zur Negation der Beeinflussung des Seins durch ihn geführt haben, können aber in Rückschlüssen erarbeitet werden und zeigen ein Bild von Bewegung als einem Prozess, dem in seiner Kraft und seinem anscheinend grenzenlosen Zugriff auf den Kosmos, wenn dieser nicht durch mindestens gleichrangige Faktoren abgewehrt wird, nur perfekte und göttliche Formen entzogen sind. Der Mensch selbst, der in einer Welt lebt, die von κίνησις geprägt ist, die sich in den »Namen« Entstehen und Vergehen, sein und nicht sein, den Ort und die Farbe ändern, manifestiert, kann ihr nur entgehen, wenn er die Zeichen beachtet, die das Sein ausmachen. Nur durch das richtige Denken des Seins kann sich der Mensch bei Parmenides von den Eindrücken der κίνησις freimachen, nur durch die Intelligibilität kann er ihr überlegen sein – sonst ist er ihr ausgeliefert.

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3.2 Die vier Elemente des Empedokles 3.2.1 Ruhe und Bewegung im System des Empedokles Bereits eine nur oberflächliche Auseinandersetzung mit der Forschung zu Empedokles und seiner Philosophie macht die Prominenz der Frage nach Bewegung und Ruhe deutlich: Sie ist ein zentraler Faktor in der Rekonstruktion des »kosmischen Zyklus«, der im Mittelpunkt der Kosmologie des Empedokles steht. Zum besseren Verständnis soll hier ein kurzer Überblick dazu gegeben werden, inwieweit diese Frage mit dem Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit zusammenhängt, was der Stand der Forschung ist und welche Bedeutung eine Untersuchung des Κinesis-Begriffs für die Forschungsdiskussion haben kann. Empedokles’ System basiert auf einem Wechsel der Macht von Streit und Liebe. Vier verschiedene Phasen sind dabei auszumachen. Die vier Elemente Wasser, Feuer, Luft und Erde, sowie die beiden Kräfte Liebe (Philotes) und Streit (Neikos), bestimmen den Ablauf der Phasen (DK31 B17).121 Die Phasen werden dabei von zwei verschiedenen Bewegungen getrennt: einer Bewegung hin zur absoluten Einheit der Elemente unter der Vorherrschaft der Liebe (B17 1–2) und aus der absoluten Einheit in die absolute Trennung der Elemente unter der Vorherrschaft des Streits. Zwischen diesen beiden Bewegungen gibt es die jeweiligen Phasen der absoluten Einheit (gekennzeichnet durch den Sphairos, B27) und der Trennung, in der es keine Bewegung zur Einheit mehr gibt, bevor die Liebe wieder zu wirken beginnt (B17, 29).122 Über die Detailfragen dieses Ablaufs gibt es einen umfassenden Dissens, der bereits bei der Anordnung und Dauer der verschiedenen Phasen beginnt123 und zu dessen besonders ausführlich diskutierten Aspekten die Frage nach der Bewegung und Ruhe und der Häufigkeit ihres jeweiligen Auftretens im Zyklus gehört.124 Bislang gibt es dazu drei verschiedene Standpunkte: es gibt zwei Phasen von Ruhe, eine Phase der Ruhe oder keine Phase der Ruhe im empedokleischen

121 Für eine ausführlichere Besprechung vgl. O. Primavesi, Empedocles: Physical and Mythical Divinity. In: Curd / Graham (edd.), Presocratic Philosophy, S. 252–253. Außerdem Gemelli Marciano, Vorsokratiker II, S. 333–345 und Rapp, Vorsokratiker, S. 183–187. Gegen die Existenz eines Zyklus: N. van der Ben, The Proem of Empedocles’ Peri Physios. Towards a new Edition of all the Fragments, Amsterdam 1975, S. 30; U. Hölscher, Weltzeiten und Lebenszyklus. Eine Nachprüfung der Empedokles-Doxographie (Hermes 93 (1965)), S. 7–33. 122 Vgl. Primavesi, Empedocles, S. 255. 123 Vgl. Ebd. 124 Für einen kurzen Überblick vgl. D. O’Brien, Empedocles’ Cosmic Cycle. A Reconstruction from the Fragments and the Secondary Sources, Cambridge 1969, S. 252–257; Rapp, Vorsokratiker, S. 183–187.

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System.125 Das Problem basiert auf einer Äußerung des Aristoteles in der Physik, 250b26, der in der Auseinandersetzung mit den Theorien der Vorsokratiker über das Phänomen der Bewegung zu Empedokles schreibt: […] ἢ ὡς Ἐμπεδοκλῆς ἐν μέρει κινεῖσθαι καὶ πάλιν ἠρεμεῖν, κινεῖσθαι μὲν ὅταν ἡ φιλία ἐκ πολλῶν ποιῇ τὸ ἓν ἢ τὸ νεῖκος πολλὰ ἐξ ἑνός, ἠρεμεῖν δ’ ἐν τοῖς μεταξὺ χρόνοις, λέγων […]. »[…] oder wie Empedokles [die Ruhe beschreibt], nämlich so, dass die Dinge einmal bewegt werden und dann wieder ruhen, bewegt aber werden sie, wenn die Liebe aus den vielen Dingen das Eine macht oder der Streit Vieles aus Einem, sie ruhen aber in der Zwischenzeit, wenn er sagt: […]«.

Das Zitat, welches auf λέγων folgt, soll hier den Gegenstand der Untersuchung bilden, ist es doch die einzige Stelle in den Fragmenten, in denen Empedokles den Kinesis-Begriff bemüht, jedoch in einer Negation. Aristoteles zitiert die Verse 9–13 des Fragments B17, welches in größerem Umfang nochmals bei Simplikios in Phys. 157,25 und 33, 18 zu finden ist: οὕτως ᾗ μὲν ἓν ἐκ πλεόνων μεμάθηκε φύεσθαι, ἠδὲ πάλιν διαφύντος ἑνὸς πλέον’ ἐκτελέθουσιν, τῇ μὲν γίγνονταί τε καὶ οὔ σφισιν ἔμπεδος αἰών ᾗ δὲ τάδ’ ἀλλάσσοντα διαμπερὲς οὐδαμὰ λήγει, ταύτῃ δ’ αἰὲν ἔασιν ἀκίνητοι κατὰ κύκλον. »So, wie Eines aus Vielem zu entstehen pflegt, und umgekehrt Vieles aus dem Auseinandergehen des Einen hervorgebracht wird, so werden sie, und ihre Lebenszeit ist unbeständig. Inwiefern aber ihr ständiger Austausch nie aufhört, insofern bleiben [die Götter-Elemente] stets unbewegt im Kreislauf.«126

Aus der Kombination der aristotelischen Annahme des Wechsels von Ruhe und Bewegung in der Kosmologie des Empedokles und des angeführten Zitats ergeben sich zwei Hauptthemen der Diskussion: Zum einen steht die Frage im Raum, ob Aristoteles mit ἐν τοῖς μεταξὺ χρόνοις zwei Phasen der Ruhe127 oder nur eine gemeint hat128 und zweitens, ob Aristoteles den Bezug von ἀκίνητοι missverstan125 Vgl. O’Brien, Cosmic Cycle, S. 4–6 mit der jeweiligen Literatur. 126 Alle Übers., sofern nicht anders angegeben, nach Gemelli Marciano, Vorsokratiker II, S. 138–317. 127 Vgl. O’Brien, Cosmos, S. 8; C. E.  Millerd, On the Interpretation of Empedocles, Diss. Chicago 1908, S. 54; E. Bignone, I poeti filosofi della Grecia: Empedocle, studio critico, traduzione  e comment delle tstimonianze  e dei frammenti, Milan / Rom 1916, S. 590; H. Cherniss, Aristotle’s Criticism of Presocratic Philosophy, Baltimore 1935, S. 175. 128 O’Brien, Cosmic Cycle, S. 8, H. v. Arnim, Die Weltperioden bei Empedokles (Festschrift Theodor Gomperz), Wien 1908, S. 17–18.

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den habe.129 Während die erste Frage über die Betrachtung aller zur Verfügung stehenden Textzeugnisse bearbeitet wird, konzentriert sich die zweite auf den ἀκίνητοι-Begriff allein und daher ist sie hier von größerer Wichtigkeit. Gleichzeitig soll jedoch darauf verwiesen werden, welche Bedeutung das Phänomen der Bewegung generell für die Philosophie des Empedokles und ihr Verständnis hat, wobei eine Betrachtung dieser Diskussion aber mindestens eine eigenständige Arbeit verdient hätte.130 Wie zu sehen ist, beschränkt sich die Bedeutung der Frage von Bewegung nicht nur auf das Verständnis des Kinesis-Begriffs: Sie ist für Aristoteles in Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern von geradezu zentraler Bedeutung, was wiederum anzeigt, wie wichtig eine detaillierte Untersuchung des Kinesis-Begriffs als Element einer fundierten Grundlage der Untersuchung der Diskussion über Bewegung im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr., und darüber hinaus auch im 4. Jahrhundert, ist. Hier jedoch soll von dieser vorwiegend systematisch-philosophischen Diskussion Abstand genommen werden, um sich der zugrundeliegenden Charakteristik der Verwendung von ἀκίνητοι zuzuwenden. Die singuläre Wortverwendung an einer solchen Stelle, die eine Ewigkeit von physikalischer Bewegung und Veränderung postuliert, indem sie dabei auf die Negation dieser Prozesse eingeht, ist durch diese scheinbaren Widersprüche in ihrer Besonderheit einer detaillierteren und ausführlicheren Betrachtung wert. Dazu müssen zuerst die syntaktisch-grammatischen Grundlagen der Stelle, die, wie die obige Darstellung gezeigt hat, nicht unumstritten sind, geklärt werden. Ein besonderes Problem wirft die Frage nach der grammatischen Funktion von ἀκίνητοι auf, das entweder als Prädikatsnomen zu ἔασιν (»sie sind unbewegt im Kreislauf«) oder als attributiver Einschub im Sinne eines Prädikativums gelesen werden kann: »als Unbewegte sind sie im Kreislauf«. Während die Auseinandersetzung mit dieser Stelle in den einschlägigen Kommentaren erstere Variante vorzieht, wird auch die zweite Möglichkeit gelegentlich präsentiert.131 Die Mehrheit der Forschung ist sich jedoch einig, dass sich ἀκίνητοι auf die Bewegung der Elemente im Kreislauf bezieht, es sich also um ein Prädikativum handelt: Nur insofern, als dass sie Elemente des Prozesses dieses ständigen Austausches sind, sind sie ἀκίνητοι und können so genannt werden. Diese Lesart wird zum einen von der einschränkenden grammatischen Konstruktion der 129 Vgl. Millerd, Interpretation, S. 54; v. der Ben, The Proem, S. 29; v. Arnim, Weltperioden, S. 18; dagegen O’Brien, Cosmos, S. 252–261. 130 Vgl. Rapp, Vorsokratiker, S. 183: »So kommt es, daß um die sogenannten »Zyklen des Kosmos« eine heftige Interpretationsdebatte entbrannt ist, die  – solange keine neuen Evidenzen eingebracht werden – als praktisch unentscheidbar gelten kann.« 131 Vgl. z. B. M. R. Wright, Empedocles: The Extant Fragments, New Haven / London 1981, S. 184: »ἀκίνητοι is »unaltered« in  a mainly temporal sense, cf. Parmenides fr. 8,26, 38 […].«

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ᾗ  – ταύτῃ-Korrelation gestützt (»insofern«-»als dass«), als auch beispielsweise durch den Kommentar des Simplikios (Phys. 1124, 25–1125, 2).132 Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob man sich für die erste oder zweite grammatische Konstruktion entscheiden sollte. Bevor man sich festlegt, müssen zwei weitere Aspekte geklärt werden: inwieweit betrifft der Bezug die Untersuchung der Charakteristik? Ändert sich die Charakteristik des Begriffs, wenn man ἀκίνητοι nur auf die Unbeweglichkeit der Elemente im Kreislauf oder als ihnen allgemein zugeordnetes Attribut liest? Und damit eng verknüpft stellt sich die Frage, inwieweit wäre eine Bezeichnung als »unbeweglich«, wenn sie nicht auf das »Gefangensein« im Austausch bezogen ist, für Empedokles überhaupt annehmbar? Es soll hier mit der Untersuchung der zweiten Frage begonnen werden, da sie unmittelbar mit der Bedeutung des Wortes und seinen Konnotationen der Bewegung und des Wandels zusammenhängt: Ist es plausibel, dass Empedokles die Elemente allgemein als ἀκίνητοι bezeichnet? Geht man von der Bedeutung des Wortes im physikalischen Sinne aus, d. h. dem Prozess der Ortsveränderung, so kann wohl diese Frage eindeutig negiert werden: In einem System, das auf der ständigen Bewegung der Elemente, auf deren ständigen Austausch, wie es ja direkt davor expliziert wird, aufgebaut ist, wäre das Absprechen der Möglichkeit der Ortsbewegung für die Elemente widersinnig und nicht nachvollziehbar.133 Eine Möglichkeit, diese Schwierigkeit zu umgehen, wäre die Verlegung auf die zweite Bedeutungskonnotation, die mit der Bewegung zusammenhängt, nämlich die Veränderung. Ein Argument dafür, dass hier dieser Aspekt gemeint ist, wäre die Auseinandersetzung des Empedokles mit Parmenides’ Negation der Bewegung, die, wie es im Kapitel dazu bereits ausgeführt wurde, ebenso z. T. mit »Veränderung« übersetzt wird. Eine solche Überlegung scheint dem Kommentar Wrights zugrunde zu liegen.134 Es gibt dazu jedoch mehrere Gegenargu132 O’Brien, Cosmos, S. 254–260 präsentiert eine Mischform aus beiden und versteht ἀκίνητοι im Sinne von »fixed«. Nach seiner Interpretation habe Aristoteles hier nur von einem einzigen Übergang sprechen können, nämlich vom Übergang der Herrschaft des Streites zur Herrschaft der Liebe. Dabei beziehe Aristoteles die Unbeweglichkeit auf die Elemente, die in ewiger Veränderung gefangen seien, die während der gesamten Zeit, in der beide Mächte miteinander streiten, auftrete, bis im Sphairos vollständige Ruhe herrsche. 133 Zur Antiperistasis vgl. J.  Barnes, The Presocratic Philosophers, London / Boston 1982, S. 397–402. 134 Vgl. Fußnote 131. Zur Auseinandersetzung des Empedokles mit Parmenides vgl. D. W.  Graham, Empedokles und Anaxagoras: Antworten auf Parmenides. In: Long (Hg.), Griechische Philosophie, S. 150–154; Rapp, Vorsokratiker, S. 172–178. Ebenso R. ­McKirahan, Assertion and Argument in Empedocles’ Cosmology or, What did Empedocles learn from Parmenides? In: A. L. Pierris (ed.), The Empedoclean Κόσμος: Sructure (sic!), Process and the Question of Cyclicity. Proceedings of the Symposium Philosophae Antiquae Tertium Myconense July 6th – July 13th, 2003. Part 1: Papers, Patras 2005, S. 171 und 180.

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mente, allen voran eben die Doppelbedeutung von κίνησις als physikalischer Ortsveränderung und quali- oder quantitativer Veränderung. Sicherlich kann hier die Bedeutungskonnotation von »unveränderlich«, sowohl in Bezug auf den Prozess, als auch auf die Elemente, angenommen werden, da sie zu beiden Kontexten passt: Sowohl der ewige Austausch der Elemente ist unveränderlich, als auch sie selbst, wie Empedokles in B35 nahelegt, wenn er beschreibt, wie die Elemente unter dem Einfluss der Liebe zu sterblichen Wesen zusammenwachsen, vorher unsterblich seiend (τὰ πρὶν μάθον ἀθάνατ’ εἶναι). Doch hier stellt sich ein Definitionsproblem, denn was bedeutet »Veränderung«? Nach Rapp kann z. B. die Verwendung von ἀκίνητο bei Parmenides als »unveränderlich« erklärt werden, da Veränderung ein Entstehen und Vergehen bedeutet, welche für das Sein explizit ausgeschlossen werden.135 Er gibt aber gleichzeitig zu, dass Veränderung nicht allein durch Entstehen und Vergehen definiert werde.136 Dies bedeutet für die Elemente, dass die Zuschreibungen der Unsterblichkeit und der »Unentstandenheit« (»ἀγένητα« in B7) allein weder ein notwendiges, noch ein hinreichendes Kriterium für die Definition von »Unveränderlichkeit« darstellen. Dass die Übersetzung »unveränderlich« das Textverständnis unnötig erschwert, zeigen z. B. die Ausführungen Barnes zu dieser Stelle, der ἀκίνητοι übersetzt mit »changeless«, um dann zu erklären: »The roots are involved in a never-ending cycle of change […]«137, ohne auf den expliziten Widerspruch einzugehen.138 Um einem solchen Widerspruch zu entgehen, muss Empedokles bei der Verwendung von ἀκίνητοι nur den Ausschluss von Entstehen und Vergehen für die Elemente gemeint haben. Dies ist aber eine moderne Interpretation des Ausdrucks ἀκίνητο und geht von einer Implikation des Autors aus, die durch die Wortverwendung im Text allein nicht belegt werden kann: Warum einen Prozess von Veränderung beschreiben, um dann Veränderung auszuschließen?139 Außerdem ist es auffällig, dass der Veränderungsprozess über den Bewegungsbegriff beschrieben wird. Vor diesem Hintergrund ist es wahrscheinlicher, dass Empedokles hier mit der doppelten Bedeutung von ἀκίνητο als »bewegungslos« und »unveränderlich« in Verbindung mit der einschränkenden Funktion der ᾗ – ταύτῃ – Korrelation spielt. Es würde daher die Vielschichtigkeit der Aussage im Griechischen stark reduzieren, nur eine von beiden Bedeutungen

135 Vgl. Rapp, Vorsokratiker, S. 137 und oben Kap. 3.1.3. 136 Vgl. Ebd. 137 Vgl. Barnes, Presocratic, S. 309. 138 Interessanterweise stützt sich Barnes Erklärung dann wieder implizit auf die Bedeutung im Sinne der Unmöglichkeit, dem Zyklus zu entkommen, vgl. ebd. S. 315. 139 Barnes kann dies nicht erklären ohne eine (stillschweigende) Änderung des Bezugs: seine Argumentation zweier Ebenen von Veränderung mag nicht zu überzeugen, zumal diese wiederum auf die Ewigkeit des Austausches hinausläuft, vgl. Presocratic, S. 315.

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anzunehmen und diese dann in ihrer Definition auch noch zu beschränken auf die Prozesse des Entstehens und Vergehens. Auch stellt sich die Frage nach der Identität: Inwiefern verändert sich ein Element, wenn es etwas anderes bildet? Möchte Empedokles sagen, dass trotz allen Austauschs sich die Elemente qualitativ nicht verändern, d. h., dass Feuer immer Feuer bleibt, usw.?140 Die Antwort auf diese Frage ist mindestens unklar, wenn sie nicht sogar negiert werden muss. In diesem Zusammenhang ist zu untersuchen, inwieweit Empedokles bei der Mischung der Elemente, die dadurch etwas neues und anderes hervorbringen, von einem qualitativen Gleichbleiben der Elemente ausgeht, oder ob sie bei dieser Vermischung in einem gewissen Sinne verändert werden, wenn es nicht mehr vier Elemente sind, sondern eben ein einziger Mensch beispielsweise. Bis heute hat die Forschung keine eindeutige Antwort auf diese Frage gefunden.141 C. Rapp vermutet, dass einer der zentralen Unterschiede zwischen der Philosophie des Anaxagoras und des Empedokles, die Einführung einer Vielzahl an Elementen, dadurch zu erklären sei, dass Empedokles’ Theorie, alles entstehe aus vier Elementen, das Kriterium »Nichts entsteht aus Nicht-Seiendem« streng genommen nicht erfülle, da die Kombination der Elemente etwas erschafft, was vorher nicht da war und von den Elementen verschieden ist. Um diesem Problem zu entgehen hätte Anaxagoras die Anzahl der Elemente vervielfacht, um dem Kriterium »Nichts entsteht aus etwas, was es nicht ist« gerecht zu werden.142 Auch die totale Einheit im Sphairos, dem Endpunkt der Herrschaft der Liebe, impliziert, dass hier die Elemente zu einer einzigen Einheit zusammengeschmolzen sind, es also kein Feuer, Wasser, usw. mehr gibt.143 In dieser absoluten Einheit »vergehen« sie jedoch nicht, da durch den Streit ihre Trennung wieder möglich wird: Es ist zu sehen, dass der Ausschluss von Vergehen und Entstehen der Elemente nicht automatisch ihre temporäre Veränderlichkeit ausschließt und dass der Sphairos beispielsweise nicht mit Feuer, Wasser, Erde und Luft identisch ist, sondern eine eigene Identität hat, womit sich die Elemente durch ihre absolute Vermischung verändert hätten.144 Trotz allem ist es dann möglich, sie wieder zu 140 Dies würde die Übersetzung »unaltered« bei Wright nahelegen, vgl. Fußnote 131 und Barnes’ Übersetzung. 141 Vgl. Millerd, Interpretation, S. 39–40; C. Osborne, Sin and Moral Responsibility in Empedocles’ Cosmic Cycle. In: Pierris (ed.), Empedoclean Κόσμος, S. 296. 142 Vgl. Rapp, Vorsokratiker, S. 195–196. 143 Vgl. Primavesi, Divinity, S. 254–257: er unterscheidet »pure masses« und »elements«, wobei nur die »pure masses« göttlich sind, während sich die Elemente verändern und sterbliche Wesen bilden, also vergehen und entstehen können. »Pure masses« gibt es dabei nur in der absoluten Herrschaft des Streits. 144 Vgl. P. Curd, On the Question of Religion and Natural Philosophy in Empedocles. In: Pierris (ed.), Empedoclean Κόσμος, S. 149; J. Bollack, Empedocles: Two Theologies, Two Projects. In: Ebd., S. 56.

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trennen.145 Auch an anderen Stellen kann man Empedokles so interpretieren, dass er eine temporäre Veränderung der Elemente zulässt, damit diese die Bestandteile des Kosmos bilden. In B 21, Vers 18–19 beispielsweise ist in Bezug auf die Elemente zu lesen: αὐτὰ γὰρ ἔστιν ταῦτα, δι’ ἀλλήλων δὲ θέοντα γίγνεται ἀλλοιωπά· τόσον διὰ κρῆσις ἀμείβει. »Denn es sind eben diese, aber indem sie durcheinanderlaufen, werden es verschiedene Dinge: in einem solchen Maße ändert es sich durch die Mischung.«

In B26, Vers 7, spricht Empedokles davon, dass das All untergehe, wenn die Elemente zu Einem zusammengewachsen seien (εἰσόκεν ἓν συμφύντα τὸ πᾶν ὑπένερθε γένηται) und auch die direkte Erwähnung des möglichen Entstehens in B17, 9–11 (τῇ μὲν γίγνονταί) und der Verweis auf ihre »unbeständige Lebenszeit« (οὔ σφισιν ἔμπεδος αἰών) deuten auf die Möglichkeit von Veränderung hin, selbst wenn diese hier auf bestimmte Umstände beschränkt wird. Veränderung durch die Mischung wird den Elementen also nicht explizit abgesprochen, sondern es geht Empedokles um ihr ewiges Dasein, um die Möglichkeit, sie immer wieder zu trennen und damit Entstehung und Vergehen als Mischung und Trennung zu definieren. Unveränderlichkeit in jeder Hinsicht wird aber dabei nicht forciert. Ein weiteres Argument dafür, dass Empedokles den ewigen Bestand der Elemente im Allgemeinen annimmt, ihre Fähigkeit zur temporären Transformation aber nicht ausschließt, ist der sog. »Erhaltungssatz« am Ende von B17, Verse 30–35: καὶ πρὸς τοῖς οὔτ’ ἄρ τι ἐπιγίνεται οὐδ’ ἀπολήγει· εἴτε γὰρ ἐφθείροντο διαμπερές, οὐκέτ’ ἂν ἦσαν· τοῦτο δ’ ἐπαυξήσειε τὸ πᾶν τί κε; καὶ πόθεν ἐλθόν; πῇ δέ κε κἠξαπόλοιτο, ἐπεὶ τῶνδ’ οὐδὲν ἔρημον; ἀλλ’ αὐτ(ὰ) ἔστιν ταῦτα, δι’ ἀλλήλων δὲ θέοντα γίγνεται ἄλλοτε ἄλλα καὶ ἠνεκὲς αἰὲν ὁμοῖα. »Und außer ihnen kommt weder etwas hinzu noch vergeht: Denn wenn sie vollständig zugrunde gingen, wären sie nicht mehr: Was aber sollte dieses das All vermehren? Und woher kommen? Wie aber sollte es vergehen, wenn nichts leer ist von ihnen? Aber nur diese eben sind, indem sie durcheinanderlaufen, werden sie einmal dieses, einmal jenes und immer so ähnliches.«

145 Vgl. dazu auch Rapp, Vorsokratiker, S. 178.

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Auch hier weist der letzte Vers daraufhin, dass durch die Vermischung die Elemente, als Subjekt zu γίγνεται im kollektiven Singular, zu etwas anderem werden, sich also verändern. Auch Simplikios stützt diese Interpretation: […] οὗτος δὲ τὰ μὲν σωματικὰ στοιχεῖα ποιεῖ τέτταρα, πῦρ καὶ ἀέρα καὶ ὕδωρ καὶ γῆν, ἀίδια μὲν ὄντα, πλήθει δὲ καὶ ὀλιγότητι μεταβάλλοντα κατὰ τὴν σύγκρισιν καὶ διάκρισιν […].146

Weiterhin kann auch Aristoteles’ Einlassung in der Metaphysik, 985a, 25 so verstanden werden, wenn er bemerkt, dass bei Empedokles der Streit Einigung und die Liebe Segregation bewirkten, wenn der Streit alle Elementteilchen in einer reinen Elementmasse zusammenbringe, während diese durch die Liebe wieder getrennt würden (ἀναγκαῖον ἐξ ἑκάστου τὰ μόρια διακρίνεσθαι πάλιν). Da er hier von μόρια und nicht von ganzen Elementen spricht, die aber in B17, 13 gemeint sind, so ist zu vermuten, dass auch Aristoteles Empedokles so verstanden habe, dass zur Bildung anderer Formen Elementteilchen notwendig sind, die dann zwar wieder durch Trennung zum jeweiligen Element zurückgeführt werden können, für die Dauer ihres Anteils an der Bildung anderer Formen jedoch in dieser aufgehen, sich also temporär verändert haben. Sind nun in B17, 13 die reinen Elementmassen gemeint, so wäre die Attribution »unveränderlich« entweder überflüssig, da ja ihre Beständigkeit mehrfach explizit an anderer Stelle benannt wird, oder irreführend, da sie eben Teilchen abgeben können, die dann zu etwas Anderem werden. Damit scheint die Möglichkeit, ἀκίνητοι als Attribution in Hinsicht auf die Unveränderlichkeit der Elemente zu lesen, die mit dem Text schwerer zu vereinbarende Alternative zu sein. Nimmt man dann noch hinzu, dass ἀκίνητοι nun nicht ausschließlich »unveränderlich« heißt, sondern immer mehrere Prozesse abdeckt, wobei eine Möglichkeit, dass hier physikalische Ortsbewegung gemeint sei, bereits durch den Kontext ausgeschlossen wird, so stellt sich die Frage, warum Empedokles an dieser Stelle ein solches Attribut einfügen sollte, wenn die eine Bedeutung für die Elemente vollständig ausgeschlossen, die andere nur unter einer bestimmten Perspektive zutreffend ist, die von ihm an anderer Stelle sehr viel expliziter ausgeführt wird. Besonders die Betonung eines ständigen Ortswechsels, der durch das διαλλάσσοντα ausgedrückt wird, wenn die Elemente sich austauschen, steht in so starkem Kontrast mit der Attribution durch ein Wort, welchem die Negation des Ortswechsels inhärent ist, dass es unwahrscheinlich ist, dass Empedokles seine Elemente hier allgemein als ἀκίνητοι bezeichnet hat. Aufgrund dieser Überlegungen ist davon auszugehen, dass die übliche Lesart, nämlich dass sich ἀκίνητοι auf das Verbleiben der Elemente im ständigen Prozess des Austauschs 146 Simpl. In Phys. 25, 21.

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bezieht, auch die richtige sein muss, worauf sich die folgende Interpretation stützen wird.147 Nimmt man alle oben ausgeführten Aspekte zusammen, so muss mit ἀκίνητοι das Heraus-Bewegen der Elemente aus der festgelegten Bewegung des Austausch-Prozesses gemeint sein, da keine andere Übersetzung in Frage kommt, die mit dem System und der Beschreibung der Elemente in Einklang steht: die Elemente selbst sind weder unveränderlich noch unbeweglich, also in keiner Hinsicht ἀκίνητοι. Sicherlich ist mit der Übersetzung »sie sind unveränderlich im Kreislauf« im Grunde die gleiche Aussage erreicht wie »sie können aus dem Kreislauf nicht heraus bewegt werden«, doch die Konnotation der Bewegung als einem von außen eingreifenden Prozess148 ist im zweiten Falle sehr viel stärker und es ist plausibel zu vermuten, dass Empedokles eine solche Betonung durch den Gegensatz ewiger Austausch – unbewegt erreichen wollte. Eine solche Charakteristik von Bewegung erinnert auch stark an die von A. Mourelatos herausgearbeitete Konnotation des Κinesis-Prozesses als einem »gewalttätigen« Eingriff von außen, der jemanden von seinem angestammten Platz wegbewegt.149 Ein solcher Bewegungsbegriff bildet auch hier den Hintergrund der Wortverwendung, wie die nachfolgende Analyse deutlicher herausarbeiten wird. 3.2.2. Zur Charakteristik der κίνησις bei Empedokles Es sei aber der Vollständigkeit wegen die Möglichkeit, dass auch eine allgemeine Attribution bezogen auf die Unveränderlichkeit der Elemente vorliegt, noch nicht ganz zu verwerfen: Diese kann hier nämlich als Kontrollstelle für die herausgearbeitete Charakteristik des Prozesses dienen. Vor dem Hintergrund der Wichtigkeit der Stelle für das Verständnis des Ablaufs des Systems und der Verteilung von Ruhe und Bewegung in ihm ist nämlich die Untersuchung, ob sich die mit ἀκίνητοι verknüpften Assoziationen je nach Lesart verändern, von großer Wichtigkeit, da eine Interpretation dieser Verwendung des Begriffs an gegebener Stelle umso fundierter ist, je weniger sie auf andere Komponenten angewiesen ist. Verändert sich die zugrundeliegende Assoziation der Negation der Bewegung an dieser Stelle nicht dadurch, ob man die Unbeweglichkeit auf die Elemente im Kreislauf des Austausches bezieht oder auf die Elemente selbst, so kann davon ausgegangen werden, dass die durch die Wahl des Begriffes an dieser Stelle herauszuarbeitende Charakteristik dem Begriff selbst inhärent ist 147 Vgl. auch Hölscher, Weltzeiten, S. 6. 148 Hier erinnert die Charakteristik an die Diskussion des Aristoteles über den Prozess der vorkosmischen Bewegung, cael. 300b16–31. 149 Vgl. Mourelatos, Route, S. 116–117.

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und nicht allein von einer Besonderheit des empedokleischen Systems und seiner Sprache abhängt. Dadurch kann die Vergleichbarkeit dieser Stelle mit dem thukydideischen Werk stärker fundiert werden, da nur eine Charakteristik, die einen Begriff unabhängig vom Verwendungskontext prägt, Aussagen zulässt über die Funktion des Wortes in zwei unterschiedlichen Texten, um herauszufinden, inwiefern sich bei Thukydides Gemeinsamkeiten oder Unterschiede in der Funktion der Kinesis-Begriffe zur Verwendung in philosophischen Kontexten konstatieren lassen. Insofern muss also am Ende der Untersuchung geprüft werden, ob sich die allgemeine Charakteristik des Kinesis-Begriffs je nach Lesart der Stelle fundamental ändert. Ist dies nicht der Fall, so ist die Annahme plausibel, dass der Kinesis-Begriff ein bestimmtes Spektrum an Assoziationen transportiert, mit denen alle hier betrachteten Autoren, also auch Thukydides, arbeiten könnten, was wiederum die Vergleichbarkeit der Verarbeitung selbst auf eine fundierte Grundlage stellt. Die zentrale Frage der Interpretation ist zunächst, inwiefern und wodurch sich der ἀκίνητο-Begriff für die intendierte Aussage des Empedokles besonders eignet. Dafür ist eine detaillierte Betrachtung des Kontexts notwendig. Wie oben bereits ausführlich dargelegt, wird hier davon ausgegangen, dass sich die Unbeweglichkeit der Elemente auf ihre Gebundenheit im ewigen Austausch bezieht.150 Damit wird ausgedrückt, dass sie aus diesem System nicht herausbewegt werden können, dass also weder ihre systemische Funktion, noch das System selbst von Bewegung, also κίνησις, beeinflusst werden können. Dadurch wird die Ewigkeit dieses Systems sichergestellt, ist dies doch die Grundlage für den Zyklus selbst, der den Kosmos hervorbringt und die Welt erschafft. Erst, wenn ihr ewiger Austausch im Stadium des Sphairos aufhört, vergeht das All (B26).151 150 Neben den bereits vorgestellten unterschiedlichen Lesarten, ἀκίνητο als »unveränderlich« auf die Elemente oder »unbewegt« als Teil des Prozesses zu beziehen, gibt es noch weitere Varianten und Interpretationen, die hier jedoch aufgrund ihres geringen Einflusses auf die Forschungsdiskussion und / oder ihres beiläufigen Charakters unbeachtet bleiben müssen. Als Beispiel sei hier nur auf J. Bollack, The Ontology Reconstructed by Empedocles. A Rereading of Fragment 31 Bollack = 17 Diels-Kranz, Extended by the Strasbourg Papyrus (=Appendix zu »Empedocles, Two Theologies, Two Projects«). In: Pierris (ed.), Empedoclean Κόσμος, S. 65 verwiesen, der ἀκίνητοι durch entgegengesetzte Bewegungen von Liebe und Streit erklärt, die einander aufheben würden, wodurch die Elemente unbewegt blieben: »Contrary movements embedded between two opposite poles [Liebe und Streit] cancel each another out; in a second stage, they produce immobility.« Dazu sei nur angemerkt, dass eine Deutung hieße, dass es zu den bereits postulierten Ruhephasen noch mehrere Momente in der Kosmologie gäbe, in der alles stillsteht, immer dann, wenn Streit und Liebe gleichzeitig wirkten: für die Existenz solcher Phasen findet sich jedoch in B17 kein Hinweis. 151 Gleiches gilt im Kleinen, wenn man nach Hölscher hier unter dem Einen die sterblichen Lebewesen versteht, vgl. Hölscher, Weltzeiten, S. 14: wenn hier ein Austausch, also eine Entwicklung des Lebewesens, das aus den Elementen besteht, nicht mehr stattfindet, vergeht es.

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Dies bedeutet, dass unsere Welt und die Kosmologie im Allgemeinen existentiell vom ständigen Kreislauf der Elemente abhängen: Eine Änderung dieses Prozesses durch äußeren Einfluss bringt den gesamten Kosmos in Gefahr. Durch die Negation des Einflusses von κίνησις auf diesen Prozess macht Empedokles klar, dass die Bewegung den Austausch nicht beeinflussen und damit weder aufhalten noch beginnen kann: Die Elemente sind in dieser Hinsicht dem Bewegungseinfluss entzogen. Für die Grundlage der Kosmologie, sowie der Kosmo- und Zoogonie, dem System des ständigen Austauschs, ist der Bewegungseinfluss damit vollständig negiert. So kann gleichzeitig ex negativo die Ewigkeit dieses Systems garantiert werden. Sind nun die Triebkräfte des Austausches, Liebe und Streit, die Grundkonstanten des Systems, so lässt der Zusatz der Unbeweglichkeit vermuten, dass für Empedokles die κίνησις einen dritten Prozess darstellt, der theoretisch in der Lage wäre, diese Grundkonstanten in ihrem ständigen Wechsel und in ihrer Bewegung der Elemente zu stören. Während also Liebe und Streit die jeweilige Richtung der Bewegung (aufeinander zu oder voneinander weg) bestimmen, ist ihnen die Kontrolle während des gegenseitigen Kampfes über die Bewegung selbst nur in Ansätzen gegeben. Fraglich ist, ob Empedokles auch für den Sphairos eine Abwesenheit von κίνησις angenommen hat.152 Die überlieferten Fragmente beschreiben den Sphairos mit μονίῃ (B27 und 28), dessen Übersetzung »changelessness« im LSJ sich allein auf diese Stelle bezieht und damit auf die Diskussion um Aristoteles’ Aussage zu den Ruhephasen bei Empedokles.153 Μονίη kann sich aber ebenso auf den Aspekt der absoluten Einheit beziehen, in der es nur den Sphairos gibt, wobei es dann eher mit μονός als mit μένω verwandt wäre.154 Es ist zu vermuten, dass eine der Quellen, hätte Empedokles die Abwesenheit von κίνησις auch für den Sphairos explizit gemacht, eine solche Stelle in der Diskussion angeführt hätte. Dies muss jedoch Spekulation bleiben, da die Textgrundlage fehlt. Gehen wir von den vorhandenen Zeugnissen aus, so postuliert Empedokles, unabhängig von der Frage der Anzahl der Ruhephasen,155 keine Form des ἀκίνετον-Zustandes im Sphairos, was wiederum darauf schließen lässt, dass κίνησις als ewig gedacht wird und damit mindestens neben Liebe und Streit einen dritten kosmischen Prozess der Kosmogonie bildet. Berück152 Zur Diskussion vgl. O’Brien, Cosmic Cycle, S. 4–15 mit älterer Literatur: die Interpretation der Ruhe im Sphairos basiert hauptsächlich auf der Interpretation aristotelischer Texte und auch dort größtenteils auf Implikationen, aber keiner expliziten Äußerung: damit bleibt eine Entscheidung unsicher. Dagegen in neuerer Zeit: v. d. Ben, Proem, S. 29. 153 Vgl. zur Unsicherheit O’Brien, Cosmic Cycle, S. 19: »The immobility of the Sphere is very likely stated in fr. 27. 3–4 and implied in fr.31.« (Hervorhebungen von mir). 154 Zur Diskussion ebd., S. 22–25. 155 Vgl. dazu z. B. in ebd., S. 29–32 die Ablehnung der »cosmis-cycle-theory« allgemein, da ἀκινησία erst durch Eudemus in die Periode des Sphairos hineininterpretiert wurde und die Ablehnung der Ruhe-Theorie im Sphairos gegen O’Brien, Cosmic Cycle, S. 1–3.

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sichtigt man dabei noch das implizierte Verhältnis dieser drei, welches durch die Ver­sicherung der Unbeeinflussbarkeit des Austausches durch κίνησις zum Vorschein kommt, entsteht der Eindruck, als ob für Empedokles die Bewegung vorrangig zu Liebe und Streit besteht, als ein von ihnen unabhängiger Prozess, dessen sie sich zwar bedienen, ihn aber nicht aufhalten oder beginnen können. Damit liegt ebenfalls der Schluss nahe, dass für Empedokles die κίνησις überall wirkt und somit alles im Kosmos von κίνησις beeinflusst wird: auch Liebe und Streit, die in ihren Funktionen als Triebkräfte des Kreislaufes auf κίνησις angewiesen sind. Ebenfalls ist darauf hinzuweisen, dass die Ausschließlichkeit, mit der Empedokles die Unbeweglichkeit der Elemente auf ihre Funktion im Kreislauf und auf das System selbst bezieht, darauf schließen lässt, dass ansonsten alles andere, welches sich außerhalb dieser beiden Sphären befindet, dann automatisch von κίνησις beeinflusst wird: hier ist vor allem die ᾗ – ταύτῃ-Korrelation zu nennen, aus der ex negativo auch eine ständige Bewegung aller Dinge rekonstruiert werden kann. Damit besitzt die κίνησις bei Empedokles die Konnotation von beinah allmächtiger Wirksamkeit im Kosmos, denn das Einzige, was sie nicht bewirken kann, ist eine Veränderung des ewigen Austausches der Elemente, während alles andere ihrem Wirken unterliegt. Durch die Bezeichnung der Elemente als »unbeweglich« könnte demnach auch die Verlässlichkeit ihrer ewigen Bewegung im kosmischen Kreislauf ausgedrückt werden. Es ist an dieser Stelle noch einmal auf die oben angesprochene Schwierigkeit des Bezugs von ἀκίνητοι zurückzukommen und zu überprüfen, inwieweit sich die Konnotation ändert, wenn man das Wort als allgemeine Beschreibung der Elemente versteht. Eine solche Veränderung kann nicht festgestellt werden: Sollte sich ἀκίνητοι auf die Unveränderlichkeit der Elemente beziehen und dann auch nur auf die Unmöglichkeit ihres Entstehens und Vergehens, so wird dennoch deutlich, dass κίνησις umgekehrt für alle anderen Formen des Kosmos gilt. Die Elemente bekämen dann eine Alleinstellung durch die immerwährende Gültigkeit, die ja in gleicher Form durch ihre Unbeweglichkeit im ewigen Kreislauf konstruiert wird. Durch die Zuschreibung der Unveränderlichkeit wird die Ewigkeit des Systems garantiert und damit gleichzeitig die Möglichkeit, über den Aufbau der Welt und ihre Prozesse echtes und wahres Wissen zu erlangen. Die Macht der κίνησις wäre dann nur dahingehend beschränkt, dass sie die Elemente nicht verändern kann, womit umgekehrt die Konnotation des ansonsten allumfassenden Einflusses erneut erschlossen werden kann. Gleiches gilt für den Aspekt der Unkontrollierbarkeit: die Freiheit von κίνησις bedeutet hier noch keine Kontrolle über jene. Die Beziehung zwischen Streit, Liebe und Bewegung bliebe die gleiche und damit wird Bewegung als dritter, von Liebe und Streit unabhängiger Prozess im Kosmos angenommen, der von ihnen zwar verwendet, nicht aber gestoppt oder initiiert werden kann. Auch der Einfluss auf den Sphairos wird dadurch nicht verändert: Der Prozess ist als ebenso mächtig gedacht, wie

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wenn man das ἀκίνητοι als Beschränkung auf den Austauschprozess liest. Davon abgesehen, dass sich die Konnotation, die ex negativo aus dem Ausschluss der Beeinflussung der Elemente durch κίνησις erschlossen werden kann, nicht ändert, ist auch, wie ausführlich gezeigt worden ist, die Lesart »unveränderlich« bezogen auf die Elemente allgemein schwer mit dem Text vereinbar. Aus oben genannten Gründen, vor allem der spezifizierenden Funktion der ᾗ – ταύτῃ – Korrelation, kann ἀκίνητοι sich daher nur auf die Beteiligung der Elemente im Austauschprozess beziehen und dann nur so gemeint sein, dass die Elemente zwar immer bewegt werden, aber eben nur nach den Gesetzen und Abläufen des Austauschprozesses: nur hier findet die κίνησις eine Beschränkung ihrer Macht, da sie auf diese Gesetze und Abläufe eben keinen Einfluss ausüben kann.

3.2.3 Wahrheit durch Unbeweglichkeit Das Empedokles den Einfluss der κίνησις genau an dieser Stelle begrenzt, lässt sich damit erklären, dass seine Ausführungen trotz der Existenz dieses alles beeinflussenden Bewegungsprozesses im Kosmos einen immerwährenden Wahrheitsgehalt beanspruchen. Zumindest die Ewigkeit des zugrundeliegenden Austauschprozesses muss daher garantiert sein, welche durch ἀκίνητοι ausgedrückt wird.156 Damit gewinnt die Bewegung den ambivalenten Charakter eines störenden und zugleich notwendigen Prozesses im Kosmos: Die kosmischen Prozesse können nicht ohne ihn ablaufen, gleichzeitig ist er aber auch eine Gefahr für die Ewigkeit dieser und damit für den Wahrheitsanspruch der präsentierten Philosophie, da ja Empedokles selbst die Sinneswahrnehmung, die sich auf die temporären Erzeugnisse der Mischung und Trennung der Elemente bezieht, als nicht vertrauenswürdig ansieht (B3).157 Hier wird ebenso das Prinzip der Forschungsmethode des Empedokles deutlich, die die sinnliche Wahrnehmung als Mittel zur Erkenntnis der Wahrheit akzeptiert, wenn die Deduktion dieser Wahrheit aus dem Beobachteten erfolgt.158 Wenn also die sinnliche Welt auf der Bewegung 156 Wie wichtig die Ewigkeit des Austauschprozesses für Empedokles nicht nur hinsichtlich der Kosmologie, sondern auch der ethischen Lehre ist, zeigt Curd, Religion, S. 150–153: die Richtigkeit der ethischen Gesetze kann nur gewährleistet werden, wenn der zugrundeliegende Prozess des Austauschs von jeder äußeren Beeinflussung frei ist. 157 Dieser Anspruch auf Wahrheit und echtes Wissen wird insbesondere in den Versen des Straßburger Papyrus deutlich, vgl. O. Primavesi, Empedokles »Physika I«. Eine Rekonstruktion des zentralen Gedankenganges (APF Beiheft 22 (2008)), S. 21–23 unter Verweis auf Strasb.a(ii) 21–22. 158 Dies wird in der Ambivalenz der Verse 9–13 in B3 deutlich: ἀλλ’ ἄγ’ ἄθρει πάσηι παλάμηι, πῆι δῆλον ἕκαστον, | μήτε τιν’ ὄψιν ἔχων πίστει πλέον ἢ κατ’ ἀκουήν | ἢ ἀκοὴν ἐρίδουπον ὑπὲρ τρανώματα γλώσσης| μήτε τι τῶν ἄλλων, ὁπόσηι πόρος ἐστὶ νοῆσαι, |γυίων πίστιν ἔρυκε, νόει δ’ ἧι δῆλον ἕκαστον.

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der Elemente beruht, so kann daraus das Gesetz deduziert werden, dass diese Bewegung nicht aufhört und alles nur ein Austausch der Elemente ist. Um diese Deduktion zu gewährleisten, muss der Prozess selbst unbeeinflusst von Bewegung bleiben, womit die Elemente ἀκίνητοι in diesem Austausch sind, ansonsten aber Objekte dieser. Wenn durch diese Negation die Sicherheit und ewige Gültigkeit des Austausches gewährleistet werden soll, liegt es nahe, κίνησις als deren Gegenteil zu verstehen: Sicherheit, im Sinne von sicherem Wissen, kann es nicht geben, wenn die Funktion der Elemente im Prozess des Austauschs von κίνησις beeinflusst werden könnte.159 Wie auch bei Parmenides stellt sich hier ebenso die Frage nach dem Verhältnis von Dichter und Rezipienten:160 Inwieweit geht Empedokles auf landläufige oder auf einen bestimmten Hörerkreis zugeschnittene Vorstellungen ein, wenn er von diesen Prozessen spricht und die Negation von Bewegung auf einen bestimmten Prozess beschränkt?161 Eine neuere Forschungsrichtung hebt besonders den mystischen Aspekt der Lehre des Empedokles hervor, der die Verbindung beider überlieferter Gedichtteile ermöglicht.162 In einem solchen Kontext beinhaltet das Gedicht mehrere Ebenen der Kommunikation.163 Außerdem bedient sich Empedokles durch die Verwendung des epischen Versmaßes bei homerischen Phrasen und den damit verbundenen Assoziationen beim Publikum.164 Dieser Aspekt ist für das Verständnis des Gesagten überaus wichtig, da hier eine zweite Ebene der Kommunikation zwischen Dichter und Publikum eröffnet wird, die über die Gemeinsamkeit des kulturellen Erbes und allgemeiner gesellschaftlicher Konventionen, geführter Diskussionen usw. funktioniert.165 Vor dem Hintergrund der vergleichbaren Konnotation der κίνησις, die implizit aus der Negation im Gedicht des Parmenides hervorgegangen ist, kann auch hier davon ausgegangen werden, dass der Rezipient des Gedichts bei der Erwähnung von ἀκίνητοι die mit dem Prozess der κίνησις verbundenen Assoziationen vor Augen hat. Dadurch könnte die einschränkende Funktion der ᾗ – ταύτῃ – Korrelation in Bezug auf den Wirkungsbereich von ἀκίνητοι noch weiter gestärkt werden: nur in diesem Kontext kann es Unbeweglichkeit geben.166 Ist es für den Rezipientenkreis mög159 Ebenso wird der Anspruch auf Wahrheit deutlich in B2, vgl. Kingsley, Empedocles, S. 361. 160 Zur Nähe von Parmenides und Empedokles vgl. Kingsley, Empedocles, S. 371–372. 161 Zur Dichter-Rezipienten-Interaktion vgl. R.  Nünlist, Poetological Imagery in Empe­ docles. In: Pierris (ed.), Empedoclean Κόσμος, S. 80–81; Bollack, Two Theologies, S. 47. 162 Vgl. Primavesi, Empedocles, S. 257–268; Gemelli Marciano, Vorsokratiker II, S. 322–326; Kingsley, Empedocles, S. 341. 163 Vgl. Kingsley, Empedocles, S. 364. 164 Vgl. Kingsley, Ancient Philosophy, Mystery, and Magic. Empedocles and Pythagorean Tradition, Oxford 1995, S. 5 und S. 43–44. 165 Vgl. Kingsley, Empedocles, S. 363. 166 Dieser Rückschluss auf eine allgemeine Vorstellung von κίνησις ist auch dann möglich, wenn man nur einen stark eingeschränkten Rezipientenkreis im Sinne einer esoterischen

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lich, dass das Phänomen der Bewegung allgegenwärtig und unkontrollierbar mächtig ist, was gleichzeitig die Auseinandersetzung mit ihr in einer kosmologischen Erklärung, die immerwährende Wahrheit beansprucht, so schwierig macht, dann kann eine Beschränkung ihrer Wirkung in der hier zu beobachtenden und scheinbar widersprüchlichen Art und Weise als eine Möglichkeit des Umgangs mit diesem Problem interpretiert werden. Damit diese Möglichkeit funktioniert, muss aber beim Publikum bereits eine solche Vorstellung vorhanden sein, die die Negation der κίνησις mit der dazugehörigen Einschränkung plausibel erscheinen lässt. Damit lässt sich aus der Funktion des ἀκίνητοι an dieser Stelle die Vorstellung rekonstruieren, die beim Rezipienten und bei Empedokles vom Charakter der κίνησις bestanden haben könnte. Die Ähnlichkeit zu Parmenides stärkt dieses Argument: Auch dort könnte der Umgang mit dem Prozess als schwierig empfunden worden sein, vor allem vor dem Hintergrund eines ewigen Wahrheitsanspruchs, wodurch die Attribution des Seins durch die Unbeweglichkeit erklärt werden kann – man schließt die Wirkung der κίνησις für das betreffende Element aus und erreicht so die Grundlage für einen ewigen Wahrheitsanspruch, der dieses Element betrifft.167 Unabhängig davon, wie stark man die Beziehung zwischen Empedokles und Parmenides machen möchte,168 gewisse Parallelen sind nicht zu verleugnen, womit auch ein möglicher Diskurscharakter zwischen beiden Entwürfen plausibel wird, wie ja auch Einigkeit darüber besteht, dass sich Empedokles mit Parmenides’ Thesen auseinandersetzt.169 Bei der Zuschreibung von ἀκίνητοι könnte eine solche Auseinandersetzung greifbar werden: Indem Empedokles die allgemein formulierte Negation des Bewegungseinflusses auf das Sein auf den Ablauf des Austauschprozesses beschränkt, kann er die Phänomene von Entstehen und Vergehen erklären, ohne dabei auf den Anspruch ewiger Wahrheit verzichten zu müssen. Trotz des unterschiedlichen Umgangs mit der Frage nach der Rolle von κίνησις in der jeweiligen Welterklärung können hier gleichzeitig die Parallelen des Charakters des Prozesses erkannt werden, wodurch anzunehmen ist, dass sich beide auf gleiche oder ähnliche Vorstellungen von κίνησις stützen, die um der Beständigkeit des beschriebenen Systems willen für bestimmte Elemente in eben diesem zu negieBelehrung annimmt: auch dann kennen die Rezipienten die Charakteristik des Begriffes und die Auseinandersetzung damit, wahrscheinlich auch bei Parmenides. Des Weiteren ist die Adresse an einen Pausanias kein Ausschlusskriterium, da vermutlich Pausanias stellvertretend für eine weitere Anzahl an Hörern steht. Selbst, wenn es wirklich nur ein einziger Schüler hören sollte, so ist damit noch nicht ausgeschlossen, dass Empedokles hier eine allgemeine Charakteristik des Begriffs bemüht. Vgl. Curd, Religion, S. 139, Anm. 4 und S. 140–142; Bollack, Two Theologies, S. 53. 167 Vgl. oben Kap. 3.1.3. 168 Vgl. dazu McKirahan, Assertion, S. 174–183; Nünlist, Poetological Imagery, S. 73–83. 169 Vgl. Graham, Antworten, S. 152–154; Guthrie, History II, S. 138–143; Bollack, Two Theologies, S. 65.

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ren ist. Gleich ist damit die Gefahr, die vom Bewegungsprozess für beide ausgeht, weshalb es überhaupt zu einer solchen Negation kommt. Diese Gefahr wiederum unterstreicht erneut den herausgearbeiteten mächtigen und unkontrollierbaren Charakter des Prozesses der κίνησις, wie sich hier ex negativo rekonstruieren lässt. Dass beide auf diesen Aspekt eingehen, zeigt außerdem, wie wichtig und zentral die Frage nach der Beziehung von Bewegung und dem Erklären von Entstehen / Vergehen im Kosmos, sowie der Möglichkeit der Erlangung wahren, ewigen Wissens, das durch keine Änderung in seiner Gültigkeit unterminiert werden kann, für die Zeitgenossen gewesen sein muss. Dadurch ließe sich auch die Zentralität in der Einleitung des thukydideischen Werks unter der Spezifikation der »größten κίνησις« als ein Aspekt der bei Empedokles und Parmenides beobachteten Auseinandersetzung mit dem gesamten Prozess bewerten. Thuky­ dides würde sich damit an einem Diskurs beteiligen, dessen Mittelpunkt die intellektuelle Beschäftigung mit dem Prozess der κίνησις darstellt. Thukydides betrachtet jedoch ausschließlich die sinnlich wahrnehmbare Welt der Menschen, in der er die historischen Prozesse als κίνησις interpretiert – die Frage nach der Möglichkeit von Unbeweglichkeit stellt sich ihm in diesem Kontext, anders als bei Parmenides oder Empedokles, nicht. In der weiteren Betrachtung der Vorsokratiker wird erkennbar sein, dass sich unter anderem mit Anaxagoras die Perspektive ändert und man versucht, die Allgegenwärtigkeit der κίνησις in die Kosmologien einzuarbeiten statt sie zu negieren. Diese Entwicklung könnte ihre Entsprechung im Postulat einer μεγίστη κίνησις bei Thukydides finden. 3.2.4 Göttlichkeit, ἀνάγκη und Ewigkeit In den bereits angesprochenen mythischen Bereich führt auch ein anderer ­Aspekt, der eine vergleichende Betrachtung mit dem Götterbild beispielsweise des Xenophanes möglich macht.170 In B21, 10–12 zählt Empedokles verschiedene Formen auf, die von den Elementen in ihrem Prozess des Austauschs gebildet werden: ἐκ τούτων γὰρ πάνθ’ ὅσα τ’ ἦν ὅσα τ’ ἔστι καὶ ἔσται, δένδρεά τ’ ἐβλάστησε καὶ ἀνέρες ἠδὲ γυναῖκες, θῆρές τ’ οἰωνοί τε καὶ ὑδατοθρέμμονες ἰχθῦς, καί τε θεοὶ δολιχαίωνες τιμῆισι φέριστοι. »Denn aus ihnen wuchsen all jene, die waren, die sind und sein werden, Bäume und Männer und Frauen, und Biester, Vögel und vom Wasser genährte Fische, und auch Götter, langlebige, die ersten in der Verehrung.« 170 Vgl. Curd, Religion, S. 143 und unten Kap. 3.4.2.

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Bereits Primavesi weist auf die Besonderheit des δολιχαίωνες hin: langlebig bedeute nicht »unsterblich«.171 Für die Identifikation der θεοί gibt es zwei Möglichkeiten: Es könnte sich einmal um die anthropomorphen Götter Homers handeln, wie es der Kontext der epischen Struktur vermuten lässt,172 zum anderen wäre es denkbar, dass hier die Elemente selbst gemeint sind, die noch keine chemische Reinheit erreicht haben.173 In beiden Fällen ist davon auszugehen, dass für Empedokles »Göttlichkeit« über die Teilhabe an den Grundelementen definiert wird, die unentstanden und unvergänglich sind.174 Insofern aber diese erst durch Bewegung in die Lage versetzt werden, ihre Funktion zu erfüllen, kann Göttliches nicht ohne Bewegung entstehen. Damit steht die Bewegung sogar über den göttlichen Dingen, denn diese sind Objekte des Prozesses. Ob nun die anthropomorphen Götter gemeint sind oder alle Dinge, die von den Elementen gebildet werden, ihr Entstehen und Vergehen ist Teil der Bewegung der Elemente. Dies ist ein weiteres Argument für die Rezeption von Bewegung als allmächtig und auch allgegenwärtig. Die einzige Beschränkung, die die κίνησις bei Empedokles erfährt, ist ihre Relativität: Ihre Wirkung ist ewig und immer auf die Elemente bezogen und nur insofern kann der Prozess selbst, der durch Liebe und Streit gesteuert wird, nicht von κίνησις beeinflusst werden. Der Bewegungsprozess steht damit sogar noch über dem Göttlichen, sowohl den Elementen als auch den anthropomorphen Göttern, und im Gegensatz zu Xenophanes, der den homerischen Göttern aufgrund ihrer Bewegtheit die göttliche Qualifikation abspricht und damit einen unbewegten Gott entwickelt, können die göttlichen Elemente erst durch κίνησις wirken  – ein Aspekt, welcher bei Anaxagoras ebenfalls zu finden ist, worauf im nächsten Kapitel näher einzugehen sein wird. An dieser Stelle muss gefragt werden, ob bei Empedokles dennoch eine ähnliche Konstruktion gefunden werden kann, die die Position und Funktion des »unbewegten Göttlichen« bei Xenophanes (und ansatzweise bei Parmenides) einnimmt. Das einzige, was bei Empedokles »unbewegt« ist, ist der Prozess des Austauschs selbst, der nicht verändert, gestoppt, beschleunigt, oder anderweitig beeinflusst werden kann. Empedokles bezeichnet diesen Prozess nicht als göttlich, womit eine Verbindung zu Xenophanes auf dieser Ebene nicht gezogen werden kann. Er wird aber in B30 dadurch charakterisiert, dass er von »mächtigen Schwüren« (πλατέος ὅρκου) garantiert wird. Diese Schwüre tauchen erneut in B115 auf, diesmal in Verbindung mit der Wanderung des Daimons und mit dem Hinweis auf die ἀνάγκης χρῆμα. In beiden Fällen ist der geschilderte Prozess durch eine höhere Macht garantiert, 171 Primavesi, Empedocles, S. 256. 172 Vgl. S. Rangos, Empedocles on Divine Nature (RMM 75 (2012)), S. 318. Dagegen Bollack, Two Theologies, S. 48–49 und S. 54. 173 Vgl. Primavesi, Empedocles, S. 256. 174 Vgl. Rangos, Divine, S. 334.

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die als Autorität für die Einhaltung der Schwüre einsteht.175 An welche Autorität auch immer hier gedacht ist,176 sie ist damit auch verantwortlich für den Ablauf des Prozesses. Die Sicherheit für die Unbeeinflussbarkeit des Austausches durch Bewegung hängt damit von dieser Autorität ab, die als Bewahrer der Schwüre fungiert. Dies erinnert stark an die Funktion der »gewaltigen Fesseln« der Moira und der Ananke bei Parmenides.177 Die Verknüpfung der ἀνάγκης χρῆμα in B115 mit dem Prozess des Austauschs wird dadurch möglich, dass eine strikte Trennung der beiden Gedichte des Empedokles zunehmend umstritten ist.178 Folgt man Primavesi und Anderen bezüglich der Interdependenz beider Gedichte,179 so findet sich hier sogar eine explizit wörtliche Aufnahme der »Notwendigkeit« bezüglich der Schwüre, die die Unbewegtheit des Austauschprozesses garantieren. Die κίνησις ist damit, wie bei Parmenides, nur der Ananke unterworfen, die aufgrund der zwingenden Notwendigkeit des Einhaltens der Schwüre Macht über diese bekommt. Aufgrund des Fehlens anderer Mächte, die einen völligen Ausschluss der κίνησις garantieren, kann hier vermutet werden, dass eine Unterordnung der Bewegung unter die Ananke impliziert wird, die die Ewigkeit des Austausches durch »Unbeweglichkeit« garantiert.180 Damit wird deutlich, dass der Ananke die Funktion einer zentralen Macht im Kosmos zugesprochen wird. In Hinsicht auf Liebe und Streit wird dagegen deutlich, dass mit ihrer Fähigkeit, die Bewegung zu lenken und zu nutzen, nicht auch gleichzeitig eine Kontrolle über sie einhergeht: beide Elemente können den gleichen Prozess verwenden, um sich gegenseitig zu verdrängen. Selbst der Sphairos, der als ganzheitlich und alles umfassend geschildert wird, wodurch es streng genommen keine Macht mehr geben kann, die noch auf ihn einwirkt, wird dann doch durch die Ewigkeit des ständigen Wechsels von Liebe und Streit zerstört, indem der Streit durch den Bewegungsprozess die Trennung der Elemente in Gang setzt.181 Damit ist erkennbar, dass Empedokles die κίνησις als immerwährenden Prozess versteht, der auch durch die Bildung des Sphairos nicht aufhört zu existieren, selbst wenn in diesem (temporäre) Ruhe herrschen sollte.182 175 Vgl. dazu Barnes, Presocratic, S. 421–423. 176 Zu dieser ungeklärten Frage vgl. D. W. Graham, The Topology and Dynamics of Empedocles’ Cycle. In: Pierris (ed.), Empedoclean Κόσμος, S. 231. 177 Zur Nähe des unbewegten Sphairos und der gewaltigen Fesseln bei Parmenides vgl. die Diskussion um ἐστήρικται in O’Brien, Cosmic Cycle, S. 21–22. 178 Vgl. Gemelli Marciano, Vorsokratiker II, S. 333. 179 Vgl. Primavesi, Divinity, S. 261–268; v. der Ben, The Proem; C.  Osborne, Empedocles Recycled (CQ 37 (1987)), S. 24–50; B.  Inwood, The Poem of Empedocles. A Text and Translation with an Introduction, Toronto 1992, S. 8–19. 180 Vgl. Millerd, Interpretation, S. 44: »It [der Wechsel zwischen Liebe und Streit] is decreed by necessity, sworn by »broad oaths.« Zum Zusammenhang zwischen den Schwüren und der Ananke vgl. v. d. Ben, Proem, S. 26. 181 Vgl. Graham, Topology, S. 230. 182 Vgl die Diskussion in Kap. 3.2.1 oben.

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Auch bei Empedokles stellt sich die Frage, inwieweit die Attribute der Unentstandenheit und Unvergänglichkeit allein eine ausreichende Begründung für die Bezeichnung ἀκίνητοι darstellen. Die Auseinandersetzung mit dem Text hat dabei gezeigt, dass Unentstandenheit und Unvergänglichkeit zwar definitorische Elemente des Göttlichen sind, nicht aber automatisch die Freiheit von κίνησις erklären, wie auch bei Parmenides bereits analysiert werden konnte. Bewegung erfasst für Empedokles auch die unentstandenen und unvergänglichen Dinge des Kosmos, ohne auf ihre Grundeigenschaft Einfluss zu haben. Dass also die Elemente wieder aus den Zusammenschlüssen entstehen, die sie vorher gebildet haben, dass dies niemals trotz aller Bewegung geändert werden kann, schwingt bei Empedokles im ἀκίνητοι mit: ihr ewiges Bestehen wäre sonst nicht garantiert. Damit wird deutlich, dass die Ewigkeit der Unentstandenheit und Unvergänglichkeit durch die Freiheit von κίνησις garantiert wird, diese selbst sich aber nicht automatisch schon darin äußert, dass etwas unentstanden und unvergänglich ist. Stattdessen wird damit ausgedrückt, dass die Elemente trotz dieser Eigenschaft immer bewegt werden und nur in diesem Sinne der Ewigkeit ἀκίνητοι sind. So interpretiert es ebenfalls Simplikios, In Phys. 1124, 24–26: τὴν δὲ ἀκινησίαν ἔοικεν ὁ Ἐμπεδοκλῆς ἐνορᾶν κατὰ τὴν ἀίδιον ταυτότητα τῆς εἰς ἄλληλα τοῦ ἑνὸς καὶ τῶν πολλῶν μεταβολῆς.183

Die Aspekte der Unentstandenheit, Unvergänglichkeit und Unbeweglichkeit gehören zwar eng zusammen, sind aber keinesfalls wesensgleich: ἀκίνητοι also allein auf die Abwesenheit von Entstehen und Vergehen zu beziehen, wird dem Umfang des Begriffs nicht gerecht, ebenso wenig wie dadurch eine »Veränderung« auszuschließen. Eine temporäre Veränderung hat keinen Einfluss auf die Unentstandenheit oder Unvergänglichkeit eines Elements bei Empedokles. Es sind stattdessen eher die mit Unentstandenheit und Unvergänglichkeit verbundenen Aspekte wie Ewigkeit und Stabilität, die die enge Verknüpfung dieser Eigenschaften mit der Freiheit von Bewegung assoziieren. So bildet sich eine umfassendere Vorstellung davon, dass mit ἀκίνητο nicht nur eine ganz bestimmte Eigenschaft ausgedrückt, sondern ein ganzes Spektrum an Assoziationen gleichzeitig geweckt werden kann, die wiederum als Negativ zur Rekonstruktion der Rezeption von κίνησις dienen können. Ein solcher Aspekt der Ewigkeit wird auch bei Thukydides zu sehen sein, bei dem sich die Negation von κίνησις auf religiöse und staatliche Regeln bezieht, die als ewig geltende konzipiert sind.184 183 Zur Diskussion vgl. O’Brien, Cosmic Cycle, S. 27. 184 So z. B. in Thuk. I, 71, 3: τὰ ἀκίνητα νόμιμα und III, 37, 3: νόμοις ἀκινήτοις. In beiden Fällen wird die jeweilige, angesprochene Gewohnheit, bzw. das Gesetz oder »Herkommen« gebrochen und verändert, womit die Ewigkeit in Frage gestellt ist: Ausführlicheres dazu im entsprechenden Kapitel. Kein ἀκίνητο-Begriff, aber eine implizite Negation von Be-

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In den obigen Ausführungen wird deutlich, dass eine Beschränkung des ἀκίνητοι auf rein physikalisch-chemische Prozesse dem Umfang des Begriffs und der Funktion der κίνησις im gesamten System, die in B17, 13 ausgeschlossen werden soll, nicht gerecht wird. Den eigentlichen physikalischen Prozess der Bewegung als eine Macht zu verstehen, die der Liebe und dem Streit gleichkommt und neben ihnen existiert, steht auch im Einklang mit der Kritik Kingsleys an der modernen Interpretation der Vorsokratiker, an die man die Maßstäbe moderner, rationaler Wissenschaft lege, wodurch der Blick auf ihre genuinen Gedanken verstellt werde.185 Eine solche »Rationalisierung« des Inhalts des Gedichts kann zu einer voreingenommenen Betrachtung führen, die beispielsweise die Interpretation des Kinesis-Begriffs von vornherein auf eine rational-wissenschaftliche Ebene zwingt, wodurch nur solche Prozesse wie Ortsveränderung oder qualitative Veränderung in Frage kommen. Eine solche Beschränkung führt wiederum zu den oben aufgezeigten Problemen, sowohl bezüglich der Ortsbewegung als auch der Veränderung. Betrachtet man jedoch den reinen Text und den Begriff in diesem Kontext, so wird die oben ausgearbeitete Charakteristik deutlich, die nicht im Gegensatz zum Text des Empedokles steht – wohl aber zur modernen Vorstellung von Bewegung. Es bietet sich also an, von einem rational-physikalischen, modernen Verständnis von Bewegung abzurücken und andere Aspekte, die in den Texten zum Vorschein kommen, zu berücksichtigen: So eben die Implikation von Allmacht und Unkontrollierbarkeit und die Ambivalenz von Notwendigkeit und Gefahr, die die Bewegung bei Empedokles auszeichnet. Aus der Negation des Einflusses kann eine Vorstellung von κίνησις rekonstruiert werden, die große Ähnlichkeit mit den bei Parmenides angestellten Beobachtungen aufweist: Die Omnipräsenz und die umfassende Macht stellen die κίνησις als eine dritte Kraft neben Liebe und Streit im Kosmos dar, die den beiden anderen in mancher Hinsicht sogar noch überlegen ist. Lediglich eine höhere Autorität, die als Garant der Gültigkeit der Schwüre fungiert, die Ananke, sorgt für die Freiheit des für die Kosmologie grundlegenden Prozesses des Austauschs der Elemente von der Beeinflussung durch die κίνησις. Hier zeigen sich mögliche Parallelen zwischen Empedokles und Parmenides, denn bei beiden ist es die Ananke, die als übergeordnetes Prinzip die Freiheit von κίνησις garantiert. Alles andere dagegen ist von κίνησις betroffen und sie ist in dieser Hinsicht nicht nur omnipräsent, sondern auch äußerst mächtig, erfährt sie doch nur eine einzige Einschränkung. In ihrer Einschränkung zeigt sich auch ihre potentielle Gefahr: durch sie könnte sogar der göttliche Sphairos zerstört werden. Bewegung ist der schaffende und gleichzeitig zerstörerische, allumfassende, unkontrollierbare wegung findet sich in I, 143, II, 24, und IV, 98 in denen das κινεῖν von Geldmitteln und Schätzen, die religiös geweiht sind, unter Strafe gestellt wird. 185 Vgl. Kingsley, Millenium, S. 354–357.

Der Nous des Anaxagoras

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und überaus mächtige Prozess, durch den die Kosmologie des Empedokles überhaupt erst funktionieren kann.

3.3 Der Nous des Anaxagoras 3.3.1 Die Philosophie des Anaxagoras Anaxagoras aus Klazomenai (500/497–428 v. Chr.) kommt im Rahmen der hiesigen Fragestellung eine besondere Bedeutung zu, ist er doch der erste Philo­soph, der in Athen zur Zeit des Thukydides tätig war.186 Antike Quellen verbinden ihn nicht nur mit Perikles (DK59 A15), sondern zuweilen auch mit Thukydides selbst.187 Ob man dieser antiken Tradition Glauben schenken kann, sei hier nicht diskutiert, doch selbst dann, wenn ein direktes Lehrer-Schüler-Verhältnis bezweifelt wird, ist doch ein starker Einfluss des intellektuellen Milieus im Athen des 5. Jh. v. Chr. auf Thukydides zu beobachten.188 Die Prominenz des Anaxagoras in Athen und die Rezeption seiner Lehren im öffentlichen Leben189 lassen es plausibel erscheinen, dass Thukydides diese kannte und sich mit ihnen auseinandersetzte.190 Insofern kann ein Vergleich des Umgangs mit und der Verarbeitung von κίνησις zwischen beiden Autoren eine gute Grundlage bilden, um Aussagen über einen möglichen Diskurs über Bewegung und ihre allgemeine Rezeption im intellektuellen Milieu dieser Zeit zu treffen. Wenn sich bei Anaxagoras daher eine ähnliche Konnotation des Kinesis-Prozesses finden lässt wie bei den übrigen hier besprochenen vorsokratischen Theorien und Erklärungen und Thukydides das System des Anaxagoras zumindest in Ansätzen bekannt gewesen sein könnte, so verbreitert dies die Basis, auf der die Verarbeitung der κίνησις in der Philosophie der Vorsokratiker und der Historiographie des Thukydides verglichen und zusammengeführt werden kann, um Gemeinsamkeiten, Unterschiede und etwaige Übertragungen auf andere Fragestellungen festzustellen. Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Ausführungen sei hier ein kurzer Überblick über die zentralen Themen der anaxagoreischen Philosophie ge­geben. Im Mittelpunkt der Kosmologie stehen der ordnende Nous und das 186 Vgl. L. Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker III, Griechisch-Lateinisch-Deutsch, Berlin ²2013, S. 106. 187 Vgl. H. Sonnabend, Thukydides, Hildesheim / Zürich / New York ²2011, S. 23. 188 Vgl. Sonnabend, Thukydides, S. 23–25; F. Schachermeyr, Geistesgeschichte der Perikleischen Zeit, Stuttgart / Berlin 1971, S. 188; K. Meister, Die griechische Geschichtsschreibung, Stuttgart / Berlin 1990, S. 47. 189 Schachermeyr, Geistesgeschichte, S. 83–99; M. Schofield, An essay on Anaxagoras, London / New York 1980, S. 22–35. 190 Vgl. dazu Golfin, Thucydide et Anaxagore, S. 35–56.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

Prinzip des Alles-in-Allem: in Allem steckt ein Anteil von allen anderen Grundstoffen, die existieren.191 Es gibt neben dem Alles-in-Allem-Prinzip (DK59, B1/4/​ 6/12) verschiedene andere, die die Entstehung des Kosmos und seinen Aufbau prägen und ebenfalls für die Grundstoffe gelten: – das Prinzip der unendlichen Teilbarkeit der Materie (B1/3/6), – das Prinzip der Dominanz eines Grundstoffes: Jede Substanz wird wahrgenommen als der Stoff, der in ihr dominiert, obwohl ebenfalls auch alle anderen Teile enthalten sind (B12), – das Prinzip der Unendlichkeit der Grundstoffe (B1), – das Prinzip der Abwesenheit von Entstehen und Vergehen bezüglich der Grundstoffe (B17).192 Während es zur konkreten Erläuterung und Ausgestaltung der Prinzipien unterschiedliche Ansichten und eine z. T. rege Forschungsdiskussion gibt,193 sollen hier nur die Elemente der Philosophie besprochen werden, die in einem direkten Zusammenhang zur Bewegung stehen. Dies betrifft vor allem die Kosmogonie, die Anaxagoras mithilfe einer undefinierten Masse der Grundstoffe, dem Nous und der Bewegung konstruiert, die hauptsächlich als Kreisbewegung (περιχώρησις) bezeichnet wird. Es findet sich aber auch am Anfang der Kosmogonie der Begriff »κινεῖν«, worauf noch einmal gesondert einzugehen sein wird. Die betreffenden Stellen finden sich in den Fragmenten B12 und B13, die hier auf Griechisch und auf Deutsch wiedergegeben werden sollen, um die Interpretation des Textes leichter nachvollziehen zu können. B12: τὰ μὲν ἄλλα παντὸς μοῖραν μετέχει, νοῦς δέ ἐστιν ἄπειρον καὶ αὐτοκρατὲς καὶ μέμεικται οὐδενὶ χρήματι, ἀλλὰ μόνος αὐτὸς ἐπ’ ἐωυτοῦ ἐστιν. εἰ μὴ γὰρ ἐφ’ ἑαυτοῦ ἦν, ἀλλά τεωι ἐμέμεικτο ἄλλωι, μετεῖχεν ἂν ἁπάντων χρημάτων, εἰ ἐμέμεικτό τεωι· ἐν παντὶ γὰρ παντὸς μοῖρα ἔνεστιν, ὥσπερ ἐν τοῖς πρόσθεν μοι λέλεκται· καὶ ἂν ἐκώλυεν αὐτὸν τὰ συμμεμειγμένα, ὥστε μηδενὸς χρήματος κρατεῖν ὁμοίως ὡς καὶ μόνον ἐόντα ἐφ’ ἑαυτοῦ. (5) ἔστι γὰρ λεπτότατόν τε πάντων χρημάτων καὶ καθαρώτατον, καὶ γνώμην γε περὶ παντὸς πᾶσαν ἴσχει καὶ ἰσχύει μέγιστον· καὶ ὅσα γε ψυχὴν ἔχει καὶ τὰ μείζω καὶ τὰ ἐλάσσω, πάντων νοῦς κρατεῖ. καὶ τῆς περιχωρήσιος 191 Vgl. Gemelli Marciano, Vorsokratiker III, S. 113–114; A.  Marmodoro, Everything in Everything. Anaxagoras’ Metaphysics, Oxford 2017, S. 74–103. 192 Für einen detaillierteren Überblick vgl. J.  Sisko, Anaxagoras on Matter, Motion and Multiple Worlds (Philosophy Compass 5/6 (2010)), S. 444–448; Marmodoro, Everything, S. 103–104; Curd, Anaxagoras, S. 141–142; D.  Graham, The Postulates of Anaxagoras (Apeiron 27,2 (1994)), S. 77–122. 193 So z. B. zur Deutung der Rolle der σπέρματα, vgl. Gemelli Marciano, Vorsokratiker III, S. 118; der Frage nach der Rezeption von quantitativen Größen, Marmodoro, Everything, S. 61; zur Existenz der Gegensätze als einzige fundamentale Entitäten, Sisko, Motion, S. 444, Anm. 15.

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τῆς συμπάσης νοῦς ἐκράτησεν, ὥστε περιχωρῆσαι τὴν ἀρχήν. καὶ πρῶτον ἀπό του σμικροῦ ἤρξατο περιχωρεῖν, ἐπὶ δὲ πλέον περιχωρεῖ, καὶ περιχωρήσει ἐπὶ πλέον. καὶ τὰ συμμισγόμενά τε καὶ ἀποκρινόμενα καὶ διακρινόμενα (10) πάντα ἔγνω νοῦς. καὶ ὁποῖα ἔμελλεν ἔσεσθαι καὶ ὁποῖα ἦν, ἅσσα νῦν μὴ ἔστι, καὶ ὅσα νῦν ἐστι καὶ ὁποῖα ἔσται, πάντα διεκόσμησε νοῦς, καὶ τὴν περιχώρησιν ταύτην, ἣν νῦν περιχωρέει τά τε ἄστρα καὶ ὁ ἥλιος καὶ ἡ σελήνη καὶ ὁ ἀὴρ καὶ ὁ αἰθὴρ οἱ ἀποκρινόμενοι. ἡ δὲ περιχώρησις αὐτὴ ἐποίησεν ἀποκρίνεσθαι. καὶ ἀποκρίνεται ἀπό τε τοῦ ἀραιοῦ τὸ πυκνὸν καὶ ἀπὸ τοῦ ψυχροῦ τὸ θερμὸν καὶ ἀπὸ τοῦ ζοφεροῦ τὸ λαμπρὸν καὶ ἀπὸ τοῦ διεροῦ τὸ (15) ξηρόν. […] »Der Nous ist ein Unbegrenztes und Selbstherrliches und mit keinem Ding vermischt, sondern allein und für sich. Wäre er nämlich nicht für sich, sondern mit irgendetwas Anderem vermischt, so hätte er Anteil an allen Dingen, wenn er mit irgendetwas vermischt wäre; denn in Allem ist ein Anteil von Allem, wie ich im Vorangehenden [B11] gesagt habe; und das mit ihm Zusammengemischte würde ihn hindern, sodass er kein Ding genauso beherrschen könnte, wie wenn er allein und für sich wäre. Er ist nämlich das feinste aller Dinge und das reinste, und er besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die größte Kraft; und alles, was Lebenskraft hat, das Größere wie das Kleinere, beherrscht der Nous. Auch die gesamte Kreisbewegung hat der Nous so beherrscht, dass sie am Anfang begonnen hat, sich im Kreis zu bewegen. Und zuerst hat sie vom Kleinen her begonnen, sich im Kreis zu bewegen, und sie bewegt sich im Kreis über einen weiteren Bereich hin und wird sich über einen noch weiteren Bereich hin im Kreis bewegen. Und was sich mischte, was sich aussonderte und was sich trennte, das alles hat der Nous erkannt. Und wie es werden sollte und wie es war, was jetzt nicht ist und was jetzt ist, und wie es sein wird, das alles hat der Nous geordnet und auch diese Kreisbewegung, die jetzt die Gestirne und die Sonne und der Mond vollführen, sowie der Dunst und die Luft, die sich [jetzt] aussondern. Genau diese Kreisbewegung hat bewirkt, dass sie sich [auch damals] aussonderten. Und es sondert sich aus dem Dünnen das Dichte aus, aus dem Kalten das Warme, aus dem Dunklen das Helle und aus dem Feuchten das Trockene. […].« B13: καὶ ἐπεὶ ἤρξατο ὁ νοῦς κινεῖν, ἀπὸ τοῦ κινουμένου παντὸς ἀπεκρίνετο, καὶ ὅσον ἐκίνησεν ὁ νοῦς, πᾶν τοῦτο διεκρίθη· κινουμένων δὲ καὶ διακρινομένων ἡ περιχώρησις πολλῷ μᾶλλον ἐποίει διακρίνεσθαι. »Und als der Nous die Bewegung begann, da fand von allem, was sich bewegte, eine Absonderung statt, und so viel der Nous in Bewegung setzte, das wurde alles voneinander getrennt; während sich aber die Dinge bewegten und voneinander trennten, bewirkte die Kreisbewegung eine noch viel stärkere Trennung voneinander.«194 194 Alle Übersetzungen, sofern nicht anders angegeben, nach Gemelli Marciano, Vorsokratiker III, S. 6–103.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

3.3.2 Zum Verhältnis von κίνησις und περιχώρησις Bei B13 handelt es sich um das einzige Fragment des Anaxagoras, in dem das Wort κινεῖν und verwandte Wörter auftauchen. Dennoch ist auch B12 hier von besonderer Bedeutung, da dort das Verhältnis von Nous und Kreisbewegung sowie die Aufgabe der Kreisbewegung bezüglich der Schöpfung des Kosmos ausführlich erläutert werden. In der Forschungsliteratur ist allgemein von Bewegung die Rede, wenn die Kosmogonie des Anaxagoras beschrieben und erklärt werden soll. Ein Blick auf B13 zeigt jedoch, dass sich hier zwei unterschiedliche Termini für die Bewegung finden: einmal die Beschreibung als κινεῖν und einmal als περιχώρησις. Dieser Wechsel wurde bisher in der Forschung zu Anaxagoras noch nicht ausführlich thematisiert: Die Textausgaben und dazugehörigen Kommentare von Sider und Curd gehen auf diesen Wechsel nicht ein und implizieren damit eine Gleichsetzung a priori von κινεῖν und περιχώρησις, ebenso wie O. Jöhrens nur von »Bewegung« allgemein spricht.195 Barnes bietet zwar zwei unterschiedliche Übersetzungen an (»moved« und »revolution«), geht aber nicht näher darauf ein, ebenso wie Pinto.196 Eine genauere Betrachtung des Textes lässt jedoch darauf schließen, dass der Wortwahl und dem Wechsel der Termini eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen κίνησις und περιχώρησις zugrunde liegt, die auf dem Unterschied der Konnotation und der Systematik beider Bewegungen beruhen könnte. Damit wäre zu überprüfen, inwiefern sich unterschiedliche Vorstellungen von beiden Bewegungen im Sprachgebrauch finden lassen und was diese Vorstellungen über die Konnotation der Bewegungsarten und ihrer Rezeption beim antiken Publikum aussagen können. Zuerst einmal ist festzustellen, dass im Fragment B13 durch die Syntax und die Grammatik eine zeitliche Abfolge festgelegt wird, die den Satz καὶ τῆς περιχωρήσιος τῆς συμπάσης νοῦς ἐκράτησεν, ὥστε περιχωρῆσαι τὴν ἀρχήν aus B12 präzisiert: am Anfang beginnt der Nous eine allgemeine Bewegung. Dieser Prozess wird mit κινεῖν beschrieben. Erst allmählich entwickelt sich daraus eine Rotation, die die bereits in Bewegung begriffenen Dinge (κινουμένων δὲ καὶ διακρινομένων) erfasst. Aus physikalisch-systematischer Sicht lässt sich dies so erklären, dass eine Wirbelbewegung mit einer geraden, bzw. noch nicht in einem Wirbel begriffenen Bewegung beginnen muss und sich erst dann ein Wirbel bildet, wenn die Bewegung eine Kurve beschreibt und wieder auf gleicher 195 Vgl. D.  Sider, The Fragments of Anaxagoras, St. Augustin ²2005, S. 143; Curd, Anaxagoras, S. 67–68; O. Jöhrens, Die Fragmente des Anaxagoras (Diss. Göttingen 1939), Göttingen 1939, S. 55–59. 196 Barnes, Philosophers, S. 340; R.  Pinto, Nous, Motion and Teleology in Anaxagoras (OSAPh 52 (2017)), S. 1–32.

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Höhe mit ihrem Ausgangspunkt angekommen ist. Solange diese vollständige Drehung nicht abgeschlossen ist, kann nicht von einer περιχώρησις gesprochen werden.197 Bezogen auf den Gebrauch von κινεῖν lässt sich daher vermuten, dass der Begriff auch das Potential impliziert, jede mögliche Richtung zu nehmen: Eine strukturelle Bewegung, die dem Begriff »Kreisbewegung« entspricht, ist noch nicht vorhanden. Diese Konnotation ergibt sich unabhängig von der Frage, welche Bewegung Anaxagoras konkret vor Augen hat, da sie lediglich aussagt, dass jede Bewegung mit κινεῖν gemeint sein kann. Damit bekommt der Prozess eine Charakteristik der Unvorhersehbarkeit, bzw. der Freiheit von Kontrolle: es ist noch nicht festgelegt, in welche Richtung und zu welchem Zweck sich etwas bewegt.198 Gleiche Charakteristik findet sich auch im weiteren Verlauf des Textes: sowohl ἀπὸ τοῦ κινουμένου παντὸς ἀπεκρίνετο als auch ὅσον ἐκίνησεν implizieren noch keinen festgelegten Ablauf. Lediglich die Beziehung Bewegung-Aussonderung wird hier festgelegt. Für die Aussonderung, die stattfinden muss, um aus der Urmasse den Kosmos zu bilden (B12, 9–15), ist Bewegung generell notwendig. Noch ist aber über die Charakteristik und Systematik der Bewegung nichts ausgesagt und sie hat noch keine näher spezifizierte Ordnung. Letzter Punkt wird vor allem durch den Satz κινουμένων δὲ καὶ διακρινομένων ἡ περιχώρησις πολλῷ μᾶλλον ἐποίει διακρίνεσθαι gestützt. Die Dinge sind bereits in Bewegung und Unterscheidung begriffen, wenn die περιχώρησις erkennbar wird und als solche einsetzt. Der zeitliche Bezug wird dabei durch πολλῷ μᾶλλον ἐποίει markiert: und noch viel mehr bewirkte die περιχώρησις, dass diese Vorgänge stattfanden. Das Objekt der περιχώρησις sind hier die bereits bewegten und sich dadurch voneinander unterscheidenden Dinge; diese Prozesse müssen also zeitlich vor Einsetzen der περιχώρησις stattgefunden haben. Es stellt sich nun die Frage, was dieses Verhältnis zur Konnotation des κινεῖν aussagt. Zum einen wird hier deutlich, dass die περιχώρησις als eine Weiterentwicklung der κίνησις verstanden wird, die sich eben durch ihre festgelegte Systematik auszeichnet, die bis in alle Ewigkeit als Wirbelbewegung weitergehen wird (B12, 10). Κινεῖν scheint im Gegensatz dazu die Konnotation zu besitzen, sich noch nicht durch eine solche festgelegte Systematik auszuzeichnen und damit zumindest das Potential zu haben, jede mögliche Richtung anzunehmen. Die unterschiedlichen Stufen, die im Text angelegt sind, erfordern darüber hinaus die Wahl eines Begriffes, der entweder die nachfolgende Entwicklung, d. h. die Wirbelbewegung, bereits beinhaltet oder zumindest möglich macht. Da eine vielfache Verwendung von κινεῖν zur Beschreibung verschiedenster Bewegungsabläufe in

197 Ich verdanke diesen Hinweis D. Sider. 198 Vgl. F. M. Cleve, The Philosophy of Anaxagoras, Den Haag 1973, S. 50.

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den griechischen Texten zu beobachten ist,199 kann davon ausgegangen werden, dass im κινεῖν allein nicht ausschließlich die Wirbelbewegung impliziert ist. Dies zeigt, dass κινεῖν auch hier die Möglichkeit für jede denkbare Bewegungsrichtung beinhaltet, die sich dann im gegebenen Fall, aufgrund anderer Ursachen, zu einer Wirbelbewegung entwickelt. Besonders wichtig für die vorliegende Untersuchung ist in diesem Punkt der Unterschied der Vorstellung zwischen einer fixierten Bewegung und einer offenen Bewegung, die jede mögliche Richtung annehmen kann: κινεῖν schließt eine vorläufige Spezifikation der Bewegung aus, denn diese wird erst durch das Wort περιχώρησις ausgedrückt. Das bedeutet, dass im κινεῖν nicht zwangsläufig eine geradlinige Bewegung impliziert ist, sondern es wird ein genereller Prozess von Bewegung ausgedrückt. Es zeigt sich hier, dass ein Unterschied zwischen κίνησις und περιχώρησις in B13 auf zwei Ebenen festgestellt werden kann, auf einer zeitlich-inhaltlichen und einer terminologischen. Auf der zeitlich-inhaltlichen Ebene beschreibt κινεῖν die Bewegung vor Vollendung des ersten Kreises, woraus nach Vollendung des ersten Kreises die περιχώρησις entsteht. Auf der terminologischen Ebene unterscheidet sich κινεῖν von der περιχώρησις durch die Fixierung des Prozessablaufs und der Prozessform der Bewegung: unter κινεῖν wird die Möglichkeit jeder Bewegungsform verstanden, unter περιχώρησις nur eine allein.200 Dies zeigt erneut das reichhaltige Spektrum an Aspekten auf, die im Kinesis-Begriff enthalten sind und ergänzt die bisherigen Beobachtungen um das Element der Offenheit der Bewegung: κινεῖν allein, ohne weitere Spezifizierung, kann die Gesamtheit aller möglichen Bewegungsabläufe implizieren. Dieser Aspekt der Offenheit des Bewegungsablaufs und das Fehlen eines fixierenden Elements wird auch bei der Betrachtung der Thukydides-Stellen näher zu untersuchen sein, im Zusammenhang mit der Frage, ob der Verlauf oder das Ergebnis eines mit κινεῖν beschriebenen Prozesses als ab- oder vorhersehbar verstanden wird. Außerdem deutet sich hier bereits an, inwiefern Thukydides den Kinesis-Begriff als eine Art Sammelbezeichnung für verschiedenste historische Prozesse und Handlungen verwenden kann, die jedoch alle in irgendeiner Form mit dem Begriff assozierbar sein müssen. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, diese assoziativen Gemeinsamkeiten im Text des Thukydides herauszuarbeiten. Es ist vorstellbar, dass Prozesse, deren Verlauf jede mögliche Form annehmen kann und die daher unvorhersehbar sind, auf der Grundlage einer solchen Vorstellung ebenfalls mit dem Kinesis-Begriff bei Thukydides beschrieben werden könnten. 199 Vgl. dazu die unterschiedlichen Kontexte bei Homer: Apollo rennt (Il. 1, 47), Unruhe in der Versammlung (Il. 2, 144), wehender Wind (Il. 2, 149), Bewegen der Glieder (Od. 8, 298), aufgewühltes Wasser (Il. 4, 423), den Fuß oder den Kopf schütteln (Il. 10, 158; 17, 200; 17,442; Od. 5, 285; 5, 376; 15, 45), eine Wolke vertreiben (Il., 16, 298). 200 Zur Bedeutung dieses Unterschieds bezüglich der physikalischen Konsequenzen vgl. Pinto, Motion, S. 15.

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Dass für Anaxagoras das κινεῖν inhaltlich-physikalisch die Voraussetzung für die Wirbelbewegung darstellt, lässt sich aus der Verknüpfung von B12 und 13 erschließen: in B12 heißt es, die Wirbelbewegung bewirke die Absonderung (ἡ δὲ περιχώρησις αὐτὴ ἐποίησεν ἀποκρίνεσθαι.) und in B13 findet die Absonderung vom Bewegten (ἀπὸ τοῦ κινουμένου παντὸς ἀπεκρίνετο) statt. Hier zeigt sich die Notwendigkeit des systematischen Ablaufs der Wirbelbewegung für die Absonderung: Obwohl Anaxagoras die Absonderung bereits für die bewegten Dinge annimmt, wird das κινεῖν durch die περιχώρησις ersetzt, die dann »umso mehr« die Absonderung bewirkt und damit die Struktur des Systems und der Kosmogonie sowie die heute zu beobachtenden Kreisbewegungen der Himmelskörper festlegt. Eine solche Festlegung oder Fixierung scheint dagegen im bloßen κινεῖν noch nicht angelegt zu sein.201 Zum anderen zeigen sich die Flexibilität und die hohe Qualität des KinesisProzesses, wenn er für einen zentralen schöpferischen Prozess in der Entwicklung einer Kosmogonie verwendet wird. Wie auch immer man sich die Urmasse vorzustellen hat, in der alles miteinander vermischt ist:202 Bewegung scheint für Anaxagoras der Prozess gewesen zu sein, der sich am besten eignete, um Einfluss auf diese auszuüben und eine Entwicklung in Gang zu setzen.203 Damit ist impliziert, dass für Anaxagoras die Möglichkeit des Einflusses der Bewegung auf die Urmasse nicht zur Debatte stand. Dies ist natürlich einerseits verbunden mit der Rolle des Nous als waltender und schöpferischer Kraft, der über die Dinge herrscht (B12, 7–8), der die Bewegung in Gang setzt und natürlich dafür sorgt, dass sie stark genug ist, um die ihr zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Andererseits zeigt die Möglichkeit der Entwicklung eines solchen Systems, welche Macht der Bewegung selbst zugeschrieben wurde: über ihr steht hier nur der Nous als ihr Antriebselement. Alle anderen Dinge im Kosmos sind der Bewegung unterworfen und bereits der anfänglichen κίνησις sind dabei keine Grenzen gesetzt: sie bewegt alles, was sie erreicht.204 Das bedeutet auch, dass der Nous auf die Bewegung und ihr Potential, alles zu erfassen, angewiesen ist, um die Entstehung des Kosmos in Gang zu setzen.205 Sicherlich erreicht sie zuerst nicht alles, was in der Urmasse enthalten ist (B12, 9: ἀπό του σμικροῦ ἤρξατο περιχωρεῖν), doch ist ihre unbegrenzte Reichweite bereits in B13 angelegt und impliziert. Die Entwicklung des Wirbels sorgt dann für die Ausweitung und Verstärkung der Absonderung 201 Vgl. dazu auch Pinto, Motion, S. 11, der die Beschreibung der Bewegung im Tim. 52e 1– 53a 2 mit der Kreisbewegung vergleicht und dabei den Aspekt der »irregular threshing motion« bei Platon gegen die »regular revolution« des Anaxagoras stellt. Platon benutzt zur Beschreibung ebenfalls κινουμένην und κινούμενα. 202 Vgl. dazu z. B. Guthrie, History II, S. 297. 203 Vgl. dazu Barnes, Presocratic, S. 340. 204 Vgl. Jöhrens, Fragmente, S. 56. 205 Vgl. Curd, Anaxagoras, S. 220.

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und Unterscheidung.206 Diese Aspekte der potentiell unbegrenzten Reichweite und des Erfassens aller anderen Dinge im Kosmos (außer des Nous, worauf weiter unten noch zurückzukommen sein wird) bildet eine erkennbare Parallele zur Rezeption der κίνησις bei Empedokles und Parmenides. Gestützt wird die Interpretation dieser Implikationen des κινεῖν durch das Fragment B9: οὕτω τούτων περιχωρούντων τε καὶ ἀποκρινομένων ὑπὸ βίης τε καὶ ταχυτῆτος. βίην δὲ ἡ ταχυτὴς ποιεῖ. ἡ δὲ ταχυτὴς αὐτῶν οὐδενὶ ἔοικε χρήματι τὴν ταχυτῆτα τῶν νῦν ἐόντων χρημάτων ἐν ἀνθρώποις, ἀλλὰ πάντως πολλαπλασίως ταχύ ἐστιν. »So, wenn sich diese [Dinge] im Kreis bewegen und sich infolge des Druckes und der Geschwindigkeit aussondern – die Geschwindigkeit verursacht den Druck – und ihre Geschwindigkeit ist in Bezug auf die Schnelligkeit keinem einzigen Ding der jetzt bei den Menschen vorhandenen Dinge gleich, sondern ist in jeder Weise um ein Vielfaches schneller.«

Zentral für die hiesige Untersuchung sind dabei die Begriffe βίη und ταχυτής. Sie erläutern die Art und Weise der Bewegung näher und erklären durch diese Eigenschaften der Bewegung den Vorgang der Absonderung. Obwohl hier nur von der περιχώρησις gesprochen wird, kann die gleiche Erklärung auch für die Bewegung vor der περιχώρησις angenommen werden, da auch während dieser eine Absonderung stattfand (B13). Entscheidend dafür, dass die Bewegung ihre Aufgabe im Kosmos wahrnehmen kann, sind also Geschwindigkeit und Druck, wobei dies bereits sehr technisch-physikalische Übersetzungen für βίη und ταχυτής darstellen, die die Gesamtheit der Konnotation beider Begriffe nur unvollständig wiedergeben. So wird βίη bei Homer häufig mit Gewalt, roher Kraft und der Fähigkeit zur Durchsetzung des eigenen Willens konnotiert, wobei jedoch meist keine Aussagen moralisch-ethischer Art über den Prozess selbst getätigt werden.207 Ebenso wird ταχυτής im Epos oft im Zusammenhang mit der Jagd oder der Schnelligkeit eines Kriegers verwendet und steht damit in engem Zusammenhang mit der Konnotation von Gewalt und Kraft der βίη.208 Trotz des technisch-physikalischen Kontextes im Text des Anaxagoras, in dem die βίη durch die Schnelligkeit der Rotation erklärt wird, könnten dem zeitgenössischen Leser die Verbindungen beider Begriffe zu den epischen Kontexten des Krieges, 206 Vgl. Pinto, Motion, S. 15 und 29; Jöhrens, Fragmente, S. 58–59; Curd, Anaxagoras, S. 68. 207 Vgl. C. Mugler, Les Origines de la Science Greque chez Homère. L’Homme et LÚnivers Physique, Paris 1963, S. 37–39; Vilhelm Grønbech, Hellas. Griechische Geistesgeschichte I, Hamburg 1965, S. 80; B. Mader, Art. »βίη«. In: B. Snell (Hg.), Lexikon des frühgriechischen Epos II, Göttingen 1991, Sp.57–61. 208 Vgl. H. W. Nordheider, Art. »ταχυτής«. In: B. Snell (Hg.), Lexikon des frühgriechischen Epos IV, Göttingen 2010, Sp. 342.

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der Kraft und der Gewalt bewusst gewesen sein, wodurch die Vorstellungen von diesem Prozess geprägt werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass Anaxagoras diese Assoziationen bei der Wahl seiner Begriffe bekannt waren und er sich eben gerade aufgrund der damit verknüpften Vorstellungen für diese entschied, um somit dem Leser ein klares Bild vom Ablauf der Prozesse in der Kreisbewegung zu geben: Durch die Schnelligkeit der Rotation entsteht eine Kraft, die in der Lage ist, die Grundstoffe in der Ur-Masse voneinander zu trennen: ἀποκρινομένων ὑπὸ βίης τε καὶ ταχυτῆτος. Dabei wird eine logische Erklärungskette angelegt: die Gewalt, die die Trennung verursacht, entsteht durch das Zusammenspiel von Bewegung im Kreis, also der Richtung der Bewegung, und ihrer Schnelligkeit. Soweit ist die Erklärung technisch-physikalisch nachvollziehbar. Verfolgt man den Gedanken weiter, muss man fragen, woraus sich die Richtung der Bewegung und ihre Schnelligkeit ergeben. Eine naheliegende Antwortmöglichkeit wäre, den Nous für diese beiden Faktoren verantwortlich zu machen. So hat bereits Aristoteles Anaxagoras vorgeworfen, er käme immer dann auf den Nous zurück, wenn es ihm an anderen Ursachen mangele.209 Aus der Formulierung καὶ τῆς περιχωρήσιος τῆς συμπάσης νοῦς ἐκράτησεν, ὥστε περιχωρῆσαι τὴν ἀρχήν (B12) lässt sich die Verantwortlichkeit des Nous für die Richtung der Bewegung rekonstruieren, wie das ὥστε nahelegt: er kontrollierte die περιχώρησις insofern, als dass sie sich am Anfang im Kreis zu bewegen begann. Einen anderen technisch-physikalischen Grund für die Kreisbewegung findet man in B12 und B13 nicht. Nous ist also für ein Element direkt verantwortlich, für die Richtung der Bewegung, wodurch in B13 der Schritt vom bloßen κινεῖν zur Kreisbewegung zu erklären ist. Auch bezüglich der Schnelligkeit könnte die Formulierung τῆς συμπάσης νοῦς ἐκράτησεν auf den Nous hinweisen, der die Geschwindigkeit der Kreisbewegung kontrolliert. Eingeschränkt wird diese Erklärung jedoch durch das ὥστε im Nachsatz, welches die Kontrolle auf das Vorgeben der Richtung beschränkt. Zur fragen ist hier, ob man τῆς συμπάσης nur auf die Richtung der Bewegung oder auf jede Eigenschaft der Bewegung bezieht, wobei auf die Frage, inwiefern und in welcher Qualität der Nous über die Bewegung herrscht, weiter unten noch einmal genauer einzugehen sein wird. An diesem Punkt ist festzuhalten, dass, wenn man die Herrschaft des Nous über die Kreisbewegung auf die anfängliche Richtungsvorgabe beschränkt, über die Schnelligkeit der Kreisbewegung noch nichts ausgesagt ist. Diese müsste dann in der Bewegung selbst liegen, also im κινεῖν, welches der Nous beginnt; in B13 wird nämlich nichts über die Schnelligkeit gesagt, die der Nous der Bewegung mitgibt. Da aber bereits hier eine Absonderung stattfindet, die in B9 durch die Schnelligkeit und die dadurch erzeugte Gewalt, Wucht, oder wie man auch βίη übersetzen möchte, erklärt wird, so zeigt sich, dass das Potential zu 209 Arist. Met. I, 985a.

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solchen Prozessen bereits im κινεῖν selbst angelegt gewesen ist. Das bedeutet, dass es für den Leser eine plausible gedanklich-assoziative Verbindung zwischen βίη, ταχυτής und κινεῖν gegeben haben könnte und beim Prozess der Bewegung diese Assoziationen nicht ferngelegen haben. Anders ausgedrückt: Es ist hier erkennbar, dass der Kinesis-Begriff eher mit Schnelligkeit und daraus folgender Kraft und Gewalt verbunden war als mit langsamer, geregelter und damit kontrollierbarer Bewegung.210 Somit würden die in B9 angeführten Aussagen zur Beschaffenheit der Kreisbewegung durch die Erläuterungen in B13 gestützt und die Schnelligkeit zur Grundlage für die Fähigkeit der Bewegung (κίνησις und περιχώρησις), die Urmasse zu beeinflussen, erklärt. Dazu muss aber, da sonst keine Angaben zur Geschwindigkeit der Bewegung in B13 gemacht werden, die Schnelligkeit bereits im Begriff selbst angelegt sein: κινεῖν bezeichnet daher eine Bewegung, die schnell und damit gewaltvoll ist, bzw. sein kann.211 Die Steigerung der Absonderung in dem Moment, in dem die περιχώρησις einsetzt, lässt sich dann wieder auf die Beschreibung des Zusammenspiels von Geschwindigkeit und Druck zurückführen, doch auch ohne diesen technisch-physikalischen Zusammenhang findet Absonderung bereits vorher im κινεῖν statt. Diese hier deutlich gemachte enge Verknüpfung aller vier Begriffe zeigt auch gleichzeitig die enge inhaltliche Nähe der Begriffe βίη und ταχυτής zur Bewegung und damit rückt die Bewegung in den oben beschriebenen epischen Verwendungskontext beider, nämlich der Jagd, des Krieges, der Gewalt und der rohen Kraft. Damit soll aber nur auf die inhaltlich-gedankliche Nähe hingewiesen sein, die sich im Aufbau dieser Erklärung zeigt und es ist keinesfalls zu postulieren, dass κινεῖν ausschließlich zu diesem Verwendungskontext gehört. Es ist aber für Anaxagoras möglich, einen solchen herzustellen, ohne weitere Erläuterungen (zumindest im überlieferten Text) zu geben. Eine ähnliche Assoziation von κινεῖν mit den Verwendungskontexten von βίη und anderen verwandten Begriffen im Kontext des Krieges ist aber bei Thukydides bereits in den ersten Sätzen greifbar. 3.3.3 Der Nous und die κίνησις Es ist an dieser Stelle noch einmal auf eine weitere Parallele zu den philosophischen Systemen des Parmenides und des Empedokles zurückzukommen: die Exklusion eines Elements der Philosophie aus dem Einfluss der Bewegung, bei 210 Dies spräche auch für die Deutung von Jöhrens und Sider bezüglich der Stellung von B13 zwischen B9 und B12 und würde die Entwicklung der Erklärung vom technisch-physikalischen Aspekt (Schnelligkeit und Kraft in der Kreisbewegung) über den Prozess der Bewegung zum metaphysischen Aspekt, dem Nous, nachzeichnen, vgl. Jöhrens, Fragmente, S. 55; Sider, Fragments, S. 142–143. 211 Vgl. R. Pinto, Nous, S. 15.

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Anaxagoras des Nous. Ιn B12, 13 und 14 wird die herausgehobene Stellung des Nous bezüglich aller anderen Dinge eindeutig durch Verben wie κρατεῖν formuliert. Sein Verhältnis zum Prozess der Bewegung ist dabei keine Ausnahme: Nous selbst ist derjenige, der die Bewegung in Gang setzt und sie insofern kontrolliert, als dass sie eine Kreisbewegung ist und bleibt, er ist aber nicht von Bewegung in der gleichen Art erfasst wie alles andere im Kosmos. Die Formulierung »in der gleichen Art« hat dabei zentrale Bedeutung, wie im Folgenden zu sehen sein wird, denn bei einer genaueren Betrachtung des Nous-Bewegung-Verhältnisses stellen sich mehrere Fragen, die beantwortet werden müssen, um über den Aspekt der Unbeweglichkeit des Nous Aussagen treffen zu können. Verschiedene Interpreten haben bereits den Nous zum Objekt der Bewegung gemacht, indem sie an der Stelle καὶ ἐπεὶ ἤρξατο ὁ νοῦς κινεῖν, ἀπὸ τοῦ κινουμένου παντὸς ἀπεκρίνετο in B13 den Nous auch als Subjekt des ἀπεκρίνετο gelesen haben.212 Dadurch wäre auch der Nous mit allen Dingen am Anfang vermischt gewesen und hätte sich erst im Laufe der Bewegung von diesen getrennt, da sich das Passiv ἀπεκρίνετο in dieser Deutung eben auf das Subjekt des Satzes, den Nous, bezieht. Dadurch müsste der Nous gleichzeitig als Initiator und Objekt der κίνησις interpretiert werden. Jöhrens, Sider und Curd213 verwerfen diese Deutung und übersetzen ἀπεκρίνετο unpersönlich, wofür mehrere Gründe sprechen: Sider verweist auf die reguläre Verwendung von unpersönlichen Formen bei Anaxagoras,214 Jöhrens auf den durativen Charakter des Imperfekts, der der einmaligen Absonderung des Nous widerspräche und auf den Sprachstil an anderen Stellen.215 Ebenfalls werden inhaltlich-logische Gründe angeführt, warum der Nous sich nicht von der bewegten Masse abspalten könne: der Nous war nie vermischt mit irgendetwas (B12), er kann sich also auch nicht abspalten. Da der Nous die Bewegung beginnt, die erst die Abspaltung ermöglicht, so enthielte der Satz ἤρξατο ὁ νοῦς κινεῖν einen Widerspruch zu B1, in dem gesagt wird, dass am Anfang nichts klar erkennbar war aufgrund der Kleinheit aller Dinge, womit man vom Nous nicht sprechen könnte, wenn er nicht erkennbar sei. Außerdem wird die Herrschaft des Nous gerade nachdrücklich über seine Unvermischtheit begründet (B12, 3–5), sodass eine Absonderung für ihn nicht notwendig ist. Die Entscheidung über diesen Aspekt betrifft die Frage nach der Unbeweglichkeit des Nous direkt, denn bezöge sich ἀπεκρίνετο auf den Nous, so wäre dieser von der gleichen Bewegung betroffen wie alle anderen Dinge im Universum. Da diese Übersetzung aber aus guten Gründen bezweifelt werden darf, so muss davon ausgegangen werden, dass der Nous nicht von der Bewegung, die 212 Zur Diskussion vgl. Jöhrens, Fragmente, S. 56–59; Sider, Fragments, S. 143 mit neuerer Literatur. 213 Curd, Anaxagoras, S. 67, Fußnote 67. 214 Vgl. Sider, Fragments, S. 143. 215 Vgl. Jöhrens, Fragmente, S. 57–58.

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Absonderung hervorbringt, betroffen ist.216 Da es auch keine andere Aussage in den Fragmenten gibt, die eine Bewegung des Nous nahelegen würde, so lässt sich hier eine Parallele zu Empedokles und Parmenides ziehen, die jeweils ein einzelnes Element ihrer Philosophie von der Bewegung befreit haben – auch bei Xenophanes wird dies zu finden sein.217 Während bei Parmenides und Empedokles die Freiheit von κίνησις vor dem Hintergrund der Möglichkeit echten Wissens einer ewig wahren Sache nötig war,218 ist für Xenophanes die Negierung des Einflusses von Bewegung eine Frage der Göttlichkeit nach dem θεοπρεπέςPrinzip.219 Als eine solche scheint sie auch bei Anaxagoras verstanden werden zu müssen: die Unvermischtheit des Nous sichert dessen herausgehobene Stellung über alle anderen Dinge.220 Aus dieser Unvermischtheit ergibt sich auch die Freiheit von Bewegung, bzw. ergibt sich gerade keine Notwendigkeit, dass der Nous von Bewegung erfasst werden müsste. Damit steht er zur Verfügung als Erklärungsprinzip für den Beginn der Bewegung und generell für ihre Existenz im Kosmos.221 Die Konzeption des Nous bezüglich seines Verhältnisses zur Bewegung im Kosmos ist mit dem einen Gott des Xenophanes zu vergleichen, mit dem Unterschied, dass bei Xenophanes die Freiheit von κίνησις direkt als Charakteristikum eines göttlichen Wesens angegeben wird, während Anaxagoras die Freiheit von Bewegung als eine Folge anderer Eigenschaften, hauptsächlich der Unvermischtheit, und der Beziehungen zu den Prozessen der Kosmogonie (Entstehung durch Absonderung aus der Mischung) darstellt.222 Somit kann festgestellt werden, dass sich auch bei Anaxagoras die Konzeption eines akinetischen Elements finden lässt, welches die zentrale Funktion und damit den höchsten Rang im philosophischen System einnimmt und so vergleichbar ist mit dem Gott des Xenophanes, dem Sein des Parmenides und dem Zyklus des 216 Vgl. Cleve, Philosophy, S. 28. 217 Vgl. unten Kap. 3.4.2. 218 Vgl. oben S. 78–82 und 97–100. K. von Fritz weist daraufhin, dass das Wort νοεῖν im Griechischen die Konnotation des wahren Erfassens einer Situation oder einer Sache besitzt und damit auch die Fähigkeit meint, Dinge richtig vorauszusehen und zu planen: Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, Berlin / New York 1971, S. 577–579. Dabei wird auch auf die Möglichkeit der wahren Erkenntnis bei Parmenides hinge­w iesen. Insofern müsste, wenn die Möglichkeit wahrer Erkenntnis auch davon abhängt, ob etwas unbeweglich und damit unwandelbar ist, auch der Nous als solcher unbeweglich sein oder zumindest über der Bewegung stehen, d. h. von ihr nicht beeinflussbar sein, da er ihr überlegen ist. Ein solches Verständnis von Nous würde dann auch seine explizite Bezeichnung als »unbeweglich« überflüssig machen. 219 Vgl. unten S. 144. 220 Vgl. dazu Curd, Anaxagoras, S. 143 und 195. 221 Vgl. Barnes, Presocratic, S. 340 und 405; Sisko, Motion, S. 449. 222 Zur Perzeption des Nous bei Anaxagoras als einem göttlichen Wesen vgl. Curd, Anaxagoras, S. 143 und 194–195 mit Verweis auf G. Betegh, The Derveni Papyrus. Cosmology, Theology and Interpretation, Cambridge 2004, S. 278–305.

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Austausches bei Empedokles. Es ist jedoch festzuhalten, dass im Gegensatz zu den genannten Vorgängern Anaxagoras den Nous nicht explizit als ἀκίνητος bezeichnet und sich die Freiheit von der Bewegung nur indirekt aus der Beziehung des Nous zu den anderen Elementen und Prozessen im Kosmos erschließen lässt. Dies könnte auf eine Perzeption des Nous zurückzuführen sein, die auf zwei verschiedenen Ebenen angesiedelt ist, wie in den Fragmenten B11 und B12 sichtbar wird. In B11 heißt es über den Nous: ἐν παντὶ παντὸς μοῖρα ἔνεστι πλὴν νοῦ, ἔστιν οἷσι δὲ καὶ νοῦς ἔνι »In allem ist ein Anteil von allem außer Nous, aber es gibt einige Dinge, in denen auch Nous enthalten ist.«

Und in B12: νοῦς δὲ πᾶς ὅμοιός ἐστι καὶ ὁ μείζων καὶ ὁ ἐλάττων. »Nous ist ganz gleich, sowohl der größere als auch der kleinere.«

B11 bezeugt, dass Nous nicht nur als eigenständige, kosmische Macht existiert, sondern auch in einigen Dingen des Kosmos enthalten ist, wobei unklar ist, in welchen genau,223 während B12 von zwei unterschiedlichen Nous spricht, einem größeren und einem kleineren. Es ist communis opinio in der Forschung, dass man sich dabei aber nicht zwei materiell voneinander verschiedene Nous vorzustellen hat, sondern dass sich die Attribute »größer« und »kleiner« auf die Einflusssphäre des Nous beziehen, auf einen »kosmischen« Nous und einen Nous der Lebewesen.224 Wie lässt sich diese Unterscheidung auf zwei Ebenen erklären? Eine Möglichkeit wäre, dies über die Bewegung zu tun: Lebewesen sind in der Lage, über Bewegung zu bestimmen, womit sie ebenfalls in der Lage sind, die kosmischen Vorgänge auf einer niedrigeren Ebene auszuführen, z. B. die Trennung von Stoffen. Insofern kann von »Nous in ihnen« gesprochen werden.225 Da diese Lebewesen aber Teil der kosmischen Rotation sind, die immer noch anhält, ist auch ihr Nous bewegt, und da kein existentieller Unterschied zwischen beiden Nous formuliert wird, ist der Nous auf dieser Ebene bewegt, während er gleichzeitig Bewegung initiiert. Wenn man den größeren und den kleineren Nous als eine Einheit versteht, so kann er also nicht ἀκίνητος genannt werden. So stellt sich die Frage, inwiefern sich der Nous dann von der bewegten Urmasse unterscheidet, über die er mittels seiner Unvermischtheit und der Initiierung 223 Vgl. Curd, Anaxagoras, S. 55–56. 224 Vgl. Sider, Fragments, S. 123; Curd, Anaxagoras, S. 202–204; Pinto, Motion, S. 23; D. Sedley, Creationsm and its Critics in Antiquity, Berkely, Los Angeles, London 2007, S. 12; Marmodoro, Everything, S. 133–140. 225 Vgl. Pinto, Motion, S. 23.

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der Bewegung herrscht? Gerade der letzte Punkt scheint hier eine Antwort zu bieten: Die Möglichkeit zur Initiierung von Bewegung, zur freien Entscheidung, wann Bewegung stattfinden soll und in welcher Art, ist es, die den Nous von den Grundstoffen und allen anderen Dingen, die aus ihnen im Kosmos entstehen, unterscheidet,226 da diese nur Objekte von Bewegung sind, also patientes, während der Nous agens und patiens der Bewegung zugleich sein kann. Auf einer niedrigeren Ebene können daher auch die Lebewesen Anteil an Nous haben, da auch sie über Bewegung bestimmen können, sie sind aber reine patientes der großen kosmischen περιχώρησις. Da bereits oben ausgeführt wurde, dass die περιχώρησις eine bestimmte richtungsfixierte Art der κίνησις darstellt, kann die gleiche Vorstellung auch für die κίνησις allgemein angenommen werden. Somit kann die oben formulierte These, der Nous sei nicht »in der gleichen Art von Bewegung betroffen« wie alles andere im Kosmos, konkretisiert werden: Er zeichnet sich dadurch aus, dass er, im Gegensatz zu anderen Dingen im Kosmos, Bewegung selbst initiieren kann. Daraus leiten sich sowohl sein Alleinstellungsmerkmal ab,227 als auch die Tatsache, dass die Lebewesen über einen »kleineren« (ἐλάττων) Nous verfügen. Akzeptiert man die Annahme, dass für Anaxagoras die περιχώρησις eine gerichtete κίνησις ist und damit grundlegend kein essentieller Unterschied zwischen beiden Prozessen besteht, so lassen sich aus dieser Konstruktion des Nous zwei zentrale Aussagen zur Vorstellung von κίνησις bei Anaxagoras ableiten: Zum Ersten wird die obige Konnotation der unbegrenzten Reichweite und Erfassung aller Dinge erneut sichtbar; alles ist von Bewegung erfasst, so auch der Nous im Kleinen. Zum Zweiten wird dadurch erkennbar, dass die herausgehobene Stellung des Nous im Kosmos durch seine Fähigkeit, Bewegung zu initiieren, begründet wird. Damit ist zu vermuten, dass, sollte Anaxagoras bei der Entwicklung seiner Philosophie von den Gedanken seiner Zeit beeinflusst gewesen sein und auf diese reagiert haben, im griechischen Denken die »Entwicklungsstufe« eines Elements im Kosmos von seiner Fähigkeit abhing, mit Bewegung umzu­gehen und auf diese einzuwirken. Zu sehen ist dies in der Verteilung des Nous auf die Lebewesen, die, sollte die Erklärung für die »größer-kleiner«-Formulierung zutreffen, über anderen Elementen des Kosmos stehen, da sie in der Lage sind, diese und sich selbst bewusst zu bewegen und dadurch eben Anteil am Nous haben, bzw. dieser in ihnen ist.228 Gestützt wird diese These durch B13, den

226 Vgl. Marmodoro, Everything, S. 140; Pinto, Motion, S. 24. 227 Aufgrund dieser Beziehung zieht Aristoteles den Vergleich zwischen Nous und Psyche, An. I, 2, 405a. 228 Vgl. A. Laks, Mind’s Crisis. On Anaxagoras’ ΝΟΥΣ (SJPh 31 (1993, Supplement)), S. 29. Für ihn besteht der Anteil der Lebewesen am Nous aber vor allem in der Fähigkeit des Denkens und Unterscheidens. Da jedoch erst die περιχώρησις, also die Bewegung, die

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Beginn der Rotation durch den Nous, und in B12 durch die Herrschaft des Nous über alles, explizit über die Bewegung. Damit kann konstatiert werden, dass über die Fähigkeit, mit Bewegung aktiv umzugehen, im griechischen Denken dieser Zeit offenbar eine gewisse Rangordnung begründet werden konnte, die sich bei Anaxagoras in der Anordnung von Nous (Beweger) – Lebewesen (Beweger-Bewegtes) – Grundstoffen (Bewegtes) wiederfinden lässt. Nous bewegt alles; die Lebewesen bewegen alles nicht Lebendige; alles nicht Lebendige wird bewegt. Dadurch erhält der Nous über die Bewegung seine metaphysische Stellung als αὐτοκρατές (B12).229 Diese Beobachtung ist zentral für die Untersuchung des Thukydides-Textes, denn sie eröffnet die Frage, ob Thukydides Einschätzungen von Individuen in auktorialen Passagen auch auf der Grundlage ihres Umgangs mit dem Krieg und der μεγίστη κίνησις vornimmt. Somit kann vor diesem Hintergrund untersucht werden, ob sich bei Thukydides eine ähnliche Konzeption findet, wie sie hier zum Vorschein gekommen ist, dass nämlich über die Beziehung zur Bewegung und des Umgangs mit ihr Aussagen zu bestimmten Personen konstruiert und begründet werden. Während sich aber aus den vorsokratischen Texten, wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, ableiten lässt, dass die Freiheit und / oder Bestimmung über κίνησις im Denken der Zeit ein göttliches Alleinstellungsmerkmal ist, Thukydides dagegen die menschliche Natur, das ἀνθρώπινον, in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen (I, 22, 4) stellt und göttliche Wesen in seiner Darstellung des historischen Geschehens keine Rolle spielen (zumindest nicht als aktive Gestalter des Geschehens), so dürfte logischerweise bei Thukydides kein Mensch frei sein von κίνησις – denn dieser wäre dann nicht mehr menschlich, sondern göttlich. Die Analyse des Thukydides-Textes wird zeigen, inwieweit diese Vermutung zutrifft und damit deutlich machen, inwiefern Thukydides ein solches Denkmuster in seinen Text übernommen haben könnte. Dass für Anaxagoras eine Konstruktion der herausgehobenen Stellung des Nous auch über den Umgang mit Bewegung nicht fernlag, zeigen die Parallelen zum größten Gott des Xenophanes, der ebenfalls frei vom Einfluss der Bewegung ist. Ebenso enthalten die Konstruktionen der »unbewegten« zentralen Elemente in den Systemen des Parmenides und des Empedokles ganz ähnliche Gedankengänge und Implikationen, die eine zentrale Stellung im Kosmos mit einer singulären Beziehung zum Prozess der Bewegung verbinden, die eben auch zum Alleinstellungsmerkmal des jeweiligen Elements (Sein, größter Gott) beiUnterscheidung möglich macht, kommt man am Ende auf die hier vorgenommene Aussage zurück: die Fähigkeit, Dinge zu bewegen (und dadurch unterscheiden oder denken können) macht den Anteil der Lebewesen am Nous aus. 229 Vgl. dazu R. McKirahan, Philosophy before Socrates. An Introduction with Texts and Commentary, Indianapolis ²2010, S. 217–218.

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trägt oder es sogar ausmacht (ewiger Kreislauf des Austauschs).230 Die besagten Unterschiede zwischen den einzelnen Elementen ändern an der Art und Weise dieser Konstruktion nichts, da sich bei Anaxagoras lediglich der Einfluss von Bewegung auf das herrschende Element im Kosmos von den anderen unterscheidet, nicht aber die Rückführung dieser Stellung auf das metaphysische Verhältnis von Bewegung und herrschendem Element.231 Während bei Xenophanes, Parmenides und Empedokles jeder Einfluss von Bewegung absolut ausgeschlossen wird, ist für Anaxagoras auch ein Einfluss möglich, jedoch werden die Intensität und die Arten des Einflusses unterschieden, sowie die Zugriffsmöglichkeiten des Nous auf die Bewegung im Sinne der Richtungsweisung und Initiierung konkretisiert. Die oben genannten Unterschiede führen zur letzten Frage der Untersuchung der κίνησις bei Anaxagoras: Welche Voraussetzungen oder Implikationen bezüglich der Charakteristik des Bewegungsprozesses lassen sich in der Verarbeitung des Nous-Bewegungs-Verhältnisses in den Fragmenten ausmachen? Durch welche Aspekte kontrolliert der Nous die Bewegung und bis zu welchem Grad? Diese Fragen sollen im Folgenden näher erläutert werden, da sie das Bild von Bewegung, welches aus der Verarbeitung in den Fragmenten rekonstruiert werden kann, vervollständigen werden. Die Frage nach diesem Verhältnis ist eng mit der Diskussion um eine mögliche Teleologie bei Anaxagoras und der Interpretation des Begriffs κρατεῖν verknüpft: Wie weit reicht die Herrschaft des Nous im Kosmos? Außerdem spielt hier die Auseinandersetzung der Philosophie des Anaxagoras mit den Prinzipien des Parmenides, hauptsächlich der Frage des »ersten Anlasses«, eine Rolle. Parmenides stellte die zentrale Frage, aus welcher Notwendigkeit heraus etwas aus dem Nichts entstehen sollte (B8, 9–10), um gegen die Existenz des Nicht-Seienden zu argumentieren und die moderne Forschung hat in ihrer Untersuchung der Behandlung eleatischer Prinzipien bei Anaxagoras verschiedene Lösungsansätze für dieses Problem gefunden.232 Inwiefern diese Diskussion auch für die Betrachtung der Charakteristik der Bewegung bei Anaxagoras eine Rolle spielt, wird im Folgenden auszuführen sein. Die Beantwortung der Frage nach der Teleologie und der Auseinandersetzung mit dem Problem des »ersten Anlasses« stehen insofern mit der Betrachtung der Bewegungscharakteristik in Verbindung, als dass man fragen muss, ob der Nous auch nach der Initiierung der Bewegung über diese herrscht oder das mechani230 So identifiziert Sedley das parmenideische Sein direkt mit dem Nous des Anaxagoras, vgl. Creationism, S. 11. 231 Vgl. Cleve, Philosophy, S. 29: »But whence does Nous get its motive power, its own motivity? This power is an ingredient of Nous’ sovereign nature. It belongs to Nous, never lost and from all eternity. For Nous is a being that rules out of an original plenitude of power of its own […].« 232 Eine ausführlichere Diskussion dazu bei Sisko, Motion, S. 449.

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sche Prinzip der Rotation die Kontrolle über die Urmasse übernimmt, bzw. ob der Nous ein rein mechanischer Agens ist, der für die Initiierung verantwortlich ist. In diesem Falle wäre zu fragen, ob der Nous die Bewegung wieder stoppen könnte, bzw. ob die Bewegung nach ihrer Initiierung und ihrer Richtungsgebung unabhängig vom Nous existieren kann.233 Vertreter einer »starken« Teleologie in Anaxagoras würden diese Frage verneinen,234 Vertreter einer »schwächeren« Teleologie sie bejahen.235 Ebenso ist zu fragen, wie Anaxagoras mit der Bewegung umgeht – vor dem Hintergrund, dass nach Parmenides »Nichts aus NichtSeiendem« entstehen kann  – und ob für ihn Bewegung schon immer da war oder ob er hier die eleatischen Argumentationsmuster verlässt und den Nous die Bewegung sozusagen ex nihilo initiieren lässt. Es soll mit der ersten Frage begonnen werden, der nach dem Verhältnis von Bewegung und Nous, die vor dem Hintergrund beider Interpretationen betrachtet werden muss. Folgt man den Vertretern einer »schwächeren« Teleologie, so hat der Nous außer der Initiierung und dem Geben des Richtungsimpulses keine weitere Macht über die Bewegung. Sie wäre dann nicht nur eine weitere, vom Nous unabhängig existierende Macht im Kosmos, sondern sie würde den Nous sogar ablösen als mechanische direkte Ursache für die Entstehung des Kosmos und der Prozesse darin.236 In einer solchen Lesart würden die bereits herausgearbeiteten Konnotationen der Bewegung als omnipotent (im Sinne der Fähigkeit, alles zu beeinflussen) und omnipräsent im Kosmos besonders stark bei Anaxagoras vertreten sein. Die extremste Form dieses Verhältnisses träte dann ein, wenn der Nous keine Kontrolle mehr über die Bewegung ausüben könnte, sodass ein Stoppen der Bewegung nicht in Frage käme. Obwohl sich dazu die Fragmente nicht eindeutig äußern, kann die Formulierung καὶ τὰ συμμισγόμενά τε καὶ ἀποκρινόμενα καὶ διακρινόμενα πάντα ἔγνω νοῦς. καὶ ὁποῖα ἔμελλεν ἔσεσθαι καὶ ὁποῖα ἦν, ἅσσα νῦν μὴ ἔστι, καὶ ὅσα νῦν ἐστι καὶ ὁποῖα ἔσται, πάντα διεκόσμησε νοῦς, καὶ τὴν περιχώρησιν ταύτην […]237 (B12, 10–13) in einer abso233 Dies ist auch ein Aspekt der Kritik Platons (Phaid. 98b-c) und Aristoteles’ (Met. I 985a 18–21) an Anaxagoras’ Konzeption des Nous, vgl. Graham, Postulates, S. 111. 234 Vgl. McKirahan, Philosophy, S. 218; Graham, Postulates, S. 111; J. H.  Lesher, Mind’s Knowledge and Powers of Control in Anaxagoras DK B12 (Phronesis 40 (1995), S. ­125–142; Sedley, Creationism, 21–25. 235 Hier vor allem M. L. Silvestre, Significato e Ruolo del Nous nella filosofia di Anassagora (Il Contributo 12 (1988)), S. 29–52 und Simplicius’ Testimony concerning Anaxagoras. In: K. J. Boudouris (ed.), Ionian Philosophy, Athen 1989, S. 373; in diesselbe Richtung, aber weniger extrem, gehen J. E. Sisko, Anaxagoras Parmenidean Cosmology: Worlds within World within the One (Apeiron 36 (2003)), S. 107–110; Ders., Anaxagoras, S. 439; Laks, Crisis, S. 29–33; Curd, Anaxagoras, S. 220. 236 Vgl. Curd, Anaxagoras, S. 220, Silvestre, Ruolo, S. 30. 237 »Und was sich mischte, was sich aussonderte und was sich trennte, das alles hat der Nous erkannt. Und wie es werden sollte und wie es war, was jetzt nicht ist und was jetzt ist, und wie es sein wird, das alles hat der Nous geordnet und auch diese Kreisbewegung […].«

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luten Weise so verstanden werden, dass bei einer Erkenntnis des Nous von allen Dingen in der Zukunft keine Notwendigkeit bestehen kann, aufgrund derer die Bewegung gestoppt werden müsste. Daher stellt sich die Frage überhaupt nicht, ob der Nous die Macht besitzt, die Bewegung anzuhalten – es gäbe keinen Grund dafür. Andere Stellen lassen ebenfalls darauf schließen, dass die Bewegung als ewige angelegt ist (B12, 8–13) und sich daher die Frage nach einem weiteren Einfluss des Nous auf die Bewegung nicht stellt, da er nicht weiter eingreifen muss. Ebenfalls spricht die Formulierung καὶ ἰσχύει μέγιστον in B12 gegen eine solche Vermutung. Dennoch kann die Frage, inwieweit der Nous nach der Initiierung noch über der Bewegung steht, anhand der Texte nicht eindeutig beantwortet werden, da selbst die Stelle, an der Anaxagoras die Herrschaft des Nous über die gesamte Bewegung postuliert, auf ihren Beginn allein bezogen wird: καὶ τῆς περιχωρήσιος τῆς συμπάσης νοῦς ἐκράτησεν, ὥστε περιχωρῆσαι τὴν ἀρχήν. Somit ist unklar, in welchem Verhältnis τῆς συμπάσης und ὥστε περιχωρῆσαι τὴν ἀρχήν stehen, doch die einschränkende Funktion des Nebensatzes lässt vermuten, dass sich die Herrschaft des Nous nur am Anfang auf den gesamten Prozess der Bewegung bezog, wobei »gesamt« in dem Sinne gemeint ist, dass sie initiiert und in eine bestimmte Richtung gebracht werden kann. Nach diesem Akt ist die Bewegung als ständig wirkender Prozess im Kosmos allgegenwärtig und sogar so mächtig, dass sie auf den Nous nicht mehr angewiesen zu sein scheint, um ihre wirkende Kraft umzusetzen: Sie erfüllt ihre Funktion von allein. Außerdem ist zu bedenken, dass im System des Anaxagoras auch die Zuschreibung der »höchsten Kraft« nur relativ und nicht absolut gedacht sein kann – so kann der Nous beispielsweise keine Macht haben, die Grundstoffe zu zerstören238 oder eine absolute Entmischung herzustellen.239 Aus diesen Beispielen ist ersichtlich, dass es trotz der Herrschaft des Nous möglich ist, dass sich seine Macht auf die Initiierung der Bewegung beschränkt und sie durch ihn nicht zu stoppen ist, so wie sich seine Herrschaft über die Grundstoffe darauf beschränkt, in der Lage zu sein, sie zu trennen. Aus dieser Perspektive kann vom Nous als omnipotentem Gott im Kosmos nicht gesprochen werden. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass dies in erster Linie nicht als Rekonstruktion der anaxagoreischen Philosophie zu verstehen ist, sondern hier lediglich die möglichen Charakteristika der Bewegung hervorgehoben werden sollen. Alle Aussagen beziehen sich daher darauf, wie und in welcher Form bei Anaxagoras Bewegung gedacht wird, unabhängig davon, wie sich dies auf die Kohärenz und Funktionalität seiner Philosophie auswirkt.

238 Vgl. Cleve, Philosophy, S. 29. 239 Vgl. Laks, Mind’s Crisis, S. 32: »In some sense at last, Anaxagoras’ cosmic νοῦς has ­worked in vain.«

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Dieses Bild der Bewegung als omnipräsenter und ewiger Macht ergibt sich auch dann, wenn man einer »starken« Teleologie folgen will, mit dem Unterschied, dass der Nous immer in die Bewegung eingreifen könnte, wenn sich die Notwendigkeit ergäbe. Auf die Charakteristik der Bewegung aber hat die Frage, ob der Nous auch nach dem Akt der Bewegungsinitiation noch in den Kosmos eingreift und welche Möglichkeiten er dazu hätte, keinen Einfluss, denn ihre Rolle als omnipräsente Macht behält sie in jeder der beiden Auslegungen. Wie man sich auch entscheidet, in Relation zu allen anderen Dingen im Kosmos, der Urmasse und allen aus ihr entstehenden Objekten, Formen und Lebewesen ist die Bewegung das beherrschende Element, das alle betrifft und dem sich niemand widersetzen kann. Nous hat zwar durch seine Wirkung dafür gesorgt, dass das ungerichtete κινεῖν zu einer gerichteten und gleichförmigen Bewegung wird, doch die Ausbreitung dieser Bewegung und ihr Einfluss auf alles andere im Kosmos scheint ihr bereits als Prozess inhärent gedacht zu sein, da die Ausbreitung der περιχώρησις in B12 als vom Nous unabhängig geschildert wird. Der Unterschied hängt ab von der Frage, ob die Bewegung als einschränkbar gedacht ist oder nicht. Bezüglich dieser Frage ändert sich die Charakteristik der Bewegung aber nur marginal in dem Sinne, als dass sowieso nur der Nous in der Lage wäre, dies zu tun, während alles andere von ihr beeinflusst wird. Die Bewegung als kosmischer Prozess jedoch wird hier eindeutig mit den bereits aus den anderen Systemen bekannten Konnotationen versehen: räumlich weitreichend bis unbegrenzt, mächtig und omnipräsent, ohne Ende und alles beeinflussend. Bezüglich der Frage der Ewigkeit der Bewegung hat J. Sisko eine interessante Lösung für die Frage nach der Entstehung der Bewegung ex nihilo bei Anaxagoras präsentiert: nach ihm hat für Anaxagoras die Bewegung schon immer bestanden, war aber aufgrund ihrer Kleinheit nicht wahrnehmbar.240 Damit entginge Anaxagoras einer Verletzung eleatischer Prinzipien. Die Interpretation Siskos ist mit dem Text durchaus vereinbar und dies würde bedeuten, dass Anaxagoras den Prozess der Bewegung als ewigen und immer vorhandenen Prozess gedacht haben könnte, der durch den Nous geordnet und in bestimmte Bahnen gelenkt wird. Damit wären vor allem die Aspekte der Ewigkeit und der Omnipräsenz noch stärker hervorgehoben, da die Bewegung als Prozess gänzlich ohne Anfang und ohne Initiiation gedacht ist. Sie wäre dann neben den Grundstoffen der Urmasse und dem Nous die dritte ewige Komponente der Philosophie des Anaxagoras und damit steigt ihre Bedeutung von einem bloßen mechanischen Erklärungsprinzip für die Aussonderung und die beobachtbaren Bewegungen am Himmel zu einem zentralen Prinzip als Bestandteil des Fundaments der Kosmogonie. Ist die Bewegung bereits in der üblichen Lesart, d. h. als vom Nous ini-

240 Vgl. Sisko, Cosmology, S. 107–110; Ders., Motion, S. 449.

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tiiert, der zentrale Schöpfungsprozess aus dem Chaos in den Kosmos, so wird sie hier darüber hinaus zu einer festen Konstanten, die unabhängig vom Nous und den Zuständen des Kosmos und des Chaos existieren kann: sie wird wortwörtlich allgegenwärtig. Unabhängig davon, ob man der Interpretation Siskos folgt, fällt hier auf, wie geeignet die Bewegung für Anaxagoras gewesen ist, eine Kosmogonie zu entwickeln, die eleatische Grundsätze mit den sichtbaren Phänomenen der menschlichen Realität vereint, um somit nicht nur das Phänomen der Bewegung selbst, sondern auch mit ihm alles andere zu erklären. Hingewiesen sei hier auf die in Kapitel II erwähnte Idee Schmids, die κίνησις bei Thukydides als kosmisches Prinzip zu interpretieren, welches als grundlegende Erklärung für die historischen Vorgänge fungiere.241 Bei Anaxagoras hätte die Bewegung, als κίνησις ebenso wie als περιχώρησις, aus der hier vorgestellten Perspektive eine vergleichbare allumfassende Erklärungsfunktion, sodass die Naturphilosophie des Anaxagoras möglicherweise auch für Thukydides eine Inspirationsquelle gewesen sein könnte, die μεγίστη κίνησις in seinem Werk als ein Erklärungsprinzip zu verarbeiten. Auch diese mögliche Verbindung wird bei der Untersuchung des Thukydides-Textes zu beachten sein. Ein Rückblick auf die bereits besprochenen Konnotationen des Kinesis-Begriffs bei Parmenides und Empedokles unterstützt die Annahme, dass es eben diese Charakteristika der Ewigkeit, Macht, Omnipräsenz, usw. sind, die, in verschiedenen Formen und in unterschiedlicher Intensität, die Auseinandersetzung der Vorsokratiker mit dem Phänomen der κίνησις bestimmt haben. Xenophanes’ Beschreibung des einen, höchsten Gottes, der nicht bewegt wird und sich auch selbst nicht bewegt, wird gerade in der Negation dieses Einflusses ebenfalls dessen Bedeutung für alle anderen Dinge im Kosmos sichtbar machen.242 Insofern ist hier die Parallele zu Anaxagoras’ Konzeption des Nous mehrmals gegeben, der sich eben durch die Fähigkeit zur Beeinflussung der κίνησις von allen anderen Dingen und Lebewesen unterscheidet, im Großen (kosmischer Nous) als auch im Kleinen (Nous in den Lebewesen). Dies zeigt, dass die These plausibel ist, dass die Entwicklung eines metaphysisch höheren Wesens in der vorsokratischen Philosophie eng verbunden ist mit dessen Umgang mit Bewegung, da der Grad der Fähigkeit des Umgangs gleichzeitig den Unterschied zu anderen Elementen oder Lebewesen im Kosmos ausmacht. Gleiches kann ebenfalls für Empedokles und Parmenides insofern vermutet werden, als die zentralen Elemente ihrer Philosophie als von κίνησις frei erklärt werden bzw. selbst aus Bewegung bestehen. Durch diese Eigenschaft werden sie als »überlegen« präsentiert, wodurch ihnen gleichzeitig die Fähigkeit und die Legitimation zukommen, eine zentrale Rolle in der Erklärung der Welt zu übernehmen. Bei Anaxagoras ist dies 241 Vgl. oben Kap. 2.1. 242 Vgl. unten Kap. 3.4.2.

Der Nous des Anaxagoras

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beim kosmischen Nous gleichfalls zu beobachten, auch wenn hier der Grad der Freiheit des Nous von der κίνησις unklar bleibt. Dies spricht ebenfalls für die zentrale Rolle der Frage nach κίνησις und des Umgangs mit ihr in der intellektuellen Diskussion des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. – es wird bei Thukydides erneut auf diesen Punkt zurückzukommen sein. Diese Charakteristika der Bewegung, die implizit oder explizit in den Texten deutlich geworden sind und in allen sehr ähnlich oder z. T. sogar gleich sind, lassen sich insgesamt auf einen zentralen Aspekt zurückführen, der Darstellung der Bewegung als einem übergeordneten, aktiv gestaltenden Prozess im Kosmos. Die Allgegenwärtigkeit der Bewegung, ihre starke Kraft und die Fähigkeit, alles und jeden zu ergreifen und zu beeinflussen, definieren nicht nur die überlegene Position des Wesens, welches mit all diesen Eigenschaften umgehen, bzw. sich ihnen entziehen kann, sondern gleichzeitig auch die Position aller anderen Dinge, die eben κίνησις ausgesetzt sind und damit keine zentrale Rolle im Kosmos übernehmen können, die dieser übergeordnet wäre. Somit liegt der Entwicklung der vorgestellten Systeme die Annahme zugrunde, dass nichts, was wir sehen und kennen, frei sein kann von Bewegung, woraus sich die Notwendigkeit ergibt, etwas metaphysisch Höheres zu entwickeln, was dann von dieser unbeeinflusst sein kann. Aus diesem Kinesis-Bild heraus lässt sich die Negation der Bewegung bei Parmenides und Empedokles genauso erklären wie die herausgehobene Stellung des Nous bei Anaxagoras. Dabei ist jedoch noch nichts über die argumentativen Strukturen der jeweiligen philosophischen Entwürfe gesagt, z. B. wie genau Parmenides sich die Unbewegtheit des Seins vorstellt oder wie Anaxagoras den Einfluss des Nous auf die Bewegung und vice versa gedacht haben mag – diese Fragen betreffen nicht den Kern der hiesigen Untersuchung. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass diese Positionen aus der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Bewegung heraus entwickelt worden sind, wodurch seine Zentralität deutlich wird. Das der Bewegung überlegene Element wird dann genutzt, um andere Probleme hermeneutischer oder mechanischer Art im jeweiligen System zu lösen, so die Ewigkeit des Austauschs der Elemente oder den Vorgang der Entmischung, ebenso wie die Fähigkeit zu Erkenntnis. Gleichzeitig ist hier das Potential erkennbar, welches die Bewegung für die Entwicklung intellektueller Weltanschauungen und ihrer Erklärung im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. barg: Die Auseinandersetzung mit ihm führte, zumindest teilweise, zur Entwicklung eben jener Theorien, die als Vorläufer der heutigen Wissenschaft zählen können. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird sichtbar werden, inwiefern sich diese Tendenz im 5. Jahrhundert v. Chr. noch verstärkt und die Entwicklung intellektueller Theorien sich in immer größerem Maße auf die Bewegungsproblematik bezieht und von der Auseinandersetzung mit ihr abhängt. Es wird zu untersuchen sein, ob sich eine vergleichbare Zentralität und ein vergleichbarer Umgang mit dem Kinesis-Begriff bei Thukydides finden lässt und inwiefern alle Texte

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

als Teil dieses hier zum Vorschein kommenden intellektuellen Diskurses über das Phänomen der Bewegung zueinander in Beziehung gesetzt werden können.

3.4 Bewegung als Hauptproblem: zur Betrachtung weiterer vorsokratischer Quellen   Im Nachfolgenden sollen die Vorsokratiker in den Mittelpunkt treten, in deren Systemen die Bewegung eine durch Testimonien und kleinere Fragmente nachweislich zentrale Rolle spielt, deren eingehendere Betrachtung jedoch aufgrund der Quellenlage im Vergleich zu Parmenides, Empedokles und Anaxagoras spärlicher ausfallen muss, da der Kinesis-Begriff entweder nur an wenigen Stellen des entwickelten Systems zu finden oder in den Fragmenten überhaupt nicht überliefert ist. Dies betrifft die Texte des Xenophanes, Heraklit, der Ionier, Eleaten und Atomisten. Obwohl die Rekonstruktion der Vorstellungen von Bewegung aus ihren Texten nicht ausschließlich auf die Verwendung des Kinesis-Begriffes aufbauen kann, ist doch überall von Bewegungsprozessen die Rede, die mindestens indirekt mit dem Begriff in Verbindung gebracht werden können. Außerdem könnte auch die Verwendung des Begriffes in den Testimonien auf ein Vorkommen in den Fragmenten hinweisen – dies muss jedoch Spekulation bleiben. Betroffen sind hier namentlich Anaximander und Anaximenes, deren Verarbeitung von Bewegung daher nur kurz vorgestellt wird.243 Trotz des Überblickcharakters einer solchen Betrachtung kann deutlich werden, wie zentral die Frage nach Bewegung in den Texten auch anderer Vorsokratiker gewesen ist – und wie ähnlich die Assoziationen, die mit dem Prozess verknüpft waren. Dies stützt erneut die These, dass auch Thukydides diese Zentralität zumindest gekannt, wenn nicht sogar zu ihr beigetragen haben könnte.

243 Thales wird aufgrund der Quellenlage hier gänzlich ausgelassen, obwohl das Testimonium bei Aristoteles zur Beseeltheit des Magneten (DK11 A22) in engem Zusammenhang mit der Bewegungsproblematik steht. Ebenfalls ist die Lehre der auf dem Wasser schwimmenden Erde (DK11 A14) als Ansatz zu einem vom Mythos emanzipierten Erklärungsversuch für Erdbeben (DK11 A15), also für Bewegungen der Erde, als eine Form zu betrachten, mit dem Phänomen der Bewegung intellektuell, bzw. nicht mythologisch, umzugehen. Vor allem erstere Episode kann als Argument für die Bedeutung von Bewegung für das griechische Denken im 6. Jh. v. Chr. gewertet werden, da es Thales anscheinend möglich war, allein über Bewegung auch die Definition von Beseeltheit zu konstruieren (vgl. dazu N. C.  Dührsen, Art. »Thales«. In: Flashar et al. (Hgg.), Frühgriechische Philosophie, S. 248–249). Aber selbst dann, wenn man diese Überlieferung Thales selbst zuschreiben kann, gibt die Doxographie zumindest bezüglich der Rezeption des Bewegungsphänomens nicht viel mehr her, weshalb hier auf eine ausführlichere Betrachtung verzichtet wird.

Bewegung als Hauptproblem  

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3.4.1 Die Ionier: Anaximander und Anaximenes Anaximander Zentraler Punkt der Kosmologie und Kosmogonie Anaximanders ist das ­Apeiron, dessen genaue Charakteristik und Konnotation bis heute umstritten und weitgehend unklar ist.244 Vermutlich ist die Negation von Grenzen und Einschränkungen aber der zentrale Aspekt dieses Elements, welches hier der Einfachheit halber als »Urstoff« bezeichnet werden soll.245 Detailfragen können hier nicht diskutiert werden, lediglich die Fragen nach der Divinität und damit nach den Einflussmöglichkeiten der Bewegung sind für die Rekonstruktion der Funktion der Bewegung im Kosmos von Bedeutung.246 Das Apeiron ist für die Entstehung aller Dinge verantwortlich und enthält in seiner Beschreibung Assoziationen mit einer gewissen »Göttlichkeit«: ewig, nicht alternd, alle Welten umfassend.247 Es kann daher, unabhängig von der Frage seiner stofflichen Eigenschaften,248 als ein Kernbestandteil der Lehre interpretiert werden, welcher mit den zentralen Elementen der bereits besprochenen Philosophen vergleichbar ist. Seine Charakteristik als schöpfendes Prinzip erinnert an den Nous des Anaxagoras249, seine Eigenschaften wie Ewigkeit (ohne Anfang und Ende) und Zeitlosigkeit (B2, B3) entsprechen denen des Seins des Parmenides, eine Funktion als einheitliche Basis für die Entstehung aller Dinge findet sich bei Empedokles wie auch bei Ana244 Vgl. Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker I, Griechisch-Lateinisch-Deutsch, Düsseldorf 2007, S. 56–58; D. W.  Graham, The Early Ionian Philosophers. In: J.  Warren / F.  Sheffield (edd.), The Routledge Companion to Ancient Philosophy, New York / London 2014, S. 21; Ders., Explaining the Cosmos. The Ionian Tradition of Scientific Philosophy, Princeton 2006, S. 31–34; Rapp, Vorsokratiker, S. 39, Guthrie, History I, S. 83–87; J.  Burnet, Early Greek Philosophy, London 41930, S. 28, Anm. 15; KRS , S. 109–115; R.  Kočandrle / D. L.  Couprie, Apeiron. Anaximander on Generation and Destruction, Cham 2017, S. 5–17 [im Folgenden KC]; E.  Asmis, What is Anaximander’s Apeiron? ( JHP 19 (3), 1981), S. 279–297. 245 Vgl. dazu KRS , S. 108–109, Rapp, Vorsokratiker, S. 38–44; KD, S. 5; Graham, Cosmos, S. 29. 246 N. C. Dührens, Art. »Anaximander«. In: Flasher et al. (Hgg.), Frühgriechische Philosophie, S. 283–284; A. Finkelberg, Anaximander’s Conception of the Apeiron (Phronesis 38, 3 (1993)), S. 255–256; KRS , S. 115–117. 247 Vgl. zur Konnotation der Göttlichkeit bei den Naturphilosophen S. Broadie, Rationale Theologie. In: Long (Hg.), Handbuch Frühe Griechische Philosophie, S. 187–190; P. Curd, The Divine and the Thinkable. Towards an account of the intelligible cosmos (RHIZ 1(2), 2013), S. 219; W. Guthrie, A History of Greek Philosophy I. The earlier Presocratics and the Phytagoreans, Cambridge 1962, S. 4; J.-P. Vernant, Mythos und Denken bei den Griechen, Konstanz 2016, S. 427; Graham, Cosmos, S. 43–44; außerdem Arist. Phys. III, 4, 203b 13 (=DK12 B3); G. Naddaf, The Greek Concept of Nature, New York 2005, S. 66. 248 Vgl. Zur Diskussion von Stofflichkeit und Prinzip vgl. Asmis, Apeiron, S. 279; Naddaf, Nature, S. 68–70; KC , S. 49–61; Barnes, Presocratic, S. 29–37. 249 Vgl. Graham, Cosmos, S. 44; Naddaf, Nature, S. 66.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

xagoras.250 Ist nun die Zentralität des Apeiron vergleichbar mit derjenigen der Kernelemente dieser Vorsokratiker, so kann auf dieser Basis auch die Rolle der Bewegung im Verhältnis zum Apeiron betrachtet werden. Ebenfalls können die dabei herausgearbeiteten Charakteristika der Bewegung durch die vorhandenen Parallelen des Systemaufbaus miteinander verglichen werden. Zuerst ist zu untersuchen, ob die Bewegung überhaupt eine zentrale Rolle in der Philosophie des Anaximander spielt. Dafür stehen die Testimonien A9 aus Simplikios’ Kommentaren zur aristoteleischen Physik und A11 aus der Refutatio des Hippolytos zur Verfügung, die beide auf die Doxographie des Theophrast zurückgehen.251 Es ergeben sich daraus zwei verschiedene, miteinander verknüpfte Interpretationsebenen, die zwischen dem heute überliefertem Text und dem Originaltext stehen, die eine von Theophrast angelegt, die zweite von Hippolytos und Simplikios. Es ist daher kaum möglich, hier eine Interpretation der Charakteristik der Bewegung vorzulegen, wie es in den vorherigen Kapiteln getan werden konnte.252 Besonders hinsichtlich der Funktion der Bewegung bei Anaximander hat in jüngerer Zeit Niels Christian Dührsen eine Theorie vorgebracht, die auf den ersten Blick gegen die generelle Möglichkeit der hier angestrebten Untersuchung spricht: die in den Testimonien zu findende »ewige Bewegung« (κίνησις ἀίδιος) sei eine peripatetische Interpretation der göttlichen ἀρχή bei Anaximander. Da dieser ἀρχή eine lenkende und kontrollierende Funktion in der Philosophie des Anaximanders zugeschrieben werde, setze Aristoteles diese mit der ersten Bewegungsursache gleich, die bei ihm vergleichbare Funktionen ausübe.253 Vor diesem Hintergrund würde eine Betrachtung der Charakteristik der Bewegung bei Anaximander daher nur Ansichten der peripatetischen Schule zur Rolle der Bewegung bei Anaximander wiedergeben und damit wäre in letzter Konsequenz eine Betrachtung der Bewegungscharakteristik bei Anaximander selbst unmöglich. Dagegen gibt es jedoch mehrere Einwände, deren ersten bereits Dührsen selbst anspricht. Die Grundlage seiner Ausführungen bildet die Vermutung, die Doxographie habe die Theorie des Anaximanders in allen Einzelheiten der Elementen-Lehre des Aristoteles angepasst und somit die Vorstellung Anaximanders vom Apeiron durch anachronistische Übertragungen vollständig verzerrt.254 Damit wären alle Lehrsätze, die 250 Vgl. KRS , S. 128–129. 251 Vgl. Burnet, Philosophy, S. 33–36; L. Zhmud, Art. »Die doxographische Tradition«. In: Flasher et al. (Hgg.), Frühgriechische Philosophie, S. 150–171. 252 Zur Schwierigkeit der Begrifflichkeit gerade dieser Quelle vgl. U. Hölscher, Anaximander und die Anfänge der Philosophie (Hermes 81, 3 (1953)), S. 258–268; allgemein zur Überlieferung durch Aristoteles, Theophrast und Simplikios J. B.  McDiarmid, Theophrastus on Presocratic Causes (HSPh 61 (1953)), S. 96–102. 253 Vgl. Dührsen, Art. »Anaximander«. In: Flasher et al. (Hgg.), Frühgriechische Philosophie, S. 283–284. 254 Vgl. Dührens, Anaximander, S. 277–278.

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Anaximander in der peripatetischen Tradition zugesprochen werden, von einer solchen Angleichung geprägt und nicht mehr auf Anaximanders System selbst zurückzuführen.255 Daraus ergäben sich Zweifel bezüglich der Konzeption des Apeiron und seiner Funktion im Kosmos, vor allem seiner Aufgabe als Grundlage des Prozesses des nie endenden Werdens.256 Dagegen jedoch spräche, so Dührens selbst, die Unabhängigkeit der Postulierung ewiger Bewegung von anderen Lehrsätzen, die eng mit der Konzeption des Apeiron »als eines qualitativ indifferenten Substrats«257 verknüpft sind. Hier bietet Dührens die obige Erklärung an, um zu zeigen, dass die Konzeption ewiger Bewegung eine aristotelische Interpretation der göttlichen Funktion des Apeiron, bzw. der ἀρχή, darstellt, womit die Annahme einer Vorstellung nie endenden Werdens für Anaximander vor dem Hintergrund unplausibel wird, dass für eine solche ewige Bewegung benötigt werden würde. Bereits dieser Hinweis auf die Unabhängigkeit der Erwähnung ewiger Bewegung von anderen Lehrsätzen bei Anaximander scheint aber auch ein triftiger Grund zu sein, diese als ein Element im ursprünglichen System des Anaximander annehmen zu können.258 Gestärkt wird dies dadurch, dass z. B. auch bei Xenophanes Charakteristika der κίνησις zu erkennen sind, die diese als allgegenwärtig und ewig kennzeichnen,259 ebenso wie in den übrigen Texten der Aspekt der Unendlichkeit der Bewegung deutlich geworden ist. Damit ist kein Grund gegeben, eine solche Konzeption von vornherein für Anaximander auszuschließen. Sicherlich liegt dem Begriff »ewige Bewegung« in den Quellen eine peripatetische Konzeption zugrunde,260 diese kann aber auch als Ergebnis einer Entwicklung einer sehr viel älteren Idee und Rezeption von Bewegung lange vor Aristoteles interpretiert werden.261 255 256 257 258

Vgl. Dührens, Anaximander, S. 278. Vgl. ebd. S. 282. Ebd. S. 283. Auch die kritischen Betrachtungen der Testimonien durch Hölscher und McDiarmid gehen von der Existenz von Bewegung bei Anaximander aus, vgl. Hölscher, Anaximander, S. 259–260; McDiarmid, Theophrastus, S. 99, Anm. 62. 259 Vgl. unten S. 139–140. 260 Vgl. Dührens, Anaximander, S. 283; Hölscher, Anaximander, S. 260. 261 Es ist an dieser Stelle kein Platz, um sich ausführlich mit der Frage zu beschäftigen, in­ wiefern es möglich ist, dass die »ewige Bewegung« auch in Anaximanders Texten verarbeitet wurde und nicht nur eine Übertragung der peripatetischen Schule ist. Die obigen Ausführungen sollen lediglich zeigen, welche Übereinstimmungen mit den authen­ tischen Fragmenten der bereits untersuchten Vorsokratiker sich ergeben, wenn man annimmt, dass Anaximander mit einer Vorstellung von κίνησις gearbeitet habe. Ich postuliere damit keinesfalls, dass dieser Begriff wirklich in den Texten gestanden hat, sondern nur, dass, wenn er ihn benutzt hat, die Testimonien zeigen können, dass eine ähnliche Vorstellung von κίνησις in seiner Philosophie vorgeherrscht hat wie bei den bereits untersuchten Vorsokratikern.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

Weiterhin spricht für die Annahme, dass auch im originalen System des Anaximander Bewegung eine zentrale Rolle gespielt hat, neben der von anderen Systemaspekten relativ unabhängigen Erwähnung der ewigen Bewegung die Tatsache, dass eine gegensätzliche Angabe fehlt. Es ist davon auszugehen, dass, hätte Anaximander den Bewegungsprozess nicht in irgendeiner Art und Weise zur Entwicklung seiner Kosmologie genutzt, sowohl die Zuschreibung eines solchen kaum möglich, als auch das Fehlen jeglichen Hinweises auf eine solche, im vorsokratischen Philosophieren bis Parmenides wohl singuläre Theorie, in der Bewegung keinen zentralen Platz einnahm, unwahrscheinlich ist. Die gegenwärtige Quellenlage lässt daher den Schluss zu, dass Bewegung bei Anaximander eine Rolle gespielt hat, auch wenn die Zeugnisse sie sicherlich aus einer peripatetischen Perspektive heraus behandeln und darstellen.262 Es kann daher hier nur versucht werden, Aussagen über die Zentralität und Bedeutung der Bewegung bei Anaximander allgemein zu gewinnen, sowie Vermutungen über das Verhältnis von Apeiron und Bewegung und der ihr zugeschriebenen Funktion anzustellen. Zum besseren Überblick werden die betreffenden Testimonien hier kurz angegeben, um die Argumentation besser nachvollziehen zu können. Da es sich nur um eine zusammenfassende Betrachtung handelt, wird auf die Wiedergabe des gesamten griechischen Originaltextes verzichtet.

262 Ähnlich wie Dührens argumentiert auch Asmis, Apeiron, S. 295–296: da das »Apeiron« nichts Anderes beschreibt als das ewige Prinzip des Werdens und Vergehens, ist die Zuschreibung der ewigen Bewegung in den Testimonien eine peripatetische Interpretation dieses Prinzips und kein genuiner Bestandteil der Philosophie Anaximanders. Diese Interpretation ist jedoch insofern fragwürdig, als dass sie davon ausgeht, dass der Kinesis-Begriff für die Peripatetiker ausschließlich Werden und Vergehen meint. Dies ist jedoch nicht der Fall, da Werden und Vergehen lediglich eine mögliche Form des κινεῖν (vgl. Aris. Phys. 254a10–12), nicht aber alle Formen darstellen, wie in Phys. VIII, 3, 253b31–35 ersichtlich ist, in der explizit die Ortsbewegung (τὀ φέρεσθαι) mit κινοῦνται in Verbindung gebracht wird. Des Weiteren ist die Annahme, dass der Kinesis-Begriff sich nur auf Werden und Vergehen bezieht, wie oben gezeigt wurde, für die Vorsokratiker nicht haltbar und so bringt auch Parmenides verschiedene Bewegungsprozesse zur Sprache. Es ist andererseits natürlich möglich, dass Theophrast, auf den Hippolytos und Simplikios zurückgehen, κίνησις ungenau nur auf das Prinzip des Werdens und Vergehens bezogen hat und sich davon in den Quellen keine Spur erhalten hat. Dagegen jedoch spricht das Zitat in Simpl. Phys. 154, 14, in dem Theophrast eindeutig zwischen κίνησις und γένεσις unterscheidet. Auch spricht Aristoteles an anderen Stellen von Ansichten des Anaximander, die eindeutig mit Ortsbewegung identifizierbar sind, so z. B. in Cael. II, 13, 295b. Simpl. Phys. 1121 5–10 zeigt, dass, zumindest für Simplikios, κίνησις eine Voraussetzung für Werden und Vergehen darstellt, was aber nicht automatisch eine Wesensgleichheit der Prozesse bedeutet. Gleiches Verständnis findet sich auch in DK A12. Es gibt daher m. E. keinen Grund, pauschal zu vermuten, der Kinesis-Begriff sei bei Anaximander ausschließlich für den Prozess des Werdens und Vergehens zu verwenden und jede andere »ewige Bewegung« habe keine Rolle gespielt.

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DK12 A9 (Simpl. Phys. 24, 13) »Von denen aber, die sagen, das Prinzip sei eines, bewegt (κινούμενον) und unbegrenzt, hat Anaximander, Sohn des Praxiades, aus Milet, Nachfolger und Schüler des Thales, behauptet, Prinzip und Element der seienden Dinge sei das Unbegrenzte, wobei er als Erster diese Bezeichnung des Prinzips eingeführt hat. […] Dieser [Anaximander] lässt das Entstehen nicht durch die Verwandlung des Elements erfolgen, sondern durch die Aussonderung der Gegensätze infolge der ewigen Bewegung (διὰ τῆς ἀιδίου κινήσεως).«263 DK12 A11 (Hippolytos) »Anaximander, Sohn des Praxiades, aus Milet. Dieser setzte als Prinzip der seienden Dinge eine Natur des Unbegrenzten, aus der die Himmel und die darin befindliche Ordnung entstanden seien. Diese Natur sei ewig und nicht alternd und umfasse alle Welten. Und er spricht von »Zeit«, weil das Entstehen, das Dasein und das Vergehen der Dinge eine festgesetzte Grenze haben. Er hat als Prinzip und Element der existierenden Dinge das Unbegrenzte angenommen, wobei er als Erster die Bezeichnung des Prinzips gebraucht hat. Er hat ferner behauptet, die Bewegung, bei der die Welten entstünden, sei ewig (πρὸς δὲ τούτῳ κίνησιν ἀίδιον εἶναι, ἐν ἧι συμ βαίνει γίνεσθαι τοὺς οὐρανούς).«264

Neben diesen beiden Testimonien finden sich noch fünf weitere, in denen der Kinesis-Begriff mit Anaximander in Verbindung gebracht wird (A26, 17, 12, 11, 24). Drei von diesen (A26, 24, 11) behandeln dabei Aspekte der Ortsbewegung und werden im Anschluss noch einmal näher betrachtet, die anderen Testimonien (A17 und 12) sprechen ebenfalls von der »ewigen Bewegung«, aus der heraus oder durch welche Entstehen und Vergehen bei Anaximander erklärt werden, behandeln also dieselbe Thematik wie die hier zitierten Passagen. Das Testimonium A11 enthält Informationen zu zwei verschiedenen Aspekten: Zum einen zur »Natur des Unbegrenzten« (φύσιν τινὰ τοὺ ἀπείρου), zum anderen zur Bewegung, die für die Weltentstehung verantwortlich und ewig sei. Dieses Prinzip nun ist gleichzeitig der Ursprung der seienden Dinge und damit Ausgangspunkt für deren Entstehung und dies führt uns zum zweiten Aspekt der Quelle, der ewigen Bewegung, die als der grundlegende Prozess für die Entstehung der Welten dargestellt wird. Dies bedeutet, dass es für die Kosmogonie zweier Elemente bedarf: dem Apeiron als »Urprinzip« und der ewigen Bewegung, bei der die Welten schließlich entstehen. Ersteres ist die prinzipielle Voraussetzung für das Entstehen des Kosmos, unabhängig davon, wie man das Apeiron

263 Hervorhebungen vom Verf. 264 Alle deutschen Übersetzungen in diesem Kapitel, sofern nicht anders gekennzeichnet, von M. L. Gemelli Marciano, die Hervorhebungen von mir.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

definiert, als Macht, Stoff, kosmischen Ablauf, etc.,265 Zweiteres ist der Entstehungsprozess an sich: beide sind für die Kosmosgonie wichtig und notwendig. Es ist daher zu fragen, ob das Apeiron seine Funktion als Prinzip der Dinge nur einnehmen und erfüllen kann, wenn ebenso die ewige Bewegung vorhanden ist und damit in der Kosmogonie beide mindestens gleichwertig sind. In der Formulierung des Hippolytos, πρὸς δὲ τούτῳ, kann eine solche Gleichwertigkeit, die nicht nur von einer Gleichrangigkeit beider Prinzipien, des Apeiron und der Bewegung, ausgeht, sondern auch von einer Gleichzeitigkeit, das heißt, dass beide als gesetzte Prinzipien in der Kosmogonie des Anaximander auftauchen, gesehen werden. Unklar ist allerdings im Zusammenhang damit, ob das ἀίδιον im AcI im Anschluss an πρὸς δὲ τούτῳ als Prädikatsnomen oder als Attribut verstanden werden muss. Gilt es als Prädikatsnomen, so ergibt sich die Aussage, dass Anaximander neben dem Prinzip des Apeiron außerdem noch bemerkt hätte, dass die Bewegung ewig sei. Dies bedeutet, dass die Bewegung, aus der die Welten entstehen, bereits vorher eingeführt worden ist und nun nur noch der Zusatz ihrer Ewigkeit angefügt wird. Somit wäre, zumindest für Hippolytos, bzw. Theophrast, die Bewegung als ein Element dem Apeiron inhärent, da aus diesem ja die Welten entstehen. Man kann dies so verstehen, dass das Apeiron als Prinzip über der Bewegung steht und sich seine Fähigkeit zur Bildung der Welten bereits aus der im Prinzip des Apeirons angelegten Bewegung ergibt. In diesem Fall ist die κίνησις kein selbstständiges und gleichwertiges Prinzip neben dem Apeiron, sondern in ihm bereits enthalten und damit untergeordnet, das Apeiron selbst wäre dann zwar »in Bewegung«, aber nicht »passiv bewegt« im Sinne eines reinen Patiens.266 Für die Perzeption der Bewegung bedeutet dies, dass sie vom Apeiron als Urprinzip abhängt und das Apeiron, ähnlich des Nous des Anaxagoras, Einfluss auf sie ausüben kann und damit Ursache und Bewegungsobjekt zugleich ist.267 Liest man jedoch den πρὸς δὲ τούτῳ-Satz absolut auf alles Vorhergehende bezogen und das ἀίδιον als Attribut, so kann man ebenso verstehen: »Und zu diesem [dem Prinzip] fügte er noch die ewige Bewegung an [oder: dass es eine ewige Bewegung sei], bei welcher die Welten entstünden.« In diesem Fall wäre das Prinzip der ewigen Bewegung dem Apeiron beigeordnet und das Apeiron könnte seine Funktion als Ursprung aller Dinge ohne die κίνησις nicht erfüllen, womit diese zum unverzichtbaren zweiten Element der Kosmogonie wird, da erst durch sie die Weltentstehung aus dem Apeiron durchführbar ist. Viel wichtiger 265 Vgl. oben Anm. 244 in diesem Kapitel. 266 Diese Deutung findet sich bei KRS , S. 128; Cornford, Principium, S. 180; Guthrie, History I, S. 91; P. Seligmann, The »Apeiron« of Anaximander, London 1962, S. 55. 267 Ein Hinweis auf diese Interpretation des Apeiron findet sich bei Theophrast, überliefert bei Simplikios (DK12 A9a).

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ist aber die Vorstellung von Bewegung als einem vom Urprinzip unabhängigen, bereits vorhandenen Prozess, der das Apeiron erfasst. Ein Argument für diese Lesart ist der Umstand, dass die φύσις des Apeiron bei Hippolytos bereits »ewig« genannt wird. Würde die Bewegung als ein dem Apeiron und seiner Natur inhärenter Teil verstanden werden, so wäre der erneute Hinweis auf die Ewigkeit dieser Bewegung redundant: sie ist als Teil des Apeiron ja zwangsläufig ewig, wenn dieses ewig ist. Wenn aber stattdessen Anaximander neben dem Apeiron noch den Prozess der Bewegung bereits vor der eigentlichen Kosmogonie als gegeben ansieht, so wird dies in A11 wiedergegeben in dem Sinne, dass Anaximander zur Natur des Unbegrenzten die ewige Bewegung annimmt und aus diesen beiden Grundelementen die Entstehung der Welt konstruiert. Abhängig von der Übersetzungsproblematik in A11 ist die Frage nach der Existenz eines der Bewegung übergeordneten Prinzips, die im Falle der ersten Übersetzung bejaht und im zweiten verneint werden muss. In beiden Fällen ist jedoch das betreffende Prinzip in Bewegung, nur mit dem Unterschied, dass es im ersten Fall sich selbst bewegt, d. h. theoretisch darüber entscheiden kann, ob Bewegung stattfindet oder nicht. Im zweiten Falle besteht Bewegung unabhängig vom Apeiron und beeinflusst dieses von außen. In beiden Fällen kann aber erkannt werden, dass die Bewegung als omnipräsent dargestellt wird, modifiziert im ersten Fall dadurch, dass nur das Urprinzip, welches mit göttlichen Attributen versehen ist, Einfluss auf die Bewegung ausübt, alles andere aber ihrem Einfluss als passives Objekt unterworfen ist: die Welten können ihre eigene Entstehung in keiner Weise beeinflussen. Aus dem Testimonium A9 können keine Angaben zur Frage des ApeironBewegungs-Verhältnisses gewonnen werden, da die Bezeichnung κινούμενον sowohl medial als auch passiv verstanden werden kann. Der letzte Satz jedoch zeigt, wie sehr die Entstehung der Welten von der ewigen Bewegung abhängig ist und unterstreicht die Zentralität des Bewegungsprozesses als grundlegendem Prinzip der Weltschöpfung im System des Anaximander, wodurch der letzte Satz in A11 spezifiziert werden kann: die Bewegung ist für die Aussonderung aus dem Apeiron verantwortlich und damit für die Entstehung der Welten. Eine vergleichbare Rolle sprechen der Bewegung die Testimonien A12 und 17 zu, die die κίνησις als Grundvoraussetzung für Entstehen und Vergehen annehmen. Die Zuschreibung der Ewigkeit, unabhängig von der Frage des Verhältnisses von Apeiron und κίνησις, steht ebenso im Einklang mit der Charakteristik der Bewegung in anderen Texten der Vorsokratiker: für die κίνησις wie auch das Apeiron ist kein Endpunkt angenommen, sie sind immerwährende Prozesse im Kosmos. Dass die Bewegung außerdem dazu genutzt wird, um die Entstehung der Welten aus dem Apeiron zu erklären, zeigt erneut, welch weitreichende Macht und Kraft diesem Prozess zugedacht worden ist und erinnert an den Akt der Schöpfung durch das κινεῖν bei Anaxagoras.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

Unklar muss bleiben, ob die Bewegung als ein geordneter, mechanischer Prozess charakterisiert wurde oder als omnipräsente Kraft in jeglicher Hinsicht wirken kann. Auf eine solche omnipräsente und in jede Richtung wirkende Kraft deuten die Testimonien A11 und A26, während A24 von einer gerichteten und regelmäßigen Bewegung ausgeht. A24 beschreibt die Bewegungen der Sonne, die für Anaximander sicherlich als gerichtet und geordnet angenommen werden können, da sie kreisförmig erfolgen. A26 dagegen erklärt die Annahme, die Erde ruhe in der Mitte, im gleichen Abstand von allen Rändern, da es a) keinen Grund gäbe, warum sie mehr nach oben oder unten oder zur Seite sich bewegen solle, und außerdem b)  die Bewegung in entgegengesetzte Richtungen wirke, sodass die Erde in Ruhe sein muss.268 Sollte die von Aristoteles angegebene Begründung auf Anaximander zurückgehen,269 so kann dies darauf hinweisen, dass Bewegung als von überallher möglich und omnipräsent gedacht wurde und damit hier Bewegung in jede Richtung möglich ist, auch in gegensätzliche Richtungen zur gleichen Zeit, womit nicht mehr von einer geordneten Bewegung gesprochen werden kann. A11 beschreibt das Entstehen von Winden durch in Bewegung geratene Ansammlungen von Luft. Während eine bestimmte Windrichtung wohl auch als gerichtete Bewegung kategorisiert werden kann, sind Winde allgemein durch das Wechseln ihrer Richtung, unterschiedliche Intensität und auch durch ihr gelegentliches Ausbleiben oder plötzliches Aufkommen gekennzeichnet, wodurch ihnen ebenso die Charakteristik der Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit zukommt, die hier dann auf die κίνησις der »feinsten Ausdünstungen« zurückfällt. In diesen beiden Beispielen werden die Aspekte der Omnipräsenz und der Möglichkeit, jede Form und Richtung anzunehmen und unvorhersehbar zu sein, deutlich, die bereits in den vorherigen Kapiteln angesprochen worden sind.270 Auf Grundlage der beiden zentralen Testimonien zur »ewigen Bewegung« und in Verbindung mit anderen Überlieferungen können für Anaximander daher die folgenden Eigenschaften der κίνησις plausibel angenommen werden: Sie ist ein zentraler Prozess der Kosmogonie, sie ist aktiv an der Entstehung der Welten und Dinge beteiligt und damit ist sie Grundlage für die Erfüllung der Funktionen des Urprinzips. Offenbleiben muss, inwiefern Anaximander die Bewegung als dem Apeiron bereits inhärent gedacht und dieses die κίνησις in Gang gesetzt hat, oder ob Bewegung bereits neben dem Apeiron

268 Eine Diskussion des Arguments bei Barnes, Presocratic, S. 23–26. 269 Vgl. dazu Dührens, Anaximander, S. 306. 270 Bei Hippolytos ist gleiches Argument auch für Anaximenes zu finden. Dies jedoch schmälert seine Aussagekraft nicht, denn unabhängig davon, bei wem von beiden eine solche Vorstellung zu finden war, zeigt sie, inwiefern man die Unvorhersehbarkeit von Winden mit der Bewegung verbunden haben mag.

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in irgendeiner Weise als existent angenommen wurde und damit diesem als Wirkprinzip ebenbürtig oder sogar überlegen ist. Eindeutig ist jedoch, dass die Bewegung dadurch charakterisiert wird, dass sie selbst alles andere beeinflusst, indem sie für die Entstehung der Welten sorgt. Des Weiteren hat sie keinen Endpunkt und ist dadurch mit der Konzeption der Ewigkeit verbunden. Da sie keine Beschränkung hat und sogar im Gegenteil das Attribut der »Ewigkeit« besitzt, könnte auch sie mit einem »göttlichen« Prinzip assoziiert werden, wie es beim Apeiron der Fall ist. Diese Charakteristika der κίνησις stehen im Einklang mit den bereits untersuchten Verwendungen des Begriffs und seiner Verarbeitung in anderen vorsokratischen Texten und stützen die These einer allgemeinen Rezeption des Kinesis-Begriffs im griechischen Denken dieser Zeit durch die vielen Gemeinsamkeiten, die sich aufzeigen lassen: Die Omnipräsenz der Bewegung und ihre enge Bindung zum göttlichen Prinzip, sowie ihre Fähigkeit, Dinge zu erschaffen und zu beeinflussen. Auch wenn die Doxographie ihre eigenen Konzepte und Prinzipien in die Darstellung der Bewegung bei Anaximander hat einfließen lassen, so können sich doch zumindest Ansätze zu diesen auch im ursprünglichen Text befunden haben. Anaximenes Für Anaximenes ergeben sich mit Anaximander vergleichbare quellentechnische Schwierigkeiten.271 Von einer »ewigen Bewegung« bei Anaximenes sprechen Simplikios (DK13 A5), Hippolytos (A7), Pseudo-Plutarch (A6), Olympiodor (Einleitung zu B3), Cicero (A10) und Seneca. Des Weiteren finden sich bei Diogenes Laertius (A1), Hippolytos und Pseudo-Plutarch Erklärungen für die Bewegung der Gestirne und der Winde bei Anaximenes. Zur Bewegung der Seele, die aus Luft bestünde und daher beweglich sei, äußert sich Philoponus (A23). Die Berichte über die ewige Bewegung zeigen, dass die Entstehung der Dinge aus Anaximenes’ Urprinzip, dem Aer, wahrscheinlich über mechanische Be­ wegungsprozesse erklärt worden ist, die dann Verdünnung oder Verdichtung der Luft zur Folge hatten.272 Die Zentralität eines solchen Bewegungsprozesses für die Erklärung des Entstehens und Vergehens der Dinge ist auch dann gegeben, wenn die Attribution der Ewigkeit ein Ergebnis der doxographischen Interpretation ist.273 In einem solchen Fall verlöre die Bewegung zwar ihre Eternität, kann aber als zentraler Bestandteil der Kosmogonie weiterhin angenommen 271 Vgl. N. C. Dührens, Art. »Anaximenes«. In: Flashar et al. (Hgg.), Frühgriechische Philosophie, S. 321. 272 Vgl. McDiarmid, Theophrastus, S. 103. 273 Vgl. Dührens, Anaximenes, S. 326–328 mit weiterführender Literatur.

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werden.274 Daraus folgt die Assoziation der Bewegung mit der Fähigkeit, Dinge hervorzubringen und ein erschaffender Prozess zu sein, da Bewegung die Voraussetzung für die Verdichtung und Verdünnung darstellt.275 Angenommen, der Aer war für Anaximenes in seiner Urform »unermesslich« und »undurchdringlich« (A5, 6, 9),276 so muss Bewegung in der Art wahrgenommen worden sein, selbst einen solchen Stoff verändern und beeinflussen zu können.277 Daraus können die bereits bekannten Assoziationen unermesslicher Kraft, der ungehinderten Beeinflussung und unbegrenzten Reichweite der Bewegung rekonstruiert werden, die sich hier auch in diesem Zusammenhang für Anaximenes vermuten lassen. Gesteigert werden diese Charakteristika noch durch die Nachricht, Anaximenes habe den Aer mit einem göttlichen Wesen gleichgesetzt (A10),278 wodurch sich aus diesem Verhältnis von Bewegung und Aer die Fähigkeit der Bewegung, auch Göttliches zu beeinflussen, rekonstruieren lässt. Unklar ist, wie diese kosmogonische Bewegung bei Anaximenes entsteht: Die Testimonien machen darüber keine Angaben und die Nachricht bei Olympiodor (Einleitung zu B3), Anaximenes habe eine »bewegtes« (κινουμένην) Prinzip angenommen, stößt auf dieselben Schwierigkeiten des Medium-Passivs, wie sie bereits bei Anaximander besprochen wurden, sodass nicht eindeutig ist, ob etwas den Aer bewegt oder er sich selbst bewegt.279 Ein vergleichbares Problem begegnet in A23, in dem Philoponus die Beweglichkeit der Seele hervorhebt: […]κινητικωτάτην δὲ εἶναι διὰ λεπτομέρειαν. Philoponus und Aetius berichten weiterhin, dass die Seele für Anaximenes aus dem Aer bestanden habe (A23), sodass zu fragen ist, ob die Beweglichkeit der Seele auf die Beweglichkeit der Luft zurückgeführt werden kann oder andersherum die Beobachtung der Beweglichkeit des Menschen aufgrund seiner Seele, d. h. der Fähigkeit zur Selbstbewegung, und die Gleichsetzung der Seele mit dem Aer zur Postulierung der Beweglichkeit des Letzteren geführt haben. Eine solche Deduktion der Beweglichkeit des Aer von der individuellen Beweglichkeit der Seele legt auch Fragment B2 nahe: οἶον ἡ ψυχή, φησίν, ἡ ἡμετέρα ἀὴρ οὖσα συγκρατεῖ ἡμᾶς, καὶ ὅλον τὸν κόσμον πνεῦμα καὶ ἀὴρ περιέχει.280 Wird für Anaximenes eine solche Ableitung der 274 Vgl. KRS , S. 147; Stokes, Cosmogonies, S. 28; G. Wöhrle, Anaximenes aus Milet. Die Fragmente zu seiner Lehre, Stuttgart 1993, S. 57. 275 Vgl. die Begründung des Simplikios für die Annahme ewiger Bewegung als Voraussetzung für Veränderung des Aer in A5: κίνησιν δὲ καὶ οὗτος ἀίδιον ποιεῖ, δι’ ἣν καὶ τὴν μεταβολὴν γίνεσθαι. 276 Vgl. Dührens, Anaximenes, S. 325. 277 Vgl. Guthrie, History I, S. 122. 278 Vgl. KRS , S. 150–151, Stokes, Cosmogonies, S. 28; gegen die Aussagekraft der Quellen Kahn, Anaximander, S. 48. 279 Die Forschung geht gemeinhin von einer Selbst-Bewegung aus, vgl. KRS , S. 152, Anm. 1; Stokes, Cosmogonies, S. 28. 280 Vgl. dazu Rapp, Vorsokratiker, S. 56; zur Diskussion Dührens, Anaximenes, S. 322–324.

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Eigenschaften des Aer aus der Fähigkeit der Menschen zur Bewegung angenommen, so ist wohl von einer Selbstbewegung des Aer auszugehen.281 Dagegen sprechen aber andererseits die Nachrichten, die eine Beeinflussung des Aer durch andere Elemente des Kosmos nahelegen, so beispielsweise die Entstehung des Regenbogens, der durch das Aufeinandertreffen von Sonnenstrahlen und Aer gebildet werde (A7, A18). Die Sonne wiederum erhalte ihre Hitze durch ihre schnelle Bewegung (A6), die auch andere Elemente im Kosmos ergreife (A1, A7). Da diese Bewegung, im Unterschied zu z. B.  Anaxagoras, eine andere zu sein scheint als die Bewegung, die der Verdünnung und Verdichtung zur Bildung der Elemente aus dem Aer zugrunde liegt, kann vermutet werden, dass die Bewegung von Anaximenes als ein vom Urstoff unabhängig existierender Prozess gedacht wurde. Dadurch kann auch der Aer als ein rein passiv bewegtes Element angenommen werden, welches eben immer in Bewegung ist, da Bewegung als solche ständig existiert.282 In einem solchen Falle kann vermutet werden, dass Anaximenes seine Aussagen über Induktion gewonnen hat und die Bewegung des Menschen auf die Be­wegung des Aer zurückführt, d. h. dass Menschen von ihrer Seele bewegt werden, da ihre Seele als Aer in Bewegung ist. Bewegung aus einer solchen Perspektive betrachtet zeigt starke Parallelen zur Verarbeitung des Bewegungsprozesses bei Parmenides und Empedokles, bei denen Bewegung ebenfalls als ein autarker Prozess im Kosmos zu existieren scheint. Dies stimmt auch mit der Darstellung der Doxographie bei Anaximander überein, in der Apeiron und ewige Bewegung nebeneinander dargestellt werden und Letztere von Ersterer unabhängig existieren kann. Sollte es zutreffen, dass der Bewegungsprozess in solcher Weise gedacht worden ist, so ist er sogar noch früher als die Kosmo­gonie anzusetzen, da er diese erst in Gang setzt. Somit könnte die Bewegung als »überzeitlicher« Prozess den Aer erfasst und damit die Kosmogonie möglich gemacht haben.283 Dies kann jedoch aus den Quellen nicht eindeutig herausgearbeitet werden. Es kann hier daher nur konstatiert werden, dass die Möglichkeit zur Bewegung für Anaximenes offenbar nicht in Frage gestellt wurde, da sie als Konstante im Alltag der Menschen vorhanden war und sowohl die Menschen selbst als auch die sie umgebende Umwelt beeinflusste. Die Selbstverständlichkeit der Existenz 281 Vgl. Guthrie, History I, S. 128–130 und Wöhrle, Anaximenes, S. 80–81. 282 Zur Bedeutung der Bewegung der Luft für die Entwicklung der Theorie bei Anaximenes vgl. KRS , S. 147 und Wöhrle, Anaximenes, S. 59. 283 Die Vorstellung bei Guthrie, History I, S. 128, dass die Divinität der Arché bereits ausreichender Grund für die Annahme einer Selbstbewegung ist, scheint eine nachträgliche Übertragung aristotelischer Konzeptionen auf die Milesier zu sein, die die Fähigkeit zur Bewegung mit der Göttlichkeit verbindet. Wie sich jedoch gezeigt hat, scheint mindestens bis zu Anaxagoras Bewegung als vom Göttlichen unabhängig existierbar gedacht zu werden. Ich sehe daher keinen zwingenden Grund, die Selbstbewegung des Aer anzunehmen. Vgl. Stokes, Cosmogonies, S. 31.

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von Bewegung, sowie ihre Fähigkeit, überall in jedem Stadium des Kosmos und seiner Entstehung bereits vollkommen entwickelt zu existieren, kann somit herausgearbeitet werden.284 Dies führt wiederum zur Charakteristik der Omnipräsenz und der allumfassenden Kraft der Bewegung an sich, die sie zu einem geeigneten Prozess gemacht hat, die Entstehung des Kosmos von seinen Anfängen her zu erklären. Das Bild von Bewegung als omnipräsent und überzeitlich, sogar noch vor Entstehung des Kosmos existent, steht im Einklang mit der Art, wie bei Parmenides und Empedokles Bewegung gezeichnet wurde.

3.4.2 Die Gottesbeschreibung des Xenophanes Unter den Fragmenten der Vorsokratiker nimmt die Gottesbeschreibung des Xenophanes (DK21 B23–26) eine prominente Rolle ein, da sie als erste Verbindung zwischen der neu entstandenen Art des Denkens der milesischen Naturphilosophen und einer Betrachtung des Glaubens und des Begriffs des Göttlichen gilt.285 Xenophanes ist außerdem für die Ablehnung des anthropomorphen Gottesbildes seiner Zeit bekannt (B11–16) und für seine Skepsis, ob echtes Wissens über den Kosmos für den Menschen möglich sei (B34).286 Durch seine Kritik an den Gottesvorstellungen Homers und Hesiods auf einer ethisch-moralischen Grundlage287 eröffnete sich für Xenophanes die Möglichkeit eines eigenen, neuartigen Entwurfs des Göttlichen unter der Prämisse der Idee des »θεοπρεπές« – Prinzips, der Frage, was einer Göttlichkeit angemessen sei.288 Da der Begriff des Göttlichen für Xenophanes nicht mit den herkömmlichen Gottesbildern seiner Zeit vereinbar war, weil Menschen dazu neigen, den Göttern ihre eigenen Charakteristika zuzuschreiben, entwickelte er eine eigene Gottesbeschreibung, die das Göttliche als für den Menschen unfassbare Macht darstellt.289 Die philosophisch-theologischen Schwierigkeiten und Diskussionen in Bezug auf Xenophanes sollen hier nicht eingehender betrachtet werden,290 da für die vorliegende 284 Vgl. Stokes, Cosmogonies, S. 28. 285 Vgl. Broadie, Theologie, S. 191–192. 286 Vgl. E. Hussey, The Beginnings of Science and Philosophy in Archaic Greece. In: Gill / Pellegrin (edd.), A Companion to Ancient Philosophy, S. 13; T. Schirren, Art. »Xenophanes«. In: Flasher et. al. (Hgg.), Frühgriechische Philosophie, S. 362–367 zur Erkenntniskritik. 287 Vgl. C.  Schäfer, Xenophanes von Kolophon. Ein Vorsokratiker zwischen Mythos und Philosophie, Stuttgart / Leipzig 1996, S. 147. 288 Vgl. Schäfer, Xenophanes, S. 148. 289 Vgl. E. Heitsch: Xenophanes, Die Fragmente, herausgegeben, übers. u. erläutert v. Ernst Heitsch, München / Zürich 1983, S. 145–147. 290 Eine weiterführende Diskussion mit Literatur bei Heitsch, Xenophanes, S. 147–159 und S. 164; außerdem in Schirren, Xenophanes, S. 339–340. Vor allem die Frage nach der »Theologie« des Xenophanes ist hier zweitrangig insofern, als dass Aussagen zu seinem möglichen Pantheismus, Monotheismus, etc. für die Herausarbeitung der Charakteristik

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Fragestellung lediglich zwei Aspekte wichtig sind: Erstens handelt sich bei der Gottesbeschreibung des Xenophanes nach allgemeiner Ansicht um ein Fragment und kann damit als ein authentisches Zeugnis des Sprachgebrauchs der Zeit (zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr.) angesehen werden, zweitens findet sich das Wort κινούμενος im Fragment, womit es für die Untersuchung des Verwendungskontextes von κινεῖν in philosophischen Texten vor Thukydides genutzt werden kann, um eine Vergleichsbasis für die Untersuchung der Charakteristik des Begriffs bei Thukydides zu schaffen. Die Gottesbeschreibung findet sich in den Fragmenten B23–26:291 B23: εἷς θεὸς ἔν τε θεοῖσι καὶ ἀνθρώποισι μέγιστος, οὔ τι δέμας θνητοῖσιν ὁμοίιος οὐδὲ νόημα. »Ein Gott ist unter Göttern und Menschen der Größte, nicht gleich den Sterblichen ist die Gestalt, nicht die Einsicht.« B24: οὖλος ὁρᾶι, οὖλος δὲ νοεῖ, οὖλος δέ τ’ ἀκούει. »Als Ganzer sieht er, ganz erkennt er, ganz hört er.« B25: ἀλλ’ ἀπάνευθε πόνοιο νόου φρενὶ πάντα κραδαίνει. »aber ohne Mühe erschüttert er alles durch die Regung des Geistes.« B26: αἰεὶ δ’ ἐν ταὐτῷ μίμνει κινούμενος οὐδέν, οὐδὲ μετέρχεσθαί μιν ἐπιπρέπει ἄλλοτε ἄλλῃ. »Immer aber bleibt er im Selben, keineswegs bewegt, und nicht passt es zu ihm, bald hierhin bald dorthin zu gehen.«

Xenophanes spricht von einem »höchsten Gott«, ohne dabei andere Götter auszuschließen,292 gibt diesem aber keinen Namen. Stattdessen wird darauf hingewiesen, dass er mit den Menschen nichts gemein habe. Gleichzeitig steht er aber des Bewegungs-Begriffs im Text nicht von Bedeutung sind. Berühren jedoch Fragen der Interpretation des Begriffs hinsichtlich seiner Zentralität und seiner Konnotation diese Themen, so wird drauf insoweit eingegangen, als es für die Beantwortung notwendig ist, vgl. zur Diskussion ebd. S. 349–358. 291 Der Einfachheit halber sind die Fragmente hier in einen Zusammenhang gebracht, dies muss jedoch nicht der originalen Version entsprechen, vgl. Heitsch, Xenophanes, S. 143. 292 Zur Frage des Polytheismus und Monotheismus vgl. Schäfer, Xenophanes, S. 165–167.

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auch in der Tradition des Epos, das Zeus mit diesen Superlativen bedenkt.293 Die beiden nachfolgenden Fragmente unterstreichen die Allmächtigkeit dieses Göttlichen: Er sieht und hört alles, versteht und erkennt alles und kann in den Kosmos eingreifen und ihn lenken allein durch seinen Willen. Seiner Macht sind damit keine Grenzen gesetzt, eine eindeutige Abgrenzung zum homerischen Götterbild, in dem Götter sogar durch Menschen verletzt294 oder getäuscht295 werden können. Im Kontext dieser Allmächtigkeit lässt sich dann auch das letzte Fragment erklären, welches Bewegung für diesen höchsten Gott ablehnt. Auffällig ist dabei eine Häufung der Aussagen: Zuerst wird auf die Ortsruhe hingewiesen (αἰεὶ δ’ ἐν ταὐτῷ μίμνει),296 die immer eingehalten wird, dann eine Bewegung in »jeglicher Hinsicht« ausgeschlossen (κινούμενος οὐδέν), um schließlich wieder auf die fehlende Ortsbewegung hinzuweisen (οὐδὲ μετέρχεσθαί).297 Es stellt sich die Frage nach den Gründen einer solchen scheinbaren Wiederholung: Handelt es sich um ein rein rhetorisches Stilmittel oder werden verschiedene Aspekte von Bewegung angesprochen? Bereits Guido Calogero hat die Frage nach dem Sinn der Wiederholung der fehlenden Ortsbewegung gestellt.298 Eine Möglichkeit der Erklärung wäre ein polemischer Seitenhieb auf das Epos, in dem die Götter physisch anwesend sein müssen, um wirken zu können und daher hin- und herlaufen müssen.299 Dagegen spricht jedoch die Nähe des größten Gottes zur Charakteristik des Zeus in der Ilias. Dieser wird nicht nur gleichfalls mit den bereits genannten Superlativen beschrieben, er ist ebenfalls in der Lage alles immer zu sehen und er muss, wie sich nach seinem Aufwachen am Ida zeigt, selbst nicht physisch anwesend sein, um seinen Willen durchsetzen zu können:300 So wird Ares vom Eingreifen in den Krieg allein durch die drohende Strafe des Zeus abgehalten, ein Umstand, der auch auf die Beschreibung der »Erschütterung durch die Regung des Geistes« passt. Obwohl hier sicherlich eine Abgrenzung von den Göttern des Epos beabsichtigt wird,301 scheint aber die Erklärung, es handle sich bei dieser Spezifizierung der fehlenden physischen Bewegung ausschließlich um eine Polemik, unzureichend zu sein,302 denn auch bei Homer muss Zeus nicht 293 Vgl. Schäfer, Xenophanes, S. 169. 294 Il. 5, 330–415 und 850–906. 295 Il. 14, 155–165. 296 Vgl. J. H. Lesher, Xenophanes of Colophon. Fragments. A Translation with a Commentary by J. H. Lesher, Toronto 1992, S. 111. 297 Zum metaphorischen Gebrauch von μετέρχεστθαι im Sinne »einer Sache nachgehen, verfolgen« vgl. Heitsch, Xenophanes, S. 158. 298 G.  Calogero, Senofane, Eschilo, E la prima definizione dell’onnipotenza di dio. In: V. E. Alfieri / M. Untersteiner (edd.), Studi di Filosofia Greca, Bari 1950, S. 36. 299 Vgl. Schäfer, Xenophanes, S. 171; Heitsch, Xenophanes, S. 157. 300 Il. 15, 4–134. 301 Vgl. Lesher, Xenophanes, S. 113; Schirren, Xenophanes, S. 354–355. 302 Vgl. Lesher, Xenophanes, S. 113: »I am inclined to think that Xenophanes’ account originated not from a process of reflection on Homer’s depiction, but rather from his own

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notwendigerweise umhergehen, um seinen Willen durchsetzen zu können.303 Dagegen erscheint Reinhardts Erklärung, die Unbeweglichkeit sei auf eleatische Argumente zurückzuführen,304 ebenfalls unplausibel.305 Eine andere Erklärungsmöglichkeit könnte ein Bedeutungsunterschied zwischen κινούμενος οὐδέν und οὐδὲ μετέρχεσθαί sein, der durch die Steigerungsfunktion des οὐδέν im Sinne von »und nicht einmal« erkennbar ist. Während οὐδέν als erste Form einer Negation auch einen verstärkenden Charakter annehmen kann, nimmt das οὐδέ des zweiten Aspekts nur die erste Negation auf:306 Damit kann eine Betonung von κινούμενος gegenüber μετέρχεσθαι plausibel gemacht werden. Deutlicher wird dies, wenn man κινούμενος auch als ein Passiv übersetzt: er wird in keiner Weise bewegt. Es gibt keinen Hinweis, dass κινούμενος hier medial gebraucht werden muss: Schon in der Ilias kann »κίνυμαι« sowohl mediale (Il. 10, 280) als auch rein passive (Il. 14, 173) Bedeutung haben. Akzeptiert man den passiven Charakter des Partizips hier,307 so werden im Fragment unterschiedliche Konnotationen von Bewegung angesprochen. Zuerst bleibt der Gott am selben Ort im selben Zustand, dann wird er nicht bewegt von einem äußeren Faktor und schließlich bewegt er sich selbst, als aktiver Beweger seiner selbst, nicht. Gleicher Unterschied gilt ebenfalls, wenn man nach Heitsch μετέρχεσθαί nicht mit »hin- und hergehen« übersetzen will, sondern als »einer Sache nachgehen«.308 Auch in diesem Fall wird die Betonung einmal understanding of the implications of other aspects of his new view of the nature of the divine.« 303 Vgl. Heitsch, Xenophanes, S. 157; Schirren, Xenophanes, S. 353. 304 Reinhardt, Parmenides, S. 112. 305 Vgl. Ebd. S. 112; zur Diskussion Schirren, Xenophanes, S. 347. Interessanterweise ergibt sich selbst dann, wenn Reinhardt Recht hat mit seiner Verbindung zwischen Parmenides und Xenophanes, die gleiche Grundlage der Charakteristik der Bewegung, die auch bei Parmenides als Prozess von außen wahrgenommen wird (vgl. oben S. 72). Es ist nämlich unwahrscheinlich, dass die Bewegungslosigkeit bereits auf das Argument des Vollen von Parmenides selbst zurückgeführt wurde, vgl. Kap. 3.1.1. Gerade diese wird aber von Reinhardt zur Grundlage der Unbeweglichkeit gemacht, indem er Bewegung als Widerspruch zur »Allgegenwart« des Gottes sieht. 306 Vgl. E.  Schwyzer, Griechische Grammatik II, vervollständigt und herausgegeben von A. Debrunner, München 1950, S. 597. 307 Interessanterweise benutzt Schäfer, Xenophon, S. 185, die gleiche Argumentation für seine Ausführungen zu einem möglichen »Pantheismus« bei Xenophanes in Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Aristoteles zu Xenophanes’ Gottesdarstellung als einem »Gott ist alles«, ohne dabei auf die problematische Doppelbedeutung des MediumPassivs einzugehen oder die Konsequenzen einer solchen passivischen Übersetzung für die Gottesbeschreibung bei der Besprechung des betreffenden Fragments zu beachten, ebenso wenig wie den dann daraus resultierenden Unterschied zwischen κινούμενος οὐδέν und οὐδὲ μετέρχεσθαί. Vgl. auch Lesher, Xenophanes, S. 111. 308 Heitsch, Xenophanes, S. 158. Ebenso metaphorisch im Sinne von »zurückweichen« (»budge«) Mourelatos, Route, S. 120.

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auf den Einfluß von außen und einmal auf die eigene aktive Handlung gelegt. Damit könnten die beiden Bewegungsarten, ausgedrückt durch κινούμενος und μετέρχεσθαί, Spezifikationen des Oberbegriffs ἐν ταὐτῷ μίμνει darstellen: Eine Veränderung und Bewegung egal welcher Art kann nicht stattfinden. Ein möglicher Einwand wäre hier, dass sich Xenophanes ausschließlich auf den Veränderungscharakter, den das Wort κινεῖν enthält, beruft.309 Die Argumente, die gegen eine solch einseitige Lesart des Kinesis-Begriffs sprechen, sind bereits oben ausgeführt worden.310 Auch erklärt sich nicht, warum Xenophanes, wollte er einmal auf die Unveränderlichkeit und dann auf die fehlende Ortsbewegung eingehen, ein Wort, welches beide Aspekte ausdrückt, einem Wort gegenüberstellt, welches nur einen ausdrückt und damit das Verstehen seiner Aussage erschwert. Es ist eher davon auszugehen, dass Xenophanes bei der Formulierung von κινούμενος οὐδέν nicht unbedingt an jede Art von Veränderung in den spezifizierten Kategorien des Aristoteles denkt,311 sondern hauptsächlich an den Aspekt eines von außen einwirkenden Prozesses, welchem der Gott entzogen sein muss, um »der größte« Gott zu sein. Dieser Aspekt der Charakteristik von Bewegung macht schließlich Fränkels Aussage möglich, dass später alle Arten der Veränderung, Ortsveränderung, Werden und Vergehen, usw. unter κίνησις verstanden werden und bei Xenophanes kommt dies besonders deutlich zum Ausdruck, wenn der größte Gott ohne Mühe alles »erschüttert« (B25), selbst aber von all diesen Prozessen nicht beeinflusst wird. Die »Unveränderlichkeit« ist dann eine logische Konsequenz der »Unbeweglichkeit«, nicht aber das eigentliche Attribut.312 Eine spezifische Trennung dieser Aspekte, wie sie bei Aristoteles möglich ist, ist bei Xenophanes noch nicht zu sehen und vor dem Hintergrund dieser Subsumtion aller unter »κίνησις« verstandener Prozesse könnte der Aspekt der »gewaltvollen« Einwirkung von außen313 das entscheidende Merkmal sein, welches für den Gott ausgeschlossen werden soll.314 Diese Konnotation des Kinesis-Begriffs findet leichten Niederschlag in der modernen Übersetzung 309 Dies schlägt z. B.  Lesher, Xenophanes, S. 114 vor, mit einem Hinweis jedoch auf sehr viel spätere Doxographen (Hippolytos), deren Zeugnis er kurz vorher noch als »heavily overladen with philosophical concepts and arguments« (Ebd. S. 113) in Frage stellt. Für Hippolytos ist aber die für Xenophanes unplausible spezifische Unterteilung von κινεῖν in verschiedene Veränderungsarten anzunehmen, weshalb seine Erklärung eine anachronistische Projektion darstellt. 310 Vgl. oben Kap. 3.1.1. Außerdem dazu Guthrie, History I, S. 382. 311 Dies scheint Fränkels Hinweis zugrunde zu liegen, vgl. Fränkel, Philosophie, S. 378. 312 Vgl. Guthrie, History I, S. 382. 313 Es sei hier an Mourelatos’ Interpretation des Kinesis-Begriffs bei Homer erinnert, vgl. oben S. 68. 314 Vgl. Lesher, Xenophanes, S. 111: »Unlike the english »move« (but like »push«, »pudge«, »dislocate«), κινέω has a close connection with the initial stage of movement, and relatively less to do with continued, sustained movements […].«

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»Erschütterung« oder dem englischen »disturbance«,315 die ebenfalls den Aspekt ausdrücken, dass ein Faktor von außen auf das betreffende Subjekt einwirkt. Hier zeigt sich eine mögliche inhaltliche Nähe der Idee von κίνησις mit dem Proömium des Thukydides – obwohl in einem völlig anderen Kontext verwendet, scheint für den modernen Interpreten die Übersetzung »Erschütterung«, bzw. im Englischen »disturbance«, gut zu passen. Dies zeigt die Berechtigung der Frage, welche Aspekte des historischen Geschehens Thukydides dazu bewogen haben, diesen Begriff, bis dahin im intellektuellen Diskurs der Naturphilosophen hauptsächlich in Verbindung mit metaphysisch höheren Wesen verwendet, nun in Verbindung mit dem Krieg zu verwenden – und dann auch noch von der μεγίστη κίνησις zu sprechen. Folgt man Heitsch in der Interpretation des μετέρχεσθαί, wonach dieses ausschließlich ausdrücke, der Gott müsse eine Sache nicht »verfolgen« oder besondere Anstrengungen zu ihrer Durchführung unternehmen, so wird der Unterschied zwischen κινούμενος und μετέρχεσθαί noch deutlicher: Das Eine schließt aus, dass der größte Gott bewegt werden kann durch etwas von außen Einwirkendes, das Andere, dass er sich selber bewegen muss, um andere Dinge zu erreichen. Damit können beide Begriffe sowohl im direkten mechanisch-physikalischen, als auch im metaphorischen Sinn in die Beschreibung des Gottes integriert werden. Eine simple Dopplung wird durch die Unterschiedlichkeit des intentionalen (extrinsisch-intrinsisch) Aspekts auch dann vermieden, wenn man eine wörtliche Bedeutung der Bewegungsbegriffe annimmt. In dieser Diskussion zeigt sich, dass eine Interpretation des Kinesis-Begriffs in den vorsokratischen Texten vor allem durch die modernen Unterscheidungen in verschiedene Kategorien Schwierigkeiten bereitet, sodass nicht klar ist, ob das Göttliche sich nicht von A nach B wörtlich »bewegen« oder sich von A zu B »verändern« soll und auf welchen Überlegungen des Xenophanes diese Aussage beruht. Anhand des Kontextes kann hier aber plausibel gemacht werden, dass es der Aspekt der Außeneinwirkung auf den größten Gott sein könnte, der der Formulierung »κινούμενος οὐδέν« primär zugrunde liegt, womit aber gleichzeitig, als Konsequenz dieses Gedankens, alle Formen von Bewegung ausgeschlossen werden, und damit auch die qualitative und quantitative Veränderung sowie Werden und Vergehen, aber auch Ortsbewegung. Es ist zu vermuten, dass »κίνησις« für die Menschen dieser Zeit, unabhängig vom jeweiligen Prozess, auch immer eine Einwirkung impliziert hat, die der Kontrolle des jeweils Betroffenen entzogen ist und dass sich deswegen eine κίνησις für das Göttliche verbot, sollte es allen anderen überlegen und übergeordnet sein.

315 Vgl. Guthrie, History I, S. 382.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

Die Beeinflussung von außen verbietet sich für die Definition eines göttlichen Wesens, womit sich Xenophanes’ größter Gott nicht nur durch das Hin- und Hergehen von den Göttern des Epos abhebt, sondern auch durch seine vollständige Autarkie, die für ihn beispielsweise den Schlaf des Zeus auf dem Ida unmöglich machen würde.316 Interessanterweise scheint diese Autarkie im Bezug auf den Prozess der Bewegung nochmals explizit gemacht werden zu müssen; sie scheint in den vorherigen Fragmenten noch nicht impliziert zu sein, obwohl dort bereits die Allmacht des Göttlichen ausgedrückt wurde. Daher kann vermutet werden, dass selbst eine göttliche Allmacht, die unvergleichliche Größe, unbeschränktes Wissen, Sehen, Hören und Handeln beinhaltet, noch nicht per se Freiheit von äußerem Einfluss, hier von einem Prozess der κίνησις, zu garantieren scheint. Dass Xenophanes es für nötig hielt, den Aspekt der Nicht-Beeinflussung durch Bewegung gesondert anzusprechen, lässt auf eine Besonderheit dieses Prozesses schließen: Allein durch die Größe des Gottes, seine Überlegenheit allen anderen Göttern und Menschen gegenüber und seine allmächtigen Fähigkeiten ist noch nicht gesagt, dass er auch über dem Prozess der Bewegung steht und von ihm nicht beeinflusst werden kann. Ex negativo bedeutet dies, dass, wenn sich ­Xenophanes vom Götterbild des Epos absetzen will und damit von der Nähe der Götter zu den Menschen, dieser Aspekt der Unbeweglichtkeit oder Freiheit von Bewegung so bedeutend gewesen sein muss, dass seine Erwähnung zur Definition einer anderen, neuen Göttlichkeit beitragen konnte. Wenn alle genannten Eigenschaften nur der größten Göttlichkeit zukommen können, die sich dann auch von Zeus abhebt, so zeugt dies ex negativo von dem Grundgedanken, dass niemand nicht bewegt werden kann, wenn er nicht das höchste göttliche Wesen ist und dies wiederum lässt sich auf die Überzeugung zurückführen, dass κίνησις überall und immer wirkt, also ein Grundprinzip des Kosmos ist, dessen Einfluss einzig und allein der höchste Gott entzogen ist.317 Es lassen sich somit zentrale, bereits bekannte Aspekte der Charakteristik der κίνησις auch bei Xenophanes finden. Der Ausschluss von der Wirkung von κίνησις für den höchsten Gott zeugt von der Wahrnehmung der Bewegung als großer, ständig wirkender Kraft, die immer und überall präsent ist und Dinge erfasst – dies zeigt sich auch in der Konnotation der Einwirkung von außen. Es steht außerdem zu vermuten, dass, wenn die Gottesbeschreibung in einem Zusammenhang zur Kritik des Anthropomorphismus der Zeit steht (B11–16),318 jedes ihrer Elemente eindeutig nur dem einen Gott zukommen kann und auf niemanden, bzw. nichts anderes, übertragen werden kann. Diese Annahme wird 316 Die Ablehnung einer solchen Möglichkeit entspricht der oft zitierten Argumentation des Xenophanes zur Ableitung der Eigenschaften seiner göttlichen Macht via negationis, vgl. Schäfer, Xenophanes, S. 150; Heitsch, Xenophanes, S. 145; Rapp, Vorsokratiker, S. 94. 317 Vgl. dazu auch Schäfer, Xenophanes, S. 185–187. 318 Vgl. Schirren, Xenophanes, S. 354; Schäfer, Xenophanes, S. 150.

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durch das Fehlen ausführlicher Argumentationen, wie sie in anderen Kontexten bei Xenophanes zu finden sind (z. B. B15, B34)319 gestützt. Vor dem Hintergrund seiner dichterischen Tätigkeit320 ist also davon auszugehen, dass die Attribute in Zusammenhang mit der Kritik am Götterbild des Epos so gewählt sein mussten, dass ihre Legitimation sich bereits daraus ergibt, dass sie den größten Gott vollständig göttlich machen und von allem »Menschlichen« abheben. Dies kann am besten dadurch erreicht werden, dass Attribute gewählt werden, die eindeutig und indiskutabel auf Menschen und alles andere Existierende nicht zutreffen können.321 So hört der Mensch nur mit dem Ohr und sieht nur mit dem Auge, während Xenophanes’ Gott all diese Prozesse als »ganzes« vollführt und es keine einzelnen Sinnesorgane, wie sie alle Menschen haben, bei ihm geben kann. Das Publikum des Dichters muss einer solchen Argumentation folgen können und daher müssen die für das Göttliche, das singulär ist, negierten Merkmale logischerweise für alles andere gelten. Wenn nun für das Göttliche die aktive Bewegung und das in-Bewegung-versetzt-Werden ausgeschlossen sind, so bedeutet dies, dass Xenophanes diese Aussage auf der Basis einer allgemeinen Überzeugung seiner Rezipienten, dass alles Vorstellbare von Bewegung beeinflusst wird, aufbauen kann.322 Es scheint sich hier erneut eine Vorstellung von κίνησις anzudeuten, in der sich der Mensch zwangsläufig mit diesem Prozess auseinandersetzen muss, da eben alles im Kosmos, bis auf das höchste Göttliche, davon betroffen und beeinflusst ist. Somit gilt es zu überprüfen, inwiefern diese Vorstellung von κίνησις auch bei Thukydides verarbeitet sein könnte, indem man beispielsweise betrachtet, ob den Menschen eine Wahl zugesprochen wird, von der μεγίστη κίνησις erfasst zu werden. Zeigt sich, dass auch Thukydides nicht von einer freien Entscheidung der historischen Akteure über diesen Aspekt ausgeht, so spricht dies für die Existenz einer gemeinsamen Idee von κίνησις in der intellektuellen Diskussion der Zeit. Bei Xenophanes findet sich das erste Zeugnis für ein Postulat der Freiheit von Bewegung als definitorischem Element des Göttlichen neben den übrigen Merkmalen, durch die er seine Göttlichkeit vom Götterbild des Epos abhebt.323 Er ist damit auch die erste Quelle, in der die Konstruktion eines unbewegten Elementes explizit zu finden ist. Es liegt nahe in Verbindung mit B25 (ἀπάνευθε πόνοιο νόου φρενὶ πάντα κραδαίνει) eine enge Parallele zum Nous des Anaxa319 Vgl. Schirren, Xenophanes, S. 351 zur Werksproblematik. 320 Vgl. Gemelli Marciano, Vorsokratiker I, S. 255–257; Schirren, Xenophanes, S. 341–342. 321 Vgl. Wilkinson, Reconsidering, S. 68–69. Dies passt ebenso zur Aussage von Fragment B23, dass das Göttliche den Menschen weder an Gestalt noch an νόημα gleich sei: ebenso ist es ihnen nicht gleich in seinem Verhältnis zur κίνησις. 322 Zur Dichtung und Öffentlichkeit vgl. Wilkinson, Reconsidering, S. 65–67. Zum Verhältnis von Dichter und Publikum vgl. ebd. S. 77. 323 Vgl. Gemelli Marciano, Vorsokratiker I, S. 268.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

goras und zum unbewegt Bewegenden des Aristoteles zu sehen,324 jedoch ist es unklar, ob und inwieweit sich πάντα κραδαίνει auf die κίνησις bezieht. Letztlich lässt es sich aufgrund der Quellenlage nicht beurteilen, ob für Xenophanes das Göttliche Ursprung der Bewegung allgemein ist325 oder ob πάντα κραδαίνει eher eine Reminiszenz an das Epos darstellt.326 Eine explizite und detaillierte mechanisch-kausale Beziehung zwischen dem Göttlichen und der Bewegung, wie sie bei Anaxagoras auftritt, ist jedenfalls in den überlieferten Fragmenten nicht zu finden. Für den vorliegenden Kontext von großer Bedeutung ist die Tatsache, dass die Bewegungsprozesse explizit ausgeschlossen werden müssen – dass also im Denken der Zeit die Fähigkeit, alles zu lenken und zu »erschüttern« noch nicht automatisch dazu führt, dass man selbst von diesen Prozessen frei ist. Damit wäre zu vermuten, dass die κίνησις auch als ein schwer kontrollierbarer Prozess wahrgenommen wurde, der auch diejenigen, die ihn verursachen, erfassen kann: Selbst bei Anaxagoras wird dies ja nicht explizit ausgeschlossen.327 Gerade in der Darstellung der Athener bei Thukydides bezüglich eines geplanten Angriffs auf Boiotien in Buch IV, 76–96, wird dieser Aspekt ebenfalls deutlich werden.328 Der Charakter des Unvorhersehbaren und Chaotischen, welches sich einer vollständigen Kontrolle entzieht, kommt hier zum Vorschein, eine Konnotation, die auch bei Thukydides wiedergefunden werden kann, wenn beispielsweise in III, 75 die κίνησις der Oligarchen eingeschränkt werden soll, damit diese keine Attacken gegen das Volk mehr ausführen können.329 Dies würde nämlich zu unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Konsequenzen führen, wie es das Anzünden der Häuser rund um den Marktplatz darstellte (III, 74), das nur durch günstigen Wind nicht zur Katastrophe führte. Mit Blick auf den angenommenen Rezipientenkreis kann davon ausgegangen werden, dass dieser für ein solches Konzept offen war und dass das Merkmal der Unbewegtheit, der Freiheit vom Einfluss der Bewegung, eine gewisse Überzeugungskraft bezüglich der unvergleichlichen »Größe« des Göttlichen beim Publikum haben konnte.330 Ohne ein solches Denken wäre der Zusatz des κινούμενος οὐδέν überflüssig, wollte Xenophanes sich nur gegen das homerische Götterbild der notwendigen physischen Ortsbewegung wenden, für das das οὐδὲ μετέρχεσθαί ausreichend gewesen wäre.331 Es kann daher vermutet werden, 324 Vgl. Lesher, Xenophanes, S. 109. 325 So z. B. Schäfer, Xenophanes, S. 178–183. 326 Vgl. Guthrie, History I, S. 374; KRS , S. 170 Anm. 3. 327 Vgl. oben Kap. 3.3.3. 328 Vgl. unten Kap. 4.2.3. 329 Vgl. unten Kap. 4.3.1. 330 Zum Verhältnis von Menschheit-Göttlichkeit-Natur vgl. Wilkinson, Reconsidering, S. 84–85. 331 Vgl. Heitsch, Xenophanes, S. 157–158, der dabei nicht auf die Doppelung der Bewegungsnegation eingeht. Schäfer, Xenophanes, S. 171 mit Hinweis auf Calogero, Senofane, S. 34.

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dass Xenophanes das κινούμενος οὐδέν in seiner passivischen Konnotation dazu nutzt, um dem Publikum seine Göttlichkeit als diesem Prozess generell enthoben darzustellen. Wenn er dabei dessen Singularität und seine Differenz zur Sphäre der Menschen unterstreichen will, so könnte er umgekehrt auf eine solche Vorstellung reagiert haben, dass es im Denken dieser Zeit nicht möglich war, sich etwas vorzustellen, was unbeeinflusst vom Prozess der Bewegung ist, was die Überlegenheit seiner Göttlichkeit den herkömmlichen epischen Göttern gegenüber unterstreichen würde. Damit sind in der Verarbeitung des κινεῖν durch Xenophanes ebenfalls Aspekte der Charakteristik zu finden, die auch in den übrigen Texten der Vor­ sokratik zum Vorschein kommen, Omnipräsenz und immerwährendes, ständiges Wirken, Erfassung aller Dinge als ein Wirken von außen und größte Kraft, die nur vom »höchsten« Göttlichen noch übertroffen wird.

3.4.3 Alles im Fluss? – Heraklit Obwohl Bewegung und Veränderung zentrale Elemente bestimmter Aspekte der Philosophie332 Heraklits darstellen, bezeugt die Überlieferung den KinesisBegriff333 nur für das Fragment B125, die Zersetzung des Gerstentranks, des κυκεών, wenn er nicht bewegt wird: καὶ ὁ κυκεὼν διίσταται κινούμενος. Aufgrund dessen konzentriert sich der hier gewählte philologische Ansatz vor allem auf dieses Fragment. Dennoch sollen auch andere Bestandteile seiner Lehre im Kontext ihrer Überlieferung betrachtet werden, um einerseits die Zentralität des Prozesses für bestimmte Aspekte seiner Philosophie aufzuzeigen und um andererseits in diesem Rahmen auch zu versuchen, zentrale Assoziationen und Charakteristika der Bewegung herauszuarbeiten, auch wenn diese nicht direkt 332 Der Begriff der Philosophie ist hier der Einfachheit halber gebraucht, der die verschiedenen Ansichten, Lehrsätze und alle Arten von Aussagen in den Fragmenten einschließt. Ich bin mir beim Gebrauch dieses Begriffs bewusst, dass die These einer einheitlichen Lehre Heraklits, die in einem höherem Grade ausgearbeitet war als die überlieferten Meinungen und Aphorismen, umstritten ist (G. S. Kirk, Heraclitus. The Cosmic Fragments, Cambridge 1954, S. 45; Guthrie, History I, S. 407, Rapp, Vorsokratiker, S. 64; D.  Bremer / R . Dilcher, Art. »Heraklit«. In: Flasher et al. (Hgg.), Frühgriechische Philosophie, S. 606). Gleichzeitig kann bei einer Sammlung in einem Buch von einer Kohärenz der Gedanken und verschiedenen Bezügen zwischen den überlieferten Aussagen ausgegangen werden (vgl. Bremer / Dilcher, Heraklit, S. 601 und 607 über den »diskursiven Zusammenhang). Diesen Umständen wird mit der Formulierung »bestimmte Aspekte« Rechnung getragen. 333 B. Snell, Die Sprache Heraklits (Hermes 61 (1926)), S.355, scheint das Fragment in seiner Zusammenstellung übersehen zu haben: »Das Wort κινεῖν, das man doch erwarten würde bei einem, dessen Erkenntnis sich auf die Veränderung der Außenwelt richtet, fehlt bei ihm wie auch jede Ableitung von diesem Wort.«

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

mit dem Kinesis-Begriff in Verbindung stehen. Diese Untersuchung ist auch bedeutend für die Betrachtung des eigentlichen Kinesis-Begriffs in Fragment B125 und erfolgt daher hier zuerst. Da Heraklit jedoch bereits in der Antike für seine schwer verständliche Sprache bekannt war,334 ist bei der hier vorgenommenen Betrachtung der hohe Grad an Interpretation, der notwendig ist, um bestimmte Aussagen zu deuten, immer zu bedenken. Es wird daher an den entscheidenden Stellen, an denen Aussagen auf bereits bestehende Interpretationen aufbauen, auf diese hingewiesen werden. Schon die Annahme, dass Bewegung und Veränderung zentrale Bestandteile in Heraklits sog. »Flusslehre«335 gewesen seien, beruht auf einer Interpretation Platons. Im Dialog Kratylos erklärt Sokrates, Heraklit habe mit dem Flussfragment (B91: ποταμῷ γὰρ οὐκ ἔστιν ἐμβῆναι δὶς τῷ αὐτῷ – »Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen.«) alle seienden Dinge gemeint, die sich änderten (Krat. 401d). Darauf stützt sich die spätere Interpretation, Heraklit habe die These ununterbrochener Bewegung vertreten, wie sie sich auch bei Aristoteles (z. B. Phys. 253b, 9) finden lässt.336 Zwei weitere Fragmente berichten von einer auf den Fluss bezogenen Aussage des Heraklit: Fragment B49a, welches B91 in paradoxer Weise wiedergibt (»In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht.«) und Fragment B12, welches im Unterschied zu B91 und B49a die Identität des Flusses durch das Fließen des Wassers postuliert (»Denen, die in dieselben Flüsse steigen, fließen andere und andere Wasser zu.«). Eine Reihe textkritischer Untersuchungen hat nur das letzte Fragment als authentisches Zeugnis erwiesen.337 Der antiken Interpretation und ihrer modernen Unterstützung338 widersprach B. Snell339 und Kirk erläuterte das Flussfragment in dem Sinne, dass Heraklit das Nebeneinander von Veränderung (das fließende Wasser) und Stabilität (der Fluss als Fluss) hier illustrieren wollte.340 Daraus entstand in jüngerer Zeit eine abgeschwächte Form der Flusslehre Hera­ klits, die in diesem Nebeneinander den Inhalt des Logos aus Fragment B1 erkennt, der sich »niemals ändert«: Demnach liege die Gesetzmäßigkeit gerade darin, dass die Dinge in ihrer Identität auf ständigen Wandel und immerwährende

334 Vgl. Arist. Rhet. 1407b, 11; zur Diskussion Guthrie, History I, S. 410–411; Rapp, Vor­ sokratiker, S. 61. 335 Rapp, Vorsokratiker, S. 73. 336 Vgl. G. S. Kirk, Natural Change in Heraclitus (Mind 60 (1951)), S. 35; Guthrie, History I, S. 450–451. 337 Zur Echtheit des Fragments vgl. Guthrie, History I, S. 488–492, zur Diskussion der verschiedenen Flussfragmente Kirk, Heraclitus, S. 367–375; zur Forschungsdiskussion Bremer / Dilcher, Heraklit, S.  618. 338 So z. B. Guthrie, History I, S. 452. 339 Snell, Sprache, S.353–381. 340 Vgl. Kirk, Heraclitus, S. 377 und Change, S. 191.

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Bewegung angewiesen seien.341 Damit habe Heraklit, so J.-E. Pleines, erkannt, dass Sein ohne Werden und Werden ohne Sein nicht denkbar seien.342 In der Forschung bildet die Betrachtung der »Flusslehre« nur einen Zweig der Heraklit-Interpretation, neben Untersuchungen zur Bedeutung des Logos, des Maßes, der Einheit der Gegensätze, des kosmischen Feuers, der Psyche und weiterer Themen.343 Während es bereits in Bezug auf diese zentralen Themen keinen Konsens über eventuelle Zusammenhänge, ihre Bedeutung und ihre philosophisch-argumentative Ausgestaltung in der Forschung gibt,344 so wiederholt sich diese Vielfalt der Interpretationen auch im Kleinen angesichts der Erläuterung der »Flusslehre«.345 Die oben dargestellte Interpretation des Flussfragments B12, die ein Gleichgewicht und eine Stabilität der Dinge in ständiger Veränderung (das Metron, bzw. die Regularität des Wandels, ist die Stabilität des Seins dessen, was im Wandel ist) postuliert, hat jedoch den größten Zuspruch erfahren346 – sie steht außerdem in engem Zusammenhang zum Fragment B125, wie sich in der folgenden Betrachtung deutlicher zeigen wird.347 Die philologischen Schwierigkeiten des Fragments B125 sind in der Forschung ausführlich diskutiert worden,348 vor allem bezüglich der Korrektion Bernays zu ,349 die im Text des Theophrast nicht zu finden ist. Mouraviev konnte aber nachweisen, dass das Fehlen der Negation dem Kontext des theophrastischen Texts geschuldet ist und sich eben keine widersprüchliche Aussage ergebe, die den Sinn unverständlich verzerre.350 Dadurch wird hier der in der Ausgabe von Diels-Kranz angegebene Text zugrunde gelegt: καὶ ὁ κυκεὼν διίσταται κινούμενος – »Und auch der Gerstentrank wird zersetzt, wenn er nicht bewegt wird.« 341 Vgl. Kirk, Heraclitus, S. 378; Guthrie, History I, S. 468 und 487, Rapp, Vorsokratiker, S. 77–79. 342 J.-E. Pleines, Heraklit. Anfängliches Philosophieren, Hildesheim / Zürich / New York 2002, S. 81. 343 Vgl. Rapp, Vorsokratiker, S. 65–73 und 79–90; Bremer / Dilcher, Heraklit, S. 607–635. 344 Einen Überblick zu den verschiedenen Positionen und ihren Vertretern bieten Bremer / Dilcher, Heraklit, S.  607–635. 345 Vgl. ebd., S. 618–619. 346 Vgl. Kirk, Change, S.191; Ders., Heraclitus, S. 366–384; D.  Wiggins, Heraclitus’ conceptions of flux, fire and material persistence. In: M. Schofield / M. C. Nussbaum (edd.), Language and Logos. Studies in Ancient Greek Philosophy presented to G. E. L. Owen, Cambridge 1982, S. 9–10; Bremer / Dilcher, Heraklit, S. 619. 347 Vgl. Kirk, Heraclitus, S. 256; Guthrie, History I, S. 449; Bremer / Dilcher, Heraklit, S. 619. 348 Kirk, Heraclitus, S. 255; M. M. Mackenzie, The Moving Posset Stands Still: Heraclitus Fr. 125 (AJPh 107 (1986)), S. 542–551; N. van der Ben, Theophrastus, De vertigine, Ch. 9, and Heraclitus Fr. 125 (AJPh 109 (1988)), S. 397–401; S. N. Mouraviev, The Moving Posset Once Again: Heraclitus Fr. B125 in Context (CQ 46, 1 (1996)), S. 34–43. 349 J. Bernays, Heraclitea. (Diss. Bonn, 1848), S. 6–7. 350 Vgl. Mouraviev, Moving Posset, S. 42.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

Der κυκεών besteht aus Gerste, geriebenem Käse und Wein. Da sich der Käse und die Gerste im Wein nicht lösen, muss er umgerührt werden, bevor er getrunken werden kann. Dabei muss der Trank noch getrunken werden, während er sich bewegt, da sich die schwereren Bestandteile direkt wieder absetzen, sobald die Bewegung nachlässt.351 Interpretierbar im Hinblick auf die Bedeutung von κινούμενος wird das Fragment erst in seinem Kontext der herakliteischen Aussagen zur Einheit und zur Identität: In einem bildlichen Vergleich wird hier die Abhängigkeit der Einheit und Identität von Veränderung und Bewegung veranschaulicht, womit der Vergleich zur Illustration des Flussfragmentes wird.352 Der Trank entsteht erst durch die Vermischung der verschiedenen Dinge und diese Vermischung entsteht durch Bewegung.353 In einer solchen Allegorie wird der κυκεών zum Sinnbild für alle Dinge in der Welt, die in ihrer Identität auf Bewegung angewiesen sind.354 Diese Bewegung wirkt, wie es auch beim Trank der Fall ist, von außen auf die unterschiedlichen Bestandteile ein: κινούμενος, »er wird bewegt«. Übertragen auf andere Konzepte, die bei Heraklit für den Prozess von Entstehung verantwortlich sind, beispielsweise den Krieg als »Vater aller Dinge« (B53) und den Streit (B80)355, kann der Prozess der Bewegung auch für diese als Grundlage ihrer Funktion der Erschaffung von Dingen angenommen werden, wenn B125 als Bildnis für die Wirkungsweise von Bewegung allgemein steht. Das Verständnis von Krieg und Streit als einem Aufeinandertreffen von Gegensätzen basierend auf Unterschieden, legt den Vergleich zum Trank, der aus unterschiedlichen Bestandteilen besteht und erst in ihrer Zusammenführung seine spezifische Identität erhält, nahe. Aufbauend auf diesem Vergleich wird dann Bewegung als der Prozess wahrgenommen, der verantwortlich dafür ist, die Gegensätze zusammenzubringen und damit erst die Erschaffung der Dinge möglich macht.356 Über das Bild des Mischens durch Umrühren wird damit für Bewegung allgemein die Charakteristik der Fähigkeit zur Erschaffung, die sich bereits bei Anaximenes, Anaximander, Empedokles und Anaxagoras zeigte, erneut deutlich. Ebenfalls kann, wenn die Entstehung des Trankes sinnbildlich für die Erschaffung der Dinge durch Krieg und Streit steht, die Absolutheit dieser Aussagen in ihrer Formulierung (πάντων πατήρ) auf die unbegrenzte Reichweite der Bewegung bezogen werden.357 Des Weiteren weist die Übertragung auf den Krieg und den Zwist in B80 auf die Omnipräsenz der Bewegung 351 Vgl. Kirk, Heraclitus, S. 256. 352 Vgl. K. Held, Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomologische Besinnung, Berlin / New York 1980, S. 329. 353 Vgl. ebd. S. 329. 354 Vgl. Rapp, Vorsokratiker, S. 79. 355 Vgl. Kirk, Heraclitus, S. 256; Guthrie, History I, S. 466. 356 Vgl. Wiggins, Flux, S.24. 357 Vgl. KRS , S. 194.

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hin,358 wenn alle Dinge ohne Ausnahme aus diesen entstehen. Außerdem werden die Konzepte des Schuldens (χρεών) und der Gerechtigkeit (δίκην) erwähnt, aufgrund derer alles geschieht: Dies erinnert an die Verknüpfung der Bewegung (als Grundprozess dieser Entstehung) mit Konzepten wie der Ananke oder der Dike bei Parmenides als der Bewegung übergeordnet. Parmeggiani weist auf einen möglichen inhaltlichen Bezug zwischen Heraklit und Thukydides hin, der sich durch die Verbindung von Krieg, κίνησις und ἀνάγκη ergebe und macht dabei das Wechselverhältnis von κίνησις und ἀνάγκη, das sich bereits bei Parmenides abzeichnete, nochmals deutlich.359 Somit ist auf die Gestaltung dieses Wechselverhältnisses bei Thukydides besonders einzugehen, scheint hier doch eine weitere mögliche Verknüpfung der thukydideischen Historiographie und der vorsokratischen Philosophie vorzuliegen, die auf Grundlage des gemeinsamen (Nach-)Denkens über κίνησις analysiert werden kann und die These plausibler erscheinen lässt, dass sich Thukydides mit einem in seinem Werk möglicherweise verarbeiteten Konzept von μεγίστη κίνησις an einem intellektuellen Diskurs der Zeit beteiligt. Nachdem die Charakteristika der Omnipräsenz, Macht und unbegrenzter Reichweite plausibel gemacht werden konnten, ist die Frage nach dem Ursprung und der Richtung der Bewegung zu stellen. Für den Ursprung können weder im Fragment B125 noch in den übrigen Fragmenten, die durch das Bild in B125 verdeutlicht werden sollen, Anhaltspunkte gefunden werden, die Bewegung wird als natürlich gegeben vorausgesetzt. Dies würde mit der Deutung Kirks übereinstimmen, dass das in B125 veranschaulichte Konzept dem Logos aus B1 und dem Kosmos aus B30 entspräche.360 Diese sind immer und uneingeschränkt gültig (γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον (B1), ἦν ἀεὶ (B30)) und daher überzeitlich. Die κίνησις als der grundlegende Prozess zur Umsetzung dieser Konzepte muss es daher auch sein und da auch dem Kosmos jegliche Geschaffenheit abgesprochen wird (οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν), so gilt dies ebenfalls für die Bewegung.361 Aus dieser Perspektive erscheint die Annahme der Ewigkeit für die Bewegung bei Heraklit plausibel, da ansonsten, wenn sie dieses Attribut nicht hätte, der Logos seine uneingeschränkte Gültigkeit verliert.362 Dies sollte dann jedoch nur als eine zeitliche Attribuierung verstanden werden, ohne die Implikationen der »ewigen Bewegung« des Peripatos. Zur Richtung der Bewegung gibt es unterschiedliche Interpretationen, zumal das Wort »Richtung« hier irreführend sein kann und die Frage eher lauten müsste, ob der Bewegung ein geordneter Prozess zugrunde liegt oder sie mit 358 359 360 361 362

Vgl. Guthrie, History I, S. 468. Vgl. Parmeggiani, Methodology, S. 236. Kirk, Natural Change, S. 192; Ders., Herclitus, S. 256; Guthrie, History I, S. 468. Zur Gleichsetzung von Krieg und Logos vgl. Guthrie, History I, S. 447. Vgl. Rapp, Vorsokratiker, S. 77.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

chaotischen Abläufen verbunden wird. Aus den antiken Interpreten kann die Tendenz herausgelesen werden, Heraklit eine Vorstellung chaotischer Bewegung zuzuschreiben: So wird in Platons Theaitetos in Bezug auf Heraklit angemerkt, dass durch die Lehre der ständigen Bewegung jegliches Erkennen unmöglich sei, da die Bewegung keinerlei Ausgangs- oder Endpunkt habe und damit keine Richtung erkennbar sei.363 Ebenso scheint Lucian eine solche chaotische Bewegung impliziert zu haben, wenn er in seiner Vit.auct. 14 Heraklit auf den Gerstentrank hinweisen lässt: ὅτι ἔμπεδον οὐδέν, ἀλλ’ ὅκως ἐς κυκεῶνα τὰ πάντα συνειλέονται.364 Die moderne Forschung sieht jedoch in der Stabilität des Logos und der Verknüpfung mit dem Kosmos-Begriff Hinweise auf eine geordnete Bewegung, die in den vom Logos vorherbestimmten Maßen abläuft und dadurch kontrolliert wird.365 Aufgrund des bruchstückhaften Charakters der Aussagen in den verfügbaren Fragmenten ist aber eine eindeutige Antwort unmöglich, da diese in hohem Maße von der Interpretation anderer Konzepte abhängt. Es ist indes zu vermuten, dass die Entwicklung des Logos-Konzeptes als einer Regelhaftigkeit des Bewegungsprozesses auf gängige Vorstellungen von Bewegung und Veränderung assoziiert mit Chaos, Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit zurückgeht, ähnlich, wie es bei der Attribuierung des Seins durch Parmenides erkennbar ist. Heraklits Logos und das Postulat einer Regelmäßigkeit der Bewegung qua ihrer ständigen Präsens könnten damit als Versuch gedeutet werden, der zeitgenössischen Auffassung von Bewegung als »chaotisch« eine intellektuelle Perspektive entgegenzustellen, die einen kognitiven Umgang mit diesem Prozess möglich machen sollte. Diese Idee einer Bewegungskonzeption, die eine solche Charakteristik zur Grundlage einer Formulierung von Regelund Gesetzmäßigkeiten macht, wird bei Thukydides im Rahmen der Konzeption des »Besitzes für immer« näher zu untersuchen sein unter der Frage, inwiefern Thukydides seinen Anspruch des »Besitzes für immer« mit dem Postulat der μεγίστη κίνησις verbindet. Dies könnte z. B. vor dem Hintergrund geschehen, dass auch er von der Zeitlosigkeit und Ewigkeit der κίνησις ausgeht, wodurch ihre Beschreibung im Werk bereits einen Aspekt des »Besitzes für immer« darstellen könnte. Für den Moment gilt es jedoch festzuhalten, dass Heraklits Umgang mit dem Prozess der Bewegung die bisher herausgearbeiteten Aspekte der Vorstellung von κίνησις (Omnipräsenz, unbeschränkte Macht über und unbeschränkter Einfluss auf die Dinge im Kosmos, Ewigkeit) stützen kann. Neu ist bei Heraklit im Vergleich zu den Milesiern der Versuch, aus den Charakteristika der Bewe363 Plat. Theat. 182c. 364 Dazu auch Kirk, Heraclitus, S. 257. 365 Vgl. ebd.; Ders., Natural Change, S. 193 und 196; Guthrie, History I, S. 452 und 465; KRS , S. 197; Held, Heraklit, S. 330, für ein Bild von Bewegung im Rahmen einer Periodizität, aber gegen die Annahme einer Kreisbewegung.

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gung selbst und der Ewigkeit ihres möglichen Auftretens eine Regelmäßigkeit zu entwickeln, die zur Erklärung der Welt und der Prozesse in ihr genutzt werden kann.366 Heraklits Perspektive, die Beständigkeit der Bewegung selbst zur Grundlage von Gesetzmäßigkeiten zu machen, markiert einen ersten Schritt in Richtung eines neuartigen Umgangs mit dem Phänomen der Bewegung und ihrer Omnipräsenz. Die Tendenz, diese phänomenologische Omnipräsenz der Bewegung zur Grundlage einer Theorie über die Welt und ihre Beschaffenheit zu machen, findet in der Konzeption des Nous des Anaxagoras als erster Formulierung einer Bewegungsursache und dem »Bewegungssystem« der Atomisten einen vorläufigen Höhepunkt. Inwieweit sich Thukydides möglicherweise in diese Entwicklung einreiht, wird an gegebener Stelle zu analysieren sein.

3.4.4 Die Atomisten – Leukipp und Demokrit Aufgrund der Quellenlage, die die eindeutige Zuordnung einer bestimmten philosophischen Lehre zu einem der beiden Hauptvertreter des antiken Atomismus, der unterschiedlichen Berichte der Doxographie geschuldet, schwierig macht,367 werden diese hier gemeinsam behandelt als »Atomisten«. Diese Subsumtion bietet sich durch die inhaltliche Nähe der Systeme, die in den doxographischen Berichten zum Vorschein kommt, an. Es entsteht aus der Kombination von gewählter Untersuchungsmethode und Überlieferungslage für die Atomisten ein spezieller Fall, der die Struktur der nachfolgenden Betrachtung vorgibt: Zwar gibt es keine authentischen Fragmente zur Atomlehre,368 die Zentralität der Bewegung ist jedoch für den Hauptaspekt der Lehre der seienden Dinge durch die Doxographie und die antike Auseinandersetzung sehr gut belegt (u. a. Aristoteles, Diogenes Laertius, Simplikios). Für Demokrit allein sind zwei Fragmente belegt, die aufgrund ihres Inhalts und Umfangs sehr aufschlussreiche Ergebnisse für die Untersuchung der Charakteristik des Begriffs bieten, jedoch keinen direk­ten Bezug zur Atomlehre aufweisen: Ein Fragment zur Ordnung durch Bewegung (DK68 B164) und eines zur Seele (DK68 B191). Es ergibt sich daraus für die Untersuchung folgende Struktur: Im ersten, allgemeineren Teil, wird überblicksartig versucht, die Zentralität der Bewegung für die Lehre des 366 Vgl. Kirk, Natural Changes, S. 193. 367 Vgl. G. Rechenauer, Art. »Leukipp und Demokrit«. In: Flasher et al. (Hgg.), Frühgriechische Philosophie, S. 833; E. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer Geschichtlichen Entwicklung 1,2 (Nachdruck der Ausgabe v. W. Nestle Leipzig 61920), Darmstadt 71963, S. 1043; Warren, Presocratics, S. 153; zu Leukipp speziell D. Graham, Leucippus’s Atomism. In: Curd / Graham (eds.), Presocratic Philosophy, S. 333–352. 368 Vgl. C. C. W. Taylor, The Atomists: Leucippus and Democritus. Fragments. A Text and Translation with a Commentary by C. C. W. Taylor, Toronto 2016, S. 159.

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Die κίνησις in der vorsokratischen Philosophie

Atomismus aus der indirekten Überlieferung genauer herauszuarbeiten und aus dieser Zentralität auf eventuell hervorstechende Charakteristika der Bewegung im Atomismus zu schließen, die im Anschluss mit den bereits vorhandenen Ergebnissen verglichen werden können. In einem zweiten Teil sollen die beiden Fragmente des Demokrit mittels des bekannten philologischen Ansatzes näher untersucht werden, der die zugrundeliegende Charakteristik des Kinesis-Begriffs deutlich machen wird. Es ist darauf hinzuweisen, dass besonders dem zweiten Teil der Untersuchung kein Erkenntnisinteresse zugrunde liegt, welches genuin dem philosophischen System Demokrits an sich gilt, weshalb wichtige Forschungsfragen im Zusammenhang mit diesen Fragmenten, wie die Interdependenz der Ethik mit der Atomlehre369 oder der Erkenntnistheorie Demokrits,370 hier nur dann zur Sprache kommen, wenn sie für den Gewinn einer Erkenntnis bezüglich der Konnotation des Kinesis-Begriffs und der Bewegung an sich von Bedeutung sind. Die Atome und ihre Bewegung Aristoteles berichtet, Leukipp hätte die Atomlehre aus dem Gedanken heraus entwickelt, die eleatischen Prinzipien mit den Phänomenen der sensiblen Welt zu verbinden (A7).371 Dadurch wurde die Annahme der Leere nötig, um Bewegung möglich zu machen – ein Argument, welches auf die bereits angesprochene Auseinandersetzung des Melissos (DK30 B7) mit dem Postulat der Unbeweglichkeit des Seins bei Parmenides zurückgeht.372 Daneben erfüllen die Atome jedoch die Anforderungen eines ontologischen Kontinuums, wie sie bei Parmenides entwickelt wurden: ungeworden, unvergänglich, unteilbar (daher ἄ-τομον, un-zerschneidbar), voll und unveränderlich,373 mit dem Unterschied, dass die Atomisten ihre unendlich hohe Anzahl angenommen haben, um die Differenzierung der Phänomene erklären zu können374 – und ihre Beweglichkeit. Die Diskussion des Forschungsstandes zur Atombewegung bei Rechenauer375 zeigt, wie schwierig das Konzept der primären Bewegung, d. h. der allgemeinen Bewegung der Atome, die nicht durch das Aufeinandertreffen zweier oder meh369 Zur Überlieferungslage vgl. Rechenauer, Demokrit, S. 834 und zur Forschungsdiskussion S. 838; zum Verhältnis vgl. Zeller, Philosophie I, 2, S. 1120 und 1153; Rechenauer, Demokrit, S. 907–914. 370 Vgl. Zeller, Philosophie I, 2, S. 1125; Rechenauer, Demokrit, S. 896–904; Gemelli Marciano, Vorsokratiker III, Mannheim 2010, S. 526–532. 371 Vgl. KRS , S. 408; Rapp, Vorsokratiker, S. 211–215; Warren, Presocratics, S. 155–159. 372 Vgl. Rechenauer, Demokrit, S. 853; Rapp, Vorsokratiker, S. 215–218. 373 Vgl. Rechenauer, Demokrit, S. 851–852; Rapp, Vorsokratiker, S. 219–225. 374 Vgl. KRS , S. 408 und 415; Rechenauer, Demokrit, S. 853; Rapp, Vorsokratiker, S. 220. 375 Rechenauer, Demokrit, S. 865–869.

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rerer Atome bedingt ist, nachzuvollziehen ist.376 Diese primäre, »präkosmische« Bewegung (als Vorgängerprozess einer Wirbelbewegung und der Bewegung innerhalb von bereits gebildeten Körpern)377 weist in den Testimonien eindeutig die bereits bekannten Charakteristika der κίνησις auf: Sie ist ewig und erfasst alle Atome (A16, 37, 40, 49, 56, 71, 194 Luria378), findet überall und immer statt.379 Aristoteles bemängelt (A6), dass die Atomisten keine Aussagen zum Ursprung und zur Art und Weise der Bewegung gemacht hätten, sie kann daher auch als gegeben angenommen werden und in jede Richtung wirken. Aufgrund der Struktur des Atommodells, nach dem alle Phänomene durch eine Kollision der Atome und ihrer Verbindung entstehen (A7, A57), die wiederum Folgen der ewigen Bewegung sind, zeigt sich eindeutig die Zentralität des Bewegungsprozesses in der Atomlehre.380 In der Synopse der Doxographie bezüglich der Bewegung wird bereits deutlich, wie eng die Vorstellung vor allem der primären, »präkosmischen« Bewegung mit bereits bekannten Vorstellungen der Zeit von κίνησις verknüpft ist. Sowohl die Ewigkeit, die Omnipräsenz, als auch die Omnipotenz zeichnen die Bewegung bei den Atomisten aus. Ebenso ist die Annahme einer natürlichen Bewegung ohne Bewegungsursache bei allen anderen Vorsokratikern, mit Aus-

376 Rechenauer, Demokrit, S. 866. Im Unterschied zu Rapp, Vorsokratiker, S. 227, sehe ich die Möglichkeit, dass Demokrit einen solchen Zustand zumindest theoretisch für möglich gehalten hat. Rapps Einwand trifft jedoch auch nicht den Kern der Frage, der auf die Charakteristik einer solchen Bewegung abzielt und dadurch entsteht, dass die Atomisten eine solche Bewegung, die unabhängig der Impuls-Repuls-Interaktion besteht, für möglich gehalten haben, da ansonsten der erste Zusammenstoß nicht möglich gewesen wäre. Die von Rapp hervorgehobene Ewigkeit der Kollisionen (DK67 A10) ist somit nur Konsequenz der Annahme der Existenz einer solchen Bewegung und sagt über diese selbst nichts aus: die Bewegung der Atome besteht nicht nur aus ihrer Kollision, sondern sie ermöglicht sie erst. Wenn Aristoteles also berichtet, dass für die Atomisten der Zufall (ἀπὸ ταὐτομάτου) für die Bewegung verantwortlich wäre (A69) und ihre Ursache unklar (A18), so ist damit ein Zeitpunkt impliziert, zu dem eine Bewegung besteht, die (noch) nicht durch Kollisionen geprägt ist (ebenso Diogenes Laertius in A1). Somit kann also von zwei verschiedenen Bewegungsabläufen und -prozessen in der Atomlehre gesprochen werden. Damit ist ein hermeneutischer Unterschied zwischen der primären und der sekundären Bewegung möglich, der jedoch, und hier gebe ich Rapp Recht, für Demokrits mechanisches System der Atombewegung keine Rolle gespielt haben muss in dem Sinne, als dass dieser die Entstehung der Dinge erst durch Kollision geschehen lässt und damit auf die primäre Bewegung nur als ein »Bewegungspotential« angewiesen ist. Vgl. auch KRS , S. 424 zum Unterschied von »original motion« und »collision«. 377 Zur Einteilung siehe V. E. Alfieri, Atomos idea. L’origine del concetto dell’atomo nel pensiero greco, Galatina ²1979, S. 87. 378 S. J. Luria (Hg.), Democritea, collegit, emendavit, interpretatus est S. L., Leningrad 1970. 379 Vgl. Rechenauer, Demokrit, S. 865. 380 Vgl. auch Ders., Demokrits Seelenmodell und die Prinzipien der atomistischen Physik. In: D. Frede / B. Reis (edd.), Body and Soul in Ancient Philosophy, Berlin 2009, S. 127.

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nahme vielleicht des Anaxagoras,381 zu finden, selbst in der Attribuierung der Unbeweglichkeit durch Parmenides. Eine weitere Parallele zu Heraklit, aber auch zur Konzeption bei Parmenides, bildet das Fragment DK67 B2, wo es zu Leukipp (und auch zu Demokrit) heißt: οὐδὲν χρῆμα μάτην γίνεται, ἀλλὰ πάντα ἐκ λόγου τε καὶ ὑπ’ ἀνάγκης »Nichts geschieht einfach so, sondern alles aus einem Grund und aufgrund eines Zwangs.«

Bezogen auf die Existenz einer immerwährenden Bewegung, die auf die Ananke zurückgeführt wird, kann dieses Fragment die Nähe zur Verarbeitung von Bewegung bei Heraklit und Parmenides zeigen, die ebenfalls diese Konzepte in Verbindung mit der Bewegung angeführt haben. Der Umstand, dass die Ananke bei Parmenides jedoch dafür verantwortlich war, dass sich das Sein nicht bewegt, schwächt das Argument nicht: In der Untersuchung des Parmenides hat sich gezeigt, dass der Formulierung eine Konzeption zugrunde liegt, in der die Ananke über die Wirkung von Bewegung bestimmen kann, und dies kann in beide Richtungen funktionieren, zur Negation von Bewegung genauso wie zu ihrer Entstehung. Eine solche Vorstellung scheint hier wieder zu begegnen – auf ein mögliches Wiederaufgreifen dieser Ananke-Kinesis-Verbindung bei Thukydides ist bereits im Kapitel zu Heraklit eingegangen worden.382 Ebenso könnte die Vorstellung einer Kosmogenese durch die Wirbelbewegung mit Anaxagoras verknüpft sein.383 Anders als bei Anaxagoras wird aber der Wirbel nicht durch die Willenskraft des Nous, sondern durch die Symbiose von Bewegungsprozess und mechanischen Elementen (Diogenes Laertius berichtet nur von der Sammlung von Atomen durch die zufällige Bewegung und aus dieser Sammlung ergebe sich der Wirbel: ἅπερ ἀθροισθέντα δίνην ἀπεργάζεσθαι μίαν (A1)) gebildet. Inwiefern jedoch die Ansammlungen von Atomen für die Richtung der Bewegung zuständig sind, wird nicht gesagt.384 Zum Problem der Bewegungsursache im Atomismus Ebenfalls unklar ist die Antwort auf die Frage, wie die primäre Bewegung der Atome zustande kommt. Die Charakteristik dieser »unbedingten«385 Bewegung hat die Interpretation der Atomisten seit jeher vor eine schwierige Aufgabe gestellt, da die Suche nach ihrer Ursache zwangsläufig auf eine spekulative Inter381 Zur Diskussion, ob die Bewegung schon immer in der Urmasse vorhanden war, vgl. oben Kap. 3.3.2. 382 Vgl. oben Kap. 3.4.3. 383 Vgl. KRS , S. 418. 384 Vgl. ebd. 385 Rechenauer, Demokrit, S. 865.

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pretation hinauslaufen muss: eine communis opinio hat sich daher nicht einstellen können. So hat Zeller in Anlehnung an die Lehre Epikurs das Eigengewicht der Atome386 für ihr »Herunterfallen« im leeren Raum verantwortlich gemacht.387 Ihm folgten Furley388 und indirekt Alfieri,389 der außerdem die Unähnlichkeit der Atome als möglichen Bewegungsgrund angibt390 sowie Potaga.391 Dem widersprachen Brieger und Liepmann insofern, als dass sie eine unregelmäßige, chaotische Bewegung für die Atome annehmen, diese jedoch nur auf Impuls-Repuls-Interaktionen zurückführen,392 und damit das Problem der Ursache der primären Bewegung nicht direkt angingen.393 O’Brien394 und Kayser,395 der wie Löbl396 die Atome als eigenbewegte Materie annimmt,397 konnten weiterhin nachweisen, dass eine βάρος-Eigenschaft der Atome nicht zwangsläufig zu ihrer Fallbewegung führt und damit als Bewegungsmoment ausscheidet. Andere Interpreten haben in der Leere398 und der natürlichen Gegebenheit der Bewegung eine ausreichende Begründung für die Existenz der primären Bewegung gesehen, so Sambursky399 und Guthrie.400 386 Eine ausführlichere Diskussion bei Taylor, Fragments, S. 179–184 und bei KRS , S. 422. 387 Zeller, Philosophie I, 2, S. 1081–1097 mit einer Anmerkung Nestles zu neueren Positionen, S. 1098–1099. 388 D. J. Furley, Aristotle and the Atomists on Motion in Void. In: P. K. Machamer / R . G. Turnbull (edd.), Motion and Time, Space and Matter. Interrelations in the History of Philosophy and Science, Ohio 1976, S. 83–100; Ders., The Greek Cosmologists I: The Formation of the atomic Theory and its earliest Critics, Cambridge 1987, S. 115–168. 389 Alfieri, Atomos idea, S. 90–92. 390 Vgl. ebd. S. 93–95. 391 A. Potaga, Zur Philosophie Demokrits. Ein Beitrag zur Analyse grundlegender Begriffe seines Systems, Diss. Innsbruck 1961, S. 90–96. 392 A. Brieger, Die Urbewegung der Atome und die Weltentstehung bei Leukipp und Demokrit, Halle 1884; Ders., Die Urbewegung der demokritischen Atome (Philologus 63 (1904)), S. 584–596; H. C. Liepmann, Die Mechanik der Leucipp-Democritischen Atome unter besonderer Berücksichtigung der Frage nach dem Ursprung der Bewegung derselben, Berlin 1885. 393 Zur Diskussion vgl. Rechenauer, Demokrit, S. 867. 394 D. O’Brien, Theories of weight in the Ancient World. Four Essays on Democritus, Plato and Aristotle. A Study in the Development of Ideas I: Democritus, weight and size. An exercise in the reconstruction of early Greek Philosophy, Paris / Leiden 1981, S. 356. 395 R.  Kayser, Die Urbewegung der Atome bei Leukipp und Demokrit. In: K.  Döring / ​ B. Herzhoff / G. Wöhrle (Hgg.), Antike Naturwissenschaften und ihre Rezeption VI, Trier 1996, S. 22–23. 396 R. Löbl, Demokrits Atomphysik, Darmstadt 1987, S. 129. 397 Kayser, Urbewegung, S. 39. 398 Guthrie, History II, S. 396–399; J. P.  Dumont, Les Abdéritains et le non-être (BSPh 77 (1983)), S. 46; A.-J.  Voelke, Vide et non-être chez Leucippe et Démocrite (RThPh 122 (1990)), S. 344 und 349. 399 S. Sambursky, Das physikalische Weltbild der Antike, Zürich / Stuttgart 1965, S. 156–157. 400 Guthrie, History II, S. 396–404.

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Einen neuen Ansatz bietet Rechenauer, der die Atome als eigenbewegte, lebendige Materie auffasst und daraus ihre Bewegung ableitet,401 eine Deutung angelehnt an die Löbls und Kaysers, die die rein mechanische Auffassung der Atome ablehnt,402 wie sie beispielsweise bei Guthrie deutlich zum Vorschein kommt: »The materialism of Leucippus and Democritus has restored the idea of motion as natural to matter and hence belonging to it from all time, but from this conception [der ionischen Auffassung, ewige Bewegung sei mit Leben verknüpft, Anm. d. A.] they have removed the last traces of animism. The motion is purely lifeless and mechanical.«403 Was in der vorliegenden Untersuchung vor allem interessiert ist das Verhältnis von Bewegungsprinzip und Atomen im Sinne der Beeinflussung: Während die sekundäre Bewegung eindeutig von den Atomen beeinflusst wird, die die der Kollision folgende Bewegung durch Stärke und Form bestimmen können, so muss auch gefragt werden, ob die Atome die primäre Bewegung gleichfalls selbst beeinflussen können, oder ob sie im Atomismus als reine Patientes der Bewegung gedacht sind. Als solche werden sie eindeutig in der älteren Forschung angesehen, die die Atome als lebloses Material »in Bewegung« sieht und damit die Möglichkeit, die Atomisten hätten eine Einflussnahme der Atome auf ihre eigene Bewegung angenommen, ausschließt. Rechenauers Theorie der eigenbewegten Atome spräche gegen eine solche Interpretation und würde als ersten Grund der Bewegung die Lebendigkeit der Atome selbst, d. h. ihre reine Fähigkeit zur Selbstbewegung, annehmen, wodurch das Prinzip der Bewegung der Wesensgestaltung der Atome untergeordnet wird. Bewegung wäre dann lediglich eine Konsequenz der Existenz von Atomen und damit als philosophisches Prinzip von sekundärer Bedeutung. Gegen eine solche Deutung scheint aber beispielsweise das Urteil des Aristoteles in der Metaphysik zu sprechen: »Was aber die Bewegung angeht, die Frage betreffend, woher und wie sie unter das Seiende kommen soll, das haben auch sie, ähnlich den übrigen, leichtsinnig übergangen.«404 Obwohl klar ist, dass Aristoteles eigene Maßstäbe an eine »ausreichende« Begründung für die Herkunft der Bewegung an seine Vorgänger ansetzt, zeigen doch die Ausführungen zu Empedokles und Anaxagoras (Met. I, 985a 5–30), dass er ursprüngliche Bewegungsursachen, sofern sie denn entwickelt wurden, benennt. Demzufolge ist die Eigenbewegung der Atome, so sie denn von den Atomisten angenommen worden ist, nicht vergleichbar mit den Konzepten von Liebe und Streit oder dem Nous als Ursache der Bewegungsrichtung. Dies deutet darauf hin, dass die angenommene Eigenbewe401 Rechenauer, Demokrit, S. 867–868; Ders., Seelenmodell. 402 Vgl. Ders., Seelenmodell, S. 113. 403 Guthrie, History II, S. 399. 404 Arist. Met. I, 985b 19–20, Übers. nach H. G. Zekl., ebenso Met. 12, 1071b31 und De cael. 4, 300b8.

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gung lediglich auf die Fähigkeit der Atome zur Bewegung unabhängig von einem mechanisch-physikalischen Prinzip zu beziehen ist, nicht aber als eigentliche Bewegungsursache im Sinne einer intendierten, intelligenten Bewegung der Atome zu denken ist.405 Das Konzept der πληγή als Antriebskraft der Atome406 beschreibt daher die Art und Weise der Bewegung, sowie die Möglichkeit, eine solche Bewegung selbst auszuführen, sagt aber nichts über die Motivation und Richtung einer solchen Bewegung aus. Gestützt wird diese Annahme durch das Postulat spezieller Formen der Seelenatome, um diese besonders beweglich zu machen.407 Eine solche Spezifikation wäre nicht notwendig, wenn die Atome über ihre Bewegung vollkommen selbstständig frei entscheiden könnten im Sinne einer letzten, intelligenten Bewegungsursache. Fragt man nun also nach dem Grund der primären Bewegung der Atome, so kann man kaum behaupten, dass sich die Atome in irgendeiner Form gelenkt und intendiert von selbst bewegen würden. Sie bewegen sich also nicht primär mit dem Ziel, etwas zu erschaffen, sondern sie sind in Bewegung, weil es eben Bewegung gibt. Die mechanisch-physikalische Voraussetzung hierfür ist aber nicht die lebendige Konzeption der Atome, sondern die Annahme des Leeren,408 die damit die eleatische Negation zurückweist. Das Leere ist aber nicht physikalischmaterielle Ursache der Bewegung in Form eines notwendigen leeren Raumes,409 sondern seine Annahme ist Denkvoraussetzung für die Bewegung und die Ursachen sind die in DK67 B2 angeführte Ananke und der Zufall.410 Rechen­ auers Modell kann also als mechanische Ursache der Bewegung die Selbstbewegung geltend machen, nicht jedoch als eigentliche Begründung für die Existenz und die Form von Bewegung im Atomismus, wie es die Konzeptionen von Liebe 405 Vgl. KRS , S. 424. 406 Vgl. Rechenauer, Seelenmodell, S. 129. 407 Vgl. ebd. S. 118–119. 408 Vgl. Guthrie, History II, S. 398–399; Rapp, Vorsokratiker, S. 215–218. 409 Interessant dazu KRS , S. 415: »[…] void is not […] »space« or »place« but a more mysterious entity, the negation of substance.«, aufbauend auf D. N. Sedley, Two conceptions of vacuum (Phronesis 27 (1982)), S. 179–183: die »Leere« beschreibe nicht den Ort, an dem sich keine Atome befinden, sondern eine »negative substance which occupies empty space«, ebd. S. 179. Die Interpretation geht davon aus, dass die Konzeption von »voll« und »leer« im Griechischen von der Inanspruchnahme eines Raumes durch etwas anderes abhängt: »The atomists could then say that when a place is occupied by nothing, insofar as the occupant is nothing it does not exist, but insofar as it occupies a place it does exist.«, ebd. S. 183. 410 In seiner Diskussion geht Taylor, Fragments, S. 192–195, nicht auf die Frage nach der primären Bewegung der Atome ein und bezieht die Notwendigkeit daher auf rein me­ chanische Vorgänge: diese können jedoch für die primäre Bewegung nicht angenommen werden. Warren, Presoscratics, S. 163, weist die Bewegung als fundamentale Entität im Atomismus, neben den Prinzipien eines unendlichen Raumes und einer unendlichen Anzahl an Atomen aus; vgl. auch KRS , S. 418.

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und Streit und des Nous hinsichtlich der Beeinflussung der Bewegungsrichtung vermögen. Durch diese Gemengenlage können die Atome sicherlich nicht als reine ­Patientes der Bewegung gedeutet werden, da sie eben keine leblose, passive Materie411 sind. Sie sind aber gleichzeitig auch keine reinen Agentes hinsichtlich der Bewegung, da sie auf deren Richtung und Geschwindigkeit keinerlei Einfluss zu haben scheinen, wie der Hinweis auf den Zufall und die Ananke in DK67 B2 nahelegen. Somit wird bei den Atomisten, so könnte man argumentieren, die Bewegung selbst zum letzten Prinzip, denn der Diskurs über Bewegung im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. ist vor allem von der Auseinandersetzung über das Verhältnis von Bewegung zu anderen Ursprungsprinzipien oder zentralen Elementen des Kosmos geprägt, die dabei über der Bewegung stehen, ihrem Einfluss entzogen sind oder die Bewegung beeinflussen: bei Xenophanes das Göttliche, bei Empedokles die Ewigkeit des Austausches, das Sein des Parmenides und der Nous des Anaxagoras. Im Atomismus ist eine solches Verhältnis jedoch, wie die Diskussion bezüglich der Bewegung der Atome zeigt, zugunsten der Bewegung selbst entschieden, da die Möglichkeit ihrer ständigen Existenz bereits bedingungslos angenommen ist,412 wodurch sich das Postulat eines zweiten, gleichrangigen oder übergeordneten Prinzips erübrigt.413 Die Atome selbst sind weder der primären Bewegung übergeordnet, noch ihr gleichrangig, denn sie werden von ihr erfasst und erst dann formen sie durch ihre Eigenbewegung den Kosmos. So scheinen die Atomisten daher die primäre Bewegung selbst als schöpfenden Prozess angesetzt zu haben, durch den sich die Atome sammeln und durch diese Sammlung dann eine gewisse Richtung der Bewegung erzeugen, wodurch der Eingriff eines anderen, »lenkenden« Prinzips unnötig wird:414 Die Richtung der Bewegung, die zur Erklärung der zu beobachtenden Kreisbewegung und der Entstehung der phänomenalen Welt notwendig ist, ist ein Ergebnis der primären, ungerichteten Bewegung415 selbst. Die Bewegung wird damit in letzter Konsequenz zum eigentlichen Schöpfungsprinzip im Atomismus.416 Damit ist die Assoziation der Bewegung mit dem Prozess der Erschaffung von Dingen im Atomismus auf den Höhepunkt getrieben: Alles ergibt sich aus der κίνησις aufgrund der Ananke und des Zufalls. Bei den Atomisten wird somit die κίνησις vom erklärungsbedürftigen, phänomenologischen Problem zum übergeordneten Erklärungsprinzip, eine Tendenz, die sich bereits bei Heraklit 411 Anders dagegen z. B. Barnes, Presocratic, S. 367. 412 Vgl. Guthrie, History II, S. 397; Rechenauer, Seelenmodell, S. 127. 413 Vgl. Rechenauer, Seelenmodell, S. 124, Warren, Presocratics, S. 163. 414 Vgl. Sedley, Creationism, S. 136. 415 Vgl. Rechenauer, Seelenmodell, S. 128–129. 416 Nach KRS kann die Ananke auch hierfür herangezogen werden, vgl. S. 418.

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abzeichnet, wenn er die Beständigkeit des Wandels und der Bewegung zur einzigen Gesetzmäßigkeit erklärt.417 Während die Eleaten die Bewegung vollständig ausschließen (ein Hinweis auf ihren problematischen, weil chaotischen Cha­ rakter), versuchen Andere sie durch Verbindung mit einem anderen, ordnenden Erklärungsprinzip (Apeiron als Prinzip des Austausches418, ewiger Kreislauf, Steuerung des Nous) konzeptionell in den Griff zu bekommen, wobei bereits die Zentralität und Reichweite der Bewegung bei Anaxagoras (alles entsteht aus dem Wirbel) auf den Atomismus vorausweist, hier aber noch an ein anderes Erklärungsprinzip, den Nous, gebunden ist. Es lässt sich somit eine Herausbildung verschiedener Strömungen im Umgang mit dem Bewegungsphänomen im Laufe des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. feststellen, welche von den Eleaten über Heraklit bis zu den Atomisten reicht und schließlich von der Negation der Bewegung zur Bewegung als höchstem Prinzip selbst gelangt: Alles geschieht im Atomismus, weil es κίνησις gibt. In einer solchen ideengeschichtlichen Entwicklung könnte eine Grundlage für die Interpretation des Anfangs des thukydideischen Werkes gesehen werden, in dem die Verbindung der Schilderung des Krieges mit der μεγίστη κίνησις mittels der kausalen Konjunktion γάρ ausgedrückt wird. Es wird daher zu untersuchen sein, ob dieser Verknüpfung bei Thukydides eine Idee der κίνησις als Erklärungs­prinzip, wie es im Atomismus zu beobachten ist, zugrunde liegen könnte. Die oben herausgearbeitete Vorstellung von Bewegung als erschaffendem Prozess im Sinne der Fähigkeit, Dinge zu erfassen und zu verändern, hervorzubringen oder zu zerstören, lässt sich in allen hier betrachteten Texten finden419 und scheint eine Grundkonstante der Betrachtung von Bewegung im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. gewesen zu sein, deren Ausgestaltung ebenfalls bei Thuky­ dides genauer zu untersuchen sein wird, wenn eine Beeinflussung und Partizipation seinerseits an diesem Diskurs zur Debatte steht. Die in der Atomlehre erneut zu findenden Charakteristika der Bewegung, Ewigkeit, Omnipräsenz, uneingeschränkten Reichweite, Erfassung aller Dinge 417 Vgl. die Diskussion oben Kap. 3.4.3. 418 Vgl. die Diskussion oben S. 127–129. 419 Es sei hier nur kurz eine Zusammenfassung gegeben, die ausführlicheren Interpreta­ tionen finden sich in den entsprechenden Kapiteln: Herausbildung der Dinge auf Grundlage des Apeirons durch Bewegung (Anaximander); Veränderung der Luft durch Bewegung (Anaximenes); Ausschluss des Vergehens / Entstehens und der Bewegung für den einen Gott, d. h. Verbindung von Bewegung mit der Entstehung bei Xenophanes; Ausschluss der Bewegung für das Sein, um dessen Ewigkeit zu garantieren, also Verbindung der Bewegung zum Prozess der (Neu-)Schöpfung bei Parmenides (ebenso zum Einfluss auf Dinge bezüglich der Veränderung von außen); Erschaffung durch Bewegung bei Empedokles (Austausch der Elemente) und Anaxagoras (Aussonderung durch Bewegung); Bewegung als erschaffende Kraft bezüglich des Seins (Identität durch Bewegung) bei Heraklit.

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und der ungerichtete, chaotisch anmutende Charakter der primären Bewegung, sowie die Fähigkeit zur Erschaffung und Veränderung, decken sich mit den Ergebnissen der bisherigen Untersuchung und die Übereinstimmung bezüglich der Perspektive der Atomisten auf den Bewegungsprozess in der Doxographie verstärkt die Annahme, dass es sich hier um die Wiedergabe authentischer, d. h. zeitgenössischer Ansichten der Atomisten handeln könnte, die daher in die Menge der Untersuchungsergebnisse einfließen sollten, obwohl die Methodik der Begriffsuntersuchung hier nicht angewandt werden konnte. Besonders hinzuweisen ist auf den absoluten Charakter der Bewegung, die hier vollständig losgelöst von anderen Konzepten als ursprüngliches Prinzip der Entstehung des Kosmos und aller seienden Dinge verstanden wird.420 Der Kinesis-Begriff in den Fragmenten Es soll nun untersucht werden, ob sich die oben angeführten Aspekte der Bewegung auch in der Verwendung des Kinesis-Begriffs durch Demokrit in einem authentischen Fragment wiederfinden lassen. Dies würde die Annahme stützen, dass die in der Doxographie zu findenden Charakteristika der κίνησις im Atomismus möglicherweise auf einer direkten textuellen Verarbeitung durch die Atomisten basieren. Gegenstand der hiesigen Untersuchung sind die Fragmente DK68 B164 und B191. Im Fragment B164 schildert Sextus Empericus für Demokrit das Prinzip »Gleiches zu Gleichem«, welches auch auf die Anordnung der Atome zu beziehen ist:421 »Denn wie ich schon gesagt habe, geht von jeher eine alte Meinung bei den Naturphilosophen um, dass Gleiches durch Gleiches erkennbar sei. Und auch Demokrit hat diesen Spruch offensichtlich übernommen […]. Demokrit aber bezieht den Spruch auf die beseelten wie unbeseelten Wesen. […] [Originaltext des Demokrit:] Genauso müsse es sich aber auch mit den unbeseelten Dingen verhalten, wie man beim Aussieben (κοσκινευομένων) von Samenkörnern und bei den Steinchen in der Brandung sehen könne. Denn dort ordneten sich beim Wirbeln des Siebes getrennt voneinander (κοσκίνου δῖνον διακριτικῶς) Linsen zu Linsen […]; hier aber würden durch die Wellenbewegung (κατὰ τὴν κύματος κίνησιν) die länglichen Steinchen an den gleichen Ort wie die länglichen gestoßen (ὠθοῦνται), die runden an den gleichen Ort wie die runden, als ob die den Dingen innewohnende Ähnlichkeit eine Kraft besäße, die sie zusammenbringe.« 420 Vgl. dazu auch Sedley, Creationism, S. 138–139: die Annahme von unendlich vielen Welten erlaubt erst die Wahrscheinlichkeit, dass aus zufälligen Bewegungen der Atome unsere entsteht. Die Annahme der Unendlichkeit ist daher als Konsequenz dessen zu verstehen, dass der Kosmos aus Bewegung allein entsteht, ohne intelligenten Einfluss. 421 Vgl. KRS , S. 418 und 426.

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In dem Fragment werden sehr gut verschiedene Bewegungsprozesse deutlich, die durch ihre Kraft auf andere Dinge wirken und dadurch Ordnungsprinzipien umsetzen. So gibt es zum einen das »Aussieben«422 (κοσκινευομένων), welches durch die Bildung des aus anderen philosophischen Systemen bereits bekannten Wirbels (δίνη) die Aussonderung bewirkt.423 Es zeigt sich hier, wie die aus alltäglichen Handlungen gewonnen Beobachtungen auf kosmische Prozesse übertragen worden sind, um die Entstehung differenzierter Phänomene aus undifferenzierter »Urmasse« zu erklären. Zum anderen wird das Ordnungsprinzip durch Wellenbewegung erwähnt, welches die gleiche Folge hat, jedoch von der δίνη getrennt betrachtet wird, da es sich hier nicht um eine Kreisbewegung handelt. Die Verwendung von κίνησις für den Wellenschlag, der in der Natur immer anders und für den Menschen in Bezug auf Stärke, Richtung, Aufkommen, etc. relativ unvorhersehbar ist,424 stimmt dabei überein mit der bekannten Charakteristik der κίνησις, die zwar beobachtbar, jedoch für den Menschen nur bis zu einem bestimmten Grade einzuschätzen und vorherzusagen ist. Dabei ist auch auf den konzeptionellen Unterschied des Siebens, also einer gleichförmigen und gleichmäßigen Bewegung, und des Wellenschlages hinzuweisen: Anders als die kreisförmige Wirbelbewegung ist die Bewegung von Wellen schwer zu beeinflussen und potentiell immer verschieden. Ebenso spielt wohl der Aspekt der Ewigkeit, die für die Existenz von Wellen im Wasser unabhängig vom Dasein des Menschen anzunehmen ist, bei dem Bild der Wellenbewegung bezogen auf die Atomlehre eine Rolle: So kann das Prinzip auf die Atome, die ja als ewige Entitäten konzipiert sind und sich in ständiger Bewegung befinden, dadurch übertragen werden, dass auch die zu beobachtenden Bewegungen des Wassers niemals aufhören, womit die Beständigkeit der gegebenen Erklärung zur Bildung von Atom-Zusammenschlüssen begründet wird.425 Hier zeigt sich abermals, wie die Beobachtung von Bewegungsprozessen, in der Natur omnipräsent wie die Wellenbewegung des Wassers, zur Bildung von Theorien über den Aufbau und die Funktion der intelligiblen Welt beigetragen haben könnte. Die Bewegung der 422 Nach Luria, Democrito, S. 1100, bedeutet κοσκινεύειν nicht »aussieben«, sondern »durch ein Sieb filtern«, indem der Staub und Dreck von der zu siebenden Masse getrennt wird. Dieser Unterschied ist jedoch für die Bedeutung des Bewegungsprozesses unerheblich. 423 Vgl. W.  Heidel, The ΔΙΝΗ in Anaximenes and Anaximander (Cph 1, No. 3 (1906)), S. 279–282. 424 Damit ist nicht die Richtung zur Küste hin gemeint und auch nicht die Einschätzung, ob eine Welle hoch oder niedrig, stark oder schwach ist, sondern die Fähigkeit, solche Dinge exakt vorauszusagen und zu beeinflussen: so können beispielsweise plötzlich aufkommende Winde relativ beständige, kleine Wellen plötzlich stärker machen. 425 Hiermit wird, wenn die Steine für die Atome stehen, die von Rechenauer angenommene Selbst-Bewegung der Atome unplausibel gemacht, vgl. dazu Sedley, Creationism, S. 136, der jedoch die Wellenbewegung gleichzeitig als Selbst-Bewegung anzusehen scheint, was in B164 jedoch nicht der Fall ist.

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Wellen greift dabei als Metapher hervorragend wichtige Aspekte der Atomlehre auf, ohne deren Annahme das Fundament des Systems unsicher wäre. So kann das Ordnungsprinzip der Atome als ewig, omnipräsent und ununterbrochen angenommen werden, da auch die Wellenbewegung immer zu beobachten ist, einmal mehr, einmal weniger, einmal langsam, einmal schnell, aber doch nie vollständig aufhörend. Interessant ist vor allem, dass die Verbindung zwischen Material, Bewegung und Ordnung zwar erkannt, die physikalische Funktionsweise jedoch noch nicht verstanden ist, wie der letzte Satz beweist, der sich auf die συναγωγόν der Dinge bezieht, die diesen innewohne (ἔχειν).426 Damit ist sowohl für die in den Einflussbereich des Menschen fallende Bewegung (δίνη), als auch für das Ordnungsprinzip der Steinchen am Strand eine Kraft postuliert, die sich der Vorstellungskraft und dem Erklärungsvermögen der Menschen entzieht: Man kennt das Prinzip und seine Konsequenzen, nicht aber die Wirkungsweise. Damit ist die Ableitung von Gesetzen bezogen auf das Ergebnis der Bewegung zwar möglich (Gleiches zu Gleichem), nicht aber auf die Ausführung des Prozesses selbst, d. h., dass beispielsweise die entstehende Ordnung auf Impuls-RepulsReaktionen zurückgeführt wird. Es ist bezeichnend für die Rezeption des Bewegungsprozesses, wenn die Impuls-Repuls-Interaktion zwar bekannt ist, wie die Atomlehre verdeutlicht, jedoch für das Ergebnis eines Bewegungsprozesses im Ganzen auf eine »irgendwie geartete Kraft der Zusammenführung« (­σ υν-ἄγειν) zurückgeführt wird. Es zeigt sich hier die Ambivalenz, die dem Umgang der Naturphilosophie mit der Bewegung allgemein und mit der κίνησις im Speziellen, inhärent ist und die sich aus dem Nebeneinander von physikalisch-mecha­ nischer Funktionsweise und Erklärung und der Betrachtung der Bewegung als Prozess mit unerklärlicher Kraft und Reichweite speist. Die intellektuelle Beschäftigung mit der Bewegung ist damit zwar einerseits fähig, Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien in Hinsicht auf die Bewegung zu formulieren (Gleiches zu Gleichem, Richtungen, etc.), betrachtet den Prozess selbst jedoch weiterhin mit einem Rest Unverständnis ob seiner Wirkung und Vielfältigkeit, der sich in einem fast schon als »mythisch« zu bezeichnenden Umgang mit ebenjenem ausdrückt (ὡς ἂν συναγωγόν τί). Fragment B191 fällt in den Bereich der Ethik des Demokrit und gehört zu den Äußerungen über die menschliche Seele, die für Demokrit gleichfalls auf den Prinzipien der Atomlehre aufgebaut war.427 Daher wird sie als materiell und körperlich aufgefasst, was wiederum die Bewegung der Seele und dadurch des Körpers aufgrund der Bewegungen der Atome begründet.428 Die Atome, die die 426 Zur Authentizität der Stelle vgl. Diels-Kranz, Fragmente, S. 176, Anm. 19. 427 Vgl. Rechenauer, Demokrit, S. 890; Ders., Seelenmodell, S. 111. 428 Vgl. Ders., Demokrit, S. 891.

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Seele bilden, weisen spezielle Eigenschaften auf und unterscheiden sich dadurch von anderen Atomen (A101), sie sind perfekt kugelförmig und maximal klein. Dies führe zu einer äußerst hohen Bewegungsrate dieser Atome, wodurch sie für die Bildung der Seele, die das Leben durch ihre Fähigkeit zur Bewegung ausmache, zuständig seien, da sie durch ihre Eigenbewegung andere Atome in Bewegung brächten (DK67 A28).429 Am Beispiel der Seelenlehre ist daher die Verknüpfung von primärer und sekundärer Bewegung in der Atomlehre sehr gut zu sehen: Das Postulat einer bestimmten Gestalt zur besseren Beweglichkeit zeigt an, dass die Atome von der Bewegung besonders gut erfasst werden können und dadurch eine höhere Beweglichkeit erreichen, die sie wiederum zu Ursachen anderer Bewegungen im Körper macht.430 Weiterhin ist erst die Zusammensetzung mehrerer Atome zur Bildung einer Seele fähig,431 wofür wiederum die Existenz eines höheren Bewegungsprinzips notwendig ist, wie es in A1 erkennbar ist und wofür auch die zufällige Auflösung der Seelenatome nach dem Tod als Objekte dieser ständigen Bewegung spricht (DK68 B297).432 Des Weiteren ist die Seele zwar auf den Körper angewiesen, da dieser durch seine Substanz und Beschaffenheit die Seele schützt,433 sie ist ihm aber auch gleichzeitig übergeordnet als Impulsgeber für die Bewegungen des Körpers, wobei sowohl in B191, als auch an anderen Stellen wie B159, deutlich wird, dass diese Bewegungen nicht nur als mechanische Handlungen des Körpers, sondern auch als Gefühle, Gelüste, Emotionen usw. zu verstehen sind,434 die den Körper dazu bringen, bestimmte Handlungen auszuführen, die sogar schädlich für ihn sind (B159). Vor diesem Hintergrund sind die Bewegungen in B191 zu lesen: »Wohlbefinden erlangen die Menschen durch Mäßigung der Lust und Ausgewogenheit des Lebens. Mangel und Überfluss dagegen schlagen gerne ins Gegenteil um und verursachen große Bewegungen in der Seele (μεταπίπτειν τε φιλεῖ καὶ μεγάλας κινήσιας ἐμποιεῖν τῇ ψυχῇ). Die Seelen, die sich zwischen weit entfernten Zuständen bewegen (αἱ δ’ ἐκ μεγάλων διαστημάτων κινούμεναι τῶν ψυχέων), sind weder beständig noch wohlgemut […].« Bewegungen der Seele werden hier v. a. mit negativer Konnotation versehen, zumal dann, wenn sie eine große Intensität erreichen. In Verbindung mit der 429 430 431 432

Vgl. Rechenauer, Seelenmodell, S. 118–119. Vgl. ebd. S. 116. Vgl. Ders., Demokrit, S. 892. Vgl. auch ebd. Weiterhin spricht für die These, die Seelenatome seien Objekte eines primären Bewegungsprinzips, ihre Abhängigkeit vom Körper als Schutz vor Auflösung der Atomverbindungen durch die Bewegung: der Körper ist diesem Einfluss aufgrund der stärkeren Verbindungen zwischen den einzelnen Atomen weniger ausgesetzt und garantiert damit die Beständigkeit der Seele, vgl. ebd. S. 893. Außerdem Ders., Seelenmodell, S. 132–133. 433 Vgl. Ders., Demokrit, S. 893–894. 434 Zur metaphorischen Verwendung in B191 vgl. KRS , S. 432.

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Seele als Bewegungsimpuls zur Selbsterhaltung und der Erhaltung des Körpers, sowie dem Zeichen für Leben allgemein (DK67 A28) wird hier deutlich, dass es für Demokrit einen qualitativen Unterschied zwischen Bewegungen geben muss, der von der Art der Bewegung selbst abhängt. In B191 ist nämlich nicht die Rede von Eigenbewegungen der Seelenatome, sondern von Bewegungen, die von außen auf diese einwirken: εγάλας κινήσιας ἐμποιεῖν τῇ ψυχῇ. Diese Bewegungen scheinen dann, insofern das Prinzip immer gilt, dass Bewegungen der Seelenatome Bewegungen des Körpers im Sinne von B159 bewirken und sich der Körper dieser nicht erwehren kann, sich auf eben diesen negativ auszuwirken, wie in der Klage des Körpers gegen die Seele in B159 deutlich wird: ἀπώλεσε τοῦ σώματος ταῖς ἀμελείαις καὶ ἐξέλυσε ταῖς μέθαις, τὰ δὲ κατέφθειρε καὶ διέσπασε ταῖς φιληδονίαις. Die hier erwähnten φιληδονίες fallen unter die in B191 erwähnten Bewegungen der Seele, die durch Mangel und das Streben zum Überfluss ausgelöst werden. Es zeigt sich in der Konstruktion der Erfassung der Seelenatome eindeutig ihr patiens-Charakter bezüglich des Bewegungs­ prozesses: Sie sind vollständig erfasst und haben keine Möglichkeit des steuernden Einflusses auf diesen Prozess.435 Ihre selbst gesteuerte Tätigkeit beginnt erst in der Verarbeitung dieser Bewegung durch den Anstoß weiterer Bewegungen im Körper, um den erwünschten Zustand zu erreichen – ein weiteres Argument für die These, dass es für Demokrit verschiedene Arten von Bewegungen gibt, die auf unterschiedliche Weise auf die Atome einwirken. In der Schilderung des Erfasst-Werdens lassen sich die Charakteristika der Kraft und der umfassenden Wirkung der Bewegung greifen: Die Seele hat keine Möglichkeit, dieser Bewegung zu entgehen oder sie zu steuern, da alle Seelenatome gleichermaßen erfasst werden. Der Inhalt des Fragments zeigt, dass die einzige Möglichkeit zum Umgang mit diesen Phänomenen in der Vermeidung von vornherein besteht; ist also erst einmal die Möglichkeit zur Bewegung gegeben, so wird sie auch auftreten. Ebenso lässt die Absolutheit der Formulierung darauf schließen, dass Mangel und Überfluss theoretisch ständig möglich sind, das also auch die von ihnen ausgelöste Bewegung ständig möglich ist, was sich gut mit der Charakteristik der Omnipräsenz und Ewigkeit verbinden lässt, die 435 Ich widerspreche damit jedoch nicht der Ansicht Rechenauers in Seelenmodell, S. 124, der die »unableitbare Eigenbewegung« der Atome in den Vordergrund stellt, denn der Ausdruck des »Patiens« bezieht sich dabei auf die Möglichkeit, dieser Bewegung zu entgehen oder sie zu beeinflussen. Es sind selbstverständlich auch hier die Seelenatome, die aufgrund von Mangel oder Überfluß in Bewegung geraten, d. h. sich selbst bewegen: sie sind jedoch damit Erleidende in der Form, dass der durch Mangel oder Überfluß verursachte »Impuls«, der nicht als ein mechanischer, sondern als ein intrinsischer zu verstehen ist, zur Bewegung außerhalb ihres Einflussbereichs liegt, und sie somit der dadurch verursachten Bewegung unterliegen, auch wenn sie selbst Träger dieser Bewegung sind. Sie sind also »Patientes« bezogen auf die Entstehung des Bewegungsprozesses selbst, werden aber dann als Ausführende dieser Bewegung zu Agentes.

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Grundlage ihres jederzeit möglichen Auftretens ist, wenn die Begleitumstände (den Sinn auf das Unmögliche zu richten) entsprechend vorliegen. Es ist außerdem auffällig, dass nicht die Ruhe als Gegenpol zur Bewegung genannt wird, sondern das Maßhalten und die Ausgewogenheit (μετριότητι τέρψιος καὶ βίου συμμετρίῃ)436 zur Vermeidung der genannten Bewegungsarten führen. Dies impliziert, dass eine »absolute Ruhe« der Seele von vornherein nicht möglich ist, was bereits durch die Verbindung der Atomlehre mit Demokrits Konzept der Seele deutlich gemacht wird. Diese Omnipräsenz der Bewegung, ihre ständige Anwesenheit und Beeinflussung, wird hier sehr gut sichtbar. Eine gute Lebensweise ist daher nur durch einen guten Umgang mit der Bewegung selbst, durch Mäßigung und Ausgewogenheit, zu erreichen, nicht aber durch eine vollständige Vermeidung von Bewegung: Ruhe in diesem Sinne als die Abwesenheit von Bewegung scheint für Demokrit bezüglich der Seele nicht möglich zu sein.437 Der Zusatz der »weit entfernten Zustände« zeigt dabei auch die unbegrenzte Reichweite des Bewegungsprozesses, der die Seele in alle möglichen Zustände versetzen und sie davon auch wieder befreien kann. Die Annahme ständiger Bewegung bei Demokrit ist dann auch für Thukydides zu untersuchen, gerade vor dem Hintergrund der von einem Teil der Forschung postulierten BewegungRuhe-Dichotomie im Werk.438 Sollte sich auch bei Thukydides erweisen, dass davon ausgegangen wird, dass Bewegung immer herrscht und so Ruhe nur eine Illusion sein kann, lässt sich dies ebenfalls als ein Hinweis darauf deuten, dass Thukydides in seinem Werk mit der Verbindung zur μεγίστη κίνησις gängige Vorstellungen seiner Zeit von diesem Prozess aufgreift und in seiner Darstellung verarbeitet. Bezüglich der Kraft und der Richtung der Bewegung entsteht im Fragment der Eindruck, dass es sich um chaotische, ungerichtete Bewegungen der Seele handelt, da sie in gleichem Maße von zwei Extremen und deren Gegenteil ausgelöst werden können. Verstärkt wird diese Charakteristik einer κίνησις noch durch ihre Gegenüberstellung zu den Konzepten der εὐστάθεια und der εὐθυμία.439 Damit verliert die Bewegung ihre Regelmäßigkeit und ihre Konzentration auf einen Punkt: Sie wechselt ständig zwischen zwei Extremen und kann daher keine Gleichförmigkeit erlangen, welches ja das eigentliche definitorische Prinzip der Seelenatome ist.440 Damit ist die κίνησις hier erneut unkontrollierbar, nicht festgelegt und unregelmäßig, wie es auch bei anderen Autoren herausgearbeitet werden konnte. Zur Kraft der Bewegung sagt das Fragment nur 436 437 438 439

Vgl. Luria, Democrito, S. 1343. Vgl. Rechenauer, Demokrit, S. 910; Ders, Seelenmodell, S. 127. Vgl. oben Kap. 2.2. Vgl. dazu Luria, Democrito, S. 1343; Rechenauer, Demokrit, S. 909–910; Warren, Presocratics, S. 171–173; KRS , S. 431–433. 440 Vgl. Rechenauer, Demokrit, S. 910.

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insofern etwas aus, als dass der externe Bewegungsimpuls stärker sein muss als die bereits bestehende Selbstbewegung der Atome und diese dadurch aus dem Gleichgewicht bringt.441 Auch dies weist auf eine Nähe zu bereits bekannten Vorstellungen vom Prozess der κίνησις hin, der eine große Kraft besitzt und so andere Dinge beeinflussen kann. Wie die Betrachtung der Fragmente gezeigt hat, lassen sich Spuren des in der Atomlehre verarbeiteten Charakters der Bewegung, geprägt durch die Aspekte der Omnipräsenz, Kraft,442 unbegrenzte Reichweite und Ewigkeit, auch in der direkten wörtlichen Verwendung wiederfinden. Es kann daher angenommen werden, dass diese Aspekte dem Kinesis-Begriff der Zeit inhärent waren und sich sowohl Autoren als auch Publikum dieser Aspekte bewusst gewesen sind, sodass die Autoren mit den Assoziationen, die das Publikum mit der Bewegung, speziell mit dem Kinesis-Begriff, verbunden hat, arbeiten konnten. Es ist somit legitim, eine ähnliche Vorgehensweise auch für Thukydides zu vermuten und damit die Konnotationen der κίνησις und ihrer Verarbeitung in seinem Text zu untersuchen, um diese mit der Verarbeitung bei den Vorsokratikern zu vergleichen, sodass ein umfassenderes Bild einer möglichen intellektuellen Diskussion über Bewegung anhand des Umgangs mit dem Kinesis-Begriff im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. rekonstruiert werden kann.

3.4.5 Die Eleaten: Melissos und Zenon Bevor die Untersuchung des Thukydides durchgeführt wird, muss hier noch einmal auf die Position der Eleaten, namentlich Zenons und Melissos’, eingegangen werden, da ihr Abstreiten der Existenz der Bewegung auch gleichzeitig eine Herausforderung für die Annahme einer allgemeinen Charakteristik der κίνησις darstellen kann.443 So ist auch ihre Beschäftigung mit der Bewegung von der parmenideischen Auseinandersetzung bestimmt,444 ohne jedoch beiden ihre philosophische Originalität absprechen zu wollen445 – besonders für Melissos ist diese im Vergleich zu Parmenides in der Konstruktion des Arguments gegen 441 Vgl. Rechenauer, Demokrit, S. 910. 442 Dies zeigt sich in diesem Fragment ebenfalls sehr deutlich: kraftvolle und plötzliche Bewegungsprozesse sind per se nicht negativ konnotiert bei Demokrit, was die Verwendung von πληγή und anderer Begriffe zur Charakterisierung der Atombewegung als stoßweise und schnell nahelegt, vgl. Rechenauer, Seelenmodell, S. 129–131. 443 Wie bereits in den zuvor untersuchten Texten können und sollen sie hier nicht umfassend diskutiert werden, da die genuin philosophischen Argumentationen und Positionen nicht von zentralem Erkenntnisinteresse sind. 444 Vgl. Gemelli Marciano, Vorsokratiker II, S. 126; C. Rapp, Art. »Melissos aus Samos«. In: Flasher et al. (Hgg.), Frühgriechische Philosophie, S. 573. 445 Vgl. zum »Verdikt des Aristoteles« Rapp, Melissos, S. 574–577.

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die Bewegung (DK30 B7) zu sehen. Die Möglichkeit eines solchen Arguments könnte auch zu einem Einwand gegen die hier postulierten Charakteristika der Bewegung im Denken des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. führen, jedoch hat die Untersuchung des Parmenides-Textes gezeigt,446 dass sich auch in der Ablehnung der Bewegung diese Charakteristika der Omnipräsenz, Ewigkeit und Allumfassung ex negativo herauslesen lassen und der Einfluss der Bewegungskonzeption des Parmenides auf die spätere Diskussion findet auch in der Forschungsliteratur Widerhall.447 So soll mit der nachfolgenden Betrachtung dem Einwurf entgegnet werden, dass die hier erarbeiteten Aspekte der Bewegung lediglich Einzelfälle seien, die besonders dem literarisch-intellektuellen Umfeld der jeweiligen Autoren zugeschrieben werden müssten und sich daher die Ableitung einer allgemeinen Charakteristik des Kinesis-Begriffs und damit eine Übertragung auf andere Autoren und Gattungen verbietet. Es gilt daher zu untersuchen, ob eine vergleichbare Interpretation bezüglich der Auseinandersetzung des Melissos und des Zenon mit Bewegung möglich ist. Melissos Das wichtigste Fragment des Melissos, welches sich mit der Frage nach Bewegung auseinandersetzt (DK30 B7), ist daher vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Thesen des Parmenides zur Attribuierung des Seienden zu lesen.448 Es zeigt sich dort, dass Melissos den Begriff ἀκίνητον hauptsächlich räumlich verstanden hat, da er das Argument gegen Werden und Vergehen explizit auf Veränderung bezieht (ἑτεροιοῦται, μετακοσμηθῆναι), für die κίνησις aber das Argument der fehlenden Leere anführt, die Bewegung unmöglich mache: »Auch bewegt es sich nicht (οὐδὲ κινεῖται); denn es kann nirgendwohin ausweichen, sondern es ist voll. Wenn es nämlich ein Leeres gäbe, würde es ins Leere ausweichen; da es aber kein Leeres gibt, kann es nirgendwohin ausweichen.« (B7, 23–26). Hier wird deutlich, dass Melissos die bereits angesprochene räumliche Konnotation der Sprache bei Parmenides ernst genommen und ein eigenes Argument gegen die Ortsbewegung entwickelt hat und damit die »argumentative Lücke« im Gedicht des Parmenides füllen kann.449 Dieser Schluss

446 Vgl. oben Kap. 3.1.3. 447 So bei Guthrie, History II, S. 37: »[…] but his [Parmenides, Anm. d. A.] logic advanced the concept of motion and change still further and denied it validity in all its forms. After him the way was paved for the all-embracing concept of kinesis, which we find in Aristotle […].« 448 Zur Originalität des Melissos und den Unterschieden zu Parmenides vgl. Palmer, Parmenides, S. 208–210. 449 Vgl. Rapp, Melissos, S. 591.

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liegt nahe vor dem Hintergrund, dass der Betrachtungsgegenstand beider Philosophen, τὸ ἐόν, derselbe ist.450 In B10 wird weiterhin die Ablehnung der Möglichkeit der Teilung mit der Bewegung in Verbindung gebracht: »Wenn nämlich das Seiende geteilt ist, […], dann bewegt es sich (κινεῖται). Wenn es sich aber bewegt (κινούμενον), dann kann es nicht sein […].« Das Attribut der Unteilbarkeit des Seienden wird hier auf die Unbeweglichkeit zurückgeführt, da jede Teilung in irgendeiner Form eine Bewegung zu implizieren scheint. Damit können auch die Argumente gegen jede Art von Veränderung verbunden werden, da eine Teilung gleichzeitig auch eine Art der Veränderung darstellt.451 Somit ist die Ablehnung der Bewegung, in B7 eindeutig räumlich konzipiert, gleichzeitig Grundlage für andere Veränderungsprozesse, wodurch die oben ausgearbeitete umfassende Qualität des Kinesis-Begriffs erneut deutlich wird. Generell scheint Melissos die Attribution des Seienden gegenüber Parmenides sehr viel stärker argumentativ ausgebaut452 zu haben, sodass aus dem obskuren ἀκίνητον bei Parmenides die vielschichtige Auseinandersetzung wird, die sich in B7 und B10 finden lässt und die zeigt, dass der Kinesis-Begriff einen Prozess bezeichnet, der in unterschiedlichen Formen und Ausprägungen wahrgenommen werden konnte und damit von sehr hoher qualitativer Güte gewesen sein muss  – vorausgesetzt, die Ausführungen in B7 beziehen sich generell auf das Attribut ἀκίνητον.453 Die Ablehnung der Bewegung für das Sein scheint sich daher bei Melissos sowohl aus den bereits für Parmenides herausgearbeiteten ontologischen Überlegungen zur Ewigkeit des Seins,454 als auch aus der damit zusammenhängenden Frage nach der Möglichkeit von »echter« Erkenntnis455 (B8) und aus systemimmanenten Gesetzen der Logik des Melissos zu erklären, aufgrund derer Bewegung als Bestandteil oder grundlegender Prozess anderer Attribute (wie z. B. der Unteilbarkeit des Seins) als unmöglich ausgeschlossen werden musste. Dass Melissos’ Argument gegen die Leere und damit gegen die Bewegung in der intellektuellen Auseinandersetzung mit Bewegung bekannt war, legt die Nachricht des Aristoteles nahe, wonach Leukipp die Existenz der Leere (gegen Melissos) annahm, um damit die Existenz der Bewegung zu begründen.456 Insgesamt gesehen zeigen sich bei Melissos aber vor allem die Prominenz des Kinesis-Begriffs in der intellektuellen Diskussion sowie seine Eignung als 450 Vgl. Rapp, Melissos, S. 578. 451 Vgl. ebd. S. 592. 452 Vgl. Warren, Presocratics, S. 112; KRS , S. 398. 453 Vgl. Rapp, Melissos, S. 593. 454 Vgl. oben Kap. 3.1.3. 455 Vgl. Palmer, Parmenides, S. 213. 456 Arist. Met. I, 985b 7–9; vgl. Rapp, Melissos, S. 591.

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Grundprozess für andere Phänomene zu dienen wie beispielsweise der Teilung. Melissos’ Argument gegen die Bewegung legt die Vermutung nahe, dass eine weiterführende Argumentation gegen die Möglichkeit des Phänomens, zumindest für das »wahrhaft Seiende«, notwendig war, was wiederum darauf schließen lässt, dass es gegenteilige Positionen gegeben hat, die demnach die seienden Dinge mit der κίνησις verbunden haben, wie es im Atomismus zu sehen ist.457 Die Konstruktion des Arguments, das einzig auf der Unmöglichkeit des Leeren beruht, da Leeres nicht-seiend sei, zeigt außerdem, dass Bewegung offenbar nur durch die Berufung auf absolute Zustände, hier dem absoluten Voll-Sein, negiert werden konnte. Die Verwendung des Medium-Passivs an allen Stellen weist erneut auf die Ambivalenz des Kinesis-Begriffs hin, der einerseits als ein von außen einwirkender Prozess, andererseits als eine gleichermaßen stattfindende Selbstbewegung wahrgenommen werden kann. Vor allem die Außeneinwirkung muss nach eleatischer Logik für das Sein ausgeschlossen werden – dies ergibt sich zwingend aus der vollständigen Ausbreitung des Seins, wodurch kein Prozess »außerhalb« noch existieren kann.458 Die Rückführung der Unbeweglichkeit auf die NichtExistenz des Leeren impliziert außerdem, dass Bewegung immer noch existent ist, aber eben nicht möglich. So wird nicht gesagt »es gibt keine Bewegung«, sondern »es bewegt sich nicht«, bzw. »wird nicht bewegt«: Der Charakter der (potentiellen) Omnipräsenz könnte hier durchscheinen.459 Es wird deutlich, dass die Methode, auf die allgemeine Charakteristik der Bewegung aus ihrer Negation zu schließen, auch bei den Fragmenten des Melissos Ergebnisse hervorbringen kann, die denen bereits erfolgter Betrachtungen sehr ähnlich sind und dadurch die bei Parmenides ausgeführten Beobachtungen nicht nur gestützt, sondern sogar noch vertieft werden, da das explizite Argument gegen die Bewegung gleichzeitig den Blick auf die Frage ermöglicht, als Prozess welcher Art Bewegung bei denen wahrgenommen worden sein könnte, gegen die sich die Eleaten wenden. Der Sprachgebrauch des Melissos’ scheint dabei nahezulegen, dass dieselbe Vorstellung vom Prozess der κίνησις, wie sie in den übrigen Quellen gefunden werden konnte, auch seine Verarbeitung bestimmt hat. Daher werden bei Melissos die Aspekte der Einwirkung auf etwas von außen und die ständige Möglichkeit des Auftretens der κίνησις, wenn diese Möglichkeit nicht vollständig ausgeschlossen ist, erneut sichtbar. So war es für Melissos offensichtlich nicht möglich, die Unbeweglichkeit ausschließlich auf die Abwesenheit von Werden und Vergehen zu beziehen, sondern es mussten alle 457 Davon geht auch Palmer, Parmenides, S. 217 aus, erschließt dies jedoch aus dem »eristischen« Charakter der Lehre des Melissos. 458 Vgl. Warren, Presocratics, S. 111. 459 Vgl. Palmer, Parmenides, S. 223 zu diesem Aspekt bei Parmenides im Unterschied zu Zenon.

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Aspekte des ἀκίνητον (Veränderung und Lokomotion) explizit durch logische Deduktion460 ausgeschlossen werden, was wiederum auf die außerordentlich hohe Qualität und den gewaltigen Umfang des durch den Begriff beschriebenen Prozesses schließen lässt. Das Argument gegen die Bewegung selbst weist wiederum auf die Zentralität der Bewegungsproblematik allgemein im intellektuellen Diskurs dieser Zeit hin, was ebenfalls durch die Struktur des Arguments gegen die Teilbarkeit in B10 suggeriert wird: Die Negation der Bewegung ist so zentral, dass auch andere wichtige Attribute des Seins von ihr abhängen. Zenon Für Zenon steht einer ähnlich umfassenden Untersuchung die äußerst schlechte Quellenlage im Weg, die eine ausführlichere Auseinandersetzung mittels der gewählten Methode schwierig macht, da von den vier überlieferten Fragmenten drei Zenons Ansichten über die Größe und seiner Ablehnung der Vielheit überliefern,461 während nur ein kurzes Zitat bei Diogenes Laertius den KinesisBegriff in einer Auseinandersetzung mit dem sich bewegenden Pfeil belegt (DK29 B4).462 Seine Beschäftigung mit dem Phänomen der Bewegung ist ausführlicher in zusammenfassenden Berichten bei Aristoteles überliefert, die jedoch keine authentischen Stellen enthalten.463 Aufgrund des Fehlens von Belegen für eine genuine, zusammenhängende Lehre Zenons464 hängt die Bewertung seiner Beschäftigung mit der Bewegung zu einem großen Teil von der Bewertung anderer Aspekte ab, so z. B. von seinem Verhältnis zu Parmenides und dessen Thesen oder seinen philosophischen Absichten im Allgemeinen.465 Da eine genuin philosophisch-systematische Untersuchung Zenons hier nicht von hauptsächlichem Interesse ist, werden die Forschungsdiskussion und die Hauptinterpretationen im Folgenden kurz dargestellt. Im Anschluss werden jeweils die Konsequenzen der jeweiligen Interpretation Zenons für die Bewertung seiner Beschäftigung mit Bewegung erläutert. Die älteste Interpretation der Lehre Zenons findet sich noch in der Antike in Platons Parmenides: Hier wird Zenon als folgsamer Schüler des Parmenides dargestellt (127a8–b6; 128a4–b5), dessen Argumente sich gegen die Gegner der von Parmenides vertretenen Lehre des Seienden richteten: »Es ist aber in Wirklichkeit diese Schrift eine Hilfe für die Lehre des Parmenides entgegen derer, die 460 Vgl. dazu Rapp, Melissos, S. 582. 461 DK29 B1–3. Zur Überlieferung vgl. auch C. Rapp, Art. »Zenon aus Elea«. In: Flasher et al. (Hgg.), Frühgriechische Philosophie, S. 531. 462 Zur Zuordnung vgl. Gemelli Marciano, Vorsokratiker II, S. 117; Rapp, Zenon, S. 542. 463 DK29 A25–28. 464 Vgl. Rapp, Zenon, S. 531–534. 465 Vgl. ebd. S. 554–557; Ders., Vorsokratiker, S. 151.

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es wagen, ihn zu verspotten, so, als ob, wenn Eins ist, viel Lächerliches und ihm Widersprechendes sich aus der Lehre ergebe. Es richtet sich diese Schrift also gegen die, die sagen, dass Vieles ist, und zahlt ihnen gleiches zurück und mehr, dieses zu offenbaren versuchend, dass sich noch Lächerlicheres aus ihrer Hypothese »wenn Vieles ist« ergibt als aus »wenn Eins ist«, wenn es jemand genauer untersucht.«466 Nach dieser Interpretation dienen die Argumente Zenons gegen die Bewegung der Unterstützung des ἀκίνητον-Attributs bei Parmenides: Sie sollen zeigen, dass das Vertreten der gegenteiligen These widersprüchlich und damit unmöglich ist, da die Annahme von Bewegung zu Paradoxien führe.467 Dazu müsste aber, da sich Platons Dialog hauptsächlich mit dem Nachweis der These gegen die Vielheit beschäftigt, Zenons Lehre einer Systematik unterliegen, die die Bewegungsparadoxien mit dem Argument gegen die Vielheit verbindet.468 Aus einer solchen Perspektive heraus basiert Zenons Beschäftigung mit der Bewegung auf der allgemeinen Charakteristik ihrer angenommenen Omnipräsenz, die durch die Paradoxien ad absurdum und damit als nicht real aufgezeigt werden soll, um Parmenides Negation der Bewegung zu stützen. Die Paradoxien deuteten damit auf die Zentralität des Bewegungsbegriffs im Alltag und im Denken der Menschen hin und ihre Konstruktion zeigt, dass spezielle Argumente notwendig waren, um gegen die Existenz von Bewegung zu argumentieren. Diese Zentralität in der intellektuellen Diskussion zeigt sich auch im Urteil des Aristoteles, Phys. 239b9 (DK29 A5), wonach die Paradoxien denen, die sich mit ihnen beschäftigten (οἱ παρέχοντες), Schwierigkeiten bereiteten: Hier zeigt sich die Notwendigkeit, die Argumentationen des Zenon gegen die Bewegung widerlegen zu müssen, will man an der intellektuellen Debatte teilhaben, wie es Aristoteles dann in seiner Physik ausführt.469 Dies wiederum deutet darauf hin, dass die Vorstellungen von der Omnipräsenz und Kraft der Bewegung essentielle Bestandteile des intellektuellen Diskurses waren, wogegen sich Zenon richtet, indem er beispielsweise die Ruhe des Pfeils an jedem einzelnen Punkt der Bewegung postuliert (A27),470 wie es Diogenes Laertius ausführt (B4): »Das sich Bewegende (τὸ κινούμενον) bewegt sich (κινεῖται) weder an dem Ort, an dem es ist, noch an dem, an dem es nicht ist.« Das Argument baut dabei auf die Annahme, 466 Plat. Parm. 128c5–d6, Übers. des Autors. 467 Zum Unterschied zwischen Parmenides’ ἀκίνητον-Konzeption und Zenons Paradoxien bezogen auf ihren Absolutheitsanspruch der Ablehnung der Existenz von Bewegung vgl. oben Anm. 448. 468 Vgl. Rapp, Vorsokratiker, S. 151. Dazu G. E.L. Owen, Zeno and the Mathematicians. In: AF II, S. 143–165; dagegen M. Stokes, One and Many in Presocratic Philosophy, Washington D. C. 1971, S. 175–218; KRS , S. 265. 469 Arist. Phys. 263a3; 239b5 – 33. 470 Vgl. KRS , S. 276.

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dass der Gedanke, etwas sei »an einem Ort« impliziere, dass es sich nicht bewege. Ebenso sei es unmöglich, von Bewegung zu sprechen, wenn kein Ort vorhanden sei, von dem weg oder zu dem hin sich etwas bewegt. Es zeigt sich hier auch, dass Zenon den Kinesis-Begriff hauptsächlich räumlich versteht und der Prozess der Veränderung nur indirekt eine Rolle spielt.471 Erkennbar ist die Auffassung vom Sein als eines wirklichen und wahren Seins, welches Bewegung ausschließt, da dieses Veränderung hervorbringt und damit »sein« im Jetzt unmöglich macht.472 Damit wird hier der Einfluss des Parmenides be­sonders deutlich, der die Bewegung als Problem für die Wahrhaftigkeit des Seins ansieht. Zenon dreht jedoch das Argument um: Während bei Parmenides die Existenz des »wahrhaft Seienden« vom Ausschluss der Bewegung abhängt, ist bei Zenon Bewegung durch die angenommene Existenz des Seins ausgeschlossen.473 Damit wird aber gleich­ zeitig hervorgehoben, wie eng verbunden die Fragen nach der Beschaffenheit des Seins und der Existenz von Bewegung sind: Die Beantwortung der einen Frage hängt von der Antwort auf die jeweils andere ab. Die Beschäftigung mit dem Sein im Sinne von dem, was wirklich ist, kann damit im griechischen Denken offenbar kaum ohne die Frage nach Bewegung stattfinden. Dadurch wird die Annahme gestützt, dass die Beschäftigung mit der Wirklichkeit im Denken dieser Zeit auch eine Beschäftigung mit der Bewegung sein musste. Gegen die platonische Darstellung des Zenon richtete sich 1887 Tannery, der alle Antinomien auf eine Gegnerschaft des Zenon zu einer bestimmten Art des Pythagoreismus zurückführte, um die Annahme, alle Körper seien aus Punkteinheiten zusammengesetzt, durch die Paradoxien zu widerlegen.474 Zenon würde damit die Bewegung überhaupt nicht abstreiten, sondern sich im Gegenteil gerade auf ihre phänomenologische Omnipräsenz berufen, da andernfalls die Annahme unendlicher Punkte nicht ad absurdum geführt werden könnte. Hier nun wäre eindeutig von der Omnipräsenz der Bewegung im Alltag und in der intellektuellen Diskussion auszugehen, die eine Verarbeitung des Prozesses in einem solchen Argument dadurch erklärt, dass die Wirkkraft des Arguments vergrößert wird, wenn seine Grundannahme nun gerade diejenigen Prozesse ausschließen würde, die allgemein als gegeben anzunehmen sind.475 Das Argument könnte damit auch einem fachfremden Publikum als überzeugend präsentiert werden, da dieses ja Bewegung als ständig und allumfassend wahrnimmt,476 womit die Diskreditierung der Gegenseite leichter durchgeführt 471 Palmer sieht daher eine Verbindung zu Parmenides kritisch, Parmenides, S. 202–203, so auch KRS , S. 277. 472 Vgl. Warren, Presoscratics, S. 109. 473 Zum Unterschied oben Anm. 448. 474 Vgl. P. Tannery, Pour l’Histoire de la science hellène, Paris 1887, S. 255–270. 475 Vgl. Warren, Presoscratcis, S. 110. 476 Vgl. Rapp, Vorsokratiker, S. 153.

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werden kann, da ihre Grundannahme die gezeigten Folgen haben würde.477 Zenon streite die Existenz der Bewegung nur ab, um zu zeigen, wie absurd die Annahme der Pythagoreer sei, dass alle Körper aus Punkteinheiten zusammengesetzt seien. Diese Absurdität entstehe erst, wenn dem Publikum klar werde, dass Bewegung nicht nicht existieren könne – die Nicht-Existenz aber durch die Annahme der Pythagoreer notwendig werde. Da eindeutig sei, dass Bewegung existiere, muss die Annahme der Pythagoreer falsch sein – dies wolle Zenon, so Tannery, mit seinen Argumenten gegen die Bewegung zeigen. Damit ist die Relevanz des Prozesses in der intellektuellen Auseinandersetzung und allgemein in der Gesellschaft auch hier zu sehen: Ihre Omnipräsenz und offensichtliche Wirkkraft werden dabei dafür genutzt, um Lehren, die ihre Nicht-Existenz zur Folge hätten, als falsch zu erweisen.478 Nachdem die Pythagoreer-These immer weniger Fürsprecher fand,479 wurde durch Solmsen eine neue Perspektive auf Zenons Denken eröffnet, in welcher dieser als Dialektiker anzusehen war, der sowohl für die Vielheit, als auch für das Eine des Parmenides argumentierte.480 Unter einer solchen Perspektive kann die Beschäftigung mit Bewegung wiederum auf die Zentralität des Phänomens zurückgeführt werden, unabhängig von Zenons eigenem Standpunkt zur Bewegungsproblematik. Sollte Zenon lediglich zeigen wollen, dass Argumentationen für jeden erdenklichen Standpunkt entwickelt werden können,481 so müssen sich die Bewegungsparadoxien auf die allgemeine Annahme der Existenz von Bewegung beziehen. Generell jedoch ist aus der Deutung, Zenon habe für verschiedene und einander entgegengesetzte Seiten argumentiert, bezüglich seiner Beschäftigung mit Bewegung nur wenig abzuleiten: Für die Bewegung sind ausschließlich Negationen belegt, nicht aber positive Argumentationen. Dennoch ist auch unter diesem Gesichtspunkt festzuhalten, dass für Zenon, sollte er die Technik der Antilogik482 hauptsächlich verfolgt haben, auch die Frage nach Bewegung zentral gewesen sein muss, vor allem vor dem Hintergrund, dass eine 477 Vgl. Warren, Presocratics, S. 110. 478 Tannerys These hat großen Einfluss auf die Forschungsdiskussion entwickelt, so bei Burnet, Philosophy, S. 314 und Cornford, Parmenides, S. 53–62, in neuerer Zeit W. I. Matson, Zeno moves! In: A.  Preus (ed.), Essays in Ancient Greek Philosophy VI: Before Plato, Albany 2001, S. 87–108. Gegen die Pythagorismus-These G. Vlastos, Rez. von J. E. Raven, Pythagoreans and Eleatics. An account of the interaction between the two opposed schools during the fifth and early fourth centuries B. C., Cambridge 1948 (Gnomon 25 (1953)), S. 29–35; Ders., Zeno of Elea. In: P. Edwards (ed.), Encyclopaedia of Philosophy, New York 1967, S. 369–379; Ders., A Zenonian argument against pluralism. In: J. P. Anton / G. L. Kustas (edd.), Essays in Ancient Greek Philosophy I, Albany 1971, S. 119–144. 479 Vgl. zur Diskussion Rapp, Zenon, S. 532. 480 F.  Solmsen, The Tradition about Zeno of Elea re-examined (Phronesis 16 (1971)), S. 116–141. 481 Vgl. zur Diskussion Rapp, Zenon, S. 533. 482 Vgl. ebd. S. 553 und S. 554–555.

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Argumentation gegen ihre Existenz auf die weite Verbreitung der gegensätz­ lichen Meinung schließen lässt, womit sich Bewegung erneut als omnipräsentes Thema in der Auseinandersetzung der Zeit darstellt. Wie sich in diesem kurzen Überblick gezeigt hat, lässt sich die Beschäftigung Zenons mit der Bewegung immer wieder auf ihre Zentralität im öffentlichen und auch intellektuellen Diskurs und ihre Funktion als eines Kernaspekts in der Diskussion um die Beschaffenheit des Seins, angestoßen durch Parmenides, zurückführen. Es ist jedoch weiterhin unklar, wie die Bewegungsparadoxien mit den restlichen Antinomien zu einer systematischen Lehre zusammenzuführen sind.483 Für die vorliegende Arbeit ist diese Frage jedoch zweitranging, da auch die Bewegungsparadoxien auf gängige, allgemeine Vorstellungen von Bewegung im Denken des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. hinweisen, weil sie in ihrer Wirkungsweise auf diese angewiesen sind.484 Somit sind sowohl Zenons Verteidigung des Parmenides als auch seine Form der Dialektik auf die gleichen Voraussetzungen bezüglich der Rezeption des Bewegungsprozesses angewiesen: Sie funktionieren nur, wenn die jeweils gegenteilige Meinung vorhanden ist.485 Die Konstruktion der Argumente, zielend auf den Nachweis der Nicht-Existenz der Bewegung, zeigt außerdem die Selbstverständlichkeit, mit der dagegen die Existenz von Bewegung im intellektuellen Diskurs, und auch im alltäglichen Umgang, angenommen wurde.486 Diese Selbstverständlichkeit wiederum deutet daraufhin, dass besonders die Charakteristik der Omnipräsenz eine weit verbreitete Vorstellung gewesen sein muss, die die Betrachtung der Entstehung und der Ursache von Bewegung in den entwickelten philosophischen Auseinandersetzungen notwendig gemacht haben dürfte. Vor allem Aristoteles’ ernsthafte Beschäftigung mit Zenons Argumenten kann als Indiz für den Wunsch interpretiert werden, den Bewegungsprozess wirklich intellektuell zu durchdringen und damit zu erfassen und zu verstehen, was wiederum auf seine Zentralität in der intellektuellen Diskussion hinweist – an der sich auch Thukydides mit seinem Werk beteiligt haben könnte. Eleatische Philosophie als Argument gegen die Selbstverständlichkeit Die Untersuchung der Eleaten hat damit sowohl für Zenon als auch für Melissos gezeigt, dass ihre Negation der Bewegung darauf zurückgeführt werden kann, 483 Vgl. Rapp, Zenon, S. 542. 484 Vgl. Palmer, Parmenides, S. 192. 485 Die Anmerkung D. Sedleys, dass Zenons Bewegungsparadoxien womöglich nur mündlich in Umlauf waren, würde diese These stützen, da dies für ihre Berühmtheit spräche, vgl. Ders., Atomism’s Eleatic Roots. In: Curd / Graham (eds.), Presocratic Philosophy, S. 306, Anm. 4. 486 Vgl. Palmer, Parmenides, S. 194.

Bewegung als Hauptproblem  

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dass sie allgemein als selbstverständlich gegeben angesehen wurde. Diese allgemeine Auffassung von Bewegung ist ebenfalls geprägt von den in anderen Texten herausgearbeiteten Charakteristika der Bewegung, wie es vor allem bei Melissos zu sehen war. Aus der Selbstverständlichkeit der Existenz von Bewegung können z. B. die Charakteristika der Omnipräsenz und Ewigkeit abgeleitet werden, welche in den Texten immer wieder begegneten, sie scheint desweitern den Diskurs stark geprägt zu haben, wie aus den Paradoxien und der ausführlichen Argumentation des Melissos gegen die Bewegung zu schließen ist. Außerdem könnte auf diese Charakteristika auch die Möglichkeit ihrer Eignung als Erklärungsprinzip zurückgeführt werden: Ein Prozess, unter dem sich jeder etwas vorstellen kann und der beobachtbar ist, bietet sich an, um komplizierte und abstrakte Zusammenhänge anschaulich darzustellen, ohne auf ihre genuine Funktionsweise eingehen zu müssen. Die Prozesse des Werdens und Vergehens im Kosmos können dadurch leicht verständlich auf Bewegung zurückgeführt werden, die dann wiederum selbst nicht weiter spezifiziert oder erklärt zu werden braucht. Das Fehlen einer Bewegungsursache, bzw. die Entwicklung eines metaphysischen Prinzips wie des Nous, ist ebenfalls auf eine solche Selbstverständlichkeit der Existenz zurückzuführen, die eine Frage nach der mechanischen Ursache nicht als ein hauptsächliches Problem wahrnimmt. Wenn sie dennoch als Problem angesehen wurde, konnte sie durch den Verweis auf ein höheres Prinzip beantwortet werden. Die Verwendung des Kinesis-Begriffs zur Illustration der historischen Vorgänge im Peloponnesischen Krieg könnte ebenfalls durch eine solche Perzeption des Bewegungsprozesses in der Gesellschaft allgemein erklärt werden: Der Begriff könnte den komplexen Prozess des Krieges und seine Voraussetzungen, Ursachen, Auswirkungen und Folgen in einem Bild zusammenfassen und so eine intellektuelle Auseinandersetzung mit ihm im Rahmen des bereits bestehenden Diskurses über die κίνησις ermöglichen.

4. Die κίνησις bei Thukydides

4.1 Die größte Bewegung I, 1, 2 Zur Konzeption der Untersuchung Die bisherigen Ausführungen dienten der Darstellung möglicher Assoziationen und Konnotationen, die im Denken des 6. und 5. Jahrhunderts mit der Bewegung im Allgemeinen, mit dem Kinesis-Begriff im Speziellen, verbunden waren. Sie sollten einerseits zeigen, dass die Vorstellungen dieser Zeit von κίνησις weit über den modernen, hauptsächlich physikalisch geprägten Bewegungsbegriff hinausgingen, woraus sich die Notwendigkeit ableiten lässt, auch bei Thukydides tiefer und eingehender zu untersuchen, welche Vorstellungen er mit diesem Begriff verbunden haben könnte. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der Zentralität des Begriffes für sein Werk, die im Rahmen der Forschungsdiskussion deutlich geworden ist. Vor allem die These, hinter dem Postulat der μεγίστη κίνησις verberge sich die Vorstellung eines übermächtig wirkenden, kosmischen Prinzips, welches das historische Geschehen präge, impliziert weitreichende Konsequenzen für das Verständnis des thukydideischen Textes und sein Potential als historische Quelle. Kann nämlich die Verarbeitung eines solchen Konzeptes plausibel gemacht werden, so kann die Darstellung vor dem Hintergrund dieser Verarbeitung gelesen werden, woraus sich für die Interpretation des Textes als Quelle für den Peloponnesischen Krieg, ja für die gesamte Zeit, zahlreiche Implikationen ergeben. So wären dann z. B.  Urteile über historische Persönlichkeiten wie Alkibiades oder Perikles vor diesem Hintergrund zu lesen und dementsprechend historisch einzuordnen. Dass der Kinesis-Begriff das Potential hat, in dieser Zeit ein übergeordnetes, kosmisches Prinzip zu beschreiben, ist durch die Untersuchung der Vorsokratiker deutlich geworden, denn immer wieder konnte er mit Vorstellungen von Omnipräsenz, weitreichender Kraft und nahezu unbegrenztem Einfluss sowie ewiger Gültigkeit verbunden werden. Vor allem der Aspekt des Einflusses auf Alles im Kosmos, ausgenommen vielleicht höchster göttlicher Prinzipien, bietet eine interessante Schnittstelle zur Betrachtung des Thukydides, der seinem Werk durch die Darstellung der menschlichen Natur ewigen Nutzen zuschreibt (I, 22, 4). Diese Natur müsste dann, sollte es sich zeigen, dass Thukydides ähnliche Vorstellungen von κίνησις wie die

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Die κίνησις bei Thukydides

Vorsokratiker in seinem Werk verarbeitet, auch immer von κίνησις beeinflusst sein und sich diesem Einfluss nicht entziehen können. Seine gesamte Darstellung der menschlichen Natur könnte dann von ihrem Verhältnis zur κίνησις geprägt sein und somit diese selbst in den Mittelpunkt des Werkes rücken. Dies wiederum kann die These zur Existenz eines weitverbreiteten, intellektuellen Diskurses über κίνησις im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. stärken, zu dem Thukydides mit seiner Schilderung des Peloponnesischen Krieges einen eigenen Anteil beisteuern würde. Um eine solche Konzeption der Darstellung der menschlichen Natur unter dem Einfluss der κίνησις im Werk plausibel machen zu können, muss zuerst nachgewiesen werden, dass für Thukydides eine Rückführung geschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen auf den Prozess der κίνησις selbst oder zumindest eine assoziative Nähe zwischen diesen Aspekten angenommen werden kann,1 sodass eine prinzipielle Nähe zur Vorstellung von κίνησις bei den Naturphilosophen feststellbar ist. Die κίνησις trägt bei ihnen Spuren eines übermenschlichen, unerklärlichen Prozesses und damit eines »mythologischen« Denkens,2 welches die moderne Forschung für die Vorsokratiker3 ebenso wie für Thukydides häufig ablehnt.4 Es gilt daher im Rahmen der Frage, inwiefern die Verwendung

1 So Schmid, Kinesis, S. 71: »Für Thukydides bot daher der untergeschobene Kausalmechanismus [d. h. die κίνησις] die Möglichkeit, die Größe seiner Zeit mit ihrer politischen Katastrophe in Einklang zu bringen.« 2 Vgl. dazu auch Orwin, Thucydides, S. 368–369. 3 Zur Diskussion vgl. Kingsley, Millenium, S. 354–357; Vlastos, Theology, S. 98; stellvertretend für unzählige weitere Monographien und Beiträge die Einleitung von W.-D. Gudopp-von Behm, Thales und die Folgen. Vom Werden des philosophischen Gedankens, Würzburg 2015, S. 10: »Sie [die frühe griechische Philosophie] ist die Partei eines neuen Denkens, das sich von verordneter Unwissenheit und von überkommenen religiösen und mythologischen Vorurteilen befreit […].«, sowie S. 34–35: »»Im Milieu des sich mehrenden Wissens, der sich ungehindert erweiternden Möglichkeiten und der »globalen« wissenschaftlichen Kommunikation wurde ohne ängstliche Rücksichtnahmen, also wissenschaftlich, nach wesentlichen und notwendigen Zusammenhängen und nach objektiven Gesetzen der Bewegung und der Bewegungen gesucht.«. Eindrucksvoll auch Cornford, Principium, S. 4–11. Einen Überblick in G. Most, From Logos to Mythos. In: R. Buxton (ed.), From Myth to Reason? Studies in the Development of Greek Thought, Oxford 1999, S. 25–50. Bei Marinatos, Religion, S. 56 ist deutlich zu sehen, wie der Einfluss der Naturphilosophen auf Thukydides im Sinne moderner »Wissenschaftler« als Gegensatz zur religiösen Tradition verstanden wird: »Despite his scientific learning, however, the Historian was influenced by traditional religion which viewed certain natural phenomena as manifestations of supernatural powers.« 4 Vgl. Meier, Erschütterung, S. 330. Besonders in Argumentationen, die nur über die Annahme eines vollständig rational-wissenschaftlichen Denkens im modernen Sinne bei Thukydides funktionieren, ist dieses Element gut zu sehen, vgl. Tsakmakis, Vergangenheit, S. 58–59: »Ein Versuch, Beziehungen zwischen den Naturkatastrophen und dem Krieg herzustellen, wäre in den Bereich der μυθῶδες zu rechnen; Thukydides würde eine

Die größte Bewegung I, 1, 2  

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des Kinesis-Begriffes und seiner Konnotationen bei Thukydides mit derjenigen der Naturphilosophen übereinstimmt und ob ein ähnliches Verständnis der κίνησις der Darstellung des Peloponnesischen Krieges und der Ereignisse in seinem Kontext zugrunde liegen kann, zu klären, inwieweit hier die Vorstellung von einem höheren Prinzip zu erkennen ist, welches hinter den dargestellten Ereignissen wirkt.5 Der Überblick zum Kinesis-Begriff in der Vorsokratik hat gezeigt, dass die Bewegung entweder als selbstverständlich wahrgenommen wurde, wie es bei den Milesiern zu sehen war,6 oder auf metaphysische Prinzipien zurückgeführt werden konnte (Empedokles, Anaxagoras).7 Selbst für die Atomisten ist ein rein mechanisches Bewegungsverständnis angesichts des Problems der primären Bewegung8 mindestens zweifelhaft, sodass auch hier die Annahme der Existenz von κίνησις, ohne dafür zwingend einen mechanischen Ursprung finden zu müssen, angenommen werden kann. Ist es nun so plausibel, für Thukydides, der sich in einem solchen intellektuellen Milieu bewegen kann,9 eine ähnliche Vorstellung von κίνησις a priori auszuschließen? Eine Vorstellung, die von der Ewigkeit ihrer Existenz ausgeht und die über der Bewegung nur noch das höchste Prinzip, Gott, zulassen kann, wie es bei Aristoteles10 zu finden ist? Wodurch sollte ausgeschlossen werden, dass er unter seiner μεγίστη κίνησις ebenfalls ein ewig wirkendes Prinzip versteht, dem die Menschen seiner Zeit ausgesetzt sind, welches er beobachtet und aufzeichnet, und dass sich dieses Prinzip für ihn gerade in diesem Krieg am deutlichsten zeigt? Wenn es anscheinend möglich ist, die Entstehung ganzer Welten und des Kosmos allein auf die Existenz der Bewegung zurückzuführen, wie wir es bei den Atomisten gesehen haben, warum derartige Behauptung als ἄπιστον […] ablehnen.« Vgl. Marinatos, Religion, S. 1–16; Hornblower, Thucydides, S. 30; P. Keyser, (Un)natural Accounts in Herodotus and Thucydides (Mouseion (Canada) 3, 6 (2006)), S. 323–325. 5 Es ist fraglich, ob Thukydides die hier vermutete Werkkonzeption mit Tsakmakis (wie Anm. 4) überhaupt als μυθῶδες ansehen würde, da seine Kriterien für eine unglaubwürdige Darstellung nicht a priori mit den modernen, wissenschaftlichen Standards gleichgesetzt werden können. Vgl. dazu auch Schmid, Kinesis, S. 55; Meier, Erschütterung, S. 333. Ähnlich Pouncy, Necessities, S. 35, jedoch auf den Krieg, nicht die Bewegung, bezogen: »There has to be some other causality, notably some kind of external pressure, which disturbs the regular flow of life […]. In Thucydides’ mind, the war seems to be an all-inclusive force of this kind […] Thucydides seems to have drawn the definition of his war large enough to embrace events which are beyond human control.« 6 Vgl. Guthrie, History I, S. 64–65. 7 Vgl. G. Rechenauer, Art. Anaxagoras. In: Flashar et al. (Hgg.), Frühgriechische Philosophie, S. 773. 8 Vgl. oben Kap. 3.4.4. 9 Vgl. Hornblower, Thucydides, S. 111; Thomas, Intellectual Milieu, S. 568. 10 Arist. Met. 1072b25. Vgl. auch D. Bradshaw, A New Look at the Prime Mover ( JHP 39, 1 (2001)), S. 1–22.

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Die κίνησις bei Thukydides

sollte dann die κίνησις nicht auch für Thukydides das kosmische Prinzip sein, in dessen Rahmen das Handeln seiner Akteure stattfindet?11 Nur, weil er die κίνησις nicht in gleicher »Form«, einer Kosmologie, behandelt, weil sein Augenmerk auf der Darstellung des Krieges liegt, muss nicht ausgeschlossen sein, dass eine solche Vorstellung von κίνησις, die dem Bild des »wissenschaftlichen« und »rationalen« Thukydides so sehr widerspricht,12 die Darstellungskonzeption prägen kann. Die Idee einer zeitlosen, ewigen κίνησις, wie sie sich bei den Natur­ philosophen gezeigt hat, die immer wirkt und mit der sich der Mensch dadurch immer auseinandersetzen muss, könnte damit schließlich auch dem Anspruch des κτῆμά ἐς αἰεὶ, des »Besitzes für immer«, zugrunde liegen. Somit soll die folgende Betrachtung zwei Fragen klären: Erstens ist zu untersuchen, ob sich im Thukydides-Text ähnliche Vorstellungen vom Prozess der κίνησις finden lassen wie bei den untersuchten Vorsokratikern – dies wäre ein Argument für ein thukydideisches Verständnis des Prozesses als übermenschliches, omnipräsentes, mächtiges Prinzip. Zweitens ist zu untersuchen, wie ­Thukydides dann die Wirkung eines solchen Prinzips darstellt, die sich beispielsweise anhand der Auseinandersetzung der Menschen mit diesem zeigen lassen könnte, d. h. in ihren konkreten Handlungen. Diese Handlungen müssten dann auf irgendeiner Ebene mit dem Prinzip selbst in Beziehung gesetzt werden und die Möglichkeit dieser Verbindung von menschlichem Handeln und der κίνησις als höherem Prinzip soll hier anhand der wörtlichen Verwendung des Kinesis-Begriffes im Werk untersucht werden. Schließlich ist am Ende in einer Synopse dieser beiden Untersuchungsbereiche zu klären, welche Aspekte des historischen Geschehens nun dazu geführt haben könnten, dass Thukydides dieses als μεγίστη κίνησις bezeichnet  – um somit zur Klärung der zentralen Forschungsfrage der Bedeutung der μεγίστη κίνησις in I, 1, 2 beizutragen. Um diese Ziele zu erreichen werden in den folgenden Kapiteln die Stellen untersucht, an denen Thukydides den Kinesis-Begriff bemüht. Die Begriffs­ konnotation ebenso wie die Einbettung in den Kontext sollen Aufschluss geben über das Verständnis und die Verarbeitung der κίνησις bei Thukydides. Die Stellen werden, um das Potential der Untersuchung des Begriffs noch deutlicher 11 Hier ergibt sich ein Schnittpunkt mit Cornfords Interpretationen des Thukydides, der in einem Essay von 1921 noch einmal den Hauptgedanken seines Werkes Thucydides Mythistoricus darstellte: »But it seemed to me that any Historian’s choice of facts to be recorded, his distribution of emphasis among them, his sense of their significance and relative proportion, must be governed by his philosophy of life.« (Cornford, Philosophy, S. 1). Eine Möglichkeit der Annäherung an diese Philosophie über den (möglichen) Einfluss der Naturphilosophie auf Thukydides’ Anschauungen und sein Denken wird hier vorgeschlagen. 12 Vgl. Meier, Erschütterung, S. 330–333.

Die größte Bewegung I, 1, 2  

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herauszuarbeiten, unter zentralen Darstellungsaspekten zusammengefasst. So wird der Kinesis-Begriff in Verbindung mit den beiden Hauptkontrahenten, Athen und Sparta, untersucht. Ebenfalls findet eine Betrachtung herausragender Einzelpersonen und ihrer Darstellung in Verbindung mit κίνησις statt, sowie Untersuchungen der Begriffsverwendung in metaphysischen Kontexten und in Bezug auf größere Gruppen, die nicht zu den Hauptkontrahenten des Krieges gehören. Verbindendes Element aller Betrachtungen ist immer der gegebene oder mögliche Bezug zum Kinesis-Begriff, sodass eine Verknüpfung des philologischen und des ideengeschichtlich-interpretierenden Ansatzes entsteht. Um mit der gewählten Methode der spezifischen Begriffserklärung die Frage zu beantworten, was sich hinter dem Postulat der μεγίστη κίνησις verbergen könnte, muss als Prämisse angenommen werden, dass zwischen der μεγίστη κίνησις im Proömium und dem Kinesis-Begriff an anderen Stellen im Werk ein inhaltlicher und konzeptioneller Zusammenhang bestehen kann. Diese Möglichkeit wird dann plausibel, wenn a) nachgewiesen werden kann, dass Thukydides die Abfassung des Werkes mit der μεγίστη κίνησις verbindet und b) die einzelnen Verwendungen in eine kohärente Darstellungsform plausibel eingeordnet werden können, sodass das Postulat der μεγίστη κίνησις als Ankündigung einer solchen Darstellungsform verstanden werden kann. Sind a) und b) plausibel gemacht, kann die Möglichkeit angenommen werden, dass Thukydides die im Proömium angesprochene κίνησις immer wieder im Werk illustriert – nicht nur, aber auch durch die Verwendung des Kinesis-Begriffes selbst an unterschiedlichen Stellen und in verschiedenen Kontexten. Dies impliziert noch keinesfalls, dass wirklich jede einzelne Verwendung ausschließlich auf die Verarbeitung eines solchen Konzeptes allein zurückgeführt werden muss, sondern soll lediglich die Möglichkeit dazu aufzeigen. Auch ist damit die Verarbeitung des Konzepts nicht auf die Verwendung des Kinesis-Begriffes allein beschränkt – sie kann sich ebenfalls an anderen Stellen ausdrücken. Dass aber überhaupt ein übergeordnetes Darstellungskonzept der μεγίστη κίνησις im Werk zu finden sein könnte, welches sich anhand verwandter Vorstellungen und Assoziationen sowie einer kohärenten Darstellungsweise rekonstruieren lässt und das die κίνησις als ein übergeordnetes kosmisches Prinzip interpretiert, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Dazu ist zuerst auf die grundlegende Frage einzugehen, inwiefern unter der μεγίστη κίνησις von I, 1, 2 mehr verstanden werden kann als nur eine Metapher für Vorkriegsprozesse.13 Entscheidend ist für diese Annahme die Klärung der kausalen Beziehung zwischen erstem und zweitem Satz des Proömiums: Was genau wird durch die μεγίστη κίνησις eigentlich begründet?

13 Vgl. oben S. 33–35.

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Die κίνησις bei Thukydides

Die Funktion der μεγίστη κίνησις im Proömium Die Klärung nicht nur der Bedeutung, sondern auch des Bezugs der einleitenden Worte κίνησις γὰρ αὕτη μεγίστη […] ist, wie sich gezeigt hat, von zentraler Bedeutung. Konkret ist ihr Kontext und ihre Stellung zwischen I, 1, 1 und 3 zu untersuchen, um die Bezüge der einzelnen Begründungen, die γάρ-γάρ Relation, zu verstehen, um dann von dort aus die Bedeutung des Kinesis-Begriffes für den gesamten Passus zu rekonstruieren. Um die Argumentation besser nachvollziehen zu können, sei hier die betreffende Passage angeführt: (1) Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεμον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέμησαν πρὸς ἀλλήλους, ἀρξάμενος εὐθὺς καθισταμένου καὶ ἐλπίσας μέγαν τε ἔσεσθαι καὶ ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενημένων, τεκμαιρόμενος ὅτι ἀκμάζοντές τε ᾖσαν ἐς αὐτὸν ἀμφότεροι παρασκευῇ τῇ πάσῃ καὶ τὸ ἄλλο Ἑλληνικὸν ὁρῶν ξυνιστάμενον πρὸς ἑκατέρους, τὸ μὲν εὐθύς, τὸ δὲ καὶ διανοούμενον. »Thukydides von Athen hat den Krieg der Peloponnesier und Athener, den sie gegeneinander führten, aufgezeichnet. Er begann damit gleich beim Ausbruch, in der Erwartung, der Krieg werde bedeutend werden und denkwürdiger als alle früheren; dies erschloß er daraus, daß beide auf der vollen Höhe ihrer Machtmittel in den Kampf eintraten und daß er das ganze übrige Hellenentum Partei ergreifen sah, teils sofort, teils nach einigem Zögern.« (2) κίνησις γὰρ αὕτη μεγίστη δὴ τοῖς Ἕλλησιν ἐγένετο καὶ μέρει τινὶ τῶν βαρβάρων, ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων. »Denn dies war die bei weitem größte Bewegung für die Griechen und einen Teil der Barbaren, ja fast sozusagen für die gesamte Menschheit.« (3) τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα σαφῶς μὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκμηρίων ὧν ἐπὶ μακρότατον σκοποῦντί μοι πιστεῦσαι ξυμβαίνει οὐ μεγάλα νομίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέμους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα. »Denn was davor war und noch früher, daß war zwar wegen der Länge der Zeit unmöglich genau zu erforschen; aber aus Zeichen, die sich mir bei der Prüfung im großen ganzen als verläßlich erwiesen, glaube ich, daß es nicht erheblich war, weder in Kriegen noch sonst.«14

Auf die unterschiedlichen Positionen ist im Forschungsüberblick bereits eingegangen worden.15 Es gilt daher, die Argumente hinsichtlich ihrer Bedeutung für 14 Übersetzungen nach G. P. Landmann. 15 Vgl. oben Kap. 2.1–2.

Die größte Bewegung I, 1, 2  

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den Bezug des Kinesis-Begriffes zu untersuchen. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen die Bezüge des γάρ und des αὕτη, also die Frage, was (αὕτη) der zweite Satz begründen (γάρ) soll. Das αὕτη ist sicherlich rückbezogen zu verstehen,16 greift jedoch nicht nur das eben Gesagte auf, sondern auch die κίνησις und bildet dadurch eine enge Verbindung zwischen ersten und zweitem Satz. Thukydides bedient sich außerdem einer Hervorhebungsfunktion von αὕτη, wenn dieses sich auf ein bereits genanntes Subjekt rückbezieht.17 Damit bekommt der Satz eine Doppelbedeutung, die zwar von Latacz bereits erkannt,18 aber nicht weiter verfolgt worden war, da sein Hauptaugenmerk dem Nachweis galt, dass mit αὕτη nicht nur der Krieg gemeint sein konnte. Denn der Leser versteht durch den doppelten Bezug des αὕτη sowohl den Rückbezug auf das Vorangegangene (­dieses Geschehen), als auch auf die κίνησις selbst (diese Bewegung).19 Somit wird nicht nur die ausschließliche Gleichsetzung von Krieg und Bewegung fraglich, sondern auch die Hervorhebung der Einzigartigkeit der Bewegung plausibel: es war genau diese Bewegung, die die größte darstellte, bzw. sich zur größten entwickelte. Hier wird deutlich, dass sich das ἐγένετο auf die Größe, nicht auf die κίνησις selbst bezieht – die κίνησις scheint also bereits existiert zu haben, bevor sie so außerordentlich groß wurde. Ist nun dieser doppelte Rückbezug plausibel, so muss die Funktion des γάρ in Verbindung mit dem Demonstrativpronomen geklärt werden. Für Latacz begründet der Satz »die Berechtigung der Schlussfolgerung (τεκμαιρόμενος) und die daraus resultierende Erwartung (ἐλπίσας)«20 bezüglich der Größe des Krieges. Da jedoch zu Kriegsbeginn nur das objektiv begründet werden könne, was bereits beobachtbar ist, könne sich die κίνησις nur auf den letzten Teil des ersten Satzes, die Akme-Entwicklung und die Blockbildung beziehen, da sich Thukydides andernfalls der bereits angesprochenen »Unlogik« in der Begründung schuldig mache.21 Gegen diese Auffassung sprechen mehrere Gründe: 16 Vgl. Latacz, Bewegung, S. 86; Tsakmakis, Vergangenheit, S. 31. 17 Vgl. R. Kühner / B. Gerth, Ausführliche Grammatik der Griechischen Sprache. Zweiter Teil: Satzlehre, 1. Band, Leipzig / Hannover ³1898, S. 660 § 4b. 18 Vgl. Latacz, Bewegung, S. 91–94. Latacz erkennt diesen doppelten Bezug in der Übersetzung des Satzes, wenn er sagt: »Die Bewegung nämlich, die dies(es Geschehen) darstellte, war […] die größte […].« Die hier folgenden Konsequenzen daraus werden von ihm jedoch nicht gezogen. 19 Die von Latacz angeführten 7 Vergleichsstellen (I, 50, 2; II, 31, 2; III, 113, 6; V, 60, 3; VI, 31, 1; VII, 29, 5; VII, 87, 5) funktionieren nach dem gleichen Prinzip und unterstreichen die Hervorhebung des Subjekts, sowie den engen Bezug zum Vorherigen, vgl. I, 50, 2: πολλῶν γὰρ νεῶν οὐσῶν ἀμφοτέρων καὶ ἐπὶ πολὺ τῆς θαλάσσης ἐπεχουσῶν, ἐπειδὴ ξυνέμειξαν ἀλλήλοις, οὐ ῥᾳδίως τὴν διάγνωσιν ἐποιοῦντο ὁποῖοι ἐκράτουν ἢ ἐκρατοῦντο· ναυμαχία γὰρ αὕτη Ἕλλησι πρὸς Ἕλληνας νεῶν πλήθει μεγίστη δὴ τῶν (3) πρὸ αὑτῆς γεγένηται. Vgl. auch die Übersetzung bei v. Wees, Thucydides, S. 40. 20 Latacz, Bewegung, S. 95. 21 Vgl. ebd., S. 94.

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Die κίνησις bei Thukydides

Zum einen der Bezug der κίνησις auf die Barbaren und die gesamte Menschheit, die durch die Blockbildung und auch durch die Entwicklung zur Akme nur marginal betroffen sind. Zum anderen scheint aber auch die Hervorhebung der κίνησις im Vergleich zu vorherigen Entwicklungen dagegen zu sprechen: denn die Attribution μεγίστη wird durch die nachfolgende Darstellung der Archäologie begründet.22 Diese Darstellung enthält zwar auch die Themen der Blockbildung (15, 3) und der Entwicklung zur Höhe der Macht (18–19), ist jedoch erst mit dem abschließenden Vergleich mit dem Perserkrieg in 23, 1–3 beendet.23 Deutlich wird die einzigartige Größe der Bewegung doch erst hier, in der Darstellung der Einzigartigkeit des Krieges und der vielen Besonderheiten, die diesen Krieg auszeichneten. Dies wird durch die Einleitung der Archäologie, die die Größe der Bewegung bezogen auf die Entwicklung insgesamt und den Krieg im Besonderen begründen will: τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα σαφῶς μὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκμηρίων ὧν ἐπὶ μακρότατον σκοποῦντί μοι πιστεῦσαι ξυμβαίνει οὐ μεγάλα νομίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέμους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.24 Eine Trennung zwischen 19 und 23 und damit zwischen 1,2 und 23, 1 durch die Methodenkapitel 20–22 kann nicht überzeugen, denn Thukydides greift in 20–23 insgesamt die Thematik dieses Satzes 22 Diese Konstruktion hat bereits Hammond, Arrangement, S. 130, so erkannt. Erneut aufgegriffen wird der Gedankengang der Begründung von J. W. Allison, Power and Preparedness in Thucydides, Baltimore / London 1989, S. 13–17. 23 Hammond, Arrangement, S. 129–136, dagegen sieht in Kapitel I, 19 den Beweis für die Größe der κίνησις, womit in I, 20 eine neue Thematik beginne. Dieser Argumentation kann ich jedoch nicht folgen, da ich in I, 19 nur einen Beweis für die These in I, 1, 1 finde, beide Kontrahenten hätten auf dem Höhepunkt ihrer Macht gestanden, nicht aber, dass diese Bewegung die größte war, vgl. auch Allison, Power, S. 26. Stattdessen muss doch die Größe im Vergleich mit dem Vorangegangenen deutlich gemacht werden, wie Thukydides selbst im Satz »τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα σαφῶς μὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκμηρίων ὧν ἐπὶ μακρότατον σκοποῦντί μοι πιστεῦσαι ξυμβαίνει οὐ μεγάλα νομίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέμους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα.« deutlich macht: denn alles Vorherige war nicht so groß. Dieser Beweis wird im Folgenden geführt und kann erst in I, 23, mit dem Vergleich zum letzten, größten Krieg, dem Perserkrieg, als abgeschlossen betrachtet werden. Hammonds Argumentation, die κίνησις beträfe nur die Entwicklung zur Akme zu Beginn des Krieges, kann daher nicht überzeugen, da eine Einschränkung der κίνησις auf den Beginn des Krieges aus den Formulierungen des Thukydides nicht herausgelesen werden kann: die κίνησις umfasst sicherlich eine Zeit vor dem Krieg, wahrscheinlich die gesamte Zeit, ist jedoch mit dem Erreichen der Akme beider Mächte nicht zuende: Ihre Größe im Vergleich zum Perserkrieg, die sie schließlich zur größten macht, bekommt sie ja erst durch die Vorkommnisse während des Krieges und seine Länge, wie auch Hammond, Arrangement, S. 137, zugibt. Vgl. Latacz, Bewegung, S. 96, Anm. 21 und Tsakmakis, Vergangenheit, S. 59. Vgl. auch oben Anm. 682. Gegen Hammond vgl. Connor, Thucydides, S. 21, Anm. 4. 24 Thuk. I, 1, 3. Zur Archäologie und der κίνησις vgl. auch A. W.  Saxonhouse, Kinésis, ­Navies, and the Power Trap in Thucydides. In: Balot / Forsdyke / Foster (edd.), Thucydides, S. 339–344.

Die größte Bewegung I, 1, 2  

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wieder auf: einmal die Einzigartigkeit der Bewegung und dann die Methode zur Untersuchung. Die Methode der Untersuchung, eingeleitet durch […] σαφῶς μὲν εὑρεῖν διὰ χρόνου πλῆθος ἀδύνατα ἦν, ἐκ δὲ τεκμηρίων ὧν ἐπὶ μακρότατον σκοποῦντί μοι πιστεῦσαι ξυμβαίνει […] wird in den Methodenkapiteln ausgeführt und in ihrer Anwendbarkeit als auf das vorliegende Werk übertragbar erwiesen, die Darstellung der Einzigartigkeit der Bewegung, eingeführt durch οὐ μεγάλα νομίζω γενέσθαι οὔτε κατὰ τοὺς πολέμους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα, findet in 23, 1–3 ihren Abschluss.25 Wenn sich also diese Darstellung auf den Nachweis der Größe bezieht und dabei explizit die Kriegsführung selbst, als auch »die anderen Dinge« einschließt, so würde dies einer Einschränkung des Kinesis-Begriffs auf die Blockbildung und die Akme-Entwicklung widersprechen: Die κίνησις muss also mindestens alles beinhalten, was Thukydides im ersten Satz anspricht, d. h. die Vorkriegsentwicklung und den Krieg selbst auch.26 Dabei kann die Formulierung οὐ μεγάλα, die den geschilderten Vorgängen jegliche Größe abspricht, kein Argument sein gegen den Bezug auf die Präsentation der κίνησις als μεγίστη, da ja auch ein Elativ vorliegen kann. Hätte Thukydides behauptet, die κίνησις sei wirklich die »größte von allen« gewesen, so hätte die Darstellung von Dingen, die nicht einmal »groß« sind, keine Beweiskraft, denn dann müsste Thukydides gerade andere große Dinge zeigen, um seine κίνησις als größte zu erweisen. Da es sich aber eben nicht um die »größte« im absoluten Sinne handelt, sondern nur um eine »besonders«, oder »außergewöhnlich« große bzw. um die »größte im Vergleich zu den vorherigen«, so kann dies gerade darüber begründet werden, dass die zeitlich früheren Vorgänge im Vergleich dazu noch nicht einmal groß waren, geschweige denn »besonders groß«. Es kann hier außerdem vermutet werden, dass Thukydides bewusst den Positiv als rhetorisches Mittel verwendet, um zu provozieren, womit er die Aufmerksamkeit des Publikums, welches gerade den Trojanischen Krieg und die Perserkriege als besonders bedeutende wahrnimmt, auf die Darstellung lenkt. Somit ist οὐ μεγάλα nicht nur auf das μέγαν aus dem ersten Satz, also auf die Größe des Krieges, zu beziehen, sondern kann auch als bewusster Kontrast zu μεγίστη interpretiert werden, ohne dass sich dadurch philologisch-argumentative Schwierigkeiten ergeben: die Begründung der außergewöhnlichen Größe der κίνησις ist auch in der Archäologie zu finden. Für die vorliegende Untersuchung ist die Möglichkeit dieses Bezuges vor allem deshalb wichtig, weil sich dann οὔτε κατὰ τοὺς πολέμους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα auch auf die Dinge der κίνησις bezieht, womit sich die Mehrheit der bis­ herigen Lösungsansätze, vor allem die Gleichsetzung von κίνησις und Krieg oder eben der Ausschluss des Krieges vom Kinesis-Begriff, als widersprüchlich zum Text erweist. Der Gedankengang der Einleitung ist dann wie folgt zu lesen: 25 Vgl. Anm. 23 in diesem Kapitel. 26 Vgl. dazu Schmid, Kinesis, S. 52; Meier, Erschütterung, S. 333, Anm. 20.

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denn diese Dinge waren eine äußerst große Bewegung für die Griechen, Barbaren, etc. Sie war äußerst groß, denn was davor war, war (noch) nicht (einmal) groß, weder im Bezug auf die Kriegführung, noch auf (alles) andere. Die deutliche Betonung gerade dieser Bewegung lässt dabei außerdem vermuten, dass für Thukydides der Kinesis-Begriff sehr viel breiter zu fassen ist, als sich nur an dieser Stelle rekonstruieren lässt, da er ja eben von mehreren Bewegungen, bzw. verschiedenen Ausprägungen, auszugehen scheint, von denen eine die von ihm im Werk behandelte Thematik darstellt (so lassen sich auch die Vorkriegsprozesse unter den Begriff κίνησις fassen). Dies heißt aber nicht automatisch, dass dies auch die einzige Ausprägung sein muss: es ist jedoch eine, die sich für Thukydides zur Darstellung von κίνησις besonders gut anbietet. Die κίνησις könnte aber ebenso auch in anderen Kontexten beobachtet und dargestellt werden: auch auf eine solche Interpretation lässt sich die Äußerung κατὰ τοὺς πολέμους οὔτε ἐς τὰ ἄλλα beziehen, wenn man sie in die Argumentation für die außergewöhnliche Größe der Bewegung einordnet. Die Formulierung in I, 23, 1 unterstreicht diese Deutung: Hier wird die Größe nicht nur aus einer rein zeitlichen Dauer im Vergleich zu den Perserkriegen, sondern auch aus den Auswirkungen des Krieges abgeleitet. Es zeigt sich hier einmal die Erwartung gerechtfertigt, dass der Krieg groß werde, gleichzeitig wird aber deutlich, dass diese Größe sich auch aus Aspekten ergibt, die nicht als Krieg zwischen Athen und Sparta definiert werden können (στάσις) oder gar nicht mit Kampfhandlungen in Verbindung stehen (Naturkatastrophen), woraus geschlossen werden kann, dass sich der Nachweis der Größe hier auf die größte Bewegung bezieht und nicht allein auf die Größe des Krieges: Die κίνησις ist damit mehr als nur der Krieg, wird aber die größte auch aufgrund seiner Größe. Es bleibt somit zu fragen, was genau denn durch die μεγίστη κίνησις im zweiten Satz begründet werden soll. Wie die obigen Ausführungen zum Bezug des αὕτη zeigen, sollte man sich von der Vorstellung verabschieden, der Kinesis-Begriff sei für Thukydides nur mit einem ganz bestimmten Vorgang verbunden gewesen: stattdessen stehen anscheinend alle im ersten Satz genannten Prozesse in Verbindung mit der größten κίνησις, die bereits vorher da war, jedoch noch nicht als »die größte« bezeichnet werden konnte. Wenn es daher für Thukydides möglich war, andere Prozesse bereits als κίνησις zu bezeichnen, so konnte er sie im Vergleich mit den vorherigen (τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα) κινήσεις auch als eine besonders große identifizieren. Dadurch ergab sich der Entschluss zur Abfassung direkt bei Beginn und die Hoffnung, der Krieg werde groß werden: diese Hoffnung gedieh aus der Beobachtung, dass es sich hier um eine κίνησις handelte, die größer war als alle vorher dagewesenen. Hinweise darauf lieferte der Umstand, dass beide auf der Akme ihrer Macht in den Krieg eintraten und alle Griechen Partei ergriffen. All diese Aspekte kann das γάρ im zweiten Satz aufgreifen. Diese Dinge waren bereits vor Ausbruch des Krieges erkennbar

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und die Hoffnung des Thukydides auf die Größe des Krieges speiste sich aus der Größe der Entwicklung, die alle vorhergehenden, wie es in den folgenden Kapiteln dargelegt wird, übertraf. Daraus ergibt sich zwar eine Betonung der Entwicklung vor dem Krieg, ist aber nicht zwingend auf diese festgelegt: auch die Prozesse während des Krieges können noch zur κίνησις gezählt werden. Die Beobachtung von Vorgängen, die als κίνησις bezeichnet werden können, ist damit immer möglich und somit ergibt sich für Thukydides auch keine argumentative Schwierigkeit: alle Vorgänge im ersten Satz sind somit kausal auf die Existenz einer Bewegung zurückzuführen, die angesichts der vorherigen für Griechen und Barbaren besonders groß war. Damit kann sich nach Rechenauer27 das γάρ eben auch auf ξυνέγραψε im ersten Satz, also auf die Abfassung selbst und alles von ihm Abhängige, beziehen und somit zwar auch auf die Erwartung, der Krieg werde groß werden, aber eben nicht ausschließlich: die Erwartung ist in erster Linie, wie Rechenauer zutreffend bemerkte, eine Ergänzung zum Abfassungsbeginn gleich am Anfang, aber keine Begründung für die Entscheidung zur Abfassung.28 Aus einer solchen Perspektive, die die Betonung der gesamten ersten Kapitel auf der Bewegung und nicht auf dem Krieg selbst sieht, steht der zweite Satz in seiner Bedeutung für die Entstehung des Werkes über dem ersten, denn in diesem berichtet Thukydides lediglich über den Gegenstand des Werkes (den Krieg), den Beginn der Abfassung (gleich bei Ausbruch), die Entscheidung für diesen Gegenstand »Krieg« (Größe und Wert der Darstellung (ἀξιολογώτατον)) und die Hinweise, die auf diese Größe und den Wert der Darstellung schließen ließen. Den zentralen Grund für die Entscheidung zur Abfassung selbst aber liefert der zweite Satz: die μεγίστη κίνησις, die stattfand und mit der der Krieg für Thukydides wohl in einer engen Verbindung stand.29 Die Grundlage dieser Verbindung zu untersuchen ist vornehmliche Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Diese Perspektive widerspricht der Auffassung von Latacz, nach der sich das γάρ deshalb nicht auf ξυνέγραψε beziehen könne, da ja bereits die Erwartung der

27 Rechenauer, Medizin, S. 265–266, Anm. 25. 28 Vgl. ebd.: »Den richtigen Weg zum Verständnis hat dagegen bereits W.  Schadewaldt, Die Geschichtsschreibung des Th., S. 48 ff. gewiesen. Man muß das γάρ von I 1, 2 als Begründung zum Hauptverbum des ersten Satzes ξυνέγραψε verstehen. Der Entschluß, den Krieg aufzuzeichnen, wird von Thukydides nicht so sehr mit den Partizipien ἐλπίσας… τεκμαιρόμενος begründet – diese geben vielmehr die näheren Umstände an, die ihn bewogen, gleich bei Kriegsanfang mit seinen Aufzeichnungen zu beginnen – sondern mit dem Ausmaß, in dem sich dieser Krieg als die größte Erschütterung der damaligen Welt darstellt.« 29 Vgl. Schmid, Kinesis, S. 53: »Nicht der Krieg selbst ist das Erwähnenswerte, sondern die Größe der Bewegung (der Veränderung, Wandlung, Unruhe), die ihn ihm zur Geltung kommt und Tatsache, Erscheinendes wird.«

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Größe als Begründung für den Schreibentschluss angegeben sei.30 Eine solche Argumentation vermag nicht zu überzeugen, denn auch wenn die Erwartung der Größe des Krieges als Grund für den Entschluss des Niederschreibens herangezogen werden kann, so muss sich doch damit nicht automatisch die nächste Begründung im zweiten Satz auf etwas anderes als diesen Schreibentschluss beziehen. Vielmehr ist die Struktur der Argumentation so zu verstehen, dass die Erwartung der Größe des Krieges und seines Darstellungswertes nicht nur die Begründung für den Beginn der Aufzeichnung gleich am Anfang darstellt, sondern für die Wahl des Krieges als Objekt des ξυνέγραψε. Der Entschluss zur Abfassung selbst aber ergab sich für Thukydides nicht aus der Größe des Krieges, sondern aus seiner Verbindung zur κίνησις, und zwar nicht nur zu irgendeiner, sondern zur größten,31 die ihn als Ausdruck dieser der Erwähnung wert machte.32 Die Erwartung ist damit Begründung für die Wahl des Themas (ὡς ἐπολέμησαν), die größte Bewegung aber für die Arbeit selbst, die ξυγγραφή. Dadurch wird deutlich, dass der Krieg für Thukydides Teil oder Ausprägung einer κίνησις war, die sich durch seine Darstellung beschreiben, bzw. »zusammenschreiben«,33 ließ. Gleichzeitig waren aber auch andere Ereignisse, die vor dem Krieg stattfanden, Teil dieser Bewegung, bzw. von ihr abhängig, wie die Entwicklung zur Akme und die Blockbildung, wie der Bezug von αὕτη auf das 30 Vgl. Latacz, Bewegung, S. 79 mit Bezug auf Ullrich, Geschichtswerk, S. 103 Anm. 119. Schmid, Kinesis, S. 52, geht auf Rechenauer ein, schließt sich jedoch Latacz an, ohne Rechnauers Argument entkräften zu können. Latacz’ Argumente für den Ausschluss dieser Möglichkeit sind nicht zwingend, da die Interpretation des Partizips ἐλπίσας als alleinigen Grund für die Tatsache der Abfassung (Latacz, Bewegung, S. 79 und 89–90) zwar möglich ist, damit jedoch noch nicht den hier vertretenen Bezug automatisch ausschließt. Die Verbindung von ἀρξάμενος εὐθὺς καθισταμένου und ἐλπίσας durch καί macht das Verständnis beider Partizipien im Sinne Rechenauers möglich: ausgedrückt werden Umstände der Abfassung, nicht die Gründe. Damit ist der Bezug des γάρ im zweiten Satz auf ξυνέγραψε durchaus möglich, da Latacz’ Argumentation gegen diese Lesart a priori vom kausalen Bezug des ἐλπίσας auf ξυνέγραψε ausgeht (ebd. S. 90). Der Bezug auf Ullrich (ebd. S. 79) überzeugt nicht, da Ullrich selbst keine Argumente für seine Interpretation anführt. Der zweite Satz kann damit die Begründung für das vorliegende Werk des Thukydides angegeben. Gleichzeitig sind Latacz’ Ausführungen nicht falsch, denn der Entschluss, gleich bei Beginn mit der Aufzeichnung begonnen zu haben, wird auch über die beobachteten Entwicklungen vor dem Krieg begründet. Gleichzeitig ist die Dauer der Erkenntnis der »größten Bewegung« nicht auf diesen Zeitraum begrenzt, denn Thukydides kann damit die Abfassung des gesamten Werkes und die Wahl des Themas begründen: ξυνέγραψε τὸν πόλεμον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων, ὡς ἐπολέμησαν πρὸς ἀλλήλους […]. 31 Ich weise hier erneut daraufhin, dass mir der elative Charakter von μεγίστη bewusst ist, dass ich aber aus Gründen des Leseflusses der Einfachheit halber den Superlativ wähle. 32 Vgl. Schmid, Kinesis, S. 53: »[…] das Bewegtsein ist dann »erwähnenswert«, wenn es groß ist.« 33 Ξυγγράφειν als Materialsammlung und Niederschrift, vgl. Hornblower I, S. 5 und Ders., Thucydides, S. 8–12.

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Vorangegangene deutlich macht: das Demonstrativpronomen kann also alles meinen, was dort genannt ist, von τὸν πόλεμον bis zu διανοούμενον. Bezieht man das γάρ auf den Entschluss zur Abfassung, so kann das Vorhandensein der größten Bewegung in letzter Konsequenz auch als Begründung für alles im ersten Satz von ξυνέγραψε Abhängige verstanden werden: des Abfassungsbeginns gleich zu Anfang, der Erwartung der Größe und des Darstellungswertes des Krieges, der Akme-Entwicklung und der Blockbildung und sogar des ὡς ἐπολέμησαν. All diese Aspekte lassen sich auf die eine oder andere Weise auf die größte Bewegung zurückführen und stellen damit ihre Ausprägungen dar.34 Damit ist die Untersuchung der möglichen Verarbeitung einer Konzeption von κίνησις im gesamten Werk auf eine plausible Grundlage gestellt: Thukydides begründet seine Darstellung des historischen Geschehens damit, dass es sich hier um eine μεγίστη κίνησις handelte. Demnach steht zu vermuten, dass sich diese auch an anderen Stellen im Werk finderfinden lässt – möglicherweise vor allem dort, wo Thukydides eben dieses Wort (oder verwandte Formen) verwendet. Somit erweist sich der Ansatz der Arbeit, aus den spezifischen Verwendungen im Werk auf die Bedeutung der μεγίστη κίνησις in I, 1, 2 zu schließen, als plausibel. Konsequenzen der Analyse für die Werkskonzeption Die Analyse der Struktur der Werkeinleitung, die den Schreibentschluss mit der Größe der κίνησις und nicht des Krieges begründet, stuft den Krieg selbst durch diese Rückführung auf die größte Bewegung in seiner Bedeutung herab: ἀξιολογώτατον τῶν προγεγενημένων wird er erst, weil diese Bewegung (wirklich) die größte war.35 Durch diese Konsequenz ergibt sich eine radikaler Perspektivenwechsel in der Behandlung des Werkes. Es steht nicht mehr die Größe des Krieges allein im Mittelpunkt der Darstellung, sondern die größte Bewegung: um ihre Beschreibung anhand des Krieges ist Thukydides bemüht. Damit wird es möglich, die κίνησις nicht nur als Sammelbeschreibung für andere Vorgänge, als einen »Hilfsbegriff«36, zu verstehen, sondern als Gegenstand der Darstellung, für deren Expression Thukydides aber auf den Krieg zurückgreift. Hier lässt sich die oben ausgeführte Idee der Darstellung des Einflusses der κίνησις auf die Menschen wieder aufgreifen, denn es ist vor diesem Hintergrund plausibel zu vermuten, dass es aus Thukydides’ Perspektive besonders gut gelang, diesen Einfluss aufzuzeigen im Rahmen eines Krieges von solchen Ausmaßen, wie sie der Peloponnesische Krieg annahm. Ein Krieg, der aufgrund 34 Vgl. Price, Internal War, S. 208–209. 35 Vgl. Schmid, Kinesis, S. 53; ähnlich Strauss, City, S. 229: »Not Periclean Athens but the work of Thucydides is the peak.« 36 Tsakmakis, Vergangenheit, S. 32.

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der Vorzeichen besonders groß zu werden versprach, bot für ihn vielleicht den optimalen Rahmen, um die Auseinandersetzung des Menschen mit einem ihm übergeordneten Prinzip darzustellen. Dass die κίνησις als ein solches wahrgenommen werden konnte, wurde durch die Analyse der Vorsokratiker deutlich. Gleichzeitig könnte der Prozess der κίνησις auch Grundlage der Erklärung des Geschehens werden, welches sich anderweitig nicht erklären ließe: die Naturkatastrophen der Pathemata-Liste, von Schmid,37 Meier38 u. a.39 bereits als Teil einer »Kinesis-Konzeption« vorgeschlagen, lassen sich hier als Beispiele anbringen. Die Möglichkeit einer solchen Konzeption könnte auch der Ratlosigkeit Abhilfe verschaffen, mit der die Pathemata-Liste z. T. bis heute in der Forschung betrachtet wird, da man sich die Verknüpfung von Naturkatastrophen und Kriegsdarstellung für einen »aufgeklärten« Thukydides nicht erklären kann.40 In einer Synopse der bisherigen Ergebnisse des Aufbaus der Einleitung wird deutlich, dass Thukydides die κίνησις zeitlich auf alles im Werk Geschilderte bezieht, auf die Zeit vor dem Krieg als auch währenddessen: die Pentekontaëtie in I, 89–118,2 als Schilderung der Akme-Entwicklung fällt unter sie genauso wie die in 23, 3 genannte Seuche von 430–426 v. Chr., die als Teil der Pathemata-Liste die Größe der κίνησις unterstreichen soll.41 Damit kommt als Grundlage der Untersuchung einer solchen Konzeption das gesamte Werk in Frage. Es wird im Folgenden zu betrachten sein, inwiefern sich Parallelen zwischen den Vorstellungen von κίνησις an verschiedenen Stellen im Werk, sowie zur Vorstellung in der Vorsokratik finden lassen, um dann diese mit den Konnotationen der μεγίστη κίνησις in I, 1, 2 zu vergleichen. Gleichzeitig soll dabei beobachtet werden, inwiefern die gesamte Darstellung durch diese Vorstellungen geprägt sein könnte, um anhand dieser Beobachtung und des abschließenden Vergleichs der Stellen eine werkumspannende Konzeption einer »größten Bewegung«, geprägt durch eben jene herausgearbeitete Charakteristik, plausibel zu machen.

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Vgl. Schmid, Kinesis, S. 54–55. Vgl. Meier, Erschütterung, S. 333–334. Vgl. Munson, Upheavals, S. 43. Eine Diskussion bei Meier, Erschütterung, S. 329–333, ebenso bei Munson, Upheavals, S. 43: »It is not clear, however, what kind of relation [zwischen κίνησις und Naturkatastrophen], other than contemporaneousness (πολέμου ἅμα ξυνεπέθετο), it means to establish.« mit Verweis auf die Kommentare von Gomme und Hornblower. 41 Zur Integration der Pathemata-Liste in die Darstellung, ihrer Auswahl und ihrer literarischen Funktion, die ebenfalls eine enge Verbindung zwischen Krieg und Naturkatastrophen nahelegen, vgl. Keyser, Accounts, S. 323–351. Noch deutlicher Marinatos, Religion, S. 23: »A point worth making is that the Historian is trying throughout his work to show the unique and exceptional character of the catastrophes.«

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4.2 »Wie sie gegeneinander Krieg führten« – Athen und Sparta in der κίνησις Wie bereits angekündigt beginnt die vorliegende Untersuchung mit einer Betrachtung der beiden Hauptkontrahenten des Krieges, Athen und Sparta. Somit fokussiert sich die zu untersuchende Textmasse zunächst auf alle Stellen, an denen eine der beiden Poleis mit dem Kinesis-Begriff in Verbindung gebracht wird. Dies schließt auch mögliche Zuschreibungen Dritter oder Selbstbeschreibungen mit ein, die vor allem in den Reden vorgebracht werden, denn hier werden, wie sich zeigen wird, typische »Bilder« der Poleis bezüglich ihres Umgangs mit und ihres Verhaltens in einer κίνησις gezeichnet. Diese Bilder sind sowohl auf ihre Kohärenz als auch auf ihre Funktion in einer möglichen Darstellung des Geschehens als einer μεγίστη κίνησις hin zu untersuchen. Da die Reden von Thukydides dem Werkkontext mindestens angepasst wurden, wie seine Ausführungen im Methodenkapitel in I, 22, 1 zeigen, und somit theoretisch ebenfalls einer möglichen Werkkonzeption der Darstellung der μεγίστη κίνησις untergeordnet sein können, fließen sie in die Gesamtbetrachtung ein. Darüber hinaus ist aber auch der weitere Kontext zu beachten, d. h. Stellen, an denen eine der beiden Poleis möglicherweise mit κίνησις assoziiert wird, ohne dass der Begriff selbst direkt in Verbindung mit der Polis verwendet wird. Dies trifft vor allem auf die Darstellung der Athener in der Rede der Korinther in Sparta zu, wie im nächsten Abschnitt deutlich werden wird. Da in dieser Rede die beiden Kontrahenten direkt einander gegenübergestellt werden und sich ihr Verhältnis zu κίνησις erst aus dieser Gegenüberstellung heraus umfassend analysieren lässt, wird sie hier zu Beginn betrachtet. Die Rede ist der Ausgangspunkt für die Untersuchung der Frage, ob dem Werk ein Darstellungskonzept zugrunde liegen könnte, in welchem Athen und Sparta jeweils typische Handlungsweisen in der von Thukydides beschriebenen μεγίστη κίνησις zugeordnet werden. Die Betrachtung der einzelnen Polis wird dann im Anschluss an die Untersuchung dieser Gegenüberstellung vorgenommen, wobei die einzelnen Stellen dann auch immer wieder in den Kontext der Gegenüberstellung auf der Tagsatzung in Sparta eingeordnet werden.

4.2.1 Die Dichotomie von Ruhe und Bewegung: die Tagsatzung in Sparta Besonderem Augenmerk in diesem Kapitel gilt der Rede der Korinther auf der Tagsatzung in Sparta. Nachdem Athen das abgefallene Poteidaia auf der Chalkidike umschlossen und zu belagern begonnen hatte (I, 64–65), beschlossen die Korinther, die um ihre Bürger in Poteidaia fürchteten, die Verbündeten nach Sparta zu rufen und sich dort über die Athener zu beschweren. Die Spartaner

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beschlossen, dass alle reden sollten, die glaubten, von den Athenern ungerecht behandelt worden zu sein (67, 3). Thukydides berichtet, dass bei dieser Versammlung eine Menge an Rednern auftrat und nennt die Megarer namentlich (67, 4). Die letzte Rede, die der Korinther (τελευταῖοι Κορίνθιοι), wird von Thukydides als erste von vier Reden direkt wiedergegeben (68–71). Die Korinther werfen den Spartanern vor, aller Warnungen zum Trotz die Gefahr, die von Athen für Hellas ausgehe, nicht gesehen zu haben und daher untätig geblieben zu sein, es nun zu spät sei und Athen bereits angefangen habe, die Verbündeten anzugreifen. Generell sei es ein Merkmal der Spartaner, nicht schnell und tatkräftig zu handeln, sondern abzuwarten, wodurch sie dem Feind noch mehr Macht gäben: Hauptsächlich seien aber sowohl die Perser, als auch die Athener bis dato eher durch ihre eigenen Fehler als durch das Eingreifen der Spartaner besiegt worden (68–69). In Kapitel 70 findet sich eine Charakteristik Athens im Gegensatz zu den Spartanern.42 Voller Tatendrang schauten sie in die Ferne, ständig auf der Suche nach Neuem und voller Hoffnung auf Erfolg, ebenso bei einer Niederlage nicht verzagt wie bei einem Erfolg zufrieden: sie könnten weder selbst Ruhe haben, noch anderen Ruhe lassen (μήτε αὐτοὺς ἔχειν ἡσυχίαν μήτε τοὺς ἄλλους ἀνθρώπους (70, 8)). Kapitel 71 betont den Nachteil der Spartaner gegenüber den Athenern eben aufgrund dieses Charakters. Notwendigerweise setze sich bei einem Konflikt zwischen alt (spartanische Lebensweise) und neu (athenische Lebensweise) immer das Neuste durch und nur im Frieden könnten »unbewegliche Traditionen« (ἀκίνητα νόμιμα) die besten sein, wer aber aktiv werden müsse, der habe Neuerungen besonders nötig (71, 3): ἀνάγκη δὲ ὥσπερ τέχνης αἰεὶ τὰ ἐπιγιγνόμενα κρατεῖν· καὶ ἡσυχαζούσῃ μὲν πόλει τὰ ἀκίνητα νόμιμα ἄριστα, πρὸς πολλὰ δὲ ἀναγκαζομένοις ἰέναι πολλῆς καὶ τῆς ἐπιτεχνήσεως δεῖ. »Wie aber im Handwerk herrscht notwendigerweise immer das Zukünftige: und für eine Polis in Ruhezeiten mögen unbewegliche Traditionen die besten sein, für die aber, die hinsichtlich vieler Dinge handeln muss, sind viele Neuerungen nötig.«

In diesem und dem darauffolgenden Satz findet die Synkrisis zwischen der unsteten Art der Athener und der Untätigkeit und Langsamkeit der Spartaner, die in Kapitel 70 begonnen hatte, ihren Abschluss. Die Korinther wenden sich hier von den aktuellen Problemen und bestehenden Konflikten ab, indem sie die jeweiligen Eigenarten43 bzw. die φύσις44 der jeweiligen Polis darstellen. Die Ko42 Zur Bedeutung des Kapitels, seiner sprachlichen Gestaltung und seiner Verknüpfung über den direkten Kontext hinaus vgl. M. Hagmaier, Rhetorik und Geschichte: Eine Studie zu den Kriegsreden im ersten Buch des Thukydides, Berlin 2008, S. 59–70. Zur Konsistenz dieses Bildes im gesamten Werk vgl. Stimson, Characterization, S. 38–70. 43 Vgl. Saxonhouse, Kinésis, S. 345 44 Vgl. Hagmaier, Rhetorik, S. 59.

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rinther selbst sprechen die in 23, 5 genannten διαφοραί zwischen den Athenern und den Spartanern hier explizit an (70, 1), beziehen sie aber auf allgemeine Verhaltensweisen und verlassen damit den Bereich der aktuellen Streitpunkte. Während die Beschreibung Athens von den Attributen der Neuheit und der Umwälzung (νεωτεροποιοί), der Schnelligkeit (ἐπινοῆσαι ὀξεῖς) und Wag­halsigkeit45 geprägt ist, stellen die Spartaner genau das Gegenteil dar. Diese Synkrisis findet ihren Abschluss in der Folgerung der Konsequenzen daraus: Sparta könnte nicht einmal gegen einen Nachbarn, der auf die gleiche zurückhaltende Art lebe wie sie, erfolgreich sein, geschweige denn gegen eine Stadt wie Athen. Diese Konsequenz wird mit dem oben zitierten Satz in einem Vergleich zum Abschluss gebracht: wie es beim Handwerk, der τέχνη, zwangsläufig ist, so muss es auch auf staatlicher Ebene geschehen, dass das Neue sich durchsetzt, da es besser auf neue Herausforderungen reagieren kann als das Alte. Die Besonderheit der gesamten Passage liegt hier vor allem in der Wiedergabe von vier Reden und nicht wie üblich einer bis zwei,46 es kann daher davon ausgegangen werden, dass Thukydides der Versammlung eine wichtige Funktion in der Kriegsdarstellung einräumt.47 Diese Wichtigkeit erklärt sich aus ihrer Verbindung zum Kriegsentschluss der Spartaner in I, 88, der ein zentrales Ereignis in der Entwicklung hin zum eigentlichen Kriegsausbruch darstellt.48 Es sind somit die Reden und ihr Inhalt nicht nur hinsichtlich der Darstellung der αἰτίαι καὶ διαφοραί und der ἀληθεστάτη πρόφασις aus I, 23, 4–6 von Bedeutung,49 sondern auch des kinetischen Charakters der Zeit, die Thukydides mit dem Krieg in I, 1, 2 in Verbindung gebracht haben könnte. Wenn sich also die Redentetras unmittelbar auf die Darstellung der Gründe für den Kriegsausbruch bezieht und damit auf den Krieg, so kann ebenfalls vermutet werden, dass sie auch mit der Analyse der κίνησις zusammenhängt, die sich im Rahmen dieser Ereignisse offenbart, wie oben bereits ausgeführt wurde. Für die Vertreter der These, Thukydides verarbeite ein Konzept von Ruhe und Bewegung in seinem Werk, ist diese Stelle Ausgangspunkt ihrer Untersuchung:50 hier stellen die Korinther Athen und Sparta gegenüber. Athen wird dabei durch eine Negation eindeutig mit der κίνησις assoziiert: ὥστε εἴ τις αὐτοὺς ξυνελὼν φαίη πεφυκέναι ἐπὶ τῷ μήτε αὐτοὺς ἔχειν ἡσυχίαν μήτε τοὺς ἄλλους ἀνθρώπους 45 Vgl. zum Ausdruck παρὰ γνώμην Hagmaier, Rhetorik, S. 63, Anm. 84. 46 Vgl. Ebd. S. 107. 47 Vgl. dazu ebd., S. 107–108; zu detaillierten Interpretationen vgl. E. F. Bloedow, The Speeches of Archidamus and Sthenelaides at Sparta (Historia 30, 2 (1981)), S. 129–143; Hornblower, Thucydides, S. 60; zur Bedeutung der Stelle bezüglich des Kriegsausbruchs vgl. A. M. Eckstein, Thucydides, the Outbreak of the Peloponnesian War, and the Foundations of International Systems Theory (International History Review 25 (2003)), S. 762–764. 48 Vgl. Hagmaier, Rhetorik, S. 23. 49 Vgl. ebd. S. 7. 50 Vgl. oben Kap. 2.2.

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ἐᾶν.51 Ruhe, so die Korinther, gönnten die Athener weder sich selbst, noch anderen Menschen. Immer in Bewegung sind sie also, und noch einmal wird der Gegensatz zu den Spartanern deutlich in 71, 3, wenn die Korinther den Spartanern vorwerfen, sich an »unbewegliche Traditionen« (ἀκίνητα νόμιμα) zu halten, was in einem Konflikt mit einem Gegner wie Athen zu einem großen Nachteil führe.52 Die Rede ordnet bereits früh im Buch den beiden Hauptkontrahenten typische Assoziationen zu: Athen – κίνησις, Sparta – ἀκίνητα νόμιμα. Auf Grundlage dieser Dichotomie lassen sich die Äußerungen der Korinther in die Betrachtung einer möglichen Darstellungskonzeption von κίνησις einordnen. Es ergibt sich durch diese enge Korrelation und die Verwendung der beiden Gegensätze im selben Kontext eine interessante Textgrundlage zur Interpretation der Begriffscharakteristik bei Thukydides, denn vor allem den Reden kommt im ersten Buch eine Schlüsselrolle in der Komposition des Werks und der Darstellung der Kriegsgründe und -anlässe zu.53 Da sich die Untersuchung auf die Analyse des Kinesis-Begriffs fokussiert, sollen weiterführende Fragen der Einordnung, Bedeutung und Interpretation der Rede im Gesamtwerk54 hier nur insoweit betrachtet werden, wie es die Analyse verlangt.55 Der Begriff ἀκίνητα νόμιμα stellt bezeichnenderweise eine vergleichbare Schwierigkeit dar, wie es bereits in den vorsokratischen Texten, vor allem bei Parmenides, beobachtet werden konnte. Hornblower erklärt den Begriff als »unchanging institutions«.56 Die philologische Untersuchung der Vergleichstexte hat jedoch gezeigt, dass dem Begriff ἀκίνητα eine weitere Bedeutung zukommen kann als bloß der Ausschluss qualitativer Veränderung: es könnte hier, ebenso wie bei Empedokles und Parmenides, auch die Konnotation des Auschlusses eines Einflusses von außen transportiert werden, was mit dem Bild der Spartaner, welches die Korinther gleich zu Beginn ihrer Rede zeichnen, korreliert (68, 1): »Euer Vertrauen in euch, Lakedaimonier, in eurem abgeschlossenen Gemeinwesen (τῆς καθ’ ὑμᾶς αὐτοὺς πολιτείας καὶ ὁμιλίας) und eurer Staatlichkeit […].« Mit dem Begriff ist hier also nicht nur die Veränderungslosigkeit von Traditionen gemeint, sondern in einem weiteren Sinne das blinde Vertrauen der Spartaner auf die eigenen Fähigkeiten, ihr Herkommen und ihren Ausschluss aller äußeren Einflüsse, die zu einer Neuerung beitragen könnten. Gleichzeitig 51 Thuk. I, 70, 9. 52 Vgl. hierzu auch die Darstellung bei J. Ober, The Rise and Fall of Classical Greece, Princeton 2015, S. 210–212. 53 Vgl. für einen vollständigen Forschungsüberblick Hagmaier, Rhetorik, S. 12–38. 54 Zum Forschungsüberblick bezüglich der Abfassungszeit der Reden, ihrer Einheit und ihrer Gestaltung vgl. Hagmaier, Rhetorik, S. 24–38. Für eine Analyse des Inhalts und der Gegenüberstellung von Sparta und Athen vgl. Edmunds, Chance, S. 89–93. 55 Eine detaillierte sprachliche Analyse bei Hagmaier, Rhetorik, S. 43–76. 56 Hornblower I, S. 116.

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wird ἀκίνητα mit dem Begriff der Ruhe, ἡσυχία, verbunden, welches als Kontrast zur Handlung generell steht, die der ἐπιτέχνησις bedarf. Was hier jedoch einander gegenüber gestellt wird, fällt nicht nur in den Bereich der Veränderungen, sondern ganz allgemein in den des Fortschritts,57 eines Konzepts, welches auf Veränderungen angewiesen ist, aber eben nicht allein aus diesen besteht, sondern vor allem auch auf die positiven Auswirkungen dieser Veränderungen abzielt, wie es im αἰεὶ τὰ ἐπιγιγνόμενα κρατεῖν zum Ausdruck kommt. Der Begriff ἀκίνητα ist daher hier vor allem durch die fehlende Handlung konnotiert, was durch die Verbindung zu νόμιμα verstärkt wird: das Begriffspaar schließt damit alles ein, was die Korinther an den Spartanern bemängeln, ihre Abschottung gegenüber den Anderen und ihre Untätigkeit, vor allem aber auch ihre Ablehnung jeglichen Fortschritts und damit verbunden jeglichen Einflusses auf ihre Lebensweise. In der Übersetzung von Landmann kommt dieser Aspekt durch das Wort »unantastbar« für ἀκίνητα deutlicher heraus: man will jede Veränderung durch einen äußeren Einfluss verhindern. Auf die Vorstellungen von κίνησις kann hier, wie schon in der Untersuchung des Parmenides, Empedokles und Xenophanes, über die Negation im Text geschlossen werden. Die Korinther zeichnen von den mit κίνησις assoziierten Athenern im Kontrast zu den ἀκίνητα νόμιμα der Spartaner ein Bild der Stärke und Kraft, die zwar die realen Möglichkeiten übersteigen mag (70, 3), trotzdem aber oft genug zum Erfolg führt (70, 7). Außerdem entsteht der Eindruck der möglichen ungehinderten Ausbreitung der Athener, vor allem im Gegensatz zu den Spartanern, wenn sie von den Korinthern ἀποδημηταί (70, 4) genannt werden: sie sind nicht gebunden an ihre Heimat,58 können überall hin und setzen dies auch in die Tat um. Besonders deutlich wird auch ihre Unzufriedenheit, die hier als ein Zeichen eines kinetischen Charakters gewertet wird, der nie zur Ruhe kommt (70, 7), was darauf schließen lässt, dass für die Athener ein Ende ihrer Bewegung nicht zu erwarten ist. Diese Charakteristik der Athener trägt deutliche Züge des Kinesis-Begriffes,59 wie sie bereits herausgearbeitet werden konnten: ihre Bewegung kennt keine Grenzen, selbst bei Misserfolg nicht, sie ist damit auch endlos und richtet sich auf immer Neues. Das Nebeneinander der verschiedenen Aspekte, die die Korinther aufzählen, erinnert an die vielen möglichen Richtungen der κίνησις, die sich auch bei den Vorsokratikern durch ihre Unvorhersehbarkeit und der damit verbundenen Unkontrollierbarkeit ausgezeichnet hat. All diese Aspekte werden im Schlusssatz der Synkrisis den ἀκίνητα νόμιμα gegenübergestellt, womit diese im Kontrast einerseits die Konnotatio57 Vgl. Gomme I, S. 232; Hagmaier, Rhetorik, S. 73. 58 Zur Verbindung von Flotte und Bewegung vgl. Saxonhouse, Kinésis, S. 346. 59 Vgl. dazu auch Strauss, City, S. 148; Orwin, Thucydides on Nature, S. 367; Jaffe, Thucydides, S. 66–75.

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nen von Kontrollierbarkeit und Vorhersehbarkeit erhalten, andererseits aber eben auch, und hier verlassen die Korinther die Ebene der φύσις und kommen wieder auf den eigentlichen Konflikt zu sprechen, zur Untätigkeit führen und damit erforderliche Handlungen unmöglich machen. Hier entwickelt sich eine interessante Ambivalenz, auf die auch im weiteren Verlauf der Untersuchung immer wieder zurückzukommen sein wird: folgt man den Ausführungen der Korinther, so wird klar, dass die Spartaner einerseits durch ihre Untätigkeit der κίνησις der Athener freien Lauf lassen und somit die Bewegung, die von ihnen ausgeht, noch verstärken. Andererseits macht aber gerade die Aufforderung, von den ἀκίνητα νόμιμα abzulassen, deutlich, dass die Korinther von den Spartanern erwarten, selbst zu einer κίνησις überzugehen, also der Bewegung der Athener durch eigene Bewegung entgegenzutreten. Somit ist für die Spartaner aus Sicht der Korinther eine Freiheit von κίνησις nicht möglich, sie können sich nur noch entscheiden, wie sie damit umgehen wollen, nicht mehr aber, ob sie damit umgehen wollen – denn das müssen sie. Bemerkenswert ist darauf aufbauend auch die doppelte Verknüpfung zur ­Ananke, deren Gesetzmäßigkeit hier durch die Doppelung besonders verstärkt wird und die dadurch die Wirkung der κίνησις im Kontrast zu den Folgen der ἀκίνητα νόμιμα verdeutlicht: es gibt keine Alternative zu der hier postulierten Erkenntnis, dass sich die mit κίνησις verbundenen Eigenschaften durchsetzen werden. Im Gegensatz zu Parmenides kontrolliert die Ananke hier aber nicht die κίνησις direkt, sondern sie ergibt sich aus ihr – ein Konzept, welches Parmeggiani bereits für Heraklit analysierte und darin eine mögliche Verknüpfung zu Thukydides sah.60 Dies ist damit zu erklären, dass Thukydides die Korinther die direkte Einwirkung der κίνησις auf die Sphäre der Menschen beschreiben lässt: so gibt es weder in der τέχνη, noch für die Polis eine Alternative zur Neuerung und diese Neuerung wird in Kapitel 70 eindeutig als eine Folge der Unruhe und damit der κίνησις präsentiert.61 Sowohl aus 70, 8 als auch aus 71, 3 wird somit deutlich, dass das Auftreten von Bewegung auch andere zwingt, sich mit dieser auseinanderzusetzen und, wie im Falle der Spartaner, sich von der »Unbeweglichkeit« zu verabschieden. Dieser Einfluss auf andere, dem keine Grenzen gesetzt sind62 und der jetzt sogar die Spartaner betrifft, erinnert ebenfalls an die schon bekannten Charakteristika der Bewegung in der Naturphilosophie. Vor allem wird die Alternativlosigkeit des Einflusses deutlich, denn laut der Korinther können sich die Spartaner zwangsläufig nicht gegen die κίνησις entschei60 Vgl. Parmeggiani, Methodology, S. 236 und oben Kap. 3.4.3. 61 Zur Verbindung von ἀκίνητα νόμιμα und Sparta als einer »alten« Stadt ohne Neuerungen vgl. Jaffe, Thucydides, S. 156–157. 62 So auch ebd. S. 158: »Unlike Sparta, whose control is more internal, on the level of the regime itself, Athenian imperial control is external, and so requires constant fear of Athenian power.«

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den, wollen sie gegen Athen bestehen. Hier scheint die κίνησις der Athener den bekannten Aspekt der Beeinflussung aller Dinge im Kosmos zu besitzen. Für die Spartaner ist nun alles, was ἀκίνητο ist, nicht mehr möglich, denn die Ruhezeit wird durch die Athener beendet.63 Dadurch macht Thukydides besonders deutlich, dass sich die Protagonisten, zumindest hier noch auf die Korinther beschränkt, in einer Zeit der κίνησις sehen, wofür Sparta nicht ausreichend vorbereitet sei. Aufgrund dieses komplexen Kontextes und der Funktion der Stelle im Aufbau des Werkes kann ἀκίνητα sowohl als zusammenfassender Kontrast zur Charakterisierung der Athener als auch als Verknüpfung zu I, 1, 2 verstanden werden, da hier nochmals deutlich gemacht wird, dass es sich eben nicht um eine Polis in der Ruhezeit (ἡσυχαζούσῃ μὲν πόλει) handelt und daher die ἀκίνητα zwangsläufig nicht mehr zum Erfolg führen können, da es sich eben, laut den Korinthern und nach Thukydides’ eigener Analyse, um die Zeit der μεγίστη κίνησις handelt. Diese These wird hier durch die Korinther erneut vorgetragenen und auch die Spartaner scheinen dieser Argumentation zu folgen, wenn sie in I, 88, den Kriegsentschluss fassen und sich damit für eine Bewegung aufgrund der Zeitumstände entscheiden. Im Hinblick auf die κίνησις wird zweierlei deutlich: sie sind nun überzeugt, nicht mehr in einer Ruhephase zu leben und damit können ihre ἀκίνητα νόμιμα nicht mehr die besten sein: Thukydides verbindet so ein historisches Ereignis (Kriegsentschluss Spartas) mit einer Darstellung der Zeit als κίνησις und angesichts des Konstruktionscharakters der Reden, die zwar einen historischen Kern beinhalten, aber dennoch von Thukydides in der Wortwahl gestaltet sind,64 ist hier von einer bewussten Akzentuierung auszugehen, die eine Verbindung zum Kinesis-Begriff im ersten Kapitel plausibel macht. Mit dieser Interpretation ist dann auch der Redensatz in I, 22 vereinbar: ὡς δ’ ἂν ἐδόκουν ἐμοὶ ἕκαστοι περὶ τῶν αἰεὶ παρόντων τὰ δέοντα μάλιστ’ εἰπεῖν, ἐχομένῳ ὅτι ἐγγύτατα τῆς ξυμπάσης γνώμης τῶν ἀληθῶς λεχθέντων, οὕτως εἴρηται. »Und so, wie ein jeder nach meiner Meinung in der Lage etwa sprechen musste, stehen die Reden in möglichst engem Anschluss an den Sinn des wirklich Gesagten.« 63 Gleiche gedankliche Verknüpfung findet sich auch in I, 118, 2, in der Thukydides berichtet, dass Sparta nur »unter Zwang« seine Ruhe aufgibt, womit der Kampf als Gegenteil davon als Teil der κίνησις verstanden wird: » οἱ δὲ Λακεδαιμόνιοι αἰσθόμενοι οὔτε ἐκώλυον εἰ μὴ ἐπὶ βραχύ, ἡσύχαζόν τε τὸ πλέον τοῦ χρόνου, ὄντες μὲν καὶ πρὸ τοῦ μὴ ταχεῖς ἰέναι ἐς τοὺς πολέμους, ἢν μὴ ἀναγκάζωνται […].« Vgl. auch Baltrusch, Sparta, S. 140. 64 Vgl. dazu O. Regenbogen, Thukydides. Politische Reden, Leipzig 1949, S. 16–22; K. Rohrer, Über die Authentizität der Reden bei Thukydides (WS 72 (1959)), S. 36–53; Carlo Scardino, Gestaltung und Funktion der Reden bei Herodot und Thukydides, Berlin / New York 2008, S. 453–464, vor allem 459: »Obzwar seine Reden nicht die Reproduktion wirklicher Reden darstellen, sind sie in einem höheren Sinne historisch, da sie besser als authentische Reden einen Einblick in die von Thukydides als wahr erkannten Triebkräfte und Motive der Geschichte gewähren.«

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Für Thukydides ergäbe sich hier kein Widerspruch, die Rede hinsichtlich des kinetischen Elements so zu gestalten, wie wir sie heute vorfinden, wenn für ihn das Geschehen selbst bereits als κίνησις galt. Thukydides hätte dann die Rede der Korinther lediglich an die von ihm analysierte Situation der Bewegung angepasst, gemäß des von ihm selbst aufgestellten Prinzips: περὶ τῶν αἰεὶ παρόντων τὰ δέοντα μάλιστ’ εἰπεῖν. Eine κίνησις erfordert (τὰ δέοντα) dann auch eine solche Rede und den abschließenden Verweis auf die Unterlegenheit der ἀκίνητα νόμιμα in der gegenwärtigen Situation. Es ist somit denkbar, dass es sich hier um eine Verbindung von historischem Ereigniss (Rede der Korinther) und thukydidedischer Darstellungskonzeption handelt: Thukydides passt die Rede insofern an, als sie dazu geeignet ist, die Zeit als κίνησις zu charakterisieren. Darüber hinaus trägt die Rede auch dazu bei, dass aus einer κίνησις eine μεγίστη κίνησις wird, indem sie die Spartaner vom Kriegseintritt überzeugt, sodass sich ein kompliziertes Geflecht aus beobachteten historischen Ereignissen und Darstellungskonzeption ergibt. Durch diese Verflechtung kann die These einer möglichen Grundkonzeption des Werkes, die sich am Postulat der μεγίστη κίνησις orientiert, gestützt werden.

4.2.2 Die Entdeckung der Langsamkeit Die Rede des Archidamos I, 80–85 Eine mögliche Illustration der Vorwürfe gegen Sparta, die die Korinther in ihrer Rede vorbringen, ist die Rede des Archidamos, die ebenfalls im Rahmen der Tagsatzung gehalten wird. Der spartanische König verwendet hier die Form κινεῖν und durch die dabei deutlich werdenden Vorstellungen und Assoziationen von κίνησις, die seine Rede transportieren, zeigt Archidamos, worin er die Vorteile der spartanischen Lebensweise sieht – und daher die Forderungen der Korinther an die Spartaner ablehnt.65 In Kapitel 79 berichtet Thukydides, dass die Meinung der meisten Anwesenden zur Fassung eines Kriegsentschlusses neigte. In dieser Stimmung trat König Archidamos vor, um zu sprechen: die Charakteristik des Königs als besonnen und verständig (ἀνὴρ καὶ ξυνετὸς […] καὶ σώφρων) wird durch δοκῶν als Meinung gekennzeichnet. Archidamos weist auf seine Erfahrung im Kriege hin, die dazu führe, dass er vom Krieg keine Vorteile und Sicherheiten erwarte (80, 1). Außerdem betont er erneut die Größe des zu erwartenden Krieges (80, 2). Die Kapitel 80, 3 – 81, 5 stellen eine Zusammenfassung und Gegenüberstellung der Machtverhältnisse Spartas und Athens dar, die Archidamos zu dem Schluss führen, dass in der gegenwärtigen Lage ein schnelles Ende eines Krieges nicht 65 Vgl. Hornblower I, S. 108.

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möglich sei (81, 6). Somit folgt in Kapitel 82 der Rat, den Archidamos aufgrund der vorherigen Betrachtung der Machtverhältnisse für den besten hält: man solle zwar deutlich machen, dass man das Verhalten der Athener beobachte und es nicht zulasse, dass Anderen geschadet werde, jedoch solle dies noch nicht mit Waffen, sondern durch eine Gesandtschaft geschehen: […] ἀλλὰ ὅπλα μὲν μήπω κινεῖν, πέμπειν δὲ καὶ αἰτιᾶσθαι […]. Man solle die Kriegsabsicht nicht allzu offen zeigen, aber doch deutlich machen, dass man zur Tat schreiten werde und in der gewonnenen Zeit der Gesandtschaft die Rüstungen vorantreiben (82, 1–2). Zum Ende des Kapitels weist er noch einmal auf die Unsicherheit des Krieges und auf andere Möglichkeiten zur Schlichtung hin, da ein Kriegseintritt im derzeitigen Zustand auch zum Schaden des Peloponnes gereichen könne (82, 5–6). Archidamos geht in den Kapiteln 83–84 auf die Vorwürfe der Korinther ein und stellt die positiven Seiten des spartanischen Wesens dar: ein rasches Eingreifen gegen die Athener bedeute einen Vorteil für diese, da sie eine reiche Seemacht seien, man solle sich deshalb von den Verbündeten nicht drängen lassen (83), die von den Korinthern kritisierte Überlegung und Besonnenheit hätten sich zum Vorteil der Stadt erwiesen, da man so immer vorbereitet gewesen sei (84). Der Ausdruck ὅπλα κινεῖν findet sich in der Überlieferung zuerst bei T ­ hukydides66 und ist zu dieser Zeit außergewöhnlich: Erst bei Flavius Josephus finden sich wieder vergleichbare Ausdrücke. Bereits aus diesem Grund lohnt ein vertiefender Blick auf den Wortgebrauch der Stelle, da davon auszugehen ist, dass Thukydides den ungewöhnlichen Ausdruck anstelle üblicher anderer Ausdrucksweisen gerade im vorliegenden Kontext deshalb gewählt hat, um den Inhalt und die Bedeutung der Passage zu unterstreichen. Daher kann die Konnotation des Begriffes aus dem Kontext der Rede des Archidamos herausgearbeitet werden.67 Die Hauptpunkte der Rede lassen sich angesichts des oben ausgeführten Inhalts wie folgt zusammenfassen: der bevorstehende Krieg wird groß (d. h. lang und aufwendig: dies geht hervor aus der Schilderung der Machtverhältnisse), der Krieg ist unvorhersehbar und unsicher und angesichts dessen sind voreilige Entschlüsse zu vermeiden und soweit wie möglich Vorbereitungen zu treffen. Die betreffende Stelle bezieht sich dabei genau auf die voreilige Aktion: Man solle noch nicht (μήπω) die Waffen bewegen, sondern sich Zeit verschaffen, damit die Peloponnesier an Ressourcen (Schiffe und Geld in 80, 4) mit den Athenern gleichziehen könnten (82, 1). Diese Rüstung könnte dann die Athener dazu bringen, vom Krieg abzurücken, womit das zentrale Problem in der Rede des Archidamos gelöst wäre: Die Unvorhersehbarkeiten des Krieges, 66 Laut der TLG -Online: http://stephanus.tlg.uci.edu/Iris/inst/tsearch.jsp#s=4, 31.07.2019. 67 Die Kommentare von Gomme und Steup schweigen zur betreffenden Stelle, Hornblower I, S. 127 geht nur auf die metaphorische Bedeutung im Sinne der Rüstung ein, nicht jedoch auf die Wortwahl selbst. Er merkt jedoch an, dass hier nicht explizit von Rüstung gesprochen wird.

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die immer wieder erwähnt werden (80, 1; 82, 6; 83, 3) und die den Ausführungen des gesamten Kapitels 84 zugrunde liegen, bereiten ihm die größten Sorgen. Es kann daher zwischen dieser Komponente des Krieges, die Archidamos in jeglicher Hinsicht in seiner Rede stark macht, und der Wortwahl ὅπλα κινεῖν eine Verbindung gezogen werden, die auf der Konnotation der Unvorhersehbarkeit und der fehlenden Vorbereitung beruht. Archidamos könnte daher hier κινεῖν nicht nur als neutralen Ausdruck eines Bildes der »Waffenbewegung« benutzen, sondern die Aktion generell auf den Aspekt des unvorbereiteten Losschlagens, dessen Folgen unabsehbar sind, beziehen. In diesem chaotischen Waffengang sind viele Aspekte enthalten, die bereits aus dem Kinesis-Begriff der Vorsokratik bekannt sind, so z. B. die unvorhersehbare Dauer (81, 6). Das κινεῖν bezeichnet damit im Kontext der vorangegangenen Schilderungen und Warnungen,68 sowie im Kontrast zu den aus diesen geschlussfolgerten Empfehlungen einer guten Vorbereitung und gründlicher Überlegung, einen überstürzten und aufgrund der fehlenden Besonnenheit unkontrollierbaren Waffengang, dessen Konsequenzen in jeglicher Hinsicht unabsehbar sind. Diese Konnotation des κινεῖν kommt im Kontrast zu den Worten παρασκευάζεσθε δὲ τὸν πόλεμον ἅμα in 85, 2 noch eindeutiger hervor: Archidamos will keinen Waffengang generell ausschließen, wie er ja auch in 82, 1 deutlich macht, wenn er von »Kriegsabsichten« (πόλεμον ἄγαν δηλοῦντας) und den Vorbereitungen zum Krieg durch Verbündete (κἀν τούτῳ καὶ τὰ ἡμέτερ’ αὐτῶν ἐξαρτύεσθαι ξυμμάχων τε προσαγωγῇ) spricht, sondern einen Waffengang zur jetzigen Zeit ohne die notwendige Vorbereitung. Seine Beschreibung des sofortigen, unüberlegten Losschlagens, welches mit ὅπλα κινεῖν im Gegensatz zum überlegten und langsamen Vorgehen, das Archidamos nachfolgend empfiehlt, assoziiert wird, ließe sich somit auch mit dem Aspekt fehlender festgelegter Richtung verbinden, wie sie bei Anaxagoras hevorgetreten ist.69 Auch bei Archidamos lässt sich aus seiner Ablehnung des Waffengangs aufgrund fehlender Vorbereitung und Überlegung herauslesen, dass im κινεῖν auch die Möglichkeit eines Scheiterns steckt, dass also die beschriebene Bewegung in ihrer Richtung und ihren Konsequenzen keinesfalls sicher vorhersehbar ist. Damit rückt der Kinesis-Begriff in die Nähe der Konnotationen der Unvorhersehbarkeit und der fehlenden Kontrolle: Diejenigen, die da »die Waffen bewegen«, also die Spartaner, können nicht davon ausgehen, dass dies zu ihrem Vorteil geschehen werde. So sind die aus dieser Aktion zu befürchtenden Konsequenzen typischerweise mit der Vorstellung von κίνησις bei den Vorsokratikern verbunden: es erwächst aus der fehlenden Kontrolle über den Verlauf der Aktion gleichzeitig die Gefahr, von ihr selbst betroffen zu sein,

68 Zu Archidamos als »Warner« vgl. Hornblower I, S. 125; Hagmaier, Rhetorik, S. 119. 69 Vgl. oben Kap. 3.3.2.

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worauf Archidamos mehrfach hinweist.70 Diese Warnungen erinnern an die Charakteristik des Einflusses von außen, die bereits in Bezug auf den Kinesis-Begriff herausgearbeitet werden konnte. Dieser Aspekt des Einflusses von außen, das heißt, dass die Spartaner nicht nur die Kontrolle verlieren können, sondern auch als Konsequenz daraus selbst betroffen sind, führt schließlich zur Verteidigung der Ruhe und der Besonnenheit in Kapitel 84: diese sollen nämlich die Möglichkeit eines derartigen Verlaufs der Dinge minimieren und stehen somit als Garanten für den Wohlstand der Stadt im Gegensatz zum von den Verbündeten geforderten ὅπλα κινεῖν. Archidamos entspricht damit dem den Spartanern unterstellten Charakterzug:71 Er will jedes Risiko vermeiden, indem er die potentiellen Gefahren, die von einer κίνησις ausgehen, für Sparta minimiert. Da die Korinther dieses »Waghalsige« der Athener durch ihren Hang zur κίνησις explizit den ἀκίνητα νόμιμα der Spartaner entgegenstellen, und Archidamos selbst ebenfalls ein ὅπλα κινεῖν ablehnt, bzw. dessen negative Folgen minimieren will, so wird hier deutlich, dass diese Charakterbeschreibungen von »Ruhe« und »Bewegung« sich selbst in der direkten Wortverwendung widerspiegeln. Es ist hier zu erkennen, dass die Wortverwendung mit der vorangegangenen Beschreibung gemeinschaftlicher Charakteristik und individueller Einstellung zur κίνησις an dieser Stelle übereinzustimmen scheint.72 Archidamos illustriert damit die kritisierte Langsamkeit der Spartaner, ihren akinetischen Charakter. Er will eine Eindämmung der κίνησις, bzw. ihrer negativen Auswirkungen, durch die angemahnte Rüstung erreichen, die hauptsächlich dazu dient, den Athenern die Lust auf einen Krieg bereits vor seinem Ausbruch zu nehmen. Durch dieses Moment der Abschreckung will er die besagten Unwägbarkeiten des Krieges bereits von vornherein vermeiden.73 Anhand dieser Gegenüberstellung der verschiedenen möglichen Aktionen und ihrer Konsequenzen auf die Polis Sparta wird deutlich, mit welcher Kon­ notation Thukydides den Archidamos hier den Ausdruck ὅπλα κινεῖν verwenden lässt: er soll die voreilige Entscheidung mitsamt ihren unvorhersehbaren Auswirkungen beschreiben. Thukydides scheint sich dabei bereits bekannter Konnotationen des Kinesis-Begriffs zu bedienen, die er durch die Ausführungen des Archidamos auf die spezielle Situation und damit auf den zur Debatte stehenden Krieg bezieht. Vor diesem Hintergrund wird auch die Bedeutung der bereits besprochenen Wendung ἀκίνητα νόμιμα in der Korintherrede noch einmal deutlich, die von Archidamos in Kapitel 84 seiner Rede verteidigt und in 70 So in 82, 5: ὁρᾶτε ὅπως μὴ αἴσχιον καὶ ἀπορώτερον τῇ Πελοποννήσῳ πράξομεν und in 82, 6: πόλεμον δὲ ξύμπαντας ἀραμένους ἕνεκα τῶν ἰδίων, ὃν οὐχ ὑπάρχει εἰδέναι καθ’ ὅτι χωρήσει, οὐ ῥᾴδιον εὐπρεπῶς θέσθαι. 71 Vgl. Stimson, Characterization, S. 214. 72 Zu weiteren Episoden, die Archidamos in ähnlicher Tendenz schildern vgl. ebd. S. 214–217. 73 Vgl. ebd. S. 212.

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ihrer Bedeutung für den Bestand der Polis hervorgehoben werden. Die dort angesprochenen Charakterzüge entsprechen genau den von den Korinthern in der aktuellen Situation kritisierten νόμιμα: sie sollen aber gleichzeitig verhindern, dass sich die Spartaner für Handlungen entscheiden, die sie in ihren Konsequenzen kaum oder gar nicht kontrollieren können.74 Sie dienen also dazu, eine κίνησις von der Polis fernzuhalten und sind im doppelten Sinne ἀκίνητα: sie sind einerseits selbst »unverrückbar«, sollen aber auch gleichzeitig dafür sorgen, dass die Stadt es ebenso bleibt. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich die Spartaner nach der Rede des Sthenelaidas (86), der eben für das sofortige Eingreifen entgegen des Ratschlags des Archidamos und damit für ein κινεῖν argumentiert (86, 3–5), dafür entscheiden, den Vertrag als gebrochen (87, 6) und damit auch den Krieg als »notwendig« (πολεμητέα εἶναι) zu erachten, wie Thukydides in Kapitel 88 erläutert. Dem Leser wird durch diese Verknüpfung der beiden Reden und der beiden Kapitel 87 und 88 deutlich, dass die Spartaner sich damit gegen den Rat des Archidamos, also für die von ihm abgelehnte κίνησις der Waffen entscheiden: Angesichts der Seltenheit des Begriffs im ganzen Werk kann hier ein Bezug zum Kinesis-Satz in I, 1, 2, der Postulation der größten κίνησις, als plausibel betrachtet werden. Interessanterweise entspricht durch den Fortgang der Handlung nur Archidamos der Charakterbeschreibung der Korinther, die Spartaner aber nicht. Betrachtet man die Darstellung insgesamt, so sind es nicht die Spartaner allgemein, die eine κίνησις ablehnen, sondern nur Archidamos: Sthenelaidas dagegen spricht sich ja für einen Waffengang aus. Thukydides stellt die Rede des Archidamos dem Entschluss der Spartaner für das ὅπλα κινεῖν entgegen, sodass Archidamos’ Rede strenggenommen »überflüssig« wird für den Fortgang der Handlung. Es stellt sich daher die Frage, aus welchem Grund Thukydides die Darstellung des Kriegsentschlusses so konzipiert hat. Durch die Analyse der Rede ist die These plausibel, dass Archidamos’ Rede von Thukydides zur Illustration der κίνησις und der möglichen Verhaltensformen ihr gegenüber verwendet wird. Archidamos weist auf die potentiellen Gefahren einer κίνησις hin und Thukydides macht mit der Verwendung des ungewöhnlichen Ausdruckes ὅπλα κινεῖν möglicherweise darauf aufmerksam, dass man bei einem Kriegsentschluss direkt in die μεγίστη κίνησις aus I, 1, 2 hereingezogen wird, ja zu ihr selbst beiträgt. Gleichzeitig kann Thukydides noch andere Aspekte durch diese Gegenüberstellung zeigen: Zum einen wird deutlich, dass Archidamos, der ja als spartanischer König den Waffengang anführen müsste, sich der κίνησις nicht 74 Zur Bedeutung der Konstruktion dieses Charakters im weiteren Verlauf des Werkes vgl. R. Luginbill, Author of Illusions. Thucydides’ Rewriting of the History of the Peloponnesian War, Newcastle 2011.

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entziehen kann – trotz all seiner guten Argumente und Warnungen entscheidet sich die Versammlung für den Waffengang. Archidamos hat also keine Wahl – Assoziationen zur bereits angesprochenen ἀνάγκη – κίνησις – Verknüpfung in der Vorsokratik werden hier wach: der Mensch kann sich ihrer Wirkung nicht entziehen. Im Gegenteil, durch die Entscheidung der Versammlung wird sogar der Krieg angetrieben und dieser kann in Thukydides’ Darstellung als Ausdruck der μεγίστη κίνησις interpretiert werden, wie die Ausführungen zum Proömium deutlich gemacht haben. Die μεγίστη κίνησις selbst würde dann also, so könnte man es deuten, durch die Menschen angetrieben und es entstünde ein Wechselverhältnis aus der Sogwirkung der κίνησις und ihrer Intensivierung durch die betroffenen Menschen. Kohärent zu diesem Eindruck argumentiert Sthenelaidas ausschließlich über den Schutz der Bundesgenossen, die ja in Form der Korinther die Spartaner »antreiben«. Die Entscheidung für den Krieg und für die κίνησις ist also hauptsächlich auf die Handlung der Bundesgenossen zurückzuführen, nicht auf Spartas Charakter selbst – sie werden sowohl in die κίνησις zwangsweise hineigezogen (wie Archidamos) als sie sich auch selbst dafür entscheiden. Es zeigt sich hier eine Mischung aus Eigenanteil an und Fremdbestimmung durch die κίνησις, die im weiteren Verlauf der Untersuchung weiter zu analysieren sein wird. Zum anderen wird hier deutlich, dass die Spartaner offenbar die angesprochenen Gefahren der κίνησις unterschätzen: Sthenelaidas kann sie in vergleichsweise kurzer Zeit überzeugen, doch einem Waffengang zuzustimmen. So zeigt sich am Beispiel des Archidamos, dass in diesem Fall ein Fernhalten von der κίνησις, wie es für die Spartaner laut der Charakteristik üblich wäre, nicht möglich ist, denn die Entscheidung der Versammlung fällt für das ὅπλα κινεῖν. Der Argumentation des Archidamos für die Beibehaltung des akinetischen Charakters wird nicht gefolgt, sodass sich sein Beharren auf diesen Charaktereigenschaften als unpassend für die Herausforderungen der Situation erweist. Dieser Aspekt des »unpassenden« Charakters der Spartaner für die Herausforderungen der κίνησις wird ihre Darstellung immer wieder prägen, wie die weitere Unter­suchung zeigen wird. So ist es für den anschließenden Fortgang der Handlung nur folgerichtig, dass Archidamos mit seinem Versuch, die negativen Auswirkungen der κίνησις auf Sparta zu minimieren, schließlich scheitert.75 Der vermeintliche Widerspruch zwischen der Entscheidung für den Krieg und dem 75 Davon unbeeinflusst ist die Feststellung, dass seine Voraussicht bezüglich der zu erwartenden Schwierigkeiten im Krieg zutreffend ist, vgl. H. D. Westlake, Individuals in Thucydides, Cambridge 1968, S. 125. Auch diese Kombination aus hervorragender Voraussicht und Scheitern im Umgang mit κίνησις wird im weiteren Verlauf noch eine Rolle spielen und betrifft beispielsweise Nikias, Alkibiades und Perikles, vgl. unten Kap. 4.4. Stimson, Characterization, S. 214, weist ebenfalls auf eine mögliche Verbindung von Archidamos und Alkibiades hin.

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Charakter der Polis Sparta (illustriert in der Archidamos-Rede) kann somit als Ankündigung eines in der Darstellung Spartas immer wiederkehrenden Themas interpretiert werden. Dies gilt es an den folgenden Stellen zu belegen. Die Schlacht bei Stratos II, 81 In Kapitel 81 des zweiten Buches berichtet Thukydides über den Angriff der Chaonen, die im Bündnis mit den Lakedaimoniern und Anderen unter dem Befehl des Spartaners Knemos in Arkanien einfallen. Stratos soll als die größte Stadt Arkaniens zuerst erobert werden, um den Rest des Landes leichter kontrollieren zu können. Das Heer teilt sich dafür in drei Gruppen auf: Lakedaimonier und Amprakioten, Leukadier und andere Hellenen und in der Mitte die Chaonen mit weiteren »Barbaren«. Diese mittlere Heeresgruppe stürmt jedoch, anders als die beiden Flügel, direkt auf die Stadt zu und wird von den im Hinterhalt liegenden Stratiern vernichtend geschlagen (81, 5). Die Chaonen fliehen zurück zum übrigen Heeresverbund, der von dem Kampf nichts mitbekommen hatte (81, 7). Anschließend vereinigen sich die Heere erneut, können aber keine weitere Aktion mehr unternehmen, da die Stratier ohne Verstärkung keinen Ausfall wagen und die Feinde gleichzeitig mit Schleudern in Schach halten: ἄπωθεν δὲ σφενδονώντων καὶ ἐς ἀπορίαν καθιστάντων. Dadurch war eine Bewegung ohne Waffen unmöglich: οὐ γὰρ ἦν ἄνευ ὅπλων κινηθῆναι. (81, 8). Mögliche Parallelen zu bereits bekannten Begriffskonnotation sind hier schwer nachzuweisen, da der Kontext die physische Bewegung eindeutig in den Vordergrund stellt. Es ist dennoch zu bemerken, dass vor allem der Aspekt der Ordnung und der Vorsicht hier eine Rolle spielt: Aufgrund der Möglichkeit, von Schleudern getroffen zu werden, sind die Spartaner und ihre Verbündeten nicht in der Lage ohne Waffen, gemeint sind hier wohl vor allem Rüstung und Schild,76 umherzugehen. Diese Bewegung ist vor allem durch Unachtsamkeit und Unordnung konnotiert: nur der Schutz durch die Waffen kann denjenigen, der sich so bewegt, vor dem Angriff der Schleudern retten. Eine Bewegung in voller Rüstung bedeutete daher absolute Konzentration und kein ungeordnetes und freies Hin- und Hergehen, wie man es sich für ein Militärlager unter anderen Umständen vorstellen kann. Das Anlegen der Waffen ging außerdem einher mit dem Einhalten einer bestimmten Kampfordnung,77 wodurch das κινηθῆναι durch die Negation die gegenteilige Konnotation erhält und ein ungeordnetes Umhergehen meint, welches unter anderen Umständen gefahrlos möglich wäre. Thukydides kann durch die Wahl des Begriffes das Bild des Lagers verstärken, welches das Heer vor der Stadt unfreiwillig aufgrund der eigenmächtigen Aktion 76 Vgl. Classen-Steup II, S. 217 Anm. 38. 77 Vgl. Gomme II, S. 216.

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der Chaonen aufschlagen musste: sie können sich nicht frei und gefahrlos bewegen, sondern müssen sich sehr vorsichtig und kontrolliert verhalten. Die Bewegung ohne Waffen bekommt damit ex negativo die gegenteilige Konnotation der gegenwärtigen Lage, ein unabhängiges, unorganisiertes und freies Umhergehen, bzw. sich Bewegen, dem hier durch die Schleudern der Stratier Grenzen gesetzt sind. Dadurch wird das κῖνειν in die Nähe der Aspekte der Unordnung und der damit zusammenhängenden Charakteristika der Unkontrollierbarkeit und Unvorhersehbarkeit gerückt, die alle zugleich in der gegenwärtigen Lage des Heeres Gefahr für die Soldaten bedeuten, wodurch jegliche Bewegung nur in voller Rüstung möglich ist. Erst Knemos’ Abzug in der Nacht befreit die Soldaten aus dieser Lage. Interessant ist, dass die Bewegung jederzeit eine Gefahr für die Soldaten darstellt, weswegen sie auf die Waffen angewiesen sind. Des Weiteren ist das Anlegen der Rüstung offenbar die einzige Möglichkeit, diese Gefahr einzudämmen: eine andere Kontrollmöglichkeit über die Situation ist nicht möglich, da die Stratier hinter ihren Mauern nicht überwältigt werden können. Der Abzug zur Nacht (82) scheint in Knemos’ Augen die einzige Möglichkeit zu sein, die Situation für das peloponnesische Heer zum Besseren zu verändern: Er entzieht sich damit dieser Situation.78 Damit wird impliziert, dass in diesem Moment das peloponnesische Heer nur eingeschränkte Kontrolle und bezüglich des ursprünglichen Plans gar keine Möglichkeit zur Umsetzung mehr besitzt, sodass sich trotz der Heeresstärke ein Kontrollverlust vollzieht, der vor allem in Kapitel 81, 6 zum Ausdruck kommt, wenn die Chaonen und die anderen Verbündeten aufgrund des Schreckens umkommen oder die Flucht ergreifen. Grund dafür sind nach Thukydides drei Dinge: der Übermut der Chaoner, die Art der Heeresbewegung, die weit voneinander entfernt marschieren und die Taktik der Stratier, vor der Stadt Hinterhalte zu legen. Letzteres jedoch ist nach der Darstellung erst eine Reaktion auf die beiden ersten Aspekte, sodass letztendlich der Nachteil des Heeres aus der Bewegung selbst heraus entsteht, der Ungestümheit der Chaonen auf psychischer und der Heeresbewegung auf physischer Ebene. Somit zeichnen sich für die Situation die Chaonen selbst, aber auch Knemos verantwortlich, der in zweierlei Hinsicht als Feldherr versagt: Zum einen lässt er die Heeresteile weit voneinander entfernt marschieren, sodass er die Kontrolle über sie verliert, zum anderen reicht seine Autorität nicht aus, damit sich die Chaonen und die anderen Verbündeten an den Plan halten. Dazu kommt noch eine Fehlinterpretation der Bewegung selbst in 81, 7, denn man habe geglaubt, der Heeresverband bewege sich so schnell, um einen Lagerplatz zu erreichen, nicht, um die Stadt anzugreifen. Was sich aus der Summe dieses Verhaltens ergibt, ist die schlussendliche Situation, die eine Bewegung ohne Waffen 78 Vgl. Stimson, Characterization, S. 217.

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unmöglich macht, bzw. anders ausgedrückt: eine Bewegung in Waffen erfordert, da alles andere gefährlich geworden ist. Durch diese Komposition stellt Thukydides die Situation als Ergebnis eines Fehlverhaltens bezüglich der Bewegungen dar, die schließlich negative Aspekte der κίνησις für diejenigen ergibt, die eigentlich durch Bewegung einen Erfolg erringen wollten. Die Darstellung erweckt den Eindruck, als ob hier die Tendenz zu übermäßiger Bewegung, gepaart mit der Unfähigkeit, diese zu kontrollieren und einzudämmen,79 zur Gefahr für die eigenen Soldaten geführt hat. Dieses Motiv von »zu viel Bewegung«, die zu einem Nachteil für denjenigen führt, der sie ausführt, gepaart mit einer Inkompetenz, dieses Bewegungspotential zu kontrollieren und erfolgreich zu nutzen (die Motivation der Chaonen selbst kann ja im Kampf auch von Vorteil sein), wird an prominenter Stelle in sehr viel größerem Ausmaß auch in Verbindung mit der Sizilien-Expedition Athens zu finden sein.80 Außerdem gilt es festzuhalten, dass Knemos und die Spartaner der Charakteristik der Korinther zu entsprechen scheinen, indem sie sich als unfähig erweisen, sich in der μεγίστη κίνησις, in der sie sich ja insgesamt befinden, adäquat zu verhalten und damit eigene Aktionen in ihrem Rahmen erfolgreich zu gestalten.81 Dies zeigt sich schon zu Beginn der Unternehmung, wenn die Aufforderung von den Amprakioten und den Chaonen kommt (80, 1), die die Lakedaimonier zum Feldzug gegen Arkanien überreden, womit der Impuls an sich schon von außen auf Sparta einwirkt und diese dann zwar reagieren, aber keinen Erfolg haben. Dadurch wird das Bild bestätigt, welches schon die Korinther von den Spartanern gezeichnet haben: sie ergreifen von sich aus nur selten die Initiative und müssen erst aufgefordert werden zu handeln. Wenn sie dann handeln und versuchen, auf die Anforderungen der μεγίστη κίνησις, in deren Rahmen der Angriff auf Stratos stattfindet, angemessen zu reagieren, haben sie keinen Erfolg, wie der Ausgang der Episode zeigt. Auch diese Tendenzen werden sich im Laufe der Untersuchung mehrfach erneut zeigen. Der Entschluss zum Krieg, zum ὅπλα κινεῖν also, von dem Archidamos so eindringlich abgeraten hatte, ging offenbar nicht einher mit einer langfristigen Charakteränderung der Spartaner. Durch die erneute Verwendung der Verbindung von ὅπλα und κινεῖν an der vorliegenden Stelle werden verschiedene Aspekte der Rede des Archi­ damos aus dem ersten Buch dem Leser ins Gedächtnis gerufen. Hier tritt genau 79 Zu Knemos als »typisch spartanisch« und dadurch nicht in der Lage, schnell und entschlossen zu handeln oder mit κίνησις zum eigenen Vorteil umzugehen vgl. Stimson, Characterization, S. 217–218. 80 Siehe unten Kap. 4.4.2. 81 Zur Konzeption spartanischer Generäle als unindividuelle »Type« vgl. Westlake, Individuals, S. 131. Stimson, Characterization, S. 211 weist daraufhin, dass spartanische Unternehmungen in der Darstellung konsequent fehlschlagen und dieses Fehlschlagen auf den »spartanischen« Charakter der Generäle zurückzuführen ist.

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das ein, wovor Archidamos gewarnt hatte, nämlich die unerwartete negative Auswirkung einer Handlung für diejenigen, die eigentlich von einem Vorteil ausgegangen waren. Jetzt jedoch sind die Spartaner und ihre Verbündeten regelrecht gezwungen, sich in Waffen zu bewegen: οὐ γὰρ ἦν ἄνευ ὅπλων κινηθῆναι. Es ist nicht mehr möglich, darüber zu entscheiden. Es zeigt sich, inwiefern die Entscheidung der Spartaner zum ὅπλα κινεῖν aus I, 82, 1 nun negative Auswirkungen hat und sich eine Sogwirkung entwickelt, die den Spartanern bei ihrer Entscheidung noch nicht klar gewesen zu sein scheint. War es vorher noch eine freie Entscheidung dafür, die Waffen »zu bewegen«, so ist die »Bewegung« in Waffen nun zwingend notwendig – ganz anders, als sich die Spartaner dies vorher ausgemalt hatten. So wird die Schilderung der Schlacht bei Stratos durch die Beteiligung Knemos’ als Kommandeur des Heeres zur Darstellung eines Scheiterns der Spartaner im Krieg, welches durch die Wortverwendung von ὅπλα und κινεῖν in eine assoziative Nähe zu ihrem eigentlichen Kriegsentschluss gestellt wird. Gleichzeitig kann auf Grundlage dieser Verknüpfung bereits erahnt werden, inwiefern die Herausforderungen des Kriegsgeschehens durch die spezifische Wortverwendung auch als Herausforderungen der μεγίστη κίνησις, zu der die Spartaner durch ihren Kriegsentschluss beigetragen haben, dargestellt sein könnten. Zwischen den einzelnen Stellen könnte nicht nur eine sprachliche Gemeinsamkeit, sondern auch eine inhaltlich aufeinander aufbauende Kohärenz konstatiert werden: Was sich vorher ankündigte (in der Archidamos-Rede und ihrem ὅπλα κινεῖν), wird hier durch die Darstellung des historischen Geschehens erneut aufgegriffen und konkret anhand eines Beispiels illustriert. Dabei zeigen die Verwendungen des Kinesis-Begriffes assoziative und inhaltliche Parallelen zueinander, sodass eine Verknüpfung zwischen den einzelnen Verwendungen und der μεγίστη κίνησις als Zusammenfassung dieser Illustrationen plausibel angenommen werden könnte, sollte sich eine solche Darstellungstendenz auch an anderen Stellen nachweisen lassen. Das Selbstvertrauen der Spartaner nach Pylos und Sphakteria IV, 55, 4 Nachfolgend soll die Schilderung der Verzweiflung der Spartaner angesichts der Niederlagen bei Pylos (IV, 5–41) betrachtet werden. Diese Niederlagen nehmen ihnen das Selbstvertrauen und die Kampfeslust (55, 2),82 aus Angst, noch einmal einen solchen Verlust wie auf der Insel Sphakteria hinnehmen zu müssen.83 Des Weiteren stehen die Athener in Pylos auf peloponnesischem Boden84 und auch 82 Vgl. Hornblower II, S. 218. 83 292 Spartaner, darunter 120 Hopliten, gerieten hier in athenische Gefangenschaft, vgl. IV, 38, 5. 84 Zur Pylos-Episode vgl. Connor, Thucydides, S. 108–113; Rood, Thucydides, S. 25–57.

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die Insel Kythera, der lakonischen Küste vorgelagert, bringen die Athener im Sommer 424 unter ihre Kontrolle (53–54), von wo aus sie die Küsten des Peloponnes leicht verheeren können. Die Reaktion der Spartaner auf diese direkten Bedrohungen werden in Kapitel 55 geschildert: sie stellten sich den Athenern nicht mit ihrer Gesamtmacht entgegen, sondern verteilten die Hopliten je nach Bedarf (55, 1). Dieses vorsichtige Vorgehen begründet Thukydides mit der Angst der Spartaner vor einem politischen Umsturz85 und der Anwesenheit der Athener auf Kythera und in Pylos, welche zu einer direkten Kriegsbedrohung führte, mit der die Spartaner nicht gerechnet hätten. Durch diese Angst stellen sie ungewöhnlicher Weise (παρὰ τὸ εἰωθός) eine Reiterei und Bogenschützen auf – ihre Motivation zur Kriegführung liegt angesichts des ungewohnten Seekrieges und der Art der Athener, alles Denkbare zu versuchen, am Boden (55, 2). Gleichzeitig seien sie von den Schicksalsschlägen erschüttert (τὰ τῆς τύχης πολλὰ καὶ ἐν ὀλίγῳ ξυμβάντα παρὰ λόγον αὐτοῖς ἔκπληξιν μεγίστην παρεῖχε) und in Angst gewesen, es könne so weitergehen: Sie hatten keinen Mut mehr und gingen bei allem, was sie »bewegten«, von vornherein von einem Misserfolg aus: καὶ πᾶν ὅτι κινήσειαν ᾤοντο ἁμαρτήσεσθαι (55, 3). Da sie Fehlschläge so wenig gewohnt waren, hatten sie ihr Selbstvertrauen verloren (55, 4). Der Kinesis-Begriff ist hier vor allem durch den ungewissen Ausgang der Aktionen geprägt,86 der die Spartaner zur Vorsicht zwingt und sie zur Aufteilung der Truppen bringt. Unklar ist dabei, wie das Partizip ἰδόντες im ersten Satz zu verstehen ist, da aufgrund des Kontextes (oἱ δὲ Λακεδαιμόνιοι ἰδόντες μὲν τοὺς Ἀθηναίους τὰ Κύθηρα ἔχοντας προσδεχόμενοι δὲ καὶ ἐς τὴν γῆν σφῶν ἀποβάσεις τοιαύτας ποιήσεσθαι) sowohl eine kausale (»weil die Lakedaimonier sahen«), konzessive (»obwohl die Lakedaimonier sahen«) oder sogar temporale (»als die Lakedaimonier sahen«) Übersetzung möglich wäre. Bei einem konzessiven Sinn würde Thukydides das Entgegentreten der Gesamtmacht als eigentlich richtige Handlung indirekt kennzeichnen und damit ausdrücken, dass die Unsicherheit des Ausgangs die Spartaner von richtigen Entscheidungen abhält,87 bei einem kausalen Sinn wäre die Aufteilung der Truppen aber genau die richtige Entscheidung,88 während ein temporaler Sinn gar keine Implikation enthält. 85 Vgl. Classen / Steup IV, S. 111; Hornblower II, S. 218; zur Problematik der »Helotengefahr« vgl. E. Baltrusch, Mythos oder Wirklichkeit? Die Helotengefahr und der Peloponnesische Bund (HZ 272/1 (2001)), S. 1–24, vor allem mit Bezug auf Pylos und Kythera S. 8; weiterführend auch die Studie von P. A.  Rahe, The Spartan Regime. Its Character, Origins, and Grand Strategy, London 2016, in der die Sicherung der Herrschaft über Messenien, Lakonien und die Heloten eine zentrale Rolle für die »grand strategy« einnimmt. Vgl. außerdem Thuk. IV, 80, 2–3. 86 Vgl. Gomme III, S. 511. 87 Vgl. die Übersetzung von Vretska / R inner. 88 Vgl. die Übersetzung von Landmann.

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Unabhängig davon wird die Aktion jedoch durch den Anschluss καὶ τὰ ἄλλα (»und auch sonst«)  als Vorsicht dargestellt, d. h. das Risiko für die Spartaner soll dadurch allgemein minimiert werden: καὶ τὰ ἄλλα ἐν φυλακῇ πολλῇ ἦσαν, φοβούμενοι μὴ σφίσι νεώτερόν τι γένηται τῶν περὶ τὴν κατάστασιν. Dieses Risiko, welches in den ersten Sätzen des Kapitels 55 angesprochen wird, ist dann auch Teil des Ausdrucks κινήσειαν, ebenso wie die Schicksalsschläge wider Erwarten (τὰ τῆς τύχης πολλὰ καὶ ἐν ὀλίγῳ ξυμβάντα παρὰ λόγον), die schließlich zum vorsichtigen Vorgehen führen, um angesichts der Ungewissheit des Ausgangs die möglichen negativen Konsequenzen so gering wie möglich zu halten. Auch hier ist der Leser wiederum an die Warnungen des Archidamos erinnert und die Spartaner spüren nun in ihrer Gesamtheit die negativen Auswirkungen ihres ὅπλα κινεῖν, für welches sie sich in der Tagsatzung aller Warnungen zum Trotz entschieden haben. So ist es durchaus kohärent, dass Thukydides auch hier wieder von einem κινήσειαν spricht, welches aber für die Spartaner nicht mehr freiwillig zu sein scheint, denn trotz der Angst vor einem weiteren Misserfolg sind sie durch die Umstände des Krieges gezwungen, etwas »zu bewegen«. Gerade hier kann plausibel vermutet werden, dass Thukydides mit dem Ausdruck κινήσειαν eine ganz bewusste Verbindung zum Verwendungskontext des Kinesis-Begriffes an anderen Stellen knüpft. Für die Maßnahmen, die die Spartaner ergreifen, wären auch Begriffe wie παρασκευάζειν denkbar, welches Thukydides an mehreren anderen Stellen im gleichen Kontext von Kriegsmaßnahmen verwendet (z. B. in IV, 52, 3). Noch eindeutiger kann das Ende des dem Begriff vorangehenden Passus 55, 3 als eine Verknüpfung zum ὅπλα κινεῖν verstanden werden. Hier wird mit den Worten καὶ τούτῳ πρὸς Ἀθηναίους, οἷς τὸ μὴ ἐπιχειρούμενον αἰεὶ ἐλλιπὲς ἦν τῆς δοκήσεώς τι πράξειν auf die Charakterisierung der Athener in der Korintherrede hingewiesen. Der Gegensatz wird durch den Anschluss in Kapitel 56, 1 noch deutlicher: τοῖς δὲ Ἀθηναίοις τότε τὴν παραθαλάσσιον δῃοῦσι τὰ μὲν πολλὰ ἡσύχασαν. Die Spartaner entscheiden sich selbst bei einem Angriff für die »Ruhe«. wodurch ein noch größerer Kontrast zu den Athenern entsteht, die überall Landungen durchführen. Das κινήσειαν beschreibt damit auch die Aktionen der Athener und bestätigt die Charakteristik der Korintherrede. Die Spartaner scheinen nun in einer Situation zu sein, in der sie zum κινεῖν keine Alternative mehr haben und daher versuchen, die negativen Auswirkungen möglichst gering zu halten. In eine solche Situation sind sie aber erst dadurch gekommen, dass sie sich für den Krieg entschieden haben, für das ὅπλα κινεῖν. In dieser Verbindung zeigt sich, dass die These, Thukydides wolle anhand des Krieges die Wirkung der μεγίστη κίνησις zeigen, durch die werkimmaenten Verbindungen plausibel wird: die Spartaner befinden sich durch ihre Entscheidung für den Kriegseintritt mittendrin und müssen nun mit den Konsequenzen umgehen. So kann die Darstellung ihrer Handlungen in diesem Kontext wie­

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derum als Illustration der μεγίστη κίνησις im Einzelnen interpretiert werden. Thukydides weist außerdem darauf hin, dass die Spartaner in ihrer Lage Schlachten (μάχαι) vermeiden wollten und sich daher »ruhig« verhielten: δῃοῦσι τὰ μὲν πολλὰ ἡσύχασαν. Er assoziiert dadurch Kampfhandlungen (μάχαι) mit dem Gegenteil der ἡσυχία – der κίνησις. Somit scheinen die Vorstellungen von μάχαι und κίνησις eng beinander zu liegen, die μάχαι ja regelrecht ein sichtbarer Ausdruck des Prozesses der κίνησις zu sein. Kapitel 56 zeigt dagegen, dass durch die Aktionen der Athener eine solche »Ruhe« der Spartaner nur kurzfristig und begrenzt sein kann.89 Das Aufzählen der Niederlagen bei Pylos und der Insel, die das Sinken des Selbstvertrauens begründen, markiert diese als Beispiele für »Bewegungen«, die die Spartaner nun zu vermeiden versuchen. Dass die Niederlagen dabei für die Spartaner παρὰ λόγον und vom Schicksal abhängig waren, zeigt an, dass Kontrolle über das Geschehen in solchen Bewegungen nicht garantiert und somit Misserfolg immer möglich ist.90 Dadurch wird der Kinesis-Begriff erneut in die Nähe des Aspekts fehlender Kontrolle, bzw. fehlenden menschlichen Einflusses auf den Ausgang einer Handlung, gebracht. Verstärkt wird dieser Aspekt des Unvorhersehbaren, bzw. Unkontrollierbaren durch den Wechsel der Situation von IV, 5–9 zu Kapitel 55: die Einschätzung der Situation durch die Lakedaimonier und ihre Vorbereitungen zur Vertreibung der Athener aus Pylos werden dem Leser als schlüssige, rationale und militärisch sinnvolle Überlegungen präsentiert: Der Platz sei nicht gut befestigt (von Thukydides in Kapitel 4 und 9 durch die Darstellung bestätigt), die Einnahme sollte schnell gelingen und ihre Flotte eine Unterstützung durch athenische Schiffe vom Meer aus unterbinden (8, 5). Selbst die Handlungen der Spartaner im Kampf werden von Thukydides als folgerichtig angesichts der Gegebenheiten dargestellt, so die Aufteilung in kleinere Abteilungen in 11, 3, eingeleitet mit διότι. Obwohl also all ihre Annahmen richtig und logisch sind, gelingt die Einnahme nicht, einmal aufgrund der Taktik des Demosthenes, die wenigen Soldaten an den richtigen Plätzen einzusetzen, andererseits aber auch aufgrund des Verhaltens der Lakedaimonier, wie Thukydides mit dem Hinweis auf Brasidas in 11, 4 – 12, 2 deutlich macht: Sie sind zu zurückhaltend auf ihren Schiffen und können daher keine Landung

89 Das hier nicht von einem langfristigen Ruhezustand die Rede ist, sondern von der Art und Weise, wie die Spartaner auf die einzelnen Landungen reagieren, zeigt die Schilderung des Scharmützels in 56, 1. Insgesamt handelt es sich hier also nicht um Ruhe als Gegensatz zur Bewegung, sondern um das Ruhe-Halten, welches im Kontext der durch die Athener und ihren Landungen immer wieder angetriebenen κίνησις stattfindet. 90 Auch das Gesuch der Spartaner an die Athener basiert in IV, 18, 2 in seiner Argumentation auf dem Gedanken, dass Misserfolg immer möglich ist, unabhängig vom menschlichen Handeln.

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erzwingen.91 Thukydides konstruiert hier einen Rollenwechsel von Athenern und Spartanern, die plötzlich die Kriegführung des jeweils anderen übernommen haben (12, 3). Während jedoch die Athener den Landkrieg entschlossen durchführen, sind die Lakedaimonier nicht in der Lage, ebenso erfolgreich den Seekrieg zu verfolgen.92 Über Erfolg oder Misserfolg scheint also nicht die Frage nach Land- oder Seemacht zu entscheiden, sondern es ist erneut der »akinetische« Charakter, die Zurückhaltung der Spartaner, der hier den konkreten, kurzfristigen Erfolg verhindert – einzig Brasidas scheint als Spartiat entschlossener zu handeln und rückt damit in eine charakterliche Nähe zu den Athenern in IV, 55, 2.93 Schließlich kann das Scheitern der eigentlich richtigen Maßnahmen und Vorbereitungen der Lakedaimonier als Begründung für die Wortwahl von κινεῖν in IV, 55 angeführt werden, welches dann anzeigen kann, dass sich die Lakedaimonier der fehlenden Kontrolle über das letztendliche Ergebnis ihrer Handlungen angesichts der Vorgänge in Pylos bewusst geworden sind. Die bei Pylos erlebte fehlende Kontrolle über die Situation, d. h. der Misserfolg wider Erwarten und Berechnung, spiegelt sich nun in der Bezeichnung κινεῖν für alle Handlungen Spartas in der Folgezeit wieder. Da über den Kontext auch die Aktionen der Athener indirekt als κινεῖν bezeichnet werden, zeigt sich hier außerdem, dass die Spartaner über die Bewegung an sich keine Kontrolle haben: Sie können sich diesen »Bewegungen« nicht entziehen. Einfluss ausüben können die Spartaner nur auf ihren Umgang mit der Bewegung und hier bilden sie eben den starken Kontrast zu den Athenern: Anstatt in die Offensive zu gehen, d. h. zu agieren, beschränken sie sich auf das Reagieren bzw. Vermeiden jeglicher Aktion, da sie von vornherein vom Misserfolg ausgehen. Wie bereits erwähnt, scheinen die Spartaner aber regelrecht dazu gezwungen zu sein, etwas zu bewegen: zu ihrem κινεῖν scheint es in der Darstellung keine Alternative zu geben. Dies impliziert, dass die Aktionen der Spartaner die κίνησις nicht stoppen können und ihr Auftreten nicht kontrollierbar ist, sondern nur die Maßnahmen, die in ihrem Rahmen getroffen werden.94 Durch diesen Zwang (auch hier sei wieder an die ἀνάγκη  – κίνησις  – Verknüpfung aus der

91 Dieses Zaudern hatte bereits Perikles in I, 142, 8 vorausgesagt. Zu Brasidas vergleiche unten Kap. 4.4.4. 92 Besonders deutlich zeigt sich dies in der Schilderung der Ankunft der athnischen Flotte in IV, 14. 93 »[…] die Athener, die alles, woran sie nicht selbst Hand anlegten, immer bereits als Beeinträchtigung dessen ansahen, was sie zu erreichen meinten.« Vgl. auch IV, 81, 1. So schon Strauss, City, S. 213 und 222, der Brasidas als »Athener unter Spartanern« sieht. 94 Bei der Optativ-Form handelt es sich um einen Optativus obliquus, abhängig von ᾤοντο im Hauptsatz. Es wird hier die Meinung der Spartaner bezüglich des Misserfolgs als subjektiv gekennzeichnet. Dies betrifft aber nicht das Auftreten der κίνησις an sich; es bleibt weiterhin eine Tatsache und keine Möglichkeit.

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Die κίνησις bei Thukydides

Vorsokratik erinnert) und den gegebenen Kontext wird das ἡσύχασαν in 56, 1 nicht zum Gegenteil der μεγίστη κίνησις, sondern stellt nur das Verhalten der Spartaner im Umgang mit ihr dar, sodass die κίνησις durch die Verbindung zum Zwang für die Menschen zu einer »übermenschlichen« Instanz wird. Thukydides äußert sich hier zwar nicht über mit der Ananke in der Vorsokratik vergleichbare Instanzen, die einen solchen Einfluss auf die κίνησις ausüben könnten, zeigt aber, dass es nicht in der Macht von Individuen, bzw. kleineren Gruppen, liegt, sich der κίνησις vollständig zu entziehen bzw. sie zu beenden. Der Unwillen der Spartaner, sich überhaupt noch am Krieg zu beteiligen und die gleichzeitige von den Athenern aufgezwungene Notwendigkeit erinnern darüber hinaus an den Aspekt der Erfassung von außen, gegen den die Spartaner machtlos sind, woraus sich die Darstellung ihrer Entscheidung ergibt, nur noch dort zu agieren, wo es keine andere Möglichkeit mehr gibt. Da die Situation der Spartaner durch all diese Aspekte gleichzeitig geprägt ist, wie Thukydides in der Beschreibung deutlich macht, ist es möglich, die Wortwahl für jede ihrer Handlungen durch die Charakteristik der Situation zu begründen – ihre Handlungen sind ein κινεῖν, da sie weder ihren Ausgang kennen, noch ausreichend Kontrolle über ihren Verlauf oder ihre Ergebnisse ausüben können. Sparta und die κίνησις Die obige Zusammenstellung bildet keineswegs eine Gesamtheit der Darstellung Spartas in der κίνησις ab, denn viele einzelne Stellen sind vielfach zu verwoben und auf komplexen Ebenen miteinander verknüpft. Dies führt dazu, dass Spartas Umgang mit der κίνησις, besser gesagt ihr Verhalten in der κίνησις, auch an anderen Stellen implizit oder explizit von Thukydides dargestellt wird. Die hier besprochenen Stellen geben aber einen guten Einblick in die allgemeine Darstellungstendenz. Die Möglichkeit, verschiedene Stellen eng miteinander zu verknüpfen, führt dazu, dass sich diese Tendenz auch anhand von Darstellungen beispielsweise der Polis Athen oder von Einzelpersonen annehmen lässt. Dadurch wird im weiteren Verlauf der Untersuchung immer wieder auf die hier angestellten Beobachtungen zurückzukommen sein, wobei auch ihre Plausibilität genauer geprüft werden kann. An dieser Stelle gilt es jedoch erst einmal festzuhalten, dass durch die Darstellung in der Tagsatzung eine Dichotomie Athen-Sparta aufgemacht werden kann, die sich auch im Verhalten der jeweiligen Polis in der κίνησις wiederfinden lässt. Dies setzt vorraus, dass man die Verwendungskontexte des Kinesis-Begriffes als eine Darstellung solchen Verhaltens versteht – was, wie die Untersuchung bisher gezeigt hat, durchaus möglich ist. Dieses Verhalten entspricht dann dem in der Korintherrede im ersten Buch dargestellten Charakter Spartas: die Spartaner sind mit der κίνησις offenbar überfordert, die Entscheidung für die κίνησις, von

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Thukydides möglicherweise deutlich gemacht durch die Verwendung von ὅπλα κινεῖν in der Rede des Archidamos, bringt für die Spartaner hauptsächlich negative Konsequenzen mit sich, ihr Verhalten ist nicht von Erfolg gekrönt. Umso interessanter wäre es natürlich im weiteren Verlauf die Frage zu untersuchen, wie Thukydides dann vor diesem Hintergrund den letztendlichen Sieg Spartas über Athen darstellt – was jedoch angesichts des abrupten Abbruchs des Werkes noch vor dem Sieg Spartas nur schwer möglich ist. Dennoch wird im weiteren Verlauf der Arbeit an gegebener Stelle darauf zurückzukommen sein. Für die Forschung zeigt sich ein möglicher neuer interessanter Aspekt, der durch die Untersuchung der einzelnen Stellen hervorgetreten ist: Die Darstellung des Verhaltens der Spartaner in der κίνησις entspricht dem von verschiedenen Interpreten konstatierten »Charakter« der Polis.95 Doch entgegen der dabei üblichen Assoziation Sparta – Ruhe96 ist hier darauf hinzuweisen, dass Sparta die Option »Ruhe« anscheinend in dem Moment verliert, in dem sie sich für die Beteiligung am Krieg entscheidet. Die Einzelanalyse der betreffenden Stellen hat gezeigt, dass sich Sparta ab diesem Zeitpunkt mit κίνησις auseinandersetzen muss und dabei nicht über die Fähigkeiten verfügt, dies erfolgreich zu tun. Diese Interpretation wird durch den Aspekt möglich, dass die Verwendung des Kinesis-Begriffes durch Thukydides in Verbindung mit den Spartanern auf eine solche Tendenz hinweist, bzw. sich plausibel auf eine solche Tendenz zurückführen lässt. Angesichts des bisher potentiell zu erkennenden »übermenschlichen« Charakters der κίνησις, der sich vor allem in den Aspekten des Zwangs und der Unvorhersehbarkeit äußert, ist zu fragen, inwieweit für Thukydides unter diesen Umständen dann eigenverantwortliches erfolgreiches Verhalten in der κίνησις überhaupt als möglich gedacht wurde. Das Scheitern Athens lässt ja, sollte sich die Darstellungstendenz kohärent durch das gesamte Werk plausibel machen, darauf schließen, dass auch das gegenteilige Verhalten zu Sparta keinen Erfolg garantiert. So gesehen zeigt Thukydides hier kein »Rezept« für erfolgreiches und erfolgloses Verhalten in der κίνησις, sondern vermutlich die Unmöglichkeit, sich »angemessen« zu verhalten und mit Erfolg zu rechnen. Dies lässt sich aus dem bereits angedeuteten Gegensatz zwischen den beiden Poleis schließen und soll im weiteren Verlauf der Untersuchung noch eingehender betrachtet werden. Der »Charakter« der Polis scheint damit kohärent zu ihrem dargestellten Verhalten zu sein – und ist vielleicht sogar darauf zurückzuführen. Thukydides könnte dieses Verhalten auch auf der Detailebene, durch die Verwendung des Begriffes selbst, zeigen wollen. Dies soll nicht ausschließen, dass hier auch an-

95 Vgl. oben Kap. 2.2. 96 Zur Forschungslage vgl. oben S. 48–51.

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dere Bedeutungen des Kinesis-Begriffes bemüht werden, z. B. die physikalische Ortsbewegung in II, 81. Aber es lässt sich eben auch immer wieder eine Verbindung zwischen den einzelnen Passagen herstellen, die auf ein kohärentes Darstellungsmuster im Hinblick auf das Verhalten Spartas in einer κίνησις hindeutet. Dass Sparta dabei nicht für »Ruhe« steht, lässt sich daraus schließen, dass sie selbst ja auch immer wieder Dinge »bewegen«: an allen drei betrachteten Stellen sind die Spartaner das Subjekt zu κινεῖν. Sie tragen dadurch zur μεγίστη κίνησις bei, sind aber gleichzeitig, wie die Darstellung rund um ihr Verhalten nach der Niederlage bei Pylos und Sphakteria zeigt, in ihr regelrecht »gefangen«. Sie haben, dies kann durch den Kontext deutlich gemacht werden, keine freie Wahl. Selbst die Entscheidung für den Krieg fällt unter dem Druck der Bundesgenossen, Archidamos wird hier ebenfalls dazu »gezwungen«, die »Waffen zu bewegen«. Das Verhältnis der Spartaner zur κίνησις wird dadurch ambivalent dargestellt: sie tragen einerseits dazu bei, dass sie μεγίστη wird, andererseits werden sie in sie hineingezwungen, von ihr sozusagen überwältigt. Die Versuche, sie zu vermeiden oder sie zum eigenen Vorteil zu nutzen, schlagen fehl. Im Gegenteil macht es den Eindruck, als verstärke gerade der »akinetische« Charakter Spartas, ausgedrückt in der Korintherrede, diese negativen Auswirkungen noch. Festzuhalten bleibt außerdem die kohärente Konnotation des Kinesis-Begriffs: immer wieder können die gleichen Charakteristika des Prozesses erschlossen werden, die vor allem bezüglich der ἀνάγκη – κίνησις – Verknüpfung eine enge Nähe zu den Vorstellungen der Vorsokratiker von κίνησις plausibel machen. Auch bei Thukydides scheint es sich um einen »übermenschlichen« Prozess zu handeln, der aber, wie die Spartaner zeigen, offenbar auch von Menschen bis zu einem gewissen Grade beeinflusst werden kann, indem sie ihn z. B. intensivieren – hier liegt der größte Unterschied zu den betrachteten Texten der Vorsokratik, da in ihnen von einer Beeinflussung der κίνησις durch Menschen keine Rede war. Es kann daher plausibel angenommen werden, dass auch dem Ausdruck μεγίστη κίνησις eine solche Vorstellung zugrunde liegen könnte und dass dieser Ausdruck als Ankündigung einer Darstellungskonzeption verstanden werden kann. Die immer wieder aufscheinende Verbindung zwischen der Begriffsverwendung, dem Krieg und der μεγίστη κίνησις des Proömiums lässt, sollte sich diese Verbindung weiterhin potentiell nachweisen lassen, auf eine solche Bedeutung schließen.

4.2.3 Der »bewegte Beweger«? Nachdem der »Charakter« Athens in der Korintherrede im ersten Buch bereits dargestellt wurde, sind nun die Stellen zu betrachten, in denen der Kinesis-Begriff ausschließlich in Bezug auf die Athener, bzw. die Polis insgesamt, bezo-

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gen wird. Dies heißt jedoch nicht, dass ausschließlich die Athener eine κίνησις ausführen, sondern schließt auch Stellen mit ein, aus denen auf das Verhältnis der Athener zur κίνησις, bzw. zu ihrem Verhalten in ihr, geschlossen werden kann. So sind beispielsweise die Aktionen der spartanischen Flotte, die mit dem ­Kinesis-Begriff beschrieben werden, genauso vertreten wie der Versuch des spartanischen König Agis’, einen Umsturz in Athen »zu bewegen«. In beiden Fällen werden aber pointiert Aspekte des athenischen Verhaltens dargestellt, weshalb diese Stellen hier eingeordnet sind. Soweit sie aber auch Sparta oder andere Elemente der Darstellung betreffen, wird darauf hingewiesen werden, um dies in der Interpretation zu berücksichtigen. Der Wiederaufbau der Stadtmauer Athens I, 93, 2 Die Schilderung der Vorgänge im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau Athens nach den Perserkriegen bildet den Beginn der sog. Pentekontaëtie, in der Thukydides über den Aufstieg Athens zur Macht bis zum Zeitpunkt des Beginns der geschilderten Konflikte berichtet.97 Zur Untersuchung der Charakteristik des Begriffs ist erneut ein kurzer Überblick über den Kontext der Stelle nötig: Thukydides berichtet, dass die griechischen Truppen nach dem Sieg über die Perser wieder in ihre jeweilige Heimat zurückkehrten (89, 1–2). Die Athener begannen sofort (εὐθύς) damit, die in Sicherheit gebrachten Menschen sowie ihre Habe zurück in die Stadt zu holen und diese wiederaufzubauen, wozu auch die zerstörte Stadtmauer gehörte (89, 3). Die Spartaner wollten dies verhindern, indem sie eine Gesandtschaft schickten, die durch einen Vorwand98 die Athener vom Mauerbau abhalten sollte (90, 1–2). Themistokles jedoch erkannte die Notwendigkeit der Mauer und entwarf einen Plan, um die Verhandlungen mit den Spartanern zu verzögern, damit die Athener in dieser Zeit die Mauer auf eine ausreichende Höhe hochziehen konnten: durch diese Taktik sollte ein Konflikt mit Sparta wegen des Mauerbaus hinausgezögert werden (90, 3–91, 3). Schließlich erklärte Themistokles den Spartanern offen, dass die Stadt wieder befestigt sei, da den Athenern dies am nützlichsten erscheine, da auch andere Städte des Bundes befestigt seien (91, 4–7). Das Ersuchen der Spartaner und Themistokles’ Plan der Verzögerung der Verhandlungen, sowie das Erkennen der Notwendigkeit einer Mauer für Athen waren der Grund, so Thukydides, warum die Mauer in aller Eile gebaut werden musste (93, 1) und da sie die Mauer außerdem erweiterten, war es nötig, in kurzer Zeit sehr viel Material für den Bau zur Verfügung 97 Weiterführend zur Pentekontaëtie vgl. Tsakmakis, Vergangenheit, S. 64–100; M. Węcow­ ski, In the Shadow of Pericles: Athens’ Samian Victory and the Organisation of the Pentekontaetia in Thucydides. In: Tsakmakis / Tamiolaki (edd.), Thucydides, S. 153–157; L. Kallet, The Pentecontaetia. In: Balot / Forsdyke / Foster (edd.), Thucydides, S. 63–80. 98 Vgl. ebd. S. 74.

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zu stellen: μείζων γὰρ ὁ περίβολος πανταχῇ ἐξήχθη τῆς πόλεως, καὶ διὰ τοῦτο πάντα ὁμοίως κινοῦντες ἠπείγοντο.99 Die Wahl des Partizips κινοῦντες ist hier bemerkenswert, da für die beschriebene Tätigkeit, das Heranschaffen von Baumaterial, auch konkrete Begriffe wie φέρω denkbar sind. Im vorliegenden Kontext könnte jedoch dadurch besondere Betonung auf die Eile gelegt werden, in der die Athener die Mauer bauen müssen. Durch die Verbindung von πάντα ὁμοίως κινοῦντες mit ἠπείγοντο wird die vorangegangene Aussage, dass man noch heute sehe, dass die Mauer in aller Eile erbaut worden sei, da sie aus verschiedenartigen Steinen, die z. T. nicht zueinander passen, bestehe,100 begründet (93, 2). Dieser Aspekt der Mauer ließe sich als »chaotisch« beschreiben, da hier ein Gegensatz zum planvollen, gleichmäßigen Aufbau einer Mauer veranschaulicht wird. Dies findet in πάντα ὁμοίως κινοῦντες ἠπείγοντο seine Entsprechung: alles ohne Unterschied, in Eile, wird bewegt. So erfolgte die Auswahl der Baumaterialen willkürlich, was dann dazu führte, dass an bestimmten Stellen Steine ausgetauscht und ersetzt werden mussten. Mit κινοῦντες kann sich der Leser diese Eile und das chaotische Heranbringen, Ersetzen und Wegschaffen von Baumaterialen vorstellen, welches den Zustand und den Aufbau der Mauer »noch heute« (ἔτι καὶ νῦν), also zur Zeit der Abfassung, erklärt. Somit kann die Verwendung des Kinesis-Begriffs hier auch auf einen chaotischen, schnellen und ohne Plan ablaufenden Prozess zurückgeführt werden, der durch κινοῦντες in all seinen Facetten abgebildet werden soll. Des Weiteren ist der Aspekt der Notwendigkeit interessant, der hier vorliegt: Die Athener sind angesichts des Plans des Themistokles und des spartanischen Unwillens ob ihres Baus gezwungen, die Mauer auf diese Weise fertigzustellen, sie haben daher keine andere Wahl, als eben alles ohne Unterschied in Bewegung zu setzen.101 Dies erinnert an die Nähe des Kinesis-Begriffs zur Ananke und generell der Notwendigkeit, die seine Verwendung in den vorsokratischen Texten an mehreren Stellen geprägt hat und die sich vor allem dadurch ausdrückte, dass es zum Auftreten der κίνησις keine Alternative gab und sie daher auftreten musste. Den gleichen Aspekt der Notwendigkeit und der fehlenden Alternative bezüglich des Schutzes der Stadt102 findet man auch hier vor. In einem größeren Kontext betrachtet steht die Wahl von κινοῦντες für die Tätigkeit der Athener im Einklang mit dem generellen Ton der Stelle, die die Charakteristik der Spartaner und Athener aus der bereits besprochenen Korintherrede wieder aufnimmt und mit historischen Beispielen belegt: so bleiben die Spartaner trotz des Erkennens der List untätig, wie Thukydides in Kapitel 99 »Denn die Ringmauer der Stadt wurde überall weiter nach außen gelegt, und deswegen bewegten sie alles in gleicher Weise in großer Hast.« 100 Zur Mauer vgl. Hornblower I, S. 138; Gomme I, S. 260–261. 101 Vgl. Steup I, S. 217. 102 Vgl. dazu Tsakmakis, Vergangenheit, S. 76, Anm. 41.

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92 berichtet, während die Athener unter Themistokles’ Führung alles daran setzen, die Befestigung der Stadt schnell zu beenden.103 Die Athener wirken im Gegensatz zu den Spartanern in jeder ihrer Handlungen besonders »kinetisch« im Sinne der Korinther: Während die Spartaner nach Mykale abziehen, belagern die Athener noch Sestos (89, 2) und beginnen sofort mit dem Wiederaufbau und der Wiederbefestigung, obwohl beispielsweise von den Spartanern in diesem Moment aufgrund der gerade abgeschlossenen gemeinsamen Leistung im Perserkrieg keine Gefahr ausgeht (92). Das kinetische Moment wird noch deutlicher im weiteren Verlauf des Kapitels 93, wenn die Athener ihre Stadt nicht nur wiederaufbauen und befestigen, sondern auch erweitern, um im Falle des nächsten Konflikts besser vorbereitet zu sein (93, 5–8). Thukydides legt dabei großen Wert auf die Betonung dieser schnellen und entschlossenen Handlung der Athener, wie die Häufung von Begriffen wie εὐθύς, ἐν ὀλίγῳ χρόνῳ und ἠπείγοντο zeigt. Die Beschreibung des Ablaufs des Mauerbaus mit κινοῦντες kann dieses Bild der bewegenden Kraft der Athener vervollständigen und nimmt daher die Konnotation der Schnelligkeit und Hast, aber auch der Kraft und Entschlossenheit wieder auf, die notwendig sind, um die Baumaterialen in so kurzer Zeit heranzuschaffen und zu verbauen. Es lassen sich daher auch in dieser Verwendung viele bereits bekannte Charakteristika des Kinesis-Begriffes wiederfinden, die nicht nur aus der Stelle selbst, sondern auch aus ihrer Verbindung zur generellen Darstellung der Athener als »bewegende« Kraft im ersten Buch und in ihrem Kontrast zu den Spartanern herausgearbeitet werden können. Der Bezug auf die Mauer kann dabei auch als ein Indiz gewertet werden, dass Thukydides in I, 1, 2 den gesamten Zeitraum im Blick hat: er verwendet hier κινεῖν in Bezug auf eine Handlung, die weit vor den Kriegsvorbereitungen liegt, die in I, 1, 1 beschrieben werden. Die symbolische Bedeutung des Mauerbaus kommt aber auch später im fünften Buch zur Geltung: »[…] bis Sparta und die Verbündeten die Herrschaft der Athener niederwarfen und die Langen Mauern und den Piräus einnahmen.« (5, 26, 1). Auch wenn die Mauern des Piräus nicht in der gleichen Hast gebaut worden sind wie die Stadtmauer, wie in Kapitel 107 deutlich wird, so gehört der Ausbau der Langen Mauern doch zum Plan des Themistokles und wird damit von Thukydides in Kapitel 93 in den Kontext der Beschreibung der Athener als bewegende Kraft eingefügt, wobei hier die Athener aber auch gleichzeitig bewegt werden, denn der Mauerbau wird ja erst ein κινεῖν durch die Bedrohung, der sie ausgesetzt sind und der sie mittels der Mauer begegnen wollen. Gleichzeitig deutet sich in der Darstellung der Episode aber auch schon der kommende Konflikt zwischen Athen und Sparta an, sodass zu fragen ist, ob Thukydides vielleicht auch darauf hinweisen möchte, dass die Athener durch ihre Maßnahmen den Konflikt ebenfalls verschärft haben. Noch bleiben die Spartaner ruhig, doch sie 103 Vgl. Tsakmakis, Vergangenheit, S. 74–75.

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»hegen einen Groll« (ἤχθοντο) gegen die Athener. Will man diese Episode bereits als Teil des Auftakts zum Krieg interpretieren, dessen Verknüpfung zur μεγίστη κίνησις im Proömium ja bereits ausreichend dargestellt wurde, so lässt sich die Stelle als Beitrag der Athener zum Konflikt und damit zur μεγίστη κίνησις lesen. Dann hätten die Athener durch ihr κινεῖν beim Bau der Mauer langfristig zur μεγίστη κίνησις beigetragen und sie vielleicht sogar intensiviert, da sie dem Wunsch Spartas nicht nachkamen. Sicherlich ist es unangebracht, diese Stelle ausschließlich auf diese implizite Verbindung zwischen den Athenern und der μεγίστη κίνησις zu reduzieren, denn die Bedeutung physikalischer Bewegung ist hier ja ebenfalls deutlich. Doch es ist bemerkenswert, dass sie sich eben auch herstellen lässt und dabei ebenso funktioniert wie die mögliche Implikation von ὅπλα κινεῖν, das ebenso auch als Beitrag der Spartaner zum Konflikt und damit zur μεγίστη κίνησις verstanden werden kann. An dieser Stelle ist auf einen weiteren Aspekt einzugehen, dem weiter unten noch ein eigenes Kapitel gewidmet sein wird. Themistokles nämlich scheint hier auf den ersten Blick ein Individuum zu sein, welches die κίνησις zum Vorteil Athens zu nutzen weiß, was mit der generell positiven Tendenz seiner Darstellung im Einklang steht.104 Doch hier ist Vorsicht geboten, denn will man den beschriebenen Groll der Spartaner bereits als Vorboten des sich anbahnenden Konflikts der beiden Poleis verstehen, so trägt Themistokles langfristig gesehen zum Untergang Athens am Ende dieses Konflikts bei. Der vermeintliche Vorteil Athens durch das κινεῖν beim Mauerbau erweist sich so als Nachteil und damit scheint ein menschlicher, vorteilhafter Nutzen der κίνησις durch Themistokles, dem die Forschung häufig eine vorteilhafte Darstellung bei Thukydides attestiert,105 hier nicht ausgedrückt zu sein. Im Gegenteil: Langfristig gesehen hat auch der Mauerbau einen Anteil am entscheidenden Konflikt zwischen Athen und Sparta. Das Heer bei Aigina I, 105, 4 und die Verlegung der Flotte bei Lesbos III, 16, 1 Die folgende zu besprechende Verwendung des Kinesis-Begriffs fügt sich ein in eine größere Schilderung der militärischen Aktionen von Athenern, Peloponnesiern und ihren Verbündeten.106 In Kapitel 105 wird über den Ausbruch des Krieges zwischen Athen und Aigina berichtet (105, 2), in dessen Rahmen es zu einer großen Seeschlacht kommt, die die Athener gewinnen, woraufhin sie auf Aigina landen und die Stadt belagern. Die Peloponnesier beschließen, Aigina 104 Zur positiven Schilderung des Themistokles bei Thukydides allgemein vgl. Strauss, City, S. 212–213; Kopp, Seeherrschaft, S. 137–138. 105 Vgl. dagegen zu den Fähigkeiten des Themistokles’ und seiner Voraussicht im Vergleich zu Perikles in I, 138, 3 vgl. Gomme I, S. 443–444 und Luginbill, Illusions, S. 94. 106 Für einen Überblick vgl. Tsakmakis, Vergangenheit, S. 82–84.

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zu helfen und setzen Hopliten auf die Insel über; zugleich fallen die Korinther und ihre Verbündeten in die Megaris ein, da sie Athen aufgrund seiner gleichzeitigen Verwicklungen in Ägypten und Aigina, in denen jeweils große Heere stehen, als zu schwach einschätzen, um Megara zu halten. Die Athener jedoch ziehen das Heer nicht von Aigina ab, sondern heben ein neues Heer aus Ältesten und Jüngsten der in der Stadt Verbliebenen aus und senden es unter der Führung von Myronides nach Megara: οἱ δὲ Ἀθηναῖοι τὸ μὲν πρὸς Αἰγίνῃ στράτευμα οὐκ ἐκίνησαν, τῶν δ’ ἐκ τῆς πόλεως ὑπολοίπων οἵ τε πρεσβύτατοι καὶ οἱ νεώτατοι ἀφικνοῦνται ἐς τὰ Μέγαρα Μυρωνίδου στρατηγοῦντος. (105, 4). In der darauffolgenden Schlacht trennen sich die Korinther und die Athener ohne klaren Sieger, die Athener errichten jedoch ein Siegeszeichen. Daraufhin werden die Korinther in der eigenen Stadt dafür getadelt und müssen wieder zurückkehren, um ebenfalls ein Siegeszeichen aufzustellen. Dabei werden sie jedoch von den Athenern überrascht und geschlagen (105, 5–6). Auf dem fluchtartigen Rückweg gerät ein bedeutender Teil des korinthischen Heeres in eine Sackgasse und wird grausam gesteinigt (106). Der Ausdruck στράτευμα κινεῖν ist zwar eine seltene, jedoch keine außergewöhnliche Phrase, sie findet sich z. B. auch bei Herodot (IX , 54, 2). Somit gilt es hier zu bedenken, dass Thukydides mit der Verwendung des Begriffes vielleicht nicht ausschließlich implizite Verbindungen zur μεγίστη κίνησις herstellen will. Dennoch wird, gerade vor dem Hintergrund der Verwendung anderer Begriffe im gleichen Kontext, deutlich werden, dass der Begriff erneut viele Aspekte der Situation transportiert, die den bereits bekannten Assoziationen mit dem Kinesis-Begriff entsprechen, womit die Stellen auch als eine Illustration der μεγίστη κίνησις im Kleinen interpretiert werden können, da hier eine potentielle Verknüpfung zu erkennen ist. Diese Verknüpfung wird durch die Darstellungstendenz der Athener verstärkt und kann somit noch plausibler gemacht werden, wie im Anschluss zu zeigen ist. Präsentiert wird hier von Thukydides erneut ein Bild aktiv handelnder Athener, deren besonders großer Aktionsradius von Aigina vor der Haustür bis nach Ägypten betont wird: denn gerade die Expeditionen an diesen beiden Orten verleiten die Korinther zu einem Angriff auf Megara (105, 3): νομίζοντες ἀδυνάτους ἔσεσθαι Ἀθηναίους βοηθεῖν τοῖς Μεγαρεῦσιν ἔν τε Αἰγίνῃ ἀπούσης στρατιᾶς πολλῆς καὶ ἐν Αἰγύπτῳ. Das Kalkül der Korinther beruht darauf, dass Athen sich entweder für Megara oder für Aigina entscheiden muss: ἢν δὲ καὶ βοηθῶσιν, ἀπ’ Αἰγίνη ἀναστήσεσθαι αὐτούς. Das in den vorherigen Kapiteln starke und unabhängig nach freiem Gutdünken handelnde Athen soll in eine echte Bedrängnis gebracht werden, aus der es sich nach Erwarten der Korinther nur befreien kann, wenn es seine Aktionen begrenzt und sich für einen militärischen Schauplatz entscheidet. Hat der Leser im Laufe der vorangegangenen Kapitel den Eindruck gewonnen, dass Athens Zugriff keine Grenzen gesetzt seien (Zypern und Ägyp-

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ten in Kapitel 104), so muss für ihn die Überlegung der Korinther eine gewisse Überzeugungskraft haben: Es ist unwahrscheinlich, dass eine Stadt allein auf so vielen Schauplätzen zugleich erfolgreich sein kann.107 Man könnte somit einen schnellen Abzug des Heeres aus Aigina erwarten, was eine militärisch logische Entscheidung wäre, um die an Attika angrenzende Megaris zu schützen. Dies geschieht aber gerade nicht, wodurch Athen die Kontrolle über Aigina behält (die Belagerung endet mit der Unterwerfung der Stadt in Kapitel 108, 4). Gleichzeitig sind sie in der Lage, ein Ersatzheer auszuheben und den Korinthern im Anschluss einen erheblichen Schaden zuzufügen: τὸ δὲ πλῆθος ἀπεχώρησεν αὐτοῖς τῆς στρατιᾶς ἐπ’ οἴκου (106, 2). Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass durch die Verdichtung der Erzählung zu Beginn von Kapitel 105 der Eindruck entsteht, all dies geschehe gleichzeitig. Dadurch wird vermittelt, dass der von den Korinthern erwartete Abzug des Heeres aus Aigina sofort und unverzüglich geschehen müsste, wenn die Athener Megara halten wollten. Ein solcher Abzug kann angesichts der Größe des Heeres, auf die Thukydides explizit verweist,108 logistisch nicht ohne Weiteres sofort organisiert werden, zumal die Peloponnesier weiterhin auf der Insel mit eigenen Truppen stehen. Athen entscheidet sich also für das in dieser Situation Richtige, wie es der generellen Tendenz dieser Kapitel entspricht,109 und gegen einen solchen vorzeitigen Abzug von Aigina. Sie vermeiden damit ein Chaos und handeln nicht vorschnell; im Gegensatz dazu können sie sowohl Aigina einnehmen als auch die Korinther schlagen.110 Athen behält also durch die Entscheidung, das Heer nicht zu bewegen, die Kontrolle über die gesamte Situation. Aus dieser Darstellungskomposition heraus lässt sich vermuten, dass durch die κίνησις des Heeres eine solche Kontrolle möglicherweise nicht aufrechtgehalten werden konnte. In diesem Abschnitt der Pentekontaëtie ist das Handeln der Athener vor allem durch Konstanz, Durchsetzungskraft und richtige Voraussicht bestimmt, die insgesamt zur Kontrolle über das Geschehen beitragen.111 Die Entscheidung, das Heer nicht zu bewegen, kann dabei als Teil einer solchen Konstruktion verstanden werden und führt zu einem Zuwachs an Kontrolle in unmittelbarer Umgebung von Attika, in der 107 Die Niederlagen der Athener in Ägypten kommen erst im Anschluss in Kapitel 109 zur Sprache. 108 Zweimal in 105, 3: eine »gewaltige Seeschlacht« (ναυμαχία γίγνεται ἐπ’ Αἰγίνῃ μεγάλη Ἀθηναίων καὶ Αἰγινητῶν) und ein »gewaltiges Heer« (ἔν τε Αἰγίνῃ ἀπούσης στρατιᾶς πολλῆς). 109 Vgl. Tsakmakis, Vergangenheit, S. 91. 110 Bemerkenswert ist hier, dass dieser Sieg erst im Nachgang der ersten, eigentlich unentschiedenen Schlacht, möglich wird, da die Korinther in ihrer eigenen Stadt getadelt werden. Dennoch ist auch der in Kapitel 106 geschilderte Erfolg eine indirekte Folge der Entscheidung, das Heer nicht von Aigina abzuziehen. 111 Vgl. Tsakmakis, Vergangenheit, S. 92.

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Megaris und auf Aigina.112 Ex negativo kann daraus geschlossen werden, dass Thukydides mit dem Ausdruck ἐκίνησαν auch auf die Möglichkeit fehlender Kontrolle hinweisen will, die aus einem überstürzten Abzug des Heeres und dem erzwungenen Abbruch der Belagerung entstehen könnte. Diese Unkontrollierbarkeit steht in enger Verbindung zum Aspekt des Chaos und der Bedrängung von allen Seiten, der sich Athen in diesem Moment ausgesetzt sieht. Es kann somit der Kinesis-Begriff durch die Konstruktion des Kontextes in bekannter Weise charakterisiert werden. Im ἐκίνησαν des Heeres steckt auch die Möglichkeit der falschen Entscheidung in diesem Moment, die Chaos und Unkontrollierbarkeit für die Athener bedeuten würde, wodurch sie von einer aktiv handelnden zu einer passiv abwehrenden Kraft würden. Ebenfalls ist er indirekt durch die Aspekte der Schnelligkeit und der Notwendigkeit charakterisiert, denn die Korinther bauen ja gerade darauf, dass Athen gezwungen sei, das Heer abzuziehen. Die Möglichkeit der Stadt, ein drittes Heer auszuheben, welches den Korinthern gegenübertritt, zeigt dabei die Überlegenheit Athens in diesem Moment: Dank ihrer Ressourcen ist sie auf die schnelle und unvorbereitete Verlegung des Heeres nicht angewiesen und kann einen überstürzten Abzug aus Not, der hier durch den Kontext als eine möglicherweise ungeordnete Bewegung dargestellt wird, angestoßen durch Beeinflussung von außen, abwenden. Diese möglichen Implikationen zeigen wiederum die enge Nähe der Vorstellungen von κίνησις zwischen Thukydides und den Vorsokratikern. Gerade bei Empedokles und Parmenides konnte durch die Negation der Bewegung auf ihren potentiell gefäh­rdenden Charakter geschlossen werden. Darauf ließ sich auch die NichtBewegung des höchsten Gottes des Xenophanes zurückführen, der frei sein musste von jeder κίνησις, um allumfassende Kontrolle zu haben. Für die Athener scheint sich in der Darstellung des Thukydides eine ähnliche Situation zu ergeben: um die Kontrolle zu behalten, dürfen sie das Heer auf Aigina nicht bewegen: στράτευμα οὐκ ἐκίνησαν. Gerade durch diese Konnotationen, aber auch durch die Verwendung im Kriegskontext, lässt sich hier eine implizite Verbindung zur Darstellung der μεγίστη κίνησις ziehen, trotz der fehlenden Bewegung. Dies ist folgendermaßen zu erklären: Die Entscheidung gegen die Bewegung des Heeres ist nicht gleichzusetzen mit einer Entscheidung gegen die μεγίστη κίνησις. Im Gegenteil: Durch das erneute Ausheben eines Heeres und der Eröffnung einer weiteren Front in der Megaris wird der Krieg von Athen intensiviert, sodass die kriegerischen Prozesse weiter ausgreifen. Dies entspräche dann einer Vorstellung von der μεγίστη κίνησις, deren Auswirkungen keine Grenzen gesetzt 112 Thukydides gestaltet außerdem den indirekt damit zusammenhängenden Sieg in auffallender Art und Weise, womit dieser die Funktion eines Kulminationspunktes in der Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen Athen und Peloponnesiern erfüllt, vgl. Gomme I, S. 309–311; Tsakmakis, Vergangenheit, S. 91.

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sind, wie es im Proömium durch die Erwähnung der Griechen, Barbaren und der »sozusagen gesamten Menschheit« geschieht. Hieraus ließe sich schließen, dass in der μεγίστη κίνησις selbst dann keine Verlangsamung möglich ist, wenn man sich, wie Athen, gegen eine κίνησις im Kleinen, dargestellt durch die Flottenverlegung, entscheidet. Athen behält damit seinen »Charakter«:113 durch ihr Verhalten, ihre Reaktion, wird die μεγίστη κίνησις weiter vorangetrieben. Sparta dagegen zeigt zwar nicht nur lethargische Untätigkeit, sondern wird auch selbst aktiv, sodass im Laufe der Pentekontaëtie ein Wachsen der Aktionsbereitschaft beobachtet werden kann114 – doch von Erfolg gekrönt ist dies, wie das Kapitel 108 zeigt, nicht. So wird deutlich, dass die allgemeine Zuschreibung SpartaRuhe und Athen-Bewegung zu modifizieren ist: beide Akteure befinden sich in Bewegung, jedoch ist Athen dabei (noch) erfolgreicher. Wie aber bereits angedeutet, ist auch hier die langfristige Perspektive nicht zu vernachlässigen: Trotz der Fähigkeit, sich aufgrund eigener Ressourcen gegen die κίνησις des Heeres zu entscheiden, intensiviert Athen damit die große, übergeordnete κίνησις, aus der die Athener, wie der Leser weiß, nicht erfolgreich herauskommen werden. Ein ganz ähnlicher Verwendungskontext kann im dritten Buch gefunden werden: Hier berichtet Thukydides ab Kapitel 2 über den Abfall der Insel Lesbos von Athen, woraufhin 40 Schiffe nach Mytilene geschickt werden. Lesbos beginnt Verhandlungen mit Athen und Sparta gleichzeitig und bittet um Aufnahme in den Peloponnesischen Bund, was ihnen auch gewährt wird (III, 4–15, 1). Die Spartaner rüsten daraufhin zum Einfall in Attika und zu einem Angriff auf den Piräus, da die Flotte durch die Anwesenheit vor Lesbos geschwächt sei. Am Isthmos von Korinth treffen sie jedoch allein ein, da ihre Verbündeten, wie Thukydides berichtet, wenig Kriegslust zeigen (15, 2). Die Athener jedoch wollen ihre Stärke demonstrieren und ziehen die Flotte vor Lesbos nicht ab (μὴ κινοῦντες τὸ ἐπὶ Λέσβῳ ναυτικόν), sondern rüsten eine weitere Flotte von 100 Schiffen aus, fahren zum Isthmos von Korinth und führen Landungen am Peloponnes durch (16, 1). Die Spartaner, weiterhin auf die Verbündeten am ­Isthmos wartend, zeigen sich von dieser Maßnahme sehr überrascht (οἱ δὲ Λακ εδαιμόνιοι ὁρῶντες πολὺν τὸν παράλογον) und ziehen aus Furcht vor Plünderungen und Zerstörungen der Athener auf dem Peloponnes wieder nach Hause ab, ohne den geplanten Einfall in Attika durchzuführen (16, 2). Der kurze Überblick über den Verwendungskontext zeigt die Parallelen zur Kriegssituation in I, 105:115 Die Athener sind wieder mit einer Maßnahme gegen eine Insel beschäftigt, woraufhin die Peloponnesier davon ausgehen, dass Athen dadurch so sehr geschwächt sei, dass die Stadt einen weiteren Angriff zu Lande 113 Vgl. Tsakmakis, Vergangenheit, S. 94–96. 114 Vgl. ebd. 115 Vgl. Hornblower I, S. 399.

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und zu Wasser nicht leicht abwehren könnte, ohne die Flotte wieder abzuziehen. Genau wie im Konflikt mit Aigina und Korinth entscheidet sich Athen jedoch gegen die Bewegung der Flotte und rüstet stattdessen eine weitere, größere Flotte aus, woraufhin die Peloponnesier angesichts dieser Stärke ihre Pläne nicht umsetzen können. Die Athener ergreifen keine panische Maßnahme zum Schutz des Piräus und der Stadt, sondern sind im Gegenteil sogar in der Lage, zum Angriff überzugehen und damit den Einfall in Attika zu verhindern. Es könnte an dieser Stelle eine Verbindung zu II, 65, 5–13 gezogen werden,116 der Einschätzung der Ressourcen Athens, die für einen Sieg ausreichend gewesen wären, wenn die inneren Streitigkeiten Athen nicht so sehr geschwächt hätten, dass es schließlich an sich selbst zugrunde ging. Die Ausrüstung einer weiteren Flotte im Sommer 428 zeigt eine gut organisierte militärische Aktion der Stadt, die damit genau das erreicht, was sie geplant hat: die Peloponnesier ziehen angesichts dieser unerwarteten Stärke wieder ab, Athen behält die Kontrolle über das Geschehen sowohl östlich des Isthmos als auch vor Lesbos durch die Entscheidung gegen eine κίνησις der Flotte. Der Plan zum Überfall stammt dabei ursprünglich von den Lesbiern: sie überreden die Spartaner zu einem Angriff zu Lande und zur See, da die athenische Flotte vor Lesbos und um den Peloponnes gebunden sei und damit Athen einem Einfall in Attika nichts entgegenzusetzen habe (13, 3) oder seine Flotte vom Peloponnes und Lesbos abziehen müsse (13, 4). Aufgrund dieses Arguments zeigen sich die Spartaner am Isthmos umso überraschter über die Ressourcen der Athener, die sie nicht erwartet haben. Thukydides benutzt hier das Wort παράλογον: die Ausrüstung einer weiteren Flotte durch die Athener geschieht »wider das vernünftige Wort (oder Berechnung)«, gegen den λόγος der Spartaner und der Lesbier. Hier ist besonders auf den Wechsel der Wortwahl zwischen 13, 4 und 16, 1 hinzuweisen, der zwei verschiedene Perspektiven auf die Situation wiedergibt: die Lesbier benutzen in ihrer Rede das Verb ἀποχωρήσονται, während Thukydides im Referat über die Entscheidung der Athener κινοῦντες verwendet. Während das ἀποχωρήσονται der Lesbier in einem Kontext der Planung, Organisation und Kontrolle steht,117 gibt das κινοῦντες die Lage der Athener wieder, die schnell und unter Druck handeln müssen. Die unterschiedliche Bezeichnung für ein und dieselbe Aktion könnte sich aus diesem Perspektivenwechsel erklären lassen: Thukydides greift bewusst die Wortwahl der Lesbier aus 13, 4 nicht erneut auf, sondern verwendet einen Terminus, der weitaus offener verstanden 116 Problematisch ist diese Verbindung jedoch durch ihre Abhängigkeit von der Darstellung des Perikles und kann daher nicht ohne differenzierte Betrachtung erfolgen, worauf an dieser Stelle lediglich hingewiesen werden soll. Vgl. zur Kritik dieser Einschätzung im weiteren Verlauf des Werkes Kopp, Seeherrschaft, S. 213–214. 117 Der Planung des Einfalls in Attika, den die Lesbier in ihrer Rede (III, 9–14) ausführen, um die Spartaner zum schnellen Eingreifen zu überreden.

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werden kann. Die »Bewegung« der Flotte meint daher für die Athener etwas Anderes als den »Abzug« der Flotte für die Lesbier, denen daraus ein Kontrollgewinn erwächst, während die Athener einen Verlust an Kontrolle und Planbarkeit hinnehmen müssten, gegen den sie sich hier entscheiden. Der Wechsel der Terminologie in solch enger Folge kann auch auf die Intention des Autors zurückzuführen sein, die Charakteristik der Situation für die jeweiligen Beteiligten über eine Charakteristik der Termini auszudrücken. Damit ist das κινοῦντες ναυτικόν wiederum durch dieselben Aspekte konnotiert wie die Bewegung des Heeres in I, 105, 4: Eine Bewegung der Flotte bedeutete gleichermaßen die Gefahr fehlender Kontrolle. Wie wichtig die Kontrolle über die Bündnispartner ist, zeigt sich beim Massenabfall der Verbündeten in Buch VIII, die, so weiß der Leser, beiträgt zur Niederlage Athens; diese Gefahr wird durch das Nicht-Bewegen der Flotte, welches 427 zur Aufgabe Mytilenes führt, erst einmal gebannt.118 Der Kinesis-Begriff kann damit auch hier für möglichen Kontrollverlust oder sogar die Unkontrollierbarkeit der Situation und fehlende Planbarkeit stehen und damit in der Konsequenz für Chaos und eine mögliche Überwältigung Athens, welche zu diesem Zeitpunkt durch die riesigen Ressourcen der Stadt noch abgewendet werden kann.119 Auch hier ist anzumerken, dass der Bewegungscharakter Athens, der von den Korinthern in I, 70–71 angesprochen wird und den Perikles dann in II, 63, 2–3 als Notwendigkeit für das weitere Überleben der Stadt darstellt,120 an dieser Stelle nicht allgemein negiert wird, aus den gleichen Gründen, wie dies bereits bei I, 105 herausgearbeitet werden konnte. Athen intensiviert durch die Ausrüstung einer weiteren Flotte den Konflikt, macht für sich einen weiteren Kriegsschauplatz auf und muss nun sowohl auf Lesbos, als auch gegen die Peloponnesier agieren. Dies gelingt ihnen, doch von »Ruhe« für die Athener kann in der Darstellung keine Rede sein. Die Spartaner dagegen sind auch hier wieder erfolglos und mit der Intensivierung des Konflikts durch Athen, als Folge des Aufstellens einer weiteren Flotte, überfordert. Aus diesem Gegensatz kann eine ambivalente Darstellungstendenz abgeleitet werden: Zwar sind die Athener mit ihrem Verhalten zu diesem Zeitpunkt noch erfolgreicher als die Spartaner, doch erleiden sie am Ende, und das ist dem Leser durchaus bewusst, die größte Niederlage. Somit könnte Thukydides an diesen Stellen auf zweierlei hinweisen: Einerseits auf die außerordentlichen Ressourcen Athens, die es ihr ermöglichten, sich gegen die κίνησις der Flotte auf Lesbos zu entscheiden, andererseits aber auch auf die Wirkungslosigkeit dieser Möglichkeiten in der langfristigen Perspektive, nämlich in der μεγίστη κίνησις. Erfolg in der μεγίστη κίνησις scheint somit als vom Menschen nicht planbar 118 Vgl. dazu Stahl, Thukydides, S. 103. 119 Vgl. ebd. S. 105. 120 Vgl. Saxonhouse, Kinésis, S. 349.

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dargestellt zu werden, trotz beispielsweise vorhandener Ressourcen. Dabei ist außerdem interessant, wie der Aspekt des Zwangs erneut aus der Darstellung rekonstruiert werden kann: die Spartaner werden von den Lesbiern zu diesem Plan überredet, sie reagieren also auf einen äußeren Impuls. Gleichzeitig muss dadurch Athen reagieren und ist durch die Umstände regelrecht dazu gezwungen, eine neue Flotte auszurüsten und somit, wie oben gezeigt, die μεγίστη κίνησις wiederum zu intensivieren. Dies lässt sich in bereits angestellte Beobachtungen zur Darstellung des Mensch-κίνησις-Verhältnisses einfügen: der Mensch kann zwar Einfluss auf den Prozess ausüben, ist jedoch von einer Kontrolle weit entfernt. Die Stelle lässt sich daher ebenso als eine Illustration des Verhältnisses von Mensch und μεγίστη κίνησις interpretieren, wobei die Vorstellungen des KinesisBegriffes wiederum mit denen an anderer Stelle übereinstimmen. Angesichts des vorsokratischen Umgangs mit diesem Aspekt wird es auch wieder möglich, mehrere Paralleln zu ziehen. So lässt sich beispielsweise dieses Wechselspiel zwischen μεγίστη κίνησις und Mensch auf die Atomistik übertragen als Wechselspiel von primärer und sekundärer Bewegung.121 Ebenfalls kann hier auch eine Nähe zur herausgehobenen Stellung eines Elements durch seinen möglichen Einfluss auf Bewegung, bei Anaxagoras bereits untersucht,122 in Ansätzen erkannt werden: Die Möglichkeit, sich gegen eine (kleinere) κίνησις zu entscheiden, begründet die überlegene Stellung der Athener gegenüber ihren Feinden – in diesem Moment. Dies wird durch den weiteren Verlauf der Ereignisse in Buch III deutlich, der zeigt, wie zentral der Verbleib der Flotte gewesen ist: Mytilene ergibt sich, auch aufgrund der langsamen Reaktionen des spartanischen Feldherren Alkidas (III, 28–29), den Athenern (27, 1), die Einfälle in Attika richten nichts aus (26, 4) und die Athener behalten die Kontrolle über diesen wichtigen Verbündeten.123 Daraus jedoch eine so deutlich »herausgehobene« Stellung der Athener im Rahmen der μεγίστη κίνησις zu konstruieren, die direkt mit den angesprochenen Elementen der Vorsokratiker vergleichbar ist, verbietet sich aufgrund der besonderen Umstände, unter denen Athen hier Erfolg hat, und dem weiteren Verlauf des Werkes, in dem Athens Kontrollverlust immer deutlicher wird. Athen hat nämlich dazu noch den Erfolg seiner Aktion nicht allein in der eigenen Hand, sondern hat hier auch Glück, dass gerade Erntezeit ist,124 sodass von einer vollständigen Kontrolle nicht gesprochen werden kann. 121 Zur möglichen Verknüpfung atomistischer Ideen und dem Zeitgeschehen vgl. Schmitz, Atomistik. 122 Vgl. oben Kap. 3.3.3. 123 Vgl. dagegen zum Kontrollverlust der Lesbier in der Situation auch Stahl, Thukydides, S. 111–112. 124 Der Plan, in Attika einzufallen, kann durch das langsame Sammeln der Bündnispartner Spartas am Isthmos aufgrund der Ernte nicht ausgeführt werden und das Ausbleiben der Bündnispartner ist nach III, 16, 2 konkret für den Abzug der Spartaner entscheidend.

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Der athenische Angriff auf Boiotien IV, 76, 4 und 89, 2 Der athenische Angriff auf Boiotien im Sommer 424 liefert ein Textbeispiel für den möglichen doppelten Bezug von κινεῖν im Werk: Zum einen wird damit die Situation der Boioter beschrieben, die sich unerwarteten Angriffen an mehreren Orten zugleich gegenüber sehen, zum anderen kann, da diese Strategie athenischen Ursprungs ist, die Bezeichnung auch wieder auf die Charakteristik der Kriegsführung der Athener bezogen werden, die durch ihre Strategie eine κίνησις für die Boioter »generieren« wollen. Angehörige verschiedener boiotischer Städte haben Verhandlungen mit den Athenern aufgenommen, um ihre Städte in Demokratien nach athenischem Vorbild umzuwandeln (76, 2). Dazu sollen die Athener das Delion besetzen, ein Apollonheiligtum bei Tanagra; gleichzeitig wollen die Verschwörer aus den Städten den Ort Siphai den Athenern übergeben sowie Chaironeia mit der Hilfe peloponnesischer Söldner in ihre Gewalt bringen (76, 3). Die Besetzung des Apollonheiligtums sollte dabei einen dritten Kampfschauplatz in Boiotien eröffnen, sodass die Boioter nicht mit vereinter Macht gegen das Delion ziehen könnten, sondern jeder zugleich in seinem Gebiet beschäftigt sei: ἀλλ’ ἐπὶ τὰ σφέτερα αὐτῶν ἕκαστοι κινούμενα (76, 4). Durch die Befestigung des Delions als Basis für die athenischen Streitkräfte versprechen sich die Verschwörer, die Städte Boiotiens durch Kriegszüge und Plünderungen zu Verfassungsänderungen zu zwingen (76, 5). Der Plan scheitert jedoch an der falschen Berechnung des Tages für die gemeinsame Aktion und an einem Verrat, der es den Boiotern ermöglicht, Vorbereitungen zu treffen;125 die Aufrührer in den einzelnen Städten können daher nichts »bewegen«: οὐδὲν ἐκίνησαν τῶν ἐν ταῖς πόλεσιν (89, 1–2). Sehr gut lassen sich aus dem Kontext dieser Passage die Vorstellungen ableiten, die mit dem Kinesis-Begriff verbunden sein könnten. Die κίνησις für die Boioter, ausgedrückt durch die Phrase ἀλλ’ ἐπὶ τὰ σφέτερα αὐτῶν ἕκαστοι κινούμενα, soll sich augenscheinlich aus dem Chaos entwickeln, welches die gleichzeitigen Aktionen unter ihnen stiften sollen. Da die Boitier davon nichts wissen, spielt auch der Aspekt der Unvorhersehbarkeit eine Rolle: auf dieser beruht, wie 89, 2 zeigt, der Erfolg des Plans und durch die Vorbereitungen der Boioter kommt es nicht zu dieser κίνησις. Der Kontext zeigt weiterhin, dass ein Kontrollverlust der Boioter Ziel der Aktion ist, um somit in einer für sie unkontrollierbaren Situation die Verfassungsänderungen durchzusetzen. Die Gleichzeitigkeit des Ausführens soll auch zu einer fehlenden Möglichkeit der Einflussnahme bei den Boiotern führen, sie können nur jeweils an einem Ort mit der gesamten Macht reagieren, haben aber Schwierigkeiten, alle Orte gleichzeitig zurück zu erobern, wenn diese einmal gefallen sind. Die Beschreibung des geplanten An125 Zur Frage der Ursache des Scheiterns vgl. Hornblower II, S. 286–287.

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griffs kann somit als Illustration der Assoziationen interpretiert werden, die mit dem Begriff κινούμενα hier verbunden sind. Die Unvorhersehbarkeit, fehlende Einflussmöglichkeit, der daraus resultierende Kontrollverlust bis hin zur möglichen Unkontrollierbarkeit und das Chaos für die Boioter in den betreffenden Gebieten begleiten den Begriff an dieser Stelle und bilden den Hintergrund, vor dem er verstanden werden kann. Somit kann sich der Leser unter κινούμενα sehr viel mehr vorstellen als bloße Veränderung oder physikalische Bewegung: Der beschriebene Prozess scheint durch diese Aspekte geprägt zu sein. Bezüglich der These einer möglichen kohärenten Darstellungskonzeption im Rahmen des Verhaltens der Athener mit κίνησις ist hier vor allem die Darstellung ihrer Rolle in diesen Plänen und ihres Misserfolges interessant. Es sind in beiden Fällen nicht primär die Athener, die eine κίνησις erschaffen wollen, sondern die boiotischen Verschwörer – doch Athen will sich dies zunutze machen, durch eigene Aktionen die κίνησις für die Boiotier noch verstärken und damit zu ihrem eigenen Vorteil nutzen. Im Gegensatz zu den Lakedaimoniern, die jedes Jahr mit dem gesamten Heer zur gleichen Zeit in einem Gebiet einfallen, teilt sich das Heer der Athener auf (89, 1) und greift überraschend in mehreren Gebieten gleichzeitig an, im Zuge dieser Taktik verwendet Thukydides κινούμενα und ἐκίνησαν. Diese Wortwahl findet sich für die Strategie der Lakedaimonier bezüglich des Einfalls in Attika, die Perikles bereits in I, 143, 4–5 vorausgesagt hatte, an keiner Stelle, sondern erst im Zusammenhang des aufgezwungenen Strategiewechsels in IV, 55, der für die Spartaner nicht mehr mit Vorhersehbarkeit und Kontrolle verbunden ist. Dadurch könnte auch hier wieder auf den charakterlichen Gegensatz Sparta-Athen angespielt werden, welcher sich in der Korintherrede gezeigt hat, wie auch die Tendenz Athens, κίνησις zu intensivieren und dadurch Kontrolle gewinnen zu wollen, wiedererkannt werden kann. Höchst interessant ist dabei der Gegensatz zur Darstellung der Nicht-Bewegung der Flotten: dort hat Athen kurzfristig Erfolg, intensiviert aber doch im Großen und Ganzen den Krieg und somit, wie sich argumentieren lässt, die μεγίστη κίνησις. Hier aber entscheidet sich Athen für eine κίνησις, ganz bewusst für ihre Intensivierung – und hat keinen Erfolg. Die Ausdehnung des Berichts auf ganze 12 Kapitel (89–101) lässt dabei vermuten, dass es Thukydides wichtig gewesen ist, das Scheitern des Planes dem Leser in seiner ganzen Breite vor Augen zu stellen,126 zumal die Niederlage in Boiotien in der öffentlichen Wahrnehmung so bedeutend gewesen sein muss, dass noch Platon sie in seinem Symposion den Lesern als Rahmen für die Beschreibung des beeindruckenden Auftretens von Sokrates präsentieren kann, ohne näher auf die Umstände eingehen zu

126 Zum psychologischen Aspekt der Schilderung vgl. E. Foster, Campaign and Battle Narratives in Thucydides. In: Balot / Forsdyke / Dies. (edd.), Thucydides, S. 305–308.

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müssen:127 »Besonders noch, Männer, war es wert, Sokrates beim Rückzug des Heeres vom Delion zu sehen. […] jeder musste es schon von weitem sehen, dass, wenn einer diesen Mann anfasste, er sich äußerst kräftig verteidigen würde.« Hier kommt Sokrates’ respekteinflößende Erscheinung nur vollständig zum Ausdruck, wenn dem Leser die chaotischen und lebensgefährlichen Zustände des Rückzugs bekannt sind. Dieser Misserfolg beruht dann auf Aspekten, die man auf den ersten Blick als mangelnde Vorbereitung und Pech bezeichnen könnte, am Ende aber ein und denselben Faktor meinen: den Menschen. Sowohl die falsche Berechnung des Tages, wie auch der Verrat der Aktion sind Ergebnisse menschlichen Verhaltens, die die Kontrolle Athens über die geplante κίνησις zunichtemachen. Dies lässt sich als eine Darstellung einerseits der Wechselwirkung von Mensch und κίνησις, andererseits der Unmöglichkeit menschlicher Kontrolle über κίνησις interpretieren, denn weder die Athener, noch die Boioter haben es in der Darstellung vollständig selbst in der Hand, ob sie in eine ungünstige Situation kommen oder nicht. Auf eine solche Darstellungsebene kann aus der Doppelnennung der Gründe geschlossen werden. Weder die Athener noch die Boioter sind vollständig selbstverantwortlich für das Misslingen, bzw. den Erfolg, in dieser Situation: falsche Berechnung und Verrat sind für den Einen Pech, für den Anderen Glück. Auch kann die Aktion im Rahmen der Kriegshandlungen als Teil der großen, übergeordneten μεγίστη κίνησις gelesen werden als Illustration im Kleinen: Athen erschafft also keine κίνησις aus dem Nichts, sondern versucht, sich im Krieg durch diese Maßnahmen Vorteile zu erschaffen, d. h. die kleinere κίνησις in Boiotien zu nutzen, um in der großen zu bestehen. Somit kann die Episode auch als Schilderung einer weiteren Intensivierung der μεγίστη κίνησις verstanden werden und als erneute Illustration des athenischen Charakters, die dazu »geschaffen sind, weder selbst Ruhe zu bewahren, noch andere Menschen in Ruhe zu lassen«, wie die Korinther in I, 70, 9 ausführen. Durch diese Intensivierung schadet sich Athen am Ende selbst, und hier kann durch die Schilderung des Thukydides wieder die Verbindung zwischen der einzelnen, kleineren κίνησις und dem Kriegsgeschehen als Teil der μεγίστη κίνησις hergestellt werden. Das Scheitern der geplanten Aktion zeigt sich nämlich in den verheerenden Auswirkungen auf Athen selbst; da in den anderen Städten nichts »bewegt« werden kann, sind die Boioter in der Lage, mit ihrer Gesamtmacht gegen die Athener am Delion zu marschieren – es trifft also genau das ein, was durch die κίνησις bei den Boiotern128 verhindert werden sollte. Das Aufeinandertreffen 127 Plat. Symp. 220d-221c. 128 Der Boiotarch Pagondas verwendet in seiner Rede, in der er zum Angriff auf das athenische Heer aufruft, die Formulierung οἱ ἰσχύος που θράσει τοῖς πέλας, ὥσπερ Ἀθηναῖοι νῦν, ἐπιόντες, um die Art des Angriffs der Athener zu beschreiben: die, die mit einer Art Courage der brutalen Kraft über jemanden kommen. Auch dieses Bild erweckt Asso­

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wird in Kapitel 96 geschildert und hier richtet sich gerade der chaotische Aspekt, der den Athenern helfen sollte, Boiotien unter ihre Kontrolle zu bringen, gegen sie selbst und in den Wirren der Schlacht töten sie sich gegenseitig (96, 3). Das athenische Heer wird schließlich aufgerieben und flieht ungeordnet in alle Richtungen, wobei hier erneut das Ziel der angestrebten κίνησις, die Unordnung in Boiotien (ihre κινούμενα aus 76, 4), für die Athener eintritt anstatt für ihre Gegner.129 Sie werden auf der Flucht vor allem von der Kavallerie getötet und nur die Nacht kann dem ein Ende setzen (96, 4–9), das Delion fällt schließlich 17 Tage später (101, 1). Es lässt sich vermuten, dass der Fehlschlag der Athener, eine κίνησις zum eigenen Vorteil zu nutzen, die sich dann aber gegen sie selbst richtet,130 auch ein Grund für das Gewicht gewesen sein könnte, welches Thukydides der Episode im Werk zugesteht: Er kann hier veranschaulichen, dass die Strategie der Athener bezüglich ihres Umgangs mit κίνησις ebensowenig zum Erfolg führt wie die der Spartaner. Es lässt sich plausibel vermuten, dass Thukydides in einer solchen Umkehr der negativen Auswirkungen einer geplanten κίνησις auf Athen selbst durch die Wortwahl deutlich machen kann, dass sich κίνησις eben nicht kontrollieren lässt. Somit wird durch die Begriffsverwendung erkennbar, dass Menschen zwar Handlungen ausführen können, die eine κίνησις zur Folge haben, bzw. eine schon bestehende intensivieren, dass sie aber andererseits keine Kontrolle über den Ausgang dieser Handlungen, d. h. letztendlich über die κίνησις, haben können. Inhaltlich entsteht so eine enge Nähe zu bereits betrachteten Stellen: Menschen entscheiden sich für eine κίνησις und sind dann von ihren negativen Auswirkungen selbst betroffen. Was für die Spartaner aus der Verbindung Kriegsentschluss-Pylos erschlossen werden kann, lässt sich ebenso für die Athener angesichts ihres Scheiterns in Boiotien sagen. Auch in der Pylos-Schilderung kommt ihr kinetischer Charakter, d. h. die Intensivierung der μεγίστη κίνησις durch weitere Bewegung, im Kontrast zu den Spartanern deutlich hervor. In 55, 2 wird durch καὶ τούτῳ πρὸς Ἀθηναίους, οἷς τὸ μὴ ἐπιχειρούμενον αἰεὶ ἐλλιπὲς ἦν τῆς δοκήσεώς τι πράξειν, das immerwährende »Vorwärtsdrängen« der Athener beschrieben, die die Situation für die Spartaner noch verschlimmern, d. h. die genannten Aspekte der κίνησις noch verschärfen – umgekehrt aber sind davon auch die Athener selbst betroffen. Der Umgang beider Seiten mit κίνησις wird somit, so könnte man diese Parallelen deuten, immer wieder ziationen zum kinetischen Charakter der Athener: schnell, kraftvoll und entschlossen attackieren sie den Gegner. 129 Vgl. Foster, Narratives, S. 307. 130 Vgl. auch die Analyse des Auftretens der Boioter in ebd., S. 306, welches an einige Charakteraspekte der κίνησις erinnert: »[…] suddenly appearing with  a dishearteningly large and united force, against whose unusual formation the Athenians have no counter strategy.«.

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Die κίνησις bei Thukydides

dargestellt und dient damit zur Illustrierung des Wirkens der μεγίστη κίνησις, in deren Rahmen sie handeln. So kann Athens Niederlage am Delion, entstehend aus dem gescheiterten Versuch, κίνησις in den Städten Boiotiens zu initiieren, als eine Illustration im Kleinen für den gesamten Verlauf des Krieges interpretiert werden, in dem immer wieder unter der Illusion von Kontrolle Handlungen und Maßnahmen initiiert werden, die schließlich aber nicht den erwünschten Erfolg haben und sich z. T. auch gegen den Initiator selbst richten. Die Kampagne in Boiotien wird darüber mit der μεγίστη κίνησις verbunden: sie kann als Schaubild für die Unkontrollierbarkeit des historischen Geschehens durch den Menschen gedeutet werden, die Thukydides im Proömium bereits durch die Phrase μεγίστη κίνησις evoziert haben könnte. König Agis vor Athen VIII, 71, 2 Die nächste zu betrachtende Stelle im achten Buch steht in enger Verbindung mit der Umsturz-Idee in Athen, die durch Alkibiades auf Samos entsteht. Ebenso ist Alkibiades unmittelbar dafür verantwortlich, dass der Spartanerkönig Agis in Dekeleia steht – er hat daher in zweierlei Hinsicht entscheidenden Anteil an der Situation, in der der Kinesis-Begriff in 71, 2 steht, ohne jedoch direkt beteiligt zu sein. Die Stelle ist dennoch nicht der Analyse seiner Darstellung zugeordnet, sondern der der Athener – aus dem einfachen Grund, dass aus ihr hauptsächlich Aussagen zum Verhalten der Athener abgeleitet werden können. Dazu wird am Rande auch König Agis als Spartaner in einer Weise charakterisiert, die sich in die bisherige Darstellungstendenz einordnen lässt, sodass sich die Betrachtung an dieser Stelle anbietet. Thukydides berichtet in den Kapiteln 63, 3–70 von der Übernahme der Macht durch den Rat der Vierhundert in Athen, die ins Rathaus einziehen und damit den Rat der Fünfhundert entmachten.131 Der Rat schickt zu König Agis, der im inzwischen befestigten Dekeleia steht, mit einem Friedensangebot (70, 2). Dieser jedoch ist angesichts der günstigen Kriegslage nicht gewillt, Frieden zu schließen, sondern erwartet in Athen einen Aufstand des Volkes gegen den Verfassungsumsturz, den er durch die direkte Bedrohung der Stadt durch ein peloponnesisches Heer anfachen will; angesichts einer solchen Gefahr sei nicht zu erwarten, dass die Athener ruhig bleiben würden. Daher lehnt er das Friedensangebot ab und lässt ein starkes Heer aus dem Peloponnes nach Attika kommen, um mit diesem bis vor die Stadtmauer Athens vorzurücken, in der Hoffnung, dass die Athener aufgrund ihrer Zerstrittenheit in Folge des Umsturzes sich sofort selbst unterwerfen würden oder zumindest nach dem ersten Sturm auf 131 Der Rat der Fünftausend existiert nur dem Namen nach, vgl. Connor, Thucydides, S. 226.

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die Mauern, da diese nur unzureichend besetzt seien (71, 1). Entgegen seiner Erwartungen jedoch »bewegen« sich die Athener bei seinem Heranrücken in keiner Weise (οἱ Ἀθηναῖοι τὰ μὲν ἔνδοθεν οὐδ’ ὁπωστιοῦν ἐκίνησαν), sondern schicken im Gegenteil Reiter gegen ihn aus und töten einen Teil seiner Leichtbewaffneten, Hopliten und Bogenschützen, die der Mauer zu nahekommen. Er erkennt daraufhin seine Fehleinschätzung und führt das Heer wieder nach Dekeleia zurück (71, 2). Die Konnotation des Kinesis-Begriffs ist im Kontext der στάσις und des Verfassungsumsturzes zu untersuchen:132 Unter der »Bewegung« der Athener ist der innere Aufruhr zu verstehen, aus dem heraus die neu entstandene oligarchische Ordnung gestürzt werden soll. Die Aspekte und Konsequenzen einer solchen κίνησις, d. h. der Verlust von Ordnung und Stabilität, der Verlust von Kontrolle durch die Vierhundert und ihrer Anhänger, begründen Agis’ Erwartungen, dass Athen insgesamt dadurch instabil werde und er die Kontrolle über das Geschehen übernehmen könne, während die Athener durch die chaotische Situation, in der sie sich im Rahmen dieser κίνησις befinden, militärisch nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen. Dass die Erwartungen König Agis’, eine κίνησις in Athen zu bewirken und diese für seinen Vorteil zu nutzen, derart fehlschlagen, lässt gerade in Verbindung mit dem vorangegangenen Kapitel darauf schließen, dass menschliche Kontrolle der κίνησις als nicht möglich dargestellt werden soll. Ebenso wie die Athener, die sich in Boiotien von einer κίνησις Vorteile versprechen und dann starke Verluste hinnehmen müssen, scheitert König Agis vor den Mauern Athens. Trotz ihres doch zu konstatierenden unterschiedlichen Charakters, so könnte man schlussfolgern, haben Athen und Sparta eins gemeinsam: aufgrund ihrer Illusion von Kontrolle einer κίνησις erleiden sie deutliche Misserfolge. Die Verwendung des Begriffs lässt hier außerdem darauf schließen, dass mit κίνησις nicht nur Kriegshandlungen, d. h. Handlungen zwischen den Kriegsparteien, gemeint sind, sondern eben auch politische Umstürze. Dies deutet erneut daraufhin, dass die Einschränkung der möglichen Bedeutungen von μεγίστη κίνησις zumindest fragwürdig ist. Die Wortverwendung kann auch hier auf bestimmte Aspekte der Situation, die dem Kinesis-Begriff allgemein inhärent zu sein scheinen, zurückgeführt werden. Dass Thukydides auch an anderen Stellen die στάσις-κίνησις-Verbindung anführt, widerspricht dem nicht, lassen sich doch auf alle betreffenden Situationen die gleichen Aspekte der fehlenden Kontrolle und der Unvorhersehbarkeit ihres Ausgangs übertragen.133 Erweitert wird dies hier um die Perspektive des spartanischen Königs und der Reaktion der Athener: Erneut gewinnen diese durch eine fehlende »Bewegung« die Oberhand, 132 Zum Verhältnis des scheinbaren Gegensatzes στάσις – κίνησις vgl. unten S. 249–254. 133 Vgl. unten Kap. 4.3.2.

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Die κίνησις bei Thukydides

wie sie es bereits bei Aigina und Lesbos konnten.134 Doch eine solche Perspektive wäre zu einseitig, denn die Athener bleiben ja, versteht man unter κινεῖν auch die Kriegshandlungen, keineswegs ruhig, wenn sie Reiter gegen das spartanische Heer schicken. Eine Abwesenheit von κίνησις ist damit auch in dieser Situation nicht gegeben, was auf die Vorstellung zurückzuführen sein könnte, dass ja, trotz der fehlenden inneren κίνησις in Athen, die μεγίστη κίνησις weiterhin wirkt. Sie kann dann hier nicht nur im Aussenden der Reiterei bestehen, sondern auch im partiellen Fehlen der Kontrolle durch den spartanischen König, d. h. im Misslingen seines Planes. Dieser Aspekt des Misserfolgs scheint auch an anderer Stelle, nämlich in IV, 55, 4 (Maßnahmen der Spartaner nach Pylos), die Beziehung der Spartaner allgemein zur κίνησις zu prägen.135 Agis’ Fähigkeit, κίνησις kontrolliert anzutreiben, ist nicht vorhanden und dadurch ist es ihm unmöglich, aus der Situation einen Vorteil zu gewinnen.136 Wie aber deutlich wird, ist dies auch für die Athener der Fall. Über die Dichotomie des Umgangs mit κίνησις hinaus kann so auf eine allgemeinere Vorstellung von κίνησις bei Thukydides geschlossen werden, in der die menschliche Unfähigkeit, κίνησις zu kontrollieren und zum eigenen Vorteil zu nutzen, im Mittelpunkt steht. Es stellt sich obendrein die Frage, ob nicht die direkte Bedrohung von außen gerade die innere κίνησις, die Agis beabsichtigt hatte zu intensivieren, verhindert haben könnte. Damit steht diese kurze Episode im Einklang mit der Beschreibung der Spartaner im Hinblick auf ihren Umgang mit κίνησις und ihr Verhalten in ihr: Das Scheitern der Spartaner im Umgang mit κίνησις könnte hier auf einer individuellen Ebene durch König Agis gezeigt sein. Wieder im scheinbaren Kontrast dazu steht Athen, doch wie auch an anderer Stelle ist ihr Erfolg nicht von langer Dauer: Gerade der weitere Verlauf des Geschehens zeigt, dass innere Unruhen nur eine Frage der Zeit waren, so dass Agis’ Strategie als im Grunde eigentlich richtig, jedoch zur falschen Zeit ausgeführt dargestellt wird. Dies ließe darauf schließen, dass sich die Fähigkeit zum Umgang mit κίνησις zum eigenen Vorteil vor allem darin zeigen könnte, dass zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen und Maßnahmen getroffen werden. Jedoch lässt die Gesamttendenz der Darstellung vermuten, dass damit lediglich die Chancen auf ein positives Ergebnis in der jeweiligen Situation erhöht werden, Erfolg jedoch keineswegs sicher ist. So entspricht auch die Darstellung Athens ganz der Konzeption an anderen Stellen, wie beispielsweise III, 16, 1 und IV, 55, 4: Die Athener entscheiden sich aktiv gegen eine κίνησις, die ihnen zum Nachteil gereichen soll, entgegen der Erwartung der Spartaner. Ebenso wie in diesen Episoden sind sie auch hier in der 134 Vgl. dazu oben S. 220–227. 135 Vgl. oben Kap. 4.2.2; Stimson, Characterization, S. 210. 136 Insgesamt ist Agis ein »typisch spartanischer« Charakter, vgl. ebd. S. 219–221.

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Lage, negative Konsequenzen für den Gegner herbeizuführen, anstatt selbst von negativen Auswirkungen der κίνησις betroffen zu sein. Athen verfolgt hier, wie es bereits zu beobachten war, die Taktik, nicht nur selbst κίνησις abzuwenden, sondern im Gegenteil, eine für den Gegner anzutreiben, wodurch der KinesisBegriff mit einem chaotischen Zustand für die Betroffenen assoziiert wird. Hier geschieht dies jedoch in einem beschränkten Rahmen und ebenso wie bei den bereits erwähnten Episoden hängt auch dieser Vorteil der Athener von äußeren Faktoren ab, die sie selbst nicht beeinflussen können – so von Agis’ Fehleinschätzung der Lage. Durch die Entscheidung gegen κίνησις können die Athener die Situation zum eigenen Vorteil nutzen und negative Aspekte fernhalten, während die Spartaner, und hier Agis im Speziellen, keinen Nutzen aus diesem Prozess ziehen, geschweige denn ihn beeinflussen können.137 Langfristig gesehen aber nutzt dies Athen nur wenig. Spartas Unvermögen, sich in der κίνησις vorteilhaft zu verhalten, ändert am Untergang Athens nichts. Da Thukydides dieses Ende durchaus bekannt gewesen ist, wie ja V, 26, 1 deutlich macht, stellt sich die Frage, mit welcher Intention Thukydides, will man der vorliegenden Interpretation folgen, eine solche Konzeption angelegt haben könnte. Hier ließe sich gerade damit argumentieren, dass Thukydides möglicherweise den Untergang Athens trotz ihrer Macht, ihrer Ressourcen und ihres Reichtumes als unvorhergesehenes, entgegen aller Überlegungen trotzdem real eingetretenes Ereignis darstellen will – eben als eine κίνησις. Denn der Begriff ist, wie bisher plausibel gemacht werden konnte, von einer solchen Konnotation geprägt. Damit könnten auch diese richtigen Entscheidungen Athens in eine mögliche Darstellungskonzeption einer μεγίστη κίνησις eingeordnet werden – die nicht nur den Untergang Athens beschreibt, sondern noch viele andere unkontrollierbare, unvorhersehbare Ereignisse der Zeit. Athens Entscheidung gegen eine innere κίνησις wird schließlich durch den weiteren Verlauf nur als eine Verzögerung dargestellt und in der Reaktion des Heeres auf Samos in VIII, 75, 2, welches entgegen des Friedensangebotes der Vierhundert an Agis feierlichste Eide schwört, den Krieg fortzusetzen, ließe sich sogar eine weitere Intensivierung der μεγίστη κίνησις sehen. Von einem möglichen Frieden kann weiterhin keine Rede sein. Thrasyllos und die spartanische Flotte auf Chios VIII, 100, 2 Passend zu diesen Beobachtungen lässt sich auch die letzte Textstelle in die Darstellung der Athener einordnen, die immer wieder κίνησις verstärken und dadurch die μεγίστη κίνησις intensivieren und im Laufe des Geschehens mehr

137 Vgl. Stimson, Characterization, S. 217–218 zur verpassten Chance, in den Piräus einzufahren in II, 93.

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Die κίνησις bei Thukydides

und mehr die Möglichkeit verlieren, frei zu entscheiden. Stattdessen müssen sie sich schließlich, und dies ist eine bedeutende Wendung, mit einer κίνησις der Spartaner auseinandersetzen. Die jedoch sind wiederum einmal mehr nicht in der Lage, sich vorteilhaft zu verhalten und können somit durch ihr Unvermögen den Athenern keinen großen Schaden zufügen – ein erneuter Glücksfall für Athen. Dieses Glück, dass Sparta nicht in der Lage zu sein scheint, Vorteile durch eigene κίνησις zu generieren, kann auch als Grundlage der Einschätzung in VIII, 96, 5 gedeutet werden, die Spartaner seien für Athen der »passendste aller Feinde« gewesen. Zuerst sei hier ein kurzer Überblick zum Kontext gegeben. Nachdem Tissaphernes die versprochene Unterstützung für die Peloponnesier nicht geleistet hat und allem Anschein nach auch nicht leisten wird, werden diese von Pharna­ bazos II. nach Phrygien gerufen, um dort die Städte aus dem Bündnis mit Athen zu lösen. Der spartanische Nauarch Minandros bricht daraufhin mit seiner Flotte von Milet zum Hellespont auf und ergreift alle Maßnahmen, damit dies den Athenern auf Samos solange wie möglich verborgen bleibt. Minandros jedoch gerät in einen Sturm und muss auf Ikaros warten, bis er schließlich nach Chios gelangen kann (99). Der athenische Feldherr Thrasyllos erfährt trotz der Maßnahmen des Minandros von der Ausfahrt der Flotte und begibt sich ebenfalls schnellstmöglich zum Hellespont. Als er erfährt, dass Minandros auf Chios sei, segelt er nach Lesbos, um von dort aus gegen Chios zu fahren und stellt dort und auf dem Chios gegenüberliegenden Festland Späher auf, damit ihm eine Bewegung der Flotte nicht entgehe: εἰ ἄρα ποι κινοῖντο αἱ νῆες, ὅπως μὴ λάθοιεν (100, 2). Thrasyllos will außerdem das abgefallene Eresos auf Lesbos wieder unter athenische Herrschaft bringen und vereinigt sich vor dem Hafen von Eresos mit Thrasybulos, um mit dessen Truppen zusammen die Belagerung zu beginnen. Minandros kann währenddessen seine Truppen mit Lebensmitteln und Sold versorgen und fährt mit seinen Schiffen in Richtung des Festlandes aus, um von den Athenern bei Eresos nicht gesehen zu werden. Dies gelingt auch und so kann Minandros ungestört bis zum Hellespont fahren (101) und die Athener dort vertreiben; Thrasyllos muss die Belagerung abbrechen, nachdem klar wird, dass die Späher ihre Aufgabe nicht erfüllt haben, und so schnell wie möglich zum Hellespont segeln (εὐθὺς ἀπολιπόντες τὴν Ἔρεσον κατὰ τάχος ἐβοήθουν ἐς τὸν Ἑλλήσποντον, 103, 2). Die physikalische Bewegung von Schiffen wird hier wieder einmal mit dem Kinesis-Begriff beschrieben. Dies lässt darauf schließen, dass es sich um einen üblichen Sprachgebrauch handelt, dass also Thukydides mit der Verwendung des Begriffes nicht ausschließlich auf ein mögliches Darstellungskonzept verweisen will. Jedoch können hier, wie auch an anderen Stellen, wieder mehrere Parallelen zu den bisher betrachteten Verwendungskontexten gezogen werden, sodass

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plausibel angenommen werden kann, dass Thukydides den üblichen Sprach­ gebrauch möglicherweise mit einem Darstellungskonzept verbindet und sich den Sprachgebrauch auch zur Verarbeitung dieses Konzeptes zunutze macht. Die Konnotation des Kinesis-Begriffs ist hier von der Perspektive des Thrasyl­ los auf die Situation geprägt – dieser weiß weder wann, noch wohin (ποι κινοῖντο) die Schiffe als nächstes fahren werden und versucht, dieser Unsicherheit durch das Aufstellen der Späher entgegenzuwirken. Gleichzeitig weiß Thrasyllos jedoch über das eigentliche Ziel der spartanischen Flotte, den Hellespont, Bescheid und seine Reaktionen in 100, 1 und 103, 2 machen die Bedeutung der Kontrolle dieses Gebietes deutlich. Damit ist der Bewegung der gegnerischen Flotte die Möglichkeit eines Kontrollverlustes der Athener inhärent, der das ohnehin bereits für die Athener ungünstige Kraftverhältnis, welches sich in der Schiffsanzahl138 und der notwendigen Beschäftigung mit den Abgefallenen von Eresos äußert, weiter verschlechtern würde und die Athener in eine am Ende unkon­ trollierbare Situation bringen könnte. Eine solche Gefahr zeigt sich schließlich in der Seeschlacht bei Kynossema in den Kapiteln 104–105 realiter,139 wird jedoch aufgrund eines Fehlers der Peloponnesier zum Erfolg für die athenische Flotte.140 Die Situation der Athener, die sich sowohl der spartanischen Flotte auf Chios als auch der von ihr ausgehenden Gefahr am Hellespont bewusst sind, kann somit im κινοῖντο ausgedrückt werden. Die fehlende Kontrolle äußert sich dann vor allem im trotz der Späher unbemerkten Abzug des Minandros (101).141 Dessen unbedrängte Fahrt zum Hellespont illustriert Thukydides durch die Verweise, dass noch Zeit zum Frühstücken und Abendessen gewesen sei und weckt dadurch Assoziationen zur Ruhe – dem Gegenteil der Bewegung für die Athener. Er zeigt damit indirekt auch die Machtlosigkeit der Athener, Minandros an dieser Fahrt hindern zu können.142 Durch diesen Kontext kann mit dem Kinesis-Begriff die bereits bekannte Charakteristik fehlender Kontrolle und Planbarkeit aus Sicht des Thrasyllos verbunden werden. Indirekt wird auch auf das Gefahrenpotential für Athen hingewiesen, welches aus der Situation erwachsen kann und dadurch diese prägt:143 Am Ende sind die Peloponnesier und ihre Verbündeten im Kampf überlegen, verspielen den Sieg aber aufgrund ihrer Sorglosigkeit (ἀδεῶς) und der aufgegebenen Ordnung (ἀτακτότεροι γενέσθαι, 105, 3).

138 Vgl. Hornblower III, S. 1041. 139 Vgl. Connor, Thucydides, S. 212. 140 Zur Seeschlacht vgl. Lazenby, The Peloponnesian War, S. 196–199; Kopp, Seeherrschaft, S. 195–196. 141 Vgl. E. Heitsch, Geschichte und Personen bei Thukydides. Eine Interpretation des achten Buches, Stuttgart / Leipzig 1996, S. 155–156. 142 Vgl. dazu Kopp, Seeherrschaft, S. 152 und Anm. 183. 143 Vgl. auch Heitsch, Geschichte und Personen, S. 81.

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Die κίνησις bei Thukydides

Die Athener sind gezwungen, mit der Bewegung der Spartaner umzugehen – bisher deutete die Darstellung auf ein umgekehrtes Verhältnis hin. Die Fähigkeit der Athener zum vorteilhaften Umgang mit dieser κίνησις der Spartaner erweist sich in 103, 2 als unzureichend – noch nicht einmal die reine Beobachtung der Bewegung gelingt, von einer Einschränkung ganz zu schweigen. Die Athener müssen nun auf eine κίνησις des Gegners reagieren und zeigen sich dabei nicht gerade erfolgreich. Noch weniger erfolgreich, diese Situation zu ihren Gunsten auszunutzen, zeigen sich aber die Peloponnesier im Anschluss. Obwohl sie nun in der Lage sind, die Initiative bezüglich einer κίνησις zu ergreifen und den Athenern dadurch Schwierigkeiten zu bereiten, können sie diesen Vorteil langfristig nicht nutzen. In Verbindung mit den bereits betrachteten Darstellungen der Spartaner und ihres Verhaltens in der κίνησις lässt sich wirklich vom »passendsten aller Feinde« sprechen: Selbst dann, wenn sie κίνησις für die Athener initiieren, sind sie nicht in der Lage, daraus einen Vorteil zu gewinnen. Dagegen zeigen die Syrakusaner in diesem Kontext in 105, 2–3, dass es auch anders geht: Sie, die sich bereits mehrmals als den Athenern »ähnlich« gezeigt haben, begehen den Fehler ausdrücklich nicht und müssen schließlich nur aufgrund des Verhaltens der Peloponnesier ebenfalls fliehen. Thukydides stellt diesen Unterschied ganz dezidiert dar, was wiederum der Schilderung der Syrakusaner im Kampf mit Athen auf Sizilien entspricht.144 Daraus ist jedoch nicht abzuleiten, dass Athens Verhalten in irgendeiner Form besser, d. h. erfolgsversprechender wäre, sondern nur, dass Spartas Verhalten unter den gegebenen Umständen denkbar unpassend ist. Dass Athen mit seiner kinetischen Art ebenfalls keinen Erfolg hat, ist bereits des Öfteren dargestellt worden.145 Insgesamt nimmt diese letzte Stelle im Werk, in der der Kinesis-Begriff verwendet wird, eine Tendenz auf, die sich bereits in Buch IV abzeichnet, wenn sich die geplante κίνησις für die Boioter gegen die Athener selbst richtet. Sie wird in Buch V im Rahmen der Schilderung der Schlacht bei Amphipolis weiter ausgeführt146 und spielt schließlich besonders in Buch VII eine entscheidende Rolle, wenn zwei entscheidende Wendepunkte des Krieges auf Sizilien mit dem athenischen Umgang mit κίνησις verbunden werden, nämlich die Verzögerung des Abzugs und das Scheitern des Ausbruchs aus dem großen Hafen, wie weiter unten zu sehen sein wird.147

144 Vgl. unten S. 272. 145 Zum »Überraschungsmoment« vgl. Heitsch, Geschichte und Personen, S. 156–157. Stimson, Characterization, S. 37. 146 Vgl. unten Kap. 4.4.4. 147 Vgl. unten S. 293–301.

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Athen und die κίνησις Die Betrachtung der Begriffsverwendung in Bezug auf Athen kann die Beobachtungen zur Analyse der Sparta-Darstellung bestätigen. Athens Verhalten, hier anhand der Verwendung des Kinesis-Begriffes identifiziert, entspricht dem ihnen von den Korinthern zugeschriebenen Charakter ebenso wie bei Sparta. Dadurch wird die Dichotomie der Korintherrede durch das gesamte Werk verfolgbar – die Athener schüren Bewegung und sind, aufgrund ihrer Ressourcen, fähig, temporär Erfolge damit zu erzielen. Gerade die Stellen, an denen sich Athen gegen eine spezielle κίνησις entscheidet, zeigen, wie Athen so Vorteile gewinnt. Gleichzeitig wird aber auch in der Entscheidung gegen eine κίνησις die Tendenz deutlich, den übergeordneten historischen Prozess, den Thukydides als μεγίστη κίνησις interpretiert haben könnte, zu intensivieren. Dies zeigt sich u. a. darin, dass sie das Kriegsgeschehen erweitern und neue Schauplätze eröffnen. Auch wenn die μεγίστη κίνησις kein Synonym für den Krieg allein ist, wie oben festgestellt werden konnte, so ist sie doch ein entscheidender Faktor der Darstellung. Intensivieren die Athener dieses Kriegsgeschehen, an dem sich die μεγίστη κίνησις, so die Theorie, besonders gut zeigen lassen könnte, so intensivieren sie auch die κίνησις selbst – beide sind untrennbar in der Darstellung des Thukydides miteinander verbunden.148 Erst gegen Ende des Werkes kommt Athen in eine Phase, in der es auf die κίνησις der spartanischen Flotte reagieren muss und dabei zuerst im Nachteil ist – was Sparta jedoch, und hier bestätigt sich der Eindruck der vorangegangenen Analyse, nicht auszunutzen vermag. Athens »kinetischer« Charakter scheint damit ebenso auf dem dargestellten Verhalten in Bezug auf κίνησις zu beruhen, wie dies bei Sparta beobachtet werden konnte. Dabei ist aber keine Präferenz für eine Seite zu erkennen. Im Gegenteil scheinen beide Arten des Verhaltens keinen langfristigen, sicheren Erfolg zu versprechen. Athen ist auch bei Erfolgen immer wieder von äußeren Umständen, nicht zuletzt von der unzureichenden Fähigkeit der Spartaner, Vorteile zu erkennen und auszunutzen, abhängig. Somit ist weder ihr Intensivieren der μεγίστη κίνησις, noch der Versuch der Vermeidung, wie es die Spartaner nach Pylos versuchen, von Erfolg gekrönt. Aus der Dichotomie der Charaktere kann daher nicht die Darstellung eines »geeigneten« Umgangs mit κίνησις abgeleitet werden – beide Hauptakteure scheitern mit ihrem Verhalten. Sollte sich dieses Scheitern auch in Bezug auf andere Akteure im Werk zeigen, so lässt sich die These einer verarbeiteten Vorstellung von κίνησις als übermenschlichem und unkontrollierbaren Prozess im Werk plausibel machen. Gerade anhand der Athener wird dieses Scheitern mehrfach sichtbar, wenn sich ihre geplanten Aktionen in Boiotien beispielsweise gegen sie selbst richten. Alle Episoden ins148 Vgl. oben S. 90.

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Die κίνησις bei Thukydides

gesamt können darauf hindeuten, dass menschliche Kontrolle durch Athen oder Sparta über κίνησις eine Illusion ist – weder der »kinetische«, noch der »akinetische« Charakter können bestehen. So gilt es zu untersuchen, ob Thukydides vielleicht einem möglichen Mittelweg des Verhaltens positiver gegenüberstehen könnte. Der »kinetische« Charakter Athens wird wohl am deutlichsten in Buch VI und VII, wenn sich Athen für die Durchführung der Sizilien-Expedition entscheidet. Da dadurch wiederum der Krieg und mit ihm die μεγίση κίνησις intensiviert werden,149 lässt sich schlussfolgern, dass die hier beobachteten Tendenzen auch an anderen Stellen im Werk ihre Entsprechung finden. Durch ihr Verhalten, immer wieder κίνησις zu intensivieren, zwingen die Athener die Spartaner, sich mit κίνησις auseinanderzusetzen  – verstärken aber dabei gleichzeitig den gesamten Prozess, der wieder auf sie selbst wirkt. Athen steht daher nicht außerhalb der μεγίστη κίνησις bloß weil sie sich bisweilen gegen kleinere Bewegungen ent­scheiden kann. Sie ist ebenso mittendrin und von ihren Auswirkungen betroffen. Im Gegensatz zum Nous des Anaxagoras beispielsweise oder zum unbewegten Gott des Xenophanes ist Athen nicht, um einen Begriff des Aristoteles zu bemühen, als »unbewegter Beweger« zu verstehen. Gerade ihre Niederlage macht dies vor dem Hintergrund ihrer Darstellung im Werk deutlich. Immer wieder haben Athen und Sparta mit Situationen zu tun, in denen sie die Kontrolle verlieren, die nicht planbar sind und die sie zwingen, zu reagieren. Dass sie trotz unterschiedlichen Verhaltens nicht in der Lage zu sein scheinen, den Prozess zu ihrem langfristigen Vorteil auszunutzen, macht die These plausibel, dass Thukydides in seinem Werk auch die Auseinandersetzung des Menschen mit diesem unkontrollierbaren Prozess thematisiert, den er mit dem Kinesis-Begriff beschreibt. Die unterschiedliche Art und Weise dieser Auseinandersetzung könnte, so lässt sich vermuten, im Kleinen anhand einzelner Begriffsverwendungen im Werk verarbeitet worden sein. Daraus lässt sich schließen, dass das Postulat der μεγίστη κίνησις eine mögliche Grundlage bewusster Darstellungskonzeption sein kann – vielleicht nicht die einzige, aber doch eine bedeutende, zieht sich doch die Schilderung der Auseinandersetzung beider Poleis mit κίνησις auf ganz verschiedenen Ebenen durch das gesamte Werk. So lassen sich aus der Betrachtung der Darstellung der κίνησις auf Polis-Ebene zwei Erkenntnisse gewinnen: Zum einen können immer wieder vorsokratische Vorstellungen von κίνησις auch in der Verwendung durch Thukydides rekonstruiert werden, so z. B. die Aspekte des Zwangs und des äußeren Einflusses, der enormen Reich149 Vgl. unten S. 307–309. Dies wird u. a. deutlich im abschließenden Kapitel des siebten Buches, in dem Thukydides die Sizilien-Expedition als die größte Unternehmung des Krieges und vielleicht sogar der ganzen hellenischen Geschichte bezeichnet, VII, 87, 5: »ξυνέβη τε ἔργον τοῦτο [Ἑλληνικὸν] τῶν κατὰ τὸν πόλεμον τόνδε μέγιστον γενέσθαι, δοκεῖν δ’ ἔμοιγε καὶ ὧν ἀκοῇ Ἑλληνικῶν ἴσμεν […].«

Die κίνησις jenseits von Athen und Sparta

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weite und vor allem der fehlenden menschlichen Kontrolle und Vorhersehbarkeit. Zum anderen kann die Darstellung der beiden Hauptkontrahenten des Krieges auch als eine Darstellung ihrer Auseinandersetzung mit einem Prozess gelesen werden, der sich durch solche Aspekte auszeichnet. Den Darstellungen Athens und Spartas im Rahmen des Krieges könnte eine solche übergeordnete Konzeption zugrunde liegen, wie sich aus den obigen Betrachtungen zu beiden Poleis ableiten lässt. Die nachfolgenden Kapitel werden weitere mögliche Ebenen dieser Konzeption betrachten und untersuchen, inwiefern eine solche These zur Darstellungskonzeption vor dem Hintergrund einer übermenschlichen, unkontrollierbaren κίνησις bei Thukydides belastbar ist. Ist nämlich diese Auseinandersetzung auf möglichst weite Bereiche der Darstellung ausgedehnt und trägt vergleichbare Konnotationen wie die bisher betrachteten, so lassen sich die hier aufgestellten Thesen stützen.

4.3 Die κίνησις jenseits von Athen und Sparta Nachfolgend sollen Stellen in den Blick genommen werden, an denen der Kinesis-​Begriff im Kontext anderer kollektiver Akteure als Athen und Sparta verwendet wird. Es handelt sich dabei um die Oligarchen auf Kerkyra, das gesamte Griechentum im Rahmen der στἀσις auf Kerkyra und Hermokrates und Athenagoras, die in der Debatte in Syrakus unterschiedliche Perspektiven auf den kollektiven Umgang mit κίνησις äußern. In all diesen Fällen wird geschildert, wie sich größere Gruppen mit κίνησις direkt oder indirekt auseinandersetzen, wobei Individuen oder die beiden Hauptmächte nur am Rande vorkommen. Auch hier wird sich aber zeigen, dass eine vollständige Trennung der Darstellungen nicht durchzuführen ist. Immer wieder lassen sich daher aus den Beschreibungen des Verhaltens der Menschen auch Rückschlüsse auf die Darstellung Athens oder Sparta ziehen – was angesichts ihrer prominenten Rolle im Peloponnesischen Krieg nachvollziehbar ist. Dennoch steht im Mittelpunkt dieses Kapitels die Untersuchung der gerade angesprochenen möglichen Übertragung der Darstellungskonzeption auch auf andere Menschen, die nicht einer der beiden Poleis und ihrem jeweiligen typischen Verhalten zugeordnet werden. Damit kann die Tragfähigkeit der These einer möglichen werkumspannenden Konzeption der Darstellung eingehender geprüft werden.

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4.3.1 Die Oligarchen auf Kerkyra Die folgende Stelle ist aus zweierlei Gründen besonders interessant: Zum einen findet sich hier eine von nur drei Verwendungen des Substantivs κίνησις im gesamten Werk, neben I, 1, 2 und V, 10, 5, zum anderen ist die Bedeutung des Wortes im gegebenen Kontext äußerst vielschichtig, wie sich im Folgenden zeigen wird. Die Passage ist Teil der Schilderung der inneren Kämpfe auf Kerkyra und des Umgangs der beiden Hauptmächte Athen und Sparta mit diesem Konflikt. Der Bürgerkrieg auf Kerkyra entsteht aufgrund des Bemühens einiger Bürger, Kerkyra aus dem Bündnis mit Athen zu lösen und es dem Peloponnesischen Bund anzuschließen. Im Zuge dessen findet ein Prozess statt zwischen Peithias, einem Anhänger der Athener, und den fünf reichsten Männern der Insel, welcher aufgrund verschiedener Konflikte mit der Ermordung des Peithias und weiterer einfacher Bürger endet (III, 70). Die Oligarchen beschließen, sich keiner der beiden Hauptmächte mehr anzuschließen und üben Druck auf das Volk aus, indem sie es überfallen (71–72, 3). Es kommt zur entscheidenden Schlacht zwischen den beiden Parteien, die das Volk aufgrund seiner Überzahl und seiner besseren Stellungen für sich entscheiden kann. In höchster Not setzen die Oligarchen daraufhin die Häuser rund um die Agora in Brand, alle Mietwohnungen und auch ihre eigenen Häuser und nur der Zufall verhindert, dass die ganze Stadt in Brand gerät (74, 1–3). Am nächsten Tag trifft der athenische Feldherr Nikostratos auf Kerkyra ein, um eine Einigung zwischen beiden Parteien zu erzielen: die Hauptschuldigen sollen verurteilt werden, der Rest friedlich zusammenwohnen und sich mit den Athenern verbünden. Kurz vor seiner Abreise überzeugen die Anführer der Volkspartei ihn, fünf seiner Schiffe im Tausch gegen die gleiche Anzahl eigener Schiffe auf Kerykra zu lassen, um die Gegner »in ihrer Bewegung« etwas zu mindern: οἱ δὲ τοῦ δήμου προστάται πείθουσιν αὐτὸν πέντε μὲν ναῦς τῶν αὐτοῦ σφίσι καταλιπεῖν, ὅπως ἧσσόν τι ἐν κινήσει ὦσιν οἱ ἐναντίοι, ἴσας δὲ αὐτοὶ πληρώσαντες ἐκ σφῶν αὐτῶν ξυμπέμψειν (75, 2). Hammond schlägt vor, den Kinesis-Begriff hier wörtlich zu verstehen: »to be on the move«.150 Dies scheint jedoch dem Kontext nicht zu entsprechen, da nicht ersichtlich ist, wie fünf athenische Schiffe mitsamt ihrer Besatzung die Oligarchen daran hindern sollten, sich irgendwohin zu bewegen, zumal ja angeboten wird, die gleiche Anzahl an Schiffen und Männern nach Athen zu schicken. Noch unwahrscheinlicher wird eine solche Bedeutung vor dem Hintergrund, dass sich die Oligarchen problemlos zum Dioskuren-Heiligtum bewegen können, obwohl die Soldaten des Nikostratos zusammen mit den Kerkyrern in der Stadt sind. Auch die Tatsache, dass die Kerkyrer die Oligarchen sofort für die

150 Hammond, Arrangement, S. 132.

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Schiffe einschreiben, die nach Athen geschickt werden sollen, spricht gegen die Deutung, es solle hier physikalische Bewegung von Ort zu Ort unterbunden werden: Im Gegenteil sind die Kerkyrer ja ganz erpicht darauf, die Oligarchen so schnell wie möglich loszuwerden. Eine Bewegung von Ort zu Ort kann hier also zumindest nicht ausschließlich gemeint sein. Ebenso schwierig ist eine Übersetzung im Sinne von »Veränderung«, wie es für κίνησις und vor allem seine Negationen häufig vorgeschlagen wird:151 Inwiefern sollten die Athener die Oligarchen in ihrer Veränderung hemmen und aus welchem Grund? Funktionieren würde eine solche Übersetzung wohl nur, wenn damit eine Veränderung der Oligarchen zum aktuellen Verhalten, dem Kampf gegen das Volk, gemeint ist; dann würde es im Sinne des Volkes aber sinnvoller sein, nicht von »hemmen« zu sprechen, sondern vom gänzlichen »Stoppen«. Es ist daher aufgrund dieser Schwierigkeiten davon auszugehen, dass κίνησις hier metaphorisch gebraucht wird, um das Verhalten der Oligarchen gegen das Volk zu beschreiben und damit einhergehende Gefühle.152 Die »Bewegung« der Oligarchen äußert sich dabei bereits in ihrer Attacke auf Peithias (70, 6), in ihrem Überfall auf das Volk (72, 2) und schließlich in dem Anzünden der Häuser (74, 2), welches die gesamte Stadt in Gefahr bringt. Es ist hier eine Steigerung zu erkennen, die sich von der Ermordung weniger Gegner über den Angriff auf das gesamte Volk bis hin zur blinden Zerstörungswut angesichts der drohenden Niederlage entwickelt. Thukydides stellt dabei heraus, dass die Oligarchen in diesem Moment auch vor der Zerstörung des eigenen Besitzes nicht haltmachen, indem er dieses Faktum zweimal erwähnt (72, 3 und 74, 2). Er macht dazu die Auswirkungen dieser Entscheidung deutlich: Viele Waren der Händler verbrennen, Wohnungen sind zerstört und beinahe die gesamte Stadt. Die detaillierte Schilderung des Brandes und der Hinweis auf den Zufall, der die Katastrophe verhinderte (ἡ πόλις ἐκινδύνευσε πᾶσα διαφθαρῆναι) zeigen, dass Thukydides dieser Handlung eine größere Bedeutung zumisst, zumal er Nikostratos als eine »Hilfe« in dieser Situation bezeichnet: παραγίγνεται  βοηθῶν (75, 1). Diese Gegenüberstellung zum Eintreffen von Nikostratos lässt es plausibel erscheinen, dass sich die Formulierung ἧσσόν τι ἐν κινήσει auf das Verhindern weiterer Aktionen bezieht, die dem Feuerlegen auf der Agora entsprechen – die Gegner sollen davon abgehalten werden, in ihrer Verzweiflung und ihrer Feindschaft zum Demos erneut eine solche oder eine vergleichbare Tat mit so großer Gefahr für die Stadt insgesamt zu begehen.

151 Vgl. oben Kap. 2.1. 152 Vgl. K. W. Krüger, ΘΟΥΚΥΔΙΔΟΥ ΣΥΓΓΡΑΦΗ, Mit erklärenden Anmerkungen, Bd. I und II, herausgegeben von Dems., New York / Hildesheim 1972 (reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1858–1860), S. 67.

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In diesem Kontext scheint der Kinesis-Begriff mehrere bereits bekannte Charakteristika zu beinhalten. Zum einen ist es vor allem der Aspekt fehlender Kontrolle, der der Handlung der Oligarchen innewohnt: nur der Wind, ein nicht beeinflussbarer Faktor, verhindert schlimmeren Schaden, die Aktion ist nicht unter der Kontrolle der Oligarchen, die Konsequenzen der Tat sind weder absehbar, noch kontrollier- oder planbar. Zum anderen haben die Oligarchen in ihrer Wut und ihrem Kampf auch die Kontrolle über sich selbst verloren: sie nehmen jeden Schaden durch das Feuerlegen in Kauf und beschädigen auch ihren eigenen Besitz. Für einen solchen Zustand könnten deutsche Ausdrücke wie »blinde Wut« oder »Rage« genutzt werden, die ebenso ein irrationales Handeln zum Schaden sowohl der eigenen Person als auch anderer bezeichnen. Die Formulierung ἐν κινήσει könnte damit hier auch mit »in ihrer Rage« übersetzt werden. Die Konsequenzen der Tat, die die Oligarchen in ihrer »Bewegung« ausführen, zeigen außerdem eine große Nähe zum Aspekt der enormen Reichweite, welcher der κίνησις in den vorsokratischen Texten zugeschrieben wurde, sowie der starken Erfassung aller anderen Dinge: So stellt Thukydides die Gefahr des Feuers für die gesamte Stadt heraus (ἡ πόλις ἐκινδύνευσε πᾶσα) und betont die Zerstörung vieler Güter (χρήματα πολλὰ). Aus dem Kontext wird daher deutlich, dass die Oligarchen sich für eine Tat entschieden, deren Konsequenzen und deren Reichweite ihrer Kontrolle entzogen waren. Es hätte im schlimmsten Falle keine Möglichkeit gegeben, die Stadt zu retten und das Feuer einzudämmen, die Oligarchen hätten damit alles zerstören können. Auf der Grundlage dieser Aspekte der Situation könnte sich die doch seltene Verwendung des Begriffs κίνησις erklären lassen. Die Entscheidung, Feuer zu legen, ist keine rationale mehr, da dies auch im Falle des Erfolgs den Oligarchen keinen nennenswerten Vorteil verschafft, wenn ihr gesamter Besitz und die Stadt nicht mehr existierten. Es handelt sich hier also nicht um eine rational geplante Aktion, sondern um eine Verzweiflungstat, deren Ausführung keine langfristigen Ziele zugrunde liegen – es geht allein um die Vernichtung des Gegners um jeden Preis. Auch aus dieser Perspektive steht der Kinesis-Begriff hier in großer Nähe zu mangelnder Planbarkeit und fehlender Kontrolle (vor allem der Selbstkontrolle) und es wird somit deutlich, dass die »Bewegung« der Oligarchen hauptsächlich im Chaos münden würde und nicht in einem taktischen Sieg über den Gegner. Vor allem die Abhängigkeit vom Zufall, durch den ein Ausbreiten des Feuers verhindert wird, zeigt die enge Verbindung zwischen κίνησις und Unvorhersehbarkeit und fehlender Kontrolle. Der Kinesis-Begriff weist damit auf zwei Ebenen die bereits bekannten Charakteristika der fehlenden Kontrollierbarkeit sowie der mangelnden Planbarkeit und des Fehlens einer Einflussmöglichkeit auf den Prozess auf, einmal als Bewegung der Oligarchen, von der sie erfasst sind und die sie letztendlich dazu bringt, das Feuer zu legen, als auch in der Tat selbst, die dieser Bewegung entspringt.

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In beiden Fällen sind die betroffenen Menschen nicht mehr Herr über die Situa­ tion, sie haben keinerlei Kontrolle mehr und können weder vorausplanen noch steuernd eingreifen – sie sind dem Walten einer κίνησις vollständig ausgesetzt und können sich gegen ihre Konsequenzen nicht behaupten, was besonders durch die Hervorhebung der Rolle des Zufalls deutlich wird: lediglich dieses Element greift in das Geschehen ein und verhindert das vollständige Chaos. Die Oligarchen scheinen in diesem Moment angesichts ihrer Niederlage keine andere Wahl mehr zu haben als dieses extreme Mittel anzuwenden und können daher als »von einer Bewegung erfasst« verstanden werden. Schon die gesamte Schilderung der Aktionen der Oligarchen ist von dieser Konnotation des Extremen geprägt, das Eindringen in die Versammlung und die Ermordung des Peithias, der plötzliche Angriff auf das Volk und schließlich der Kampf in der Stadt: all dies zeigt kein rationales und langfristig geplantes Vorgehen, sondern erweckt eher den Eindruck einer von Leidenschaft und Aggression geprägten Auseinandersetzung. Im gleichen Ton schildert Thukydides dann auch den weiteren Verlauf der στάσις auf Kerkyra und in den anderen Städten und hebt dabei die ὀργαί der Kerkyrer hervor (85, 1),153 die sich hier in Kapitel 74 im Kampf der Parteien entladen. Diese Leidenschaften sind daher Bestandteil des Kinesis-Begriffs in 75, 2 und beschreiben das Erfasst-Werden der Oligarchen von diesen Gefühlen, die schließlich in den extremen Aktionen münden. Die Stelle ist des Weiteren mit der Pathemata-Liste verbunden: Hier berichtet Thukydides in seiner Argumentation für die Größe der aktuellen Ereignisse auch über die Auswirkungen der στάσις und das Sterben in ihrer Folge: φόνος, ὁ μὲν κατ’ αὐτὸν τὸν πόλεμον, ὁ δὲ διὰ τὸ στασιάζειν. Inwiefern die PathemataListe mit der Postulation der μεγίστη κίνησις verbunden ist,154 insofern ist die Schilderung des Kampfes zwischen Volk und Adel mit dieser Bewegung verbunden: Thukydides könnte hier nicht nur eine konkrete Ausdrucksform der in I, 23, 2 angesprochenen Katastrophen in der Folge des Krieges zeigen, sondern auch, inwiefern er diese zusammen mit dem Krieg als μεγίστη κίνησις versteht. Das Morden der Oligarchen geschieht nämlich in ihrer κίνησις, wie er in Kapitel 75 anhand des Begriffes explizit macht. Damit wird erneut plausibel, dass Thukydides’ Konzeption einer κίνησις, wie er sie in I, 1, 2 präsentiert, über die reinen Kriegshandlungen hinausgeht und eben auch die Schilderungen der Pathemata-Liste in diese Konzeption eingefügt werden können. Die Stelle ermöglicht es damit, Thukydides’ Verständnis des Begriffs in seinem Zusammenhang zum Krieg und dessen Auswirkungen direkt aus dem Text zu rekonstruieren. Nicht zuletzt lässt die übergreifende Verbindung von μεγἰστη κίνησις, Pathemata-Liste und Darstellung der στάσις mit erneutem Aufgreifen 153 Vgl. Price, Internal War, S. 24–25. 154 Vgl. oben Kap. 4.1.

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des Kinesis-Begriffs die Möglichkeit einer generellen Darstellungskonzeption plausibel erscheinen.155 Vor dem Hintergrund dieser Charakteristik des Kinesis-Begriffs, dem ErfasstWerden, der fehlenden Kontrolle usw., ist die Episode über die Bitte des Volkes an Nikostratos besonders interessant: Inwiefern sollen die fünf athenischen Schiffe die Bewegung der Oligarchen eindämmen? Einerseits kann mit dem »Eindämmen« die bloße zahlenmäßige Reduktion der Oligarchen gemeint sein, wenn die fünf eigenen Schiffe im Tausch gegen die attischen nach Athen segeln und diese mit Oligarchen besetzt sind, wie es der Plan des Volkes ist. Durch diese Maßnahme könnte die κίνησις der Oligarchen eingedämmt werden, da sie nicht mehr stark genug sind, um einen weiteren Angriff zu unternehmen. Andererseits scheint aber der Aspekt der Angst eine wichtige Rolle zu spielen: diese Angst vor Athen führt ja dazu, dass sich die Oligarchen in den Dioskurentempel flüchten (δείσαντες δὲ ἐκεῖνοι μὴ ἐς τὰς Ἀθήνας ἀποπεμφθῶσι, 75, 3). Die Emotion der Angst vor den Athenern und ihrer Macht scheint also für das Volk von Kerkyra eine Möglichkeit gewesen sein, die κίνησις der Oligarchen einzudämmen, sie also an weiteren Aktionen zu hindern. Thukydides scheint hier bereits mit einer Vorstellung von »lähmender« Angst gearbeitet zu haben, die eine Bewegung der Betroffenen verhindert. Somit sollen die Oligarchen und ihre Unterstützer unter Kontrolle gebracht werden. Dieses »unter Kontrolle bringen« drückt Thukydides schließlich aus durch »in ihrer Bewegung hemmen« und verknüpft damit erneut den Kinesis-Begriff mit der Vorstellung fehlender Kontrolle. Gleichzeitig wird eine interessante Verbindung zu den Athenern und ihrem kinetischen Wesen aufgebaut: Sie sollen hier dafür verantwortlich sein, κίνησις einzudämmen, was ihnen jedoch nur teilweise gelingt: Die Ausweitung der inneren Kämpfe auch auf Athener und Peloponnesier im Anschluss an die Episode in den Kapiteln 76–80 zeigt, dass Athen die κίνησις der Oligarchen zwar eindämmen kann, dabei aber für sich selbst neue Bewegung schafft, in dem es beispielsweise in einen größeren Konflikt gezogen wird.156 So kann diese Episode, in der die Athener nur am Rande auftreten, wiederum den Eindruck der Darstellungskonzeption aus den vorangegangenen Kapiteln bestätigen. Wie gefährlich für die Athener dieses Eingreifen eigentlich gewesen ist, zeigt Thukydides in Kapitel 79: Das Zögern des Alkidas vor einem erneuten Angriff rettet die Kerkyrer vor einer Niederlage,157 sodass auch hier nicht die Athener selbst in vollem Umfang über Erfolg oder Nichterfolg ihrer Handlungen bestimmen, sondern Thukydides wieder deutlich macht, dass auch externe Faktoren eine Rolle spielen, die Athener also auch hier, 155 Vgl. Price, Internal War, S. 207–209. 156 Vgl. Connor, Thucydides, S. 98 und 103; Price, Internal War, S. 289. 157 Es sei hier darauf hingewiesen, dass Brasidas dem Alkidas zu einem Angriff rät, jedoch diesem nicht gleichgestellt ist, weshalb es nicht zu einer weiteren Aktion kommt, vgl. Thuk. III, 79, 3.

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wie bereits in Bezug auf die Bewegung der Flotte bei Lesbos in III, 16, 1, Glück hatten.158 Somit kann von einer Kontrolle der Athener über die μεγίστη κίνησις, zu deren Größe nach I, 23, 2 auch die στάσις beiträgt, die also für Thukydides zur größten Bewegung gehört, nicht gesprochen werden, wenngleich den Athenern zumindest von den Kerkyrern die Möglichkeit zugesprochen wird, auf die κίνησις der Oligarchen einwirken zu können. Dass die Athener im Anschluss keine Rolle mehr im Verlauf des Bürgerkrieges spielen, da das Volk schließlich die Ermordung seiner Gegner selbst in die Hand nimmt (81, 2), erweckt den Eindruck, als ob Thukydides jedenfalls den Athenern keine entscheidende Rolle bei der Eindämmung der κίνησις der Oligarchen zuschreibt, wie er es das Volk von Kerkyra vorher durch dessen Bitte um fünf Schiffe tun lässt.159 Erkennen lässt sich daran vor allem, dass offensichtlich niemand in der Lage ist, die Situa­ tion zu kontrollieren: durch das Auftreten der Athener eskaliert sie eher noch mehr und die anschließende Stasis-Beschreibung kann als Höhepunkt dieser Entwicklung verstanden werden. Diese Darstellungstendenz lässt sich noch weit über das dritte Buch hinaus verfolgen: In IV, 46–48 schildert Thukydides, wie die Athener auf der Überfahrt nach Sizilien den Bürgerkrieg auf Kerkyra endlich beenden wollen. Die Oligarchen werden auch besiegt und gefangen genommen – wieder ein temporärer Erfolg Athens. Doch die Oligarchen liefern sich nur aus unter der Bedingung, dass sie nicht von ihren Feinden gerichtet, sondern nach Athen gebracht würden. Dem stimmen die Athener zu unter der Bedingung, dass niemand fliehe (46, 3). Die Anführer der Demokraten aber manipulieren einige der Oligarchen und bringen sie dazu, zu fliehen, um selbst über ihre Feinde verfügen zu können. So endet der Konflikt mit einem Massaker an den Oligarchen. Durch diese Manipulation der Demokraten sind die Athener wiederum nur Zuschauer des Geschehens, obwohl sie eigentlich die Kontrolle darüber erhalten wollten. Thukydides’ Kommentar bezüglich der Schuld der Athener an diesem Massaker (47, 2), die der Darstellung der Kerkyrer glaubten, obwohl sie wissen mussten, dass hier eine Manipulation vorlag, führt dies auf den Egoismus und die Ruhmsucht der Feldherren zurück, die den Ruhm, die Gefangenen nach Athen zu führen, keinem Anderen gönnten. Die Athener wollen den Konflikt, den Thukydides durch die Wortverwendung in der Pathologie mit der μεγίστη κίνησις verknüpft hat, beenden, und somit eine κίνησις unter Kontrolle bringen – was laut Thukydides aufgrund der menschlichen Natur der Feldherren fehlschlägt. Anstatt also die Geschehnisse in geordnete Bahnen zu lenken, sorgen die Athener durch ihren Zugriff nur dafür, dass die Schrecken 158 Vgl. oben S. 227. 159 Dies ist auch ein Grund, warum diese Stelle nicht in die Betrachtung des athenischen Verhaltens in der κίνησις eingeflossen ist: der Schwerpunkt der Schilderung liegt bei der hier vorherrschenden Perspektive auf dem Verhältnis der Oligarchen zum Volk Ker­ kyras. Die Athener spielen nur eine untergeordnete Rolle.

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der στάσις wieder zum Vorschein kommen – und wieder, so könnte man interpretieren, eine κίνησις entsteht. Die Athener sind keinesfalls in der Lage, κίνησις zu kontrollieren und das vom Volk geplante ἧσσόν τι ἐν κινήσει zeigt sich somit durch den Fortgang der Schilderung als Wunschdenken, κίνησις gleichzeitig als vom Menschen unkontrollierbar.

4.3.2 Das gesamte Griechentum in Bewegung Das Problem der Bürgerkriege in der Erzählung des Thukydides nimmt einen großen Teil der Forschung zum Werk ein.160 Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der detaillierten Schilderung der στάσις auf Kerkyra aufgrund der eingehenden Analyse des historischen Geschehens und der Übertragung der Erkenntnisse auf die menschliche Natur generell, die die στάσις auf Kerkyra zu einem Schaubild für das Verhalten der Menschen im gesamten Krieg machen – hier zeigt Thukydides an einem konkreten Beispiel, wie sich die menschliche Natur im Krieg verhält. Damit wird die Stasis-Beschreibung im dritten Buch mit dem gesamten Werk und seiner Konzeption explizit verbunden,161 denn im Proömium verknüpft Thukdides das Gleichbleiben der menschlichen Natur mit dem Anspruch des Werkes, ein »Besitz für immer« zu sein: ὅσοι δὲ βουλήσονται τῶν τε γενομένων τὸ σαφὲς σκοπεῖν καὶ τῶν μελλόντων ποτὲ αὖθις κατὰ τὸ ἀνθρώπινον τοιούτων καὶ παραπλησίων ἔσεσθαι, ὠφέλιμα κρίνειν αὐτὰ ἀρκούντως ἕξει. κτῆμά τε ἐς αἰεὶ μᾶλλον ἢ ἀγώνισμα ἐς τὸ παραχρῆμα ἀκούειν ξύγκειται. (I, 22, 4). Die Darstellung der menschlichen Natur ist somit eine zentrale Voraussetzung für das σαφὲς σκοπεῖν des Lesers, für das »wahrhafte Erkennen« des Zukünftigen: Ihr Gleichbleiben sichert den Wert des Werkes über Thukydides’ Zeit hinaus.162 Diese Verknüpfung der Stasis-Beschreibung mit dem Gesamtwerk und Thukydides’ erklärter Intention rückt die Darstellung auch in eine zentrale Position in der vorliegenden Arbeit, denn die στάσις wird damit über die menschliche Natur auch mit der Frage nach einer werkumfassenden Konzeption von κίνησις verbunden.163 Ob und inwiefern eine solche auch hier erkennbar ist, soll im Folgenden untersucht werden. Des Weiteren ist gerade 160 Vgl. dazu Connor, Thucydides, S.95–105; Orwin, Humanity, S. 175–184; die ausführliche Studie von Price, Internal War; M. Palmer, Stasis in the War Narrative. In: Balot / Forsdyke / Foster (edd.), Thucydides, S. 409–425. 161 Vgl. Price, Internal War, S. 274: »Stasis is ever before the reader’s eyes and represents the very nature of the war.« 162 Vgl. K. Raaflaub, Ktéma es aiei: Thucydides’ Concept of »Learning through History« and Its Realization in His Work. In: Tsakmakis / Tamiolaki (edd.), Thucydides, S. 3–22. 163 Vgl. Stahl, Thukydides, S. 118, Anm. 42; Connor, Thucydides, S. 103–104; Orwin, Humanity, S. 176; Price, Internal War, S. 210.

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der Stasis-Begriff für die Untersuchung aus zweierlei Gründen interessant: Zum einen ist eine treffende Übersetzung der Konnotation, wie für den KinesisBegriff, äußerst schwierig,164 zum anderen ist seine wörtliche Bedeutung dem Kinesis-Begriff diametral entgegen gesetzt: στάσις bedeutet eigentlich »Stillstand«.165 Auch aus diesem Grund ist die Betrachtung der Beziehung zwischen dem Postulat der größten Bewegung und der detaillierten Beschreibung des »Stillstands« und seiner Verknüpfung mit der Intention des Werkes, ein »Besitz für immer« zu sein, besonders vielversprechend. Kapitel 82 markiert den Anfang der sogenannten »Pathologie des Krieges«, in der Thukydides die bereits angesprochene Analyse der menschlichen Natur während des Krieges am Beispiel des Bürgerkriegs auf Kerkyra durchführt und die sich bis Kapitel 85 erstreckt.166 Der oben geschilderte Konflikt auf Kerkyra entwickelt sich zu einem Konflikt zwischen Athen und Sparta, da der spartanische Kommandant Alkidas von Kyllene nach Kerkyra segelt. Die Kerkyraier segeln gemeinsam mit den athenischen Schiffen zu einer Seeschlacht aus, in der aber, aufgrund der schlechten Taktik der Kerkyraier (78, 1) die Peloponnesier die Oberhand behalten. Diese erobern die Stadt jedoch nicht. Das Volk beginnt angesichts dieser spartanischen Bedrohung Gespräche mit den Oligarchen, die sich bereit erklären, gegen die Peloponnesier zu kämpfen (80–81, 1). Nach deren Abzug jedoch beginnt das Volk, die Oligarchen und ihre Anhänger zu ermorden, verurteilt 50 Männer in einem Prozess zum Tode und der Rest von ihnen tötet sich schließlich im Heraheiligtum selbst. Ganze sieben Tage soll das Morden weitergegangen sein, nicht nur gegen echte, sondern auch gegen angebliche Feinde: persönliche Feindschaften wurden ausgetragen und, wie Thukydides berichtet, »jede Art von Tod wurde üblich und es gab nichts, was nicht passierte und noch schlimmeres, wie es unter solchen Bedingungen gern zu tun pflegt. Denn auch der Vater tötete das Kind, einige wurden von den Altären geschleift oder an diesen getötet, einige auch im Dionysosheiligtum eingemauert, sodass sie verhungerten.« (81, 5). Die Schilderung dieser Vorgänge gipfelt in Kapitel 82, dessen Anfang eine Zusammenfassung der soeben berichteten Zustände auf Kerkyra darstellt: »Zu solcher Grausamkeit steigerte sich die στάσις, und sie schien umso stärker, da 164 Vgl. Connor, Thucydides, S. 96, Anm. 39; Palmer, Stasis, S. 409. 165 Vgl. Connor, Thucydides, S. 101. 166 Eine ausführliche Analyse der Stelle bietet u. a. C. W. Macleod, Thucydides on Faction (3, 82–83) (PCPhS 205 (1979)), S. 52–68; C.  Orwin, Stasis and Plague: Thucydides on the Dissolution of Society (Journal of Politics 50 (1988)), S. 831–847; Ders., Humanity, S. ­175–184. Zur Verknüpfung von Bürgerkrieg und Demokratie vgl. E.  Robinson, Thucydides and Democratic Peace (Journal of Military Ethics 5, 4 (2006)), S. 243–253; K. Raaflaub, Thucydides on Democracy and Oligarchy. In: Rengakos / Tsakmakis (edd.), Thucydides, S. 193.

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es die erste dieser Art war; später geriet sozusagen ganz Griechenland in Bewegung (ἐπεὶ ὕστερόν γε καὶ πᾶν ὡς εἰπεῖν τὸ Ἑλληνικὸν ἐκινήθη), weil in den zerstrittenen Gemeinwesen überall die Anführer des Volkes sich um Athens, die Adligen um Spartas Eingreifen bemühten. […] Und so fiel im Gefolge der στάσις vieles und beschwerliches über die Städte herein, wie es geschieht und immer geschehen wird, solange die menschliche Natur die gleiche bleibt […]. Denn im Frieden und im Wohlstand ist das Denken der Menschen und Völker besser aufgrund der Freiheit von bedrängenden Notwendigkeiten; aber der Krieg, das leichte Leben jeden Tages aufhebend, ist ein gewalttätiger Lehrer und richtet die Leidenschaften der Vielen nach dem Augenblicklichen.« (82, 1–2). Thukydides fährt damit fort zu beschreiben, wie überall Parteikämpfe ausbrechen und sich die Menschen gegenseitig im Ausklügeln hinterlistiger Anschläge aufeinander übertreffen. Damit, so Thukydides, sei eine Verkehrung der Wortbedeutungen, bzw. -anwendungen, einhergegangen, sodass z. B. überstürztes Losstürmen Tapferkeit, Sittlichkeit Tarnung für Feigheit, Klugheit (τὸ σῶφρον) feige Untätigkeit bedeutet habe (82, 3–4)167 und auch alle anderen, sonst üblichen Ansichten und Überzeugungen ins Gegenteil verkehrt worden seien (82, 5–7). Besonders eindrücklich schildert Thukydides, wie kein Bewohner der Stadt sich diesem Prozess entziehen konnte: Jeder, der neutral war, sei von beiden Seiten gemeuchelt worden (82, 8). Kapitel 84168 und 85 bringen die Erzählung wieder nach Kerkyra zurück, wo »das meiste davon zuerst versucht wurde« (τὰ πολλὰ αὐτῶν προυτολμήθη, 84, 1)).169 Thukydides kommt schließlich auf die menschliche Natur zu sprechen, die in dieser Situation offen gezeigt hätte, dass sie den Zorn nicht beherrsche (ἀκρατὴς μὲν ὀργῆς οὖσα, 84, 2). Zur Analyse des Kinesis-Begriffs an dieser Stelle ist die Kenntnis des weiteren Kontexts unabdingbar, da hier der Inhalt des Begriffs vor allem durch die folgende Beschreibung der Ausdrucksformen der στάσις gefüllt wird. Schon das nähere Umfeld des Wortes lässt aber auf eine bereits bekannte Charakteristik des Begriffs schließen, die die Stelle in große Nähe von I, 1, 2 rückt, nämlich der Bezug auf das »gesamte Griechentum«. Das Postulat einer solcher Reichweite wird hier, genau wie in I, 1, 2, durch den Zusatz ὡς εἰπεῖν relativiert,170 erin167 Zur Behandlung sprachphilosophischer Fragestellungen bei Thukydides vgl. allgemein F. Solmsen, Thucydides’ Treatment of Words and Concepts (Hermes 99 (1971)), S. ­385–408; Connor, Thucydides, S. 101–102. 168 Die Authentizität von Kapitel 84 ist umstritten, vgl. Hornblower I, S. 488–489; Palmer, Stasis, S. 413. 169 Zur Modellhaftigkeit der στάσις auf Kerkyra vgl. Strauss, City, S. 146–148; Connor, Thucydides, S. 96; Orwin, Humanity, S. 175; Price, Internal War, S. 6–78; D. Cohen, War, Moderation, and Revenge in Thucydides (Journal of Military Ethics 5, 4 (2006)), S. 280; Palmer, Stasis, S. 410–414. 170 Vgl. Connor, Thucydides, S. 103, Anm. 62.

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nert aber dennoch an den Aspekt der enormen Reichweite von κίνησις, die hier die Erfassung des Griechentums möglich macht. Weder das Recht, noch das Gemeinwohl können eine Grenze für das Handeln der Menschen bilden. Die κίνησις erfasst also alles und jeden – wie es bereits aus den vorsokratischen Texten bekannt ist. Dies bringt sogleich die zweite Charakteristik des Kinesis-Begriffs zur Sprache, die sich hier ableiten lässt: Das Griechentum »wird erfasst«, ist also passives Objekt einer Bewegung, die von außen Einfluss ausübt. Diese Formulierung ist umso interessanter, als es in den folgenden Schilderungen ja die Griechen sind, die die Taten begehen – und doch werden sie hier nicht als Handelnde, als Bewegende dargestellt, sondern eben als Bewegte. Dies ist auf die Mehrschichtigkeit des Prozesses zurückzuführen, den Thukydides beschreibt: τὸ πᾶν Ἑλληνικὸν bezieht sich nicht nur auf die Menschen, sondern auf die gesamte griechische Kultur, einschließlich der Normen, Gesetze und Bräuche. Diese werden eindeutig in der Schilderung der Kapitel 82–84 von Menschen »bewegt«, d. h. verändert, verworfen oder je nach Bedarf angewendet. Diese Menschen sind aber nicht nur Bewegende bezüglich der Normen, sondern sie werden auch bewegt, wie die Erklärung in 84, 2 zeigt: Die menschliche Natur kann den Zorn nicht beherrschen, sie wird von ihm beherrscht und ist ihm damit unterworfen, sie kann also auch von ihm »bewegt« werden. Gleiches Bild einer »unterworfenen« menschlichen Natur zeigt sich in 82, 8, in der die »Herrschaft«, oder der »Drang zur Herrschaft« (ἀρχή) mit ihren Begleitern als Grund für die Umwälzung aller Normen angegeben wird. Die Herrschaft wird zwar von Menschen ausgeführt, der Drang nach ihr, sowie die Pleoenxia und die Philotimia, beherrschen aber die menschliche Natur. Thukydides bezeichnet an keiner Stelle die menschliche Natur an sich als Grund für die στάσις und ihre Ausdrucksformen, sondern führt sie auf die Unfähigkeit, sich gegen die Gefühle zu wehren, die schließlich zu solchen Taten führen, zurück – der Mensch ist davon beherrscht und somit wird er bewegt. Eine ähnliche Vorstellung von κίνησις begegnet dem Leser schon in III, 75, 2, der κίνησις der Oligarchen auf Kerkyra, wie im vorherigen Kapitel aufgezeigt werden konnte. Es sei an dieser Stelle an die Seelentheorie des Demokrit erinnert: Bewegungen der Seelenatome führen zu Bewegungen der gesamten Seele und zu geringerer Lebensqualität.171 Es findet sich in der Darstellung des Thukydides dieselbe Idee einer von äußeren Bewegungen beeinflussten menschlichen Natur, zu der die Seele irgendwie gehören muss, die schließlich zu Bewegungen des Körpers führen und zu einer Bewegung des »gesamten Griechentums«. Eine Nähe zwischen Demokrits und Thukydides’ Ansichten zur menschlichen Seele kann hier zumindest bezüglich der Verbindung von Emotionen, menschlichem Verhalten und Auswirkungen auf seine Umwelt vermutet 171 Vgl. oben Kap. 3.4.4.

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werden. Ebenso lässt sich in der Bezeichnung des Krieges als βίαιος διδάσκαλος eine inhaltliche Nähe zu Heraklit sehen, der den Krieg als πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς (DK22 B53) beschreibt.172 Der Unterschied zwischen beiden ergäbe sich dann hier aus der Funktion des Krieges in der jeweiligen Vorstellung: Während bei Heraklit der Krieg für das Werden von Göttern und Menschen, Freien und Sklaven verantwortlich ist (καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους), ist bei Thukydides der Krieg ein διδάσκαλος, ein Lehrmeister. Dieser ist nicht für die Entstehung von Dingen verantwortlich, sondern für ihr Aufzeigen, für ihre Erklärung: der Lehrer ist derjenige, der den Menschen eine Sache oder ein Ding näherbringt, es ihnen vor Augen hält. Angesichts der inhaltlich-logischen Verknüpfung zwischen Krieg und μεγίστη κίνησις könnte hier die Grundlage seiner Entscheidung erkennbar sein, die μεγίστη κίνησις anhand des Krieges zu zeigen – sie den Menschen näher zu bringen. Der Krieg würde sich als βίαιος διδάσκαλος auch dafür gut eignen. Und im Unterschied zu Heraklit ist nicht er dafür verantwortlich, dass Dinge zu dem werden, was sie sind, sondern die μεγίστη κίνησις könnte in Thukydides’ Vorstellung diesen Platz eingenommen haben. Der Krieg dient lediglich als Rahmen, in dem das Wirken der μεγίστη κίνησις besonders gut dargestellt werden kann. Dadurch kann auch die στάσις zu den Ausdrucksformen der μεγίστη κίνησις gezählt werden – in ihr und durch sie wird das Wirken der μεγίστη κίνησις sichtbar. Die Verknüpfung von στάσις und κίνησις ist vor diesem Hintergrund nicht so widersprüchlich, wie es auf den ersten Blick scheint: Der »Stillstand« kann in seiner Ausdrucksform trotzdem Teil einer κίνησις sein, wenn er eben die Aspekte einer κίνησις hervorbringt und so ihrer Charakteristik entspricht. Die στάσις selbst beschreibt dabei die Situation in einem bestimmten Gemeinwesen, doch die Auswirkungen dieser Situation und deren Übergreifen auf andere Gemeinwesen können wiederum als κίνησις, hier in Form von ἐκινήθη, beschrieben werden. So wird das »gesamte Griechentum« nicht von einem »Stillstand« bewegt, sondern von den Auswirkungen, den Folgen und Konsequenzen der στάσις, die der Situation die Charakteristik einer κίνησις verleihen. Die στάσις wird damit zu einer möglichen Ausdrucksform der κίνησις,173 nicht aber zu ihrem Gegenteil: Durch die Parteikämpfe, durch das »Hinstellen« der Menschen auf einen bestimmten Standpunkt, von dem nicht abgewichen werden kann (so leitet sich der Begriff στάσις ab vom Verb ἵστημι – sich hinstellen) und wodurch in den Gemeinwesen ein Stillstand des politischen Lebens entsteht, geraten die Gemeinwesen in eine Situation, die die Charakteristik der κίνησις besitzt. 172 Zur möglichen Verknüpfung zwischen Thukydides und Heraklit darüber hinaus vgl. z. B. Parmeggiani, Methodolgy und Shanske, Philosophical Origins, S. 133–139. 173 Vgl. Hornblower I, S. 479; Price, Internal War, S. 273; Palmer, Stasis, S. 423.

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So zeigt auch die στάσις auf Kerkyra den Aspekt des Chaotischen und des Planlosen, der Unkontrollierbarkeit überall auf, so z. B., wenn die Verwandtschaft keine Sicherheit mehr bietet (82, 6) oder, noch deutlicher, die Worte ihre eigentliche Bedeutung verlieren, sodass die Kommunikation als Grundlage für jede menschliche Zusammenarbeit und Planung nicht mehr verlässlich funktioniert (82, 3–4). Ebenso deutlich wird die Unsicherheit in 83, 1–2, wenn keinerlei Vertrauen mehr herrscht und selbst Eide und Schwüre keine Sicherheit mehr bieten können. All dies gipfelt schließlich im Verlust der Stabilität, unter dem die beschriebenen Ausdrucksformen der στάσις zusammengefasst werden können. Auch hier zeigt sich, dass dort, wο κίνησις herrscht, keine Stabilität von Menschen hergestellt werden kann und dass somit alles außerhalb ihrer Kontrolle liegt.174 Dies zeigt sich besonders in der Beschreibung des gegenseitigen Misstrauens in 83, 2, in der Thukydides deutlich macht, dass Sicherheit und damit Kontrolle für Niemanden in dieser Situation gewährleistet werden konnte, sodass die Menschen nur noch darauf achteten, selbst keinen Schaden zu erleiden. Thukydides beschreibt in 82, 8 die Unfähigkeit der menschlichen Natur, sich gegen Emotionen wie Zorn und Hass sowie die eigentlich von Normen und Gesetzen gezügelten Eigenschaften wie Gewinn- und Ehrsucht in einer solchen Situation zur Wehr zu setzen. Auch der Bezug zum Krieg in 82, 2 beschreibt einen Umstand, in dem es zu einem solchen Sittenverfall kommt, da durch die Notwendigkeiten die Annehmlichkeiten wegfallen und die Leidenschaften leichter erweckt werden können. Es hat somit den Anschein, als ob die κίνησις der στάσις keinen Ursprung braucht, keinen Entstehungsort hat, sondern sie benötigt lediglich verschiedene Voraussetzungen, um auftreten zu können: Diese Voraussetzungen bietet ihr der Krieg, wie 82, 2 im Vergleich zum Frieden deutlich macht, und die Anfälligkeit der menschlichen Natur gegenüber den Leidenschaften, die dann schließlich zu solchen Taten führen. Auch in dieser Hinsicht erinnert Thukydides’ Bild der κίνησις an die Vorsokratiker, vor allem an die Bewegung bei den Ioniern und die primäre Bewegung bei Demokrit, die keinen Ursprung hat.175 Diese κίνησις wird daher in der »Pathologie« als potentiell omnipräsent dargestellt. Ihr sichtbares Auftreten jedoch richtet sich nach dem Vorhandensein verschiedener Faktoren, die schließlich ihre Sichtbarkeit und ihre Erkennbarkeit im menschlichen Bereich begründen, wie es Thukydides zumindest an dieser Stelle impliziert.176 Dabei wird neben der Unvorhersehbarkeit und der fehlenden Kontrolle auch die Unmöglichkeit, sich ihrer zu entziehen, sichtbar: Selbst die neutralen Bürger werden ja von beiden Parteien hingemeuchelt (82, 8), obwohl sie selbst kein Teil der στάσις im Sinne des »Bürgerkriegs« sind. 174 Vgl. Orwin, Humantiy, S. 179. 175 Vgl. oben Kap. 3.4.4. 176 Vgl. Palmer, Stasis, S. 424.

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Es zeigt sich also in der Darstellung der στάσις und der Bezeichnung als »Bewegung des gesamten Griechentums« eine große Nähe zwischen Thukydides und den Vorsokratikern bezüglich der Konnotation der κίνησις. Die στάσις auf Kerkyra selbst wiederum kann als Exempel für die in I, 23, 2 angeführten Parteikämpfe angesehen werden, worüber sie dann mit der μεγίστη κίνησις verbunden wird. Auch die Hervorhebung der Verwicklung beider Hauptmächte in die jeweiligen Parteikämpfe in 82, 1 zeigt, dass die Schilderung der στάσις an dieser Stelle auch auf die μεγίστη κίνησις bezogen werden kann,177 die in I, 1–2 ebenfalls Athen und Sparta zugleich betrifft. Da I, 23 als Illustration der Ausdrucksweisen der κίνησις im Laufe des Krieges interpretiert werden kann, indem über diese direkt zu greifenden historischen Prozesse ihre Größe nachgewiesen werden soll,178 so kann auch die στάσις auf Kerkyra nicht nur als ein Ausdruck der μεγίστη κίνησις, als ihre Illustration am spezifischen Exempel, interpretiert werden, sondern auch gleichzeitig als fassbarer Nachweis ihrer unvergleichlichen Größe. Dementsprechend lassen sich auch die Verweise auf die Erstmaligkeit der Ereignisse in III, 82, 1, 84, 1 und 85, 1 als eine Verdeutlichung der Besonderheit des von Thukydides dargestellten Geschehens interpretieren. Thukydides zeigt in der »Pathologie des Krieges« nicht nur, wie sich die κίνησις auf die Menschen auswirkt, indem er die Folgen des Bürgerkrieges als Folgen des Konflikts zwischen Athen und Sparta darstellt, sondern auch, warum es sich hier um die größten Auswirkungen handelt: Etwas Vergleichbares hat es zuvor noch nicht gegeben. Damit scheint er u. a. anhand der Pathologie die Bezeichnung der von ihm dargestellten Ereignisse als μεγίστη κίνησις legitimieren zu können. Dass er dabei den Begriff selbst, mit den oben ausgeführten Implikationen, bemüht, stärkt die These, dass Thukydides sein Postulat der μεγίστη κίνησις immer wieder anhand von Einzelepisoden im Werk veranschaulicht. So lassen sich vom Leser Verknüpfungen zwischen den einzelnen Stellen ziehen, hinter denen sich ein kohärentes Darstellungskonzept vermuten lässt.

4.3.3 Die Debatte in Syrakus Die Debatte in Syrakus im Jahr 415 bietet für die vorliegende Untersuchung erneut eine Textpassage, die auf mehreren Ebenen mit den zu betrachtenden Aspekten verknüpft ist. Thukydides lässt, nachdem er über den athenischen Entschluss zum Angriff auf Sizilien und die Rüstung und Ausfahrt der Flotte berichtet hat (VI, 8–30), zwei Redner während einer Debatte in Syrakus auftreten. Dort sind inzwischen Gerüchte über das Herannahen der Athener in Umlauf, denen 177 Vgl. Classen / Steup III, S. 163. 178 Vgl. dazu die Ausführungen oben, S. 184–191.

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jedoch kaum jemand Glauben schenkt (32, 3). Der Redner Hermokrates will dabei die Syrakusaner überzeugen, sich für einen Angriff Athens zu wappnen, sein Kontrahent Athenagoras dagegen sieht in den Gerüchten nur den Versuch, Unruhe in der Stadt zu stiften. Auf der Ebene der Untersuchung des Kinesis-Begriffes ist hier vor allem interessant, dass zwei Redner, die jeweils einen konträren Standpunkt vertreten, den Kinesis-Begriff in ihrer Argumentation verwenden, was es möglich macht, anhand der Untersuchung seiner jeweiligen Charakteristik und ihres Vergleichs die These einer allgemeinen Konnotation des Begriffes unabhängig von der Verschiedenheit des inhaltlichen Kontexts zu prüfen.179 Dadurch kann die These einer übergeordneten Vorstellung von κίνησις im Sprachgebrauch der Zeit weiter fundiert werden, da beide Redner bei diametral entgegengesetzten Zielen mit denselben Assoziationen des Kinesis-Begriffs spielen. Des Weiteren lässt sich die Stelle auch für die Untersuchung der Verarbeitung einer solchen Charakteristik im Werk durch die Darstellung heranziehen, denn Syrakus wird in seinem Charakter mit Athen verglichen und wird diesem im Laufe des Werkes in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich.180 Die Sizilien-Expedition im Ganzen wird darüber hinaus von Thukydides ebenfalls als Ausdruck des athenischen »kinetischen« Charakters konstruiert181 und kann damit auch als Teil der be179 Eine ausführlichere Darstellung der Debatte, ihres Konstruktionscharakters und ihrer kontextuellen Einordnung bei E. F. Bloedow, The Speeches of Hermocrates and Athenagoras at Syracuse in 415 B. C.: Difficulties in Syracuse and in Thucydides (Historia 45, 2 (1996)), S. 141–158. Dagegen mit neuerer Literatur J. A. Andrews, Athenagoras, Stasis, and Factional Rhetoric (Thucydides 6.36–40) (Cph 104 (2009)), S. 1–12. Allgemein jetzt zur Funktion der Debatte und einer philologischen Analyse Scardino, Reden, S. 538–555. 180 Vgl. Connor, Thucydides, S. 171–176, vor allem differenzierend S. 172, Anm. 36; Hornblower III, S. 21–22 und S. 395–397 mit ausführlicherer Bibliographie; F.  Mattaliano, Atene e Siracusa. Poleis homoiotropoi, Palermo 2012, S. 13–30; Ober, Classical Greece, S. 219–220. Zur Sizilien-Expedition im Allgemeinen Connor, Thucydides, S. 158–209; L. Kallet, Money and the Corrosion of Power in Thucydides. The Sicilian Expedition and Its Aftermath, Berkeley / Los Angeles / London 2001, S. 21–226; J. F.  Lazenby, The Peloponnesian War. A Military Study, London 2004, Kap. 8–9; Hornblower III, S. 5–12; E. Greenwood, Thucydides on the Sicilian Expedition. In: Balot / Forsdyke / Foster (edd.), Thucydides, S. 161–177. Zur den Parallelen mit der Debatte in Athen über die SizilienExpedition vgl. Gomme IV, S. 297. 181 Erkennbar ist dies z. B. in der Schilderung der Flottenausfahrt in VI, 31, 6, die Thuky­ dides vor allem wegen der Verbindung von weiter Fahrt mit den »größten Hoffnungen auf das Zukünftige im Vergleich mit dem Gegebenen« als beeindruckend bezeichnet, was an die Charakteristik der Athener in I, 70, 4 (sie streben in die Ferne) und 7 (gleichbedeutend sind für sie Besitz und Hoffnung auf das, was sie anpacken) erinnert. Einen Hinweis auf die Verbindung auch bei Gomme I, S. 230; Connor, Thucydides, S. 176, Anm. 46 weist daraufhin, dass die Expedition selbst Sinnbild für die Stadt wird, die Stadt selbst dagegen in dieser Zeit in der Darstellung an Bedeutung verliert; Vgl. Strauss, City, S. 195–196, 219 und 231. Ähnlich auch Raaflaub, Thucydides on Democracy and Oligarchy, S. 206–208, v. a. 208 als Resümee zur Sizilien-Debatte in Athen: »The Athenian collective character,

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reits herausgearbeiteten Tendenz der Darstellung betrachtet werden, denn die Athener intensivieren hier erneut die μεγίστη κίνησις, indem sie zu den bereits bestehenden Kämpfen einen völlig neuen Kriegsschauplatz eröffnen und damit sozusagen einen zweiten Krieg anfangen (VI, 1, 1). Thukydides betont darüber hinaus die Besonderheit der Sizilien-Expedition in VII, 87, 5: »Dieses Unternehmen war sicherlich in diesem Krieg von allen das größte, meiner Meinung nach sogar von allen, die wir aus der hellenischen Geschichte kennen […].« Aus dieser Betonung lässt sich eine Verknüpfung zur Besonderheit der von Thukydides geschilderten κίνησις herstellen, die einmal mehr durch eben solche Ereignisse wie die Sizilien-Expedition ihre unvergleichliche Größe erhalten könnte. Aus dieser Perspektive werden die Athener durch ihren Entschluss, Syrakus anzugreifen, direkt mitverantwortlich für die letztendliche Größe der κίνησις gemacht, sodass hier erneut von einer Intensivierung durch die Athener gesprochen werden kann – einmal mehr treiben die Athener durch ihren Versuch, Kontrolle über die κίνησις zu gewinnen, diese nur noch mehr an und scheitern daran letztendlich.182 Aufgrund dieser Vielschichtigkeit nimmt die Untersuchung der Reden des Hermokrates und des Athenagoras bezüglich der Gerüchte zur Fahrt der athenischen Flotte in Richtung Sizilien einen wichtigen Platz in der Gesamt­ argumentation der Untersuchung ein. Die Rede des Hermokrates Hermokrates hält seine Rede in einem Klima der Unsicherheit in Syrakus. Er bekräftigt, dass die Gerüchte über das Herannahen der Athener zuträfen und beschreibt ihre Flottenstärke (33, 1–2). Da der Leser bereits vorher von Thuky­ dides über die Absichten und Handlungen der Athener informiert wurde, ergibt sich der Eindruck, dass Hermokrates über alles bestens im Bilde ist.183 Seine Informationen haben sich dem Leser bereits in der Darstellung des Thukydides als korrekt erwiesen, was Hermokrates gerade vor dem Hintergrund, dass ein Großteil noch nicht einmal an das Kommen der Athener überhaupt glaubt, deutlich von seinen Mitbürgern abhebt.184 Aus diesem Wissen schließlich leitet Hermokrates die Notwendigkeit ab, über zu treffende Maßnahmen zu sprechen, um sich den Athenern widersetzen zu können (33, 3) und unterstreicht die Nützlichkeit dieser Ratschläge mit einer Darstellung der Erfolgschancen aus seiner sketched by the enemy (1.70), asserts itself ever more detrimentally the longer the war lasts and the larger it gets«. Zum Verlauf der Sizilischen Expedition und ihrer Verknüpfung zu einem möglichen Konzept von κίνησις vgl. Meier, Erschütterung, S. 338–342. 182 Vgl. oben S. 239–241. 183 Vgl. Hunter, Thucydides, S. 155; Ferrario, Athens, S. 192. 184 Vgl. Scardino, Reden, S. 545 zum Kontrast mit Nikias’ Reden in der Sizilien-Debatte in Athen; Hornblower III, S. 400.

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Sicht. Hermokrates geht nämlich davon aus, dass gerade der gewaltige Umfang der Flotte die Sizilier vereinen werde und dass es möglich sei das Expeditionsheer der Athener zurückzuschlagen, da nur wenige Expeditionen fernab der Heimat je Erfolg hatten (4–6).185 In Kapitel 34 beginnt Hermokrates dann mit der Aufzählung der eigentlichen Maßnahmen, die seiner Meinung nach zu treffen sind – die Rüstungen in Syrakus sollen vorangetrieben und überall Bündnisse in Sizilien geschlossen werden, ebenso solle eine Gesandtschaft nach Karthago geschickt werden, da auch diese, nach einem Sieg der Athener, in Gefahr gerieten, die Nächsten auf der Agenda Athens zu sein.186 Außerdem solle man nach Sparta und Korinth schicken, damit man Sizilien zur Hilfe komme und den Krieg in Griechenland (»dort« (ἐκεῖ)) »bewege«: πέμπωμεν δὲ καὶ ἐς τὴν Λακεδαίμονα καὶ ἐς Κόρινθον δεόμενοι δεῦρο κατὰ τάχος βοηθεῖν καὶ τὸν ἐκεῖ πόλεμον κινεῖν (34, 1–3). Das Vorteilhafteste sei, nach Hermokrates, wenn sich die Sizilier vereinigten und den Athenern bereits bei Tarent entgegentreten würden,187 um den Athenern die Schwierigkeiten ihres Unternehmens vor Augen zu führen, zumal Nikias auch nur widerwillig diese Fahrt antrete.188 Diese Unternehmung aber werde wohl durch das »typische ruhige Wesen« der Sizilier (διὰ τὸ ξύνηθες ἥσυχον) stark verzögert und erschwert (4–6). Dabei liege der Vorteil bei denjenigen, die den Angriff vorwegnähmen oder zumindest ihre Verteidigungsbereitschaft zeigten; alles sei besser, als nichts zu tun. Somit sollten, wenn schon nicht eine Ausfahrt vorbereitet werde, wenigstens die übrigen Kriegsvorbereitungen getroffen werden, denn Rüstungen aufgrund von Furcht vor den Angreifern werden für alle am nützlichsten sein; die Feinde seien, wie Hermokrates am Ende betont, »fast schon hier« (9). Die Rede des Athenagoras Nach einem kurzen Kommentar bezüglich der Uneinigkeit in Syrakus in Kapitel 35, in dem Thukydides die verschiedenen Meinungen im Volk wiedergibt, lässt er Athenagoras auftreten, denn er als »Volksanführer« (δήμου τε 185 Zur Verbindung dieses Arguments mit anderen Stellen im Werk vgl. Hornblower III, S. 401–402. 186 Auch hier zeigt sich wieder Hermokrates’ beeindruckende Einsicht in die Pläne und Hoffnungen der Athener, wie dann später durch Alkibiades in Sparta (VI, 90, 2) deutlich gemacht wird, vgl. auch Hunter, Thucydides, S. 155. 187 Zu den verschiedenen Interpretationen dieser Taktik in der modernen Forschung vgl. Hornblower III, S. 398–399. 188 Zu Hermokrates’ Informationen vgl. K. J. Dover (ed.), Thucydides Book VI, Oxford 1965, S. 47; E. F.  Bloedow, Hermocrates’ Strategy Against the Athenians in 415 BC (AHB 7 (1993)), S. 123; zur Schwierigkeit von Dovers Erklärung Hornblower III, S. 404; allgemein Ferrario, Athens, S. 192–193.

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προστάτης) und den zu dieser Zeit die Masse am meisten überzeugenden Redner (ἐν τῷ παρόντι πιθανώτατος τοῖς πολλοῖς) einführt. Athenagoras beginnt mit einem Angriff auf Hermokrates und bezweifelt, dass die Gerüchte zutreffen. Es sei wohl leicht, diejenigen zu entlarven, die dergleichen behaupteten und dem Volk Angst machen wollten, um ihre eigenen Angelegenheiten zu schützen. Zu diesem Zwecke seien diese Gerüchte von Männern in die Welt gesetzt, die immer dergleichen »bewegten«: αἰεὶ τάδε κινοῦσι ξύγκεινται (36, 1–2). Es sei aber nützlicher, die Wahrscheinlichkeit nicht allein nach diesen Gerüchten zu beurteilen, sondern nach der Frage, ob den Athenern, als kluge und einsichtige Menschen bekannt, eine solche Unternehmung angesichts des Krieges mit den Peloponnesiern zuzutrauen ist:189 Viel wahrscheinlicher sei doch, dass sie noch glücklich sind, dass die Sizilier nicht auch gegen sie kämpfen (3–4). Nachdem Athenagoras das Zutreffen der Gerüchte durch den Hinweis auf diese Überlegung angezweifelt hat, verändert sich seine Argumentation – selbst wenn sie kommen sollten, so sei Sizilien doch stärker als der Peloponnes und die Sizilier den Athenern überlegen, denn diese hätten keine Pferde, seien in Unterzahl und zu schlecht ausgerüstet. Die Reiterei, der fehlende Nachschub und Syrakus’ Macht machten eine erfolgreiche Kampagne so unwahrscheinlich, dass die Athener nicht einmal an Land Fuß fassen könnten (37, 1–2). Schließlich wendet sich Athenagoras wieder denen zu, die solche Gerüchte verbreiteten und stellt sie als Gefahr für die Demokratie in Syrakus dar: Sie wollten durch Einschüchterung die Herrschaft übernehmen, weshalb das Volk schnell und zuerst reagieren müsse, denn nur durch fehlende Vorsorge sei die Stadt so oft in Unruhe und innere Kämpfe verwickelt: τοιγάρτοι δι’ αὐτὰ ἡ πόλις ἡμῶν ὀλιγάκις μὲν ἡσυχάζει, στάσεις δὲ πολλὰς καὶ ἀγῶνας οὐ πρὸς τοὺς πολεμίους πλέονας ἢ πρὸς αὑτὴν ἀναιρεῖται (38, 1–3). Daher sei Athenagoras selbst gewillt, nichts davon zu seinen Lebzeiten geschehen zu lassen, das Volk zum rechtzeitigen Handeln zu bringen und die Aufrührer zu bestrafen (4–5). Athenagoras wendet sich dann zu einer Verteidigung der Demokratie,190 denn in dieser hätten alle gleiche Rechte und Pflichten und jede Gruppe (die Reichen, Klugen, die Menge) steuere ihre Kompetenzen zur besten Verwaltung bei, während in der Oligarchie die Menge Anteil an allen Gefahren, aber keinen Nutzen von den Vorteilen habe (39, 1–2). Schließlich formuliert er einen Aufruf an seine politischen Gegner: Sie sollten bereuen und sich dem Besten für die Stadt verschreiben, da dies auch ihnen von Vorteil sein werde. Ihre wahren Absichten seien durchschaut, das Verbreiten 189 Zum Echo des Nikias aus VI, 10 vgl. Hornblower III, S. 410. 190 Vgl. für Verbindungen zu anderen Stellen im Werk und zur literarischen Funktion dieses Exkurses Hornblower III, S. 405–406.

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weiterer Gerüchte sei auch für sie gefährlich. Syrakus werde, sollten die Athener wirklich kommen, diese abwehren, andernfalls werde die Menge nicht in Panik verfallen und diejenigen, die die Gerüchte streuen, nicht zu Anführern wählen (40, 1–2). Die Debatte wird schließlich von einem anonymen Feldherrn beendet, der die gegenseitigen Anschuldigungen als nicht nützlich ansieht und die von Hermokrates angesprochenen Rüstungen und Gesandtschaften bevorzugt, da dies auch dann kein Schaden sei, wenn die Athener nicht kämen – einiges davon sei ohnehin bereits veranlasst. Die Konnotation der κίνησις Obwohl beide Redner den Begriff in unterschiedlichen Kontexten verwenden, können die zugrundeliegenden Gemeinsamkeiten der charakterisierenden Aspekte gut erkannt werden: Hermokrates will Korinth und Sparta bitten, den Krieg in Griechenland zu »bewegen«, um die Athener dort zu binden. Das Verb κινεῖν besitzt hier die gleiche Konnotation wie in der Schilderung des Plans des Angriffs auf Boiotien in IV, 76, 4. Das »Anfachen«191 des Krieges soll die Athener beschäftigen, wobei κινεῖν jegliche Art der Beschäftigung für die Athener meint, die hier erneut durch das Aufmachen mehrerer Fronten an der geplanten Umsetzung der Sizilien-Expedition gehindert werden sollen. Die Wahl von κινεῖν ist jedoch nicht allein auf den Aspekt des Beginnens zu beziehen, sondern auch auf die Konsequenzen für die Athener: Durch die Intensivierung des Krieges, ausgedrückt im κινεῖν, sollen die Athener derart gefordert werden, dass sie sich von Sizilien abzuwenden. Damit steht der Kinesis-Begriff erneut in der Nähe des Verlustes von Kontrolle über die Situation, wie es auch schon bei I, 105, 4 und III, 16, 1 impliziert wurde, wo ein zweiter Angriff auf Athen das »Bewegen« des Heeres, bzw. der Flotte, bewirken sollte. Er steht außerdem durch den Aspekt des Zwangs, der sich auf die Athener bezieht, in der Nähe der Charakteristik des erfassenden Prozesses, als welcher die κίνησις auch in der Vorsokratik dargestellt wurde: die Athener sollen vom Krieg erfasst werden und dadurch ihr Interesse an Sizilien verlieren, sowie die Möglichkeit, eine Expedition dorthin auszurüsten. Es ist bezeichnend, dass Hermokrates die Art und Weise des κινεῖν nicht näher bestimmt. Durch das κινεῖν des Krieges soll durch die Beschäftigung der Athener eine Schwächung ihrer Kampfkraft bzw. eine grundsätzliche Über­ forderung mit der Situation erreicht werden. Das Wort κινεῖν bleibt dabei in seinen konkreten Ausformungen unbestimmt, was als ein Hinweis gedeutet werden kann, dass es Thukydides hier gerade um die Anspielung auf die bereits 191 Zu diesem Aspekt vgl. Chadwick, Lexicographica, S. 187.

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bekannten Aspekte von κίνησις für den Betroffenen geht, der sich in einer für ihn gefährlichen Situation wiederfindet, da er keine ausreichende Kontrolle über das Geschehen hat. Gerade dieser Aspekt soll ja in der Argumentation des Hermokrates dazu führen, dass sich die Athener nicht mehr auf Sizilien konzentrieren können und vielleicht gezwungen sind, das Heer zurückzurufen, um eben die Kontrolle in Griechenland wieder zurückzuerlangen. Die Unbestimmtheit des πόλεμον κινεῖν macht außerdem die Perspektive des Hermokrates deutlich: es ist nicht bedeutend, was genau in Griechenland passiert, sondern nur, dass der Krieg sich als eine Form der κίνησις und gleichzeitig mittels ihrer entwickelt, um so für die Athener eine Situation zu schaffen, die sie bei gleichzeitigem Aufrechterhalten des Kampfes in Sizilien überfordern würde, sodass sie leichter abgewehrt werden können, da sie an anderen Stellen gebunden sind. Es scheint hier auch der Aspekt der Unvorhersehbarkeit durchzuscheinen, der die Beteiligten allgemein, die Athener im Speziellen treffen kann: Hermokrates macht keine Vorhersagen zur Entwicklung dieser Maßnahme und ihres Ausgangs, denn allein die Ablenkung für die Athener steht im Mittelpunkt seiner Argumentation. Des Weiteren geht er davon aus, dass die Athener mit einer solchen Maßnahme nicht rechneten, denn seiner Aussage nach habe ja gerade die Zurückhaltung der Sizilier, die er in 34, 4 mit Ruhe (ἥσυχον) assoziiert, die Athener zur Expedition ermuntert (34, 8). Dadurch bekommt die Maßnahme, zu den Lakedaimoniern zu schicken, einen Aspekt der Überraschung für die Athener. Dieses Moment der Überraschung aufgrund der Erwartungen und Einschätzungen der Athener bezüglich der Syrakusaner schwingt daher ebenso im κινεῖν mit: Die Pläne der Athener werden dann aufgrund ihrer falschen Erwartungen durchkreuzt. Durch die Korinther und Spartaner als Ansprechpartner, die aber gleichzeitig für den Krieg in Griechenland zuständig sein sollen, und die Kombination πόλεμον κινεῖν zeigt sich außerdem, dass hier alle als an diesem Prozess Beteiligte angesehen werden. Der Krieg wird hier wieder, diesmal explizit durch die Wortwahl, in enge Nähe zur κίνησις gerückt. Es lässt sich aber aus dem Kontext der Argumentation des Hermokrates ableiten, dass offenbar das Kriegführen allein noch keine κίνησις darstellt, sondern erst durch bestimmte Aspekte, hier durch das Ziel des Kriegführens bestimmt (die Athener von ihrem Plan, Sizilien zu erobern, abbringen), mit der κίνησις in Verbindung kommt. Es lässt sich vermuten, dass Hermokrates Wortwahl, den Krieg »zu bewegen«, sich auch aus diesem speziellen Ziel des Kontrollverlustes der Athener ableiten lässt. Für Hermokrates ist dies das Wichtigste, es geht ihm nicht um einen Sieg der Peloponnesier, sondern allein darum, dass die Athener an anderer Stelle so sehr gefordert sind, dass sie von der Sizilien-Expedition ablassen. Die Wahl des Ausdrucks lässt sich daher nicht allein auf den Aspekt des »Anfachens« zurückführen, da der Krieg ja schon vorhanden ist und bereits eine große Herausforderung darstellt, wie Nikias (VI, 10, 1) und Athenagoras (VI, 36, 4) betonen, sondern vor allem auf die

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Konsequenzen für die Betroffenen, hier besonders die Athener, für die das κινεῖν letztendlich zu einer »Überforderung« führen soll, wovor ebenfalls Nikias in VI, 10, 1 warnt. Somit lässt sich κινεῖν nicht mit »beginnen« übersetzen, ist der Krieg doch schon vorhanden. Er soll aber so geführt werden, dass die entsprechenden Folgen für die Athener entstehen – die für diese die Gefahr des Kon­ trollverlustes mit sich bringen. Der Begriff lässt sich hier über diese Verbindung mit dem Aspekt von fehlender Kontrolle über die Situation, die von Hermokrates angestrebt wird, verbinden. Außerdem spielt der Aspekt des Zwingenden hinein, der durch den Krieg in Griechenland für die Athener entstehen soll, d. h., dass sie gezwungen sind, in einer gewissen Weise zu reagieren. Schließlich besitzt das κινεῖν den Aspekt der Unvorhersehbarkeit der Kampfhandlungen und der konkreten Form des Krieges aus Sicht des Hermokrates, der ja die Betonung auch nicht auf einen generellen Sieg über Athen legt, sondern nur auf ihre Abkehr von der Expedition oder ihre mögliche Niederlage gegen Syrakus: Es ist also gleich, was in Griechenland geschieht, wichtig ist nur, dass etwas geschieht, was die oben genannten Konsequenzen für Athen hat. Da Hermokrates die weitere Entwicklung dieses »Anfachens« des Krieges offenlässt und dadurch die gesamte Phrase auch mit dem Aspekt der Unvorhersehbarkeit verbunden wird, lässt sich eine Verknüpfung zum ὅπλα κινεῖν des Archidamos aus Buch I herstellen. Auch in diesem Kontext ließ sich die Wortverwendung auf den Aspekt der Unvorhersehbarkeit, der vom Sprecher mit dem Krieg und dem Kampf allgemein verbunden zu werden scheint, zurückführen.192 Hermokrates scheint hier auf denselben Aspekt durch die Begriffswahl hinzuweisen, sieht aber in diesem κινεῖν genau dadurch einen Vorteil, dass es eben in Griechenland passiert, wodurch Athen dort gebunden und Syrakus nicht direkt involviert wäre. Durch diesen Bezug lässt sich die Charakteristik auch an dieser Stelle mit bereits bekannten Aspekten des Kinesis-Begriffes verbinden, v. a. der fehlenden menschlichen Kontrolle, die den Prozess der κίνησις als übermenschlich kennzeichnen kann und ihn somit wieder in die Nähe der vorsokratischen Vorstellung rückt. Die Verwendung des Kinesis-Begriffs durch Athenagoras ist im Kontext der στάσις zu verstehen,193 deren Gefahr er zentral in seiner Rede entwickelt. Der Begriff κινοῦσι transportiert daher eine ähnliche Charakteristik wie ἐκινήθη in III,  82, 1. Diese Verbindung wird durch die explizite Nennung der στάσις und ihrer Kontrastierung zur Ruhe durch ἡσυχάζει in 38, 3 gestützt. Ebenso spricht für eine solche Verknüpfung die Argumentation des Athenagoras, der die Gerüchte mit einem Umsturzversuch in Verbindung bringt. Athenagoras verwendet τάδε κινοῦσι daher vor allem in Bezug auf die politische Ordnung, die durch die Gerüchte in Gefahr gebracht wird, womit die Aspekte fehlender 192 Vgl. oben S. 200–206. 193 Vgl. Andrews, Athenagoras, S. 11; Hornblower III, S. 406.

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Ordnung und Stabilität194 im Kinesis-Begriff ausgedrückt werden können. Auffällig ist auch die Verbindung zur Angst (περιφόβους ὑμᾶς und τῷ κοινῷ φόβῳ), die durch das »Bewegen« der Gerüchte entfacht werden soll: Hier zeigt sich der Aspekt des Erfasst-Werdens des Volkes, wie es auch in III, 82, 1 mit Bezug auf das gesamte Griechentum im ἐκινήθη ausgedrückt wurde. Es findet sich ebenfalls die Verbindung des Kinesis-Begriffs mit Emotionen, wie bereits in III, 75, 2, wo die Wut der Oligarchen von Kerkyra als κίνησις bezeichnet wurde. Dort sollte die Angst vor Athen die κίνησις einschränken,195 hier jedoch wird vor der Angst als Folge von κίνησις gewarnt. In beiden Fällen handelt es sich aber gleichsam um Emotionen, über die der Mensch nur schwer Kontrolle ausüben kann. Neben dem Aspekt dieses Erfasst-Werdens, der die κίνησις hier für das Volk als Einfluss von außen, angetrieben durch Akteure wie Hermokrates, darstellt, ist auch eine mögliche Nähe zur Bezeichnung von Seelenbewegungen bei Demokrit festzustellen, die sich ebenfalls auf Emotionen beziehen.196 Dass die Gerüchte auch das Potential haben, die politische Ordnung zu gefährden und so chaotische Zustände im politischen System der Stadt zu bewirken, wird bereits durch den Kommentar in Kapitel 35 angedeutet, in dem die verschiedenen Meinungen zu einem »gewaltigen Streit« unter den Bürgern von Syrakus führen: ἐν πολλῇ πρὸς ἀλλήλους ἔριδι ἦσαν. Über diese Aspekte des Prozesses hinaus, der das Volk erfasst und dadurch die politische Ordnung und Stabilität in Gefahr bringt und damit auch aus Sicht des Athenagoras einen Verlust an Kontrolle mit sich bringt (deren Sicherung er ja in 38, 4 für sich beansprucht), ist κινοῦσι hier außerdem durch das Element des Ungewissen gekennzeichnet, denn auch Athenagoras räumt durch seine Argumentation in 37, 1–2, implizit ein, dass zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Gerüchte wahr sein könnten. Die »Bewegung« bezieht sich daher nicht nur auf das Aufbrechen der Ordnung und die daraus folgende Instabilität, sondern auch auf den Faktor der Ungewissheit und der fehlenden Planbarkeit, da es keine sicheren Erkenntnisse gibt, auf die alle Entscheidungsträger zugreifen könnten, sodass die Entscheidung selbst auf Meinung, Glauben und Vertrauen, nicht auf nachprüfbaren Fakten für die Versammlung basieren muss. Durch die Wahl des Kinesis-Begriffs könnte Athenagoras auf eine solche Unsicherheit anspielen, die dem Gerücht per se inhärent ist, und weist damit auf die Schwierigkeit hin, im demokratischen Entscheidungsprozess das wirklich Beste für die Stadt auf einer solchen Grundlage festzulegen, denn gerade die Beurteilung durch die Menge ist ja zentrales Bestandteil seiner Darstellung der Demokratie in 39, 1. Die Aspekte 194 Vgl. A.  Tsakmakis, Leaders, Crowd, and the Power of the Image. In: Rengakos / Ders. (edd.), Thucydides, S. 172–173. 195 Vgl. oben S. 246. 196 Vgl. oben Kap. 3.4.4.

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der κίνησις in ihrer Ausdrucksform als στἀσις197 werden daher hier noch einmal um diesen Aspekt fehlender Planbarkeit und Unsicherheit erweitert. Der unterschiedliche Kontext der beiden Kinesis-Begriffe äußert sich vor allem im Ort, an dem die Bewegung stattfinden soll: Außerhalb von Syrakus (»dort«, in Griechenland) oder innerhalb der Stadt. Die Aspekte des beschriebenen Geschehens dagegen sind miteinander vergleichbar: Der Kontrollverlust der Athener durch die gleichzeitige Beschäftigung in zwei Kriegen, vorgeschlagen von Hermokrates, entspricht dem Fehlen von Kontrolle aufgrund innerer politischer Instabilität und fehlender Ordnung, die Athenagoras mit dem KinesisBegriff bezeichnet. Die Ungewissheit über den Wahrheitsgehalt der Gerüchte spiegelt sich in der Überraschung wieder, die in der Gesandtschaft der Syrakusaner an die Korinther und Spartaner zur Intensivierung des Krieges für die Planungen der Athener liegt und ihren Erwartungen zuwiderläuft. Schließlich findet sich in beiden Verwendungen ein Element der Unbestimmtheit, welches sich dadurch auszeichnet, dass verschiedene Handlungen aufgrund ihres Charakters und ihrer Konsequenzen für die Betroffenen mit dem Kinesis-Begriff in Verbindung gebracht werden, ohne diese Handlungen jedoch konkret zu benennen. Es zeigt sich hier, dass die Verwendung von κινεῖν durch Hermokrates und Athenagoras auch auf erhoffte oder befürchtete Auswirkungen bezogen werden kann, die für die Betroffenen die oben genannte Charakteristik aufweisen. Diese Charakteristik wiederum ist bis zu diesem Punkt immer wieder im Werk anzutreffen und zeigt deutliche Verbindungen zu anderen Kontexten, in denen der Kinesis-Begriff verwendet wurde, wie der Vergleich zu IV, 76, 4 und III, 82, 1 gezeigt hat. Vor allem herauszustellen ist eine kontextuelle Gemeinsamkeit beider Verwendungen: Hermokrates und Athenagoras konnotieren die κίνησις beide für die jeweils Betroffenen negativ, für die Ausführenden jedoch positiv. Daraus erklärt sich auch die gemeinsame Ablehnung der κίνησις bezogen auf Syrakus: Hermokrates will ja gerade den Krieg in Griechenland bewegen lassen, Athenagoras die Bewegung in Syrakus verhindern.198 Der Kinesis-Begriff ist also hier nicht generell negativ oder positiv geprägt, sondern vor allem relativ einzuschätzen, je nachdem, wie sehr man direkt betroffen ist: So würde ja auch die κίνησις der »Männer«, die Athenagoras beschuldigt, den politischen Umsturz zu verfolgen, sich für diese als nützlich erweisen und ihnen zur Macht verhelfen, genauso, 197 Vgl. oben Kap. 4.3.2. 198 Die gleiche Tendenz zeigt Hermokrates in Gela, IV, 62, 1: Er argumentiert dort, dass der Friede in Sizilien und die daraus resultierende Ruhe für alle Beteiligten von Vorteil sei. Die hier angestellte Beobachtung bezüglich der Lokalisation der κίνησις deckt sich daher auch innerhalb dieses weiteren Bezugs: die κίνησις ist dann abzulehnen, wenn ihre negativen Auswirkungen einen selbst betreffen, zum eigenen Vorteil verwendet wird sie jedoch angestrebt.

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wie das Schicken einer Gesandtschaft zur »Bewegung« des Krieges den Syrakusanern zu einem Vorteil gegenüber Athen verhelfen soll. Entscheidend für die Bewertung von κίνησις scheint nicht ihr generelles Auftreten oder Fernbleiben zu sein, sondern der Umgang mit und die relative Stellung zu ihr. Auf Grundlage dieser Beobachtung kann vermutet werden, dass ein solches Denken auch für Thukydides’ Darstellungstendenz der Menschen im Rahmen der μεγίστη κίνησις eine Rolle gespielt haben mag, sodass positive oder negative Tendenzen eben auf solche Aspekte wie den Umgang mit der κίνησις und menschliches Verhalten in ihr zurückgeführt werden können. Die Betrachtung der Darstellung von Individuen wird diesen Punkt noch einmal eingehender thematisieren. In der Syrakus-Debatte zeigt sich eine weitere Gemeinsamkeit beider Verwendungen, die schon für den Kinesis-Begriff der Vorsokratik bezeichnend war: die Erfassung aller Dinge und die Auswirkung auf diese. So sind von der κίνησις in Griechenland ja auch die Syrakusaner betroffen, wenn ihnen daraus ein Vorteil entsteht, dass die Athener dort beschäftigt sind, wenn die Verbündeten den Krieg »bewegen« und somit Kräfte und Ressourcen der Athener in Griechenland binden. Dadurch hängt dieser Vorteil wiederum direkt von der Art und Weise der κίνησις in Griechenland und dem Umgang der Athener damit ab. Ebenso sind auch in der Darstellung des Athenagoras die Männer betroffen, die »derartige Dinge bewegen«, denn auch sie wären erst einmal direkt beeinflusst vom Verlust politischer Ordnung und Stabilität. Es ist also nur Hoffnung, die sie dazu bringt, in dieser κίνησις ihren Vorteil als einen Weg zur Macht zu sehen.199 Es ergibt sich daraus für die Darstellung von κίνησις und der Bewertung ihrer Auswirkungen auf die Menschen ein äußerst ambivalentes Bild: Zum einen werden die negativen Auswirkungen für einen Teil der Beteiligten (Athener, Volk von Syrakus) als sicher dargestellt, zum anderen zeichnet sich aber der daraus zu erwartende Vorteil gerade durch seine Unsicherheit aus und wird damit zu einer Hoffnung, deren Erfüllung ungewiss ist.200 Dies impliziert dann, dass sich unter 199 Ähnlich die Argumentation von T. Gärtner, Die Furcht der Oligarchen (Thuk 6,36,1 f.) (Eikasmos 11 (2000)), S. 123–124. 200 Vergleichbare Ambivalenz findet man in Plat. Rep. 566e: Hier wird davon ausgegangen, dass der Tyrann, nachdem seine Macht gefestigt ist, immer wieder neue Kriege »bewegt«, damit das Volk ihn als Feldherren benötigt (πρῶτον μὲν πολέμους τινὰς ἀεὶ κινεῖ, ἵν’ ἐν χρείᾳ ἡγεμόνος ὁ δῆμος ᾖ). Auch hier wird die Schaffung von κίνησις als der Versuch dargestellt, sich einen Vorteil zu verschaffen, während gleichzeitig die potientielle Gefahr für denjenigen, der die κίνησις dazu verwenden will, aufgezeigt wird, wie der weitere Verlauf des Dialogs zeigt, denn der Tyrann schafft sich gerade durch diese Maßnahme Feinde, wird beim Volk verhasst und ist daher gezwungen, sich wiederum aller Feinde zu entledigen (567a-c). Diese Parallele lässt vermuten, dass πόλεμον κινεῖν nicht nur das »Anschieben« eines Krieges ausdrückt, sondern auch die Konnotation besitzt, dass man einen solchen zum eigenen Vorteil nutzen will, bei gleichzeitiger Gefahr, dass sich dies gegen den Initiator selbst wenden kann.

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gegebenen Umständen die eigentlich für andere geplanten negativen Auswirkungen auch gegen die Planenden selbst richten könnten – wie es am Delion für die Athener geschehen ist. Somit ist bezüglich einer κίνησις nur sicher, dass sie in jedem Fall Auswirkungen auf die Menschen hat. Ob diese aber für die Betreffenden positiv oder negativ sind, hängt von vielen Faktoren ab: Glück, der Qualität der eigenen Entscheidungen und dem Erkennen, dass es sich um eine κίνησις handelt, deren Kontrollierbarkeit mindestens beschränkt, wenn nicht gar unmöglich ist. Aus dieser Perspektive wird der Wunsch, die κίνησις vom eigenen Gemeinwesen fernzuhalten und die Hoffnung, diese beim Gegner intensivieren zu können, nachvollziehbar und kann das Verständnis der Argumentation beider Kontrahenten in der Debatte in Syrakus vertiefen. Gerade durch die enge Verknüpfung zum Krieg zwischen den Spartanern und Athenern lässt sich hier wieder von einer »Illustration« der μεγίστη κίνησις im Einzelnen sprechen. Aus den beiden Reden lassen sich die Gefahren, aber auch Möglichkeiten erkennen, die die jeweilige angesprochene κίνησις, die in beiden Fällen mit dem Krieg verknüpft ist, mit sich bringt. Während Hermokrates die Position vertritt, dass Syrakus selbst in Aktion treten müsste, um den Krieg in Griechenland zu bewegen, stellt Athenagoras heraus, dass eine solche Aufforderung, die ja auf Gerüchten beruht, ebenfalls eine κίνησις für das Gemeinwesen sei. Durch die Handlungen der Athener im Kontext des Krieges sind nun die Syrakusaner mit κίνησις konfrontiert und müssen sich für eine bestimmte Art und Weise der Reaktion darauf entscheiden. Daraus kann erneut abgeleitet werden, dass nicht der Krieg allein mit μεγίστη κίνησις gemeint ist, also die Kampfhandlungen, sondern eben auch die Konsequenzen, die Erwartungen und Herausforderungen, die für die griechische Welt in seinem Kontext entstehen. Die Debatte in Syrakus über die angemessene Reaktion auf die Gerüchte um die athenischen Pläne, in der zwei entgegengesetzte Standpunkte dennoch mit dem Kinesis-Begriff verbunden werden, lässt sich so auch als Illustration für die Größe und die weitreichenden Auswirkungen der μεγίστη κίνησις verstehen, durch die Thukydides zeigen kann, inwiefern für ihn der Krieg und seine Auswirkungen in jeder Hinsicht als κίνησις interpretiert werden konnten – als ein Prozess, der der Kontrolle des Menschen entzogen war und dessen Einfluss er sich, wie die Debatte im weit von Griechenland entfernten Syrakus zeigt, umgekehrt nicht entziehen konnte. Reden und Redner im Werkskontext Da der obige Vergleich deutlich gemacht hat, dass auch in der Syrakus-Debatte die Frage nach dem richtigen Umgang mit κίνησις zum eigenen Vorteil und dem jeweiligen Verhalten ihr gegenüber von zentraler Bedeutung ist, bietet sich zum Abschluss eine Betrachtung der beiden Reden im weiteren Werkkontext an, um

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eventuelle Parallelen oder Unterschiede vor allem bezüglich dieses Aspekts festzustellen. Diese Betrachtung muss auf zwei Ebenen vorgenommen werden, denn zum einen findet sich in beiden Reden eine Charakterisierung der Polis, die sich gerade für einen Vergleich mit der Charakterdarstellung Athens und Spartas durch die Korinther in I, 70 eignet,201 zum anderen können die Redner selbst samt ihrer Perspektive auf die Situation, die Thukydides in den Reden darstellt, mit anderen Protagonisten des Werkes in Verbindung gebracht werden. Die Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Charaktere der Polis Syrakus erinnert an die Synkrisis von Sparta und Athen durch die Korinther im ersten Buch. Hermokrates bezeichnet Syrakus als »träge« (ξύνηθες ἥσυχον 34, 4) und hebt den »dorischen« Charakter hervor,202 worauf er schließlich die Langsamkeit zurückführt, mit der die Syrakuser die Initiative ergreifen, und ihr Zögern, sich aktiv den Athenern bei Tarent entgegenzustellen (34, 4–6). Die Aufforderung dazu jedoch ist ähnlich der Argumentation der Korinther aus I, 71, 3: dass Sparta Athen nur gewachsen sei, wenn es sich von seiner zögernden und trägen Art löse. Auch Brasidas fordert bei Pylos die Spartaner auf, nicht mehr zu zögern und den Landgang zu erzwingen (IV, 11, 4).203 Hermokrates zeichnet nicht nur ein Bild von Syrakus als langsam und träge, wie es die Korinther von Sparta tun, er fordert sie auch auf, ebenfalls wie die Korinther, dieses Verhalten abzulegen und schnell und rasch zu agieren – eben ein wenig »athenischer« zu werden.204 Im Gegensatz zur Charakterzeichnung im ersten Buch wird hier aber vom Gegenredner genau das konträre Bild von Syrakus entwickelt: Sie sei eine Stadt, die nie in Ruhe sei und ständig in Kämpfe und innere Streitigkeiten verwickelt (38, 3), also eine Stadt in ständiger Bewegung, so Athenagoras.205 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist der rhetorisch-praktische Hintergrund dieser Argumentation unerheblich,206 denn von Bedeutung ist hier vor allem das erneute 201 Vgl. H. R. Rawlings III, The Structure of Thucydides’ History, Princeton 1981, S. 82–83. 202 Vgl. Connor, Thucydides, S. 171; Hornblower III, S. 403. 203 Zu Brasidas vgl. unten Kap. 4.4.4. 204 Vgl. Connor, Thucydides, S. 171; H. C.  Avery, Themes in Thucydides’ Account of the Sicilian Expedition (Hermes 109 (1973)), S. 6. Gerade die von Scardino, Reden, S. 542, Anm. 420 angebrachte Ebene des νόμος kann ich hier nicht sehen, sondern vor allem die Ebene der τρόποι des Nikias aus VI, 9, 3. Vgl. zu ξύνηθες Hornblower III, S. 402. 205 Vgl. Connor, Thucydides, S. 171. 206 Es wäre beispielsweise zu fragen, ob Hermokrates’ Ausführungen einen argumentativen »Trick« darstellen, mittels dessen er sein eigentliches Ziel, die Rüstung in Syrakus, erreichen will. Demnach hätte er die Ausfahrt, deren Ausgang ungewiss war, nicht wirklich vorgehabt. Vgl. dazu H. D.  Westlake, Essays on the Greek Historians and Greek History, Manchester 1969, S. 182; Dover, Thucydides VI, S. 299; dagegen Bloedow, Strategy, S. 115–124; zur Diskussion allgemein Scardino, Reden, S. 543, Anm. 422 und Horn­ blower III, S. 398–399 und H.-P.  Stahl, Thucydides: Man’s Place in History, Swansea 2009, S. ­194–199. Zur Einordnung der Rede in die Logos-Erga-Konzeption vgl. Hunter, Thucydides, S. 153–174.

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Auftreten des Ruhe-Bewegung-Themas, welches Thukydides von den Protagonisten entwickeln lässt. Diese Parallele zwischen erstem und sechsten Buch kann als ein Hinweis auf die Kontinuität des Themas durch das ganze Werk hindurch gewertet werden – unabhängig von Fragen der Abfassungsphasen207 – und damit die These einer werkumspannenden Konzeption bezüglich der Fragen von Bewegung und ihrem Pendant, der Ruhe, weiter stärken. Durch die Einbettung der Debatte in einen für den Kriegsverlauf entscheidenden Kontext, ähnlich bedeutend wie der Rahmen der Tagsatzung in Sparta und dem folgenden Kriegsbeschluss, wird außerdem die Zentralität der Ruhe-Bewegung-Thematik und der Diskussion über die Vor- und Nachteile des jeweiligen Charakters deutlich gemacht. Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass das Thema immer wieder aufgenommen wird und die Frage nach dem Umgang mit κίνησις, bzw. der angemessenen Reaktion auf diese, an verschiedenen Stellen eine bedeutende Rolle in der Darstellung einnimmt. Die These einer werkumfassenden Konzeption gewinnt daher immer mehr an Überzeugungskraft, wodurch der Hintergrund des Postulats der μεγίστη κίνησις am Anfang des Werkes plausibler rekonstruiert werden kann. Die Frage nach dem Umgang der Menschen mit der historischen Situation könnte von Thukydides gleichzeitig als eine Frage des menschlichen Verhaltens bezüglich ihn betreffender κίνησις dargestellt worden sein. Diesen Umgang könnte er dann an Exempla immer wieder im Werk gezeigt haben – u. a. dort, wo er den Begriff selbst bemüht. Da all diese Exempla erst im Kontext des Krieges wirklich sichtbar und dadurch von Thukydides darstellbar werden, ergibt sich hier eine mögliche Verknüpfung zwischen der μεγίστη κίνησις und dem Krieg als ihres Ausdrucks. Die Konfrontation der Menschen mit κίνησις im Kleinen zu illustrieren könnte dann wieder auf den Abfassungsentschluss des Werkes im Proömium zurückgeführt werden: anhand dieses Krieges lässt sich die μεγίστη κίνησις von Thukydides zeigen, indem er das Verhalten der Menschen im Krieg darstellt. Diese Interpretation lässt sich durch die Kohärenz der Vorstellungen, die mit dem Begriff im Werk verbunden sind, stützen, sowie durch das immer wiederkehrende Thema des Umgangs mit κίνησις. Es ist an dieser Stelle bezeichnend, dass zwar die Begriffe von Ruhe und Bewegung gleichermaßen in der Debatte eine Rolle spielen, bei tieferer Analyse aber nur Bewegung die eigentliche Problematik darstellt: Hermokrates will die »zu ruhigen« Syrakusaner angesichts der Bewegung der Athener208 zu mehr κίνησις antreiben, Athenagoras will angesichts der ständigen Bewegung Ruhe in das politische Leben der Stadt bringen: κίνησις, wohin man blickt. Die Funktionsweise dieser Auseinandersetzung im Werk kann auf der Ebene der Protagonisten selbst noch einmal genauer betrachtet werden. Wie bereits 207 Vgl. oben S. 16, Anm. 14. 208 Zur Sizilien-Expedition als κίνησις vgl. oben S. 240.

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festgestellt wurde, lässt Thukydides die beiden Redner den Kinesis-Begriff in konträrem Kontext verwenden, wobei diese Verwendung dann auch auf einer höheren Ebene mit ihrer jeweiligen Argumentation korreliert – der zur Bewegung antreibende Hermokrates will in Griechenland den Krieg »bewegen«, der zur Ruhe auffordernde Athenagoras stellt die Bewegung, die durch das Streuen der Gerüchte ausgelöst wird, als für die Polis gefährlich dar. Beide behaupten aber, insgesamt dadurch das Beste für die Polis zu wollen. Nun erinnert nicht nur Hermokrates’ »kinetische« Rhetorik an Brasidas (und darüber hinaus an Alkibiades in VI, 91, 4–92,1209), sondern auch seine Einstellung zur Verwendung von κίνησις zum eigenen Vorteil stellt ihn in die Nähe des spartanischen Feldherren, wie sich in der Untersuchung der Amphipolis-Episode zeigen wird.210 Dabei ist auffällig, dass Hermokrates’ Plan, die κίνησις gegen die Athener zu verwenden, nicht so funktioniert wie erwartet; wie in VI, 73, 2 berichtet wird, senden die Syrakusaner tatsächlich nach Korinth und Sparta. Hier werden die Ziele des πόλεμον κινεῖν aus 34, 3 konkretisiert: Die Athener sollen entweder von Sizilien abziehen oder keine weitere Verstärkung schicken können. Ersteres wird nach VII, 28, 3 nicht erreicht, bezüglich Zweiterem wird durch die Darstellung klar, dass Dekeleia erst nach dem Aussenden der Verstärkung nach Sizilien befestigt wird, sodass ungeklärt bleiben muss, ob die Athener Nikias auch dann Verstärkung geschickt hätten, wenn Dekeleia bereits befestigt gewesen wäre. Dennoch legen die Ausführungen in VII, 27–28 nahe, dass durch das stärkere Verfolgen des Krieges Athen zumindest größeren Herausforderungen gegenübersteht, so dass Hermokrates’ Plan bezüglich des Vorteils dieser κίνησις für Syrakus wenigstens in der Theorie als zutreffend dargestellt wird.211 Umgekehrt wird durch diese Komposition aber einmal mehr gezeigt, wie mächtig Athen angesichts dieser Bewegung wirklich ist, denn nach II, 65, 11–12 und VII, 28, 3 hat der Zweifrontenkrieg nicht die erwarteten negativen Auswirkungen auf Athens Kampfkraft.212 Zumindest jedoch in Bezug auf die athenische Finanzkraft er209 Vgl. Baltrusch, Sparta, S. 144–145. 210 Vgl. unten Kap. 4.4.4. 211 Vgl. C. Bearzot, Mantinea, Decelea, and the Interwar Years. In: Balot / Forsdyke / Foster (edd.), Thucydides, S. 158–159. Besonders zu betonen sind hier die konkreten Schwierigkeiten, die für Athen aus der Befestigung Dekeleias erwachsen. Das Auftreten dieser Schwierigkeiten unterscheidet diese Maßnahme von den Plänen der Peloponnesier in I, 105, 4 und III, 16, 1, die jeweils ebenso darauf ausgerichtet waren, die Athener durch einen Zweifrontenkrieg in Schwierigkeiten zu bringen, was diese aber immer durch ihre riesigen Ressourcen verhindern und somit langfristig weiterhin im Krieg »frei« agieren konnten. Erst durch Dekeleia wird Athen wirklich gezwungen, langfristige Gegenmaßnahmen zu treffen, die ihre eigenen Pläne beeinträchtigen. 212 Auch in VII, 18, 2 wird deutlich, dass der Kampf in Griechenland allein kein entscheidender Faktor für die endgültige Niederlage Athens ist, denn Athen kann sich entgegen der Erwartung der Spartaner noch weitere 10 Jahre behaupten.

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weist sich Hermokrates’ Planung mit der κίνησις durch die Auswirkungen der Besetzung Dekeleias als richtig.213 Es zeigt sich somit ein ambivalentes Bild im Umgang des Hermokrates mit κίνησις, welches aber den bisherigen Charakteristika entspricht. Zwar ist sich Hermokrates bewusst, dass die κίνησις zum eigenen Vorteil genutzt werden könnte,214 gleichzeitig wird aber durch den Fortgang der Schilderung deutlich, dass er sie nicht kontrollieren kann, denn seine Vorhersagen treffen nicht vollständig ein.215 Es lässt sich daraus wiederum ableiten, dass eine vollständige Kontrolle über die Formen und Auswirkungen der κίνησις für den Menschen unmöglich ist, dass aber andererseits durchaus ein Bewusstsein für die Potentiale, aber auch Gefahren, eines Prozesses, der hier durch Hermokrates mit κινεῖν beschrieben wird, von Vorteil sein kann. Athenagoras dagegen erinnert nicht nur in seiner Charakteristik als δήμου τε προστάτης ἦν καὶ ἐν τῷ παρόντι πιθανώτατος τοῖς πολλοῖς und in seiner Argumentation an Kleon, und damit an den Gegenspieler des Brasidas bei Amphipolis,216 sondern zeigt auch bemerkenswerte Parallelen zu Kleons Einstellung bezüglich der κίνησις in der Mytilene-Debatte:217 Er will die κίνησις von Syrakus fernhalten, wie auch Kleon auf die ἀκινήτοι νόμοι pocht, die eine Stadt mächtiger machten, und beide richten sich gegen die Intensivierung des kinetischen Elements im Wesen der jeweiligen Polis, während ihr Debattengegner genau das konträre Ziel verfolgt. Dass Athenagoras dabei völlig falsch liegt und die wahren Nachrichten über das Kommen der Athener als κίνησις umstürzlerischer, antidemokratischer Kräfte interpretiert, korreliert mit seiner Rolle als Gegenspieler des Hermokrates: Athenagoras’ Voraussicht wird als unzureichend dargestellt. Dies könnte auch als Indiz dafür interpretiert werden, dass seine Vorstellung, κίνησις könne vom eigenen Gemeinwesen ferngehalten werden, eine Illusion ist – denn dies setzt eine menschliche Kontrolle über den Prozess voraus. Athenagoras unterliegt hier einer falschen Einschätzung der κίνησις in Form der Ableitung unzutreffender Schlussfolgerungen über die »wahren« Absichten des Hermokrates und seiner Unterstützer, wodurch in der Folge auch seine Forderungen nicht das Beste für die Stadt, sondern genau das Gegenteil bewirken würden. Am deutlichsten kommt Athenagoras’ Unfähigkeit, die Natur der κίνησις zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren, aber in der Annahme zum Ausdruck, die Athener würden keinen zweiten, genauso großen Krieg wie den 213 Vgl. VI, 91, 6; VII, 27, 3–28; VIII, 5, 3; Hornblower III, S. 576. 214 Vgl. dazu auch Ferrario, Athens, S. 192. 215 Zur Darstellung der Fähigkeiten des Hermokrates zur Voraussicht vgl. Strauss, City, S. 167–168. 216 Vgl. Westlake, Individuals, S. 10; Connor, Thucydides, S. 171; Bloedow, Speeches, S. 146; Tsakmakis, Leaders, S. 181; Andrews, Athenagoras, S. 12. 217 Zu weiteren Parallelen zwischen Athenagoras’ Rede und Mytilene-Debatte vgl. Hornblower III, S. 405. Zu Kleon vgl. unten Kap. 4.4.4.

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gegen die Peloponnesier in Sizilien beginnen (36, 4). Denn gerade dies hat das vorangegangene Narrativ ja bestätigt: die Athener werden eine solchen Schritt entgegen der Erwartung des Athenagoras (und der Warnung des Nikias in Kapitel 10) unternehmen und schon in VI, 6 hat Thukydides darauf verwiesen, dass Athen einen solchen Schritt unternehmen werde und die Gründe dafür angeführt. Er stellt damit die Argumentation des Athenagoras durch die Komposition als eine fatale Fehleinschätzung des athenischen Charakters dar,218 seine Erklärung, warum die Athener keine Sizilien-Expedition unternehmen würden, wird durch den Fakt der Ausfahrt der Flotte in VI, 30–32, 2 konterkariert: Die Athener unternehmen diesen Feldzug sogar mit der höchstmöglichen, ihnen zur Verfügung stehenden Macht. Athenagoras hat demnach insofern recht, als ein Feldzug gegen Syrakus so viel Kriegskraft Athens in Anspruch nehmen würde, dass das Unternehmen nach »normalen«, vernunftgemäßen Maßstäben zu gefährlich und gewaltig angesichts des Krieges gegen die Peloponnesier sei und genau dadurch zeigt sich, dass Athen eben nicht nach diesen Maßstäben zu handeln scheint, sondern trotzdem den Feldzug unternimmt und auch vor seinen riesigen Anforderungen nicht zurückschreckt. Interpretiert man die Sizilien-Expedition daher als Ausdruck des »kinetischen« Charakters Athens,219 so wird Athenagoras’ Argumentation durch die Komposition des Autors als eine fatale Fehleinschätzung hinsichtlich einer κίνησις (Expedition selbst und Ausmaß des kinetischen Charakters Athens) dargestellt.220 Durch diese Konstruktion wird Athenagoras im Kontrast zu Hermokrates als unfähig dargestellt, angemessen mit der κίνησις umzugehen. Dem Leser erschließen sich implizit, durch den Kontext der Debatte, die Gefahren dieser Unfähigkeit, denn Syrakus scheint gerade so dem Untergang zu entkommen und erst Gylippos kann durch 218 Vgl. Luginbill, National Character, S. 99, Anm. 29: »Failing to realize that the Athenian state is no longer under a Pericles, but functioning rather on the »auto-pilot« of its national character.« Ebenso G. Mader, Strong Points, Weak Arguments: Athenagoras on the Sicilian Expedition. (Thuc. 6,36–38) (H 121 (1993)), S. 438; Scardino, Reden, S. 553. Gerade der auktoriale Einschub, der Krieg in Sizilien sei »nicht viel geringer« als der gegen die Peloponnesier in VI, 1, 1, verstärkt den Eindruck der Fehleinschätzung, denn dadurch werden Athenagoras’ Prämissen noch deutlicher zwar als richtig, seine Schlussfolgerungen aber als falsch dargestellt. Vgl. zur Verbindung Hornblower III, S. 410. 219 Vgl. oben S. 240. 220 Dies wird noch stärker verdeutlicht durch die Gestaltung seiner Aussagen in 37, 2 als »sicheres Wissen«, vgl. Scardino, Reden, S. 547, Anm. 435. Zur ironischen Funktion der Rede vgl. ebd., S. 554 und Stahl, Thukydides, S. 126, der eine weitere Verbindung zur Expedition darin sieht, dass Athenagoras’ Rede die Ironie des athenischen Entschlusses zur Expedition ausdrücken soll, der nicht von Vernunft geleitet ist, sodass Athenagoras’ Argumentation zwar einerseits vernünftig, aber dennoch nicht zutreffend ist. Folgt man dieser Interpretation, so wird hier ebenfalls die Vernunft des Athenagoras als der κίνησις nicht gewachsen dargestellt. Zum irrationalen Aspekt des Sizilien-Entschlusses vgl. die Diskussion bei Scardino, Reden, S. 553, Anm. 449.

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sein Auftreten in VII, 2 das Blatt wenden  – genau so, wie es Hermokrates in VI, 34, 3 empfohlen hatte. Die Möglichkeit, eine derart weitreichende Verbindung von der Darstellung des athenischen Charakters in I, 70 über den Ausdruck dieses Charakters in der Sizilien-Expedition bis hin zur dem Leser als unzutreffend bekannten Perspektive des Athenagoras herzustellen, stärkt die These einer werkumspannenden Konzeption, die die Auseinandersetzung des Menschen mit κίνησις darstellt, erneut. Die κίνησις jenseits von Athen und Sparta Die Betrachtung der Stellen, in denen der Kinesis-Begriff bezogen auf andere Gemeinschaften als Athen und Sparta verwendet wurde, zeigt nicht nur eine weitere Kohärenz der mit dem Begriff verbundenen Assoziationen, sondern auch die Möglichkeit, die Darstellungen miteinander zu verknüpfen und zu einem größeren Darstellungskonzept zu verbinden. Die Beschreibung menschlicher Reaktionen auf κίνησις beschränkt sich nicht nur auf Athen und Sparta, sondern betrifft auch andere am Krieg beteiligte und geht darüber hinaus bis in die Konsequenzen des Krieges für ganz Griechenland, wie aus der Stasis-Beschreibung abgeleitet werden kann. Eine solche Konzeption steht im Einklang mit der Ankündigung des Proömiums, es habe sich bei dem Geschehen um eine μεγίστη κίνησις für ganz Griechenland gehandelt. Es kann hier auch immer deutlicher gezeigt werden, inwiefern der historische Prozess als eine κίνησις von Thukydides verstanden worden sein könnte: als ein Prozess, über den die Beteiligten keine Kontrolle hatten, auf den sie aber durch ihre Handlungen Einfluss ausübten. Immer wieder zeigt sich dabei vor allem die Intensivierung des Prozesses durch Athen, so am Beispiel Kerkyra, wo jegliche Maßnahme der Athener nicht den gewünschten Erfolg bringt, sondern die κίνησις des gesamten Griechentums noch verstärkt. Es lässt sich daraus schließen, dass der Verwendung des KinesisBegriffs komplexe Strukturen und Verbindungen, die sich z. T. über mehrere Bücher ziehen, zugrunde liegen, die es zusammen gesehen plausibel machen, dass Thukydides hier ein übergreifendes Konzept von κίνησις entwickelt, welches sich sowohl aus der jeweiligen Stelle, als auch aus ihrer Beziehung zu anderen Passagen rekonstruieren lässt. Einen neuen Aspekt der Beschreibung bringt dabei die Debatte in Syrakus ins Spiel, nämlich die Frage nach der Möglichkeit des angemessenen individuellen Umgangs mit einem solchen Prozess. Diese Frage wird durch die Gegenüberstellung Hermokrates-Athenagoras deutlich gemacht, an der gezeigt wird, dass Hermokrates’ Vorsicht angemessener und richtiger ist als das bloße Abstreiten des Athenagoras. Hermokrates’ Vorschläge lassen sich als eine Kombination aus eigener Vorbereitung auf die Auswirkungen der κίνησις und Intensivierung der κίνησις für den Gegner zusammenfassen – eine Kombination, die durch die

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nachfolgenden Ereignisse als effektiv dargestellt wird. Von einer Kontrolle über den Prozess kann aber auch bei Hermokrates nicht gesprochen werden – lediglich seine Reaktion ist angemessener für die Herausforderungen des Prozesses als die bloße Negation des Athenagoras. Eine solch umfassende Interpretation der Bedeutung der Kinesis-Begriffe in der Debatte lässt sich auch mit der Seltenheit des Ausdrucks begründen. Gerade die Wendung πόλεμον κινεῖν findet sich so zuerst bei Thukydides und genau an dieser Stelle, sie ist daher, angesichts der überlieferten Texte, eine Besonderheit. Diese wird noch eindrücklicher durch andere besondere Wendungen im Werk, die Kriegshandlungen mit dem Verb κινεῖν verbinden, so z. B. das ὅπλα κινεῖν des Archidamos. Auch ein Vergleich mit Homer zeigt, inwiefern Thukydides den Kinesis-Begriff in einem weiteren, für seine Zeit offenbar besonderen Verständnis verwendet. Im vierten Buch der Ilias berichtet Homer an zwei Stellen (Vers 280 und 427), wie die Griechen in die Schlacht ziehen: ἐς πόλεμον πυκιναὶ κίνυντο und κίνυντο φάλαγγες νωλεμέως πόλεμόνδε. In beiden Fällen ist κινεῖν als physikalische Ortsbewegung in den Krieg hinein zu verstehen. Die Vorstellung aber, den Krieg selbst zu bewegen, findet sich so erst bei Thukydides. Im Kontext der Ergebnisse der bisherigen Untersuchung kann dieser besondere Sprachgebrauch als Indiz dafür gewertet werden, dass sich hinter dem Begriff auch (aber nicht unbedingt ausschließlich) die Verarbeitung einer umfassenderen Darstellungskonzeption verbergen kann. Thukydides könnte durch die besonderen Wendungen implizit auf diese verweisen – dass dies zumindest eine Möglichkeit ist, können die angestellten Betrachtungen plausibel machen. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass mit der Debatte in Syrakus die Dichotomie Athen-Sparta aufgebrochen wird, denn ein neuer Protagonist mit einem eigenen »Charakter« betritt die Bühne und ist, so zumindest beschreibt es Thukydides in Buch VIII, 96, 5, äußerst erfolgreich, waren die Syrakusaner doch in ihrer Art den Athenern am ähnlichsten (ὁμοιότροποι). Es ergibt sich damit die Möglichkeit, eine weitere Ebene der Darstellung des kollektiven Umgangs mit κίνησις im Werk zu rekonstruieren. Aus der Dichotomie von Athen und Sparta und ihren entgegengesetzten »Charakteren« nämlich, von denen der eine scheinbar als »zu ruhig«, der andere als »zu kinetisch« dargestellt wurde, um angemessen auf die Anforderungen einer κίνησις reagieren zu können, lässt sich ableiten, dass weder die eine noch die andere Form der Reaktion von Thukydides als angemessen angesehen wurde. Immer wieder hat es Sparta aufgrund seines »akinetischen« Charakters versäumt, sich einen Vorteil gegenüber Athen zu verschaffen. Die Athener wiederum scheinen sich durch die ständige Intensivierung der κίνησις ihres Vorteils gegenüber Sparta beraubt zu haben. Aus dieser Gegenüberstellung kann abgeleitet werden, dass vielleicht eine richtige Mischung beider Charaktere wohl die Chancen auf eine angemessene und erfolgversprechende Reaktion auf die κίνησις in Thukydides’ Augen erhöht ha-

Die κίνησις jenseits von Athen und Sparta

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ben mag. Schon in der Figur des Hermokrates scheint sich dies zu zeigen: Dieser lehnt κίνησις nicht per se ab, will sie aber am anderen Ort intensivieren, weit weg von Syrakus, während in seiner Heimatstadt Vorbereitungen für jeden erdenklichen Fall getroffen werden sollen, um sich zu verteidigen: er will das »ruhige Wesen« der Syrakusaner (VI, 34, 4) antreiben und so die richtige Mischung erreichen, mit der sie die Herausforderungen der Situation am besten bestehen könnten. Die aus einer solchen Entwicklung entstehenden Vorteile Syrakus’, welches zu Beginn der Sizilien-Expedition noch träge ist, sich schließlich aber zu einem agilen Akteur entwickelt, hebt Thukydides schließlich in VIII, 96, 5 hervor, wobei auch das Partizip γενόμενοι als Hinweis auf diese Entwicklung verstanden werden kann. Diese offensichtlich positive Einschätzung der Syrakusaner lässt sich u. a. auf ihren besonderen Charakter zurückführen, der Elemente der Ruhe, wie sie Hermokrates anführt, und der zunehmenden Bewegung angesichts der Herausforderungen des Krieges vereint. Syrakus ist nicht Sparta oder Athen – und deshalb so erfolgreich in seinen Unternehmungen.221 Die Analyse der Debatte in Syrakus hat zweierlei deutlich gemacht: Zum einen lässt sich das Thema der Ruhe- und Bewegungscharakteristik – in bedeutender Länge ausgeführt – nicht nur im ersten, sondern auch im sechsten Buch des Werkes finden, was im Zusammenspiel mit den restlichen bisher betrachteten Stellen wiederum den Schluss nahe legt, dass die Auseinandersetzung mit der μεγίστη κίνησις im Buch durch die Konstruktion einer werkumfassenden Konzeption gestaltet wird, die u. a. durch die Darstellung unterschiedlicher »Charaktere« der beteiligten Gemeinwesen geprägt ist. Dabei sind aber »Ruhe« und »Bewegung« immer im Kontext dieser μεγίστη κίνησις zu verstehen und nicht als absolute Zustände: »Ruhe« ist ein zu träges Agieren in der κίνησις, »Bewegung« stellt sich als ihre Intensivierung dar. Zum anderen wird diese Darstellung anscheinend noch einmal um eine individuelle Ebene erweitert, wie der konträre Bezug zum Kinesis-Begriff bei Hermokrates und Athenagoras und deren jeweilige mögliche Korrelation zu anderen Figuren im Werk nahelegt.222 Der zu beobachtende Fokus auf den Einzelnen und auf seinen spezifischen Umgang mit der κίνησις und dem jeweiligen Charakter seiner politisch-sozialen Umwelt, sowie die Betrachtung der daraus resultierenden Folgen für die beteiligten Gruppen und Gemeinwesen, kann als Teil dieser werkumspannenden Konzeption interpretiert werden, die sich immer wieder durch Illustrationen im Einzelnen wiederfinden lässt. Das folgende Kapitel soll diese hier beobachtete individuelle Ebene ausführlicher beleuchten.

221 Vgl. zur Entwicklung Syrakus’ und des besonderen Charakters der Stadt auch unten S. 308–309. 222 Auf diese beiden Ebenen verweist auch Stahl, Thukydides, S. 127.

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Die κίνησις bei Thukydides

4.4 Athenische Spartaner, spartanische Athener – Individuen in der κίνησις In diesem Kapitel sind nicht nur die Stellen gesammelt, an denen ein Individuum mit dem Kinesis-Begriff direkt verbunden wird, sondern es sollen auch stellenübergreifende Beobachtungen angestellt werden, um die Kohärenz der Darstellungen zu prüfen. Wie schon bei Hermokrates und Athenagoras unterschiedliche individuelle Reaktionen auf ein Geschehen in Verbindung mit einer Verwendung des Kinesis-Begriffs nachgezeichnet werden konnten, so ist dies ebenfalls bei anderen zentralen Persönlichkeiten im Werk zu beobachten. Inwiefern sich aus der Verwendung des Kinesis-Begriffs im Zusammenhang mit ihnen, sowie aus der Tendenz ihrer Darstellung im Werk darüber hinaus, Aussagen zu ihrem Umgang mit dem historischen Prozess ableiten lassen, soll nun anhand von Perikles, Alkibiades, Nikias, Brasidas und Kleon gezeigt werden.

4.4.1 Perikles Obwohl Perikles in der Forschungsliteratur wohl eine der prominentesten Persönlichkeiten des thukydideischen Werkes sein dürfte, soll hier nicht in aller Ausführlichkeit auf alle Aspekte der Diskussion eingegangen werden.223 Zentral ist hier nur seine Darstellung in Verbindung mit der Problematik der κίνησις, weshalb zuerst einmal die Betrachtung der betreffenden Textstelle erfolgen soll. Thukydides lässt Perikles den Kinesis-Begriff genau einmal in der sogenannten »Kriegsrede« in I, 140–144 verwenden, in der Perikles den Athenern seine Taktik im bevorstehenden Konflikt mit Sparta präsentiert. Es geht dabei um die κίνησις von Tempelschätzen aus Olympia und Delphi, sodass das Wort hier durchaus im Sinne einer religiösen Entweihung gebraucht wird, was auch einem zu beobachtenden allgemeinen Sprachgebrauch zu entsprechen scheint.224 Im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen steht daher die Frage, inwieweit es sich auch über den normalen Sprachgebrauch hinaus auf ein übergeordnetes Darstellungskonzept zurückführen lassen könnte, dass Thukydides seine Figur

223 Für genauere Überblicke zum Forschungsstand sei hier nur auf die Einführungen von L.-M. Günther, Perikles, Tübingen / Basel 2010 und C. Schubert, Perikles: Tyrann oder Demokrat?, Stuttgart 2012 verwiesen. 224 Vgl. Rusten, Earthquake, S. 140. Für eine ausführlichere Untersuchung der Begriffscharakteristik in diesen Kontexten im Vergleich zur Vorsokratik siehe unten Kapitel 4.5.2 (»κίνησις als Sakrileg und Gesetzesverstoß«). Die Ausführungen in diesem Kapitel machen deutlich, dass auch hier eine assoziative Nähe in der Begriffsverwendung zwischen Thukydides und den Vorsokratikern plausibel gemacht werden kann.

Athenische Spartaner, spartanische Athener   

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des Perikles diese Phrase hier verwenden lässt. Dies bietet sich vor allem deshalb an, weil die Kriegsrede in engem Zusammenhang mit der Frage angemessener Voraussicht und Reaktion auf die Anforderungen des Krieges und damit letztlich auch der μεγίστη κίνησις steht, da hier betrachtet werden kann, inwiefern sich die dem Perikles von Thukydides in II, 65, 5 bescheinigte Fähigkeit zur Voraussicht auch in der Darstellung seines Umgangs mit κίνησις wiederspiegeln könnte. Die explizite Erwähnung einer κίνησις in seiner Rede und den damit verknüpften Schlussfolgerungen, sowie deren Relevanz im späteren Kriegsgeschehen kann dabei als mögliche Illustration dieses Umgangs des Perikles gedeutet werden, wie sich im Folgenden zeigen wird. Perikles hält seine Rede im Winter 432/31 vor der athenischen Volksversammlung, die entscheiden muss, wie sie auf die Forderungen der Spartaner reagieren sollte. Perikles rät den Athenern, den Spartanern nicht nachzugeben, obwohl dies Krieg bedeute (140, 1). Damit rückt die Kriegsrede in einen vergleichbaren Kontext der Tagsatzung in Sparta, in der sich die Peloponnesier für den Krieg und damit für die κίνησις, entscheiden.225 Wie auch König Archidamos weist Perikles auf die Ungewissheit des Krieges hin, fordert aber die Bürger gleichzeitig dazu auf, zu ihren Beschlüssen zu stehen, denn zu gefährlich sei es, nachzugeben (2–5). In Kapitel 141 führt Perikles die zur Verfügung stehenden Ressourcen und Möglichkeiten Athens auf, durch die die Stadt für den Krieg bestens gerüstet sei, ja in jeglicher Hinsicht Sparta überlegen, vor allem aufgrund der Flotte (141, 2–142, 9). Sollten die Spartaner aber versuchen, die Tempelschätze aus Olympia und Delphi »zu bewegen« (εἴ τε καὶ κινήσαντες τῶν Ὀλυμπίασιν ἢ Δελφοῖς χρημάτων) und damit Söldner als Seeleute abzuwerben, so wäre auch dies nicht gefährlich, da die Athener selbst die besten Seeleute seien (143, 1). Erneut weist Perikles auf die Überlegenheit Athens durch die Flotte hin und auf die Vorteile, die Athen im kommenden Krieg gegen die Landmacht Sparta daraus erwachsen würden (143, 2–5). Schließlich hebt er die Notwendigkeit des Krieges hervor und dass gerade die Bereitwilligkeit, mit der die Athener ihn führen würden, die Feinde abschrecken werde (144, 3). Aus dieser Rede lassen sich auf den ersten Blick mehrere Verbindungen zu bereits beobachteten Tendenzen im Werk ziehen. So scheinen die Athener seiner Forderung nach Bereitwilligkeit zum Kriegführen immer wieder dann nachzukommen, wenn sie den Krieg intensivieren und beispielsweise einen neuen Kriegsschauplatz eröffnen, wie dies z. B. im Zusammenhang mit den Flottenbewegungen in I, 105 und III, 16 beobachtet werden konnte. Es ergibt sich daraus auch ein eindeutiger Kontrast zu Archidamos, der aufgrund der Unsicherheiten des Krieges von diesem abrät. Perikles dagegen erwähnt diese zwar, rät aber

225 Vgl. oben Kap. 4.2.1.

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Die κίνησις bei Thukydides

trotzdem zum Krieg – dessen Gewinn er eher durch eigene Fehler als durch die Kampfkraft der Feinde gefährdet sieht (144, 1). Für Perikles liegt es somit allein in der Hand der Athener, ob sie aus diesem Konflikt als Sieger hervorgehen. Interpretiert man den Konflikt als Ausdruck der μεγίστη κίνησις, so kann man aus dieser Rede das Postulat des Perikles ableiten, dass Athen problemlos mit der κίνησις umgehen werden können. So passt es gut, dass er sogleich eine angemessene Reaktion auf die hypothetische κίνησις der Spartaner, hier bezogen auf die Tempelschätze in Olympia und Delphi, vorschlagen kann. Perikles scheint sich der Macht Athens wohl bewusst zu sein, denn in seiner »Antwort« auf die Kriegstaktik der Korinther in I, 121, 3226 bezeichnet er diese κίνησις als für Athen ungefährlich, da auch die Bürger selbst, die sich durch diesen Sold nicht abwerben lassen, erfahrene Seeleute seien. Die gesamte Thematik der Seeherrschaft in dieser Rede, in deren Kontext auch das Argument des problemlosen Umgangs mit κίνησις steht, wurde bereits in ihrer Problematik umfassend untersucht mit dem Ergebnis, dass Perikles’ Ausführungen sich eher auf nicht hinterfragbare Prämissen als auf reale Stärken bezögen.227 Ähnlich könnte hier auch die Präsentation des problemlosen Umgangs mit der κίνησις des Gegners nicht als zutreffende Einschätzung der realen Fähigkeiten Athens, sondern als rhetorisches Mittel zur Überzeugung der Volksversammlung228 interpretiert werden: Dies umso mehr, da die von Perikles angesprochene Bewegung letztendlich nicht eintritt,229 obwohl sie von den Korinthern noch angekündigt wurde, und Athen im Laufe des Krieges immer mehr Schwierigkeiten bekommt, die aber im Zusammenhang mit anderen κινήσεις des Gegners geschildert werden – erinnert sei hier an die Bewegung der spartanischen Schiffe bei Chios in Buch  VIII.230 Man kann diese Stelle daher in Verbindung mit dem sog. »Nachruf« in II, 65 auch als eine Darstellung des Umgangs des Perikles mit κίνησις interpretieren,231 die von kritischen Untertönen begleitet ist, wenn man den weiteren Verlauf des Krieges diesem Punkt der Kriegstaktik gegenüber stellt.232 Zwar gibt der Kriegsbericht den Ausführungen des Perikles’ soweit recht, als Athen bis zur Sizilien-Expedition keine Schwierigkeiten zu haben scheint, mit der κίνησις generell umzugehen, dort jedoch sind es die ihnen so ähnlichen Syrakusaner und die von Alkibiades angetriebenen 226 227 228 229 230 231

Vgl. Hornblower I, S. 197–198. Vgl. Kopp, Seeherrschaft, S. 84–85. Vgl. ebd. S. 218–220. Vgl. Hornblower I, S. 198. Vgl. oben S. 235–238. Zur Bedeutung der Pronoia schon Luginbill, National Character, S. 190; Stimson, Characterization, S. 80–82. 232 Vgl. zur Funktion des Kriegsberichts als Kontrastfolie zu Perikles’ Reden H. Herter, Pylos und Melos. Ein Beitrag zur Thukydides-Interpretation (RhM 97 (1954)), S. 316–317.

Athenische Spartaner, spartanische Athener   

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Peloponnesier, die ihnen ernsthafte Probleme bereiten.233 Wie also ist die Darstellung des Perikles bezogen auf seinen Umgang mit κίνησις zu bewerten? Thukydides berichtet, dass Perikles die Athen bei Kriegsausbruch zur Verfügung stehenden Machtmittel »offenbar« richtig vorausgesehen habe, sodass dies auch auf seine Vorhersage zur problemlosen Bewältigung einer κίνησις bezogen werden könnte, da er richtig erkannt habe, wie sich Athen aufgrund seines großen Potentials erfolgreich in der κίνησις verhalten könnte. Die Verwirklichung dieses Potentials scheint sich z. B. in I, 105 und III, 16 zu zeigen. Gleichzeitig aber scheint Perikles’ im Krieg offenbarte Fähigkeit der Voraussicht nicht für ein erfolgreiches Verhalten in der μεγίστη κίνησις auszureichen, denn wie bereits zu beobachten war, ist Athens Verhalten in und ihre Reaktionen auf κίνησις nicht von langfristigem Erfolg gekrönt, wie die Niederlage am Delion in Buch IV zeigt. Diese Episode ist gleichzeitig ein Beweis dafür, wie Perikles’ Aufforderung, den Krieg nicht auszuweiten, von den Athenern nicht befolgt wird. Im Gegenteil scheint beinah jede Maßnahme der Athener den Krieg auszuweiten, sodass die Sizilien-Expedition als folgerichtiger Höhepunkt eines solchen Verhaltens interpretiert werden kann. So wird in II, 65 seine Ermahnung, den Krieg nicht auszuweiten, und damit die κίνησις nicht weiter zu intensivieren, zwar als theoretisch richtig, praktisch aber als nicht durchführbar beschrieben: Die Athener verkehren auch alles andere »ins Gegenteil« (ταῦτά τε πάντα ἐς τοὐναντίον ἔπραξαν, 65, 7), was Perikles ihnen geraten hatte. Die Darstellung des Kriegesverlaufs im Kontrast zur Kriegsrede scheint somit auf einen fatalen Fehler des Perikles hinzuweisen, der offensichtlich den »kinetischen« Charakter Athens, sowie die Anforderungen und Auswirkungen einer κίνησις auf die Menschen, in seinen Kriegsplänen unterschätzt hat. Es drängt sich daher die Frage auf, als wie effektiv Thukydides Perikles’ Pronoia eigentlich angesichts der Anforderungen der μεγίστη κίνησις einschätzte. Der Kontrast zwischen athenischem Verhalten und den Ausführungen des Perikles zum problemlosen Umgang mit κίνησις, illus­ triert und exemplifiziert in der Erwähnung der »Bewegung der Tempelschätze«, der sich nicht nur aus der expliziten Begriffsverwendung, sondern auch aus dem gesamten Kontext der Rede ableiten lässt, scheint darauf hinzudeuten, dass Perikles trotz aller Voraussicht, die sogar die Gefahr eigener Fehler einschloss, die κίνησις unterschätzte234 und somit sein Umgang mit ihr als unangemessen und 233 Luginbill, Illusions, S. 150–151 zeigt die Elemente der Kriegstaktik in ihrer Funktion als »Antwort« auf spartanische Maßnahmen, die wiederum von ihrem nationalen Charakter abhängen, der sich jedoch im Laufe der Darstellung ändert. Gerade die Kinesis-Stelle kann dabei als Entsprechung zum unzureichenden Umgang der Peloponnesier mit κίνησις gelesen werden, wie auch an anderen Stellen Perikles auf Eigenheiten des spartanischen Charakters anspielt, vgl. ebd. S. 153. 234 Ebd. S. 51: »Pericles’ comment that he has a greater fear of Athenian errors than of Peloponnesian planning hints not only at the well-known Athenian mistakes ­during the

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nicht erfolgsversprechend dargestellt sein könnte. Es stellt sich dann die Frage, wie der auktoriale Kommentar zu den Fähigkeiten des Perikles in II, 65 mit dieser Beobachtung zu vereinbaren ist. Thukydides hebt in II, 65, 5–9 dessen Fähigkeiten auf zwei Ebenen hervor, dem Umgang mit dem Kriegsgeschehen (65, 5–7) und mit dem athenischen Demos (65, 9).235 Dass Thukydides auch diese Einschätzung auf Grundlage des Gedankens einer richtigen Mischung aus Ruhe und Bewegung treffen könnte,236 welche bereits durch die Betrachtung der Debatte in Syrakus plausibel gemacht werden konnte, wird u. a. an Perikles’ Umgang mit dem Demos deutlich, welchen er aufbauen oder bremsen konnte.237 Auch wird die Bedeutung seiner Forderung nach dem Bewahren der Ruhe (»ἡσυχάζοντάς« 65, 7) schließlich nach seinem Tod im Rahmen seiner richtigen Voraussicht erkannt. Eine Mischung aus Ruhe und Bewegung zeigt sich schließlich in seiner Kriegstaktik: die κίνησις solle nicht ausgeweitet werden und auch hier zeigt Perikles eine enorme Fähigkeit zur Voraussicht, wenn er auf die Gefahr der eigenen Fehler hinweist (144, 1) und damit deutlich macht, dass er sich der Selbstbedrohung Athens durch ihren gemeinschaftlichen Charakter durchaus bewusst ist.238 Gerade aber durch den weiteren Verlauf entpuppt sich sein in der Rede in I, 140–144 gezeichnetes Bild der leichten Kontrollierbarkeit der κίνησις als Illusion, denn der »leichte Sieg« über die Peloponnesier (II, 65, 13) tritt nicht ein.239 Perikles hat, wie hier durch das Narrativ suggeriert wird, trotz seiner Voraussicht, deren Sicherheit und Richtigkeit in II, 65, 6–7 offenbar theoretisch plausibel gemacht werden sollen, in Bezug auf das Ergebnis der κίνησις falsch gelegen. Dies wird nicht nur dadurch deutlich, dass sich die Athener trotz all seiner Warnungen genau für das Gegenteil entscheiden und damit ihrem »kinetischen« Charakter nachgeben,240 sondern auch in seinem eigenen Ende – der Pest selbst, die Perikles’ Tod herbeiführt, kommt nach der Pathemata-Liste ein Anteil an der Größe der μεγίστη κίνησις zu. Und schließlich, womit die Betrachtung course of the war but also at the possibility that even Pericles’ brilliant analysis may yet contain a flaw.« 235 Vgl. Raaflaub, Oligarchy, S. 204–205; Stimson, Characterization, S. 81–85. 236 Stimson, Characterization, S. 91, kann kohärent dazu den »spartanischen« Charakter des Perikles herausarbeiten. 237 Diese Deutung lässt sich beispielsweise auch in II, 22, 1 belegen: Perikles bewahrte »Ruhe« im Umgang mit der Stadt (δι’ ἡσυχίας). 238 Vgl. Connor, Thucydides, S. 62. 239 Ebd., S. 50: »The course of the war will not be as simple as Pericles seems to imply; with it will come loss and sufferings, as yet only alluded to, but of great intensity and significance.« 240 Connor, Thucydides, S. 50 und differenzierter Stimson, Characterization, S. 89–95 weisen auf den Kontrast zwischen athenischem Charakter und Perikles’ eigenem Verhalten hin. Nur durch die enorme individuelle Fähigkeit der Überzeugung gelingt es Perikles, diesen Charakter zum Vorteil zu beeinflussen.

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wieder auf die betreffende Stelle zurückkommt, gelingt es den Peloponnesiern doch, die Athener auch zu Wasser zu besiegen, ohne jedoch die Tempelschätze »zu bewegen«: Die suggerierte Kontrollierbarkeit der κίνησις, die in I, 143, 1 deutlich wird, widerlegt das Narrativ selbst. Dabei ist vor allem die Ambivalenz hervorzuheben, die Thukydides der Rede verleiht. Perikles erwähnt die Möglichkeit der Gefahr durch das κινεῖν, kennzeichnet ihr Eintreten aber gleichzeitig als unwahrscheinlich, ja sogar als unmöglich: Die Athener seien nun einmal allen anderen Griechen, auch ihren eigenen Söldnern, sollten diese abgeworben werden, als Seeleute gewachsen. Dies jedoch erweist sich schließlich, wie die Niederlagen Athens zur See im weiteren Verlauf des Krieges zeigen, als Fehleinschätzung, denn weder können die Athener sich durch die Seeschlacht vor Syrakus (VII, 70–71) retten, noch sind ihre Schiffsmannschaften immer den Peloponnesiern gewachsen, wie es beispielsweise in VIII, 95, 2 explizit deutlich gemacht wird: Hier müssen sie sich aufgrund der inneren Unruhen ungeübter Schiffsleute bedienen und erleiden schließlich eine Niederlage. Perikles’ Voraussicht in Bezug auf die Möglichkeiten der Athener, auf eine κίνησις problemlos und erfolgreich reagieren zu können, wird im Laufe der Zeit immer mehr als falsch erwiesen, während ihm aber gleichzeitig die Gefahr, die von einer κίνησις ausgehen kann, in der Darstellung des Thukydides zumindest bewusst zu sein scheint.241 Perikles mag zwar die Machtmittel richtig vorausgesehen haben, doch es war ihm nicht möglich zu verhindern, dass Athen durch seine Handlungen und Reaktionen in der κίνησις diese intensiviert und damit ein erfolgreiches Handeln immer unwahrscheinlicher macht – seine Voraussicht ist nur theoretisch richtig, praktisch jedoch trifft sie nicht zu, da weder die μεγίστη κίνησις, noch ihre Intensivierung durch Athen, für ihn kontrollierbar ist. Sein Fehler läge somit, und hier zeigt sich eine mögliche Kohärenz zur allgemeinen Darstellungstendenz des menschlichen Umgangs mit κίνησις, in der Annahme, dass sie und ihre Auswirkungen vom Menschen kontrollierbar seien. Es wäre dann nur folgerichtig, wenn sich diese angenommene mögliche Kontrolle im Laufe des Werkes nicht nur auf die historischen Prozesse, die mit μεγίστη κίνησις im Proömium beschrieben werden, bezieht, sondern auch auf Athen selbst, welches den »kinetischen« Charakter zugeschrieben bekommt – und eben in beiden Fällen als unmöglich dargestellt wird. Aus der vorliegenden Stelle kann somit zweierlei abgeleitet werden: Einerseits sieht Perikles im κινεῖν der Tempelschätze eine mögliche Gefahr für die Athener, andererseits jedoch negiert er diese sofort unter dem Verweis auf Athens überlegene Position zur See. Diese wiederum nimmt im Laufe der Darstellung immer 241 Eine ausführlichere Betrachtung der scheinbaren Widersprüche zwischen Perikles’ Einschätzung athenischer Seemacht und der Darstellung des Thukydides bei Kopp, Seeherrschaft, S. 210–236.

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weiter ab, so dass schließlich Athen auch zur See von den Peloponnesiern besiegt werden kann. Somit kann in Ansätzen für Perikles konstatiert werden, dass dieser zwar erkennt, dass κίνησις möglich ist und diese besondere Anforderungen an die Menschen stellen wird, andererseits aber seine Schlussfolgerungen realiter nicht zutreffen – was wiederum mit der Beobachtung korreliert, dass sich eine κίνησις dadurch auszeichnet, dass sie vom Menschen nicht kontrolliert werden kann. Perikles aber scheint sich dieser Unkontrollierbarkeit nicht bewusst zu sein und suggeriert den Athenern die Möglichkeit, mit Leichtigkeit auf κίνησις reagieren zu können. In Verbindung mit dem weiteren Verlauf der Darstellung zeigt sich hier, dass Perikles die Anforderungen der κίνησις unterschätzt hat – und ihr dadurch, trotz aller Voraussicht, ebenfalls nicht gewachsen ist. Perikles’ individueller Umgang mit κίνησις ist nicht von Erfolg gekrönt: weder kommt es zu einer solchen von ihm beschriebenen κίνησις, noch kann Athen ohne Einschränkungen so zur See agieren, wie von ihm vorausgesagt. Ebenso wie das Motiv der Seeherrschaft von Perikles als Argument selbst verwendet wird, scheint auch die Möglichkeit der Kontrolle über das Geschehen von vornherein impliziert zu werden und so ist es bezeichnend, dass er die Erläuterung der »eigenen Fehler« der Athener auf eine »spätere Rede« verschiebt, die nicht stattfindet.242 Die Kontrolle über die κίνησις, die Perikles hier den Athenern präsentiert, scheitert letztendlich daran, dass niemand da ist, der die Fähigkeiten dazu besitzt, wie das Narrativ zeigt:243 Sein Kriegsplan kann nur gelingen, wenn jemand mit den erforderlichen Fähigkeiten im Umgang mit der κίνησις die Athener von ihren Fehlern abhält.244 Da es angesichts ihres bisher beobachteten übermenschlichen Charakters unwahrscheinlich ist, dass für Thukydides ein solcher Mensch überhaupt existieren könnte, ist es nur logisch, dass Athen schließlich diese Fehler begeht. Dass Perikles »allwissend«245 war, kann somit in Bezug auf seinen Umgang mit der κίνησις nicht konstatiert werden, denn Perikles ist nicht klar, dass es niemanden gibt, der sich garantiert erfolgreich in ihr verhalten wird. Damit aber muss auch die Interpretation, allein der Tod des Perikles 242 Vgl. Hornblower I, S. 230. 243 Vgl. Luginbill, Illusions, S. 155: »The only thing that can wreck Athens’ chance for victory […] is departure from Pericles’ […] strategy, an eventuality which, given that in every aspect it ran against […] the Athenian national character as it is portrayed in the History, was a virtual certainty as soon as the great man passed from the stage.« 244 Dazu passt die Beobachtung Price’s, dass eine Konzentration der Darstellung auf Individuen und ihre Motive ab dem Zeitpunkt des Todes des Perikles im Werk stattfindet. Er führt dies auf ihren Kontrast zu Perikles bezüglich der Priorität persönlicher Motive vor dem Allgemeinwohl zurück, vgl. Internal War, S. 236–263, was der hiesigen Interpretation nicht entgegensteht: die persönlichen Motive spielen auch für die Fähigkeit des erfolgreichen Umgangs mit κίνησις eine zentrale Rolle. Vgl. auch Connor, Thucydides, S. 65 und Stimson, Characterization, S. 92–93. 245 Schmid, Kinesis, S. 61.

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und die Unzulänglichkeit seiner Nachfolger sei am Untergang Athens Schuld,246 modifiziert werden, denn aus dieser Perspektive spielt es für die Vorhersage von Erfolg oder Misserfolg keine Rolle, ob Perikles an der Spitze Athens stand oder ein Anderer: Die Kontrolle über κίνησις muss so oder so Illusion bleiben. Auch diese Stelle lässt sich wiederum als Exemplum für Thukydides’ Interpretation des Gesamtgeschehens deuten: So, wie Perikles’ Vorhersage zum κινεῖν der Tempelschätze und der Möglichkeit der Kontrolle unzutreffend war, sind auch seine Vorhersagen zum Krieg und damit indirekt zur μεγίστη κίνησις nicht mehr als Illusion. Es ist an dieser Stelle kein Platz, die einzelnen Elemente des Nachrufes dezidiert daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie in der Darstellung bestätigt oder widerlegt werden.247 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass der Fehler, den Perikles hier begeht, nämlich von einer Kontrollierbarkeit von κίνησις auszugehen, nicht gleichzeitig alle Elemente des »Nachrufs« in II, 65 als »falsch« oder »unzutreffend« definiert. Es ist sehr wohl möglich, dass Thukydides Perikles gewisse Vorzüge gegenüber seinen Nachfolgern einräumt, sowohl in Bezug auf das Kriegsgeschehen, als auch im Umgang mit dem Demos, was beispielsweise auch darin wiedergefunden werden könnte, dass sich Perikles überhaupt als einer der wenigen Protagonisten über die Möglichkeit des Auftretens und der Gefahren einer κίνησις im Klaren zu sein scheint – im Gegensatz zu beispielsweise Athenagoras oder, wie noch zu sehen sein wird, Nikias. Ein Grund für die scheinbare »Diskrepanz«248 zwischen »Nachruf« und der restlichen Darstellung könnte aber schließlich auch die Intention des Autors sein, Perikles’ Vorhersage der möglichen Kontrolle über das Geschehen als Illusion deutlich zu machen, da diese Kontrolle völlig unabhängig von Perikles’ tatsächlichen oder zugeschriebenen Fähigkeiten unmöglich bleibt, wie die Diskrepanz zwischen I, 143, 1 und den späteren Niederlagen zur See im Einzelnen zeigt. Eine entsprechende Tendenz zeigt sich dann auch in der Konstruktion um seinen Epitaphios, die Pestbeschreibung und seine letzte Rede, denn die Äußerungen in der Leichenrede werden von der κίνησις in Form der Pest konterkariert, woraufhin er dennoch in der Lage ist, die Athener noch einmal zu überzeugen, die Taktik beizubehalten, um dann selbst wenig später sein Ende zu finden. Was sich hier zeigt, sind einerseits Perikles’ Potentiale im Umgang mit der κίνησις, 246 Vgl. Schmid, Kinesis, S. 63. Luginbill, Illusions, S. 66 weist daraufhin, dass Perikles’ Plan nur deshalb einen Sieg Athens suggerieren kann, weil er auf das Bild Spartas, welches Thukydides zeichnet, perfekt ausgerichtet ist und gleichzeitig den entscheidenden Fehler, Athens Charakter nicht bändigen zu können, seinen Nachfolgern zuschreibt. 247 Eine Übersicht bei Kopp, Seeherrschaft, S. 210–215. 248 Vgl. dazu z. B. H. Erbse, Die politische Lehre des Thukydides. In: Ders., Ausgewählte Schriften zur Klassischen Philologie, Berlin 1979, S. 236; Hornblower I, S. 341, beschreibt die Einschätzung des Thukydides in Bezug auf Perikles’ Voraussicht für die Anforderungen des Kriegs als »one of Th.’s most serious misjudgements«.

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in Form der Gemeinschaft Athen und den Notwendigkeiten des Krieges, und andererseits die Unmöglichkeit, diese langfristig zu kontrollieren und in der Auseinandersetzung mit ihr unter Garantie erfolgreich zu handeln. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise auch die Funktion der PeriklesFigur als »Meßlatte« der Nachfolger249 differenzierter im Rahmen der Handlungsfähigkeit bezüglich der κίνησις zu betrachten – die Beziehung zu Perikles ist demnach keine Fokussierung auf den Staatsmann, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass alle Individuen im gleichen Kontext der μεγίστη κίνησις handeln müssen.250 So steht auch Perikles’ Sturz im Kontext zweier Ebenen der Bewegung, der Laune des Volkes und den Belastungen des Krieges,251 die auf dieses einwirken, und somit leitet Thukydides den Nachruf mit zwei Elementen ein, die im Werk als Ausdruck der κίνησις gedeutet werden können, deren Macht er P ­ erikles in dessen Kriegsrede herunterspielen lässt.252 Die Figur des Perikles könnte damit, folgt man der vorgelegten Interpretation, das Verhältnis von Determination innerhalb des »übermenschlichen« Prozesses der κίνησις, geprägt durch die Unmöglichkeit, sie zu kontrollieren und der Möglichkeit, durch angemessenes Verhalten zumindest die Aussicht auf Erfolg in ihr zu erhöhen, darstellen. Sie ist als solche ebenfalls in ein Konzept der Darstellung eingebunden, welches sich hier auf die Auseinandersetzung des Individuums mit den Anforderungen der κίνησις, im Kleinen gezeigt am konkreten Begriff wie im Großen am gesamten Geschehen und damit der μεγίστη κίνησις, fokussiert. Erneut wird deutlich, dass menschliche Kontrolle über den Prozess nicht möglich ist, was Thukydides sowohl bezüglich der konkreten Begriffsverwendung durch ­Perikles, der nicht eintretenden »Bewegung« der Tempelschätze, als auch im größeren Kontext durch den Kontrast zwischen Kriegsrede und tatsächlichem Verlauf zeigen könnte. Dass Perikles dabei einerseits zum Krieg aufruft, und 249 W. Will, Thukydides und Perikles. Der Historiker und sein Held, Bonn 2003, S. 216 und 240. Die Analyse der Figuren des Nikias und Alkibiades, unten Kap. 4.4.2–4.4.3, werden zeigen, dass ihre Gestaltung zwar mit der des Perikles verglichen werden kann, von dieser aber keinesfalls zentral abhängig ist, wie ebd., S. 241, suggeriert. 250 Durch die Konzeption der Umgangsdarstellung mit κίνησις kann daher die Ausgestaltung der Fähigkeiten im Umgang als ein Unterschied zwischen Perikles und seinen Nachfolgern gesehen werden, sodass Thukydides dadurch belegen kann, inwiefern diese zum Untergang Athens beigetragen haben. Einen fehlenden Beleg sehen J. de Romilly, Der Optimismus des Thukydides und das Urteil des Historikers über Perikles (Thuk. 2, 65). In: G. Wirth (Hg.), Perikles und seine Zeit, Darmstadt 1979, S. 300 und Will, Thukydides und Perikles, S. 217. 251 Vgl. Will, Thukydides und Perikles, S. 214. 252 Perikles’ Kriegsplan ist damit nicht als »der beste aller möglichen« zu sehen, wie Will, Thukydides und Perikles, S. 202 schreibt, sondern hat gerade den Fehler, dass er das Ausmaß des kinetischen Charakters Athens unterschätzt, wie Will selbst anmerkt, ohne daraus Konsequenzen für die Bewertung zu ziehen. So auch D. Kagan, Pericles of Athens and the Birth of Democracy, New York 1991, S. 235; Luginbill, Illusions, S. 80 und 107–108.

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damit zur κίνησις, andererseits aber den Athenern rät, Ruhe zu bewahren, zeigt, dass auch die »Vermischung« beider Aspekte allein keine Kontrolle über den stattfindenden Prozess garantiert. Vor allem der Umstand, dass Athen keinesfalls »Ruhe bewahrt«, wie oben gezeigt werden konnte, kann dabei als Hinweis auf die Vorstellung von κίνησις als einem allumfassenden, mächtigen Prozess verstanden werden, der echte »Ruhe« überhaupt nicht zulässt – schon gar nicht, wenn es sich um die μεγίστη κίνησις handelt. Zum Abschluss der Betrachtung sei darauf hingewiesen, dass die hier entwickelte Lesart lediglich eine mögliche Interpretation der Stelle darstellt und es keinesfalls ausgeschlossen ist, dass Perikles beispielsweise diesen Satz wirklich so gesagt haben könnte. Die obigen Ausführungen machen jedoch deutlich, dass hier zwar ein gewöhnlicher Sprachgebrauch vorliegt, der nicht ausschließlich auf die Verarbeitung eines Darstellungskonzeptes zum menschlichen Umgang mit κίνησις bezogen werden muss, aber eben bezogen werden kann. Ein solcher Bezug kann kohärent zu anderen Verarbeitungen im Werk hergestellt werden und Perikles’ Äußerung lässt sich in ihrem Kontext in eine solche Darstellungskonzeption einordnen, so dass also zumindest die interpretatorische Möglichkeit besteht, dass Thukydides hier auch implizit den Umgang des Perikles mit κίνησις darstellt. Er selbst hat ja, wie er dem Leser in I, 22, 1 mitteilt, die tatsächlichen gehaltenen Reden so wiedergegeben, wie ein jeder seiner Ansicht nach sprechen musste (τὰ δέοντα). Dies schließt nicht aus, dass aus seiner Perspektive auf das historische Geschehen als μεγίστη κίνησις der Akteur Perikles einen solchen Satz gesagt haben »musste«, durch den sich sein Verhalten im Prozess wiederspiegeln ließ.

4.4.2 Nikias Ebenso wie bei Perikles ist die Darstellung der Figur des Nikias im Werk vielschichtig und ambivalent. Vor allem vor dem Hintergrund der Untersuchung, inwiefern Thukydides sowohl den historischen Prozess, als auch Nikias’ Umgang mit diesem an ausgewählten Stellen charakterisiert, ist zu beachten, dass diese Charakterisierung höchst implizit geschieht. Dies zeigt sich daran, dass der eigentliche Kinesis-Begriff immer auch in einem üblichen, z. T. bereits bekannten Sprachgebrauch verwendet wird, z. B. für eine Bewegung von Schiffen – dabei aber auch durch den Kontext bestimmte Konnotationen transportiert, die sich wiederum auf die Darstellungstendenz des Nikias auswirken. Die Möglichkeit aus dieser Verwendung eine Darstellung des Umgangs des Nikias mit dem Prozess der κίνησις abzuleiten, ergibt sich aus der Untersuchung, inwiefern diese Gesamtbetrachtung mit der Tendenz der einzelnen Stelle kohärent zusammenzuführen ist, sowie aus der jeweiligen Konnotation des Begriffs, wenn sie mit

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den bisher beobachteten Vorstellungen von κίνησις korreliert. Ist eine kohärente Verknüpfung möglich, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass Thukydides an den entsprechenden Stellen nicht nur den üblichen Sprachgebrauch bemüht, sondern auch Nikias in diesem Kontext aus einer bestimmten Perspektive charakterisiert. Diese Möglichkeit wird dadurch gestärkt, dass Nikias, der bereits vorher im Werk immer wieder vorkommt, erst im Rahmen der Sizilien-Expedition mit dem Kinesis-Begriff in Verbindung gebracht wird und auch die drei betreffenden Stellen in diesem Kontext zu finden sind. Dass Nikias gerade dort sein unglückliches Schicksal erleidet, welches er nach Thukydides von allen am wenigsten verdient hätte (VII, 86, 5) deutet auf die besondere Bedeutung hin, die Thukydides der Führung des Nikias in dieser Expedition zuschreibt. Interpretiert man die Sizilien-Expedition als Ausdruck athenischer Intensivierung der μεγίστη κίνησις, so könnte sich hinter der Konzentration der Begriffsverwendung in ihrem Kontext und kohärent im Zusammenhang mit Nikias durchaus eine implizite Darstellung seines Umgangs mit κίνησις verbergen. Es wird sich im Anschluss an die Untersuchung der Begriffskonnotationen zeigen, dass diese Darstellung, verbunden mit der speziellen Begriffsverwendung, auch als kohärent zur Darstellung des Nikias an anderen Stellen im Werk darüber hinaus beurteilt werden kann. Die Befestigung des Plemmyrions (VII, 4) Die Schilderung über den Entschluss des Nikias, die Landspitze »Plemmyrion« gegenüber Syrakus zu befestigen, ist vor allem deshalb von großer Bedeutung, weil diese Entscheidung für die Athener den Anfang der Schwierigkeiten in Sizilien einleitet, wie Thukydides in VII, 4, 6 deutlich macht, wenn er die Betonung auf die Erstmaligkeit der Not legt, die die Athener durch die Lage auf dem Plemmyrion zu spüren bekommen: τότε πρῶτον κάκωσις ἐγένετο.253 Gestärkt wird die Bedeutung des Plemmyrions für die Verschlechterung der Situation des athenischen Heeres auch durch die Schilderung der Eroberung durch Gylippos und die Übernahme der Befestigung durch die Syrakusaner (22–24),254 was für die Athener schließlich genau den dem Geplanten entgegengesetzten Effekt hat: Statt den Nachschub zu erleichtern, wie es Nikias beabsichtigt hatte (4, 4),255 wird 253 Vgl. P. Hunt, Warfare. In: Rengakos / Tsakmakis (edd.), Thucydides, S. 395–396. Es handelt sich hier vor allem um Lebensmittel- und Wasserknappheit, sowie die Schwierigkeit, Holz in der Umgebung zu sammeln, da die feindliche Reiterei das Land beherrscht. 254 Vgl. zur Verbindung und zur Darstellung des Nikias Rood, Thucydides S. 175, Anm. 65 und Hornblower III, S. 583. 255 Die Zentralität des Nachschubs stellt Nikias bereits in der Sizilien-Debatte heraus, vgl. H.-P. Stahl, Speeches and Course of Events in Book Six and Seven of Thucydides. In: Stadter (ed.), Speeches, S. 66.

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nun jede Lieferung in das Lager der Athener im großen Hafen von den Syrakusanern attackiert (24, 3). Die Befestigung erfolgt, nachdem die athenische Umschließung von Syrakus durch Mauern gerade noch rechtzeitig von den Verbündeten aus Korinth und dem Peloponnes verhindert werden konnte (VII, 2–4, 1).256 Thukydides betont dabei vor allem, wie nah Syrakus der Unterwerfung durch die Athener war; angesichts der Mauern hatte man in Syrakus bereits über Verhandlungen zur Kriegsbeilegung nachgedacht (2, 1). Stattdessen jedoch fassen die Syrakusaner neuen Mut und treten den Athenern zusammen mit Gylippos entgegen (3, 1). Diese Maßnahmen führen schließlich dazu, dass die Athener Syrakus’ Umschließung im Norden nicht vervollständigen können, sodass stattdessen Gylippos selbst die von den Athenern vorbereiteten Mauersteine verwendet, um eine weitere Sperrmauer zu errichten, die die Umschließung von Syrakus unmöglich macht (4, 1 und 5, 1). Nikias’ Entschluss, das Plemmyrion zu befestigen, wird schließlich aufgrund dieser Entwicklungen mit einer Verlagerung der Strategie zum Seekrieg hin erklärt – die Einnahme des Plemmyrions soll Flotten­operationen der Athener im großen Hafen deutlich erleichtern, wenn »sie irgendetwas zur See bewegten« (ἤν τι ναυτικῷ κινῶνται), da die Landspitze Vorteile gegenüber dem ursprünglichen Schiffslager in einem Winkel des Hafens biete. Diese Vorteile bestünden zum einen darin, dass die Schiffe schneller aus der Bucht heraus segeln können und dass zum anderen beide Häfen der Stadt auf der West- und Ostseite vom Plemmyrion, das den südlichen Abschluss der Bucht bildet, aus beobachtet werden können (4, 4). An der betreffenden Stelle ist der Bezug von κινῶνται nicht eindeutig – die Bewegung welcher Flotte ist gemeint? Dover257 liest hier »If they (= the Syra­cusans) made any move […]«, während Classen-Steup die Athener als Subjekt des Satzes annimmt.258 Schwierigkeiten bereitet dabei vor allem die doppeldeutige Form des Medium-Passivs κινῶνται, welches Classen-Steup als reines Passiv sieht in der Bedeutung »wenn sie (die Athener) durch etwas zur See beunruhigt werden«, während Gomme, Dover und Landmann das Medium »sich bewegen« annehmen, jedoch jeweils mit Bezug auf die Syrakusaner oder auf die Athener. Diese Mehrdeutigkeit muss in die Analyse der Konnotation und der Darstellungstendenz Eingang finden. Grundlegend für die Betrachtung ist zuerst einmal der Umstand, dass Thuky­ dides hier aus der Perspektive des Nikias berichtet: Die Befestigung sei von Vorteil für die Athener, weil ihre Ausfahrt besser auszuführen sei, wenn eine 256 Hornblower III, S. 546–547, stellt die Verbindung zur Mytilene-Debatte III, 49, 4 her. Zum kontingenten Charakter des Geschehens vgl. Stahl, History, S. 109, 125 Anm. 16 und 216; Rood, Thucydides, S. 173 Anm. 58. 257 Dover, Thucydides VII, S. 4; Gomme IV, S. 383. 258 Classen-Steup VII, S. 12.

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Flottenbewegung anstehe. Betrachtet man κινῶνται als Medium mit den Athenern als Subjekt, so ist die Schilderung vor allem durch die Notwendigkeit der Strategieverlagerung aufgrund der Ankunft des Gylippos geprägt. Nikias sieht in der Flotte den nun größten Vorteil. Damit verliert aber die gesamte Unternehmung an Sicherheit, denn in der aktuellen Situation muss dann jede Aktion der Flotte zum Gelingen des Unternehmens beitragen, denn mit dem Landheer ist nach Auffassung des Nikias nur noch wenig auszurichten. Durch diesen Kontext erhält κινῶνται eine Konnotation der Unsicherheit aus der Sicht des Nikias – dieser war ja bereits von Anfang an gegen die Expedition. Nun aber hat sich seine Lage noch verschlechtert, sodass die Wortverwendung auch auf die Perspektive des Nikias zurückgeführt werden kann; durch das Scheitern der Umschließung von Syrakus ist auch der ursprüngliche Plan hinfällig, der ja beinah zum Erfolg geführt hat (2, 1).259 Nikias sieht sich nun gezwungen, eine neue Strategie zu verfolgen, die aber ursprünglich so nicht geplant war, sodass der Aspekt fehlender Planbarkeit eines Ereignisses zum Ausdruck kommt: hatten die Athener während des Mauerbaus noch die Kontrolle über die Situation, ändert sich nun die Lage, sodass sie auf eine andere, so nicht geplante Strategie zur Durchführung der Belagerung umschwenken müssen, bei der im Gegensatz zum Mauerbau bis zur Ankunft des Gylippos nun weniger Spielraum für die Athener besteht, die Situation zu kontrollieren. Die enge Verbindung von Scheitern des ursprünglichen Plans und Verlegung auf den Seekrieg erweckt außerdem den Eindruck, dass Nikias sich auch bezüglich dieser Strategie unsicher ist, da der Erfolg der Maßnahme nicht garantiert ist. Somit muss nun, angesichts der schlechteren Ausgangslage, auch bei der neuen Strategie mit einem Scheitern der Aktionen gerechnet werden. Das Risiko ist seit der Ankunft des Gylippos größer geworden, aufgrund unvorhergesehener Ereignisse bzw. gegnerischer Aktionen zu scheitern, womit wiederum fehlende Planbarkeit und Kontrolle über das Geschehen verknüpft sind. Diese Aspekte werden vor allem durch die weitere Entwicklung der Ereignisse deutlich, denn die Athener verlieren während der ersten Seeschlacht das Plemmyrion, obwohl sie die Seeschlacht selbst gewinnen. Der Verlust des Plemmyrions dagegen führt zu einer weiteren, drastischen Verschlechterung der athenischen Situation. Die Verbindung zwischen der Bezeichnung von Flottenbewegungen als κίνησις und dem Ausgang der ersten Seeschlacht kann wiederum den unvorhersehbaren Charakter des Kinesis-Begriffs deutlich machen. Die Situation des athenischen Heeres rückt κινῶνται außerdem in die Nähe des Zwangs von außen, denn angesichts der Überlegenheit des Gylippos und der 259 Zur Zentralität vgl. Gomme IV, S. 380: »[…] but from the moment of the arrival of Gongylos with his heartening news all goes ill for the Athenians […].«; Connor, Thucydides, S. 186–187.

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Syrakusaner zu Lande bleibt den Athenern nur die Flotte, ihre Aktionen sind somit alternativlos.260 Der Kinesis-Begriff wird durch den Kontext wieder mit dem »Einfluss von außen« in Verbindung gebracht, denn die Abhängigkeit von der Flotte ist durch das Eintreffen der Peloponnesier und Korinther induziert. Dadurch scheinen die Vorstellungen des Prozesses bei Thukydides und den Vorsokratikern erneut eng zusammenzuhängen, denn auch einige Vorsokratiker haben die κίνησις offenbar als einen unabwendbaren Prozess wahrgenommen, der auf etwas einwirkt. Konsequent aber steht bei Thukydides der Mensch selbst im Mittelpunkt dieses Einflusses – er muss nun reagieren und hat keine freie Wahl. Damit zeigt die Alternativlosigkeit der Flottenbewegung auch an, dass Nikias’ Entscheidung durch die Umstände beschränkt und nicht mehr frei ist, im Gegensatz zur früheren Situation, in der über das Land und den großen Hafen frei verfügt werden konnte. Die Interpretation von κινῶνται als Passiv mit Bezug auf die Athener transportiert dieselben Konnotationen, wobei aber sowohl der Aspekt des Einflusses von außen (»bewegt werden«), als auch der Unsicherheit (durch Maßnahmen der Feinde zur See)  noch stärker deutlich werden, weshalb die von ClassenSteup vorgeschlagene Übersetzung »in Unruhe versetzen«261 auch die bereits bekannten Charakteristika des Kinesis-Begriffes gut im Deutschen wiedergibt. Die Prägung des Kinesis-Begriffs durch den Kontext bleibt auch in dieser Lesart gleich, vor allem wird aber die Unmöglichkeit, auf den Prozess der Bewegung Einfluss zu nehmen, deutlich: die Athener sind bereits in Schwierigkeiten aufgrund der Lage an Land, nun könnten auch Schwierigkeiten zur See durch die Flotte der Syrakusaner entstehen. Um diese Schwierigkeiten abzuwenden, wird das Plemmyrion befestigt, um einen solchen Prozess, geprägt durch Gefahr, fehlende Kontrolle und Unsicherheit, für die Athener zu verhindern.262 Der KinesisBegriff ist hier wieder durch die Ambivalenz der Perspektive geprägt, wie es schon in der Syrakus-Debatte beobachtet werden konnte, denn für die Athener ergeben sich Schwierigkeiten, die verhindert werden sollen, für die Syrakusaner dagegen haben sich die Dinge zum Positiven entwickelt. Da Nikias aber nicht wissen kann, wie die Aktionen der Syrakusaner konkret aussehen werden, dass sie aber durchaus das Potential haben, die Athener in Bedrängnis zu bringen, wie seine Ausführungen im Brief an Athen in VII, 13 deutlich machen, kann die Wahl von κινῶνται auf die fehlende Vorhersehbarkeit und Planbarkeit dieser Angriffe zur See und ihre Konsequenzen auf die Ordnung und Stabilität des athenischen Heeres zurückgeführt werden, das unter einer solchen Maßnahme 260 Vgl. z. B. Nikias’ Formulierung »wir, scheinbar die Belagerer einer anderen Stadt, werden nun selbst belagert« im Brief an die Athener in VII, 11, 4: ξυμβέβηκέ τε πολιορκεῖν δοκοῦντας ἡμᾶς ἄλλους αὐτοὺς μᾶλλον, ὅσα γε κατὰ γῆν, τοῦτο πάσχειν […]. 261 Vgl. Classen-Steup VII, S. 12. 262 Zur militärischen Bedeutung des Plemmyrions für die Athener vgl. Gomme IV, S. 383.

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der Gegner noch deutlicher leiden könnte. Die Auflösung des athenischen Heeres, die Nikias in seinem Brief VII, 13, 2 konkret beschreibt, wird zum großen Teil noch durch den Schutz durch die Flotte beschränkt, kann aber immer weniger verhindert werden.263 In diesem Kontext birgt eine κίνησις durch einen Angriff der Gegner die Gefahr einer weiteren Auflösung der Ordnung, wodurch den Athenern vor Syrakus und Nikias selbst die Kontrolle weiter entgleiten würde: Dies soll, so wird in der Darstellung deutlich, durch die Befestigung des Plemmyrions abgewendet werden.264 Damit finden sich auch in der passiven Form von κινῶνται in Bezug auf die Athener die Aspekte fehlender Kontrolle und Ordnung wieder. Diese Charakteristik des Begriffs ändert sich ebenfalls nicht bedeutend, wenn man als Subjekt die Syrakusaner annimmt, die sich zur See bewegen – lediglich die Bezüge der Auswirkungen der κίνησις müssten angepasst werden. Es er­geben sich aber für die Athener die gleichen Konsequenzen, unabhängig davon, ob sie »bewegt werden« oder ob »sich die Syrakusaner bewegen«, so dass in beiden Fällen ein Angriff der Gegner zu weiterem Verlust von Ordnung und Kontrolle bei den Athenern führen würde. Aus der Sicht des Nikias, der diese Überlegungen ja anstellt, sind die konkreten Aktionen der Syrakusaner unvorhersehbar. Diese Unvorhersehbarkeit könnte hier auch mit dem Kinesis-Begriff ausgedrückt werden. Somit wird deutlich, dass die Begriffsverwendung immer wieder aus der Perspektive des Nikias zu untersuchen ist, der sich einem unvorhersehbaren und dadurch nicht zu kontrollierenden Prozess gegenübersieht, der mit κινῶνται beschrieben wird. Die Konnotationen fehlender Vorhersehbarkeit und Planbarkeit, fehlender Kontrolle und der Gefahr der Auflösung von Ordnung und Stabilität werden von Thukydides anscheinend in jeder Lesart durch die Darstellung der jeweiligen Situation evoziert, ebenso wie der Aspekt, dass aus Sicht des Nikias die Aktionen der Athener nun eher ein Reagieren als ein Agieren darstellen, was ebenfalls durch κινῶνται wiedergegeben sein könnte. Diese Beobachtung ist überaus wichtig hinsichtlich der These, dass der Kinesis-Begriff auf Prozesse angewendet wird, welche bestimmte Charakteristika besitzen, die durch die Konnotation des Begriffs ausgedrückt werden können. Bei einem Gleichbleiben dieser Verwendung ist davon auszugehen, dass unter κίνησις nicht einfach jede Bewegung verstanden wird, sondern Bewegungen, welche bestimmte Aspekte aufweisen und in einem bestimmten Kontext auftreten. Dies hilft dabei, die Bezeichnung der μεγίστη κίνησις in I, 1, 2 besser zu verstehen und nachzuvollziehen, aufgrund 263 Zur Eingliederung des Briefes in das Narrativ vgl. Hornblower III, S. 557. 264 Der Brief des Nikias gibt eine gute Übersicht zur Lage des athenischen Heeres, vor allem VII, 12–14. Vgl. Dover, Thucydides VII, S. 9–10 und Hornblower III, S. 561–566 zu den Einschätzungen der militärischen Lage im Brief.

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welcher Aspekte des Geschehens Thukydides diesen Begriff verwendet hat. Da die Untersuchung zeigt, dass sich die Begriffscharakteristik im Grunde auch bei unterschiedlichen Bezügen der Verbform nicht ändert, scheint die These einer solchen grundlegenden Konnotation des Begriffes, die über die moderne Vorstellung von »Bewegung« hinausgeht, gestützt zu werden. Die Entscheidung, welcher Bezug für κινῶνται in VII, 4 anzunehmen ist, kann dabei aber nicht getroffen werden, da sich für jede Lesart Argumente finden lassen. So könnte beispielsweise die Schilderung der Lage des athenischen Heeres im Brief des Nikias (VII, 11–15) als Argument dafür gewertet werden, dass es nicht die Athener sein können, die sich hier bewegen, da ja alle Schiffe »zur Bewachung« gezwungen seien: μὴ ἀναγκαζομένοις ὥσπερ νῦν πάσαις φυλάσσειν (13, 1), sodass offensive Aktionen gegen die Syrakusaner nicht in Frage kämen. Gleichzeitig könnte aber genau diese Lage ein Grund dafür sein, warum die Aktionen der Flotte aus der Perspektive des Nikias (nach Thukydides) als κίνησις angesehen werden müssen – weil sie gezwungen sind, diese Bewachung durchzuführen, und weil jeder Versuch, selbst die Initiative zu ergreifen, bezüglich seines Ausgangs nicht nur ungewiss, sondern bei einem Scheitern auch noch fatal für das athenische Heer insgesamt wäre;265 genau diese Ungewissheit und Gefahr liegt ja beispielsweise dem κινήσειαν der Spartaner in IV, 55, 4 zugrunde.266 Damit erweist es sich als schwierig, einen eindeutigen Bezug aus dem Kontext heraus herzustellen. Bezüglich der generellen Konnotation des Begriffes mag dies, wie die obige Betrachtung gezeigt hat, keine Einschränkung darstellen, für die Untersuchung eines werkumspannenden Konzeptes jedoch ist dieser Umstand von enormer Bedeutung. Ein eindeutiger Bezug könnte als ein Element des Aufbaus und der Umsetzung dieses Konzeptes in der Darstellung helfen, diese besser nachzu­ vollziehen und nachzuzeichnen. Da dies jedoch nicht möglich ist, sollen hier nur die jeweiligen Möglichkeiten aufgezeigt werden. Sind es die Athener, die sich hier bewegen und folgt man den obigen Ausführungen zur Konnotation des ναυτικῷ κινῶνται an dieser Stelle, so stünde dies in Einklang mit ihrem »kinetischen« Charakter, der sie selbst in solch bedrängenden Situationen zu einer Bewegung veranlasst. Darüber hinaus ließe sich die Strategie der Athener wiedererkennen, die Kontrolle über eine Situation durch das Intensivieren einer κίνησις zu erlangen, wie es bereits in I, 105, 4 und III, 16, 1 zu sehen war. Somit entspräche die κίνησις der Athener vom Plemmyrion aus dem Narrativ, dass sich die Athener auch in Bedrängnis darauf verlegen, über κίνησις den Gegner heraus- und zu überfordern und sich darüber einen Vorteil zu erschaffen. Dies jedoch hat, ebenso wie in Boiotien, den gegenteiligen Effekt, denn der Verlust des Plemmyrions stellt darüber hinaus auch einen erheblichen Rückschlag für das athenische 265 Zum fatalistischen Ton des Briefes Dover, Thucydides VII, S. 7–8. 266 Vgl. oben S. 212.

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Heer dar (24, 3),267 wodurch auch hier der Versuch, über die Intensivierung von κίνησις einen Vorteil zu gewinnen, letztendlich negative Auswirkungen auf die Athener selbst hat und ihre Lage verschlechtert. Nimmt man jedoch die Syrakusaner als Subjekt, bzw. beim Passiv als Agens, an, so würde dies einerseits der Charakteristik der Syrakusaner als den Athenern ähnlich entsprechen,268 andererseits aber auch eine bedeutende Veränderung im Narrativ bedeuten, weil jetzt auf einmal die Athener als direkt von gegnerischer κίνησις beeinflusst und ihr ausgesetzt beschrieben werden. Im Gegensatz zu ihrer früheren Darstellung finden sie sich nun in einer Situation wieder, in der Andere sie in eine κίνησις bringen, wodurch sie nun von deren Auswirkungen betroffen und nicht mehr in der Lage sind, sich aus eigener Kraft davon freizuhalten, wie der Brief des Nikias zeigt: Nur durch das Eintreffen bedeutender Verstärkung oder durch die Beendigung der Expedition kann die Situation für die Athener zum Besseren gewendet werden. Somit könnte sich hier bereits die kommende Entwicklung andeuten, in der Athen immer öfter in die Defensive gedrängt wird, statt selbst über κίνησις den Gegner zu bedrängen.269 Der Unterschied zwischen der Belagerung von Syrakus und beispielsweise der Schlacht am Delion besteht vor allem darin, dass am Delion durch Zufall die geplante κίνησις nicht ausgelöst werden konnte. Jetzt aber finden sich die Athener in einer Situa­ tion wieder, in der κίνησις für sie von einem anderen ausgelöst werden kann, während vorher vor allem das Ausnutzen ihres eigenen falschen Umgangs mit κίνησις durch die Feinde zur Gefahr führte, nicht aber die Art der Feinde an sich.270 Durch das Eintreten Syrakus’ in den Krieg ändert sich, wie bereits angesprochen, dieser Umstand für die Athener. Wie ließe sich daher diese Lesart für die Interpretation eines Gesamtkonzeptes funktionalisieren? Hier ist vor allem hervorzuheben, dass die Syrakusaner den Athenern zwar ähnlich (ὁμοιότροποι), aber nicht mit ihnen identisch sind, wie es aus Hermokrates’ Rede in VI, 34, 4 zu erkennen ist, in der er die langsame Art der Syrakusaner anspricht. Ebenso stellt das Auftreten des Gylippos auf S­ izilien eine für den spartanischen Charakter ungewöhnliche Maßnahme 267 Es stellt sich hier die Frage, ob bereits die Entscheidung für die Befestigung maßgeblich zu diesem Rückschlag beigetragen hat, siehe Anm. 262. 268 Vgl. oben S. 272. 269 Vgl. oben S. 238. Dies stünde ebenfalls in Einklang mit der Komposition der Ankunft des Gylippos, die den Umschwung der Sizilien-Expedition zu Ungunsten Athens einläutet, vgl. Connor, Thucydides, S. 188: »[…] Gylippos’ arrival does make a difference; the Athenians, we know, will not succeed.« 270 Die Besonderheit dessen wird von Thukydides ebenfalls in VIII, 96, 5 erwähnt: »[…] es waren die Lakedaimonier für die Athener die passendsten aller Feinde. Denn sie waren ganz unterschiedlich bezüglich ihres Wesens, die einen schnell, die anderen langsam, die einen energisch, die anderen unentschlossen, besonders nützlich vor allem für eine Seemacht.«

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dar271 und so wird ja auch Gylippos selbst als »voll Entschlossenheit« (προθύμως, VII, 1, 4) geschildert  – eine Charakterisierung, die auch für Brasidas herausgearbeitet werden kann.272 Die Athener treffen also nun in der Darstellung auf »kinetische« Syrakusaner, die aber auch einmal zögern, und auf einen General, der zwar Spartaner ist, aber dennoch voller Entschlossenheit: auf Gegner also, die den kinetischen mit dem ruhigen Charakter verbinden.273 Die bereits durch die Untersuchung der Syrakus-Debatte hervorgetretene positive Darstellungstendenz eines solchen Charakters scheint sich hier zu bestätigen, denn ein Vorteil kann nur bei ihnen beobachtet werden, während die Athener weiter in Bedrängnis geraten. Im Hinblick auf den Ausgang der Sizilien-Expedition und die Niederlage Athens sind die Syrakusaner und Gylippos den Athenern überlegen und dies könnte sich hier bereits andeuten; plötzlich werden die Athener »bewegt«, stehen einem Gegner gegenüber, der in der Lage ist, sie in eine κίνησις zu bringen.274 Besonderen Stellenwert erhält diese Beobachtung, wenn man die Bedeutung des athenischen Angriffs in die Betrachtung einbezieht, der letztlich der Ausgangspunkt der Entwicklung Syrakus’ zu einem »kinetischen« Charakter ist.275 Athen ist somit erneut durch ihre Handlungen selbst für κίνησις verantwortlich, die sich auf sie negativ auswirkt. Dennoch scheint auch Syrakus die Situation nicht vollständig zu kontrollieren, denn ihr Vorteil entsteht erst aus den Fehlern Athens, zu denen u. a. auch die Befestigung des Plemmyrions gehört, wie das Narrativ zeigt. Diese Interpretation bezüglich der Einordnung der Stelle in ein Gesamtkonzept kann auch dann aufrechterhalten werden, wenn hier die Athener gemeint sind, die sich bewegen, denn am Ende unterliegen sie den Peloponnesiern und Syrakusanern ja auch durch ihren Versuch, mittels einer κίνησις (ausgedrückt im κινῶνται) die Kontrolle zurückzuerhalten. Dieser Versuch schlägt jedoch fehl, sodass diese Strategie weder lang- noch kurzfristig als erfolgreich dargestellt wird. Somit kann aus beiden Lesarten (die Athener aktiv, die Athener passiv, bzw. die Syrakusaner aktiv) die gleiche Aussage bezüglich eines möglichen Ge271 Vgl. Gomme IV, S. 381: »[…] so that although the arrival of Gylippos was a surprise to them […].« Dass die Syrakusaner nicht an eine Unterstützung vom Peloponnes geglaubt haben, zeigt sich auch in VI, 103, 3 und VII, 2, 1.  272 Vgl. unten Kap. 4.4.4. Vgl. auch Hornblower III, S. 546. Schon in VI, 93, 1–3 wird die Entscheidung, Gylippos zu entsenden, als Ergebnis des Drängens des Alkibiades dargestellt, der den Lakedaimoniern in VI, 91–92 die Notwendigkeit entschlossenen Handelns im Krieg gegen Athen aufzeigt. Vgl. zum direkten Eingreifen in Sizilien Hornblower III, S. 518 und zur Rolle des Alkibiades in Sparta Baltrusch, Sparta, S. 142–149. 273 Zur Ausgestaltung des Kommandos des Gylippos über das Heer Syrakus’ auf Sizilien vgl. Gomme IV, S. 380–382. Die Zentralität des psychologischen Aspekts bereits in der ersten Seeschlacht nach Gylippos’ Ankunft unterstreicht Connor, Thucydides, S. 190. 274 Vgl. zur Entwicklung der Syrakusaner Connor, Thucydides, S. 191. 275 Vgl. Luginbill, Illusions, S. 35.

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samtkonzeptes entwickelt werden: Das Verhalten der Athener in der μεγίστη κίνησις, durch ihren Charakter ständig auf die Intensivierung derselben ausgelegt, führt dazu, dass sie schließlich ihren Gegnern unterliegen. Einige Interpretationen sehen insgesamt im Verhalten des athenischen Heeres auf Sizilien einen Verlust des ursprünglichen Charakters aus der Korintherrede,276 was den hier vorgestellten Deutungen z. T. widersprechen würde. Dazu muss angemerkt werden, dass sich Thukydides’ Beschreibungen auf das Heer der Athener in Sizilien und vor allem in VII, 42, 3 konkret auf Nikias beziehen, während die Polis selbst jedoch in ihrem Charakter gleichbleibt, was beispielsweise in VIII, 1, 3 gut zu sehen ist – trotz der eigentlich hoffnungslosen Lage unternimmt Athen alles, um den Krieg weiterzuführen. Was somit hier plausibler als ein Wandel des kollektiven Charakters herausgearbeitet werden kann ist der »unathenische« Charakter des verantwortlichen Feldherren – des Nikias. Erst seine Entscheidungen führen dazu, dass das athenische Heer so untypisch agiert, sie scheinen der Situation unangemessen zu sein und führen schließlich dazu, dass das Heer die Kampfeslust verliert.277 Somit wird in der Schilderung der Sizilien-Expedition der Charakter des Heeres auf Nikias’ Verhalten in der κίνησις zurückgeführt – der Verlust der Kampfmoral ist auf seine Entscheidungen als General zurückzuführen.278 Dadurch könnte auch hier die Begriffsverwendung als eine Illustration des Verhältnisses von Mensch und κίνησις am Beispiel des Nikias interpretiert werden. Athens Entscheidung, Sizilien anzugreifen, ist Ausdruck ihres typischen Charakters, κίνησις voranzutreiben, Nikias’ Fähigkeiten, sich in dieser angemessen zu verhalten und auf ihre Anforderungen zu reagieren, reichen aber nicht aus, um diese zu einem Erfolg für Athen zu bringen. Anhand der Stelle kann somit auch im größeren Kontext deutlich gemacht werden, dass hier wieder eine Darstellungstendenz abzuleiten ist, die die fehlende Kontrolle des Menschen, der Athener im Allgemeinen und des Nikias im Speziellen, thematisiert.279 Auch die folgenden Stellen machen, neben der ebenfalls immer 276 Vgl. Rawlings III, Structure, S. 89–90; Connor, Thucydides, S. 191. 277 So VII, 72, 4. Auch hier ist der Unterschied zwischen Sparta und Athen in einem Vergleich zu beispielsweise VI, 93, 1 gut zu sehen: die Spartaner sind »aus sich heraus« zögernd und abwägend, die Athener auf Sizilien dagegen verlieren ihre vorwärtsdrängende Art angesichts der konkreten Niederlagen und der hohen Verluste. Auch Connor, Thucydides, S. 191 sieht diesen Bezug, wenn er darauf verweist, dass Demosthenes beispielsweise »ganz athenisch« handelt – und auch er mit seiner Strategie scheitert, vgl. ebd. S. 193. Noch viel fataler für Athen stellt sich jedoch wiederum Nikias’ Zögern in VII, 48, 3 heraus. 278 Auch Rawlings III, Structure, S. 90 geht auf Nikias’ Rolle ein, nicht aber auf die Fokussierung der Darstellung auf sein Handeln als Feldherr. 279 Nikias selbst scheint in VII, 14, 2 darauf hinzuweisen, vgl. Hornblower III, S. 565. Scardino, Reden, S. 610 weist auf die Tendenz hin, die Situation äußeren Faktoren zuzuschreiben statt eigenen Fehlern, was wiederum mit der These in Einklang steht, dass Thukydides den Umgang der jeweiligen Menschen mit den äußeren Faktoren (der κίνησις) im

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mitzudenkenden wörtlichen Bedeutung, die mögliche Verarbeitung einer solchen Darstellungstendenz plausibel, in der vor allem Nikias’ unangemessener Umgang mit κίνησις im Zentrum steht, der die negativen Folgen eines solchen ohnehin schon unkontrollierbaren Prozesses noch weiter verstärkt – bis hin zur Vernichtung des athenischen Heeres. Der Aufbruch des Heeres nach der Mondfinsternis auf Sizilien (VII, 50, 4) Die zweite Verwendung des Kinesis-Begriffs im Zusammenhang mit Nikias markiert ebenso wie die Ankunft des Gylippos280 einen entscheidenden Punkt in der Darstellung der Sizilien-Expedition, denn es handelt sich um die Verzögerung des athenischen Rückzugs. Diese Verzögerung schließlich hat keinen geringen Anteil an der völligen Vernichtung des athenischen Heeres auf Sizilien. Demosthenes plant nach seiner Ankunft mit dem Entsatzheer (42, 1), die Epipolai nördlich von Syrakus zu erstürmen. Dies sollte nachts geschehen, da tagsüber wenig Erfolgsaussichten bestanden. Der Angriff glückt auch zuerst, bis sich den Athenern jedoch die Boioter entgegenstellen und sie in die Flucht treiben (43, 1–7). Dadurch gerät das athenische Heer in Verwirrung, die durch die Nacht noch gesteigert wird, sodass die einzelnen Truppen sich nicht mehr untereinander abstimmen können und es sogar, wie beim Delion, zu Angriffen auf die eigene Seite kommt. Auf der darauf einsetzenden Flucht kommen viele Athener entweder durch den Absturz vom Plateau um oder werden bei Tagesanbruch auf der Ebene von der feindlichen Reiterei getötet (44, 1–8). Durch das Scheitern dieses Planes fassen die Syrakusaner neuen Mut (46, 1), während sich die Lage für das athenische Heer immer weiter verschlechtert (47, 1–2). Demosthenes drängt daraufhin auf den Rückzug über das Meer (47, 3), Nikias dagegen will bleiben, obwohl er die Bedrohlichkeit der Lage ebenfalls erkennt (48, 1). Vor allem soll keine öffentliche Abstimmung über den Rückzug stattfinden, um die Pläne dem Feind nicht zu verraten. Darüber hinaus gibt es in Syrakus eine Partei, die den Athenern die Stadt übergeben will und Nikias durch Boten Blick hat. Nikias als Beteiligtem der Darstellung ist diese Analyse verwehrt, weshalb sich sein eigenes Unvermögen im Umgang mit den konkreten Problemen in 14, 2 dem Leser nur indirekt ausdrückt. Rood sieht in dem Brief ein Beispiel für die Darstellung der schwierigen Situation zwischen der Stadt und ihren Führern, was ebenfalls darauf zurückgeführt werden kann, dass Thukydides hier auch Nikias’ unzureichende Kompetenz, mit dem athenischen Charakter umzugehen, aufzeigen will, vgl. Ders., Thucydides. In: I. J. F. de Jong / R .  Nünlist / A.  Bowie (edd.), Narrators, Narratees and Narratives in Ancient Greek Literature, Leiden 2004, S. 124. Ein weiteres Beispiel dafür ist die gesamte Sizilien-Debatte in Athen, v. a. VI, 24, 1, in der Nikias nicht fähig ist, die Athener von ihrem Unternehmen abzubringen, sondern sie stattdessen noch bestärkt (24, 2): anstatt die κίνησις zu verhindern, hat Nikias sie vorangetrieben. 280 Vgl. oben Anm. 269 in diesem Kapitel.

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Die κίνησις bei Thukydides

vom Abzug abhält (48, 2). So schwankt Nikias schließlich zwischen Abzug und Fortsetzung des Feldzugs, spricht sich aber öffentlich gegen einen Rückzug aus und begründet dies auch mit der Gefahr, die ihm und den anderen Feldherren im Falle eines von der Volksversammlung nicht beschlossenen Rückzugs drohe (48, 3–5). Demosthenes jedoch drängt weiter auf den Abbruch der Belagerung und will das Heer zumindest von Syrakus fort führen, damit es von Katane oder Thapsos aus die Gegend plündern und die Flotte die Syrakusaner nicht mehr in den Buchten, sondern auf dem offenen Meer angreifen könne (49, 1–3). Nikias aber zaudert weiter, so dass mehr Zeit verstreicht (49, 4). Währenddessen ist Gylippos mit einem neuen Heer aus dem Peloponnes und Sizilien in Syrakus eingetroffen, so dass die Feldherren angesichts dieser erneuten Verschlechterung beschließen, den sofortigen Abzug vorzubereiten – an alle geht im Geheimen die Anweisung, sich zum Auslaufen bereit zu machen und auf ein Zeichen hin bereit zu sein (50, 1–3). Als alle bereit sind, ereignet sich eine Mondfinsternis, woraufhin die Mehrzahl die Soldaten aus Sorge die Feldherren auffordert, anzuhalten und Nikias, der nach Thukydides’ Kommentar wohl »etwas zu viel auf Weissagungen und derartige Dinge« gab (ἦν γάρ τι καὶ ἄγαν θειασμῷ τε καὶ τῷ τοιούτῳ προσκείμενος), weigert sich sogar, auch nur darüber zu beraten, ob das Heer nach kürzerer Zeit als den von den Orakeldeutern festgelegten 27 Tagen281 »bewegt werde«: οὐδ’ ἂν διαβουλεύσασθαι ἔτι ἔφη πρίν, ὡς οἱ μάντεις ἐξηγοῦντο, τρὶς ἐννέα ἡμέρας μεῖναι, ὅπως ἂν πρότερον κινηθείη (50, 4). So bleiben die Athener schließlich doch an ihrem ursprünglichen Platz, woraufhin die Syrakusaner, nachdem sie den Versuch des Abzugs bemerkt hatten, sich nun gerade darauf konzentrierten, einen solchen Abzug zu verhindern, da ja der Versuch gezeigt habe, dass sich die Athener Syrakus nicht mehr gewachsen fühlten. Die Syrakusaner erringen schließlich zur See einen bedeutenden Sieg, der die Athener, die ihre Hoffnungen ja auf die Flotte und die Verstärkung unter Demosthenes gebaut hatten, weiter verzweifeln lässt (55, 1–2). Ab diesem Moment gibt es für das athenische Heer eigentliche keine Hoffnung mehr, da auch ihre Überlegenheit zur See zerstört worden ist – die Syrakusaner denken nun nicht mehr an ihre Rettung, sondern gehen im Gegenteil sogar in die Offensive, denn sie kreuzen frei vor der Küste und können die Einfahrt in die Bucht nach Belieben sperren. (56, 1–2). Die Umstände der Rückzugsbewegung, gegen die sich Nikias entscheidet, verleihen dieser bereits bekannte Charakteristika, auf die die Bezeichnung als κίνησις zurückgeführt werden kann. So ist der Rückzug Ergebnis des Scheiterns der bisherigen Strategien und Pläne, die vollständige Kontrolle über die Belagerung von Syrakus zurückzugewinnen, sowie vor allem der erneuten Verstär-

281 Zum religiösen Hintergrund vgl. Classen-Steup VII, S. 130; Hornblower III, S. 644.

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kung durch die peloponnesischen und sizilischen Truppen unter Gylippos. Der Rückzug ist dem athenischen Heer damit mehr oder weniger aufgezwungen; zur Verbesserung ihrer eigenen Situation ist eine Verlegung des Heeres alternativlos, wie Demosthenes in 49, 2 aufzeigt.282 Des Weiteren ist der Rückzug auch das Eingeständnis des Verlustes von Kontrolle über die Situation, die spätestens seit Gylippos’ Rückkehr eindeutig zu erkennen ist. Diese Unkontrollierbarkeit der Situation spiegelt sich in der Verheimlichung der Rückzugspläne, auf der Nikias so vehement besteht (48, 1; 50, 3) – der Rückzug an sich ist insofern eine κίνησις, als dass die Athener ihn nur unternehmen, da sie keine Kontrolle mehr über die bisherige Situation besitzen und eine Veränderung generieren müssen. Die Bewegung des Heeres soll ihnen also Kontrolle zurückgeben, womit die Athener wiederum nach ihrer bisherigen Darstellung typisch agieren. Das Scheitern der ursprünglichen Pläne des Demosthenes283 rückt die Bewegung in einen Kontext der fehlenden Planbarkeit und Vorhersehbarkeit, ebenso die Fokus­sierung auf die Verheimlichung vor den Feinden, denn in dieser zeigt sich, wie unsicher ein Gelingen des Unternehmens angesichts der guten Ausgangslage der Feinde ist. Damit wird der Rückzug auch zu einer Hoffnung, deren Ausgang ungewiss ist und schon allein die Sorge der Soldaten ob der Mondfinsternis zeigt ihre Verunsicherung bezüglich eines guten Ausgangs der gesamten Expedition an. Die durch den Kontext erkennbare Alternativlosigkeit zur Verlegung des Heeres wiederum erinnert an den Aspekt des Zwangs durch Einfluss von außen: Die Athener können auf die konkrete Situation keinen Einfluss mehr derart nehmen, dass sie sich aus eigener Kraft und Initiative in eine bessere Lage bringen, sodass ihnen nur noch das Verlassen der bisherigen Situation bleibt. Die Athener reagieren also auf die ihnen aufgezwungene Situation mit dem scheinbar einzig Möglichen, dem Versuch des Rückzugs. Fehlende Kontrolle und Alternativ­ losigkeit zeigen sich in den vorangegangenen Kapiteln immer deutlicher; so ist es vor allem die Krankheit, die neben der feindlichen Bedrohung die Lage des Heeres verschlechtert und die dem Wetter und dem Lagerplatz geschuldet ist (47, 2). Damit sind, über das Kriegsglück hinaus, Faktoren angesprochen, die dem direkten Einfluss der Menschen in dieser Situation entzogen sind, so dass nur eine Verlegung des Heeres in Frage kommen kann. Aus dieser Perspektive ist der Rückzug selbst zwar vorbereitet, geplant, geordnet und kontrolliert, geschieht aber aus einer Situation heraus, die all dies nicht ist. Aufgrund der

282 Strauss, City, S. 206 führt das Scheitern der Pläne des Demosthenes auf Nikias’ Verhalten zurück. 283 Demosthenes scheint im Allgemeinen eine richtige Analyse der materiellen Situation zugeschrieben zu werden, auch wenn sein Plan des Angriffs auf die Epipolai fehlschlägt. Seine Voraussicht bezüglich der Möglichkeit eines Abzugs bewahrheitet sich durch die Verzögerung und Nikias’ Widerstand nicht, vgl. Connor, Thucydides, S. 193–194.

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Die κίνησις bei Thukydides

Unsicherheit seines Erfolges wird aber auch der Rückzug selbst Teil dieser be­ drohlichen Situation für die Athener und kann damit als eine κίνησις bezeichnet werden. Die gesamte Darstellungstendenz lässt sich aufgrund des Kontextes noch vielschichtiger interpretieren, denn die Idee des Rückzugs selbst wird von Thuky­ dides nicht als falsch dargestellt. Das eigentliche Scheitern entsteht erst durch die Verzögerung, ausgelöst durch die Mondfinsternis, verstärkt durch den Feldherren Nikias. Das Scheitern des Rückzugs und dessen Beobachtung durch die Feinde führen dazu, dass die Syrakusaner ihre Chance wittern und daher einen Abzug unbedingt verhindern wollen. Somit führt der gescheiterte Rückzug zu einer positiven psychologischen Wirkung bei den Gegnern der Athener284 und zur vorletzten Seeschlacht, deren Ausgang den weiteren Verlauf entscheidend bestimmt, wie in Kapitel 59, 2 deutlich wird – die Syrakusaner wollen nun die gesamte Streitmacht der Athener in ihre Gewalt bekommen. Damit hängt auch die Fatalität des Ausgangs der Sizilien-Expedition für die Athener unmittelbar mit diesem Rückzugsversuch zusammen. Dagegen ist nicht klar, ob sich die Athener nicht vielleicht doch durch einen geglückten Rückzug noch einmal in eine aussichtsreichere Position hätten bringen können. Gerade aber die Unklarheit des Ergebnisses und damit die fehlende Planbarkeit sind Aspekte, die mit dem Kinesis-Begriff bei Thukydides anscheinend immer wieder verbunden zu sein scheinen. Dies wird auch dadurch deutlich, dass Nikias weiß, dass der Rückzug heimlich geschehen muss, um die Feinde nicht noch zu bestärken, dass also ein Scheitern des Rückzugs eigentlich überhaupt nicht passieren darf – während aber die derzeitige Lage der Athener genauso schlecht für diese ist. Das athenische Heer befindet sich damit in einer Lage, die wenig Entscheidungsspielraum bietet. Der Rückzug ist kein taktischer Rückzug, sondern eine der letzten Möglichkeiten, sich noch aus einer Situation zu retten, in der man kaum noch Kontrolle über das Geschehen hat – mit der Gefahr, diese Situation noch einmal zu verschärfen. Aufgrund dieser Aspekte scheint auch hier der Kinesis-Begriff mit der fehlenden Kontrollmöglichkeit des Menschen über die Situation verbunden zu sein und mit der daraus für ihn entstehenden Gefahr. Die mögliche Verschlechterung der eigenen Situation realisiert sich schließlich im weiteren Verlauf der Darstellung eindeutig.285 284 Vgl. Connor, Thucydides, S. 194–195. 285 Vgl. v. a. Kapitel 55–56 und die dort geschilderten Ziele der Syrakusaner, die diese im Anschluss an den unerwarteten Seesieg entwickeln. Ausgangspunkt ist auch hier die Entscheidung für den Abzug und Thukydides zeichnet diese Entwicklung deutlich nach: die Syrakusaner werden durch den Abzug selbstsicherer (51) und suchen die Seeschlacht, die sie gewinnen (52), woraufhin sie nicht nur die eigene Rettung, sondern den Sieg über die Athener anstreben (56), weshalb sie die Ausfahrt sperren (59, 2), was schließlich zur entscheidenden letzten Seeschlacht als Versuch der Durchbrechung der Blockade (70, 2–71) und durch die Niederlage der Athener zu ihrem fatalen Schicksal führt.

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In diesem Zusammenhang ist auch auf die Passivform von κινηθείη einzugehen: Das Heer, welches sich in der oben beschriebenen aussichtlosen Lage befindet, bewegt sich nicht selbst, sondern wird bewegt, ihm wird also jegliche Eigeninitiative abgesprochen. Auch hier wird evoziert, dass das Heer die Situation selbst nur noch begrenzt beeinflussen kann – die Bewegung ist alternativlos und wird damit durch die äußeren Umstände den Menschen aufgezwungen, was ebenfalls an die bekannte Charakteristik des Einflusses von außen erinnert. Darüber hinaus scheint κινηθείη auch eine doppelte Funktion zu haben: Einmal ist der Passiv aus der Perspektive des Nikias zu erklären, der den Befehl über das Heer hat und es daher bewegen kann. Da Nikias sich nun mit dem Heer in der oben ausgeführten Situation befindet, ist der Rückzug angesichts der Unsicherheiten und der gesamten Lage des Heeres nicht einfach nur ein strategisches »Verlegen« der Truppen, sondern tatsächlich eine κίνησις, deren Erfolg, wie der Versuch der Verheimlichung zeigt, auch noch ungewiss ist. Andererseits aber kann κινηθείη auch auf den Grund des Rückzugs bezogen werden, nämlich die akute Bedrohung durch die Situation (πόνηρα σφῶν τὰ πράγματα in 48, 1). Aus dieser Perspektive wird die Rückzugsbewegung als ein »In-Bewegung-versetzen« aufgrund der Bedrohung verstanden, die über dem Heer in Form der Syrakusaner und ihrer Verbündeten in nächster Nähe schwebt. Somit könnte sich im Passiv von κινηθείη nicht nur die Kommandostruktur wiederspiegeln, sondern auch die Bedrohung des Heeres von außen, die es zur Bewegung zwingt. All diese Konnotationen lassen sich zusammen mit der eigentlichen physikalischen Bewegung des Heeres, die hier natürlich auch gemeint ist, aus der Stelle rekonstruieren. Dass Thukydides mit der Verwendung des Kinesis-Begriffs auf bestimmte Aspekte der Situation hinweisen könnte, ist vor allem vor dem Hintergrund plausibel, dass er an anderen Stellen des Werkes für Rückzugsbewegungen beispielsweise das Verb ἀναχωρεῖν verwendet: So z. B. beim Rückzug des Knemos zum Anopos nach dem missglückten Angriff auf Stratos (II, 82, 1) oder im Hilfegesuch der Amprakioten in III, 105, 4. Es ist sicherlich möglich, dass Thukydides nicht immer dasselbe Wort verwenden muss, um den gleichen Prozess zu beschreiben, doch scheinen sich diese Rückzugsbewegung von derjenigen des athenischen Heeres gerade durch ihr geringeres Gefahrenpotential und ihre größere Ordnung zu unterscheiden: Der Rückzug des Knemos findet unter anderen Umständen statt als der des athenischen Heeres, er weist nicht dieselbe Intensität an Kontrollverlust auf. Dass es hier gerade die Athener sind, die »bewegt werden« und die Entscheidung über diese Bewegung in der Hand des Nikias liegt, lässt sich kohärent in die bisher rekonstruierten möglichen Darstellungstendenzen im Werk einordnen. So entspricht ja, wie schon erwähnt, die Entscheidung für eine κίνησις dem athenischen Charakter ganz besonders, während aber die Umstände und das letztendliche Scheitern des Versuches ebenfalls zur allgemeinen Darstellungsentwicklung Athens in Verbindung mit

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Die κίνησις bei Thukydides

dem Begriff selbst passen. Mit der Entscheidung, hier den sonst seltenen Kinesis-Begriff zu bemühen, könnte Thukydides somit nicht nur den reinen historischen Vorgang des Rückzugs beschreiben, sondern gleichzeitig auch auf seine Umstände hinweisen, sowie auf den Umgang der Figur des Nikias in diesem Kontext eingehen. Bereits im Rahmen der ersten Verwendung im siebten Buch konnten erste Skizzen eines Bildes des Nikias festgestellt werden, der nicht fähig ist, sich in einer κίνησις zum eigenen Vorteil zu verhalten, diese für sich zu nutzen und angemessen auf sie zu reagieren. Der Befestigung des Plemmyrions lag ja die Überlegung zu Grunde, den Athenern einen besseren Umgang mit κίνησις zu ermöglichen, was jedoch im Nachhinein zu einem Nachteil für das athenische Heer führte. Dieses Bild wurde durch sein Verhalten in der Sizilien-Debatte und seine Ausführungen im Brief an die Volksversammlung gestützt.286 An dieser Stelle in VII, 50, 4 erfährt es außerdem eine bedeutende Vertiefung, denn Nikias wird damit durch sein Zögern als Hauptschuldiger an der drastischen Verschlechterung der Lage der Athener auf Sizilien dargestellt.287 Thukydides könnte durch die Verwendung des Begriffes die Darstellung des Nikias im Rahmen eines allgemeinen Darstellungskonzeptes hier hervorragend verarbeiten, indem er die Aspekte der historischen Situation mit Nikias’ Verhalten in ihr verknüpft, denn die Auseinandersetzung des Nikias mit κίνησις findet in dieser Schilderung einen Höhepunkt. Nachdem sein Umgang mit ihr, einmal mit dem athenischen »kinetischen« Charakter in der Sizilien-Debatte, bzw. mit den Soldaten, dann bezüglich der Befestigung des Plemmyrions, von Rückschlägen geprägt wurde, ist er nun noch nicht einmal mehr bereit, auch nur über κίνησις zu diskutieren: οὐδ’ ἂν διαβουλεύσασθαι ἔτι ἔφη πρίν […] ὅπως ἂν πρότερον κινηθείη. Nikias ist, wie auch seine Schilderung in den Kapiteln 48–50 deutlich macht, von jeglicher Entschlossenheit weit entfernt, er will jeden Umgang mit κίνησις vermeiden.288 Dass seine Gründe dabei durchaus nachvollziehbar sind (Hoffnung auf Übergabe durch Verräter in 48, 2, etc.), beeinflusst die grundlegende Konzeption nicht. Gezeigt werden könnte hier nicht nur der »unathenische Nikias«,289 sondern insbesondere auch ein unzureichendes Vermögen, den kinetischen Elementen des historischen Geschehens, also die, die durch ihre Charakteristik mit dem Kinesis-Begriff bezeichnet werden, zu begegnen und sich adäquat zu verhalten und auf die Anforderungen der Situation zu reagieren.290 Dem Charakter 286 Vgl. Strauss, City, S. 201 auch mit Bezug zur Pylos-Debatte. 287 Vgl. Connor, Thucydides, S. 194. 288 Dies entspricht auch seiner Darstellung in der Pylos-Debatte, vgl. Gribble, Individuals, S. 460. 289 Vgl. ebd. S. 459. 290 Ganz besonders deutlich wird dies in seiner »Angst«, sich bei einem Abzug vor den Athenern rechtfertigen zu müssen und vor ihrem Urteil in 48, 3–5, die Gribble, ebd. S. 460 auf

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Athens entspricht Nikias aufgrund seiner zögernden und zaudernden Art offensichtlich nicht, aber dies ist nur ein Aspekt seiner Darstellung, denn weitaus vielschichtiger wird sein Verhalten angesichts der auftretenden κίνησις dargestellt, wie die Analyse der Stelle VII, 50, 4 und ihrer Verbindung zu weiteren Stellen im sechsten und siebten Buch zeigt.291 Aufgrund der Seltenheit des KinesisBegriffs im Werk eröffnet sich die Möglichkeit einer Interpretation, nach der Thukydides den Nikias sich explizit gegen κίνησις (wortwörtlich sogar) stellen lässt. Dies steht darüber hinaus in Einklang mit seiner Darstellung an anderen Stellen im Werk: Schon den Frieden, von Thukydides mehrmals mit »Ruhe« assoziiert,292 betreibt er mit Nachdruck, um den eigenen Erfolg zu sichern293 und versucht damit, die μεγίστη κίνησις zu beenden, was, wie der Leser weiß, fehlschlägt; von der Sizilien-Expedition, die als eine Intensivierung der μεγίστη κίνησις interpretiert werden kann, will er die Athener abbringen und scheitert damit; die Befestigung des Plemmyrions als Versuch, mit κίνησις besser umgehen, bzw. sie nutzen zu können, richtet sich schließlich gegen ihn selbst; und dann trägt der Abbruch des Abzugs und die Entscheidung gegen die Beratung zur Initiative einer κίνησις entscheidend zur Niederlage Athens auf Sizilien und zu seinem eigenen Ende bei. Da all diese Ereignisse im Rahmen der μεγίστη κίνησις stattfinden, können die einzelnen Komplexe als Schaubilder gedeutet werden, die Nikias’ Verhalten in der μεγίστη κίνησις insgesamt illustrieren und dabei gleichzeitig die Frage nach der Angemessenheit dieses spezifischen Verhaltens in der κίνησις erörtern. Der Versuch, die κίνησις gänzlich zu vermeiden, wird anhand der Figur des Nikias und den Konsequenzen seiner Handlungen als zum Scheitern verurteilt dargestellt. Er wird damit in gewisser Weise »spartanisch«.294 Die μεγίστη κίνησις, deren Ausdrucksformen sich Nikias in der Sizilien-Debatte, am Plemmyrion und auf Sizilien selbst immer wieder gegenübersieht, ist unvermeidbar und sein Versuch, ihr zu entgehen, führt in die Katastrophe und nicht zum Erfolg.295 Doch Nikias allein ist nicht der Grund für Nikias’ »inability to convince them« zurückführt. Nikias wird hier als einer der Nachfolger des Perikles in II, 65, 10 charakterisiert, die sich den Launen des Volkes beugen, vgl. auch Westlake, Individuals, S. 94–95. 291 Dover, Thucydides VII, S. 43–44, Gomme IV, S. 428–429 und Hornblower III, S. 643 weisen darauf hin, dass Thukydides nicht Nikias’ Glauben an die Bedeutung der Orakel und Weissagungen, der dem der Soldaten vergleichbar ist, an sich kritisiert, sondern dass Nikias’ Umgang mit dem Phänomen in diesem Moment in dieser Position fatal war. Dies entspricht der vorgestellten These der thukydideischen Betrachtung des individuellen Umgangs mit den jeweiligen Aspekten der konkreten Situation. So sei, nach Dover und Gomme, es in diesem Moment zentral gewesen, die Soldaten davon zu überzeugen, trotz der Mondfinsternis und der Deutung der Seher weiterzuziehen. 292 So z. B. in der Korintherrede I, 71, 3 oder in V, 16, 1. 293 Thuk. V, 16, 1. 294 Vgl. Stimson, Characterization, S. 12. 295 So schon Strauss, City, S. 200–203.

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Die κίνησις bei Thukydides

diese Katastrophe, sondern das Zusammenspiel vieler Faktoren, die letztendlich alle in irgendeiner Weise auf das Thema der Bewegung im Werk zurückgeführt werden können. So entscheiden sich die Athener gemäß ihrem Charakter für die Intensivierung der μεγίστη κίνησις, doch unterstellen das Kommando einem General, der für ein erfolgreiches Nutzen dieser Intensivierung ungeeignet zu sein scheint. Gleichzeitig werden die Spartaner von Alkibiades regelrecht angetrieben (ὁ Ἀλκιβιάδης παρώξυνέ τε τοὺς Λακεδαιμονίους καὶ ἐξώρμησε, VI, 88, 10), Syrakus zu unterstützen und Syrakus selbst wird nun durch das Eingreifen der Peloponnesier agiler. Die Athener werden also von den Folgen ihrer eigenen Intensivierung überrollt, ihre Feinde dagegen schaffen es, indem sie selbst die Initiative ergreifen, die Situation zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen und in der anschließenden Seeschlacht einen bedeutenden Sieg zu erringen. So muss jedoch die Beobachtung Leo Strauss’, dass in dieser Schlacht »the Athenians have become Spartans and the Athenians’ enemies have become Athenians«296 modifiziert werden, denn von einem Wechsel der Charaktere kann keine Rede sein. Es zeigen sich hier schließlich keine »Charaktere«, sondern eher verschiedene Formen des Umgangs mit κίνησις, verschiedene Handlungsformen und Reaktionen, die schließlich in der Niederlage der Athener münden. Da diese erst dadurch möglich wird, dass sich Nikias vehement gegen eine κίνησις des Heeres entscheidet, könnte es sich hier wieder um die Illustration menschlichen Verhaltens angesichts der Herausforderungen einer κίνησις handeln, deutlich gemacht an einem Exemplum in Verbindung mit der Verwendung des Begriffs. Interessant dabei ist auch, dass Thukydides in der Schilderung der anfänglichen Erfolge des Nikias auf Sizilien den Kinesis-Begriff, trotz zahlreicher Bewegungen, nicht verwendet, sondern nur zweimal im Rahmen von Entscheidungen, deren Konsequenzen für die Soldaten unter seinem Kommando und schließlich auch für ihn fatal sind. So scheint Thukydides damit auch implizit zu zeigen, dass Nikias’ Art und Weise, mit den Anforderungen des historischen Prozesses, der μεγίστη κίνησις, umzugehen, unangemessen war – soweit es bei einem Prozess, in dem menschliche Kontrolle sowieso schon unmöglich zu sein scheint, überhaupt »angemessenes« Verhalten geben kann. Zumindest aber ist Nikias’ Zögern hier fatal – seine Vermeidung von κίνησις, die in der religiös begründeten Wartezeit nach der Mondfinsternis ausgedrückt sein könnte, erweist sich als großer Fehler, der die Athener schließlich in eine vollständig unkontrollierbare Situation bringt. An der Figur des Nikias könnte so gezeigt werden, inwiefern der Versuch, sich einer κίνησις zu entziehen, fehlschlagen muss, da es nicht in der Entscheidungsgewalt des Menschen liegt, sich mit diesem Prozess aus­ einanderzusetzen oder nicht – der Prozess ist damit in jeglicher Hinsicht »über-

296 Strauss, City, S. 206.

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menschlich«, sein Auftreten und damit der Zwang zur Auseinandersetzung sind alternativlos. Gylippos’ Rede an die Soldaten VII, 67, 2 Die letzte Stelle im siebten Buch, an der Thukydides den Kinesis-Begriff verwendet, ist erneut Teil eines zentralen Moments des Narrativs der SizilienExpedition kurz vor Beginn der letzten Seeschlacht, die zur Vernichtung des athenischen Heeres auf Sizilien führt und die die Hoffnung der Athener auf Rettung durch ihre Überlegenheit zur See nicht zuletzt aufgrund ihrer psychologischen Wirkung297 zunichtemacht. Die Seeschlacht stellt für die Athener die letzte Möglichkeit dar, die Blockade des großen Hafens zu durchbrechen und zurückzusegeln, während für die Syrakusaner und ihre Verbündeten die Verhinderung des Abzugs zu Wasser und zu Lande im Zentrum ihrer Handlungen seht, welche Thukydides selbst als »nicht unbedeutend« bezeichnet: ὀλίγον οὐδὲν ἐς οὐδὲν ἐπενόουν (59, 3).298 Auf die Frage, warum sie in die Betrachtung des ­Nikias integriert wird, ergibt sich die Antwort aus dem Kontext, denn G ­ ylippos spricht über eine κίνησις, die dem athenischen Plan, die Fußsoldaten auf die Schiffe in der letzten, alles entscheidenden Seeschlacht zu schicken, inhärent ist, sodass die »Bewegung der Schiffe« für den Erfolg des Plans eine Gefahr darstellt – was schließlich durch das Narrativ bestätigt wird. Ihr Feldherr Nikias jedoch scheint diese Gefahr entweder nicht zu sehen, oder aber keine bessere Alternative zu ihr zu haben, sodass es also auch hier wieder Nikias ist, der, zusammen mit seinem Heer, an einer κίνησις scheitert, und es scheint bezeichnend zu sein, dass Thukydides nicht Nikias selbst, sondern seinen Gegner Gylippos die damit verbundene Gefahr erkennen und ansprechen lässt. Die bereits erwähnten Konsequenzen des nicht durchgeführten Abzugs von Syrakus, Stärkung der Motiviation der Syrakusaner und ihrer Verbündeten, gipfeln in der letzten Seeschlacht im großen Hafen von Syrakus. Entscheidend dafür ist die vorangegangene Seeschlacht im Anschluss an den versuchten Abzug, aus der die Syrakusaner als Sieger hervorgehen, woraufhin die Athener noch mutloser, die Syrakusaner noch motivierter werden: Nun scheint es möglich, die gesamte Streitmacht in ihre Gewalt zu bekommen, weshalb die Ausfahrt des Hafens blockiert wird (59, 2). Diese Blockade führt zum Kriegsrat der Athener, die sich dafür entscheiden, alle Befestigungen zu räumen und nur einen kleinen Raum an der Küste zu halten und die gesamten Truppen, auch das Fußvolk, auf die Schiffe zu schicken, um eine alles entscheidende Seeschlacht liefern 297 Vgl. Kopp, Seeherrschaft, S. 98 und S. 194–195. 298 Es sei hier vor allem auf die stilistisch äußerst ausgefeilte Formulierung des Satzes durch die Verbindung von Negationshäufung und Alliteration hingewiesen.

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zu können. Bei einem Scheitern soll der Rückzug zum nächsten verbündeten Ort über Land durchgeführt werden (60, 1–2). Nachdem alle Vorbereitungen abgeschlossen sind, will Nikias die aufgrund der unerwarteten (παρὰ τὸ εἰωθὸς (60, 5)) Niederlagen mutlosen und unter dem Lebensmittelmangel leidenden Soldaten mit einer Ansprache aufbauen (60, 3–5). Nikias weist auf die Zufälle und unvorhersehbaren Wendungen des Krieges hin und dass man auf die Tyche hoffen könne (61, 1–3). Auch legt er den Soldaten den Vorteil dar, den die gewählte Taktik seiner Meinung nach habe: aufgrund der Enge sei die Seeschlacht wie eine Landschlacht zu schlagen und die feindlichen Schiffe zu entern (62, 1–4). Zum Schluss erinnert er die Athener daran, dass ihre Stadt ohne Schiffe und Truppen sei und dass bei einer Niederlage die Feinde dorthin segelten, sodass die Daheimgebliebenen die alten und neuen Feinde nicht abwehren könnten. Sie selbst würden in die Gewalt der Syrakusaner geraten, die Athener in Griechenland in die der Lakedaimonier – sie sollten sich an die großen Pläne erinnern, mit denen sie gegen die Sizilier ausgezogen seien. Die Rettung der Stadt, sowie ihre eigene, hänge nun ganz von ihrem Mut und ihrer Erfahrung ab (64, 1–2). Gylippos’ Ansprache beginnt in Kapitel 66 mit einer Erinnerung an das bereits Erreichte und die Erfolge gegen die Athener, was auch einen Sieg in der kommenden Schlacht wahrscheinlich mache (66, 1–3). Die eigene Position sei durch gesteigerte Erfahrung und Zuversicht durch erzielte Erfolge gestärkt, den Änderungen an den athenischen Schiffen sei man mit Gegenmaßnahmen begegnet. Besonders entscheidend sei, dass nun entgegen ihrer sonstigen Art (παρὰ τὸ καθεστηκός) Landtruppen auf den Verdecken stünden, die zur Ausführung ihrer Attacken kaum Platz hätten – wie sollten sich diese, fragt Gylippos rhetorisch, aufgrund der ungewohnten Art der Bewegung nicht gegenseitig verwirren: ἐν σφίσιν αὐτοῖς πάντες οὐκ ἐν τῷ ἑαυτῶν τρόπῳ κινούμενοι ταράξονται (67, 2)? Die Taktik zeige, so Gylippos, dass sich die Athener in ihrer derzeitigen Situation nur dem Zufall ausliefern könnten (67, 1–4). Gegen diese Unordnung (ἀταξίαν) und Schicksalsergebenheit der Feinde (τύχην ἀνδρῶν ἑαυτὴν παραδεδωκυῖαν πολεμιωτάτων) solle man mit Zorn (ὀργῇ) angehen, überzeugt, dass die Rache und die Vergeltung berechtigt und verdient seien (68, 1); denn es gehe nun gegen die schlimmsten Feinde, gekommen, um das Land zu erobern und allen das Schlimmste zuzufügen. In den Kapiteln 69, 3–71, 7 beschreibt Thukydides dann den Verlauf der Seeschlacht, die bekanntlich mit der Niederlage der Athener endet und diese in eine so katastrophale Lage bringt, dass sie noch nicht einmal daran denken, ihre Toten zu bergen (72, 2).299 Der Vorschlag des Demosthenes, ein zweites Mal die Ausfahrt zu versuchen, scheitert am Unwillen der Soldaten, noch einmal die Schiffe zu besteigen (72, 3–4), sodass dem Heer nur der Rückzug auf dem Land299 Zur Bedeutung vgl. Hornblower III, S. 703.

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weg bleibt, auf dem sie schließlich von den Syrakusanern aufgerieben werden, wie Thukydides bis zum Ende des siebten Buches (75–87) berichtet. Auch hier beschreibt der Kinesis-Begriff zwar in erster Linie eine physikalische Bewegung, doch sowohl die Rede des Nikias als auch die des Gylippos weisen auf die Besonderheiten hin, unter denen sie stattfindet. Beide Feldherren nämlich betonen den Zufall und vor allem Gylippos zeigt auf, dass die Athener kaum Alternativen dazu haben ihre Landtruppen einer solchen κίνησις auszusetzen. Dazu birgt die Bewegung, aufgrund der Tatsache, dass die Soldaten sie nicht gewohnt seien, potentiell die Gefahr des Nachteils – dessen scheinen sich Gylippos und Nikias bewusst zu sein. Über die eigentliche physikalische Bewegung hinaus ist es auch hier wieder möglich mittels der Aspekte der speziellen Situation Verknüpfungen zu anderen Stellen im Werk zu bilden, in denen der Kinesis-Begriff in einer ähnlichen Art und Weise verwendet wird und Situationen prägt, die solche Aspekte des Zufalls, also der fehlenden menschlichen Kontrolle, sowie des Zwangs und der Gefahr, tragen. Gerade der Aspekt fehlender Kontrolle kann durch die Unordnung und Verwirrung der Truppen (ταράξονται) ausgedrückt werden. Die Soldaten, die da wortwörtlich »bewegt werden« (κινούμενοι), bekommen die negativen Auswirkungen direkt zu spüren. Anhand der Fußsoldaten, die bewegt werden, wird deutlich, inwiefern Thukydides im Gegensatz zu den Vorsokratikern den Menschen selbst im Blick hat, der sich mit κίνησις auseinandersetzen muss. Bei Xenophanes beispielsweise war der höchste Gott κινούμενος οὐδέν und genau diese »Unbeweglichkeit« hob ihn von allen anderen Wesen ab. Bei Thukydides nun wird gezeigt, wie der Mensch als κινούμενος handelt, mit welchen Situationen er konfrontiert ist und wie sich diese auf ihn auswirken – und dabei sind alle Fußsoldaten gleichermaßen (πάντες) bewegt. Während die Vorsokratiker darum bemüht waren, κίνησις durch höher gestellte Prinzipien zu organisieren und begreifbar zu machen, richtet sich Thukydides’ Blick auf die Menschen in diesem Prozess, in den sie zwangsläufig, wie die athenischen Fußtruppen, zu geraten scheinen und in dem ihnen die Kontrolle entzogen ist, wie die Hinweise auf den Zufall nahelegen. Obwohl der Mensch durch seine Entscheidung, die Fußtruppen auf die Schiffe zu stellen und diese gegen die Absperrung fahren zu lassen, die konkrete hier benannte Bewegung selbst initiiert, ist aber diese Entscheidungen zwangsläufig der Situation geschuldet, in der sich die Menschen befinden, wie 60, 3–4 deutlich macht: Aufgrund der schlechten Lage des Heeres müssen die Fußtruppen an Bord. Versteht man nun diese Situation als ein Ergebnis vorangegangener Handlungen und Entscheidungen in anderen Situationen, wird einmal mehr das einzelne Ereignis mit der μεγίστη κίνησις als übergeordnetem Rahmen, der sich in seiner Gesamtheit der Kontrolle durch den Menschen entzieht, verbunden. Hier könnte die Darstellung erneut als exemplarisches Schaubild dienen, um zu zeigen, wie eine Situation durch menschliche Entscheidungen und Handlungen die Charakteristik erhält, die sie

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zu einer κίνησις macht. Gleichzeitig ist diese Situation Bestandteil der μεγίστη κίνησις, da sie als Ereignis im Konflikt zwischen Athen und Sparta auch Teil der Darstellung des Thukydides ist. In diesem größeren Kontext ist die betreffende Situation nicht ex nihilo entstanden, sondern erneut eine Ausdrucksform der μεγίστη κίνησις, an der das Verhalten der Menschen in ihr sichtbar wird – die Athener sind ja erst durch ihr Handeln in der μεγίστη κίνησις in diese Situation gekommen, konkret durch ihre ständige Intensivierung dieser. Eine Folge dieser Intensivierung ist nun, dass sie selbst bewegt werden und mit den Auswirkungen von Bewegung konfrontiert werden. Dabei bleiben die Athener weiterhin ihrer Linie treu: Durch ihre Entscheidung, die Landtruppen auf den Schiffen ein­zusetzen, intensivieren die Athener letztendlich die Aspekte der Situation, die sie für sie selbst zu einer κίνησις machen: Unkontrollierbarkeit, fehlende Planbarkeit, usw. Der Gegensatz zur Weigerung der Soldaten in 72, 4, die gleiche Strategie noch einmal zu versuchen, stellt dabei eine interessante Konstellation her: In diesem Moment, vor der letzten Seeschlacht, scheint sich die geplante Strategie als einzige Möglichkeit zur Flucht zu Wasser dargestellt zu haben, weshalb sie alternativlos war. Die Schilderung des Elends, das den Abzug über Land begleitet, scheint dies zu bestätigen. Somit sind die Menschen, hier die Athener, durch die Umstände dazu gezwungen, sich mit κίνησις auseinanderzusetzen und tragen durch ihre konkreten Entscheidungen gleichzeitig zu ihrer Intensivierung bei. Ruhe jedenfalls ist für die Athener überhaupt keine Option, denn jede ihrer Alternativen birgt potentielle Gefahren und kann für sie zu einer κίνησις werden. Entscheidend ist vor allem die Verbindung der κίνησις zu παρὰ τὸ καθεστηκός und ἐν τῷ ἑαυτῶν τρόπῳ: die Bewegung selbst ist noch kein Grund für das mögliche Scheitern des Angriffs, sondern es ist ihre Ungewöhnlichkeit, die den Ausschlag gibt. Damit könnte erneut deutlich werden, dass die Frage nach der Fähigkeit des Umgangs mit diesen Prozessen, nach dem angemessenen Verhalten in ihnen, in Thukydides’ Darstellung entscheidend ist. Dieser Aspekt der Ungewöhnlichkeit der Bewegung, der sich für die Betroffenen negativ, für ihre Gegner aber positiv auswirkt, führt schließlich auf die Ebene des weiteren Kontexts der Begriffsverwendung: Wie in 60, 4 deutlich wird, sind viele Landtruppen, auf die Gylippos in 67, 2 eingeht und auf die er die ungewohnte Bewegung bezieht, keine Athener, sondern Verbündete anderer Gebiete, die eben nicht wie die Athener das Kämpfen auf einem Schiff gewohnt sind. Dies kann als eine implizite Anspielung auf den »kinetischen« Charakter der Athener und ihre dadurch erwirkte singuläre Stellung unter den Hellenen, wie sie in I, 70, 9 dargestellt wurde, verstanden werden: Sie sind, im Gegensatz zu ihren Verbündeten, den Umgang mit κίνησις gewohnt, ebenso auch die Syrakusaner, die ihnen ja in ihrer Art so ähnlich geworden sind und nun auch noch reichlich Erfahrung im Seewesen, wie Gylippos in 67, 1 betont, gesammelt haben.

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Aufgrund dieser Ausgangskonstellation bekommt die Entscheidung, alle Fußtruppen auf die Schiffe zu schicken, eine zentrale Bedeutung, denn dies bedeutet, Menschen entgegen ihrer Gewohnheit kämpfen zu lassen  – auf diesen Punkt läuft Gylippos’ Argumentation am Ende hinaus. Dadurch kann die Wichtigkeit des richtigen Umgangs mit κίνησις darüber betont werden, dass hier der Nachteil aufgezeigt wird, der demjenigen entsteht, der sich in eine Bewegung begibt, ohne die notwendigen Fähigkeiten zu besitzen, in ihr angemessen zu handeln und auf ihre Anforderungen zu reagieren – wie es sich bei den Hilfstruppen auf den Schiffen zeigt. Dieser Aspekt führt schließlich zur Betrachtung der Rolle beider Feldherren an dieser Stelle. Dabei ist die Frage, ob tatsächlich Gylippos diese Rede gehalten hat, unerheblich,300 denn bezüglich der vorliegenden Fragestellung ist ihre Entsprechung zur Rede des Nikias entscheidend.301 Was Thukydides hier erneut aufzeigen könnte ist ein konträrer Umgang der Feldherren mit κίνησις, bezogen auf ihre jeweilige Fähigkeit, diese vorauszusehen und sich erfolgreich in ihr zu verhalten: Nikias stellt das Bemannen der Schiffe als Vorteil dar (62, 2), Gylippos aufgrund der ungewohnten Bewegung als Nachteil (67, 2); der realhistorische Ausgang der Schlacht gibt zumindest Nikias Unrecht. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass Thukydides in der Darstellung der Schlacht nicht mehr konkret auf diese Frage eingeht. Er erwähnt zwar die Enge als einen entscheidenden Faktor (70, 4 und 6), gibt aber nicht an, ob das Fußvolk auf den athenischen Schiffen aufgrund der Bewegungen tatsächlich unterlegen ist. Das Chaos in der Enge der Bucht betrifft schließlich beide Seiten (70, 6) und nach der Schlacht hält sich die Anzahl der Schiffe ungefähr die Waage (72, 3). Entscheidend ist aber, dass die Athener das eigentliche Ziel trotz ihrer Taktik nicht erreicht haben – der Darstellung des Gylippos, dass dies aufgrund der ungewohnten Bewegungen wahrscheinlich ist, wird auch im weiteren Verlauf nicht widersprochen. Somit könnte Nikias’ Argumentation, die Landtruppen auf den Schiffen würden einen Vorteil darstellen, durch die tatsächliche Niederlage der Athener erneut als Illustration seiner Unfähigkeit gedeutet werden, sich vorteilhaft angesichts einer κίνησις zu verhalten. Konkret bedeutet dies, dass Thukydides hier Nikias den Aspekt der ungewohnten Bewegung überhaupt nicht ansprechen lässt, der dafür aber viele andere Dinge zu den Trierarchen sagt (69, 2). Gylippos dagegen erkennt ganz deutlich, dass aus dieser Taktik aufgrund der ungewohnten Bewegung kein Vorteil für die Athener entstehen kann: Nikias scheint sich dieses Aspektes entweder nicht bewusst zu sein oder ihn nicht für bedeutend zu halten. In beiden Fällen zeigt sich seine Unfähigkeit, Bewegung und ihre Auswirkungen sowie ihre positiven und negativen Potentiale vorauszusehen oder in seine Pla300 Vgl. Westlake, Individuals, S. 283; Hornblower III, S. 683. 301 Vgl. Hornblower III, S. 684.

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nungen effektiv einzubeziehen, womit das Bild des Nikias und seines Umgangs mit Bewegung auch hier bestätigt wird. Dieses Bild kann einerseits direkt aus dem Kontext der Begriffsverwendung heraus rekonstruiert werden, findet seine Entsprechung aber auch in seiner Darstellung im gesamten Werk, unabhängig vom Kinesis-Begriff. Die Interpretation, dass die Darstellung des Nikias vor allem durch dessen Mangel an Schnelligkeit und Entschlossenheit geprägt ist,302 muss also dahingehend modifiziert werden, dass sie vor allem durch sein unpassendes Verhalten in der jeweiligen konkreten Situation gekennzeichnet ist.303 Wenn diese Situation dann die Aspekte der κίνησις, wie sie hier erarbeitet werden konnten, besitzt, so ist dies auch die Darstellung der negativen Folgen seiner mangelnden Fähigkeiten, mit eben dieser Bewegung und ihren konkreten Formen umzugehen. Dass Nikias nämlich nicht nur »langsam« oder »akinetisch« ist, kann an mehreren Stellen beobachtet werden: So stimmt er dem Plan des Demosthenes zu, die Epipolai anzugreifen (43, 1), unterstützt die Taktik des versuchten Ausbruchs aus dem großen Hafen (60, 2) und zeichnet sich vor allem beim abschließenden Abzug des Heeres von Syrakus durch Geschwindigkeit aus (81, 3).304 Der Misserfolg auf Sizilien kann also nicht seiner »Art« allein geschuldet sein – denn er ist sehr wohl zur Bewegung fähig – sondern auch seiner Fähigkeit, mit der Situation, der κίνησις, insgesamt umzugehen. Nikias »unathenischer« Charakter ist nicht schuld am Scheitern der Sizilien-Expedition, sondern seine Fehlplatzierung in der konkreten historischen Situation, die als Bestandteil des Werkes auch als Teil der μεγίστη κίνησις interpretiert werden kann. Dabei ist zu beachten, dass Nikias, folgt man dieser Interpretation, eben keine »Ruhe« bringt, sondern stattdessen in jedem Fall von der Bewegung überfordert wird. Seine Versuche, Ruhe zu erreichen, schlagen angesichts der μεγίστη κίνησις fehl, sodass von einem Ruhe-Bewegung-Gegensatz in der Darstellung nicht gesprochen werden kann, sondern von der Darstellung verschiedener Formen des Umgangs mit κίνησις, 302 Vgl. Westlake, Individuals, S. 210; Strauss, City, S. 213; Stimson, Characterization, S. 170. 303 Vgl. Stimson, Characterization, S. 12–13. Es ist hier zu fragen, ob Nikias dem Ausbruchversuch des Heeres noch vor Ablauf der 27 Tage nach der Mondfinsternis zugestimmt hat, wie Gomme IV, S. 449–450 vorschlägt, und damit das Scheitern des Ausbruchs ebenfalls als ein fehlgeschlagene »kinetische« Aktion zu werten ist. Hornblower III, S. 703 weist daraufhin, dass der Text eine eindeutige Feststellung nicht erlaubt. Letztendlich bleibt die Fatalität der Entscheidung, nicht abzuziehen, in beiden Fällen erhalten, denn sie erlaubt es den Syrakusanern, Übungen zu Schiff durchzuführen (51, 2), was wohl auch zum Misslingen des Ausbruchversuchs beiträgt. Somit steht seine Ablehnung der κίνησις in 50, 4 schließlich auch in Verbindung mit dem Fehlschlagen des Durchbrechens der Blockade mit ihren psychologischen Folgen für das Heer und der Weigerung eines erneuten Versuches. 304 Vgl. Westlake, Individuals, S. 204. Auch Nikias’ Entschluss zum Abzug nach der Seeschlacht scheint noch vor Ablauf der ursprünglich festgesetzten 27 Tage gefallen zu sein, vgl. Gomme IV, S. 449–450, diskutiert von Hornblower III, S. 703.

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die sich durch Vermeidung oder Intensivierung auszeichnen: ein tatsächliches langfristiges »Abbremsen« des gesamten Prozesses konnte bisher bei keinem Akteur beobachtet werden. Im Gegenteil: Perikles »Ruhe bewahren« wird nach seinem Tod von den Athenern nicht mehr befolgt, Hermokrates treibt die Syrakusaner an, ihre Trägheit abzulegen, die κίνησις, die Athenagoras von Syrakus fernhalten möchte, tritt in Form des tatsächlichen Angriffs der Athener doch ein und auch Sparta hat, wie oben festgestellt wurde, gar keine andere Wahl, als sich »zu bewegen« und auf die Athener zu reagieren. So scheinen alle Akteure ständig mit κίνησις konfrontiert zu sein. Nikias und die κίνησις Nikias’ Scheitern im historischen Prozess kann in der thukydideischen Darstellung damit auch als ein unangemessenes Verhalten und Reagieren auf die Anforderungen von κίνησις gedeutet werden, d. h. von Prozessen, die die Charakteristik von fehlender Planbarkeit und Kontrolle, sowie potentieller Gefahr aufweisen. Nikias’ Charakter ist dabei aber keineswegs allein für die historische Entwicklung verantwortlich zu machen. Viel eher wäre die Sizilien-Expedition als ein historisches Geschehen zu interpretieren, welches Thukydides zur Gestaltung seiner Darstellungskonzeption nutzen könnte, in dem er die menschliche Auseinandersetzung mit κίνησις, d. h. mit ihren Ausdrucksformen im historischen Geschehen, zeigt. So ist bereits die Entscheidung zur Expedition allein Ausdruck des »kinetischen« Charakters Athens und Nikias zeigt hier seine Defizite, mit diesem Aspekt umzugehen.305 Er ist konsequenterweise auch die falsche Wahl für dieses Unternehmen und so gerät die Verantwortung für ein »kinetisches« Unternehmen in die Hände desjenigen, der mit ihr am wenigsten umgehen kann und will. Diese Beobachtung der Darstellungskonzeption deckt sich mit der auktorialen Einschätzung des Thukydides in II, 65, 11 – der Fehler der Sizilien-Expedition lag nicht so sehr in der Beurteilung der Angegriffenen als vielmehr darin, dass die Volksversammlung keine für das Heer nützlichen Beschlüsse fasste: einer dieser Beschlüsse ist die Wahl des Nikias als Feldherren.306 Im Einklang dazu verwendet Thukydides an dieser Stelle das Wort ἀμβλύτερα: Die Beschlüsse ließen die Schlagkraft des Heeres »träge werden« oder »abstump305 Anders dagegen werden all seine Befürchtungen, die er der athenischen Volksversammlung in der Sizilien-Debatte präsentiert, wahr, vgl. Stahl, Speeches and Course, S. 72. Gerade dies aber verstärkt den Eindruck, dass Nikias trotz seiner Intelligenz und Voraussicht nicht in der Lage ist, mit dem athenischen Charakter umzugehen und ihn zu lenken. So auch Stimson, Characterization, S. 83. 306 Auf einen weiteren Bezug zwischen II, 65, 7 und Nikias, bzw. Demosthenes, auf Sizilien weist Strauss, City, S. 197–199 hin: die Bevorzugung des persönlichen Vorteils vor dem Nutzen der Stadt aufgrund des Verhaltens der Athener nach Perikles’ Tod.

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fen« – so eben der Beschluss, Nikias als Feldherren einzusetzen und beispielsweise Alkibiades abzuberufen, womit wiederum auf Nikias’ für die κίνησις ungeeigneten Charakter hingewiesen werden könnte. Damit kann die hier vorgelegte Interpretation der Darstellung des Nikias durch Thukydides weiter gestärkt werden: Die Sizilien-Expedition war Bestandteil und konkreter Ausdruck der von ihm identifizierten μεγίστη κίνησις und als eine solche scheint sie eben keine Trägheit, sondern gerade im Gegenteil ein flexibles Agieren gemäß der jeweiligen Anforderungen verlangt zu haben – wozu Nikias nicht in der Lage gewesen ist, da er eher eine Vermeidung von Bewegung anstrebte als eine Auseinandersetzung mit ihr, was ihn in Verbindung zum ἀμβλύτερα aus II, 65, 11 bringen könnte. Dies legt dann auch die Vermutung nahe, dass eine erfolgreiche Durchführung der Expedition möglich gewesen wäre, wenn die Individuen in der Lage gewesen wären, die athenische Volks­ versammlung im notwendigen Sinne zu beeinflussen. Noch deutlicher wird die Abhängigkeit von dieser Fähigkeit, sich in Bewegung möglichst angemessen zu verhalten, wenn man die Analyse auch mit der Abberufung des Alkibiades in Beziehung setzt, der einen ganz konträren Charakter zu Nikias zu haben scheint307 und die Sizilien-Expedition aktiv vorantreibt und auch später, nach seiner Verbannung, bei Sparta treibende Kraft entwickelt308 und ständig für κίνησις auch in Athen sorgt, wie das nächste Kapitel zeigen wird. Auch er ist jedoch, wie Thukydides in VI, 15, 4 deutlich macht, nicht in der Lage, mit den Athenern umzugehen, was wiederum darauf hindeutet, dass der Besitz eines rein »kinetischen« Charakters ebenfalls nicht erfolgsversprechend ist. Die Verwendung des Kinesis-Begriffs scheint auch in Bezug auf Nikias mit der Fähigkeit des individuellen Umgangs mit dem historischen Geschehen und seinen Anforderungen in Verbindung zu stehen. Dass sich diese Konzeption nicht nur auf Athen bezieht, hat die Analyse der Hermokrates-Rede zusammen mit der Darstellung von Syrakus im siebten Buch gezeigt: Auch hier werden individuelle Fähigkeiten, vor allem des Hermokrates und des Gylippos, in ihrem Umgang mit einem staatlichen, gemeinschaftlichen Charakter und die daraus resultierenden Folgen für die Stellung im historischen Prozess, der κίνησις, gezeigt. Die Syrakusaner entwickeln sich zu »Athenern«,309 werden ihnen in Art und auch Erfahrung gleich und können ihnen in dem Moment, in dem Nikias 307 Vgl. Westlake, Individuals, S. 171 und S. 209; Strauss, City, S. 199 und 204; D. Gribble, Athens and Alcibiades, Oxford 1999, S. 211–212; Will, Thukydides und Perikles, S. 241; Raaflaub, Democracy and Oligarchy, S. 205–207; T. W. Burns, Nicias in Thucydides and Aristophanes Part I: Nicias and Divine Justice in Thucydides (Polis 29, 2 (2012)), S. 222. 308 Vgl. Baltrusch, Sparta, S. 142; Schmid, Kinesis, S. 58; Stimson, Characterization, S. 249. 309 Vgl. Connor, Thucydides, S. 191. Gerade das Narrativ scheint eine solche Entwicklung zu suggerieren, die Hermokrates bereits in VII, 21, 3–4 fordert und die schließlich mit dem Erfolg der Syrakusaner, von Thukydides besonders in VIII, 96, 5 hervorgehoben, endet.

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die falsche Entscheidung trifft,310 gefährlich werden. Es sind Individuen, die diese Entwicklung möglich machen: Hermokrates, der zu den Verbündeten schicken lässt und deutlich macht, dass die Syrakusaner durch ihre langsame Art den Athenern unterlegen sind, und Gylippos, der gerade rechtzeitig ankommt, um Syrakus zu retten. Das »Antreiben« der Syrakusaner scheint damit im genau richtigen Maße zu geschehen, um gegen die Athener, und vor allem Nikias, Erfolg haben zu können. Einen wichtigen Anteil an diesem Antrieb hat schließlich der Athener Alkibiades, der, wie im folgenden Kapitel zu sehen sein wird, im Werk immer wieder die Funktion eines »Antreibers« zu übernehmen scheint.

4.4.3 Alkibiades Die Darstellung des Alkibiades im thukydideischen Werk ist vielschichtig und ambivalent, ebenso wie das Urteil der Nachwelt über ihn.311 In der Ambivalenz der Darstellung spiegelt sich sicherlich auch sein reales Leben, welches durch seine Flucht aus Athen im Rahmen des Hermenfrevels nach Sparta und von dort nach Kleinasien bemerkenswert unstet und wechselhaft gewesen ist. Hinsichtlich einer möglichen Verknüpfung dieser Darstellung mit dem Kinesis-Begriff findet sich im Werk nur eine Stelle, die Beschreibung der Ausbreitung einer Umsturzidee im athenischen Heer auf Samos in Buch VIII. Darüber hinaus jedoch wird Alkibiades an mehreren Stellen zumindest mit der Vorstellung von Bewegung assoziiert, wie bereits angesprochen wurde. Auch diese Stellen sollen daher in die hier angestellte Betrachtung einfließen. Zuerst ist aber zu untersuchen, inwiefern sich die Verwendung des Kinesis-Begriffs an der betreffenden Stelle kohärent in die bisherigen Beobachtungen einordnen lassen könnte, um dann daraus abzuleiten, inwiefern die Darstellung des Alkibiades mit der des Perikles oder des Nikias vergleichbar ist. Die στάσις in Athen (VIII, 48, 1) Der Stasis-Begriff steht in engem Bezug zum Kinesis-Begriff bei Thukydides: sowohl die στάσις auf Kerkyra, als auch in Athen,312 werden mit dem Verb κινεῖν verbunden. Auf den scheinbaren Gegensatz »Stillstand« (στάσις) und »Bewegung« (κίνησις) ist bereits oben schon eingegangen worden.313 310 Thuk. VII, 42, 3: Nikias’ Misserfolg wird auf seine Überwinterung in Katane nach seiner Landung zurückgeführt. Zu den Phasen der Entwicklung vgl. Stahl, Speeches and Course, S. 69. 311 Vgl. Stimson, Characterization, S. 228. 312 Vgl. Palmer, Stasis, S. 418. 313 Vgl. oben Kap. 4.3.2.

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Die κίνησις bei Thukydides

Thukydides beschreibt die Entwicklung der Ereignisse bis zum Umsturz der Demokratie in Athen weitaus breiter als im dritten Buch und geht ebenso auf unterschiedliche Standorte (Samos, Athen), wie auch auf beteiligte Personen (Alkibiades, den persischen Satrapen Tissaphernes, Peisandros etc.) ein. Die στάσις in Athen unterscheidet sich des Weiteren vom Bürgerkrieg auf Kerkyra dadurch, dass heftige Kämpfe wie auf Kerkyra in diesem Prozess ausbleiben – sie ist daher nicht als στάσις in ihrer vollständigen Entfaltung zu betrachten,314 wird aber von Thukydides als solche bezeichnet (98, 4; 106, 5). Das Panorama der στάσις und ihrer Hintergründe wird dem Leser von Thu­k ydides im achten Buch ausführlich präsentiert und die hier zu analysie­ rende Stelle ermöglicht einen Vorausblick auf den Übergang der Umsturz­ bewegung von Samos nach Athen. Zentrale Figur hinter diesen Entwicklungen ist Alkibiades.315 Das gesamte achte Buch ist vor dem Hintergrund der Niederlage Athens auf Sizilien zu betrachten: Die Nachricht hat die Athener zwar in Angst und Schrecken versetzt (VIII, 1, 1–2), gleichzeitig aber ist ihr Kampfeswille ungebrochen und wird durch die drohende Gefahr sogar noch verstärkt (1, 3). In diesem Rahmen wird aber auch das Volk Athens gehorsamer (1, 4). Diese Informationen spielen für die kommende Entwicklung eine entscheidende Rolle. Alkibiades ist derweil aus Sparta zu Tissaphernes geflohen, da er den Spartanern verdächtig erschien und ihr König mit ihm persönlich verfeindet war (45, 1).316 Auch bei Tissaphernes wird Alkibiades bald zu einer Schlüsselfigur bezüglich der weiteren Strategie im Krieg, wie er es bereits in Athen (Sizilien-Debatte) und Sparta (Entschluss zur Befestigung Dekeleias und Unterstützung von Syrakus) gewesen ist. Hier nun rät Alkibiades dem Tissaphernes, beide Mächte, Athen und Sparta, gegeneinander auszuspielen und eine Beendigung des Krieges zu verhindern (46, 1–2). Hintergrund dieser Ratschläge ist nicht nur Alkibiades’ strategisches Vermögen, sondern auch sein Plan, dass ein schwaches Athen seine Rückkehr ermöglichen würde (47, 1). Das athenische Heer auf Samos317 bemerkt seinen Einfluss auf Tissaphernes und Alkibiades nutzt dies, um die Athener mit der Unterstützung des Satrapen, den er für Athen gewinnen könne, zu locken – unter der Bedingung, dass er im Zuge einer Verfassungsänderung zur Oligarchie nach Athen zurückkehren dürfe. Die Trierarchen des Heeres und die Mächtigsten der Athener (δυνατώτατοι) sind aus diesem Grund und aus eigenem Antrieb dazu bereit, die Demokratie in Athen zu stürzen (47, 2). Dieser Plan wurde »zuerst 314 Vgl. Palmer, Stasis, S. 420 und 423. 315 Zur Fokussierung auf Alkibiades Connor, Thucydides, S. 220. 316 Nach Plut. Alc. 23–24 war diese Feindschaft auf die Verführung der Königin durch Alkibiades und auf seinen wachsenden Einfluss in der spartanischen Politik zurückzuführen. 317 Die Athener haben in VIII, 25, 1 auf Samos ihr Lager aufgeschlagen, um gegen die Milesier zu operieren.

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im Heer bewegt und kam später von dort in die Stadt«: καὶ ἐκινήθη πρότερον ἐν τῷ στρατοπέδῳ τοῦτο καὶ ἐς τὴν πόλιν ἐντεῦθεν ὕστερον ἦλθεν (48, 1). Zwischen den Kapiteln 48–69 findet sich schließlich die Entwicklung zum Verfassungsumsturz in Athen, die der Feldherr Phrynichos noch aufzuhalten versucht (48, 4–51): Die Athener auf Samos schicken Peisandros nach Athen, um dort das Volk von der Notwendigkeit der Verfassungsänderung zu überzeugen und alles für die oligarchische Machtübernahme vorzubereiten (53–54). Alkibiades dagegen fürchtet, dass seine Versprechen bezüglich der Unterstützung des Tissaphernes für Athen nicht zu halten sind und verhindert eine Einigung, was ebenfalls, wie Thukydides anmerkt, im Interesse des Tissaphernes lag (56). Auf die Aufhebung der Demokratie kommt Thukydides sozusagen »nebenbei« in 63, 3 wieder zurück: Peisandros und seine Anhänger bringen die einflussreichsten Männer im Heer schließlich dazu, die Einführung der Oligarchie zu betreiben und lassen Alkibiades außen vor (63, 4). Das Heer schickt Peisandros abermals nach Athen, wo bereits alles vorbereitet ist: Anführer der Demokraten und andere Gegner der Oligarchie sind ermordet worden (65, 1–3) und das Volk beschließt, aus Angst vor der Größe der Verschwörergruppe und des Verrats, die Einführung eines Rats der Vierhundert, der schließlich die Macht übernimmt (66–70). Die Parallele zum Kinesis-Begriff in III, 82, 1 ist nicht nur durch den Kontext, sondern auch durch die gleiche Verbform festzustellen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass hier nicht das gesamte Griechentum, τὸ Ἑλληνικόν, bewegt wird, sondern der Gedanke, die Demokratie in Athen zu stürzen.318 ­Patiens zu ἐκινήθη ist τοῦτο, welches sich wiederum auf den Gedanken aus 47, 2 bezieht, das Ziel der Trierarchen und der Mächtigsten, die Verfassung in Athen zu ändern. Dieser feine Unterschied des Bezuges ist bei der Betrachtung zu berücksichtigen: Bewegt ist hier die Idee des Verfassungsumsturzes, nicht die Verfassung selbst. Dennoch ist die Verbindung zur Auflösung einer bestehenden Ordnung gegeben, wodurch eine enge Beziehung von Kinesis-Begriff und dem Aspekt fehlender Ordnung erneut deutlich werden kann. Dies kann so erklärt werden, dass die demokratische Ordnung durch die Bewegung der Idee im Heer und dann in der Stadt ihre Unterstützung und damit ihr Fundament verliert: ἐκινήθη ist damit auf den Moment bezogen, in dem eine alte Ordnung anfängt, sich aufzulösen, eine neue Ordnung aber noch nicht die Kontrolle übernehmen kann, denn die Oligarchie ist zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht vorhanden und zeigt sich darüber hinaus ebenfalls nicht sehr beständig, wie ihr Zerfall in Kapitel 97 verdeutlicht. Eine solch assoziativ erweiterte Bedeutungsebene lässt sich hier vor allem auf den metaphorischen Gebrauch des Wortes κινεῖν zurückführen, der, ebenso wie in III, 82, 1, einen nicht sichtbaren Prozess 318 Vgl. Classen-Steup VIII, S. 74.

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der Übertragung beschreibt. Dass aber auch hier wieder bestimmte Aspekte der Situation die Wahl des Begriffes begründen könnten, ließe sich beispielsweise über den Unterschied zum Verb διαθροέω ableiten, welches Thukydides in VI, 46, 4 und VIII, 91, 1 verwendet. Er beschreibt damit die Verbreitung von Gerüchten und Meinungen durch bestimmte Personen. Auch die Verbreitung der Umsturzidee wird wohl durch schriftliche und mündliche Berichte erfolgt sein. Doch anscheinend geht es Thukydides hier nicht nur um die Beschreibung der Ausbreitung der Nachricht, sondern tatsächlich um ein »Erfassen« der betroffenen Personen durch die Idee, die dann auch bereit sind, diese umzusetzen. Die durch ἐκινήθη beschriebene Verbreitung der Umsturzidee ist somit weit mehr als das bloße Weitererzählen von Gerüchten und das Überbringen von Nachrichten. Die Wortwahl scheint auch hier wieder über den bloßen Bewegungsaspekt, die Verbreitung, hinauszugehen und erlaubt es, umfassendere Interpretationen der transportierten Konnotation vorzulegen. Der Demokratie wird schließlich durch die Verbreitung der besagten Idee auch die Kontrolle über das Heer und die Stadt entzogen, so dass ein Umsturz schließlich überhaupt erst durch diese Verbreitung möglich wird – das Gelingen der Maßnahmen zur Einführung der Oligarchie ist hauptsächlich, wie die Schilderung in den Kapiteln 53, 54 und 66–70 zeigt, darauf angewiesen, dass die Idee des Umsturzes Unterstützung findet, hängt also unmittelbar von der vorangegangenen κίνησις im Sinne der oben beschriebenen »Erfassung« der Menschen ab. Erst, wenn diese wirklich überzeugt sind von der Idee, verlieren die Demokraten die Kontrolle. Addiert man den Kontext des menschlichen Handelns dazu, so können der Wortwahl erneut die für Thukydides bereits als »typisch« zu bezeichnenden Aspekte der Situation zugrunde liegen: Auflösung von Ordnung und Kontrolle im menschlichen Bereich. So scheint die weitere Entwicklung im ἐκινήθη der Idee bereits angelegt zu sein, die auf die Gefahr eines ausgewachsenen Bürgerkrieges und damit des vollständigen Zusammenbruchs der Ordnung in Athen in Kapitel 86 vorausweist, wenn das Heer selbst sich gegen die Oligarchie stellt, welches vorher angesichts der oligarchischen Bewegung noch ruhig geblieben war (48, 2) und nur Alkibiades scheint jetzt noch Einfluss ausüben zu können.319 Hier zeigt sich, dass die Situation allein mit der Ablösung der 319 Es zeigt sich vor diesem Hintergrund, dass sich eine ausschließlich positive oder negative Tendenz der Alkibiades-Darstellung im Werk kaum ausmachen lässt, vgl. S. Forde, The Ambition to Rule. Alcibiades and the Politics of Imperialism in Thucydides, Ithaca 1989, S. 7; Stimson, Characterization, S. 229. Dieser Aspekt wird später noch ausführlicher besprochen. Gomme V, S. 286–287 sieht hier eine Übertreibung des Autors bezüglich der Verdienste des Alkibiades; Hornblower III, S. 1001 nimmt dagegen die Einschätzung vor allem im Vergleich zu Perikles und Solon ernst. Zum Bezug von 82, 2 und 86, 4 vgl. H. Erbse, Thukydides-Interpretationen (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 33), Berlin / New York 1989, S. 19–20.

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Demokratie noch keinesfalls unter Kontrolle ist, sondern dies vielmehr erst den Anfang der sich auflösenden politischen und auch sozialen Ordnung in Athen markiert. Damit könnte ἐκινήθη eben auch die Ungewissheit des Ergebnisses dieser Umsturzidee ausdrücken. Somit wird diese κίνησις als der vollständigen Kontrolle der beteiligten Menschen entzogen dargestellt, ihre Planbarkeit und die vollständige Voraussicht ihrer Entwicklung durch die Menschen werden in Frage gestellt – die führenden Männer im Heer können die Bewegung nicht langfristig unter Kontrolle und zu ihrem geplanten Abschluss bringen. Dies erinnert an die Charakteristik der κίνησις in der Vorsokratik, vor allem im Hinblick auf ihre Fähigkeit, potentiell alle möglichen Richtungen anzunehmen (Atomistik), wenn sie nicht durch übergeordnete Prinzipien in bestimmte Bahnen gelenkt wird (Ananke bei Parmenides, der Kreislauf des Empedokles, der Nous des Anaxagoras). Diese der κίνησις übergeordneten Prinzipien fehlen in der Darstellung des Thukydides, sodass auch die hier präsentierte κίνησις der Umsturzidee keiner voraussehbaren Entwicklung unterliegt, wie der weitere Verlauf des achten Buches bezüglich der Idee des Umsturzes zeigt: Die letztendliche Mischform aus 97, 2 wird wohl schwerlich mit τοῦτο in 48, 1 gemeint und von den Trierarchen und Anführern des Heeres, sowie von Alkibiades in 47, 2, beabsichtigt gewesen sein. Nicht nur aufgrund dieses Umstands ist der hier verwendete Kinesis-Begriff mit den Assoziationen des Begriffs in der Vorsokratik eng verbunden, sondern auch die fehlende Einschränkung der Ausbreitung lässt auf eine gedankliche Nähe schließen: ἐκινήθη bezieht sich auf das ganze Heer und die Ausbreitung bis in die Stadt, also über Land und Meer hinweg, wird ebenfalls als eine Bewegung durch ἦλθεν dargestellt. Somit scheinen ihr keine Grenzen gesetzt, weder geografisch noch menschlich, und angesichts dieser »übermenschlichen Macht«, die die mit κίνησις beschriebenen Prozesse bei Thukydides zu charakterisieren scheint, ist es nur folgerichtig, dass Phrynichos bei dem Versuch, sie aufzuhalten, grandios scheitert – sie scheint in diesem Moment nicht aufgehalten werden zu können, wie die letztliche Einrichtung in Kapitel 70 beweist. Dass diese Einrichtung aber auch keinen Endpunkt der Bewegung darstellt, zeigt der weitere Verlauf bis Kapitel 97. Wiederum könnte sich hier die enorme, übermenschliche Kraft des Prozesses zeigen, der sich der Kontrolle derjenigen, die sie erfasst hat, entzieht  – gerade aufgrund dieses Aspektes scheint die vorsokratische Philosophie übergeordnete Prinzipien verwendet zu haben,320 um den Prozess der κίνησις nachvollziehbar in der Kosmologie funktionalisieren zu können. Thukydides, so wird hier erneut deutlich, verzichtet auf ein solches der κίνησις über320 Auch Aristoteles’ »unbewegt Bewegendes« scheint eine solche Funktion einzunehmen, vgl. G. Verbeke, Die Methoden metaphysischer Beweisführung bei Aristoteles. In: ­F.-P. Hager (Hg.), Metaphysik und Theologie des Aristoteles, Darmstadt 21979, S. 455–459.

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geordnetes Prinzip, sodass sich die Menschen direkt mit der Bewegung, ihren Ausdrucksformen und Konsequenzen auseinandersetzen müssen. Die Verwendung des Begriffes zeigt daher eine deutliche Verbindung vorsokratischer Charakteristika der κίνησις mit den für Thukydides typischen Aspekten des menschlichen Bereiches, die sich in fehlender Ordnung, Planungssicherheit und Unkontrollierbarkeit ausdrücken. Es kann daher vermutet werden, dass Thukydides die Auswirkungen eines Prozesses, der die Charakteristik einer allgemeinen κίνησις besitzt, auf die menschliche Sphäre aufzeigt. Die hier angesprochene κίνησις ist nämlich nicht kosmisch und »einfach da«, wie sie sich bei verschiedenen Vorsokratikern gezeigt hat, sondern sie ist von Menschen initiiert, hat aber dennoch viele Parallelen zu dieser kosmischen κίνησις der Vorsokratiker, aus denen wiederum ihre Wirkung auf die Menschen abgeleitet und erklärt werden können: die fehlende Planbarkeit ergibt sich gerade auch durch ihre Unbegrenztheit und ihre Unvorhersehbarkeit. Es handelt sich hier daher nicht um eine »kosmische« κίνησις, sondern um eine menschliche κίνησις – die zugrundeliegende Charakteristik des Prozesses selbst weist aber viele Parallelen auf. Somit dient auch die »Bewegung« der Umsturzidee wiederum zur Bestärkung der These, dass Thukydides verschiedene Situationen im Werk mit dem ­Kinesis-Begriff beschreibt, um somit an einem Exemplum zu illustrieren, inwiefern im Laufe des Geschehens die Menschen immer wieder mit κίνησις konfrontiert sind und sich Mensch und Prozess gegenseitig beeinflussen. Somit ist es, wie bereits mehrfach angesprochen, möglich, diese konkreten Stellen als Schaubilder zu interpretieren, die einen Hinweis geben, wie der Leser den gesamten dargestellten historischen Prozess als μεγίστη κίνησις verstehen kann – und worauf Thukydides seine Betrachtungen und Beschreibungen konzentriert, nämlich auf die Auseinandersetzung des Menschen mit diesem Prozess, der ihn prägt und der ebenso in manchen Facetten von ihm geprägt werden kann. Gerade der hiesige Aspekt des menschlichen Ursprungs bringt die Betrachtung zurück zur Analyse der Funktion im Werkskontext und auch hier ist zu erkennen, dass das bereits oft beobachtete Konzeptionsmuster in Verbindung mit der Begriffsverwendung wiedererkannt werden kann: diesmal sind es auf gemeinschaftlicher Ebene die Athener, auf individueller Ebene Alkibiades, die in ihrer Auseinandersetzung mit der κίνησις gezeigt werden. Alkibiades’ Rolle in dieser Komposition ist bereits in Verbindung mit Nikias angesprochen wurden,321 als er, im Gegensatz zu diesem, die κίνησις in Form der Sizilien-Expedition, danach durch das Antreiben der Spartaner zur Intervention und zum Betreiben des Krieges in Griechenland (von Hermokrates κινεῖν genannt), intensivierte. Diese Darstellung scheint im achten Buch ihre Entsprechung zu

321 Vgl. oben S. 307–308.

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finden, denn hinter dem Gedanken des Umsturzes, der da »bewegt« wird, steht nach Kapitel 47 Alkibiades selbst. Er ist jedoch nicht wirklich der »Ursprung« dieser κίνησις, denn Thukydides hebt gerade auch die eigenen Ziele der Trie­ rarchen und der Mächtigsten hervor: ἀπὸ σφῶν αὐτῶν (47, 2),322 die die gesamte Entwicklung und damit die κίνησις erst möglich machen. Doch Alkibiades ist eine Triebkraft in dieser Entwicklung, seine Versprechungen und Forderungen ergeben, zusammen mit den Absichten der Generäle, schließlich die Situation, aus der heraus die Umsturzidee verbreitet wird. Alkibiades könnte damit als »Antreiber« interpretiert werden. Dies ist durchaus kohärent mit seiner Darstellung an anderen Stellen im Werk: Sein Eintreten für die Sizilien-Expedition kann auf dem bereits gefassten Entschluss zur Ausfahrt aufbauen (VI, 8, 2),323 die letztendliche Größe der Expedition wird nicht so sehr seiner Argumentation als vielmehr der gescheiterten Strategie des Nikias zugeschrieben (VI, 19, 2 und 24, 2). Auch sein Antreiben der Spartaner wird zwar als Auslöser ihrer en­ ergischeren Kriegführung dargestellt, nicht aber als ihr alleiniger Grund, denn es sind ebenfalls die Syrakusaner und Korinther, die sie antreiben (auch hier sei wieder an Hermokrates »κινεῖν« aus VI, 34, 3 erinnert) und auch die veränderten Umstände führen dazu, dass die Lakedaimonier den Krieg ernsthafter betreiben (VI, 93, 1–2, VII, 18, 1). Alkibiades ist in keinem Fall als tatsächlicher Ursprung von Bewegung zu sehen, sondern als ein entscheidender Faktor zu ihrer realen Umsetzung, als ein entscheidender Antrieb von κίνησις,324 ohne sie jedoch allein hervorzurufen. Dies wiederum entspricht der allgemeinen Darstellungstendenz des Prozesses, der von Menschen zwar beeinflusst, aber nicht kontrolliert werden kann: Alkibiades allein kann keine Bewegung herbeiführen, doch er kann in Bezug auf sie handeln und reagieren und sie damit, scheinbar typisch athenisch, intensivieren.325 Die Kohärenz dieses Musters an zentralen Stellen der Darstellung des Alkibiades und seiner Rolle im historischen Geschehen (Alkibiades in Athen, Alkibiades in Sparta, Alkibiades bei Tissaphernes) kann die These einer umfassenden Konzeption dieser Darstellung der Fähigkeit des individuellen Umgangs mit Bewegung stützen, denn ebenso wie bei Perikles und Nikias lassen sich die Darstellungen im Bezug auf die Wortverwendung selbst, wie auch auf die gesamte Charakteristik übergreifend im Werk in Übereinstimmung bringen: Perikles, dessen Voraussicht durch das Geschehen konterkariert wird (keine Bewegung der Tempelschätze und keine leichter Sieg Athens), Nikias, dessen Entscheidungen sich immer wieder zum Nachteil ent322 Vgl. Gomme V, S. 107. 323 Ein generelles Interesse Athens an Sizilien scheint sich bereits vor dem Krieg abgezeichnet zu haben, wie I, 36, 2 und 44, 3 nahelegen. 324 Dazu auch Stimson, Characterization, S. 229. 325 Vgl. ebd.

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wickeln (Befestigung des Plemmyrions, Verzögerung des Abzugs, Fußsoldaten auf den Schiffen) und schließlich Alkibiades, der immer wieder Bewegung intensiviert und die Prozesse antreibt (Verbreitung der Umsturzidee, Kriegstaktik der Athener, Spartaner und des Tissaphernes). Alle drei Figuren scheinen in ein kohärentes Darstellungsmuster eingefügt zu sein, dessen Nexus der menschliche Umgang mit κίνησις ist. Wird nun Alkibiades mit dem Kinesis-Begriff in VIII, 48, 1 direkt verbunden und ebenfalls, wie die obige Analyse gezeigt hat, in die Reihe derer aufgenommen, deren Fähigkeiten im Rahmen der Bewegung dargestellt werden, so stellt sich die Frage nach seiner Bewertung in Relation zu diesen anderen, bereits betrachteten Individuen im Werk. Hier wird deutlich, dass Thukydides dem Alkibiades offenbar ein Alleinstellungsmerkmal zuschreibt,326 welches sich nicht nur in VIII, 86, 5 zeigt (καὶ ἐν τῷ τότε ἄλλος μὲν οὐδ’ ἂν εἷς ἱκανὸς ἐγένετο κατασχεῖν τὸν ὄχλον), sondern auch in VI, 15, 4: Alkibiades ist im Vergleich zu Anderen außerordentlich in der Lage, mit den Anforderungen der κίνησις umzugehen327 und scheitert doch, weil er mit den Athenern nicht umgehen kann,328 wie ebenfalls in VI, 15 3–4 deutlich wird, sodass diese den Befehl anderen übertragen, die mit den Erfordernissen der κίνησις in Form des Krieges nicht so gut umgehen können wie er.329 Hier ist wohl an Nikias gedacht, dessen antipodisches Verhältnis zu Alkibiades nicht nur im Kontext der Sizilien-Expedition, sondern auch schon in Bezug auf den Nikias-Frieden in V, 43–46 herausgestellt 326 In der Forschung lässt sich eine rege Diskussion über die Bewertung dieser Einschätzung finden: so glaubt Orwin, Humanity, S. 118–119, dass Alkibiades’ Rückruf tatsächlich Grund für das Scheitern gewesen sein könnte, während P. A.  Brunt, Thucydides and Alcibiades (REG 65 (1952)), S. 95–96 die Einschätzung des Thukydides als »Übertreibung« ansieht. Die Frage der historischen Berechtigung dieser Einschätzung ist für die vor­liegende Untersuchung irrelevant: Entscheidend ist die Tatsache, dass Thukydides Alkibiades in dieser Form darstellt und somit auf das problematische Verhältnis seiner Fähigkeiten im Krieg und im Umgang mit dem gemeinschaftlichen Charakter aufmerksam macht. Vgl. auch Gribble, Alcibiades, S. 24: »The depiction of Alcibiades is inextricable linked to his relationship with the Athenians […].« Thukydides’ Text wird hier ebenfalls nur unter der Perspektive der Darstellungsweise, nicht der historischen Bewertung betrachtet. 327 Dies zeigt sich in Thukydides’ Erläuterung zur Bedeutung der Intervention des Alkibiades auf Samos in VIII, 86, 4: Athens Untergang wäre durch einen solchen Konflikt besiegelt gewesen. 328 Vgl. Stimson, Characterization, S. 230. 329 Stimson, ebd., S. 240 weist ebenfalls auf die Darstellung des Alkibiades als hervorragendem Kommandeur hin. Bloedows Einwand, dass sich für die Einschätzung des Thukydides in VI, 15, 4 bezüglich der Fähigkeiten des Alkibiades im Text keine Belege bis VIII, 86, 4 finden ließen (E. F. Bloedow, Alcibiades ›Brilliant‹ or ›Intelligent‹? (Historia 41, 2 (1992)), S. 154–155), ist u. a. mit Verweis auf die Einschätzung der Sizilien-Fahrt in II, 65, 11, der Bedeutung der Befestigung Dekeleias und Alkibiades’ Rolle in der Umsetzung dieser Maßnahme zu widersprechen.

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wird.330 Auch im Vergleich zu den Spartanern zeigt sich Alkibiades’ Überlegenheit, so z. B. im Rahmen der Schilderung der Rückkehrbestrebungen des Alkibiades und seiner Rolle beim Entstehen des Umsturzgedankens allgemein in 48, 1. Während König Agis im Anschluss nicht fähig ist, die Situation in Athen zu seinem Vorteil zu nutzen, zeigt sich an Alkibiades, wie dieser durch den Umsturzgedanken wieder in eine für ihn günstigere Position kommt. Alkibiades kann κίνησις intensivieren, im Gegensatz zu Agis, und kurzfristig auch zu seinem Vorteil nutzen, während der Versuch des Agis’ nicht nur scheitert, sondern ihm selbst sogar Schaden zufügt. Am eindrücklichsten zeigen wohl die Stellen VIII, 82, 3 und 86, 3–4, inwiefern Alkibiades in der Lage ist, sich Erfolg zu verschaffen: in 82, 3 schildert Thukydides, wie Alkibiades schließlich seinem Ziel, der Rückkehr nach Athen im Rahmen dieser κίνησις (47, 1), näher kommt,331 denn er wird von den athenischen Soldaten auf Samos zum Feldherren gewählt (82, 1) und nutzt dies gleich aus, um seine Stellung gegenüber Tissaphernes zu stärken: So sei es Alkibiades schließlich gelungen, mit Tissaphernes den Athenern und mit ihnen dem Tissaphernes Angst zu machen (82, 3): ξυνέβαινε δὲ τῷ Ἀλκιβιάδῃ τῷ μὲν Τισσαφέρνει τοὺς Ἀθηναίους φοβεῖν, ἐκείνοις δὲ τὸν Τισσαφέρνην.332 Dabei ist gerade die Wortwahl von ξυνέβαινε interessant, da dessen Verwendung sowohl zufällige Ereignisse als auch logische Konsequenzen anzeigen kann.333 Damit ist gleichzeitig der Erfolg des Alkibiades im Rahmen der κίνησις nicht allein auf seine Handlungen zurückzuführen, so dass die Schilderung auch Momente enthält, in denen er keine Kontrolle über das Geschehen hat, wie beispielsweise 56, 4: Alkibiades fürchtet, dass seine Versprechungen aus Kapitel 47, die entscheidend zu einer κίνησις beigetragen haben, als Prahlerei entlarvt werden und will daher ein Übereinkommen zwischen Tissaphernes und den Athenern verhindern, um seine »Ohnmacht« zu verbergen: δείσας μὴ πάνυ φωραθῇ ἀδύνατος ὤν. Dies gelingt zwar, dennoch fühlen sich die Athener nun von ihm betrogen und somit ist auch sein persönlicher Erfolg in dieser Bewegung in Gefahr, wie Thukydides in 63, 4 berichtet. Dagegen wiederum 330 Gribbles Feststellung, dass Alkibiades und Nikias trotz ihrer konträren Charaktere auch Parallelen besitzen (Alcibiades, S. 212), steht mit der These einer Betrachtung der historischen Figuren unter der Perspektive ihres jeweiligen Umgangs mit κίνησις deutlich im Einklang: Beide Individuen sind durch ihre Art letztendlich schädlich für ihre politische Gemeinschaft  – ihre »Art« jedoch ergibt sich aus der Darstellung ihres Umgangs mit κίνησις. 331 Vgl. dazu Connor, Thucydides, S. 220. 332 Die Verbindung von Emotionen wie Angst und der κίνησις konnte bereits in verschiedenen Kontexten im Werk (den Oligarchen auf Kerkyra, III, 75, 2, den Misserfolgen der Spartaner in IV, 55, 4 und der Debatte in Syrakus zwischen Hermokrates und Athenagoras, VI, 32–40) beobachtet werden. 333 Vgl. den entsprechenden Eintrag im LSJ. Classen-Steup VIII, S. 131, sieht hier den Aspekt des Zufalls überwiegen.

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zeigt 86, 3–5 seine außerordentlichen Fähigkeiten, sich Vorteile aus der Situation heraus zu verschaffen, indem er das Heer davon abhält, gegen Athen selbst zu fahren.334 In einer Synopse dieser verschiedenen Stellen wird deutlich, dass Alkibiades die κίνησις entscheidend antreibt und auch zu seinem Vorteil nutzen kann, ohne jedoch vollständige Kontrolle über die Entwicklungen zu besitzen. Noch deutlicher wird diese Ambivalenz aus Vorteil und fehlender langfristiger Kontrolle vor dem Hintergrund seines Scheiterns in Athen und Sparta. Seine eigentlichen Ziele kann er weder durch das Antreiben der Sizilien-Expedition, noch durch die Intensivierung der spartanischen Kriegsbemühungen erreichen und auch seine Rückkehr nach Athen in der Folge der Ereignisse auf Samos ist nicht von Dauer. Alkibiades hat damit trotz seiner Fähigkeit, κίνησις zu inten­ sivieren, keinen langfristigen Vorteil. Gerade dieser Aspekt der fehlenden Kontrollierbarkeit rückt das Geschehen in die assoziative Nähe der vorsokratischen κίνησις, die ebenfalls keiner individuellen menschlichen Kontrolle unterliegt. Dennoch ist es möglich, wie Thukydides hier zeigt, dass durch das individuelle Verhalten, die individuellen Fähigkeiten, die Chancen auf kurzfristigen Erfolg im Rahmen der κίνησις erhöht werden, so dass Alkibiades schließlich zum Feldherr gewählt wird. Es wäre an dieser Stelle natürlich von höchstem Interesse zu fragen, inwiefern Thukydides die letztendliche Rückkehr des Alkibiades nach Athen, die dem antiken Leser ja bekannt und die uns durch Xenophon überliefert ist,335 und seine auf die Niederlage bei Notion folgende Abwahl als Stratege in dieses Bild eingefügt hätte. Da man dabei aber über Spekulationen nicht hinauskommt, sei hier lediglich darauf hingewiesen, dass dieser langfristige Misserfolg des Alkibiades durchaus mit dem Aspekt der Unmöglichkeit menschlicher Kontrolle über κίνησις einhergeht – was wiederum eine Entsprechung in seinen Misserfolgen im Umgang mit dem athenischen Demos und seinem »kinetischen« Charakter finden könnte. Dies jedoch schließt nicht aus, dass kurzfristige Erfolge durch das jeweilige Verhalten und angemessene Reaktionen durchaus möglich sind, wie ja auch die Betrachtung Athens bereits zeigen konnte.336 Der Wechsel von lang- und kurzfristiger Perspektive auf den Aspekt des Erfolgs zeigt, dass dies im Werk durchaus kohärent gefunden werden kann. So ist sein Erfolg in der SizilienDebatte nur von kurzer Dauer und gerade hier trifft er auf bereits vorhandene Bewegung, die er nur antreiben muss,337 sein Eingreifen in Sparta weist ebenfalls

334 Dass auch der Zorn zur κίνησις führen kann, die dann durch Angst u. a. kontrolliert werden muss, hat die Analyse der στάσις auf Kerkyra in III, 75, 2 mit Bezug auf die Oligarchen gezeigt. 335 Xen. Hell. I, 4, 12–20. 336 Vgl. Oben Kap. 4.2.3. 337 Vgl. Stimson, Characterization, S. 241 und 247.

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eine gleiche Tendenz auf. Sein Erfolg auf Samos beschränkt sich auf die Zurückhaltung des Heeres, um seine Rückkehr möglich zu machen,338 die schließlich auch beschlossen wird (VIII, 97, 3) – der Leser aber weiß, dass auch diese Rückkehr nicht endgültig sein wird. Stattdessen ist, wie Thukydides erklärt (86, 4), gerade diese Zurückhaltung nötig gewesen, um Athen nicht zu gefährden, war also im Bezug auf die Notwendigkeiten des Krieges ein erneuter Beweis seiner Fähigkeiten. Alkibiades’ Erfolge werden somit auch als Ergebnisse seiner Fähigkeiten im Umgang mit κίνησις dargestellt, während der ausbleibende langfristige Erfolg kohärent zum Bild des unkontrollierbaren Prozesses der κίνησις passt. Zumindest diesbezüglich kann von einem inkonsistenten Alkibiades-Bild bei Thukydides339 keine Rede sein. Alkibiades wird aber auch darüber hinaus im Kontext seiner problematischen Beziehung zu seinen Mitmenschen dargestellt. Auf der Ebene der Kriegsanforderungen zeigt er die nötige Kompetenz, um im richtigen Moment anzutreiben (Sparta)340, kann diese aber nicht langfristig auch im Umgang mit dem gemeinschaftlichen Charakter erfolgreich nutzen, wie seine Aufenthalte in Athen und Sparta zeigen.341 Der Untergang Athens, zu dem Alkibiades durch seine Art entscheidend nach VI, 15, 3 beigetragen hat, ist somit anscheinend nicht allein auf den gemeinschaftlichen Charakter oder das Ausmaß seiner individueller Fähigkeiten und Kompetenzen zurückzuführen, sondern auf ein Missverhältnis beider Faktoren,342 sodass ein vorteilhafter Umgang mit der κίνησις, der Athens Chancen auf Erfolg erhöht hätte, nicht möglich gewesen ist.343 Auf Alkibiades bezogen bedeutet dies, dass seine Fähigkeit, mit κίνησις umzugehen, sich also in ihr vorteilhaft für sich selbst zu verhalten, sich nicht auch in einem vorteilhaften Umgang mit dem gemeinschaftlichen Charakter der Stadt widergespiegelt hat, die dadurch Angst vor ihm bekam.

338 Vgl. Stimson, Characterization, S. 258. 339 Vgl. S. N. Jaffe, The Regime (Politeia) in Thucydides. In: Balot / Forsdyke / Foster (edd.), Thucydides, S. 401; zur Inkonsistenz des Alkibiades-Bildes allgemein Stimson, Characterization, S. 254–258. Ebenso auch Gribble, Alcibiades, S. 212–213, jedoch aus der Perspektive eines allgemeinen Musters im Werk, nach dem alle politischen Anführer im Werk an Perikles gemessen werden. 340 Einen Überblick bietet Stimson, Characterization, S. 250. 341 Alkibiades scheint daher mit Perikles genau diese Fähigkeit zum Antreiben und Zurückhalten gemeinsam zu haben. Perikles’ Kompetenz bezieht sich aber nach II, 65, 9 auf den Umgang mit dem Demos, dem gemeinschaftlichen Charakter, nicht dem Krieg. Vor diesem Hintergrund erscheint es voreilig, Alkibiades als »Gegenteil« zu Perikles zu verstehen (Ebd., S. 245); eher könnte man ihn als »Ergänzung« zu diesem ansehen. 342 Vgl. ebd. S. 242. 343 Dazu auch Connor, Thucydides, S. 221.

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Alkibiades und die κίνησις Alkibiades scheint damit zum einen im Bezug zur μεγίστη κίνησις generell gezeigt zu werden, die er antreibt, wie sein Arbeiten gegen den Friedensvertrag in V, 43–46 und sein Eintreten für die Sizilien-Expedition, sowie sein Verhalten gegenüber den Spartanern nahelegen. Zum anderen präsentiert Thukydides in Buch VIII eine Darstellung seiner individuellen Fähigkeiten, sich in Situationen, die mit κίνησις assoziiert werden können, kurzfristig vorteilhaft zu verhalten. Aus diesen Fähigkeiten heraus könnten sich wiederum die positiven Töne erklären lassen, die in Bezug auf Alkibiades immer wieder zu finden sind und die gleichzeitig mit seinem Scheitern die ambivalente Bewertung bilden, die die Alkibiades-Figur im Werk ausmacht, so z. B. in VI, 15. Gerade seine Fähigkeiten in der Kriegführung sind, zusammen mit seiner maßlosen Lebensführung, verantwortlich für die Angst und die Feindschaft des Volkes ihm gegenüber und vor dem Hintergrund der Konzeption des Erfolgs der Syrakusaner und der Peloponnesier gegen die Athener kann man daraus schließen, dass es Alkibiades an der Fähigkeit zur Ruhe zur rechten Zeit gemangelt zu haben scheint, die vielleicht das Verhalten des Volkes ihm gegenüber verändert hätte – seine ständige Intensivierung der κίνησις könnte damit von Thukydides, ebenso wie bei Athen, als ein Hauptgrund seiner kurzfristigen Erfolge, aber auch seines langfristigen Scheiterns dargestellt werden.344 Im Kontrast zu Nikias wird an Alkibiades gezeigt, dass zu viel Bewegung ebenso fatal sein kann wie zu wenig. Die dennoch auftretenden positiven Töne in Bezug auf Alkibiades könnten sich dann aber aus der Möglichkeit der Steigerung von Erfolgswahrscheinlichkeit durch angemessenes Verhalten in der κίνησις erklären lassen, sodass Alkibiades in Thukydides’ Augen zuweilen »angemessener« auf die Anforderungen der Situation reagiert haben könnte als Nikias. Zusammen mit den auktorialen Kommentaren zu Alkibiades, in denen dieser mit nichts weniger als dem Untergang Athens verbunden wird, wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit κίνησις, die die Darstellung des Alkibiades hauptsächlich prägt, auch für den größeren Kontext der gesamten Schilderung zentral sein könnte. An Alkibiades, so könnte daraus abgeleitet werden, zeigt sich, dass die Fähigkeit zu vorteilhaftem Verhalten in der μεγίστη κίνησις, in Form des Krieges und des gemeinschaftlichen Charakters der Athener und der Spartaner, grundlegend mit der Frage nach historischem Erfolg oder Misserfolg verbunden ist und dass Thukydides seine Darstellung u. a. an dieser Frage aus-

344 Gribble, Alcibiades, S. 229: »[…] due to the similarity of his own character to that of his polis, Alcibiades proves too unrestrainedly »Athenian« to successfully moderate its collective behavioral tendencies […].«

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richtet. Dadurch kann erneut die These einer werkumspannenden Auseinandersetzung mit dem Thema der κίνησις auf den Ebenen des gemeinschaftlichen Charakters und der individuellen Fähigkeiten im Umgang mit ihr plausibel gestützt werden.

4.4.4 Kleon und Brasidas Während im vorliegenden Kapitel die Figuren bisher individuell betrachtet wurden, erfolgt nun in Bezug auf Kleon und Brasidas eine Gegenüberstellung beider Figuren. Dies liegt daran, dass ihre Darstellung in den betreffenden Textstellen, vor allem der Schilderung des Kampfes um Amphipolis, derart eng miteinander verwoben ist, dass eine gesonderte Betrachtung häufiger Verweise und Wiederholungen bedürfte, die sich durch eine gemeinsame Untersuchung erübrigen. Von zentraler Bedeutung ist es auch hier, die Charakteristika der einzelnen Begriffsverwendungen zu analysieren, um zu überprüfen, inwieweit sie anderen Kontexten im Werk entsprechen. Nur dann, wenn plausibel gezeigt werden kann, dass die Begriffsverwendung im Zusammenhang mit Kleon und Brasidas bereits bekannte Konnotationen aufweist, lässt sich die Darstellung der Figuren mit bisher betrachteten Stellen verknüpfen. In einem solchen Rahmen ist es dann auch möglich, die Darstellungstendenz der Individuen mit den bisherigen Ergebnissen zu vergleichen und weiterführende Aussagen zur Darstellung von Individuen im Zusammenhang mit der Verwendung des Kinesis-Begriffs bei Thukydides zu treffen. Der gemeinsamen Betrachtung von Brasidas und Kleon muss zuerst die Untersuchung einer besonderen Passage vorangestellt werden, die die Darstellungstendenz des Kleon deutlicher zu zeigen vermag, die dann in der Amphipolis-Episode mit der des Brasidas zusammengeführt wird. Es handelt sich dabei um die Kleon-Rede in der Mytilene-Debatte, in der dieser die bereits von den Korinthern in Bezug auf Sparta gebrauchte Phrase ἀκινήτοι νόμοι nun im Zusammenhang mit Athen bemüht und genau das, was die Korinther an den Spartanern kritisiert hatten, nun von den Athenern fordert. Die Kleon-Rede in der Mytilene-Debatte III, 37–40 Die Mytilene-Debatte und ihre Folgen bilden den Abschluss des Berichts über die Ereignisse rund um den Abfall der Insel Lesbos. Aufgrund ihrer komplexen Gestaltung, die in dem Rededuell zwischen Kleon und Diodotos ihren Höhepunkt findet, ist sie zentrales Objekt verschiedener Studien zur thukydideischen Werkskonzeption und der Rekonstruktion seiner Interpretation der

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historischen Ereignisse.345 Von zentraler Bedeutung sind hier aber vorrangig die durch die Verwendung transportierten Implikationen des Kinesis-Begriffs. Nach der Aufgabe Mytilenes beschließen die Athener »im Zorn« (ὑπὸ ὀργῆς, 36, 2), die männliche Bevölkerung der Stadt hinzurichten, den Rest in die Sklaverei zu verkaufen. Die Härte dieses Beschlusses wird damit begründet, dass Lesbos abgefallen war, obwohl man es nicht so beherrschte wie die anderen Verbündeten (οὐκ ἀρχόμενοι ὥσπερ οἱ ἄλλοι ἐποιήσαντο) und aufgrund der Überraschung, dass sich peloponnesische Schiffe bis nach Ionen gewagt hätten.346 Am nächsten Tag empfinden die Athener Reue über diesen Beschluss (μετάνοιά, 36, 4), sodass die Mytilener und ihre Unterstützer eine neuerliche Debatte erwirken können. In dieser treten Kleon als Verantwortlicher und Befürworter der ursprünglich gefassten Entscheidung und Diodotos als sein Gegner auf. Kleon wird eingeführt mit dem Attribut βιαιότατος τῶν πολιτῶν,347 wodurch sein Eintreten für den Beschluss der Ausrottung der Stadt begründet wird. Kleons Rede beginnt mit einer Kritik an der Demokratie, die seines Erachtens nach unfähig sei, über andere zu herrschen, da die Athener mit den Verbündeten genauso umgingen wie miteinander. Dies jedoch sei gefährlich, da die Beziehung zu den Verbündeten inzwischen eine Tyrannis über »lauernde und gefährliche Untertanen« (πρὸς ἐπιβουλεύοντας αὐτοὺς καὶ ἄκοντας ἀρχομένους) sei (37, 1–2).348 Ein Schwanken bei einmal gefassten Beschlüssen sei daher nicht ratsam: die Athener müssten einsehen, dass eine Stadt mit schlechteren, aber »unbeweglichen« Gesetzen besser sei als eine mit guten, an die sich aber niemand halte: μηδὲ γνωσόμεθα ὅτι χείροσι νόμοις ἀκινήτοις χρωμένη πόλις κρείσσων ἐστὶν ἢ καλῶς ἔχουσιν ἀκύροις (37, 3). Im Folgenden richtet sich Kleon gegen die neuerliche Beratung, die unnötig Zeit verstreichen lasse und greift seinen Gegner an, dem er unterstellt, die Athener durch seine Rede blenden zu wollen und nicht das Beste für die Stadt im Sinn zu haben (38, 1–7). Er zeigt in Kapitel 39 auf, dass sich Mytilene auf besondere Weise aufgelehnt habe, da sie am wenigs345 Vgl. z. B. Stahl, Thukydides, S. 106–112; A. Rengakos, Form und Wandel des Machtdenkens der Athener bei Thukydides, Stuttgart 1984, S. 57–74; Orwin, Humanity, S. 142–162; J. Grethlein, The Presence of the Past in Thucydides. In: Tsakmakis / Tamiolaki (edd.), Thucydides, S. 103–113; Kopp, Seeherrschaft, S. 153–168. 346 Vgl. Kopp, Seeherrschaft, S. 165. 347 Zur Bedeutung der Einführung vgl. Rengakos, Form und Wandel, S. 58. Zu Kleon im Geschichtswerk allgemein vgl. J. Rusten, Thucydides and Comedy. In: Rengakos / Tsakmakis (edd.), Thucydides, S. 551–554; A. Tsakmakis / Y. Kostopoulos, Cleon’s Imposition on his Audience. In: G. Rechenauer / V. Pothou (edd.), Thucydides – A Violent Teacher? History and its representations, Göttingen 2013, S. 171–183; E.  Foster, Aristophanes’ Cleon and Post-Peloponnesian War Athenians: Denunciations in Thucydides. In: E. Baragwanath / Dies. (edd.), Clio and Thalia. Attic Comedy and Historiography (Histos Supplement 6 (2017)), S. 129–152. 348 Zur Nähe zur 3. Perikles-Rede vgl. Rengakos, Form und Wandel, S. 59 Anm. 144.

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ten Grund dazu gehabt hätten: die besondere Behandlung durch die Athener habe zur Verachtung auf Seiten der Lesbier geführt, die schließlich abgefallen seien. Die beschlossene Strafe müsse durchgeführt werden zur Abschreckung der anderen Bundesgenossen, auf die Gegenredner dürfe nicht gehört werden, andernfalls müssten die Athener von ihrer Herrschaft zurücktreten (40, 1–3). Diodotos’ Antwort teilt sich in zwei Hauptpunkte: Er entgegnet dem Vorwurf Kleons, er würde nicht zum Besten der Stadt reden und zeigt auf, welche Folgen ein solcher Vorwurf für die Beratungen haben könnte (42, 1–43, 1). Aufgrund der Missgunst sei es nun unmöglich, ohne Trug das Beste für die Stadt zu raten (43, 2–5). Er argumentiert dann schließlich, dass es für Athen von Vorteil wäre, die Mytilener zu verschonen, da Strafen noch nie eine Freiheit von Straftaten garantiert hätten (44–46, 1), Gnade jedoch andere davon abhielte, sich in Zukunft noch besser gegen die Athener zu rüsten (46, 2–3). Eine schwere Strafe würde zu Verlust der Unterstützung bei den übrigen Verbündeten und von zukünftigen Ressourcen führen (47, 1–4): es sollten daher nur die Verantwortlichen bestraft werden, nicht aber das ganze Volk (48, 1). Die Athener Volksversammlung billigt schließlich den Antrag des Diodotos und verhindert die Hinrichtung ganz Mytilenes. Die »unbeweglichen« Gesetze in der Rede Kleons stehen in einem engen Zusammenhang zu den ἀκίνητα νόμιμα in der Rede der Korinther in Buch I, 71, 3: sie werden hier jedoch gelobt und als gut bezeichnet, während die Korinther sie kritisieren.349 Die ἀκινήτοι νόμοι werden bezüglich der Bedeutung von ἀκινήτοι durch den Kontext definiert: »unbeweglich« bedeutet hier nicht nur »un­veränderlich«,350 wie es die Übersetzung von Vretska und Rinner vorschlägt, sondern eben auch »immer gültig« und »verpflichtend«, wie die Bezüge auf die Unumstößlichkeit (μηδὲν καθεστήξει) und die ἀκολασία351 zeigen. Der Aspekt der Ewigkeit könnte hier zum Tragen kommen, welcher auch die ἀκίνηταBezeichnungen bei Parmenides, Empedokles und Xenophanes ausgezeichnet hat: Die ewig gültige Wahrheit wird gerade durch die Freiheit von κίνησις ausgedrückt. Die Verknüpfung mit den νόμοι stellt dabei einen Bezug zum Bereich des Menschlichen her: Die gegebenen Gesetze sind darauf ausgelegt, immer als Erkenntnis des Notwendigen gültig zu sein, sie sollen daher von der κίνησις ausgenommen werden.352 Damit wird aber die Möglichkeit der κίνησις im mensch349 Zur Stelle und ihren Bezug auf Alkibiades in VI, 18, 7 und spezielle Forschungsfragen Hornblower I, S. 423–424. 350 Vgl. Gomme II, S. 300. 351 Vgl. Classen / Steup III, S. 66. 352 Zur Wortwahl von νόμος bezüglich des Beschlusses vgl. Hornblower I, S. 424. Interessant ist in diesem Kontext auch der sophistische Gegensatz von Nomos und Physis, vgl. R. P. Winnington-Ingram, ΤΑ ΔΕΟΝΤΑ ΕΙΠΕΙΝ: Cleon and Diodotus (BICS 12 (1965)), S. 72, da die Physis ja z. B. bei einigen Vorsokratikern als »in Bewegung« wahrgenommen wurde: der Nomos muss daher unbewegt sein.

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lichen Bereich nicht allgemein negiert: Ihr Vorhandensein zeigt sich ja in den von Kleon angeführten Alternativen, die ebenfalls möglich sind, aber eben nicht zur Stärke führten. Die »unbeweglichen« Gesetze sind jedoch immer gültig und damit frei von jeglichem Einfluss von außen,353 sie garantieren außerdem größte Stabilität.354 Der Prozess der κίνησις wird hier anscheinend wieder als chaotischer und instabiler Faktor wahrgenommen. Die daraus resultierende Instabilität ist der für Kleon entscheidende Punkt, der sogar noch wichtiger ist als die eigentliche inhaltliche Güte der Gesetze, weshalb er sie zwar als χείρονες betitelt, die aber die Stadt gleichzeitig »mächtiger« oder »stärker« (κρείσσων)355 machen. Damit wird die Stabilität, ausgedrückt durch den Gegensatz der ἀκινήτοι νόμοι zu μηδὲν καθεστήξει und ἀκολασία, als Hauptgrund für die Macht und Güte der Stadt angeführt, das Befolgen und die Gültigkeit der Gesetze sind dabei die entscheidenden Grundlagen der Stabilität. Die Freiheit von κίνησις kann somit hier als ein zentraler Faktor für Planung und Vorhersehbarkeit, κίνησις wiederum ex negativo als Situation fehlender Kontrolle interpretiert werden. Die Kontrolle sei nach Kleon nur gegeben, wenn man sich auch an die Beschlüsse halte, wie es das Gesetz vorsehe. Das Befolgen eines einmal gefassten Beschlusses wird damit ein Zeichen von ἀκινήτοι νόμοι und bringt den Athenern, in der Logik Kleons, die Kontrolle über die Bündnispartner, wie er in 39, 7 ausführt – sollte man den Beschluss nicht umsetzen, also das Gesetz »bewegen«, so würden sich alle gegen die Athener erheben und diese könnten ihre eigentlichen Gegner nicht mehr bekämpfen. Noch stärker wird dieser Bezug von Unbeweglichkeit und den Aspekten der Stabilität und Planbarkeit durch die Verbindung zur σωφροσύνη gemacht, die Kleon im gleichen Atemzug anbringt. Die σωφροσύνη, die Besonnenheit, benannte bereits Archidamos in seiner Rede in I, 84, 2 als einen positiven Aspekt der von den Korinthern so kritisierten »Unbeweglichkeit« der Spartaner,356 die es den Betreffenden möglich mache, sich auf die jeweilige Situation bestmöglich einzustellen und sich auf alles vorzubereiten. Die σωφροσύνη wird damit zu einem Hauptargument seiner Ablehnung des ὅπλα κινεῖν. Ähnlich argumentiert auch Kleon, wenn er die »unbeweglichen« Gesetze als ebenso nützlich darstellt wie die σωφροσύνη, da beide Elemente Voraussicht, Planbarkeit und damit Kontrolle und Erfolg möglich machen. In einem solchen Kontext ist der Ausdruck ἀκινήτοι νόμοι nicht nur dahingehend zu verstehen, dass sich die Gesetze als solche nicht ändern, sondern auch, dass ihr Befolgen, ebenso wie im Ausdruck ἀκίνητα νόμιμα, Freiheit von κίνησις und ihrer Folgen verspricht. Dass der Fokus hier eher auf diesen Aspekten der Gültigkeit und Verbindlich353 354 355 356

Vgl. Classen / Steup III, S. 66: »[…] die nicht angetastet, nicht verletzt werden […].« Vgl. C. W. Macleod, Collected Essays, Oxford 1983 [Reprint 1984], S. 93. Vgl. dazu ebd. Vgl. auch Classen / Steup III, S. 66.

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keit, sowie der daraus erwachsenden Vorteile für die Macht der Stadt liegt, als auf dem spezifischen Inhalt der Gesetze, wie der deutsche Terminus »unveränderlich« suggeriert, kann durch die scheinbar widersprüchliche Kombination von χείρονες und ἀκινήτοι νόμοι zu χρωμένη πόλις κρείσσων deutlich werden – stärker werden hinsichtlich der Macht und des Einflusses durch Freiheit von κίνησις. Es geht hier also nicht um inhaltliche Rechtsfragen, sondern um den Umgang der Stadt mit den Gesetzen und ihrem Befolgen allgemein: Eine Abkehr von der Tradition und vom Herkommen und daher eine »Bewegung« der Gesetze357 würden einen Schaden für die Stadt aufgrund der dadurch entstehenden Unkontrollierbarkeit bedeuten. Im gesamten Werkkontext besonders interessant ist die bereits oben an­ gesprochene Nähe zur Darstellung der Spartaner durch die Korinther und der Verteidigung ihrer Wesensart durch Archidamos: Während die Korinther gerade über diese Unbeweglichkeit den Kontrast zu Athen besonders stark machten, drängt Kleon hier dazu, gerade die »Unbeweglichkeit« der Gesetze aufrecht zu erhalten, d. h. er befürwortet eine den Spartanern durch die Korinther zugeschriebene Wesensart. Dies kann auch durch Kleons Ausführungen bezüglich der Debattenkultur in Athen bestätigt werden, die eben dazu führe, dass die Gesetze nicht mehr ἀκινήτοι seien. Kleon trifft damit die Einschätzung der Korinther bezüglich des Wesens der Athener und ruft diese zum Gegenteil auf, zur σωφροσύνη, die sich auch in der Befolgung eines einmal gefassten Entschlusses ausdrücke. Eine Veränderung des Beschlusses käme in seinen Augen einer Bewegung gleich, sodass er die Athener im Grunde genommen auffordert, weniger »athenisch« zu sein. Dass er sich mit dieser Forderung schließlich nicht durchsetzen kann, entspricht der bisher beobachteten Darstellungstendenz der Athener. Gleichzeitig aber fordert Kleon damit auch das Einhalten einer Entscheidung, die überstürzt und emotional getroffen wurde und steht damit genau für das Gegenteil der Besonnenheit ein.358 Es bietet sich daher ein mehrschichtiges Bild des Umgangs mit κίνησις: Zum einen betont Kleon die Stabilität und Kontrolle, die den Athenern durch die Ausführung des Beschlusses erwachsen sollen und verbindet damit die ἀκινήτοι νόμοι auch mit dem Abwenden einer κίνησις für die Stadt, zum anderen ist der Entschluss selbst Ergebnis eines kinetischen, emotionalen Handelns, vergleichbar mit der κίνησις der Oligarchen auf Kerkyra in III, 75, 2. Gerade auch die geplante Ausführung, das Ermorden der männlichen Bevölkerung, kann in einen Kontext der μεγίστη κίνησις gestellt werden, 357 Vgl. Macleod, Essays, S. 94. 358 J. R. Grant, Toward Knowing Thucydides (Phoenix 28, 1 (1974)), S. 93; C. Pelling, Literary Texts and the Greek Historian, London / New York 2000, S. 9–10; Stimson, Characterization, S. 155–156.

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wenn man sie in Verbindung zu I, 23, 2 stellt, der Entvölkerung ganzer Städte: Folgt man der Argumentation, dass Thukydides hier den Nachweis der unvergleichlichen Größe der von ihm postulierten κίνησις führt,359 so ist Kleons Forderung eine Illustration dieses Elements, welches die κίνησις insgesamt zur größten macht, womit eine tatsächliche Durchführung zur μεγίστη κίνησις beitragen würde. Auch auf lange Sicht kann nicht festgestellt werden, welcher Beschluss für Athen weniger »Bewegung« nach sich gezogen hätte und ob Kleon mit seinem Argument wirklich Recht hatte. Einerseits wird ihm in Buch VIII mit der Einschätzung der Wichtigkeit von Kontrolle in 39, 7 anscheinend Recht gegeben, als die Lesbier erneut von Athen abfallen (VIII, 22, 2) und somit wichtige Ressourcen im Kampf gegen die Peloponnesier binden.360 Es findet sich aber andererseits kein Urteil des Thukydides darüber, inwiefern der Beschluss der Debatte Einfluss auf das Verhalten Lesbos’ im weiteren Verlauf des Krieges ausgeübt haben mag, sodass eine solche Verbindung hier nur als eine mögliche Interpretation angesprochen werden soll. Ob eine Durchsetzung des ersten Beschlusses, d. h. eine »Unbeweglichkeit« der Athener bezüglich ihrer νόμοι eine durchgängige Kontrolle über Lesbos garantiert hätte, muss Spekulation bleiben. Kleons Verhältnis zur κίνησις kann hier als ambivalent interpretiert werden. Er argumentiert zwar gegen eine Bewegung, tritt aber dabei gleichzeitig für kinetische Elemente ein. Betrachtet man den Charakter der beiden DebattenBeiträge, so fällt auf, dass Kleon hier eher als »Warner« auftritt, der die Macht der Stadt an das Befolgen von Recht und Gesetz knüpft und die Bestrafung von Mytilene als notwendige Maßnahme ansieht, um weitere Gefahr abzuwenden: »[…] während ihr nicht seht, dass ihr die Herrschaft als Tyrannis besitzt und diese sogar über lauernde und unwillige Beherrschte […]« (37, 2). Aus dieser Perspektive ist Kleon dem warnenden Archidamos aus I, 80–85 näher als dem »kinetischen« Charakter der Athener, während Diodotos’ Argumentation dagegen weder auf Mitleid noch Recht beruht (44, 4; 46, 4; 48, 1), sondern einzig auf dem zukünftigen Vorteil für die Erweiterung der Macht der Stadt (44, 3; 46, 2–3) und damit eher an die Charakterisierung der Athener durch die Korinther in I, 70, 7 erinnert: »Schlägt aber ein Versuch bei ihnen fehl, so setzen sie ihre Hoffnung auf anderes […]; allein für sie ist vollständig gleich der Besitz und die Hoffnung auf das, was sie im Sinn haben […].« Insofern ist Diodotos in seiner Argumentation »kinetischer« und typisch »athenischer« als Kleon361 – der wiederum eher »spartanisch« wirkt. Wie aber bereits an Nikias gezeigt wurde, kann eine rein dichotome Zuschreibung für die Individuen nicht getroffen werden, 359 Vgl. oben Kap. 4.1. 360 Vgl. z. B. VIII, 103, 2. 361 Vgl. Strauss, City, S. 231: »That speech contrasted with Cleon’s speech which it opposes as well as with the Thebans’ speech accusing the Plataeans reveals itself as a characteristically Athenian act – as no less characteristic of Athens than the Sicilian expedition […].«

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denn Kleon tritt ja mit seiner Forderung nach »Unbeweglichkeit« gleichzeitig für einen Aspekt ein, den Thukydides im Proömium mit der μεγίστη κίνησις in Verbindung bringt. Kleon ist daher nicht »spartanisch« im Sinne von »ruhig«, sondern seine Argumentation lehnt sich an eine solche Charakteristik an. Dass aber sowohl Kleon, als auch Diodotos letztendlich mit den beiden entgegengesetzten Vorschlägen die Macht Athens bewahren und sogar steigern wollen, könnte der allgemeinen Darstellungstendenz Athens im Sinne einer ständigen Intensivierung der κίνησις geschuldet sein, sodass die von Kleon geforderte »Unbeweglichkeit« sowohl hinsichtlich der Stadt als auch des gesamten Prozesses, in dem sie sich befindet, als Illusion interpretiert werden kann. Darüber hinaus scheint auch dieser negative Kinesis-Begriff typische Konnotationen aufzuweisen, die ihn sowohl mit anderen Stellen im Werk, als auch mit Vorstellungen bei den Vorsokratikern in Verbindung bringen. Erneut ist darauf hinzuweisen, dass die Phrasen ἀκίνητα νόμιμα und νόμοις ἀκινήτοις so zuerst bei Thukydides zu finden sind.362 Die negative Form kommt ohnehin nur an zwei Stellen im Werk vor, die, wie oben gezeigt wurde, auch in einem größeren Darstellungskontext miteinander verbunden werden können. Zwar ist dadurch natürlich nicht sicher, dass Thukydides sich für die Verwendung allein deshalb entschieden hat, um seiner Darstellung entsprechende Tendenzen zu geben, doch es bleibt festzuhalten, dass es eben möglich ist, diese aus dem Text aufgrund der Kohärenzen der Charakteristika und der Verknüpfungen abzuleiten. So kann aus dem Gebrauch an dieser Stelle konstatiert werden, dass die Aspekte der Stabilität, der Möglichkeit ewiger Gültigkeit und damit Planbarkeit sowie der daraus resultierenden Kontrolle von Kleon im Zusammenhang mit den ἀκινήτοι νόμοι angesprochen werden. Diese νόμοι sollen als dem einzelnen Menschen Übergeordnetes eine κίνησις, die genau das Gegenteil all dieser Elemente bewirkt, verhindern. An dieser Stelle wird auch deutlich, dass Rustens Interpretation des KinesisBegriffes als »Rüstung« oder »Mobilisierung«363 in einen Konflikt mit dem Text gerät: während die ἀκίνητα νόμιμα der Korinther noch als »Nicht-Rüstung« interpretiert werden können, fordert Kleon hier geradezu das Gegenteil, den Waffengang gegen Mytilene, damit die Gesetze ἀκινήτοι bleiben. Es können also keine Gesetze der »Nicht-Rüstung« gemeint sein, sondern eben das Gesetz, welches zur Rüstung aufruft, um eine Strafe auszuführen. Wenn Thukydides Kleon hier den (negierten) Kinesis-Begriff bemühen lässt,364 so scheint es unwahrscheinlich zu sein, eine solch enge Bedeutung von κίνησις für den Autor 362 Dies ergibt eine Suche im digitalen TLG . 363 Vgl. oben S. 41–45. 364 Zur Frage der Gestaltung und der historischen Authentizität der Reden vgl. WinnigtonIngram, Cleon and Diodotus, S. 80.

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annehmen zu können. Plausibler ist es auch hier, die Begriffswahl und -bedeutung auf bestimmte Aspekte der historischen Situation zurückzuführen, die sich durch die Gefahr von Unkontrollierbarkeit für Athen auszeichnet. Im Zusammenhang mit der Amphipolis-Episode wird deutlich werden, dass sich Kleons Plädoyer für die Unbeweglichkeit in eine kohärente Darstellungstendenz seiner Figur einfügen lässt, die der Figur des Brasidas gegenübergestellt wird. Brasidas und Kleon bei Amphipolis V, 7–11 Das Aufeinandertreffen der Generäle Brasidas und Kleon bei Amphipolis endet mit dem Tod dieser beiden prominenten Figuren im Werk. In der Schilderung der Begegnung verwendet Thukydides dreimal den Kinesis-Begriff, in 8, 1 und dann wieder in 10, 5, in einer höchst interessanten Konstruktion. Die κίνησις geht von Kleon aus und wird dann in der Darstellung des Thukydides von Brasidas für seinen militärischen Vorteil verwendet. Hinzuweisen ist auf die auffällige Konzentration des Begriffes auf solch engem Raum, die sich sonst nirgendwo im Werk findet. Auch hier sollen aber die angestellten Betrachtungen lediglich Interpretationsmöglichkeiten der Stelle aufzeigen, die über die eigentliche physikalische Bedeutung des Bewegungsbegriffs, die an jeder Stelle erkennbar ist, hinausgeht. Vor allem der weitere Kontext der Stellen kann als Indiz dafür gewertet werden, dass es Thukydides bei der Darstellung der Schlacht bei Amphipolis auch darum gegangen sein könnte, zwei verschiedene Formen des Verhaltens in Bezug auf κίνησις zu illustrieren, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Das fünfte Buch beginnt mit dem Bericht über Kleons Ausfahrt gegen die thrakischen Gebiete (V, 2, 1), in denen seit der Ankunft des Brasidas (IV, 79) im Sommer 424 die Städte reihenweise von Athen abfallen (IV, 88 und 108). Bereits der Marsch des Brasidas ist durch Schnelligkeit und Entschlossenheit gekennzeichnet (IV, 79, 1), wodurch Brasidas selbst vom spartanischen Charakter des Abwartens und des Zögerns abgehoben wird, wie er auch schon in IV, 11–12 während des Angriffs auf Pylos gezeigt wurde. Mit Brasidas verbindet Thukydides auch eine persönliche Erfahrung, denn Brasidas’ Feldzug in Thrakien und seine Einnahme von Amphipolis (IV, 106), die Thukydides selbst verhindern sollte (IV, 104, 4), führten durch den Misserfolg des Thukydides zu seiner Verbannung aus Athen (V, 26, 5). Auch die gesamte Schilderung der Ereignisse um Amphipolis zeigt Brasidas als schnellen und tatkräftigen Feldherrn: Nur sein schnelles Handeln, um Amphipolis in seine Gewalt zu bekommen (IV, 105, 1), verhindert das rechtzeitige Eingreifen des Thukydides (IV, 106, 3–4). Brasidas scheint daher aufgrund dieser Schnelligkeit und seines Tatendrangs in seiner »Bewegung« auch den Athenern situativ überlegen zu sein, worauf Thukydides den Leser durch die häufige Fokussierung auf das rasche und drängende Han-

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deln und den Erfolg des Brasidas hinweist.365 Dem Leser ist daher diese Charakteristik des Brasidas zu Beginn des fünften Buches noch lebhaft bewusst, was für die Untersuchung der Verwendung des Kinesis-Begriffes an dieser Stelle zu bedenken ist. Kleon dagegen richtet sich zuerst gegen Torone, einer Stadt auf der zweiten Halbinsel der Chalkidike, wo Brasidas jedoch nicht anwesend ist. Kleon greift die Stadt vom Hafen und vom Land zugleich an und kann sie dadurch leicht einnehmen: Thukydides verweist hier wieder darauf, dass die Athener schneller in der Stadt waren als die spartanische Wachmannschaft auf ihrem Weg von der Mauer in die Stadt (V, 3, 1–2). Gleichzeitig wird einmal mehr erwähnt, dass Brasidas mit seinem Entsatz nur ganz knapp zu spät kam, um die Einnahme zu verhindern (3, 3) – das Zusammentreffen der Athener und des Brasidas in Thrakien scheint generell von Knappheit und der Schnelligkeit von Entscheidungen und Handlungen geprägt zu sein, wodurch die Schilderung eine leicht chaotische Tendenz erhält, da den Akteuren keine vollständige Kontrolle über das Geschehen zugesprochen werden kann. Die Darstellung setzt sich in Kapitel 6 fort: Kleon macht sich auf den Weg nach Amphipolis und schlägt sein Lager in Eion am Meer auf, um auf Hilfstruppen zu warten, Brasidas lagert sich ihm gegenüber auf dem Kerdylion,366 damit der Abmarsch des athenischen Heeres nicht unbemerkt bliebe (6, 1–3) und Brasidas ebenfalls zu gegebener Zeit nach Amphipolis marschieren könne. Kleon befindet sich nun in einer schwierigen Lage, denn die Soldaten beginnen aufgrund fehlender Aufgaben ihre Unzufriedenheit über ihn zu äußern, sodass er sich gezwungen sieht, nach Amphipolis aufzubrechen (7, 1–2) und auf einem Hügel vor der Stadt das Lager aufzuschlagen: er glaubt dabei nicht, dass er kämpfen müsse, da die Stadt ohne Besatzung zu sein scheint (7, 5). Brasidas’ Plan geht auf: Beim ersten Anzeichen einer Bewegung der Athener marschiert auch er nach Amphipolis und in die Stadt: ὁ δὲ Βρασίδας εὐθὺς ὡς εἶδε κινουμένους τοὺς Ἀθηναίους, καταβὰς καὶ αὐτὸς ἀπὸ τοῦ Κερδυλίου ἐσέρχεται ἐς τὴν Ἀμφίπολιν. (8, 1). Da er seine eigenen Truppen für unterlegen hält, fasst er den Plan, die Athener über die wahre Größe des Heeres zu täuschen: er wählt deshalb 150 Hopliten aus und will mit diesen die Athener unverzüglich (αἰφνιδίως) angreifen (8, 2–4). In einer Rede erläutert er seinen Plan: die Gegner verachteten die Truppe und rechneten nicht mit einem Ausfall, sie werden daher ungeordnet in der Gegend sein und wohl eher abziehen, als die Stadt angreifen zu wollen. Der zweite Feldherr Klearidas soll dann, wenn Brasidas bereits im 365 Vgl. z. B. die Bezeichnung des Brasidas als »δραστήριος« in IV, 81, 1. Brasidas schnelles Eingreifen in Megara (IV, 70–73) zwingt die Athener zur Ruhe (73, 4: ἡσύχαζον δὲ καὶ αὐτοὶ), da sie ihren Erfolg durch einen Kampf mit den Lakedaimoniern nicht aufs Spiel setzen wollen. 366 Zum Hügel Kerdylion vgl. Hornblower II, S. 437.

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Gefecht sei, die Stadttore öffnen und zur Verstärkung heranrücken, wodurch die Athener in Panik geraten sollen (9, 7–8). Brasidas Anwesenheit in Amphipolis ist nicht unbemerkt geblieben und so entscheidet sich Kleon, da er die tatsächliche Gruppenstärke nicht kennt und ohne Verstärkung keine Schlacht schlagen will, für den Rückzug, den er über die linke Flanke ausführen lässt, was wiederum sehr viel Zeit kostet (10, 1–3).367 Kleon scheint dies zu viel Zeit in Anspruch zu nehmen,368 sodass er auch die rechte Flanke bereits umkehren lässt und dem Gegner eine ungedeckte Seite bietet. Brasidas beobachtet die Bewegung des athenischen Heeres und sieht den perfekten Moment gekommen: ὡς ὁρᾷ τὸν καιρὸν καὶ τὸ στράτευμα τῶν Ἀθηναίων κινούμενον. Er spricht seinen Männern erneut Mut zu, denn die Bewegungen der Köpfe und der Speere zeige, dass die Gegner dem Ansturm nicht gewachsen seien: δῆλοι δὲ τῶν τε δοράτων τῇ κινήσει καὶ τῶν κεφαλῶν. Brasidas stürmt darauf aus der Stadt hinaus und greift die Athener direkt in der Mitte an: die Athener sind erschrocken und überrascht und wenden sich, da sie keine Ordnung haben, zur Flucht. Als Klearidas aus einem anderen Tor kommt und das athenische Heer angreift, gerät dieses vollständig in Verwirrung (θορυβηθῆναι). Brasidas wird im Kampf verwundet und in die Stadt getragen, Kleon, der sowieso nicht kämpfen wollte, wird auf der Flucht getötet (10, 6–9). Auch der Rest des athenischen Heeres wird auf der Flucht aufgerieben. Brasidas kann zwar noch vom Sieg unterrichtet werden, stirbt aber kurz darauf (10, 11). Die Athener hätten, so Thukydides weiter, 600 Soldaten verloren, die Verteidiger nur 7 – dies sei vor allem auf die Umstände der Schlacht zurückzuführen, die nicht in Reih und Glied, sondern in Panik von Anfang an (μὴ ἐκ παρατάξεως, ἀπὸ δὲ τοιαύτης ξυντυχίας καὶ προεκφοβήσεως τὴν μάχην μᾶλλον γενέσθαι) geschlagen worden sei (11, 2). Damit endet der Bericht über die Kampagne des Kleon in Thrakien.

367 Vgl. Classen / Steup V, S. 23–24; Gomme III, S. 647; gegen die Interpretation des genauen Ablaufs, aber ohne den bedeutenden zeitlichen Aufwand abzustreiten W. K. Pritchett, Studies in Ancient Greek Topography Part III (Roads), Berkely / Los Angeles / London, 1980, S. 333–335; Hornblower II, S. 446–447. 368 Es gibt über diese Stelle eine Unklarheit bezüglich des griechischen Textes, da die Form σχολή (es schien ihm Zeit vorhanden) von den meisten Herausgebern in σχολῇ (es schien ihm zu lange zu dauern) konjektiert wurde, welches sich auch in zwei Handschriften findet (Krüger V, S. 10, § 4). Zur Diskussion vgl. Classen / Steup V, S. 24; Gomme III, S. 648; Hornblower II, S. 446. Ich entscheide mich hier für die Lesart σχολῇ, da es m. E. unwahrscheinlich ist, dass Kleon angesichts der Geschäftigkeit in der Stadt, die ja gesehen werden konnte, und der Meldung der Vorbereitungen und eines möglichen Ausfalls (ὡς ἐξιόντων, V, 10, 2) noch davon ausging, dass ihm »genügend« Zeit bliebe, zumal die Truppen ja schon am Tor gesehen wurden. Es ist jedoch anzumerken, dass im Falle von σχολή der Gegensatz zwischen dem schnellen und entschlossenen Brasidas und dem zögernden Kleon besonders stark gemacht werden würde: am Verlauf des Ereignisses ändert die Frage freilich nichts.

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Wie bereits angekündigt stellt das Aufeinandertreffen von Kleon und Brasidas bei Amphipolis die Zusammenführung zweier Charaktere dar, welche Thukydides mit einem historischen Wendepunkt im Krieg verbindet, denn der Tod der beiden »Hauptgegner« des Friedens (V, 16, 1) in den jeweiligen Gemeinwesen stellt einen der Faktoren dar, der 421 zum Abschluss des Nikiasfriedens führte. Die anderen Beweggründe benennt Thukydides ebenfalls: für die Athener in V, 14, 1 die Niederlagen beim Delion und in Amphipolis, für die Spartaner in 14, 3 die Niederlage bei Pylos, die Gefangennahme der Hopliten auf Sphakteria und die athenische Besetzung von Kythera sowie die Helotenfurcht und die Feindschaft mit Argos. Sieht man von den letzten beiden Punkten ab, stehen alle Faktoren bis hin zum Tod der beiden Hauptgegner des Friedens direkt oder indirekt in Verbindung mit dem Kinesis-Begriff: Am Delion richtet sich eine geplante κίνησις für die Boioter gegen die Athener selbst, die Amphipolis-Expedition scheitert aufgrund der Bewegungen des Heeres und die Maßnahmen der Spartaner bei Pylos und Sphakteria werden indirekt in IV, 55, 4 als κινήσεις bezeichnet, die ihre Demoralisierung zur Folge haben. Der Frieden scheint daher in Thukydides’ Darstellung durch die Auswirkungen der κίνησις auf die jeweiligen Akteure des Krieges, Athen und Sparta, möglich zu werden  – die Konsequenzen und Rückschläge haben beide Seiten in eine Lage gebracht, die sie einen Frieden als bessere Alternative betrachten lässt. Die beiden Hauptgegner eines Friedensschlusses sind zugleich durch κίνησις umgekommen, wie aus der ungewöhnlich dichten Konzentration der Begriffsverwendung in Buch V geschlossen werden kann.369 Der sonst eher spärlich verwendete Begriff findet hier gleich dreimal Anwendung und spielt eine zentrale Rolle in der Entwicklung der Ereignisse: Erst kann Brasidas durch die Beobachtung der Bewegung des Heeres rechtzeitig in Amphipolis eintreffen, dann führt die Rückzugsbewegung des athenischen Heeres zur Entscheidung des Brasidas zum Ausfall und schließlich ist die Bewegung der Köpfe und der Speere der Athener Grundlage seiner Motivationsrede an seine Soldaten, was, alles zusammengenommen, zum entscheidenden Kampf und zum Tod der beiden Protagonisten führt. Zur Einordnung der Stelle in die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung ist zum einen die Konnotation des jeweiligen Begriffs in seinem Kontext zu betrachten, zum anderen eine darauf basierende mögliche Einordnung in den größeren Zusammenhang der Darstellung der μεγίστη κίνησις durch die Verbindung zu zwei Hauptakteuren des gesamten Krieges zu untersuchen. Die erste Verwendung des Kinesis-Begriffes in 8, 1 ist eng verbunden mit einer unfreiwilligen Entscheidung Kleons. Dieser wollte nämlich eigentlich auf Ver369 Zur Gestaltung der Stelle vgl. V. Hunter, Thucydides, The Artful Reporter, Toronto 1973, S. 30–41. Es handelt sich hier auch um die einzigen Stellen im fünften Buch, an denen der Begriff verwendet wird.

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stärkung in Eion warten, sieht sich dann aber gezwungen, loszumarschieren, wie Brasidas dies geplant hatte: ὁ δὲ Κλέων τέως μὲν ἡσύχαζεν, ἔπειτα ἠναγκάσθη ποιῆσαι ὅπερ ὁ Βρασίδας προσεδέχετο. (7, 1). Kleon verlässt also unter Zwang das gesicherte Eion370 und begibt sich nach Amphipolis, womit er auch seine gute Ausgangsstellung aufgibt. Es lassen sich hier zwei Aspekte der κίνησις des Heeres ausmachen: Es ist keine freiwillige Bewegung, die Kleon dort befiehlt, sondern eine ihm aufgezwungene, was an die Konnotation des äußeren Einflusses erinnert, und sie führt zur Aufgabe des gesicherten Lagers, ist also ein Verlust an Sicherheit und damit auch ein Stück weit an Kontrolle über die Situation. Brasidas ist sich der Überlegenheit des athenischen Heeres wohl bewusst und hat deshalb gehofft, dass es aus Eion herausmarschieren und sich so ohne Verstärkung auf freiem Feld isolieren würde (8, 2–4). Die Wiedergabe der Gedanken des Brasidas zeigt, dass mit dem Ausmarsch aus dem Lager bei Eion ein Verlust an Stärke und Sicherheit für die Athener einhergeht, denn Brasidas weiß, dass er nur in diesem Fall Chancen auf einen Sieg hat. Auf der Grundlage dieser Verschiebung der Kräfteverhältnisse bezüglich Sicherheit und Kontrolle über die eigene Situation hin zu Gunsten von Brasidas kann die Wahl von κινουμένους τοὺς Ἀθηναίους mit der Charakteristik der fehlenden Kontrolle in Verbindung gebracht werden. Darüber hinaus verstärkt die Schilderung in 7, 3, dass Kleon der Situation im Allgemeinen nicht Herr ist, denn Thukydides vergleicht die Situation mit der Kampagne Kleons in Pylos, deren Gelingen er aber auf Glück, nicht auf Kleons Fähigkeiten zurückführt:  εὐτυχήσας  ἐπίστευσέ  τι  φρονεῖν (7, 3). Der Aufbruch des Heeres bekommt dadurch einen willkürlichen, ungeplanten Charakter, der Ausgang der Situation hängt von der Tyche ab und nicht von den Überlegungen Kleons: Die Soldaten begeben sich in eine Situation, in der ihr Schicksal von verschiedenen Faktoren, nicht nur von ihnen selbst, bestimmt wird. Auch dies kann mit der allgemeinen Charakteristik der κίνησις in Verbindung gebracht werden, zumal Kleon, wie bereits betont, durch Umstände »von außen«371 gegen seinen Willen dazu gezwungen wird, aufzubrechen. Die zweite Verwendung in 10, 5, τὸ στράτευμα τῶν Ἀθηναίων κινούμενον, ist durch die Entscheidung Kleons, auch den rechten Flügel des Heeres wenden zu lassen, ebenfalls durch die Aspekte der fehlenden Planung und des Eindrucks von Unordnung geprägt, die Brasidas den günstigen Moment für den Angriff anzeigen. Das Heer verlässt hier nicht nur aufgrund des Rückzugs seine Kampfordnung, sondern auch noch die Ordnung des Rückzugs und wird dadurch anfällig für eine Attacke. Der Verlust dieser geordneten Aufstellung ist damit 370 Vgl. dazu Gomme III, S.635. 371 »Von außen« soll hier den Aspekt des Zwangs wiedergeben, d. h. dass sich Kleon nicht aus freien Stücken und aus sich selbst heraus für den Aufbruch entscheidet. Die Gründe für die Entstehung des Zwangs sind dagegen, wie Thukydides in 7, 2 ausführt, auf Kleons Charakter zurückzuführen.

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der Moment, in dem die Stabilität des Heeres, und damit die Kontrolle über die Situation, aufgrund der Bewegung abhanden gehen.372 Brasidas erkennt diese Chance und nutzt den der Bewegung inhärenten kurzzeitigen Verlust des Vorteils des athenischen Heeres zum Angriff. Zu sehen ist hier, dass der Bewegung selbst noch kein Schaden für das athenische Heer innewohnt, sondern nur die Möglichkeit zum Schaden, da durch das Aufgeben der Ordnung auch der Kontrollverlust größer wird. Dies jedoch muss, um einen Schaden zu genieren, vom Gegner erkannt und ausgenutzt werden. Diese Bewegung ist, genau wie die erste Bewegung Kleons, somit keine geordnete und auf den Erhalt von Kontrolle abzielende Aktion, sondern ein planloses Handeln, dessen Ausgang in diesem Moment nicht in der Hand des Feldherrn und der Soldaten liegt, sondern durch die Entscheidung des Brasidas bestimmt wird. Während das athenische Heer in seiner Schlachtordnung Brasidas’ Truppen überlegen ist (8, 2), wird diese Kontrolle über die Situation durch die Art und Weise der Bewegung abgegeben, die Konsequenzen der Handlung und der Ausgang der Situation unterliegen nicht mehr allein dem Einfluss der Ausführenden – auch dieser Aspekt des fehlenden Einflusses auf κίνησις lässt sich hier wiederfinden. Gleichzeitig ist auch die Möglichkeit des Menschen, auf die κίνησις zu reagieren und in ihrem Rahmen zu agieren, aufgezeigt, denn die Entscheidung, was nun passiert, ist nur einem Teil der Beteiligten entzogen, während Brasidas die Initiative ergreifen kann. Damit scheint sich erneut die Betrachtung nicht auf eine kosmische κίνησις der Vor­ sokratiker, sondern auf eine κίνησις im Bereich der Menschen zu fokussieren, die aber ihren übermenschlichen Aspekt durch das Fehlen menschlicher Kon­trolle beibehält. So hat auch Brasidas in der gesamten Schilderung keine Kontrolle über die Bewegungen an sich, denn diese führen ja andere aus; er kann sich aber entscheiden, wie er auf diese reagiert – und muss dann auf einen glücklichen Ausgang seiner Entscheidungen hoffen. Es ist daher auch hier gut erkennbar, dass der Kinesis-Begriff mit dieser Charakteristik der Situation verbunden werden kann und vermutlich auch diese Elemente der Handlung ausdrückt. Für die dritte Verwendung in 10, 5, der Ansprache des Brasidas, δῆλοι δὲ τῶν τε δοράτων τῇ κινήσει καὶ τῶν κεφαλῶν, gelten dieselben Aspekte der Situation, denn gemeint ist ja hier das in der Bewegung befindliche Heer der Athener. 372 Den Aspekt fehlender Ordnung erwähnt Brasidas bereits in 9, 3. Aufgrund dieser Überlegung erkennt er auch in der κίνησις des Heeres den καιρός, den günstigsten Zeitpunkt für sein Vorhaben, denn in der Bewegung ist die Möglichkeit, Verwirrung zu stiften, am besten, vgl. auch Classen / Steup V, S. 19. Anders dagegen Gomme III, S. 648, der einen Verlust von Ordnung nicht in κινούμενον und κινήσει enthalten sieht. Das Abziehen geschieht aber gleichzeitig, wie von Brasidas erhofft, ἀτάκτως (9, 3), was eindeutig auf den Aspekt der Unordnung verweist. Thukydides selbst geht auf die fehlende Ordnung beim Rückzug explizit ein in 10, 6: πεφοβημένοις τε ἅμα τῇ σφετέρᾳ ἀταξίᾳ, vgl. Hornblower II, S. 448.

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Darüber hinaus wird aber auch das Verhalten eines jeden Einzelnen von Brasidas mit dem Kinesis-Begriff in Verbindung gebracht. Thukydides lässt Brasidas nicht erklären, was er eigentlich meint: Als Grund für die gute Gelegenheit zum Angriff führt Brasidas nur »die Bewegung« an, die zur Überlegenheit des eigenen Heeres führe. Es ist daher unklar, ob Brasidas sich nur auf das Aufbrechen der Ordnung des Heeres bezieht, welches an den Köpfen und Speeren zu erkennen wäre,373 oder ob auch fehlende Motivation und Kampfeslust eine Rolle spielen, die beispielsweise auf das Misstrauen der Soldaten gegenüber Kleon aus 7, 2 zurückzuführen sind. Unabhängig davon ist aber der ungeordnete und schnelle Abzug (10, 4) vor allem Auslöser der Entscheidung, einen Angriff auf die Athener auszuführen, zur psychologischen Verfassung der Soldaten äußert sich Thukydides nicht eindeutig.374 Die Einschätzung in 10, 6 lässt aber eine Verbindung von beidem, fehlendem Mut durch fehlende Ordnung (πεφοβημένοις τε ἅμα τῇ σφετέρᾳ ἀταξίᾳ) und dem Überraschungsmoment (καὶ τὴν τόλμαν αὐτοῦ ἐκπεπληγμένοις), vermuten. Durch diese Verbindung wird deutlich, dass das Aufbrechen der Ordnung durch Kleons Entscheidung zum Rückzug schließlich auch zu schlechterer Kampfmoral der Soldaten führt, wodurch die Aspekte fehlender Ordnung, Übersicht und damit auch fehlender Planbarkeit und Kontrolle durch den Kinesis-Begriff von Brasidas wieder aufgenommen zu werden scheinen, denn die Bewegung der Köpfe und Speere der in einer sich auflösenden Ordnung befindlichen Soldaten zeigt dann auch Mutlosigkeit, da man sich der eigenen, anfälligen Situation bewusst ist – worin Brasidas den Vorteil für seine eigentlich unterlegenen Truppen sieht. Somit können alle Begriffsverwendungen, neben ihrer wörtlichen Bedeutung im Sinne physikalischer Bewegung, auch hier auf dieselben, bereits bekannten Charakteristika der κίνησις zurückgeführt werden: Verlust von Sicherheit und Stabilität, fehlende Kontrolle, bzw. Einbuße an Kontrolle und Verminderung von Initiativ- und Einflussmöglichkeit in der jeweiligen Situation durch die von κίνησις Betroffenen. In letzter Konsequenz entstehen für diese dann chaosartige Zustände, die zum Verlust der Kampfkraft im Vergleich zur Schlachtordnung und dadurch zur Anfälligkeit des Heeres für einen Angriff führen. Brasidas ist sich dieser Aspekte durchaus bewusst, was vor allem durch die Verwendung des Kinesis-Begriffs in seiner Ansprache an die Soldaten zum Ausdruck kommt: Hier analysiert er die stattfindende κίνησις regelrecht und zieht daraus seine Schlüsse, die durch das anschließende Narrativ als zutreffend gezeigt werden. In diesem Zusammenhang ist erneut auf Rustens Interpretation des Begriffs als »mobilization« einzugehen, denn gerade die Stelle V, 10, 5 beschreibt keine 373 So z. B. Hornblower II, S. 447 mit Bezug auf J. Lazenby, The Killing Zone. In: V. D. Hanson (ed.), Hoplites: The Classical Greek Battle Experience, London / New York 1991, S. 89. 374 Vgl. Classen / Steup V, S. 25.

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Bewegung hin zu einer offensiven Aktion,375 sondern bezieht sich auf den Rückzug der Soldaten. Es handelt sich hier nicht um eine Mobilisierung im offensiven Sinn, sondern um eine Abkehr vom Ort einer potentiellen Schlacht, die die entsprechenden Aspekte aufweist. Es ist somit plausibler, die Wahl des Begriffs auf solche Aspekte zurückzuführen, als auf ein Verständnis des Begriffs als »Mobilisierung«, um die es sich hier eindeutig nicht handelt. Ein weiteres Indiz dafür kann ebenfalls der bereits erwähnte Umstand sein, dass Thukydides Rückzugsbewegungen mit unterschiedlichen Begriffen beschreibt, wobei gerade bei denjenigen, die mit dem Kinesis-Begriff in Verbindung stehen, die oben beschriebenen Konnotationen ausgemacht werden können, während beispielsweise der Rückzug des Knemos von Stratos unter geordneteren, weniger chaotischen Umständen durchgeführt zu werden scheint, worauf sich die unterschiedliche Wortwahl auch zurückführen ließe.376 Brasidas, Kleon und die κίνησις bei Amphipolis Über die jeweilige spezifische Konnotation der Wortverwendungen hinaus ist die gesamte Darstellung der Ereignisse auch als eine Präsentation des menschlichen Verhaltens angesichts einer κίνησις, der Möglichkeit angemessenen Verhaltens zum eigenen Vorteil in ihr oder eben im Gegenteil ihrer verheerenden Auswirkungen auf die Menschen zu interpretieren. Dies bietet sich vor allem vor dem Hintergrund an, dass Brasidas in der Darstellung bisher als »unspartanisch« aufgrund seines beweglichen Charakters377 gezeichnet wurde (Kerkyra, Kampf bei Pylos),378 und hier nun aus den κινήσεις alle Vorteile schlagen kann, die möglich sind – um dann aber selbst daran zugrunde zu gehen. Kleon dagegen wurde in der Mytilene-Debatte teilweise als »unathenisch« dargestellt, da er für das eigentlich spartanische Prinzip »unbeweglicher« Gesetze eingetreten ist. Kleons Charakter erfährt jedoch im Laufe des Buches eine Veränderung bezüglich seines Verhaltens gegenüber Handlungen, die mit der κίνησις in Verbindung stehen. Da an dieser Stelle keine umfassende Charakterstudie, weder für Brasidas noch für Kleon, erfolgen kann, sei dafür auf die ent375 Vgl. Rustens Aufstellung in Kinesis, S. 34. 376 Vgl. oben S. 207. 377 Vgl. Strauss, City, S. 213; Edmunds, Chance, S. 90; Connor, Thucydides, S. 129; Cartledge / Debnar, Sparta, S. 562; M. Palmer, The Spartan Alcibiades: Brasidas and the Prospect of Regime Change in Sparta in Thucydides’ War. In: A. Radasanu (ed.), In Search of Humanity: Essays in Honor of Clifford Orwin, Lanham 2015, S. 65–85, vor allem S. 77, aber mit z. T. fragwürdigen »Was wäre, wenn«-Argumenten; M. P.  Nichols, Leaders and Leadership in Thucydides’ History. In: Balot / Forsdyke / Foster (edd.), Thucydides, S. 464–466; Stimson, Characterization, S. 102–118. 378 Vgl. oben S. 213; Strauss, City, S. 222.

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sprechende Sekundärliteratur verwiesen379 und hier nur kurz die Dar­stellung Kleons im Rahmen von Handlungen betrachtet, die einen »kinetischen« Charakter aufweisen. Diese Darstellung ist bereits in der Mytilene-Debatte ambivalent: Kleon argumentiert zwar mit Eigenschaften, die den Spartanern zugeschrieben werden (Besonnenheit und ἀκινήτοι νόμοι), will aber damit eine überstürzte, im Zorn getroffene Entscheidung (III, 36, 2) durchsetzen und bedient somit ein kinetisches Element der Athener.380 Im selben Licht zeigt sich sein Verhalten in der Frage um das athenische Vorgehen nach der Schlacht bei Pylos IV, 22–29: Die Spartaner wollen einen Waffenstillstand erreichen, den Kleon mit aller Kraft (πολὺς  ἐνέκειτο, 22, 2) verhindert. Als die Athener erkennen, dass es besser gewesen wäre, den Waffenstillstand anzunehmen, da der Einschluss der Lake­daimonier auf Sphakteria und der Unterhalt von Pylos schwieriger sind, als erwartet, richtet sich ihr Zorn gegen Kleon. Der wiederum versucht, sich aus der Lage zu befreien und erklärt, die Boten aus Pylos sagten nicht die Wahrheit. Kleon soll als Bote nach Pylos geschickt werden (27, 1–3) und will sich dem erneut entziehen: Das Heer unter Nikias solle die Spartaner auf Sphakteria gefangen nehmen (27, 4–5). Nikias aber durchschaut diesen Plan und bietet Kleon sein Feldherrenamt an. Dieser versucht nun verzweifelt, der Sache zu entgehen, was die Athener aber nur noch mehr dazu bringt, ihm die Fahrt zu übertragen (28, 1–4) und zu hoffen, entweder ihn loszuwerden (nach Thukydides präferier­ ter Ausgang der Kampagne) oder die Lakedaimonier gefangen zu nehmen (28, 5). Kleon verstärkt hier wider Willen seine Betroffenheit durch die μεγίστη κίνησις, deren Intensivierung er durch das Verhindern des Waffenstillstandes selbst besorgt hat. Die Athener und vor allem Nikias sorgen dafür, dass Kleon nun selbst für den Umgang mit dieser Situation verantwortlich ist, was nach der Schilderung des Thukydides nie sein Ziel gewesen sei. Kleon wird hier als jemand gezeigt, der die κίνησις zu seinem eigenen Vorteil nutzen will, ohne jedoch dabei selbst aktiv involviert zu sein. Dies lässt sich auch aus der Schilderung in V, 16, 1 entnehmen, in der Thukydides Kleon als Gegner des Friedens darstellt, da er glaubt, in Ruhezeiten (ἡσυχία) würde sein schlechter Charakter eher auffallen und man würde seinen Lügen weniger Glauben schenken. Die Wahl von ἡσυχία für die Zeit des Friedens verbindet den Krieg mit dem Gegenteil, der κίνησις, 379 Zur allgemeinen Charakterisierung und zur historischen Einschätzung vgl. A. G. Woodhead, Thucydides’ Portrait of Cleon (Mnemosyne 13, 1 (1960)), S. 289–317; Westlake, Individuals, S. 60–85 und 148–165; P.  Stadter, Characterization of Individuals in the History. In: Balot / Forsdyke / Foster (edd.), Thucydides, S. 287–288 und 295–296; Stimson, Characterization, S. 95–120 und S. 151–169; zur Technik der Darstellung von Charakteren generell vgl. D. Gribble, Individuals in Thucydides. In: Rengakos / Tsakmakis (edd.), Thucydides, S. 439–468; M. de Bakker, Character Judgements in the Histories: their Function and Distribution. In: Tsakmakis / Tamiolaki (edd.), Thucydides, S. 23–40. 380 Vgl. Stimson, Characterization, S. 156.

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womit Kleons Interesse am Aufrechterhalten der κίνησις durch das Vorantreiben des Krieges deutlich wird381 – was ebenfalls als Intensivierung der μεγίστη κίνησις gedeutet werden kann. Gerade aber sein Versuch, sich einen Vorteil zu erarbeiten, führt dazu, dass er aktiv an der κίνησις teilhaben muss. Thukydides könnte also in IV, 28 darstellen, wie Kleons Versuch scheitert, die κίνησις zum eigenen Vorteil nutzen zu wollen und sich gleichzeitig so weit wie möglich von ihr und dem aktiven Handeln in ihrem Rahmen fernzuhalten. Kleon wird dadurch selbstverschuldet mehr oder weniger unfreiwillig in die κίνησις gezwungen und wird in dieser Darstellung durch seinen Versuch, sich der Übernahme des Kommandos zu entziehen und sich aus der Verantwortung, die Handlung aktiv selbst zu gestalten, zu stehlen, als durchaus »unathenisch« gezeigt: Denn die Athener zeichnet, zumindest aus Sicht der Spartaner in IV, 55, 2, vor allem aus, dass ihnen »das, woran sie selbst nicht Hand anlegten, immer als eine Einschränkung dessen erschien, was sie tun könnten.« Für Kleon jedenfalls trifft diese Einschätzung hier nicht zu.382 Der Gegensatz zu Nikias besteht hauptsächlich darin, dass dieser kein Interesse zeigt, κίνησις zum eigenen Vorteil zu intensivieren und gerade in seinem Eintreten für den Frieden könnte sich dieser Unterschied zu Kleon ausdrücken. In der Episode um Amphipolis kommt Thukydides dann wiederum auf den erfolgreichen Ausgang der Pylos-Kampagne Kleons zu sprechen, die dieser zufällig und durch Glück (εὐτυχήσας, V, 7, 3) bewältigen konnte, was ihn zu der Überzeugung führte, »irgendwie verständig« zu sein (τι φρονεῖν). Thukydides weist darauf hin, dass die Ereignisse in Pylos nicht auf Kleons eigene Fähigkeiten zurückzuführen sind, sondern auf andere, für Kleon glückliche Umstände. Interpretiert man dies ebenfalls als Darstellung seines Verhaltens in der κίνησις, so wird deutlich, dass vollständige menschliche Kontrolle über die κίνησις unmöglich ist und Erfolg von Glück abhängt. Gerade aber die Überzeugung, fähig zu sein, scheint der Grund dafür zu sein, dass Kleon Brasidas in Thrakien gegenübertritt, wie Thukydides beiläufig in V, 2, 1 erwähnt: Κλέων δὲ Ἀθηναίους πείσας ἐς τὰ ἐπὶ Θρᾴκης χωρία ἐξέπλευσε. Kleon hat sich nun also bewusst für eine aktive Teilnahme und Gestaltung der Kriegshandlungen, und damit der 381 Gleichen Gegensatz verwendet Hermokrates in IV, 62, 1: ἡσυχίαν μᾶλλον ἢ πόλεμον. 382 Es zeigt sich hier, dass die Darstellung Kleons durch Thukydides differenzierter zu beurteilen ist, als es bspw. bei Connor, Thucydides, S. 129, zu finden ist: »[…] Cleon carries to an extreme the restless vigor of the Athenians […].«, obwohl auch dieser das unfreiwillige Engagement Kleons in Pylos hervorhebt. Ebenso Stimson, Characerization, S. 169: » […] Cleon’s failure ultimately stems from the fact that he is simply too Athenian in character to be a positive Athenian leader. As such, he is incapable of providing the moderating force that Thucydides portrays Athens as needing (and only Pericles as truly providing), and instead drives his city to act on the excesses inherent in its national character.« Die Mytilene-Debatte und die Pylos-Episode zeigen, dass Kleon eben nicht »zu athenisch« ist, sondern mit der κίνησις generell überfordert.

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κίνησις, entschieden, da ihm bei Pylos ein unerwarteter Erfolg gelungen ist. Somit könnte konstatiert werden, dass sich Kleons Charakter von einem »Warner« vor falschem Umgang mit der κίνησις und dem Versuch, sich ihr zu entziehen und aus sicherer Position heraus seine Ziele verfolgen zu können, über den Erfolg in Pylos zu einem aktiveren Verhalten gegenüber der κίνησις entwickelt, so dass vom Sicherheitsbedürfnis in der Pylos-Debatte nicht mehr viel zu erkennen ist und seine Taktik sich nun hauptsächlich auf stürmischen Angriff fokussiert.383 Über diesen Bogen kann Thukydides das historische Aufeinandertreffen beider Protagonisten in Thrakien auch als ein Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Arten, mit κίνησις umzugehen, konzipieren384 – der Eine ist an sich ein kinetischer Charakter und in der Lage, sich, wie Thukydides sagt, Erfolg und Ehre zu verschaffen (V, 16, 1), der Andere dagegen glaubt lediglich, zu einem solchen Verhalten in der Lage zu sein und erkennt nicht, dass sein erfolgreicher Umgang mit der κίνησις auf den Zufall, nicht auf das eigene Vermögen zurückzuführen ist.385 Brasidas ist von vornherein einer aktiven Beteiligung an den Vorgängen der Bewegung positiv eingestellt (Kerkyra, Pylos, die gesamte Episode in Thessa­ lien), weiß aber auch, wann eine aktive Intensivierung unangebracht ist.386 Kleon dagegen warnt erst vor einem falschen Entschluss innerhalb der κίνησις (Besonnenheit, Rechtssicherheit in der Mytilene-Debatte) und versucht dann, die Bewegung so zu beeinflussen, dass er selbst kein Risiko eingehen muss, um sie zu seinem Vorteil nutzen zu können. Erst als diese Taktik fehlschlägt und er trotzdem in Pylos erfolgreich ist, ändert er sein Verhalten gegenüber der κίνησις: Mussten die Athener ihn noch zum Feldherren für Pylos bestimmen (IV, 28, 3), überzeugt er nun aktiv die Athener, ihn nach Thrakien zu schicken. Folgt man dieser Interpretation, so zeigt sich hier eine Konstellation, die Thukydides im Laufe der Darstellung bezüglich Brasidas und Kleon langsam aufgebaut hat,387 sodass er die (historischen) Ereignisse um Amphipolis mittels seiner Konzeption auch 383 Dies unterstreicht auch die Darstellung bspw. in V, 7, 3, in der Kleon behauptet, er warte nicht auf Verstärkung, um Sicherheit zu erlangen, sondern um Amphipolis einzuschließen und mit Gewalt nehmen zu können. Auch hier spielt die Formulierung ἀναγκάζηται eine zentrale Rolle: »wenn er gezwungen werde (zu kämpfen)«. Vgl. auch Classen / Steup V, S. 12; Gomme III, S. 639–640. Zur Bedeutung von τρόπω an dieser Stelle als »Einstellung«, »Überzeugung« und nicht als »Taktik« oder »Technik« vgl. Hornblower II, S. 439. 384 Vgl. Stimson, Characterization, S. 168. 385 Vgl. hier Gommes Beobachtung, dass sich die Betonung in 7, 3 auf Kleons Verhalten nach dem Erfolg bei Pylos bezieht in Gomme III, S. 639. Einen Vergleich zwischen der Schilderung der Pylos-Expedition und dem Kampf bei Amphipolis zieht Connor, Thucydides, S. 127–129 und verweist auf die Bedeutung des Zufalls, die in beiden Fällen zu erkennen ist, in Bezug auf Kleon aber sehr viel stärker herausgehoben wird. 386 Vgl. Stimson, Characterisation, S. 112–115. 387 Vgl. Hunter, Thucydides, S. 39–40.

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gleichzeitig als Schaustück für das Aufeinandertreffen zweier Protagonis­ten und ihres jeweiligen Umgangs und ihrer Einstellung zur κίνησις nutzen kann.388 Gestützt wird diese Interpretation dadurch, dass in der relativ kurzen Episode um Amphipolis diese beiden unterschiedlichen Umgangsarten offenbar exemplarisch deutlich hervorgehoben werden. Dies beginnt bereits in Kapitel 7, wenn Kleon »gezwungen« ist, sich zu bewegen, was Brasidas erwartet hatte: ἠναγκάσθη ποιῆσαι ὅπερ ὁ Βρασίδας προσεδέχετο. Kleon ist, wie auch im vierten Buch, nicht aus freien Stücken in der Bewegung begriffen, sondern sein unzureichendes Führungstalent zwingt ihn, sich zu bewegen.389 Hier werden außerdem die Auswirkungen seiner mangelnden Fähigkeiten auch auf seinen Umgang mit Ruhe und Bewegung eindrucksvoll geschildert: Während sein Plan, in Eion auf Verstärkung zu warten, durchaus nachzuvollziehen ist, ist es gerade das »Stillhalten« (ἡσύχαζεν), das ihn aufgrund seiner schlechten Führungskompetenz schließlich dazu zwingt, sich zu bewegen. Dadurch zeigt Thukydides, dass Kleon selbst dann, wenn er Ruhe beabsichtigt, in eine κίνησις »getrieben« wird.390 Brasidas dagegen hat genau das erhofft, vielleicht sogar z. T. erwartet: dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil der Kinesis-Begriff ja eigentlich die Konnotation der Unvorhersehbarkeit und der fehlenden Planung zu transportieren scheint. In der Analyse im vorigen Kapitel aber hat sich gezeigt, dass dies vor allem für denjenigen zutrifft, der sich in einer Bewegung befindet. Es ist außerdem hier ja nur die Rede von der Möglichkeit, eine κίνησις generell vorauszusehen, was noch nicht heißt, dass alle Handlungen und Entwicklungen, die in ihrem Rahmen geschehen können, inbegriffen sind. Brasidas hofft also darauf, dass etwas geschehen wird, das für Kleon und das Heer Aspekte einer κίνησις beinhaltet, in diesem Fall auf den Aufbruch nach Amphipolis, ohne diese Aspekte im Einzelnen in ihrer jeweiligen Ausgestaltung genau kennen zu müssen, und kann dann seine weiteren Schritte planen. Was Thukydides hier zeigt ist ein äußerst wichtiges Element in seiner Schilderung von κίνησις: Brasidas kennt κίνησις nicht in ihrer letztendlichen Ausdrucksform, aber er erhofft oder erwartet ihr Auftreten und bereits diese Erwartung verschafft ihm gegenüber Kleon, der in diese Bewegung »gezwungen« wird, den ersten Vorteil.391 Das Bewusstsein über die Möglichkeit ihres Auftretens allgemein ist hier also der entscheidende Punkt, ohne dass davon die üblichen Charakteristika 388 So schon Will, Perikles, S. 17. Vor diesem Hintergrund ist Strauss’ Einschätzung, Kleon sei Brasidas’»counterpart«, da dieser »the Spartan among the Athenians« sei (City, S. 213), zu modifizieren, denn Kleon ist nur anfangs »spartanisch«. Der zentrale Unterschied zwischen Beiden wird nicht durch ihren jeweils »ruhigen« oder »bewegenden« Charakter gebildet, sondern durch ihre Art, mit κίνησις umzugehen. 389 Vgl. Gomme III, S. 636; Stimson, Characterization, S. 163. 390 Vgl. Hornblower II, S. 438. 391 Vgl. Hunter, Thucydides, S. 40.

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des K ­ inesis-Begriffes selbst berührt werden. Brasidas scheint darin Perikles zu ähneln, der sich ebenfalls dem möglichen Auftreten von κίνησις bewusst zu sein scheint, jedoch weder die Ausgestaltung ihres Auftretens, noch die Intensität ihrer Herausforderungen richtig vorhergesehen hat.392 Eine ganz ähnliche Art des Umgangs beider Protagonisten mit Bewegung zeigt sich auch in der zweiten und dritten Verwendung: Während Kleon durch seine Einschätzung393 das Heer in eine κίνησις und dadurch in Gefahr bringt, hat Brasidas nur auf diesen Moment gewartet. Die Zentralität des Bewegungsmoments des Heeres für Brasidas’ Entscheidung wird deutlich durch die Art der Darstellung, die die Betonung auf das Sehen der Bewegung legt, die mit dem Erkennen des günstigen Zeitpunktes einhergeht: Βρασίδας ὡς ὁρᾷ τὸν καιρὸν καὶ τὸ στράτευμα τῶν Ἀθηναίων κινούμενον (10, 5). Thukydides stellt damit für Brasidas eine enge Verbindung zwischen seinem Verhalten (der Beobachtung), der Bewegung und der Erkenntnis des günstigen Zeitpunkts, des καίρος, her.394 Brasidas’ Fähigkeit, sich angemessen und vorteilhaft in der κίνησις zu verhalten, scheint hier erneut sichtbar zu werden, während Kleon aufgrund seiner Überforderung die negativen Folgen einer κίνησις für sein Heer bewirkt395 – so zumindest in der Darstellung des Thukydides.396 Noch einmal kann der Umgang des Brasidas mit dem Prozess der κίνησις in seiner Ansprache an die Soldaten deutlich werden: durch seine Analyse der »Bewegung der Köpfe und Speere« sagt er seinen Truppen den tatsächlichen Ausgang der Schlacht voraus: »Diese Männer werden uns nicht standhalten. Das aber ist deutlich durch die Bewegung der Köpfe und Speere: denn bei wem auch immer dies geschieht, halten sie den Angreifenden nicht stand.« Und bereits im nachfolgenden Abschnitt berichtet Thukydides: τὸ στράτευμα τρέπει. Brasidas kann also aus der Beobachtung von κίνησις Schlüsse für notwendige Maßnahmen ziehen, die er für eine erfolgreiche Handlung zu treffen hat, während Kleons falsche Annahmen und Erwartungen bezüglich der Situation (7, 3: er erwartete »überhaupt nicht« (οὐδέ), dass jemand gegen ihn ausziehen werde) dagegen negative Auswirkungen für ihn haben. 392 Vgl. oben Kap. 4.4.1. 393 Es spielt bezogen auf diesen Punkt keine Rolle, ob man σχολή oder σχολῇ liest, denn Kleons Einschätzung der Situation führt so oder so zu einer Fehlentscheidung, die eine κίνησις für das Heer auslöst. 394 Ebenso schon in 8, 1: ὡς εἶδε κινουμένους τοὺς Ἀθηναίους. 395 Vgl. Stimson, Characterization, S. 165. 396 Vgl. besonders Woodhead, Cleon, S. 303–315 mit einem Hinweis auf den konträren Charakter der Darstellung des Kampfes bei Diodor, XII, 74 für den historischen Hintergrund der Amphipolis-Episode. Ebenso Gomme III, S. 636, 637–638 und 652–654, aber kritisch in Bezug auf Diodor S. 653 und Ders., Thucydides and Kleon. In: Ders. / D. A. Campbell (edd.), More Essays in Greek History and Literature, Oxford 1962, S. 112–121 (erstmals veröffentlicht in Ἑλληνικά XIII (1954), S. 1–10)). Weitere Literatur zur Schlacht und eine Einordnung bei Hornblower II, S. 435–436, ebenso eine Einschätzung zur Schilderung Diodors auf S. 449.

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Der Unterschied geht soweit, dass Brasidas nicht nur die allgemeine Bewegung des Heeres als günstigen Zeitpunkt für einen Angriff erkennt – dies wäre wohl von einem erfahrenen Feldherrn zu erwarten – sondern sogar die Bewegungen der Soldaten bezüglich des Ausgangs der Schlacht richtig einschätzt. Jede von Thukydides explizit erwähnte κίνησις ist in diesem Fall von den Athenern ausgeführt, wird aber von Brasidas in ihren Auswirkungen und Folgen richtig »gelesen«, woraus sich seine Überlegenheit ergibt.397 Entsprechend ist er nicht nur rastlos, sondern weiß auch, wann er abwarten muss – dies zeigt sich z. B. in der Besetzung des Kerdylion und der Vermeidung einer sofortigen Feldschlacht in 8, 1.398 Kleon dagegen zeigt sich der Situation nicht gewachsen und sucht sein Heil in der Initiierung von κίνησις – er entspricht in diesem Punkt dem athenischen Charakter, der bereits an mehreren Stellen erkannt werden konnte. Kleon ist aber anscheinend erst durch die Ereignisse in Pylos, so konstruiert es Thukydides, in dieses Verhaltensmuster gefallen; vorher ist ein rein kinetischer Charakter nicht auszumachen. Sein Verhalten führt nun für alle Athener zur Niederlage und somit könnte Thukydides durch den Vergleich mit anderen Formen des Verhaltens in einer κίνησις zeigen, dass nicht das bloße Initiieren von κίνησις die Chance auf Erfolg erhöht, sondern v. a. der richtige Umgang mit ihr, d. h., dass das Bewusstsein für die Möglichkeit ihres Auftretens und die Fähigkeit, in ihrem Rahmen Entscheidungen zu treffen, die Erfolgschancen erhöhen. Besonders hervorzuheben ist schließlich, dass beide Protagonisten ihr Leben lassen und sich damit die Frage stellt, wie dies mit der positiven Schilderung des Brasidas hinsichtlich seines Umgangs mit Bewegung in Einklang zu bringen ist. Es fällt auf, dass Thukydides den Ausfall des Brasidas wiederum mit seiner Darstellung als kinetischem Charakter verbindet, denn er »stürmt« (ἐξελθὼν ἔθει δρόμῳ) aus dem Tor hinaus und dringt weiter vor (ἐπιπαριὼν τῷ δεξιῷ), bis er verwundet wird. So wird Brasidas am Ende selbst Opfer dieser Bewegung, ebenso wie Kleon. Für Thukydides scheint sich die Fähigkeit des Brasidas, die Bewegungen richtig zu erkennen und für seine Zwecke zu nutzen, durch den Fakt seines Todes nicht zu vermindern – die Darstellung seines Umgangs mit κίνησις bleibt daher in diesem Punkt weiterhin positiv, vor allem im Kontrast zu Kleon.399 Man könnte andererseits argumentieren, dass die Komposition der 397 Vgl. S. B. Ferrario, »Reading« Athens: Foreign Perceptions of the Political Roles of Athenian Leaders in Thucydides. In: Tsakmakis / Tamiolaki (edd.), Thucydides, S. 191–192. 398 Auch bei anderen Gelegenheiten zeigt sich dies, z. B. IV, 73, 1; 111, 1; 129, 1. 399 Vgl. O. Luschnat, Die Feldherrenreden im Geschichtswerk des Thukydides (Philologus Supl. 34/2 (1942)) (Diss. Berlin 1940), S. 64. So auch Connor, Thucydides, S. 129, der jedoch den Unterschied nicht auf den Umgang mit κίνησις im Speziellen bezieht, sondern Kleon als extremen Ausdruck athenischen Charakters, Brasidas als das Gegenteil versteht, ohne auf den Widerspruch dieses Vergleichs zu Brasidas’ »unspartanischem« Charakter einzugehen.

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Darstellung des Todes von Brasidas auch eine »Überstrapazierung« der Fähigkeiten des Brasidas anzeigt: sein »kinetischer« Charakter führt ihn schließlich selbst in den Untergang. Andererseits kann sein »Herausstürmen« auch der konkreten Situation geschuldet sein, denn er schätzt seine Truppen als dem Feind unterlegen ein (V, 8, 2) und will durch sein Vorangehen die Soldaten motivieren (9, 10). Insgesamt deutet die Darstellung seines Endes daraufhin, dass die μεγίστη κίνησις, die alle erfasste, schließlich auch für ihn unkontrollierbar war. Aus einer solchen Perspektive ist der Tod des Brasidas nicht mehr nur »unfortunately«400, sondern entspräche einem Konzept von κίνησις, in dem diese alles erfasst und damit auch »übermenschlich« ist. Gerade das gleichzeitige Ende beider Protagonisten ließe sich von Thukydides daher hervorragend in ein solches Konzept einarbeiten. Es scheint für Thukydides keinen Widerspruch zu geben zwischen der Tatsache, dass beide Protagonisten in der κίνησις das gleiche Ende finden, und der Darstellung eines »angemesseneren« und »unangemesseneren« Umgangs mit κίνησις. Brasidas wird angesichts der menschlichen Unkontrollierbarkeit des Prozesses der κίνησις nur folgerichtig trotz seiner Fähigkeiten von ihr erfasst und erleidet sein Schicksal. Es gibt also zumindest für die größte κίνησις keine Möglichkeit, ihrem Einfluss zu entgehen  – der Aspekt, dass alles im Kosmos von der κίνησις erfasst wird, wie es vor allem im Atomismus, z. T. auch bei anderen Vorsokratikern mit Ausnahme eines herausgehobenen, zentralen Elements (das Sein des Parmenides, das Göttliche des Xenophanes), gesehen werden konnte, scheint sich hier auch bei Thukydides zu zeigen und wird darüber hinaus mit der Darstellung verbunden, dass selbst die Fähigkeit, κίνησις zu erkennen und sich angemessen verhalten zu können, nicht davor schützt, von ihr erfasst zu werden und die Kontrolle zu verlieren. Die eindrucksvolle Konstruktion und Darstellung der beiden unterschiedlichen Charaktere Kleon und Brasidas und ihr gemeinsames Ende im Kampf als Teil der μεγίστη κίνησις kann daher als ein eindrückliches Argument für die Verarbeitung einer solchen Konzeption im Werk gewertet werden, die über die Stellen der Verwendung des eigentlichen Kinesis-Begriffes, wie in der Amphipolis-Episode, weit hinausgeht. Es wird hier deutlich, dass Thukydides den Kinesis-Begriff zur Beschreibung einer spezifischen Handlung, der sich auf eine bestimmte Situation bezieht, auch dazu nutzen kann, um diese Situation mit der Gesamtdarstellung zu verbinden, so dass Kleon, Brasidas und ihr Schicksal bei Amphipolis als beispielhafte Illustration dafür gedeutet werden können, wie Thukydides die Handlungen der Menschen im Rahmen des Krieges möglicherweise interpretiert hat: als Varianten des Umgangs mit dieser κίνησις, die sie alle erfasst hat.

400 Palmer, Spartan Alcibiades, S. 79

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Athenische Spartaner, spartanische Athener – Individuen in der κίνησις Die obige Betrachtung der Darstellung verschiedener Individuen im Werk konnte zweierlei deutlich machen. Zum einen konnte plausibel gezeigt werden, dass sich die Verwendung des Kinesis-Begriffs an den einzelnen Stellen auf bestimmte Aspekte der Situationen zurückführen lässt, die mittels des Begriffs transportiert werden könnten. Besonders der Aspekt fehlender Kontrolle scheint dabei im Mittelpunkt zu stehen, denn immer wieder werden die beschriebenen Prozesse durch Instabilität und fehlende Ordnung charakterisiert. Somit wird die These, dass über den eigentlichen physikalischen Bewegungsbegriff hinaus auch eine bestimmte Vorstellung mit κίνησις bei Thukydides verbunden sein könnte, welche der Wortwahl nicht nur im metaphorischen, sondern auch im wörtlichen Gebrauch zugrunde liegt, gestärkt. Dadurch kann weiterhin darauf geschlossen werden, dass die Beschreibung des Geschehens als μεγίστη κίνησις auf die Identifizierung solcher Aspekte im historischen Prozess durch Thukydides zurückgeführt werden kann, wobei auffällige Parallelen zu den Vorstellungen von κίνησις bei den Vorsokratikern ausgemacht werden können. Diese Parallelen wiederum weisen darauf hin, dass Thukydides beabsichtigen könnte, mit seinem Werk einen eigenen Beitrag zur Diskussion über κίνησις im intellektuellen Umfeld seiner Zeit zu leisten, wobei er jedoch nicht die Funktion kos­mischer κίνησις im Rahmen der Weltentstehung in den Blick nimmt, sondern ihre Auswirkungen auf die Menschen und ihre Verhaltensweisen in einem solchen Prozess, gemeinsam mit der Möglichkeit gegenseitiger Beeinflussung im Sinne einer stattfindenden Intensivierung und deren Konsequenzen. Damit könnte die κίνησις Thukydides auch gleichzeitig als Erklärungsmodell für das historische Geschehen dienen, vor deren Hintergrund er beispielsweise die historischen Akteure und die Auswirkungen ihres Handelns darstellen kann. So fällt auf, dass die Verwendung des Kinesis-Begriffs in direktem Bezug zu einer Figur immer auch unterschiedliche Verhaltensweisen dieser Figur auf­ zeigen kann, die dann mit ihrer Darstellung auch an anderen Stellen im Werk, in denen der Begriff nicht benutzt wird, korreliert. Da sich mehrere zentrale, individuelle Darstellungen kohärent in ein solches Muster integrieren lassen, ist es möglich, hier ein Indiz dafür zu sehen, dass Thukydides das Verhalten historischer Akteure im Rahmen dieses übergeordneten, übermenschlichen Prozesses darstellt und bewertet. Dem Leser könnte dann anhand konkreter Begriffsverwendungen immer wieder implizit gezeigt werden, inwiefern das individuelle Verhalten der historischen Personen Auswirkungen auf den Gesamtprozess und auf ihr eigenes Schicksal hatte, sodass auch hier κίνησις als grundlegendes Erklärungsmuster des historischen Geschehens auf individueller Ebene dienen kann. Die Ableitung moderner Urteile über diese historischen Personen aus dem thukydideischen Werk, die ein solches Darstellungsmuster unberück­

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sichtigt lässt, würde sich angesichts dieser besonderen Bewertungsgrundlage dann verbieten.

4.5 Götterdämmerung – Glaube, Recht und κίνησις Im folgenden Kapitel, welches zugleich den Abschluss der Betrachtung zentraler Aspekte bildet, unter denen die Darstellung von κίνησις im Werk untersucht werden kann, steht die Verwendung in einem religiösen und damit verbundenen rechtlichen Kontext im Mittelpunkt.401 Bereits die Betrachtung des Perikles ging von einer solchen Verwendung aus, die den Kinesis-Begriff im Rahmen der Verletzung heiliger Regeln durch das illegitime Benutzen von Tempelschätzen zeigte.402 Vorrangig ist dieses Kapitel hier aber als Ergänzung zu den bereits angestellten Beobachtungen zu verstehen, um die Gesamtheit aller Verwendungen im Werk auf mögliche Kohärenzen zu untersuchen. Es steht daher vor allem die durch den Kontext zu konstatierende Begriffskonnotation der Stellen im Mittelpunkt, deren Analyse zeigen soll, inwiefern sich auch die Verwendung in einem metaphysisch-rechtlichen Kontext in die bisher aufgezeigte mögliche Darstellungskonzeption einordnen lässt. Zentral ist eine solche Untersuchung vor allem deshalb, weil sich der Gebrauch des Kinesis-Begriffs in solchen Kontexten offenbar auf einen üblichen Sprachgebrauch zurückführen lässt.403 Diese Rückführung allein erklärt jedoch noch nicht, welcher Nexus zwischen der Vorstellung von κίνησις und religiösen Dingen, den ἀκίνητα, bestanden haben könnte, sodass sich die Frage ergibt, warum man die Zweckentfremdung von Gegenständen, die durch allgemeine Gesetze geschützt waren, mit dem Wort κινεῖν bezeichnete. Die Betrachtung der betreffenden Stellen bei Thukydides hängt damit eng mit der anfangs aufgestellten Frage zusammen, welche Vorstellungen mit dem Kinesis-Begriff zu seiner Zeit verbunden gewesen sein könnten und somit seine Verwendung in bestimmten Kontexten erklären würden. Ist es plausibel darstellbar, dass sich auch dieser Sprachgebrauch auf die Vorstellung von κίνησις als einem übermenschlichen Prozess zurückführen lässt, so stärkt dies die hier vorgelegte Interpretation der Darstellungskonzeption im thuky­ dideischen Werk.

401 Zur Verbindung vgl. R. Parker, Miasma: Pollution and Purification in early Greek religion, Oxford 2003 [repr. der Originalausgabe von 1983], S. 170–171. 402 Vgl. oben Kap. 4.4.1. 403 Vgl. Hdt. VI, 134, 2: εἴτε κινήσοντά τι τῶν ἀκινήτων. Dazu auch Rusten, Earthquake, S. 140.

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4.5.1 Das Erdbeben auf Delos Die Betrachtung beginnt mit einer Stelle, die bereits Rusten in den Kontext der Verletzung religiöser Gesetze gestellt hat,404 und es wird sich zeigen, dass auf diesen auch die Wortverwendung zurückgeführt werden kann – die Bezeichnung κινεῖν für ein Erdbeben ist nämlich durchaus ungewöhnlich.405 Die Betrachtung der Stelle fokussiert sich dabei auf mehrere Probleme: Zum einen stellt sich die Frage nach der Einstellung des Thukydides zu den Bräuchen und der Religion seiner Zeit, über die er an dieser Stelle berichtet, zum anderen ist die Angabe eines erstmaligen Erdbebens auf Delos bereits bei Herodot als Vorbote kommender Ereignisse während der Perserkriege zu finden (VI, 98, 4). Des Weiteren gibt es auch keine archäologischen Zeugnisse für ein derartiges Ereignis,406 sodass sich die Frage stellt, welche Funktion die Erwähnung im Geschichtswerk des Thukydides einnehmen könnte. Der Bericht findet sich im Rahmen eines auktorialen Einschubs zum eigentlichen Kriegsausbruch im Anschluss an die Kämpfe in Plataia, die eine endgültige Kriegsrüstung beider Seiten, der Athener und der Lakedaimonier, bewirkten. Das 7. Kapitel berichtet dabei über die Größe dieser Rüstungen, wobei Thukydides die Maßnahmen der jeweiligen Bündnisse aufzählt, so das Bauen von Schiffen (7, 2). Das 8. Kapitel stellt dagegen die Stimmung dar, die zu dieser Zeit in Griechenland herrschte: alle hatten Großes im Sinn und erwarteten den Krieg mit Spannung und Sehnsucht (8, 1). Bezüge können hier sowohl zur Parteiergreifung des ganzen Griechentums (I, 1, 1), als auch zum Kinesis-Satz (I, 1, 2), da ganz Hellas, ohne Ausnahme, von der Spannung (μετέωρος)407 zwischen den beiden Mächten ergriffen wird, gefunden werden. Kapitel 7 und 8 stellen damit eine genauere Beschreibung bestimmter Vorgänge dar, die Thukydides am Anfang des Werkes anspricht. Durch diese Wiederaufnahme des Bildes der Ergreifung des gesamten Griechentums kann Kapitel 8 daher auch als Illustration des Kinesis-Begriffs in I, 1, 2 verstanden werden,408 ähnlich wie die Pathemata-Liste in I, 23.409 Der direkte Anschluss an das Postulat der Ergreifung ganz Griechenlands stellt eine genauere Erläuterung des im vorigen Satz beschriebenen Zustands der »Spannung« dar. Thukydides berichtet hier von Weissagungen und Orakeln im Vorfeld des Krieges, die in allen Städten zu finden waren: ἔν τε τοῖς μέλλουσι 404 Vgl. Rusten, Earthquake, S. 140. 405 Vgl. ebd. S. 137 406 Vgl. ebd. S. 136. 407 Der Begriff μετέωρος selbst ist nahe verwandt mit dem Begriff κίνησις. Er wird häufig für Schiffe auf unruhiger, hoher See gebraucht, vgl. Classen / Steup II, S. 21, Anm. 6. 408 Vgl. Latacz, Bewegung, S. 97–99. 409 Zu dieser Verbindung vgl. oben S. 192.

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πολεμήσειν καὶ ἐν ταῖς ἄλλαις πόλεσιν. Erneut hebt Thukydides hervor, dass der Prozess der Rüstung und der ihn begleitenden Spannung aus 8, 1 alle Städte Griechenlands betrifft und nicht nur die beiden Hauptakteure. Die direkte Bezeichnung sowohl der kriegführenden Mächte einerseits, als auch der kleineren Städte andererseits nimmt die Struktur des vorangehenden Satzes, in dem ebenfalls von den »führenden Mächten« und dem gesamten Rest Griechenlands die Rede ist, wieder auf. Damit wird deutlich, dass das Auftreten der Orakelsänger und die Weissagungen einen Teil der Spannung ausmachen, die Thukydides für die Städte konstatiert. In 8, 3 wird dieser Aspekt des Übernatürlichen noch gesteigert, indem von einem Erdbeben auf Delos berichtet wird, was nie zuvor vorgekommen sei: ἔτι δὲ Δῆλος ἐκινήθη ὀλίγον πρὸ τούτων, πρότερον οὔπω σεισθεῖσα ἀφ’ οὗ Ἕλληνες μέμνηνται. Auch dieses Ereignis sei, so Thukydides, als Vorzeichen der kommenden Ereignisse gedeutet worden, ebenso wie alles andere Derartige. Kapitel 8 endet dann mit einem Bericht über die Stimmung in den Städten, die sich weit mehr den Lakedaimoniern als den »Befreiern von Hellas« zugeneigt habe und daher stark gegen die Athener gerichtet gewesen sei. Es müssen im Folgenden zwei Fragen geklärt werden, bevor die Konnotation des Kinesis-Begriffs angemessen herausgearbeitet werden kann. Es ist zu fragen, inwieweit Thukydides den prophetischen Charakter, der dem Erdbeben zugeschrieben wurde, ernst nimmt oder ihm kritisch-ablehnend gegenübersteht, denn dieser Aspekt prägt den literarisch-narrativen Kontext der Stelle, der für die Interpretation des Kinesis-Begriffs maßgeblich bestimmend ist. Anschließend ist nach dem Grad der möglichen Intertextualität zwischen Herodot und Thukydides an dieser Stelle zu fragen, denn dieser bestimmt über die Möglichkeit, dass die Wahl des Kinesis-Begriffs aufgrund der Wortwahl bei Herodot geschehen ist, auf den Thukydides anspielen will. In Buch VI, Kapitel 98, 1 seiner Historien berichtet Herodot nämlich, dass 490 v. Chr. beim Anrücken der persischen Flotte auf Griechenland Delos zum ersten und letzten Mal bis zur Zeit des Autors gebebt hätte: μετὰ δὲ τοῦτον ἐνθεῦτεν ἐξαναχθέντα Δῆλος ἐκινήθη. In diesem Fall kann die Stelle für den Werkkontext nur eingeschränkt berücksichtigt werden, da der Begriffswahl eher die direkte Verbindung zur Passage bei Herodot zugrunde liegen könnte und kein mögliches übergeordnetes Darstellungsprinzip. Anders als bei Herodot findet sich bei Thukydides ein großes Maß an Skepsis, wenn er in seinem Bericht auf Religion, Orakel und dergleichen zu sprechen kommt: eine Rückführung historischer Ereignisse auf das Wirken der Götter findet sich bei ihm nicht.410 Dies bedeutet jedoch noch nicht, dass Thukydides 410 Vgl. P. A.  Rahe, Religion, Politics and Piety. In: Balot / Forsdyke / Foster (edd.), Thucy­ dides, S. 427; W. Furley, Thucydides and Religion. In: Rengakos / Tsakmakis (edd.), Thucydides, S. 415–438.

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die Bedeutung der Orakel, zumindest für das Denken und Verhalten seiner Zeitgenossen, per se abstreitet.411 Gleichsam verhält es sich bei der Beschreibung von Naturkatastrophen, bzw. natürlichen Ereignissen, die er ausschließlich im Hinblick auf die Konsequenzen für menschliches Handeln und nicht als Ausdruck göttlichen Willens beschreibt.412 Die moderne Forschung geht daher davon aus, dass die Passagen, die den Bereich der Religion und natürlicher Ereignisse berühren, vor allem Kritik am Umgang der Zeitgenossen damit enthalten, da diese davon ausgehen, den Willen der Götter aus diesen Ereignissen ableiten zu können.413 Thukydides selbst jedoch äußert sich zur Verbindung von Naturereignissen und göttlichem Einfluss nicht.414 Der Bericht über die Vorgänge zeitgleich zur Rüstung kurz vor Kriegsausbruch in Kapitel 8 kann damit in die allgemeine Struktur des Werkes eingefügt werden, durch die Thukydides die Gleichzeitigkeit natürlicher Ereignisse mit den historischen Prozessen und den Umgang der Zeitgenossen mit dieser Gleichzeitigkeit darstellt, ohne sich selbst explizit zu einer Verknüpfung von menschlichem Handeln und Naturereignissen zu äußern.415 Vor dem Hintergrund dieser Gesamtstruktur ist die Frage nach dem möglichen Bezug zu Herodot VI, 98, 1, der Erwähnung eines ersten Erdbebens auf Delos nach Abzug des Datis und dem Anrücken der Perser auf das griechische Kernland, welches ebenfalls mit »Δῆλος ἐκινήθη« beschrieben wird, zu stellen: Gomme416 geht davon aus, dass es zwei Erdbeben gegeben haben muss, während Hornblower417 die Möglichkeit einräumt, Thukydides korrigiere Herodot an dieser Stelle. Rusten hat jedoch aufgrund der bereits angesprochenen Besonderheit des Gebrauchs von κῖνειν für ein Erdbeben die Intertextualität der Stellen plausibel gemacht.418 Während die Frage nach der historischen Korrektheit der postulierten Einmaligkeit des Erdbebens hier nicht weiter verfolgt werden soll, muss einmal auf den möglichen Widerspruch, bzw. die »Korrektur« Herodots durch Thukydides, sowie auf einen weiteren Aspekt der Intertextualität ein­ gegangen werden, nämlich auf die Funktion als Ankündigung zukünftiger Ereignisse. Thukydides präsentiert den prophetischen Charakter des Erdbebens, im Gegensatz zu Herodot, zwar nicht als eigene Meinung, berichtet aber dennoch über die verbreitete Auffassung: ἐλέγετο δὲ καὶ ἐδόκει. Diese unpersönliche Formulierung könnte darauf hindeuten, dass Thukydides auch hier den Fokus auf den Umgang der Menschen mit diesem Ereignis legt, ohne selbst 411 Vgl. Gomme II, S. 9; Marinatos, Religion, S. 47–56. 412 Vgl. Keyser, Accounts, S. 336; Furley, Religion, S. 424–438. 413 Vgl. Marinatos, Religion, S. 63. 414 Vgl. ebd. S. 23 und 52; Munson, Upheavals, S. 46–51; Furley, Religion, S. 416. 415 Vgl. Munson, Upheavals, S. 57. 416 Gomme II, S. 9 417 Hornblower I, S. 245. 418 Vgl. Rusten, Earthquake, S. 137–141; Munson, Upheavals, S. 49.

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seine Meinung zu äußern. Herodot dagegen deutet das Erdbeben auf Delos explizit als Zeichen für die zukünftigen Entwicklungen: καὶ τοῦτο μέν κου τέρας ἀνθρώποισι τῶν μελλόντων ἔσεσθαι κακῶν ἔφηνε ὁ θεός. (VI, 98, 2). Die Wahl des Verbes ἐκινήθη bei Thukydides allein auf die Anspielung auf die Herodot-Stelle und deren mögliche »Berichtigung« zurückzuführen ist zwar möglich, doch scheint vor allem die Besonderheit des Kinesis-Begriffs und seine unklare Bedeutung in Bezug auf ein Erdbeben, wie die nachgeschobene Erklärung zeigt,419 zu kurz zu greifen. Auch die ähnliche literarisch-narrative Funktion als Ankündigung zukünftiger Ereignisse lässt, wie Rusten420 plausibel gemacht hat, vermuten, dass es Thukydides hier um mehr geht als nur um eine bloße Referenz an seinen Vorgänger, zumal nicht per se von einer Negation der prophetischen Bedeutung des Erdbebens bei Thukydides ausgegangen werden kann. Es ist also möglich neben der Kritik an Herodot oder seiner Berichtigung nach weiteren Darstellungsmotiven bei Thukydides zu suchen, die zur Wahl der Bezeichnung ἐκινήθη geführt haben könnten. Rusten nennt hier drei Aspekte, die neben der möglichen Anspielung auf Herodot Einfluss auf die Gestaltung der Stellen ausgeübt haben könnten: Zum einen ist bei Herodot die Rede von einem Orakel, welches die Erschütterung Delos’ vorraussagte: καὶ ἐν χρησμῷ ἦν γεγραμμένον περὶ αὐτῆς ὧδε· κινήσω καὶ Δῆλον ἀκίνητόν περ ἐοῦσαν (VI, 98, 3). Es ist davon auszugehen, dass dieser Orakelspruch Thukydides bekannt gewesen sein könnte und er diese Kenntnis auch bei seinem Publikum vorausgesetzt haben mag. Des Weiteren findet sich bei Pindar der Mythos über die »Unbeweg­lichkeit« der Insel, die dieser ἀκίνητον τέρας nennt (frg. 33c). Rusten stellt zwischen der Bezeichnung Δῆλον ἀκίνητον bei Herodot und dem Mythos bei Pindar eine plausible Verknüpfung her, die eine Anspielung auf diesen Mythos annehmen lässt.421 Vor allem die Aufnahme der ungewöhnlichen Formulierung ἐκινήθη für das Beben der Erde, verknüpft mit dem Mythos von Delos als ἀκίνητον, der sich bei Pindar und Herodot findet, lässt auf eine literarischnarrative Konstruktion bei Thukydides schließen, die mit den Assoziationen des Lesers bezüglich Delos spielt, dessen Unerschütterlichkeit ihm von Pindar und Herodot bekannt gewesen sein könnte. Somit ist anzunehmen, dass Thukydides’ Formulierung auf einer beim Publikum bekannten Verbindung der ursprünglich »unbeweglichen« Insel und ihrer schließlich doch berichteten Bewegung aufbaut, durch die er die Bedeutung der berichteten Ereignisse erhöhen kann. Zum Dritten lässt die bereits angesprochene enge Verknüpfung der Kapitel 7 und 8 mit den Anfangskapiteln des Werkes auch eine Verbindung der Formulierung Δῆλος ἐκινήθη mit der dort angeführten κίνησις vermuten, die über den 419 Vgl. Rusten, Earthquake, S. 137–138. Vgl. auch die Schilderung in Thuk. III, 89. 420 Vgl. ebd. S. 141–143. 421 Vgl. ebd. S. 140–141.

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bloßen Bezug zu Herodot hinausgeht und die Darstellung in die Werkkonzeption einfügt: nämlich wiederum als Illustration des kinetischen Charakters des gesamten historischen Prozesses und damit als Argument für seine Interpretation als μεγίστη κίνησις durch den Autor. Obwohl Thukydides ein explizites Bekenntnis zum prophetischen Charakter des Erdbebens vermissen lässt, welches die κίνησις der Insel mit der μεγίστη κίνησις als deren »Vorbote« verknüpfen würde,422 so lässt doch der Umstand, dass sich Thukydides nicht generell negativ über Orakel, Vorzeichen, etc. äußert, vermuten, dass für ihn eine solche Verbindung zumindest denkbar gewesen ist. Dadurch könnte er Ereignisse, die mit dem Krieg verbunden sind, gleichfalls mit »unkriegerischen«, also natürlichen und hier sogar religiös bedeutsamen Ereignissen wie dem einzigartigen Erdbeben auf Delos, verbinden, indem er die κίνησις der Insel direkt inhaltlich mit der Spannung vor dem Krieg verknüpft. Dass er dabei auch gleich die Gelegenheit nutzte, um die Bedeutung seiner Darstellung gegenüber derjenigen Herodots herauszustellen, indem er die gleiche Phrase verwendete, ist durchaus denkbar und widerspricht der weitergehenden Interpretation der Stelle im Werkkontext nicht. Werden all diese oben genannten Aspekte in die Betrachtung der Stelle einbezogen, so zeigt sich vor allem eine symbolische Bedeutung der Erschütterung: Delos, welches durch göttliche Kraft selbst ἀκίνητος geworden ist, wie Pindar (frg. 33d) berichtet,423 wird nun bewegt. Diese Bewegung äußert sich zwar physisch in einem Erdbeben (σεισθεῖσα), reicht in seiner Symbolik aber gerade durch die verbürgte Stabilität der Insel sehr viel weiter: die göttliche Macht über die Insel, die auf ihr wirkte, seit Leto sie betrat, ist damit gebrochen. In dem Verb ἐκινήθη kann daher nicht nur die physikalische Bewegung ausgedrückt, sondern auch eine symbolische Bedeutung transportiert werden, die Erschütterung aller Stabilität und Sicherheit. Wie schon an anderen Stellen im Werk könnte es sich somit um eine Verknüpfung der wörtlichen und der metaphorischen Bedeutung des Begriffes handeln. Es sei an dieser Stelle z. B. an den Nous erinnert, dessen Grad an Einfluss auf die Bewegung unklar bleibt, ebenso an Anaximenes, bei dem die Götter durch die Bewegung der Luft und damit ihrer Veränderung entstehen. In beiden Fällen sind auch die Götter der Macht der κίνησις unterworfen und können ihr damit auch nichts entgegenstellen – ebensowenig wie die göttliche Macht auf Delos. Selbst zu Xenophanes lassen sich mögliche Verbindungen ziehen, denn dieser hatte ja gerade die »Beweglichkeit« der traditionellen Götter kritisiert.424 Dass die Insel der Götter Artemis und Apollon nun trotz ihrer im Mythos verbürgten Unbeweglichkeit erschüttert wird, entspräche die422 Vgl. Munson, Upheavals, S. 51. 423 Vgl. weiterführend Rusten, Earthquake, S. 139. 424 Vgl. oben Kap. 3.4.2.

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ser Kritik des Vorsokratikers und könnte dem Leser anzeigen, dass es sich hier um ein Ereignis handelt, welches die traditionellen Glaubenssätze ad absurdum führt. Dieser Aspekt wird durch die Betonung der Singularität noch verstärkt und erinnert stark an die Konnotationen der κίνησις als unberechenbarer und vor allem unkontrollierbarer Kraft, zumal die Erwähnung, dies geschehe zum ersten Mal, auch mit der Vorstellung der Größe der μεγίστη κίνησις verbunden werden kann. Hier könnte auf den zugrunde liegenden Gedanken geschlossen werden, dass die Bewegung der eigentlich unbeweglichen Insel nur im Rahmen der μεγίστη κίνησις möglich ist – womit indirekt auch Herodots Interpretation angegriffen würde: Nicht einmal das Übel der Perserkriege, dessen Vorbote das Beben ja für Herodot war, wäre nach Thukydides mit dem vergleichbar, was die Griechen nun erwartete, sodass erst im Rahmen der μεγίστη κίνησις das erste Erdbeben auf Delos angesetzt werden kann.425 Es ist darüber hinaus anzumerken, dass Delos sich nicht »selbst bewegt«, sondern rein passivisch »bewegt wird«: Delos hat, trotz seiner Sonderstellung als göttlicher Geburtsort, auch selbst keine Macht über sein Schicksal. Dies erinnert wiederum an den Aspekt des äußeren Einflusses, der in den vorsokratischen Texten mehrmals gefunden werden konnte. Der Orakelspruch bei Herodot jedoch geht von einer aktiven göttlichen Bewegung der Insel aus, welche durch den Gott initiiert wird: dieser Aspekt fehlt bei Thukydides gänzlich. Dies ließe sich, geht man von einer »Reaktion« des Thukydides auf Herodot aus, auch so deuten, dass das von Thukydides beschriebene Ereignis allein in der Lage ist, eine Bewegung der Insel zu bewirken. Kein Gott, so stellt es sich für den Leser dar, der hier an Herodot denkt, erschüttert Delos zum ersten Mal, sondern die Ereignisse selbst sind es – im Endeffekt in ihrer Gesamtheit die μεγίστη κίνησις. Thukydides stellt diese Verbindung nicht explizit her, doch es scheint möglich zu sein, dass sie in dieser wörtlichen Wiederaufnahme Herodots und ihrem offensichtlichen Widerspruch zu seiner Darstellung implizit enthalten ist. Das Geschehen selbst könnte so bei Thukydides den Delos erschütternden Gott Herodots ersetzen. Thukydides führt die Bedeutung des Ereignisses auf die Reaktion der Menschen zurück: die Neuartigkeit erhält ihre Einschränkung im Erinnerungsvermögen der Menschen ( Ἕλληνες μέμνηνται), wie auch der Bezug zur Zukunft durch die Deutung der Zeitgenossen hergestellt wird (ἐλέγετο δὲ καὶ ἐδόκει), wobei gerade ἐδόκει einen neutralen Unterton enthält. Wie oben bereits erwähnt, zeigt sich hier zwar eine gewisse Distanz zur zeitgenössischen Interpretation der Ereignisse, ihre Wichtigkeit wird aber keinesfalls bestritten. Thukydides 425 Ebenfalls denkbar ist, dass sich Thukydides für die Erwähnung des Erdbebens entscheidet, um eine Anspielung auf den Untergang des delisch-attischen Seebundes einzubringen, der durch den Krieg ebenfalls »erschüttert« wird und schließlich zerbricht.

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überlässt es daher dem Leser, ob sich dieser der Meinung anschließen möchte, Delos’ Bewegung sei ein Vorzeichen der kommenden Dinge. Eine solche Gestaltung spricht aber noch nicht gegen die Interpretation, Thukydides selbst habe die Erschütterung auf Delos als Teil der von ihm geschilderten κίνησις gedeutet. Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass sich Thukydides’ Skepsis hauptsächlich gegen die Auslegung von Orakeln und Naturereignissen im Bezug auf den göttlichen Willen durch die Menschen richtet. Die in den einschränkenden Formulierungen Ἕλληνες μέμνηνται und ἐλέγετο δὲ καὶ ἐδόκει zum Ausdruck kommende Distanz gegenüber solchen Meinungen kann daher auch auf die Auslegung des Ereignisses durch den Zeitgeist bezogen werden. Das Erdbeben selbst jedoch kann von ihm durchaus als Teil der κίνησις interpretiert worden sein. Diese Interpretation stellt das Erdbeben auf Delos in den Kontext der Pathe­ mata-Liste und der Größe des Krieges: wie in Kapitel 7 und 8 die Andeutungen der Anfangskapitel (ganz Hellas ist betroffen und schließt sich an) ausgeführt werden, so findet sich hier ebenfalls eine Verknüpfung der Größe des Krieges (Überprüfung des Bundes und Aufträge an die Bündnispartner in Kapitel 7) mit dem Auftreten von Naturkatastrophen. Kapitel 7 und 8 sind daher nicht nur als Illustrationen für die Behauptungen in I, 1, 1–2 zu lesen, sondern auch als detailliertere Beschreibung des Überblicks über die Größe und Bedeutung des Krieges und der berichteten Ereignisse in I, 23, 1–3. Da eine argumentative Verknüpfung zwischen der μεγίστη κίνησις und der Pathemata-Liste bereits plausibel gemacht worden ist, kann auch das Erdbeben auf Delos als Illustration der in I, 23 ge­nannten Vorkommnisse in die Konzeption der »größten Bewegung« eingegliedert werden. Aus einer solchen Verknüpfung heraus kann die Formulierung ἐκινήθη auch als Hinweis auf eine Gesamtkonzeption (Darstellung der historischen Ereignisse insgesamt als μεγίστη κίνησις) verstanden werden.426 Unter Berücksichtigung des Kontexts können bei Thukydides bereits bekannte Aspekte des Kinesis-Begriffs identifiziert werden, von denen sicherlich 426 Rusten, Earthquake, S. 143–144, begründet die Wahl der Formulierung »ἐκινήθη« durch den Kontext der Stelle, in der kriegsvorbereitende Rüstungen (»pre-war mobilization«) geschildert werden, da Rusten den Kinesis-Begriff bei Thukydides generell als »mobilization« versteht. Es ist jedoch nicht ersichtlich, wie Rusten den Kontext der Stelle mit der Wahl des Begriffs und der Verknüpfung zum Erdbeben, also einer physikalischen Bewegung, herstellen will. Es können somit die Motive des Thukydides für die Wahl der Formulierung ἐκινήθη und der Assoziationen, die durch diesen Begriff im Zusammenhang mit dem Erdbeben selbst gebildet werden können, nicht befriedigend rekonstruiert werden. Vor allem lässt sich aus Rustens Ausführungen nicht erkennen, inwiefern das Erdbeben auf Delos als Vorbote des Krieges zum Kontext der Kriegsvorbereitungen passen soll, da ja die Stelle keine Rüstung, sondern die Tätigkeit der Orakeldeuter und die Interpretation des Naturereignisses als zum Krieg gehörend zum Thema hat. Des Weiteren ist der Vergleich zu III, 82, 1 kein Argument, da dort die Übersetzung »mobilized« zwar denkbar wäre, aber nicht auf die hiesige Stelle zu übertragen ist, da Delos eben nicht »gerüstet«, sondern »bewegt« wurde.

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Die κίνησις bei Thukydides

der zentrale die Negation von Stabilität ist, die aufgrund der Verknüpfung mit göttlichem Einfluss als ewig angenommen werden sollte. Die göttlich verbürgte Unerschütterlichkeit und damit Stabilität werden hier negiert und somit scheint es für die Menschen selbst im göttlichen Bereich keine Sicherheit zu geben. Die Betonung der Neuartigkeit der Erschütterung weist darüber hinaus auf die zeitliche Unabhängigkeit der Bewegung hin, die selbst das nicht verschont, was schon immer (oder seit Menschengedenken) frei von ihr war. Dies bedeutet umgekehrt, dass ihr Auftreten immer und überall, unabhängig von anderen Einflüssen, erfolgen kann, was den Aspekt ihrer Unkontrollierbarkeit erneut betont. Die explizite Nennung des menschlichen Elements, der Griechen, stellt dabei besonders den Kontrast zwischen κίνησις und menschlichem Handelsvermögen dar: der menschliche Glaube an die Unbeweglichkeit Delos’ ist nichts wert, Aspekte wie Kontrolle, Sicherheit und Stabilität werden angesichts des Einflusses von κίνησις selbst auf die »unbewegliche« Insel als Illusionen dargestellt. Eine κίνησις entzieht sich nicht nur menschlicher, sondern sogar göttlicher Kontrolle – so lässt es sich zumindest implizit aus der Stelle ableiten und auf die übergeordnete μεγίστη κίνησις übertragen. Es sei zum Schluss noch angemerkt, dass selbst dann, wenn man den hier ausgeführten Bezug zwischen Δῆλος ἐκινήθη und der μεγίστη κίνησις im Kontext einer umfassenderen Darstellungskonzeption mit dem Hinweis ablehnt, die Formulierung an dieser Stelle sei allein deshalb gewählt, um durch wörtliche Wiederaufnahme den Adressaten eines polemischen Angriffs deutlich zu machen (nämlich Herodot), die Konnotation der Phrase Δῆλος ἐκινήθη dennoch dieselbe bleibt. Die explizite Nennung des Orakels weist auf die religiös-übermenschliche Sphäre hin, in die das Erdbeben, die κίνησις, zu rechnen sei. Auch das Aufgreifen des Attributs ἀκίνητος, welches bis zu diesem Zeitpunkt Delos geprägt hat, zeigt, dass die Bewegung mit etwas Neuem und Unbekanntem verbunden ist, das nicht vorhergesehen werden kann. Besonders die Wiedergabe des Orakels bei Herodot zeigt, dass »Unbeweglichkeit« keine Ewigkeit beanspruchen kann: ἀκίνητόν περ ἐοῦσαν. Es scheint somit plausibel, anzunehmen, dass eine solche Konnotation nicht nur bei den Vorsokratikern und Thukydides zu finden ist, sondern, zumindest in diesem Fall, auch bei Herodot. Dies spricht wiederum für die Existenz einer allgemeinen Konnotation des Kinesis-Begriffs im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr., die nicht auf vorsokratische Texte beschränkt ist, wodurch wiederum die Möglichkeit plausibler wird, dass bei Thukydides eine übergreifende Darstellungskonzeption mittels dieser Konnotationen der κίνησις rekonstruiert werden kann.427 427 Für den vorliegenden Fall müsste natürlich, wenn die Wortwahl nicht auf eine solche Konzeption, sondern auf die Anspielung auf Herodot allein zurückzuführen ist, diese Stelle aus der Betrachtung der Darstellungskonzeption herausfallen. Die Verwendungs-

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4.5.2 κίνησις als Sakrileg und Gesetzesverstoß Da der Kinesis-Begriff im sakralen bzw. religiösen und rechtlichen Kontext bei Thukydides immer wieder als ein Rechtsverstoß verstanden werden kann,428 wie die nachfolgende Aufzählung der Stellen zeigt, wird die Betrachtung der gleichzeitig transportierten Konnotationen hier zusammenfassend erfolgen. Dabei sind zwei zentrale Fragen zu klären – zum einen, inwiefern der Gebrauch in diesem Kontext in Verbindung mit den Aspekten des Kinesis-Begriffs steht, die sowohl an anderen Stellen im Werk, als auch darüber hinaus in den vorsokratischen Texten herausgearbeitet werden konnten. Zum anderen soll auch diese Verwendung auf eine mögliche Funktion im beobachteten Darstellungskonzept des Werkes untersucht werden, die sich in ihrer Ausgestaltung im Laufe der Untersuchung immer deutlicher gezeigt hat. Die Untersuchung der Beziehung des religiösen Hintergrundes mit den bereits analysierten Charakteristika des Kinesis-Begriffs kann außerdem dazu beitragen, die Frage zu erläutern, inwiefern Thukydides das historische Geschehen auf Grundlage seiner Charakteristik als κίνησις interpretiert hat. Thukydides verwendet den Kinesis-Begriff im Sinne eines Rechtsverstoßes insgesamt viermal im Werk (die Stelle im Zusammenhang mit Perikles in I, 143, 1 ausgenommen): II, 24, 1

IV, 98, 5

VI, 70, 4

ἢν δέ τις εἴπῃ ἢ ἐπιψηφίσῃ κινεῖν τὰ χρήματα ταῦτα ἐς ἄλλο τι, ἢν μὴ οἱ πολέμιοι νηίτῃ στρατῷ ἐπιπλέωσι τῇ πόλει καὶ δέῃ ἀμύνασθαι, θάνατον ζημίαν ἐπέθεντο ὕδωρ τε ἐν τῇ ἀνάγκῃ κινῆσαι, ἣν οὐκ αὐτοὶ ὕβρει προσθέσθα

Die Athener legen 1000 Talente von der Akropolis zur Seite als Rücklage und setzen den Antrag, dieses Geld nicht im Notfall zu verwenden, unter Todesstrafe. Die Athener rechtfertigen den Gebrauch heiligen Wassers im besetzten und belagerten Delion gegenüber den Boiotern unter Verweis auf den Notfall, der vorlag. δείσαντες μὴ οἱ Ἀθηναῖοι τῶν Die Syrakusaner senden eine Beχρημάτων ἃ ἦν αὐτόθι κινήσωσι satzung ins Olympieion, damit sich die Athener nicht an den dortigen Schätzen vergreifen.

kontexte jedoch, bei denen kein anderes primäres Motiv analysiert werden kann, dürften dagegen als Hinweise auf die Verarbeitung einer Konzeption von κίνησις unter den angesprochenen Aspekten gewertet werden, wenn sie mehrheitlich gleiche Konnotationen aufweisen. 428 Vgl. Parker, Miasma, S. 162, 171 und 174 zu Stellen bei Thukydides; auch Hornblower I, S. 229.

Die κίνησις bei Thukydides

354 VIII, 15, 1

τά τε χίλια τάλαντα, ὧν διὰ παντὸς τοῦ πολέμου ἐγλίχοντο μὴ ἅψασθαι, εὐθὺς ἔλυσαν τὰς ἐπικειμένας ζημίας τῷ εἰπόντι ἢ ἐπιψηφίσαντι ὑπὸ τῆς παρού-

Nach dem Abfall Chios’ entschließen sich die Athener zum Gebrauch der zurückgelegten 1000 Talente zur Bemannung von Schiffen.

σης ἐκπλήξεως, καὶ ἐψηφίσαντο κινεῖν καὶ ναῦς πληροῦν οὐκ ὀλίγας

Es liegt in jedem Fall, wie zu sehen ist, eine Art Rechtsbruch vor; entweder gegen heilige Gesetze oder gegen Gesetze des Gemeinwesens. Dieser Bezug ließe sich auf die Gefährdung der sozialen bzw. religiösen Ordnung durch die Tat zurückführen, die durch das Recht und das Gesetz selbst ja aufrechterhalten werden soll. Dieser Aspekt von κινεῖν in den vorliegenden Fällen kommt vor allem dann deutlich heraus, wenn man die Rolle der Religion für die Stabilität und Ordnung in der antiken griechischen Gesellschaft berücksichtigt.429 Die Bewegung bezeichnet damit eine Entfernung eines Gegenstandes von seinem zugewiesenen Platz und zugleich eine damit einhergehende Verwendung entgegen seiner durch religiöses oder profanes Gesetz festgelegten Bestimmung. Somit erinnert die Gebrauchsweise an die von Mourelatos’ herausgearbeitete Konnotation von κινεῖν als einer »Bewegung von seinem ihm zugewiesenen Ort«.430 Diese Entfernung impliziert gleichzeitig das Aufbrechen von Sitten, Gebräuchen und Rechtsverpflichtungen, womit ihr die Gefahr von Instabilität und fehlender Ordnung inhärent ist.431 Dadurch ist die Verwendung von κινεῖν im religiös-rechtlichen Kontext bei Thukydides mit allgemeinen Aspekten der κίνησις in der Vorsokratik zu verbinden: Der physikalischen Bewegung ist eine Gefährdung der sozialreligiösen Ordnung inhärent, auf deren Vermeidung sich die Bezeichnung der betroffenen Gegenstände in anderen Texten als ἀκίνητα zurückführen lässt. Da der Verlust von Ordnung und Stabilität, die eine gewisse Kontrollmöglichkeit 429 Dazu Parker, Miasma, S. 188–190; J. N. Bremmer, Götter, Mythen und Heiligtümer im Antiken Griechenland, Darmstadt 1996, S. 8; C. W. Hedrick Jr., Religion and Society in Classical Greece. In: D. Ogden (ed.), A Companion to Greek Religion, Malden / Oxford 2010, S. 289–292; H. Bowden, Impiety. In: E. Eidinow / J. Kindt (edd.), Oxford Handbook of Ancient Greek Religion, Oxford 2015, S. 336. 430 Vgl. oben S. 67–69. 431 Price, Internal War, S. 225–236 sieht im Werk einen Zusammenhang zwischen der Zunahme religiösen Frevels und des zunehmenden sittlichen und gesellschaftlichen Verfalls, der sich in der Stasis-Beschreibung manifestiere. So sei religiöser Frevel ein Ausdruck des Verfalls, der in ganz Griechenland zu beobachten sei und stehe dadurch in direktem Zusammenhang mit der Beschreibung der στάσις, die ebenfalls dadurch geprägt sei, dass Traditionen, Moral und gesellschaftliche Konventionen keinen Bestand mehr hätten – wovon eben auch die religiöse Sphäre betroffen sei.

Götterdämmerung   

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des Menschen implizieren, auch in diesem Verwendungskontext anzutreffen ist, stärkt dies den Befund, dass der Aspekt der Bedrohung durch mögliche Unkontrollierbarkeit der Situation dem Kinesis-Begriff bei Thukydides generell zugrunde liegen kann. Die Verwendung im religiös-rechtlichen Kontext scheint bereits herausgearbeitete Tendenzen zu bestätigen. Vor allem bemerkenswert ist hier, dass es jedes Mal die Athener sind, die mit dieser κίνησις in Verbindung gebracht werden. Der Besatzung des Olympieions bei Syrakus scheint eine reale Gefahr der Plünderung durch die Athener zugrunde gelegen zu haben, worauf Plutarch besonders hinweist.432 Bezeichnend ist auch die Bewegung des Wassers im Delion durch die Athener als Folge des fehlgeschlagenen Versuchs, die Boioter in eine κίνησις zu stürzen. Auch die Darstellung des Umgangs mit den zurückgelegten Talenten auf der Akropolis spiegelt eine allgemeine Darstellungstendenz der Beziehung zwischen Athen und der κίνησις wieder: So sind sie zu Beginn noch in der Lage, die κίνησις dieses Geldes unter Todesstrafe zu stellen, werden dann aber durch unglückliche Zufälle gezwungen, eine solche κίνησις als Verletzung religiöser Gesetze am Delion auszuführen und müssen am Ende angesichts ihrer Bedrohung durch die Feinde und der abgefallenen Verbündeten nach der Sizilien-Expedition doch noch die Talente auf der Akropolis verwenden. Die starke Verknüpfung zu Athen scheint nicht nur auf die allgemeine Darstellungstendenz ihres »kinetischen« Charakters und ihrer Intensivierung der κίνησις hinzuweisen, sondern spiegelt auch die Entwicklung wieder, die bereits oben angedeutet wurde.433 Athens Fähigkeit, κίνησις zum eigenen Vorteil zu nutzen und sich erfolgreich in ihr zu verhalten, reduziert sich im Laufe der Darstellung immer weiter, was nicht nur, wie die Analyse des Werkes insgesamt gezeigt hat, bezüglich der Kriegshandlungen deutlich wird, da sie immer mehr anderen »kinetischen« Gegnern gegenüberstehen, sondern auch im Kleinen im Umgang mit den religiösen und staatlichen Gesetzen. Der »akinetische« Charakter Spartas dagegen könnte sich ebenfalls in diesem Kontext wiederspiegeln: Sie halten sich von einer solchen κίνησις im Werk jedenfalls fern – entgegen beispielsweise der Erwartung des Perikles in I, 143, 1.

432 Plut. Nic. 16, 7. Die Überlieferung ist jedoch sehr widersprüchlich, vgl. Hornblower III, S. 481–482; Parker, Miasma, S. 171. Dennoch weist die Maßnahme der Syrakusaner auf die Möglichkeit hin, dass den Athenern eine solche »Bewegung« zuzutrauen war, wie sich bereits im Delion gezeigt hatte. 433 Vgl. oben Kap. 4.2.3.

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Die κίνησις bei Thukydides

Götterdämmerung – Glaube, Recht und κίνησις Wie die obige Analyse in Ansätzen gezeigt hat, kann auch die Verwendung im sakral-rechtlichen Kontext auf die bekannten Aspekte fehlender Ordnung und Stabilität zurückgeführt werden. Vor allem die Bewegung der Insel Delos scheint ein Indiz dafür zu sein, dass der im Werk dargestellte Prozess selbst vor der göttlichen Sphäre nicht haltmacht und somit alle bekannten Stabilitätsfaktoren des Menschen von diesem Prozess betroffen sind. Neben den Menschen, so könnte man daraus schließen, verlieren auch die Götter die Kontrolle, sodass Delos bewegt wird. Dass Thukydides eine solche Auffassung höchst implizit im Werk verarbeiten könnte, lässt sich mit seinem allgemeinen Umgang mit religiös-metaphysischen Fragen im Werk vereinbaren. Eine explizite Verknüpfung dieses Ereignisses mit metaphysischen Aspekten dagegen würde einen Widerspruch zur bisher konstatierten Fokussierung der Betrachtung des Wirkens von κίνησις im menschlichen Bereich darstellen. Insofern ist es nur konsequent, dass Thukydides ausschließlich über die Wirkung und Interpretation des Ereignisses bei den Zeitgenossen berichtet, weitere Schlussfolgerungen aus der Erwähnung des Erdbebens auf den Zusammenhang von κίνησις und göttlicher Sphäre aber dem Leser allein überlässt. Ganz ungewöhnlich ist die Integration auch »übermenschlicher« Phänomene im Rahmen der Darstellung jedenfalls nicht, wie die Pathemata-Liste zeigen kann. Folgt man der hiesigen Interpretation, dass sich in der ausschließlichen Verwendung des Begriffs in Bezug auf Athen auch in diesem Kontext die bereits analysierte Darstellungstendenz Athens als »kinetisch« und den Prozess intensivierend wiederspiegeln könnte, so lässt sich diese Verwendung ebenfalls in eine Darstellungskonzeption einfügen, die bereits über das gesamte Werk verteilt zu finden war. Thukydides scheint auch hier mittels der Verwendung des Begriffes an einzelnen Stellen die unterschiedlichen Facetten menschlicher Auseinandersetzung mit Situationen, die als eine κίνησις beschrieben werden können, zu illustrieren und bedient sich dabei auch des Aspekts fehlender Ordnung und Stabilität, die sich im Bruch der Regeln und Gesetze ausdrücken könnte. So kann die Wortwahl selbst sowohl auf einen üblichen Sprachgebrauch, darüber hinaus aber auch auf Gemeinsamkeiten der Charakteristik von Situation und Kinesis-Begriff zurückgeführt werden. Die Bedeutung des Begriffs geht dadurch über die bloße physikalische Bewegung hinaus und lässt sich mit Unkontrollierbarkeit, Unplanbarkeit und Chaos assoziieren, sowie in ein übergeordnetes, kohärentes Darstellungsmuster einordnen.

Die größte Unkontrollierbarkeit?   

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4.6 Die größte Unkontrollierbarkeit? – Zur Bedeutung der μεγίστη κίνησις des Proömiums Es bleibt nun, nach Betrachtung aller Verwendungen in ihren spezifischen Bezugskontexten, nur noch eine Stelle übrig, deren Konnotation und Einordnung in die gesamte Darstellungstendenz noch nicht vollständig durchgeführt wurde: die μεγίστη κίνησις selbst in I, 1, 2. Wie einleitend erwähnt, ist es das übergeordnete Ziel der Arbeit, eine plausible Erklärung für die Bezeichnung des Geschehens als κίνησις an dieser Stelle zu entwickeln und darauf aufbauend die mögliche Verarbeitung eines Gesamtkonzepts in Verbindung mit dieser Bezeichnung darzulegen. Somit ist nun auf die Stelle im Proömium selbst zurückzukommen, denn es gilt zu untersuchen, inwiefern auch aus dieser Verwendung Vorstellungen von κίνησις abgeleitet werden können, die den Begriff mit anderen Stellen verbinden und dadurch die Verarbeitung eines Gesamtkonzeptes plausibel machen. Stimmen die Charakteristika und Konnotationen der speziellen Verwendung mit den bisherigen Beobachtungen überein, so lässt sich die These einer werkumspannenden Verarbeitung in Bezug auf die Darstellung von κίνησις im Werk stärken. Darüber hinaus ist es dann möglich, zu untersuchen, inwiefern diese Verarbeitung auch als eine Auseinandersetzung mit der vorsokratischen Beschäftigung mit κίνησις verstanden werden kann. Es muss daher zuerst betrachtet werden, welche Konnotationen sich aus der Begriffsverwendung in I, 1, 2 für den Kinesis-Begriff ableiten lassen. Im Satz selbst sind zwei Aspekte festzuhalten: es handelt sich erstens um eine μεγίστη κίνησις, die zweitens auf alle Griechen, einen Teil der Barbaren und »sozusagen« (ὡς δὲ εἰπεῖν) die gesamte Menschheit wirkt. Beginnend mit Letzterem weist diese Erfassung des gesamten Hellenentums und eines Teils der Barbaren auf eine enorme Reichweite des Prozesses hin, die keiner erkennbaren Einschränkung unterliegt.434 Dies wird gestützt durch den Zusatz ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων, der fast pleonastisch wirkt angesichts des Umstandes, dass die Menschheit ja bereits durch die Hellenen und Barbaren erfasst ist. Somit kann vermutet werden, dass es sich hier um eine bewusst gesetzte Zuspitzung, bzw. verkürzte Klimax handelt, die rhetorisch die Bedeutung der κίνησις mittels der Hervorhebung ihrer uneingeschränkten Reichweite unterstreichen soll. Diese Charakteristik steht in Einklang mit dem Kinesis-Begriff der vorsokratischen Texte – niemand ist von ihr ausgenommen und kann sich ihrer Wirkung entziehen. Der Bezug auf diesen riesigen Bereich, den er mit der Nennung der Griechen, Barbaren und der oft als »exaggération évidente« betitelten435 »ganzen 434 Vgl. Patzer, Rezension, S. 352. 435 So bei T. Reinach, Thucydide et la guerre de Troie (REG 10 (1897)), S. 457. Vgl. auch Schadewaldt, Geschichtsschreibung, S. 52; Latacz, Bewegung, S. 78.

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Die κίνησις bei Thukydides

Menschheit« abgrenzt, konnte anscheinend im Denken der Zeit problemlos mit dem Kinesis-Begriff selbst in Einklang gebracht werden, da im vorherigen Satz nur von den Griechen die Rede ist. Schadewaldt hat dies gerade damit erklärt, dass Thukydides unter einer »Bewegung« etwas anderes versteht als »Krieg«, womit die Auswirkung auf andere Bereiche, die für die Kriegsschilderung eben keine Rolle spielen, legitimiert werden kann.436 Diese These kann durch die herausgearbeitete Charakteristik des Kinesis-Begriffes in den vorsokratischen Texten, die durch eine enorme und sogar unbegrenzte Reichweite geprägt war, gestützt werden. Für den Leser ergäbe sich damit zwischen dem ersten und dem zweiten Satz durch den Wechsel des Themas, vom Krieg zur Bewegung, kein zwingender Widerspruch, da er mit dem Κinesis-Begriff selbst die Konnotation dieser Reichweite verbindet, mit der auch die vorsokratischen Autoren schon gearbeitet haben. Die in der Forschung häufig monierte »Lücke« zwischen erstem und zweitem Satz437 wird sowohl durch die notwendige Bedeutungserweiterung von κίνησις (wie Latacz richtig erkannt hat), als auch durch die dem Begriff bereits inhärente Konnotation der Reichweite überbrückt, sodass es für den antiken Leser aufgrund seiner Vorstellungen von κίνησις aus dieser Perspektive kein Problem zwischen der Nennung des Krieges und der Reichweite der κίνησις gegeben haben muss. Die κίνησις schließt den Krieg mit ein, kann aber problemlos über die Kriegshandlungen hinausgehen, sie betrifft das Politische und Private gleichermaßen und somit zeigen sich im Kinesis-Begriff Kriegsvorbereitungen, -handlungen, -auswirkungen und historische Prozesse und Ereignisse darüber hinaus, wie z. B. Naturkatastrophen, gleichermaßen, sodass alles, was im Werk beschrieben wird, unter der κίνησις verstanden werden kann. Ein Problem für die Angabe des Wirkungsbereichs der κίνησις für »sozusagen die gesamte Menschheit« ergibt sich nur, wenn man κίνησις und Krieg ausschließlich gleichsetzt – was angesichts der bisherigen Ergebnisse der Untersuchung unplausibel ist, denn Thukydides scheint mit κίνησις weitaus mehr zu bezeichnen als reine Kampfhandlungen zwischen Athen, Sparta und ihren Verbündeten. Nun ist auf das Attribut »μεγίστη« einzugehen. Die Form des Elativs sowie die verstärkende Partikel δή erinnern an die Funktion der κίνησις in den vorsokratischen Texten als äußerst starkem, im Kosmos nur von wenigen anderen Elementen kontrollierbarem Prozess, der beinah konkurrenzlos walten kann. Sollte eine solche Konnotation dem bloßen Kinesis-Begriff bereits inhärent gewesen sein, wie es im vorangegangenen Teil der Untersuchung mehrmals zu vermuten war, so findet sich hier eine weitere, explizite Erhöhung eines Prozesses, die die mit ihm verbundenen Eigenschaften der enormen Reichweite und Kraft noch stärker macht. Dadurch wird dem Leser nochmals eindrucksvoll vermit436 Vgl. Schadewaldt, Geschichtsschreibung, S. 52. 437 Vgl. die Zusammenfassung bei Latacz, Bewegung, S. 84.

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telt, dass der Einfluss auf die genannten Gruppen nicht in Frage gestellt werden kann: die κίνησις, die sowieso bereits durch enorme Reichweite geprägt ist, ist hier auch noch »äußerst groß« bzw. »die größte« und deshalb kann ihr Einfluss auch auf den größten Teil der Menschheit angenommen werden. Somit würde die hohe Reichweite durch die Hervorhebung ihrer Größe noch durch die Charakteristik der Kraft ergänzt – es handelt sich hier nicht um eine »kleine« Bewegung, sondern eben um einen besonders kraftvollen Prozess. Die Hervorhebung ihrer Besonderheit könnte damit erklärt werden, dass die ihr bereits inhärente Konnotation der Stärke den Leser zwar bezüglich des Einflusses auf die Griechen überzeugt, noch nicht allein aber auf die Barbaren oder gar den größten Teil der Menschheit. So muss durch das μεγίστη noch einmal deutlich gemacht werden, mit welchem machtvollen Prozess der Leser durch den Autor konfrontiert wird. Es findet sich also auch hier mögliche eine Entsprechung zum Kinesis-Begriff der Vorsokratik. Gleichzeitig gestaltet sich ein Vergleich mit den vorsokratischen Texten aber auch als durchaus schwierig, denn eine solch qualitative Hervorhebung, die zu einer Singularität der beschriebenen Bewegung führt,438 lässt sich in diesen Texten nicht direkt finden. Bei den Vorsokratikern scheint nur von einer einzigen, kosmischen κίνησις ausgegangen zu werden, die Attribuierung als »besonders groß« oder gar »größte« wird damit offenbar hinfällig. Es drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, inwiefern Thukydides durch die Attribuierung seine κίνησις von »anderen« κινήσεις abgrenzt und ob er dabei ausschließlich an andere historische Prozesse denkt, die vor dem von ihm beschriebenen Zeitraum stattfanden, oder sich vielleicht sogar auf die Arbeiten anderer Denker bezieht, in denen die κίνησις eine besondere Rolle spielt – dann wären hier möglicherweise die Vorsokratiker impliziert. Angesichts fehlender Verweise im Text kann diese Frage jedoch nicht abschließend beantwortet werden. Deutlich aber ist zu konstatieren, dass die Attribuierung der κίνησις bei Thukydides als μεγίστη eine Neuheit in der intellektuellen Beschäftigung mit dem Prozess darstellt, zumindest nach dem uns heute noch vorliegenden Textmaterial. Zum Schluss ist in diesem Zusammenhang auch auf die Verbform ἐγένετο einzugehen, welches kein »Entstehen« im Sinne einer Entstehung eines neuen, vom vorherigen verschiedenen Zustandes ausdrückt, sondern eine Entwicklung aus einem bereits vorhandenen Zustand.439 Die »Entstehung« kann dann auf die Größe bezogen werden, ohne die κίνησις selbst zu meinen. Dies legt, verbunden mit der Annahme eines von dieser größten Bewegung verschiedenen Zustandes, der dann aber ebenfalls Bewegung ist, nahe, dass Thukydides hier nicht den Anfang einer Bewegung überhaupt beschreibt, sondern nur den Anfang ihrer 438 Vgl. Krüger, S. 2, § 2. 439 Vgl. Latacz, Bewegung, S. 86, Anm. 12; Hammond, Arrangement, S. 130.

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Die κίνησις bei Thukydides

Größe. Damit hat die Bewegung an sich bereits früher bestanden. Diese Interpretation lässt sich durch den Anschluss τὰ γὰρ πρὸ αὐτῶν καὶ τὰ ἔτι παλαίτερα […] οὐ μεγάλα νομίζω γενέσθαι […] stützen: die Begründung bezöge sich aus dieser Perspektive nicht auf die Existenz der κίνησις, sondern auf ihre Größe im Vergleich zur Vorzeit, was bedeutet, dass es Thukydides nicht um den Nachweis des Vorhandenseins der Bewegung ging, sondern um ihren qualitativen Unterschied zu vorangegangenen Bewegungen. Eine »andere« Bewegung muss der hier angesprochenen vorausgegangen sein, denn das γάρ erläutert den Gedanken, was nämlich davor war, war nicht (so) groß. Damit scheint alles in der Archäologie Vorkommende, vom Trojanischen Krieg bis zu den Tyrannen, zum Prozess einer κίνησις generell zu gehören, jedoch an Größe nicht vergleichbar mit der seiner Zeit. Erneut aufgenommen wird die Thematik der Größe dann in I, 23, 1, in der der Perserkrieg als bisher »größter« benannt wird, der jedoch schnell zur Entscheidung kam und daher mit dem Peloponnesischen Krieg nicht verglichen werden kann: dies wird durch die Pathemata-Liste unterstrichen. Durch diesen Bogen wird die bereits von Meier u. a. postulierte Beziehung zwischen der größten Bewegung und den über den Krieg weit hinausgehenden Ereignissen der Zeit440 plausibel: denn erst durch die gesamte Schilderung von I, 2–23 wird die Attribuierung der κίνησις als μεγίστη nachvollziehbar.441 Fraglich ist, inwiefern das ἐγένετο auch die Zeitlosigkeit, bzw. Ewigkeit des vorsokratischen KinesisBegriffes transportieren könnte. Hier zeigt sich, dass der Betrachtungskontext der κίνησις bei Thukydides ein anderer ist als bei den Vorsokratikern: anstelle der Integration des Prozesses in die Kosmologie wird die κίνησις im Bereich des Menschlichen zum Gegenstand, weshalb die Begründung der Größe der κίνησις in der Archäologie mit dem Auftreten der Menschen beginnt. Ob Thukydides 440 Vgl. Meier, Erschütterung, S. 334. 441 Der gedanklich-argumentative Zusammenhang zwischen I, 1, 2 und 23 wurde bereits von Cornford, Mythistoricus, S. 102–103 und Schadewaldt, Geschichtswerk, S. 59–60 postuliert und wird inzwischen in der Forschung weitgehend anerkannt, vgl. Tsakmakis, Vergangenheit, S. 23–25; Furley, Natur, S. 174; Munson, Upheavals, S. 42–43; H. v. Wees, Thucydides on Early Greek History. In: Balot / Forsdyke / Foster (edd.), Thucydides, S. 39, der damit aber gleichzeitig der Auffassung Hammonds widerspricht, die κίνησις beziehe sich nur auf die Mobilisierung und die Akme-Entwicklung und sei damit in ihrer Größe bereits in I, 19 erwiesen, vgl. Arrangement, S. 130–133; Rusten, Kinesis, S. 38 bestreitet eine direkte Verbindung zur Pathemata-Liste mit dem Argument, es handele sich hier um zwei unterschiedliche Kontexte. Dies ist angesichts des expliziten Bezugs zur »Größe« in beiden Kapiteln nicht überzeugend. Anders Schmid, Kinesis, S. 54–55. Es ist an dieser Stelle kein Platz, um die Diskussion detailliert nachzuzeichnen, es sei jedoch als ein weiteres, starkes Argument neben der Größe für die enge gedankliche Verknüpfung zwischen 1, 2 und 23 die explizite Nennung der Barbaren in 23, 2 genannt. Die Schilderung des Ausmaßes der Eroberung und Entvölkerung der Städte durch Barbaren und Griechen, die im Austausch der gesamten Einwohnerschaft gipfelt, erinnert an die Struktur von 1, 2. 

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dabei auch die Möglichkeit der Existenz der κίνησις unabhängig vom Menschen annimmt, kann durch den Text nicht festgestellt werden, da es ihm eben nicht um die Darstellung der Entwicklung des Kosmos im Allgemeinen geht, sondern um die größte κίνησις für die Menschen. In diesem Kontext jedoch, und das zeigen die Ausdehnung der Archäologie bis zu den Anfängen der Besiedlung Hellas’ sowie die Wortwahl οὐ μεγάλα, die sich auf die Vorgänge vor den hier beschriebenen bezieht,442 spricht Thukydides der Vergangenheit die Größe ab und beweist dadurch die Größe der von ihm beobachteten κίνησις. Damit ein solcher Beweis funktionieren kann, müssen auch die Ereignisse der Vergangenheit in einem Bezug zum Kinesis-Begriff stehen, sodass es zumindest möglich ist, dass Thukydides nicht von einer zeitlichen Beschränkung der κίνησις ausgeht. Die Einführung der Archäologie durch den ausschließlichen Bezug auf die Größe der Ereignisse, nicht aber auf die Existenz von κίνησις an sich legt die Schlussfolgerung nahe, dass es für Thukydides schon so lange κίνησις gibt, wie es Menschen gibt. Es ist damit die in den vorsokratischen Texten festgestellte Zeitlosigkeit der κίνησις hier nicht mehr absolut, sondern relativ auf den Zeitraum der Existenz des Menschen bezogen,443 womit sich erneut eine Besonderheit des Kinesis-Begriffes bei Thukydides abzeichnet, nämlich die enge Verknüpfung zum Bereich des Menschlichen. Ob Thukydides damit der Idee einer »ewigen« Bewegung, die an der Entstehung des Kosmos beteiligt ist, widerspricht, kann nicht festgestellt werden, da er sich dazu nicht äußert. Damit impliziert das ἐγένετο des Satzes das Vorhandensein von κίνησις bereits vor den von ihm beschriebenen Ereignissen, ihre Darstellung beschränkt sich aber bei ihm ausschließlich auf den Bereich des Menschlichen. Besonders herauszustellen ist dabei der Umstand, dass aus einer solchen Perspektive kein Beenden der κίνησις durch den Menschen erwähnt wird. Im Gegenteil werden Assoziationen der Bewegung, wie z. B. Migrationsbewegungen (μεταναστάσεις), direkt mit alter Zeit (πάλαι) verknüpft, sodass in I, 2, 1 der Eindruck entsteht, dass es κίνησις gibt, solange es Menschen gibt – zumindest in der Darstellung des Thukydides. Interessant dabei ist, dass Athen in I, 2, 6 genau durch diese Bewegung groß zu werden scheint, also von dieser κίνησις profitiert. Es scheint sich hier die auch später zu beobachtende Darstellungstendenz der Athener als »kinetisch« bereits abzuzeichnen. Die Vorstellung aber, dass κίνησις durch den Menschen genuin erschaffen wird, kann aus dem Text nicht eindeutig rekonstruiert werden, sodass es auch möglich ist, dass Thukydides von einem kosmischen, ewigen Prozess im Sinne einiger Vorsokratiker ausgeht, ihre Betrachtung aber ausschließlich in 442 Zur Subsumierung von Vorgängen und Prozessen unter dem Begriff κίνησις vgl. Latacz, Bewegung, S. 84–85 und 96; Tsakmakis, Vergangenheit, S. 32. 443 Dazu auch Schmid, Kinesis, S. 56, mit Bezug auf die Ewigkeit der κίνησις bei Leukipp, Anm. 70.

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Die κίνησις bei Thukydides

den Kontext des Menschen stellt – und sich damit ein wichtiger Aspekt seiner folgenden Darstellung bereits anzukündigen scheint. Weiterhin lassen sich auch in einem größeren Kontext über den Satz hinaus verschiedene Charakteristika des Begriffes ableiten. So kann beispielsweise der Aspekt der Parteiergreifung im gesamten Hellenikon als Ausdruck eines Prozesses begründet werden, der die griechischen Stadtstaaten scheinbar automatisch dazu brachte, sich einer der beiden Seiten anschließen zu müssen. Dieser Prozess kann sich aber schon deshalb nicht ausschließlich auf die Vorkriegszeit beziehen, da ja auch während des Krieges Parteiwechsel und -anschlüsse noch stattfinden, wie Thukydides selbst sagt: τὸ δὲ καὶ διανοούμενον. Die Dauer des διανοούμενον ist dabei nicht festgelegt und reicht beispielsweise im Falle der Insel Melos mindestens bis 416/415 v. Chr., also weit über den Kriegsbeginn hinaus. Die Bezeichnung der Parteiergreifung des übrigen Griechentums als »Bewegung« würde durchaus passen, wenn man den Zusammenschluss auch als Sammeln an einem Ort versteht: die Stadtstaaten entscheiden sich für eine Seite und »bewegen« sich dorthin. Gleichzeitig sind auch immer Parteiwechsel, wie z. B. im Falle der Insel Chios, möglich, die sich aus dem Verlauf des Krieges ergeben und aus dem Verhalten der beiden Hegemonialmächte Athen und Sparta während dieser Zeit. Dieses Verhalten dann wäre ebenfalls Teil der Bewegung, die zur Parteiergreifung der Stadtstaaten führt. Thukydides »sieht« (ὁρῶν) das gesamte Griechentum Partei ergreifen, da sie unter den gegebenen Umständen, dem Kampf der beiden Hegemonialmächte, dazu gezwungen waren, wollten sie nicht das Schicksal Melos’ erleiden: und dieses Schicksal war Folge des Krieges, wie Thukydides in V, 84, 2 deutlich macht. Damit ist auch der Zwang, sich einer der beiden Seiten anschließen zu müssen, aus den Ereignissen des Krieges und damit der μεγίστη κίνησις erwachsen, womit die μεγίστη κίνησις, die dem Krieg und allen anderen Prozessen zu Grunde liegt, als ein Beweggrund für die Parteinahme des gesamten Hellenikon gesehen werden kann, wie am Beispiel der Insel Melos zu erkennen ist. Somit ist ein direkter Bezug zwischen der »größten Bewegung« und der Parteinahme des gesamten Griechentums annehmbar: die κίνησις ist dann nicht nur der Grund für das, was Thukydides beobachtet, nämlich die Blockbildung, sondern diese ist auch gleichzeitig Ausdruck dieser Bewegung. Insofern, als die Blockbildung aber dazu führt, dass der Krieg noch größer wird, die Größe des Krieges aber, wie oben gezeigt, auch mit der Größe der κίνησις zusammenhängt, kann hier sogar von einem Wechselverhältnis gesprochen werden: die Blockbildung geschieht im Rahmen der κίνησις und schafft damit gleichzeitig die Voraussetzungen, um diese wiederum zu verstärken, sodass sich beide gegenseitig beeinflussen. Die Blockbildung wird durch die κίνησις verursacht und ist gleichzeitig ein Ausdruck ihrer, ebenso wie die wachsende Feindschaft beider Mächte. Einer dieser Vorgänge allein ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der κίνησις, denn dann würde sie mit sich selbst be-

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gründet werden: die Blockbildung fand statt, weil diese Blockbildung (wenn »κίνησις« sich denn darauf bezöge) die größte war. Eine solch ausschließliche Interpretation scheint damit unplausibel zu sein.444 Liest man die Einleitung jedoch unter der anfangs vorgestellten Perspektive, dass die Abfassung mit dem Prozess der μεγίστη κίνησις begründet wird,445 so wird die doppelte Verknüpfung zwischen κίνησις als Begründung (γάρ) des Vorangegangenen und jenem als Ausdruck (αὕτη) der κίνησις plausibel: all dieses Geschehen stellte die größte Bewegung dar und darum schrieb Thukydides auf, wie sie gegeneinander Krieg führten usw. Bezüglich der Untersuchung des Charakters der κίνησις wäre hier wieder auf den Aspekt des Zwangs zurückzukommen, der dazu führt, dass sich die Stadtstaaten ohne Ausnahme einem der beiden Machtblöcke anschließen müssen: dies erinnert ebenfalls an die Erfassung aller Dinge im Kosmos, welche die κίνησις auch bei den Naturphilosophen gekennzeichnet hat. Dieser Aspekt der Bewegung würde den zwanghaften Charakter, der der Parteinahme zugrunde liegt und der im Melier-Dialog dargestellt wird, gut unterstreichen: im Zuge der Bewegung gab es für das Griechentum keine andere Wahl, als diesem Prozess zu folgen, da die größte Bewegung sie früher oder später dazu zwang, sich für eine Seite zu entscheiden. Dadurch werden die Aspekte der Kraft und des großen Einflusses der κίνησις in ihrer direkten Konsequenz auf die griechischen Stadtstaaten dargestellt, womit hier in der Nennung der Blockbildung bereits eine Ausprägung der κίνησις τοῖς Ἕλλησιν vermutet werden kann. Des Weiteren wird deutlich, dass die beteiligten Mächte keine Wahl und im Endeffekt keine Kontrolle darüber haben, ob sie von dem Prozess erfasst werden oder nicht, sodass auch hier eine übermenschliche Vorstellung von κίνησις vermutet werden kann. Die Implikation des ständigen Auftretens von Bewegung im menschlichen Bereich rückt Thukydides vor allem in die Nähe des Kinesis-Konzeptes des Atomismus: hier wie da tritt κίνησις einfach auf. Sie hat keinen Anteil am Entstehen der Atome, aber sie ist dafür verantwortlich, was mit den Atomen geschieht und damit für die Bildung der Welt. Ein ähnliches Konzept kann vielleicht für Thukydides angenommen werden: die κίνησις ist im menschlichen Bereich einfach da und übt dann in irgendeiner Form auf diesen Einfluss aus. Ebenso könnten aber auch die Menschen in einem begrenzten Rahmen Einfluss auf die κίνησις

444 Latacz bezieht das γἀρ auf die Berechtigung der Schlussfolgerung (τεκμαιρόμενος) und die Erwartung, der Krieg würde bedeutend werden. Dies ist jedoch unwahrscheinlich, da die Erwartung bereits durch die Schlussfolgerung, die Schlussfolgerung aber durch die Beobachtung (ὁρῶν) begründet wird. Damit bliebe für das γἀρ nur die Explikation des Beobachteten mit der hier genannten unlogischen Konsequenz. 445 Vgl. oben S. 189–190.

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Die κίνησις bei Thukydides

ausüben,446 wie die Atome durch ihr Gegeneinanderschlagen ihre Bewegungen verändern. Atome wie Menschen sind hierbei keine primären Ursachen für das Entstehen von Bewegung, üben aber auf ihre letztendliche Ausgestaltung, d. h. Richtung und Geschwindigkeit, Einfluss aus – wie es besonders in Bezug auf die Athener erkennbar gewesen ist, wenn sie immer wieder κίνησις intensivieren. An dieser Stelle gilt es daher festzuhalten, dass markante Charakteristika des Kinesis-Begriffs der Vorsokratik auch im ersten Kapitel des Thukydides zu finden sind: so am deutlichsten ihre enorme Reichweite und Ausbreitung und die Erfassung anderer Elemente, bzw. hier des Menschen, der hinsichtlich dieser Erfassung keine Kontrolle ausüben kann. Des Weiteren lassen sich, vor allem in ihrer Funktion als Begründung der Abfassungsentscheidung, die Konnotationen der Kraft, die zur Blockbildung und Parteinahme ausnahmslos aller Stadtstaaten führt und der Zeitlosigkeit, bzw. Omnipräsenz (im Bereich des Menschlichen) wiederfinden, die die von Thukydides ausgeführte Vorhersage der Größe des Krieges begründen kann, die im Rahmen der größten Bewegung ebenfalls einzigartig zu werden verspricht, was den Krieg zu einem ἀξιολογώτατος macht, dessen Logos Thukydides daher übernommen hat. Wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, lässt sich auch der Ausgangspunkt der Untersuchung, die μεγίστη κίνησις des Proömiums, mit den an anderen Stellen im Werk zu findenden Vorstellungen von κίνησις verknüpfen. Auf dieser Grundlage kann angenommen werden, dass Thukydides die Verbindung zwischen aufzuzeichnendem Krieg und κίνησις auf Gemeinsamkeiten beider Prozesse vorgenommen haben könnte, die den Krieg auszeichneten und dabei Assoziationen zum Prozess der κίνησις hervorgerufen haben. Im folgenden Kapitel sollen die Konsequenzen dieser Beobachtung für die Fragestellung der Untersuchung ausgeführt werden.

446 Vgl. z. B. das Wechselverhältnis von Blockbildung und κίνησις, oben S. 185–191 oder die Intensivierung der κίνησις durch Athen, oben S. 239–241.

5. Die κίνησις bei Thukydides und den Vorsokratikern

Gemeinsamkeiten der Begriffsverwendung im Werk des Thukydides Es konnte gezeigt werden, dass es möglich ist, alle Verwendungen des ­Kinesis-​ Begriffes bei Thukydides auf gleiche oder ähnliche Aspekte der jeweiligen beschriebenen Situation zurückzuführen. Diese Aspekte können sich in unterschiedlicher Intensität einmal direkt, wie dies z. B. in der Stasis-Beschreibung gesehen werden konnte, oder auch indirekt, wie es die Verwendung im sakralpolitischen Kontext nahelegt, zeigen. Sie lassen sich unter den Aspekten der fehlenden Ordnung und Stabilität, der fehlenden Kontrolle und der damit einhergehenden menschlichen Unsicherheit und der Unmöglichkeit von Planbarkeit zusammenfassen. Es zeigte sich außerdem, dass oftmals ein bestimmter »Erfassungscharakter« erkennbar ist, der einen gewissen Anteil der an der jeweiligen Situation Beteiligten betrifft: Die κίνησις der Oligarchen in III, 75, 2 ist dafür ebenso ein gutes Beispiel wie die Formulierung »ἐκινήθη« in III, 82, 1 und VIII, 48, 1. Mit diesem Charakter lässt sich die Feststellung verbinden, dass Menschen häufig als »von Anderen in diese Situation gebracht« dargestellt werden – dies trifft z. B. zu auf die Darstellung der Amphipolis-Episode, in der Kleons κινήσεις auch von Brasidas’ Handlungen bestimmt werden  – jedoch nicht ausschließlich. Eng mit diesem Aspekt verbunden ist die Frage nach der Möglichkeit einer »Verhinderung« der κίνησις. Es ist dabei aufgefallen, dass menschliche Kontrolle über die κίνησις offenbar unmöglich ist, wie die Betrachtungen Kleons, Nikias’ und Perikles’ zeigen konnten. Es ist zwar die Möglichkeit menschlichen Einflusses auf die κίνησις erkennbar, dieser beschränkt sich jedoch hauptsächlich auf Intensivierung bzw. kurzfristiges Abbremsen des Prozesses,1 während ein vollständiges Beginnen und Beenden für die Menschen anscheinend nicht ange1 Diese Beobachtung lässt sich an Stellen im Text belegen: so führt das Ruhe-Halten der Athener und des Brasdias vor Megara (IV, 73) zu einer μετάστασις, einer Umwälzung der Verhältnisse; die Ablehnung einer κίνησις durch Nikias in VII, 50, 4 zum Untergang des athenischen Heeres und der weiteren Intensivierung des Krieges im Anschluss; das Stillhalten des Kleon in V, 7, 1 schließlich zur Schlacht bei Amphilpolis und zu seinem eigenen Tod. Echte langfristige Ruhe ist hier in keinem Fall zu beobachten. Auch könnte die Hervorhebung der Zerbrechlichkeit des Nikias-Friedens in V, 25, 1 dieser Darstellungstendenz entsprechen.

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nommen wird. Insofern kann sich die thukydideische Betrachtung menschlicher Auseinandersetzung mit κίνησις nur auf die Frage nach der Möglichkeit adäquater Begegnung fokussieren, nicht auf die der Kontrolle. Betrachtet man die Stellen, an denen κίνησις kontrolliert oder gar verhindert werden soll, so wird deutlich, dass dies entweder gar nicht gelingt, oder aber nur durch das Intensivieren von κίνησις an anderer Stelle: Angeführt seien hier wieder die »Bewegung« der Oligarchen und die Flotten- und Heeresbewegungen der Athener; selbst die Talente für den Notfall auf der Akropolis, deren »Bewegung« unter Todesstrafe gestellt wird, werden schließlich »bewegt«. Andererseits, und dies korrespondiert mit dieser Beobachtung, lässt sich κίνησις nicht einfach nach eigenem Willen erschaffen, wie es den jeweiligen Akteuren gefällt: Die Spartaner sehen in jeder »Bewegung« nach Pylos die Gefahr des Fehlschlagens, Agis kann keine κίνησις in Athen hervorrufen und die von den Athenern für die Boioter geplante κίνησις in IV, 76, 4 findet ebenfalls nicht statt. Archidamos’ Aufruf dagegen, die Waffen nicht zu »bewegen« (ἀλλὰ ὅπλα μὲν μήπω κινεῖν, I, 82, 1), findet kein Gehör, ebenso wie Kleons Aufruf, die »unbeweglichen Gesetze« einzuhalten und die Mytilener zu bestrafen (III, 37, 3). Nikias’ Entscheidung schließlich, über den vorzeitigen Abzug von Syrakus nicht einmal zu diskutieren (VII, 50, 4), wird durch die Darstellung als unmögliche Alternative charakterisiert – ein Abzug, eine κίνησις hier, ist letztendlich unvermeidbar. Diese Beobachtungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: ein Einfluss der Menschen auf das Phänomen der κίνησις an sich kann immer nur partiell sein, sie kann intensiviert werden, aber ein kontrolliertes Aufrufen, das die Einhaltung von der κίνησις zugewiesenen Grenzen garantiert, ist ebenso unmöglich wie ihr kontrolliertes Beenden. Gleichzeitig wird auch die Suggestion der Möglichkeit einer freien Entscheidung zwischen Bewegung und Ruhe vor dem Hintergrund der μεγίστη κίνησις zu einer Illusion, denn echte Ruhe scheint unmöglich zu sein und das kurzfristige Ruhe-Halten geschieht immer nur im Kontext von Bewegung. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass die Entscheidung der Spartaner für Ruhe in IV, 56, 1 stark von einer κίνησις geprägt ist, d. h. von einem Prozess, der die herausgearbeiteten, typischen Assoziationen hervorruft. Dieser Prozess umfasst ihre eigenen Handlungen und die der Athener. Die Entscheidung gegen eine Bewegung der Flotte vor Lesbos und Aigina geht dagegen mit einer Entscheidung für eine andere Bewegung einher. Entscheidungen für Ruhe oder für Bewegung sind daher in diesem Kontext nur als Entscheidungen für oder gegen eine Intensivierung von κίνησις zu lesen.2 Oftmals zeigt die Verwendung eine Ambivalenz in der Einschätzung auf, wie mehrmals festgestellt werden konnte: Die κίνησις selbst ist nicht negativ oder 2 Dies korrespondiert mit einer Beobachtung Heideggers, dass Ruhe überhaupt nur möglich sei in Abhängigkeit von Bewegung selbst, vgl. GA 18, S. 314.

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positiv. Entscheidend für eine solche Einschätzung sind mehrere Faktoren, z. B. der Grad an Betroffenheit, die Möglichkeit des Einflusses, usw. All diese bestimmen über den Grad an negativen Auswirkungen der κίνησις, die dann umgekehrt aber auch für andere positiv sein können: dies hat Hermokrates’ Aufruf gezeigt, den Krieg in Griechenland zu »bewegen« (VI, 32, 34, 3). Gleichzeitig ist auch ausschließliches »akinetisches« Verhalten nicht erfolgversprechend, wie Thukydides an den Spartanern an mehreren Stellen zeigt, während die Syrakusaner durch ihre Entwicklung hin zu den Athenern, die besonders mit Bewegung assoziiert werden, sehr erfolgreich sind (VIII, 96, 5). Die Bewertung einer κίνησις scheint damit von der jeweiligen Perspektive abzuhängen – hauptsächlich aber birgt sie für die in ihr Involvierten negative Auswirkungen. Thukydides scheint daher unter κίνησις einen Prozess zu verstehen, der durch fehlende Ordnung und Planbarkeit und somit fehlender menschlicher Kontrolle geprägt ist. Es ist möglich, dass er an konkreten Stellen zeigen könnte, wie die Auseinandersetzung des Menschen mit diesem Prozess funktioniert. Angesichts dessen, dass zwar bestimmte Handlungsweisen und angemessenes Verhalten die negativen Auswirkungen der Situation minimieren könnten, eine Kontrolle über den Prozess aber nur Illusion ist, könnte er ihn ebenso als »übermenschlich« angesehen haben. Thukydides und die Vorsokratiker Vor dem Hintergrund dieser Zusammenfassung ist nun ein Vergleich zum Umgang mit der κίνησις bei den Vorsokratikern zu ziehen. Es zeigte sich dort, dass die κίνησις ein kosmischer Prozess ist, dessen Existenz entweder a priori vorausgesetzt wird (Ionier, Atomisten) oder mit dem Wirken übermenschlicher, göttlicher Mächte in Verbindung gebracht wird, die gleichzeitig für eine gewisse Kontrolle der κίνησις sorgen (Nous, Ananke, usw.) oder sich dadurch auszeichnen, dass sie von ihr befreit sind (Xenophanes’ Gott, Parmenides’ Sein). Die Entwicklung von κίνησις kontrollierender Instanzen in der Vorsokratik weist auf die Problematik fehlender Ordnung und Kontrolle hin, die durch ein solches Element kompensiert werden könnte: Der kosmische Prozess der κίνησις, mit dem diese Vorstellungen offenbar verbunden sind, verlangt, um ihn in eine argumentative Darstellung einfügen zu können, ein solches Element der Kontrolle. Die Atomistik und vielleicht auch Heraklit, die das ständige Wirken der κίνησις selbst als zentrale Regel entwickeln, widersprechen dieser Vorstellung nicht, sondern stellen einen bestimmten Umgang mit dem für alle gleichen Problem dar: Wie funktionalisiert man einen Prozess innerhalb einer logischen Erklärung, der sich gerade dadurch auszeichnet, unkontrollierbar und unvorhersehbar zu sein? Gleichzeitig zeigt sich, dass eine Freiheit von κίνησις Alleinstellungsmerkmal herausgehobener Komponenten der Philosophie sein kann. Dies bedeutet, dass die Menschen als Teil des Kosmos von κίνησις immer betrof-

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fen sein müssten, da sie eben nicht »göttlich« sind. Die beiden zentralen Aspekte der Vorstellung von κίνησις lassen sich daher sowohl bei den Vorsokratikern, als auch bei Thukydides ausmachen: ein mächtiger Prozess, der von Menschen nicht vollständig kontrollierbar und nur zu einem Teil beeinflussbar ist und dessen Auswirkungen sich nicht begrenzen lassen. Ebenfalls ist sowohl den Vorsokratikern als auch Thukydides die Ambivalenz des Prozesses gemein: die κίνησις ist Problem und Lösung zugleich, wie z. B. am »unbewegten« Kreislauf ständiger Bewegung des Empedokles zu erkennen ist. Die Kosmogonie ist bei vielen Vorsokratikern auf Bewegung zentral angewiesen, diese stellt aber auch gleichzeitig für die Möglichkeit der Erkenntnis große Gefahren dar, wie bei Parmenides festgestellt werden konnte. Angesichts dieser generellen Übereinstimmung wird aber die Besonderheit des thukydideischen Textes gegenüber den Vorsokratikern deutlich: Thukydides fokussiert sich auf die Darstellung der κίνησις im menschlichen Bereich, nicht im Kosmos insgesamt. Er scheint das Verhalten der Menschen angesichts der Auswirkungen von κίνησις, sowie auch umgekehrt die Auswirkungen menschlichen Verhaltens auf Form und Ausprägung des Prozesses darzustellen, sodass letztlich eine Wechselwirkung zwischen Mensch und Prozess im Mittelpunkt stehen könnte. Dabei gerät die Untersuchung ihres Ursprungs aber in den Hintergrund, wie vor allem die Betrachtung des Proömiums erweisen konnte: κίνησις gibt es, seit es Menschen gibt – Thukydides sagt nicht, ob es sie bereits »vorher« gegeben hat, denn diese Frage liegt nach dieser Interpretation nicht im Rahmen seiner Darstellungsabsicht. Damit ist einerseits das Betrachtungsspektrum festgelegt, andererseits ist dadurch nicht automatisch ausgeschlossen, dass κίνησις für Thukydides auch unabhängig vom Menschen existiert: Die Erläuterung dessen ist aber für die von ihm angestrebte Darstellung nicht zentral. Was im Proömium zu erkennen ist, ist nicht die Ursprungsanalyse von κίνησις allgemein, sondern der Nachweis ihrer Größe und die Hervorhebung ihres zu betrachtenden Wirkungsbereichs, dem Menschen. Schließlich ist auch der Darstellungsbereich eine entscheidende Frage in der Beziehung der betrachteten Texte zu einem der frühesten Zeugnisse griechischer Weltsicht, den Epen Homers. Bei Homer ist der Kinesis-Begriff stark von der Ortsveränderung geprägt: von 27 Verwendungen in der Ilias und der Odyssee beziehen sich nur zwei auf Emotionen (Il. II, 144 und 149). Alle anderen Verwendungen des Begriffs sind Ortsveränderungen von Gegenständen, Naturelementen, Tieren,3 Gliedmaßen4 oder Menschen.5 Dieser physikalische Aspekt ist aber auch bei den Vorsokratikern und Thukydides immer noch vorhanden: 3 Il. II, 147; 395; IV, 423; XIV, 173; XVI, 264; 298; Od. XXII, 394. 4 Il. X, 158; XVII, 200; 442; Od. V, 285; 376; VIII, 298; XV, 45; XVII, 465, 491; XX , 184. 5 Il. I, 47; IV, 281; 332; 427; X, 280; XXIII, 730; Od. X, 556; XXIV, 5.

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einen Unterschied gibt es indes in der Zentralität des Prozesses selbst. Der entscheidende Schritt von Homer zu den vorsokratischen Systemen besteht darin, den Prozess der Bewegung zu einem zentralen Element des Kosmos selbst zu machen. Damit einher könnte dann auch die Aufladung des Begriffs mit den hier analysierten Vorstellungen gehen. Für Homer besitzt der Prozess der Bewegung keine solche Zentralität, weshalb eine Betrachtung seiner Begriffsverwendung nur begrenzt zur hiesigen Untersuchung beitragen kann und hier auch nicht erfolgt ist: Homer sieht nicht, zumindest nicht textlich nachweisbar, im Trojanischen Krieg eine κίνησις und er will auch nicht die Entstehung des Kosmos mit ihr erklären. Was jedoch schon bei Homer in Ansätzen gesehen werden kann und hier auch anfangs in Bezug auf Parmenides zur Sprache kam,6 ist die Vorstellung eines gewaltvollen Prozesses, der Dinge aus ihrer ursprünglichen Ordnung bringt und Strukturen auflöst: Wespen beim Vorübergehen eines Menschen (Il. XVI, 264), das Aufwühlen von Wasser, Pflanzen und Wolken (Il. II, 147; 395; XVI, 298) oder das Getümmel einer Schlacht (Il. IV, 332) seien hier exemplarisch genannt. Die Verstärkung dieses Aspektes des Kinesis-Begriffs in dem Maße, wie sie uns in den untersuchten Texten gegenübertritt, entspricht der Verschiebung der Zentralität des Prozesses: eine Bewegung, die das Erschaffen des Kosmos möglich macht, oder die »außergewöhnlich« groß ist, hat dementsprechend auch größeren Einfluss auf ihren Wirkungsbereich, sodass gerade das Auflösen von Ordnungen desto stärker zu beobachten ist, je mehr sich die Betrachtung des Geschehens auf die κίνησις als wirkendem Prozess fokussiert. Dies zeigt, dass eine andere Verwendung des Kinesis-Begriffs in anderen Texten der griechischen Antike nicht automatisch als Widerspruch zur hier entwickelten Interpretation gewertet werden muss. Führt nun Thukydides den Krieg und die μεγίστη κίνησις zusammen, so lässt sich aus der Betrachtung der Stellen die These entwickeln, dass das historische Geschehen, der Krieg und die in seinem Zusammenhang eintreffenden Ereignisse und Entwicklungen, diese Aspekte fehlender Ordnung, Planbarkeit, Voraussicht und damit auch der Unkontrollierbarkeit aufgewiesen hat und sich Thukydides aufgrund dessen für den Begriff der μεγίστη κίνησις als Ausdruck einer Charakteristik des Geschehens entschieden haben könnte. Gestützt werden kann diese These durch die vorangegangene Betrachtung der vorsokra­ tischen Vorstellungen von κίνησις, die zeigen konnte, dass man sich im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. die Bewegung, speziell die κίνησις, als einen übermenschlichen und beinah omnipotenten Prozess vorgestellt haben könnte, dem lediglich metaphysisch höhere Wesen oder Elemente überlegen waren, bzw. von ihm ausgenommen. Die Untersuchung der Vorsokratiker und die immer wieder zu konstatierenden Parallelen zwischen den Vorstellungen von κίνησις zwischen 6 Vgl. oben Kap. 3.1.2.

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ihnen und Thukydides machen die Annahme plausibel, dass Thukydides eine solche Vorstellung von einem übermenschlichen Prozess übernommen hat und diesen Aspekt gerade darin zeigt, dass die Menschen im historischen Prozess keine vollständige Kontrolle besitzen. Er könnte damit das historische Geschehen aufgrund seiner Charakteristik als nicht kontrollierbaren Prozess interpretiert haben und dies im Kinesis-Begriff im Proömium ausdrücken. Um seine Interpretation zu stützen, so lässt sich die These weiterführen, benutzt er den konkreten Krieg, in dem sich diese Aspekte der κίνησις exemplarisch darstellen lassen und leistet dabei auch einen Beitrag zur offensichtlich stattfindenden intellektuellen Beschäftigung mit dem Prozess, welche sich uns in den vorsokratischen Texten zeigen könnte. Sein individueller Beitrag bestünde dann darin, anhand der konkret darstellbaren Herausforderungen des Krieges auch die Herausforderungen einer κίνησις für den Menschen zu zeigen, sodass sich sein Fokus wegbewegt von den der κίνησις »überlegenen« Dingen im Kosmos hin zum Menschen, der dieser ausgesetzt ist und dabei aber gleichzeitig auch Einfluss auf sie ausübt, wie sich im Aspekt der Intensivierung des Prozesses zeigen konnte. Es könnte somit eines seiner Darstellungsziele gewesen sein, die Menschen in ihrem jeweiligen Verhalten und dessen Auswirkungen in einem Prozess der κίνησις zu zeigen, sodass die μεγίστη κίνησις in Verbindung mit den Menschen zu seinem eigentlichen Darstellungsobjekt wird. Ist der von Thukydides beschriebene Krieg dann also eine mögliche Darstellungsform der κίνησις, eine Manifestation ihrer und eine Folge der vorangegangen Entwicklungen in ihrem Rahmen, der aufgrund ihrer Größe auch in seiner Größe vorauszusehen war, so ergibt sich hier kein logischer Bruch, der durch die zeitliche Verschiebung der κίνησις vor den Krieg begründet werden müsste.7 Stattdessen ließe sich die Verknüpfung zwischen erstem und zweitem Satz des Proömiums auf Grundlage dieser Interpretation herstellen, ohne den obskuren Begriff der κίνησις mit einer speziellen und ausschließlichen Bedeutung zu füllen. Das γάρ des zweiten Satzes kann dann tatsächlich als Begründung des ξυνέγραψε im ersten Satz verstanden werden8 – Thukydides schrieb diesen Krieg auf, weil es sich bei diesem Geschehen um einen Prozess handelte, in dem im höchstmöglichen Ausmaß beobachtet werden konnte, dass die Vorstellung menschlicher Kontrolle nur eine Illusion ist. Stattdessen, so könnte es Thukydides interpretiert haben, wurde in diesem Krieg die fehlende Kontrolle des Menschen über das historische Geschehen immer wieder deutlich. Die Entscheidung für den Krieg als Darstellungsthema lässt sich mit dieser Interpretation ebenso vereinen wie die Verwendung des Begriffs in spezifisch unterschiedlichen Kontexten, die aber jeweils immer die gleichen 7 Ähnlich Schmid, Kinesis, S. 57 zur zweiten Tagsatzung in Sparta: »Der Krieg ist als »kinetische Potenz« wirksam, ist da, bevor er da ist.« 8 Vgl. oben Kap. 4.1.

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Charakteristika gemeinsam haben. Die Deutung Rechenauers,9 dass die »größte Bewegung« Grund für die Abfassungsentscheidung gewesen sei, kann somit nicht nur bestätigt, sondern insofern erweitert werden, dass das Bild der »Bewegung«, die diesem Begriff zugrundeliegende Vorstellung, klarer erkannt werden kann. Sowohl die Untersuchung der Vorsokratiker als auch des Thukydides hat ausführlich gezeigt, dass moderne Begriffe wie »Bewegung« oder »motion« kaum geeignet sind, um die gesamte Charakteristik und Konnotation des Begriffs κίνησις wiederzugeben. Auch Übersetzungen wie »Erschütterung« oder »mobilization« können zwar einen speziellen Kontext erhellen, sind aber nicht geeignet, um die Gemeinsamkeit aller Verwendungen auszudrücken. Es ist im Laufe der Untersuchung deutlich geworden, dass ein modernes, ausschließlich rational-physikalisches Verständnis von »Bewegung« nicht auf den Kinesis-Begriff angewendet werden kann, da durch ihn eine viel weiter gefasste Implikation transportiert wird, als in unserem modernen Verständnis angelegt ist – zumindest bei den Vorsokratikern und Thukydides. Es scheint daher kaum möglich zu sein, eine angemessene wörtliche Übersetzung für κίνησις oder κινεῖν zu finden, weshalb es notwendig ist, die mit dem Begriff verbundenen Aspekte im Blick zu behalten, die sich vor allem in einem Prozess des Ergreifens von Menschen ausdrücken, die nur begrenzt Einfluss auf diesen Prozess selbst haben. Das Proömium des Thukydides müsste dann wie folgt verstanden werden: »Thukydides aus Athen hat den Krieg zwischen den Peloponnesiern und den Athenern aufgeschrieben, wie sie ihn miteinander führten […]. Denn diese Dinge stellten einen äußerst großen Bewegungsprozess dar, der die Menschen ergriff und in dem sie nur begrenzt Kontrolle ausüben konnten […].« Dies soll nicht als tatsächlicher Übersetzungsvorschlag verstanden werden, sondern lediglich zeigen, dass ein solches Verständnis von κίνησις auch in den Rahmen des Proömiums sinnvoll integriert werden kann. Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass ein solches Verständnis von κίνησις auch mit der Charakteristik des Begriffs bei Homer vereinbar ist, welcher nach A. Mourelatos sich dadurch auszeichnete, dass die Bewegung immer plötzlich, schnell und gewaltvoll sei und etwas von seinem »eigentlichen« Platz entferne.10 Das hier für Thukydides vorgeschlagene Verständnis von κίνησις entspricht dieser Bedeutung insofern, als dass hier ebenfalls die Bewegung »gewaltvoll« über die Menschen hereinbricht und dementsprechend auch der Krieg zu einem βίαιος διδάσκαλος (III, 82, 2) wird und sie aus ihrer gewohnten »Ordnung«, bzw. ihrem »Platz« in dieser Ordnung, heraus bewegt. Im folgenden Abschlusskapitel soll zusammenfassend aufgezeigt werden, inwiefern sich diese Ergebnisse der Arbeit auf die Gesamtinterpretation des Werkes auswirken. 9 Rechenauer, Medizin, S. 265–266, Anm. 25, vgl. auch oben S. 189. 10 Vgl. Mourelatos, Route, S. 116–117, zur Diskussion vgl. oben S. 67–69.

6. κίνησις als historischer Faktor

Es ist nun zu untersuchen, inwiefern sich diese begriffsspezifischen Erkenntnisse mit der anfangs aufgestellten Frage nach einer generellen Darstellungskonzeption verbinden lassen. Die Fokussierung auf die κίνησις im menschlichen Bereich, wie sie oben analysiert wurde, kann dabei als Grundlage für die an mehreren Stellen erkannte Tendenz herangezogen werden, das Verhalten der Menschen zu ihr und im Umgang mit ihr darzustellen. Die κίνησις ist damit nicht mehr nur ein physikalisches Phänomen, mit dem die Welt erklärt wird, wie es bei den Vorsokratikern analysiert werden konnte, sondern sie wird zu einem grundlegenden Prinzip des historischen Prozesses. Dieses Prinzip wirkt auf die Menschen in der Form von historischen Herausforderungen, denen sie sich gegenübersehen. Gleichzeitig wirken die Reaktionen und Handlungen der Menschen angesichts dieser Herausforderungen aber auch wieder auf das Prinzip zurück. Durch dieses Wechselverhältnis wird die κίνησις in der Darstellung des Thukydides, so lässt sich zusammenfassen, zu einem historischen Faktor, denn sie bestimmt maßgeblich den geschichtlichen Ablauf, den darzustellen Thukydides sich zur Aufgabe gemacht hat. Die folgenden Betrachtungen sollen deutlich machen, inwiefern sich die Deutung der κίνησις als eines historischen Faktors im Werk anhand der Untersuchungsergebnisse plausibel machen lässt und wie sich die literarische Verarbeitung einer solchen Konzeption auf verschiedenen Ebenen konkret darstellt. Das Verhältnis der Menschen zur κίνησις scheint auf zwei hauptsächlichen Ebenen angesprochen zu werden: in Form von Gemeinschaften (z. B.  Athen, Sparta, Syrakus, das Griechentum) und von Individuen (z. B. Kleon, Brasidas, Alkibiades, Perikles). Es konnte dabei gezeigt werden, dass allgemeine Darstellungstendenzen auch mit der Tendenz der einzelnen Begriffsverwendung korrelieren. So wird z. B. an Brasidas oder Alkibiades erkennbar, dass die Fähigkeit, sich innerhalb einer Situation, die als κίνησις bezeichnet werden kann, möglichst erfolgreich und angemessen zu verhalten, d. h. in ihr weitgehend zum eigenen Vorteil zu handeln, auch über die generelle Darstellungstendenz bestimmt. Dies kann u. a. dadurch erklärt werden, dass die gesamte Darstellung eine Auseinandersetzung mit der μεγίστη κίνησις betrachtet. Über diese Konzeption lässt sich

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κίνησις als historischer Faktor

eine weitere Verbindung zwischen Thukydides und der Vorsokratik, vor allem zu Demokrit, herstellen, denn gerade Demokrit unterstreicht die Bedeutung der Einsicht in die den Phänomenen zugrunde liegenden Ursachen, der γνησίη γνώμη, die die Erkenntnis der Wahrheit ermögliche.1 Wie jedoch gezeigt werden konnte, ist die Bewegung selbst bei Demokrit nicht ableitbar: sie äußert sich lediglich in der Bewegung der Atome, die sich gegenseitig schließlich anstoßen. Wenn Thukydides daher die Fähigkeiten eines Politikers an seiner Einsicht in die κίνησις und seinem Umgang mit ihr festmacht, ohne dabei gleichzeitig ihre vollkommene Durchdringung in Form von Kontrolle zu postulieren, so entspräche dies einem Einschätzungsmuster, welches auch in anderen Texten der Zeit zu finden ist.2 Thukydides selbst gibt, und dies dürfte nicht überraschen, weder konkrete Hinweise auf eine solche Darstellungstendenz seines Werkes, noch darauf, worin er den besten Umgang mit der κίνησις sieht, so dass diese aus dem Text erschlossen werden müssen. Die Tendenz scheint dabei dahin zu gehen, dass eine »gesunde Mischung« aus Antrieb und Zurückhaltung, jeweils zum passenden Zeitpunkt ausgeführt, vor allem zum Erfolg führen kann: Brasidas und die Syrakusaner, aber auch die Hervorhebung der Fähigkeiten des Perikles, der gleichzeitig »antreibt« und »zur Ruhe bringt«, lassen auf eine solche Sicht schließen. Tragfähig kann eine solche werkumspannende Darstellungskonzeption aber nur postuliert werden, wenn man die Zentralität der κίνησις im Werk nachweisen kann. Für diese scheint das immer wiederkehrende Auftreten der Darstellung der Auseinandersetzung der Menschen mit dem Prozess selbst, als Begriff direkt im Text verhandelt, ein Argument zu sein. Die unterschiedlichen Kontexte seines Auftretens, verbunden mit der erkennbaren Parallele des Darstellungsfokus und die Korrespondenz der Stellen zu anderen Darstellungskomplexen, die zwar keinen Kinesis-Begriff enthalten, aber einen Umgang mit Problematiken, die mit Bewegung assoziiert werden, lassen darauf schließen, dass die κίνησις auch für Thukydides eine zentrale Größe im Kosmos darstellt, mit der der Mensch sich auseinandersetzen muss. Geht die moderne Forschung aber davon aus, dass für die Vorsokratiker die κίνησις ein wirklich existierender Prozess war, mit dem man sich ernsthaft im Rahmen der Entwicklung einer Erklärung der Welt auseinandersetzen musste, so gibt es keinen Grund, eine solche Idee nicht auch für Thukydides anzunehmen – mit den damit verbundenen Implikationen. Dadurch wird die Interpretation der κίνησις als eines historischen Faktors in seiner Darstellung plausibel. Da der Kinesis-Begriff über das gesamte Werk in einer Weise verwendet wird, die die verschiedenen Stellen untereinander in eine korrespondierende 1 Vgl. Gemelli Marciano III, S. 528. 2 Vgl. ebd.

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Beziehung setzt, so ist vermutlich auch die μεγίστη κίνησις nicht nur auf die Vorkriegszeit zu beziehen, sondern auf das gesamte Werk und das Postulat an dieser Stelle auch als Ankündigung einer Thematik zu verstehen, der eine Werkkonzeption zugrunde liegt. Die grammatisch-inhaltlichen Voraussetzungen jedenfalls liegen für eine solche Deutung vor;3 die Kohärenz der Begriffsverwendung, wie sie hier erarbeitet wurde, stärkt die These weiter. Die Werkkonzeption könnte dann, akzeptiert man eine solche Funktion der »Ankündigung« im Proömium, darin zu sehen sein, dass die Zentralität und auch Notwendigkeit menschlicher Auseinandersetzung mit der κίνησις gezeigt werden soll – ihr zu entrinnen ist nicht möglich und damit ist auch die Unmöglichkeit vollständiger Planbarkeit und Kontrolle postuliert. Die einzige Gewissheit besteht dann darin, zu wissen, dass sie auftreten wird und dass man sich mit ihr auseinandersetzen muss: Eine Parallele zu den Theorien der Atomisten,4 Heraklits5 und zu Aussagen wie der des Empedokles, nur die Bewegung selbst sei »unbeweglich«, kann hier konstatiert werden. Damit würde für Thukydides die alternativlose menschliche Auseinandersetzung mit κίνησις zu einer Grundlage der Schilderung und das Verhalten innerhalb dieser Auseinandersetzung selbst zu einer Erklärung des Geschehens. Die κίνησις wird damit, ähnlich wie bei den Vorsokratikern, zu einem Prinzip der Erklärung, denn was geschieht, kann direkt oder indirekt auf diesen Prozess und die alternativlose Auseinandersetzung mit ihm zurückgeführt werden. Ein Verständnis von Krieg als »gewaltvolle(m) Lehrer«, wie es Thukydides in III, 82, 2 präsentiert, und welches an Heraklit erinnert, der ihn als den »Vater aller Dinge« (DK22 B53) bezeichnet,6 könnte dann erklären, warum sich Thukydides für seinen Darstellungsgegenstand entschieden hat: Der Krieg bietet sich zur Darstellung einer solchen Auseinandersetzung gerade deswegen an, weil in ihm das größte Maß an »Zwang« herrscht. Er ist damit der Lehrer für die Menschen, die gezwungen sind, sich mit Situationen auseinanderzusetzen, die diese Aspekte der κίνησις, wie sie hier erarbeitet werden konnten, besitzen. Der Krieg kann damit auch wortwörtlich als ein »Lehrer« für die Bedeutung dieser Fähigkeiten verstanden werden. Dass dabei aber κίνησις nicht gleichbedeutend mit »Krieg« ist, zeigen sowohl die Ausführungen in I, 2–19, als auch die Pathemata-Liste in I, 23, 1–3:7 Die κίνησις geht über den »reinen« Krieg im Sinne seiner Kampfhandlungen und der dazugehörigen militärischen Entscheidung, usw. hinaus, ist aber anscheinend in Thukydides’ Augen bezüglich ihrer Darstellungsfähigkeit an ihn gebunden. 3 4 5 6 7

Vgl. oben S. 184–191. Vgl. oben Kap. 3.4.4. Vgl. oben Kap. 3.4.3. Vgl. oben S. 150. Vgl. dazu oben S. 185–188.

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Konsequenzen für verschiedene Forschungsansätze Ausgehend von den bisherigen Ergebnissen sind ihre Auswirkungen auf die anfangs aufgeworfenen Forschungsfragen zu betrachten. Im Mittelpunkt stehen dabei das Postulat einer Darstellungskonzeption von »motion and rest« im Werk, verbunden mit den jeweiligen »Charakter«-Interpretationen, sowie die Frage nach der Möglichkeit, durch den Begriff der κίνησις einen ideengeschichtlich relevanten Diskurs der Zeit zu greifen. Wie oben gezeigt worden ist, kann die mit dem Krieg verbundene κίνησις, die an seinem Beispiel dargestellt werden soll, als tatsächlicher Grund für die Abfassung der Darstellung interpretiert werden.8 Es berührt daher die Untersuchung des Kinesis-Begriffs auch die Interpretation der Darstellung von »motion and rest« im Werk.9 Es konnte an mehreren Stellen die Verarbeitung einer Ruhe-Bewegungs-Thematik erkannt werden, die mit der Verwendung des Kinesis-Begriffs in der Darstellung korrelierte: Hier zu nennen sind beispielsweise Brasidas, Nikias oder Alkibiades, deren jeweils spezifisches Verhalten unter der Verwendung des Begriffs auch ihrer generellen Darstellungstendenz entsprach, in der der Begriff selbst nicht verwendet wurde. Gerade aber die oben ausgeführte Erkenntnis, dass absolute »Ruhe« nicht möglich ist und nur relativ im Rahmen der κίνησις zu verstehen sei, stärkt nicht nur die Tragfähigkeit einer solchen Interpretation, sondern modifiziert sie gleichzeitig – es gibt im Werk keine Entscheidung zwischen Ruhe oder Bewegung, sondern ausschließlich Bewegung, welche man entweder intensiviert oder nicht. Die Intensivierung wiederum scheint sowohl freiwillig (Beispiel Athen), als auch unfreiwillig (Beispiel Sparta) vollzogen zu werden. Ein tatsächliches Abbremsen der Bewegung oder gar Stoppen dagegen scheint nicht möglich zu sein. Weder die ständige Inten­ sivierung noch die versuchte Vermeidung von κίνησις scheinen dabei besonders erfolgversprechend für Thukydides zu sein, wie die Kritik an Sparta und Athen zeigt. Erst die richtige Mischung, d. h. das richtige Verhalten zum richtigen Zeitpunkt innerhalb der Bewegung, ist offenbar entscheidend. Auch die bereits angesprochene Studie von D.  Stimson zur Charakterisierung bei Thukydides10 hat die mögliche Bedeutung einer solchen Mischung für die Tendenz der Darstellung bei Thukydides erkannt: »[…] the Athenian and Spartan characters are inherently flawed and in need of moderation, and that positive leaders are individuals who can provide this moderation […].«11 Die Untersuchungsergebnisse Stimsons hängen von der Prämisse ab, dass die »Feh8 9 10 11

Vgl. oben S. 189. Vgl. oben Kap. 2.2. Vgl. oben Kap. 2.2., Anm. 134. Stimson, Characterization, S. 248.

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lerhaftigkeit« der Gemeinschaften, und daran wiederum hängt seine Hauptthese zur Funktion von politischen Anführern,12 sich in Aspekten ausdrückt, die mit Ruhe und Bewegung assoziiert werden: »[The Athenians] weaknesses, however, are their constant acquisitiveness and their inability to be at rest even for a moment – tendencies that, at times, drive them to overreach and expose themselves to danger. Spartan strength, on the other hand, is based on their stability and their ability to avoid such overreaching, but their weaknesses are their slowness, hesitancy, and risk aversion. These faults lead them to fail to capitalize on Athenian weakness on multiple occasions during the war.«13 Die vorliegende Untersuchung hat diese These teilweise stärken können, da sie die Möglichkeit einer solchen Darstellungstendenz auch auf begrifflicher Ebene nachgewiesen hat, die sowohl mit der Funktion von Individuen, also politischen Anführern, als auch der Darstellung der betroffenen Gemeinschaften Athen und Sparta korrespondiert und somit die These von »motion and rest« auf eine breitere textliche Grundlage stellen kann. Dies gilt auch für die eingangs erwähnte Untersuchung Jaffes,14 deren Ergebnisse ebenfalls zentral vom Vorliegen einer Verarbeitung der Prinzipien »Ruhe und Bewegung« im Werk abhängen. Zu modifizieren sind diese Interpretationen jedoch offenbar dahingehend, dass beispielsweise politische Anführer nur begrenzt auf den Erfolg oder Misserfolg der Gemeinschaft durch ihre Moderation des Charakters Einfluss nehmen können. Dies ergibt sich konsequenterweise daraus, dass die κίνησις eben nicht kontrolliert werden kann, sodass die Fähigkeiten von Individuen lediglich die Chance auf Erfolg erhöhen können. Grundvoraussetzung für eine solche Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit scheint in erster Linie die Fähigkeit zu sein, die Situation als κίνησις und die damit verbundenen Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten, überhaupt erst einmal zu erkennen – Hermokrates könnte hier als positives Beispiel angebracht werden.15 Die Untersuchungsergebnisse führen des Weiteren zu neuen Perspektiven in der Diskussion über den »national character« generell. So haben beispielsweise P. Cartledge und P. A. Debnar in der Charakterisierung der Syrakusaner einen Widerspruch darin gesehen, dass diese ja eigentlich dorische Kolonisten gewesen seien und somit keinen »athenischen« Charakter entwickeln könnten.16 Diese Analyse geht jedoch von der Unveränderlichkeit des Verhaltens von Gemeinschaften in einer κίνησις aus, die jedoch im Werk nicht postuliert wird: Gerade die Spartaner durchlaufen ja im Laufe des Werkes immer wieder graduelle Ver12 13 14 15 16

Vgl. Stimson, Characterization, S. 241 zu Alcibiades. Ebd. S. 71. Vgl. oben S. 51. Vgl. oben Kap. 4.3.3. Cartledge / Debnar, Sparta, S.  562.

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änderungen in ihrem Habitus.17 Stimson führt die Möglichkeit des Vergleichs zwischen Syrakus und Athen auf die Bedeutung ihrer gemeinsamen politischen Ordnung zurück.18 Die Ergebnisse der vorliegenden Betrachtung ordnen diese Beobachtung in einen möglichen größeren Darstellungszusammenhang ein, der die Theorie ermöglicht, dass der »national character« sich im Endeffekt als das Verhalten in einer κίνησις erweist – die »Schnelligkeit« Athens und die »Langsamkeit« Spartas sind dann lediglich Analysen ihres Agierens im Prozess einer κίνησις, das hier aufgrund der außerordentlichen Größe der Bewegung besonders gut darzustellen ist, und dieses Verhalten ist, wie sowohl an Athen als auch an Sparta im Laufe der Untersuchung zu sehen war, veränderbar. Gerade die Betrachtung von Individuen zeigt ja, dass erfolgreiches Verhalten bis zu einem gewissen Grade möglich ist und so unterschiedliche Interaktionsmöglichkeiten mit der κίνησις bestehen. Der »national character« kann sich hier nicht als reine Zuschreibung, sondern als eine Analyse und Einordnung des Handelns der Poleis in Bezug auf die Interpretation des Geschehens als κίνησις erweisen. Dadurch scheint der statische Begriff des »Charakters«, den man »besitzen«19 kann, durch den flexibleren Begriff des »Verhaltens« ersetzt werden zu müssen. Der grundlegenden Erkenntnis der vorgenannten Arbeiten soll dadurch nicht widersprochen werden, lediglich sei auf den narratologisch-konzeptionellen Hintergrund der Charakterinterpretation hingewiesen. Die vorliegende Interpretation kann damit die Analyse der Verarbeitung typischer Verhaltensweisen stützen, die die Forschung als »Charakter« identifiziert hat, weist ihr aber darüber hinaus eine zugrundeliegende Darstellungskonzeption zu, die sich in der Verwendung des Kinesis-Begriffs selbst wiederfinden lässt. Die Annahme einer solchen Konzeption hat außerdem das Potential, die Betrachtung von historischen Personen in eine neue Perspektive zu rücken. Akzeptiert man die Vorstellung von κίνησις als historischen Faktor, also als Prozess, mit dem sich die Menschen auseinandersetzen müssen, so bekommt ihr Verhalten eine Qualität von Notwendigkeit, da eine vollkommen freie Entscheidung nicht möglich ist, wie an mehreren Stellen plausibel gemacht werden konnte. Die Analyse der Darstellung von Individuen, wie sie Stimson und Jaffe beispielsweise vorgelegt haben, kann daher durch diesen Aspekt der Notwendigkeit der Auseinandersetzung, der nach der hier vorgelegten Interpretation nicht nur als fester Bestandteil der politischen Karriere, sondern noch vielmehr

17 Vgl. Baltrusch, Sparta, S. 141. 18 Vgl. Stimson, Characterization, S. 36, Anm. 41. 19 Vgl. ebd. S. 211: »[…] Thucydides demonstrates once again the need which both Sparta and Athens had, possessing the flawed political structures and national characters which they did, for their leaders to possess individual characters specifically fitted to their con­ text […].«

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als fester Bestandteil des menschlichen Daseins angesehen werden kann, erweitert werden. Dies bedeutet, dass die festgestellte Zentralität des Umgangs politischer Anführer20 und der Individuen generell mit dem gemeinschaftlichen Verhalten der Polis und dem Krieg21 in den Kontext der Betrachtung der Notwendigkeit menschlichen Verhaltens zu einem Prozess, der vollständiger Kontrolle entzogen ist, gestellt werden kann. Kohärent zu diesen Beziehungen stellt sich schließlich Stimsons Analyse der Bedeutung eines »Mischverhaltens« dar,22 die den hiesigen Erkenntnissen entspricht. Diese Beobachtungen lassen eine kohärente Verarbeitung einer Idee von κίνησις im Werk sehr plausibel erscheinen. Damit einher geht eine Stärkung der unitarischen Position in der »thukydideischen Frage«, denn eine solche Kohärenz spricht für die einheitliche Abfassung des Werkes. Andererseits kann eine kohärente Vorstellung und Idee der κίνησις und ihrer Auswirkungen auf den historischen Prozess auch dann bestanden haben, wenn das Werk in verschiedenen Phasen abgefasst worden ist. Eine ausführliche Betrachtung der Auswirkungen der hier erreichten Ergebnisse für die »thukydideische Frage« wird in weiterführenden Arbeiten zu unternehmen sein.23 Die Analyse der Bedeutung der Untersuchungsergebnisse für die Forschung kommt damit an ihren letzten Punkt: die aufgeworfene Frage nach der Existenz eines möglichen intellektuellen Diskurses über die κίνησις im griechischen Denken der Zeit. Die aufgezeigten Parallelen der Charakteristik des Kinesis-Begriffs zwischen Thukydides und den Vorsokratikern schaffen eine erste Grundlage, die Existenz eines solchen Diskurses für plausibel zu halten; die Autoren verwenden eine ähnliche Charakteristik, aber in unterschiedlichen Kontexten, wodurch die Texte als Beiträge zu einem generellen Nachdenken über den Prozess der κίνησις interpretiert werden können. Dass ein Nachdenken in einem solchen Umfang möglich war und wahrscheinlich auch ein entsprechendes Publikum gefunden haben mag, macht ein Blick auf die philosophische Auseinandersetzung mit κίνησις im 4. Jh. v. Chr. deutlich: Die Zentralität der κίνησις für maßgebliche Richtungen des platonischen und aristotelischen Denkens kann an vielen Stellen nachgewiesen werden. So wird in Platons Phaidros die Ewigkeit des Seins aus der Ewigkeit der κίνησις geschlussfolgert.24 Eine solche Vorstellung,

20 Vgl. Jaffe, Character and Contest, S. 204–205; Stimson, Characterization, S. 36. 21 Vgl. Gribble, Individuals, S. 467; Bearzot, Interwar Years, S. 150. 22 Stimson, Characterization, S. 277. 23 Vgl. oben S. 16 und Anm. 14. 24 Plat. Phaedr. 245c–e. Vgl. auch D. Blyth, The Ever-Moving Soul in Plato’s Phaidrus (AJPh 118, No. 2 (1997), S. 185–217. Interessant ist auch Platons Verwendung der κίνησις als Grundvoraussetzung für das Erlangen von Erkenntnis über die Teilhabe an den Ideen, vgl. S. Oliver, Philosophy, God and Motion, London / New York 2005, S. 8–28.

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nach der die κίνησις grundlegend für das Sein und damit das Leben ist, lässt sich nicht nur bei den Vorsokratikern, sondern auch bei Thukydides finden, wenn man der hier vorgelegten Analyse des Proömiums bezüglich des Nachweises der Größe der κίνησις folgt.25 Aristoteles schließlich, der die κίνησις in der Physik systematisch kategorisiert,26 entspricht in der Metaphysik mit dem »unbewegten Beweger« dem vorsokratischen Prinzip, ein göttliches Wesen primär über seine Unbeweglichkeit zu charakterisieren,27 und unterstreicht damit, dass für den Menschen eine selbstgewählte Freiheit von κίνησις unmöglich ist. Auch wenn eine umfassendere Analyse der Beziehung des Thukydides zu den Philosophen des 4. Jahrhunderts im vorliegenden Rahmen nicht möglich ist und eine detaillierte und tiefere Textbetrachtung erfordert, können diese Hinweise genügen, um auf die Möglichkeit einer weitergehenden philosophischen Beschäftigung mit κίνησις hinzuweisen, die ebenfalls wie die Vorsokratik vergleichbare Vorstellungen des Begriffes erahnen lässt, wie sie bei Thukydides analysiert werden konnten. Insofern als die Auseinandersetzung Platons und Aristoteles’ mit ihren Vorgängern generell in ihren Texten greifbar ist28 und dabei auch der Aspekt der Bewegung eine zentrale Rolle spielt,29 und wir diese Texte als Beiträge zu einer philosophischen Diskussion über Bewegung im Allgemeinen, κίνησις im Besonderen, verstehen, so kann auch Thukydides’ Verarbeitung von κίνησις im Werk als ein solcher Beitrag verstanden werden. Das Fehlen expliziter Bezüge zu den Vorsokratikern kann dabei mit der allgemeinen Tendenz des Autors erklärt werden, generell kaum andere Autoren namentlich zu nennen, und aus seiner speziell »menschlichen« Perspektive auf κίνησις. Die Möglichkeit, das Werk auch als einen Diskursbeitrag zu dieser philosophischen Diskussion zu verstehen, bleibt dabei durch die plausibel vergleichbare Vorstellung von κίνησις bei Thukydides und den hier untersuchten Vorsokratikern erhalten. Die Beschäftigung mit der κίνησις geht aber auch über die philosophische Auseinandersetzung noch hinaus und hier lassen sich weitere Beziehungen zur Verarbeitung bei Thukydides finden, die die These, Thukydides leiste 25 Vgl. oben Kap. 4.1. 26 Vgl. dazu I.  Bodnar, Aristotle’s Natural Philosophy. In: E. N.  Zalta  (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy  (Spring 2018 Edition): https://plato.stanford.edu/archives/ spr2018/entries/aristotle-natphil/ (12.12.2018). 27 Vgl. M. Bordt, Unbewegter Beweger. In: C. Rapp / K. Corcilius (Hgg.), Aristoteles-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart / Weimar 2011, S. 367–371. 28 Vgl. dazu ganz allgemein M. Erler, Kontexte der Philosophie Platons. In: C. Horn / J. Müller / J.  Söder (Hgg.), Platon-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart / Weimar 2009, S. 61–100, v. a. 70–80 und 98–92; zu Aristoteles Cherniss, Aristotles’ Criticism; C. Rapp, Vorgänger. In: Ders. / Corcilius (Hgg.), Aristoteles-Handbuch, S. 7–12. 29 Vgl. z. B. D. Furley, Cosmic Problems. Essays on Greek and Roman Philosophy of Nature, Cambridge 1989, S. 77–102; K. Fischer, Veränderung, Bewegung. In: Rapp / Corcilius (Hgg.), Aristoteles-Handbuch, S. 372–377.

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durch diese Verarbeitung einen Beitrag zur generellen Auseinandersetzung mit κίνησις, weiter stützen können. So lässt Aristophanes beispielsweise in den Wolken den Chor in Richtung des Pheidippides sagen: σὸν ἔργον ὦ καινῶν ἐπῶν κινητὰ καὶ μοχλευτὰ πειθώ τινα ζητεῖν, ὅπως δόξεις λέγειν δίκαια30

Die Forschung hat auf die Anspielungen auf Alkibiades in der Figur des Pheidippides bereits hingewiesen.31 Folgt man einer solchen Deutung, so lässt sich gerade hier, durch den Vokativ κινητά, die Anrede als »Beweger«, eine mögliche Parallele zu Thukydides’ Darstellung des Alkibiades als »Antreiber« herstellen.32 Die Seltenheit des Wortes κινητής, welches erst wieder bei Aristoteles zu finden ist,33 erregt dabei besondere Aufmerksamkeit, denn diese stützt den Gedanken, dass auch das Publikum seine Aufmerksamkeit gerade auf die Verwendung solch seltener Ausdrücke richten sollte und gerichtet hat. Sind nun der modernen Forschung die möglichen Parallelen zwischen Alkibiades und Pheidippides nicht verborgen geblieben, so wird auch das antike griechische Publikum diese Parallelen gesehen haben. Es ist hier zu fragen, inwieweit der historische Alkibiades für seine Zeitgenossen einen »Antreiber« der κίνησις, einen κινητής, dargestellt haben mag. Einen Hinweis für die Beantwortung dieser Frage könnte im Text des Thukydides liegen, der uns zeigt, wie Alkibiades mit den Herausforderungen der Zeit, als κίνησις bezeichnet, umgeht. Die Verwendung des Begriffs bei Aristophanes könnte darauf hindeuten, dass die Interpretation der Zeit als κίνησις keine ausschließlich thukydideische Erfindung ist. Die Bezeichnung κινητά für eine Figur in einem Bühnenstück, welches gesellschaftliche Entwicklungen der Zeit widerspiegeln soll,34 lässt sich gerade dann erklären, wenn diese gesellschaftlichen Entwicklungen auch als κίνησις im Sinne einer »Bedrohung« wahrgenommen worden sind.

30 Arist. Nub. 1397–1399. 31 Vgl. M. Vickers, Pericles on Stage. Political Comedy in Aristophanes’ Early Plays, Texas 1997, S. 22–26; Gribble, Alcibiades, S. 32. 32 Vgl. oben S. 295. 33 Nach der Datenbank der TLG: http://stephanus.tlg.uci.edu/Iris/inst/tsearch.jsp#s=7, besucht am 12.12.2018. 34 Vgl. Vickers, Pericles on Stage, S. 2–8; zur Quellenproblematik vgl. Pelling, Literary Texts, S. 123–140; B. Zimmermann, Die griechische Komödie, Freiburg 2006, S. 53.

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Das Verhältnis der κίνησις zu verwandten Konzepten: τύχη, μεταβολή und ἀνάγκη Vor allem H.-P. Stahl hat in mehreren Arbeiten die Funktion des Zufalls, der τύχη,35 und seine Konzeptionalisierung im Werk des Thukydides untersucht und dabei festgestellt, dass es dem Historiker daran gelegen gewesen sei, diese Komponente im historischen Prozess und ihren Einfluss auf diesen zu zeigen.36 Gerade aber der Zufall in Verbindung mit der menschlichen Natur stellten, so Stahl, unkontrollierbare Konstanten im historischen Geschehen dar, die eine rationale, erfolgreiche Planung aufgrund sicherer Voraussicht unmöglich machten.37 Ebenso hat bereits Cornford auf die Zentralität von Elementen, die der menschlichen Kontrolle entzogen sind, in seiner Betrachtung der Pylos-Episode in Buch IV hingewiesen und dabei die Möglichkeit angesprochen, dass im Werk die Tätigkeit einer »non-natural agency, which breaks in, as it were, from outside and diverts the current of events«,38 die er »Fortune« nennt, zu erkennen sei.39 Haben sich nun im Laufe der Arbeit gerade die Aspekte unzureichender Kontrolle und fehlender Planbarkeit als Charakteristik der κίνησις erwiesen, stellt sich die berechtige Frage, ob dies nicht eher auf diese bereits analysierten Darstellungsmotive zurückzuführen sei als auf eine Vorstellung der κίνησις selbst. Um diese Frage zufriedenstellend zu beantworten, muss zuerst untersucht werden, inwieweit sich die Vorstellung von κίνησις von der der τύχη unterscheidet, um dann die Beziehung dieser beiden Aspekte zueinander deutlich zu machen. Die Antwort auf diese Fragen findet sich in den erwähnten Interpretationen selbst. So schreibt Cornford, wenn er auf die Wechselbeziehung von Mensch und Zufall zusprechen kommt und dabei die individuellen Motive als Ursache für menschliches Verhalten identifiziert: »all human motives are absolute ›beginnings of motion‹.«40 Stahl entwickelt kohärent dazu einen Aspekt der Irrationalität in der Darstellung des geschichtlichen Prozesses, der sich einerseits aus dem Zufall, andererseits aus der Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens zusammensetze.41 Die Darstellungskonzeption der κίνησις im Werk scheint diese beiden Aspekte zu verbinden und den Prozess insgesamt zu beschreiben, in dem sich die Menschen befinden und der sowohl vom Zufall, als auch von bewussten Entscheidungen geprägt ist. Die τύχη beschreibt dabei die Charakteristik eines bestimmten Elements innerhalb des Geschehens der κίνησις, welches dem direk35 36 37 38 39 40 41

Vgl. dazu Stahl, Thukydides, S. 98–99. Vgl. ebd. S. 146; Ders., Literarisches Detail, S. 102–104. Vgl. ebd. Cornford, Mythistoricus, S. 98. Vgl. ebd. S. 99. Ebd. S. 98. Vgl. Stahl, Thukydides, S. 98; Ders., Literarisches Detail, S. 102.

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ten menschlichen Zugriff entzogen ist – den Sturm, der die attische Flotte nach Pylos verschlägt, und dies zu einem Zeitpunkt, an dem die Lakedaimonier gerade ein Fest feierten,42 das Aufhalten des thebanischen Entsatzheeres und das Löschen des Plataia bedrohenden Feuers durch Regen43 und schließlich lässt es sich auch als Zufall für Brasidas interpretieren, dass Kleon sein Gegner bei Amphipolis ist und seine Taktik des »Herauslockens« so hervorragend funktioniert. Diese jeweiligen Aspekte der Situation, die sich schließlich unter dem Begriff »Zufall« subsumieren lassen, sind dem Zugriff einzelner Menschen entzogen (Kleons Charakter ist dem Einfluss des Brasidas entzogen, nicht aber dem Kleon selbst, natürlich) und ihr Auftreten ist einer der Gründe, warum sich die κίνησις als Gesamtheit des Geschehens einer vollständigen Kontrollierbarkeit durch den Menschen entzieht. Die κίνησις ist daher von Momenten der τύχη geprägt, sie ist aber mit ihr nicht deckungsgleich: Sie fasst diese zufälligen Aspekte zusammen mit dem Umgang der Menschen mit ihnen und bildet eine übergeordnete Einheit, unter der sich das menschliche Verhalten, der »Zufall« und die daraus entstehende Wechselbeziehung zusammenfassen lassen.44 Die κίνησις wird darüber hinaus aber auch durch Prozesse beeinflusst, die von Menschen initiiert werden, wie beispielsweise der Aufruhr des Heeres auf Samos durch Alkibiades oder die beabsichtigten Verfassungsumstürze in Boiotien, die mit dem KinesisBegriff bezeichnet werden. Hier ist der gesamte Prozess als κίνησις bezeichnet, τύχη aber bezieht sich beispielsweise nur auf den Irrtum in der Berechnung des Tages, zu dem der Umsturz initiiert werden soll (IV, 89, 1) – dieser Irrtum ist für die Boioter ein Zufall, doch der gesamte Prozess des Umsturzes, wäre er in Gang gesetzt worden, wird mit dem Kinesis-Begriff bezeichnet. Somit bezieht sich die Rolle des Zufalls auf einen bestimmten Moment, oder eine Reihe von Momenten, die jeweils dem Einfluss des Menschen, oder einem Teil der Menschen, entzogen sind, während sich die κίνησις auf den gesamten Prozess bezieht, in dem jeweils diese Momente geschehen. So kann die τύχη nicht von Menschen intensiviert werden, die κίνησις dagegen schon. Die κίνησις wiederum zeichnet sich durch Unvorhersehbarkeit und fehlende Kontrolle aus, wird also von der τύχη geprägt, 42 Vgl. Cornford, Mythistoricus, S. 88. 43 Vgl. Stahl, Thukydides, S. 98. 44 Eine ähnliche Interpretation der Pylos-Episode entwickelt Rood, Thucydides, S. 24–57. Er weist auf das Zusammenspiel von τύχη und menschlichem Handeln hin und schließt daraus: »Pylos was for Thucydides above all a tale of the unexpected […].« (ebd., S. 39) und argumentiert dabei gleichzeitig gegen die Interpretation Cornfords, dass der athenische Erfolg bei Pylos allein auf den Zufall zurückzuführen sein (so auch Heitsch, Geschichte und Personen, S. 14) und damit als »non-human agency« wirke (ebd. S. 27). Dies korrespondiert mit der hier vertretenen Interpretationen der Idee von κίνησις bei Thukydides, ohne sie aber mit dem Begriff selbst in Verbindung zu bringen. Roods Interpretation der Darstellungstendenz der Pylos-Episode lässt sich daher als ein stärkendes Argument für die hier vertretene These anbringen.

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die in ihrem Rahmen geschieht: die τύχη kann damit als ein Aspekt der κίνησις interpretiert werden. Die Analyse Stahls bezüglich der Darstellungsintention des Thukydides, nämlich zu zeigen, dass das Unvorhersehbare immer wieder kehrt und daher keine Sicherheit im geschichtlichen Prozess zu erlangen ist,45 lässt sich somit kohärent in die hier vertretene Interpretation der Darstellung der Notwendigkeit der Konfrontation mit κίνησις einfügen: Das angemessene Verhalten in dieser Konfrontation impliziert auch die Notwendigkeit des Bewusstseins für die Unsicherheit der Zukunft und die Möglichkeit des Auftretens unvorhersehbarer Ereignisse.46 Für ein erfolgreiches Verhalten im historischen Prozess ist nach Thukydides jedoch dieses Bewusstsein allein nicht ausreichend.47 Des Weiteren ist vor dem Hintergrund der zuweilen vorgeschlagenen Übersetzung »Veränderung« für κίνησις48 zu fragen, in welchem Verhältnis μεταβολή und κίνησις zueinander stehen. V. Hunter hat die μεταβολή 1973 als Höhepunkt eines Zyklus identifiziert, der einzelnen Sequenzen im Werk als Darstellungsmuster zugrunde liege.49 Dieser Zyklus, so Hunter, »is […] an inexorable process which seems to defy human control. Perhaps the cycle is in the nature of things.«50 In dieser Analyse ist auch die Beziehung zwischen μεταβολή und der κίνησις, wie sie hier verstanden wird, bereits angelegt und ist mit der Beziehung von τύχη und κίνησις vergleichbar: μεταβολή, das »reversal«, wie Hunter sie übersetzt,51 ist ein möglicher Aspekt der κίνησις. Nach Hunters Interpretation verletzten bei Thukydides die Menschen durch ihr Verhalten ein kosmisches Gleichgewicht, welches durch die unausweichliche μεταβολή wieder hergestellt werde.52 Die μεταβολή beschreibt damit eine Veränderung innerhalb bestimmter übergeordneter Strukturen, z. B. die Veränderung einer politischen Ordnung. Diese Veränderung ist aber nur als solche identifizierbar, wenn sie weiterhin im Kontext politischer Ordnung betrachtet werden kann. Wenn Thukydides dagegen die στάσις als κίνησις des gesamten Griechentums beschreibt, liegt der Fokus auf dem gerade stattfindenden Prozess, dessen Ende, also eine mögliche μεταβολή, noch nicht abgesehen werden kann: die κίνησις besitzt keine für den Menschen erkennbare Grenze im Sinne eines Ziels oder Endes, was durch ihre Unvorhersehbarkeit erklärt werden kann. Durch eine solche Vorstellung von κίνησις wird es Thukydides auch möglich, alle Ereignisse der beschriebenen 45 Vgl. Stahl, Literarisches Detail, S. 104. 46 Dies machen die Korinther in I, 122, 1 bspw. deutlich. 47 So weist z. B. Perikles mehrfach auf die Wechselfälle des Schicksals hin (I, 140, 1; II, 61, 3) und geht dann an den Folgen seiner eigenen Strategie zugrunde. 48 Vgl. oben S. 61–65. 49 Hunter, Thucydides, S. 181. 50 Ebd. 51 Ebd. S. 182. 52 Vgl. ebd.

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Zeit in seinen Nachweis der Größe der κίνησις aufzunehmen,53 da sie eben nicht einem bestimmten Definitionsrahmen unterworfen ist. Diese Überlegungen machen deutlich, warum κίνησις mehr sein muss als μεταβολή und die Übersetzung der Wendung μεγίστη κίνησις als »größte Veränderung« problematisch wäre, wenn man unter Veränderung v. a. die griechische Vorstellung von μεταβολή zugrunde legt. Auch hier ist auffällig, wie sehr die von Hunter am Text angestellten Beobachtungen mit der vorliegenden Interpretation korrespondieren – der von ihr identifizierte Zyklus kann dabei durchaus als eine Ausdrucksform der κίνησις verstanden werden, da die Notwendigkeit der Auseinandersetzung des Menschen mit ihm gegeben ist und damit seinen Handlungsrahmen definiert: »τὸ ἀνθρώπινον […]«, so Hunter, »is the interaction of ἀνάγκη, τύχη and φύσις […].«54 Versteht man die φύσις als Ausdruck natürlicher Beschaffenheit des Menschen, so sehen wir in diesen drei Konstituenten auch die Elemente, die die Darstellung der κίνησις im Werk geprägt haben: den Menschen und sein Verhalten (φύσις) in Situationen, über die er keine Kontrolle besitzt (τύχη) und mit denen er sich notwendigerweise auseinandersetzen muss (ἀνάγκη). Die ἀνάγκη führt schließlich zum Abschluss der hier angestellten Einordnung, die keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern lediglich zeigen soll, in welcher Beziehung die entwickelte Interpretation zu bereits gewonnenen Erkenntnissen über andere Darstellungselemente steht und diese ergänzt bzw. von ihnen ergänzt wird. Die ἀνάγκη, der »Zwang« oder die »Notwendigkeit«, ist schon bei Parmenides in zentraler Funktion bezüglich der κίνησις aufgetreten; dort war sie für die Restriktion der κίνησις verantwortlich, um die Unbewegtheit des Seins zu garantieren.55 Auch bei Empedokles ist die ἀνάγκη verantwortlich für die Ewigkeit des Kreislaufes des Austausches der Elemente und damit für die Unbewegtheit dieses Kreislaufes.56 Anders wird bei den Atomisten die Bewegung selbst auf die ἀνάγκη zurückgeführt, da ja alles »aus einem Grund und aufgrund eines Zwanges« geschieht (DK67 B2).57 Die ἀνάγκη scheint daher eng mit der Vorstellung von κίνησις verbunden zu sein: Der Zwang ist eine Komponente, die der κίνησις übergeordnet ist und sie kontrolliert bzw. Grund ihres Auftretens sein kann. Aus dieser Beobachtung ergibt sich die Frage, ob diese Beziehung auch bei Thukydides zu beobachten ist und, wenn ja, wie sie von ihm dargestellt wird. Schon die Korinther weisen in ihrer Rede auf der Tagsatzung in Sparta auf die »Notwendigkeit« hin, mit der die Neuerungen sich gegen das Alte durchsetzen 53 54 55 56 57

Vgl. oben Kap. 4.1. Hunter, Thucydides, S. 181. Vgl. oben Kap. 3.1.2. Vgl. oben Kap. 3.2.4. Vgl. die Diskussion oben S. 153–156.

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würden, und spielen damit auf die Unterlegenheit der spartanischen Art gegenüber der athenischen »Unruhe« an (I, 71, 3);58 auch der Wiederaufbau der Stadtmauer zeigt Züge eines Zwanges für die Athener, die keine andere Wahl haben, als »alles ohne Unterschied« zum Bau zu verwenden, um die notwendige Höhe rechtzeitig zu erreichen.59 Der Aspekt der Notwendigkeit hat sich immer wieder an einzelnen Stellen, an denen der Kinesis-Begriff verwendet wurde, gezeigt – so ist festgestellt worden, dass die freie Entscheidung der Athener gegen die κίνησις des Heeres bzw. der Flotte vor Aigina und Lesbos nur als eine Entscheidung der Stadt zwischen zwei verschiedenen κινήσεις, nicht als eine zwischen Ruhe und Bewegung dargestellt wird.60 Die ἀνάγκη scheint sich daher bei Thukydides als Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit κίνησις wiederzufinden und bezieht sich ebenso auf den menschlichen Bereich wie die Darstellung der κίνησις selbst. Sie ist kein der κίνησις übergeordnetes Prinzip, welches ihr Grenzen setzt oder für ihre Entstehung garantiert, sondern sie ist Ausdruck der Beziehung der Menschen zur κίνησις: Sie drückt das Machtgefälle zwischen beiden aus, da der Mensch der ἀνάγκη der κίνησις nicht entgehen kann. Somit entspricht dieser Unterschied der bereits bei Thukydides analysierten Verschiebung des Darstellungsfokus auf den Menschen innerhalb der κίνησις, sodass die ἀνάγκη der κίνησις auf den Menschen wirkt, da der Mensch der κίνησις unterworfen ist. Während die Vorsokratiker die Beziehung zweier kosmischer Prinzipien betrachten, scheint Thukydides die Beziehung eines kosmischen Prinzips zum Menschen darzustellen, wodurch seine Konzeption der ἀνάγκη ihre spezifische Charakteristik erhält. Die Annahmen Strauss’ und Orwins, dass die »Notwendigkeit« vor dem Hintergrund der »Bewegung« zu lesen sei,61 kann dadurch gestärkt werden. M.  Ostwald hat 1988 in seiner Monographie »ΑΝΑΓΚΗ in Thucydides«62 plausibel machen können, dass Thukydides als ἀληθεστάτη πρόφασις des Krieges die ἀνάγκη identifiziere, die sowohl Sparta, als auch Athen zum Krieg getrieben hätte.63 Seine Untersuchung der begrifflichen Verwendung von ἀνάγκη und verwandten Begriffen zeigt Parallelen mit dem Kinesis-Begriff: So sind Zwänge bei Thukydides in der Mehrzahl auf äußere Umstände zurückzuführen, die keiner menschlichen Kontrolle unterlägen, bzw. nicht auf Menschen zurückgeführt werden könnten.64 Des Weiteren beziehe sich der Begriff nicht allein auf ein bestimmtes Vorkommnis, sondern meist auf einen Nexus aus Handlungen, 58 Vgl. die Diskussion oben S. 195–198. 59 Vgl. oben S. 217–220. 60 Vgl. oben S. 220–227. 61 Vgl. Strauss, City, S. 174–192; Orwin, Humanity, S. 44 62 Ostwald, ΑΝΑΓΚΗ. 63 Vgl. ebd. S. 4. 64 Vgl. ebd. S. 15.

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Prozessen, usw.65 Die Parallelen zur Charakteristik der κίνησις sind gut erkennbar: Wenn König Archidamos in Buch I, 84, 4 davon spricht, dass derjenige überlegen sei, der Einsicht besitze in die Notwendigkeiten, die alle Menschen ohne Ausnahme beträfen, so stimmt dies mit Ostwalds Beobachtungen zur ἀνάνγκη überein: »human condition as such is subject to ἀνάνγκη.«66 Außerdem, so Ostwald, sei die Notwendigkeit aber auch eine Frage der Perspektive: Zwang bedeute nicht für alle am Krieg Beteiligten das Gleiche.67 Seine Zusammenfassung der Konnotation von ἀνάνγκη bei Thukydides erinnert schließlich an die hier erarbeitete Konnotation der κίνησις – die Betrachtung der ἀνάγκη im Werk geschehe ausschließlich im menschlichen Bereich, weshalb alle »Zwänge« auch aus dieser menschlichen Perspektive betrachtet werden könnten, und sie zeichne sich dadurch aus, dass sie eine Situation schaffe, in der eine Alternative für die betroffenen Personen nicht im Bereich des Möglichen liege.68 Darüber hinaus stellt er in Bezug auf die konsequent aufgeworfene Frage, ob das Wirken eines solchen Prinzips Thukydides zum »Deterministen« mache, fest, dass die Verarbeitung von ἀνάνγκη im Werk sich durch ein Wechselverhältnis zwischen freier menschlicher Entscheidung und daraus folgenden Zwängen und Notwendigkeiten auszeichne, die dieser Entscheidung folgten.69 All diese Beobachtungen stehen im Einklang mit der hier vorgenommenen Untersuchung des KinesisBegriffs und machen eine enge Verbindung beider Prinzipien plausibel. Wie aber auch bei der τύχη zeigt sich in der ἀνάγκη nur ein Aspekt der κίνησις, wenn auch ein zentraler: die Notwendigkeit ihres Auftretens, von der der Mensch betroffen ist und die daher eine Auseinandersetzung unvermeidlich macht. Ostwald selbst weist daraufhin, dass ἀνάνγκη neben »chance, intelligence, reason and passion«70 nur einen Faktor menschlichen Handelns im Werk ausmache. Somit kann auch die ἀνάγκη, neben der τύχη und der μεταβολή, als ein den gesamten Prozess der κίνησις prägender Aspekt interpretiert werden. Alle Aspekte wiederum sind in der Gesamtheit der κίνησις zusammengefasst. Die auffällige Übereinstimmung der Darstellungsweise der ἀνάγκη mit der der κίνησις im Werk sowie ihre enge Verbindung zum Konzept der τύχη stärken die Plausibilität dieser These. In der Darstellung dieser Konzepte könnten sich in der jeweiligen Situation besonders prägnante Aspekte der κίνησις zeigen, die an sich bereits mit der ἀνάγκη und der τύχη assoziiert zu sein scheint. Die Kohärenz der Verarbeitung dieser Motive im Werk kann die Interpretation der Darstellung von κίνησις als einen übergeordneten historischen Faktor 65 66 67 68 69 70

Vgl. Ostwald, ΑΝΑΓΚΗ, S. 15. Ebd. S. 17. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 19. Vgl. ebd. S. 52. Ebd. S. 63.

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stärken: Der Begriff beschreibt einen Prozess, der in seiner Gesamtheit verschiedene Aspekte des historischen Geschehens, vor allem der ἀνάγκη und der τύχη, aufnimmt und gleichzeitig das menschliche Verhalten ihnen gegenüber zeigt. Der Mensch ist bei Thukydides mit den ihn übersteigenden Entwicklungen des historischen Prozesses konfrontiert und muss sich mit ihnen auseinandersetzen; sein Schicksal jedoch ist dadurch nicht zwingend determiniert und seine Fähigkeiten im Umgang mit der κίνησις beeinflussen die Wahrscheinlichkeit für Erfolg oder Misserfolg in diesem historischen Geschehen. Eine vollständige Kontrolle darüber ist ihm jedoch entzogen, während die Auseinandersetzung damit alternativlos zu sein scheint. Der Einfluss des Menschen auf den historischen Prozess und dessen Rückwirkung wiederum auf den Menschen könnte damit aus der Sicht des Thukydides zentral vom menschlichen Umgang mit dem Faktor κίνησις abhängen. Die Notwendigkeit dieses Umgangs ist dabei, so hat die Untersuchung mehrmals plausibel gemacht, für den Menschen immer gegeben. Diese Notwendigkeit der Auseinandersetzung lässt sich auch für die Perser in Buch VIII identifizieren, was als Grundlage für den Bezug der μεγίστη κίνησις auf »einen Teil der Barbaren« interpretiert werden kann; eine umfassende Betrachtung der Darstellung der persischen Intervention in den Peloponnesischen Krieg scheitert am Textabbruch noch in einer Frühphase dieser Intervention. Thukydides jedoch zeigt dem Leser über den Ratschlag des Alkibiades in VIII, 45–46, wie wichtig für Tissaphernes ein geschicktes Eingreifen in den Krieg sein könnte, und auch Tissaphernes’ Bemühen um einen Vertrag mit Sparta nach dem Scheitern der Verhandlungen mit den Athenern in VIII, 57 bestätigt ein solches Interesse am Eingreifen in den Krieg, um einen eigenen Vorteil aus der Situation zu gewinnen.71 Schon die Einführung des Tissaphernes in VIII, 5, 4 deutet darauf hin, dass dieser in gewisser Weise durch die Aktionen Athens im Rahmen des Krieges zur Reaktion »gezwungen« ist: die Eintreibung von Abgaben, die von ihm verlangt werden, wird hier als grundlegendes Motiv seiner Intervention, neben der Ergreifung des Amorges in Karien, vorgestellt.72 Thukydides formuliert dies mit δι’ Ἀθηναίους: Die »kinetischen« Athener sind im Endeffekt der Grund für seine Entscheidung, die Lakedaimonier zu unterstützen. Damit ist auch Tissaphernes mit der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dieser κίνησις, in deren Rahmen Athen und Sparta agieren, konfrontiert, sodass sich die Auswirkungen der κίνησις in vergleichbarer Form auch μέρει τινὶ τῶν βαρβάρων nachweisen lassen. Es kann daher als plausibel angenommen werden, dass für ein Publikum, dem die κίνησις in vorsokratischen Texten als ein 71 Die Forschung sieht ein genuines Interesse des Großkönigs am Ausgang des Konflikts, vgl. J. O. Hyland, Tissaphernes and the Achaemenid Empire in Thucydides and Xenophon (Diss. Chicago 2005), S. 18. 72 Vgl. dazu Kallet, Money, S. 242, Anm. 51.

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kosmischer, übermächtiger Prozess präsentiert wird, die Formulierung ὡς δὲ εἰπεῖν καὶ ἐπὶ πλεῖστον ἀνθρώπων nicht nur ein rhetorisches Mittel und eine »exaggération évidente«73 darstellt, sondern tatsächlich mit dem Kinesis-Begriff assoziiert werden kann. Die vorsokratische Vorstellung von κίνησις, die alles erfassen und beeinflussen kann, findet hier ihren Niederschlag und wird im Werk gleichfalls verarbeitet, wie die Konzeption der Einführung des Tissaphernes und seines Verhaltens in diesem Konflikt exemplarisch trotz des Textabbruchs zeigen können. Die κίνησις und der Anspruch eines »Besitzes für immer« Thukydides könnte, so hat die Untersuchung angedeutet, den Menschen in seiner Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden historischen Umwelt zeigen, die er als κίνησις aufgrund ihrer Charakteristik identifiziert, die sich aus den Aspekten fehlender Planbarkeit und Voraussicht, fehlender Kontrolle, beschränkter Einflussmöglichkeit und schließlich vor allem aus dem Umstand der Alternativlosigkeit ergeben hat, die dem Menschen eine Entscheidung zwischen Ruhe und Bewegung nicht erlaubt. Die historische Situation hat damit auch immer etwas für den Menschen Zwangsläufiges und Notwendiges. In diesem Sinne ließe sich beispielsweise die Interpretation Heideggers bezüglich der κίνησις bei Aristoteles als eine Beschreibung des Wie des Seins74 auch auf Thukydides übertragen – die κίνησις ist hier die Charakterisierung des Daseins, sodass das Werk teilweise als Illustration des Umgangs des Menschen mit dem historischen Faktor κίνησις gelesen werden kann, wie die Betrachtung der Begriffsverwendung ergeben hat. Diese Darstellungstendenz kann schließlich die κίνησις mit der menschlichen Natur, dem ἀνθρώπινον, durch die Fokussierung auf die Beziehung von Mensch und κίνησις als seiner historischen Situation verbinden. So lässt sich auch die zentrale Intention des Werkes, ein »Besitz für immer« zu sein, mit der Identi­ fizierung des historischen Geschehens als μεγίστη κίνησις zusammenzubringen. So schreibt Thukydides in Buch I, 22, 4: »Und weniger wird vielleicht zum Anhören meine Darstellung durch das Fehlen dichterischer Elemente erfreulich erscheinen: wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen anstrebt und damit auch der Zukunft, die wieder einmal so oder so ähnlich gemäß der menschlichen Natur eintreten wird, wird mein Werk für nützlich erachten, und das soll mir genügen. Als ein Besitz für immer, nicht als Schmuckstück für einmaliges Hören ist es geschrieben.«

73 Reinach, Thucydide, S. 457; vgl. Latacz, Bewegung, S. 78. 74 Vgl. GA 18, S. 372–373.

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Die Stelle postuliert ein wahrhaftiges Erkennen (σαφὲς σκοπεῖν) des Vergangenen und des Künftigen durch das Gleichbleiben der menschlichen Natur. Die Möglichkeit des Lernens aus der Geschichte basiert auf der Annahme von Mustern und Strukturen, die die historischen Phänomene zusammenfassen, und von Elementen, die sich nicht verändern und das Wiederauftreten der Muster garantieren.75 Die historischen Phänomene können auf Grundlage gemeinsamer Aspekte mit dem Kinesis-Begriff beschrieben werden und ihre Verknüpfung zum menschlichen Bereich, wie sie bei Thukydides vorgenommen wird, garantiert ihr ewiges Auftreten, solange es Menschen gibt. Durch diese Ewigkeit wird die Notwendigkeit des menschlichen Verhaltens in ihr ebenfalls zeitlos;76 die Darstellung der unterschiedlichen Formen dieses Verhaltens, bei Thukydides bis zur eigentlichen Begriffsverwendung nachvollziehbar, ermöglicht dem Leser das Erkennen dieser zusammenfassenden Struktur der historischen Phänomene in Verbindung mit dem gleichbleibenden Element des Menschlichen, wodurch wiederum das Künftige erkennbar wird. Durch die Darstellung dieser verschiedenen Verhaltensweisen, ihrer Voraussetzungen und der möglichen Folgen, die der Leser analysieren und auf jeweilige Schwächen untersuchen kann, wird das Werk zu einem Besitz für immer, indem der Leser für seine Zeit daraus lernt. Durch die Verbindung menschliche Natur  – κίνησις könnte die κτῆμά  ἐς αἰεί – Konzeption über die wechselseitige Abhängigkeit des Menschen und der κίνησις, die Thukydides in seinem Werk suggeriert, erklärt werden. Folgerichtig findet dann nicht nur der Nachweis der außergewöhnlichen Größe in I, 1, 3–23, 3 ausschließlich über die Betrachtung der Menschen in der Vergangenheit statt, sondern auch die mögliche Existenz von κίνησις muss solange angenommen werden, wie es Menschen gibt, wenn das ἀνθρώπινον immer gleich bleibt:77 Thukydides greift auf diese These in der sog. »Pathologie des Krieges« in III, 82, 2 zurück und verbindet dort erneut den Kinesis-Begriff mit der menschlichen Natur. Aufgrund dessen wird auch die Notwendigkeit menschlicher Auseinandersetzung mit ihr immer vorhanden sein, sodass ein zukünftiger Leser aus der Darstellung auch für seine Zeit lernen kann. Thukydides könnte uns daher zweierlei zeigen. Zum einen, dass diese Auseinandersetzung alternativlos ist, sodass der Gedanke der Möglichkeit von langfristig aufrechtzuhaltender vollständiger Ruhe sich als Illusion darstellt; zum anderen aber, dass innerhalb der κίνησις durch angemessenes Verhalten trotz 75 Vgl. Raaflaub, Thucydides’ Concept, S. 5–6. 76 Vgl. dazu übereinstimmend Ostwald, ΑΝΑΓΚΗ, S. 66. 77 Es ist angesichts dieser Verbindung und den hier entwickelten Beobachtungen zu I, 1, 2 generell fraglich, ob Thukydides das Erkennen einer κίνησις noch vor ihrer Entstehung überhaupt für möglich gehalten hätte, wie Hrezo, Thucydides, S. 43, annimmt, oder ob er nicht vielmehr von einer ständigen κίνησις ausgegangen ist, die einmal mehr, einmal weniger das menschliche Leben generell bestimmt hat.

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fehlender Kontrolle Erfolg möglich sein könnte. Die beiden Extreme von Intensivierung und Vermeidung oder Verzögerung sind, so wird im Laufe der Darstellung deutlich, keine geeigneten Arten des Verhaltens in der κίνησις, um die eigenen Ziele zu erreichen. Das Wie des Seins, welches Thukydides präsentiert und welches er mit dem Begriff κίνησις beschreibt und dabei gleichzeitig charakterisiert, erfordert eine bestimmte Art der menschlichen Auseinandersetzung mit diesem Sein: Mit den Erfordernissen des Kriegs, den Mitmenschen, der eigenen und fremden Poleis. Die Grundvoraussetzung dafür ist aber die grundlegende Erkenntnis der Existenz dieser κίνησις – und ihrer Fähigkeit, alles Menschliche zu erfassen. Damit wird schließlich auf Grundlage der Untersuchungsergebnisse deutlich, dass die bisher gängigen Übersetzungen der Formulierung »μεγίστη κίνησις« als »größte Erschütterung« oder »biggest upheaval« zwar einen Verlust von Ordnung bereits implizieren, das volle Ausmaß der Vorstellung von κίνησις, wie sie in der vorliegenden Untersuchung zu erkennen ist, jedoch nicht erfassen können. Die κίνησις ist nicht nur eine »Erschütterung« der Ordnung, ein kurzfristiger Ausfall ordnender Strukturen, der die Möglichkeit menschlicher Kontrolle einschränkt: Sie ist die Unordnung und die Unkontrollierbarkeit schlechthin, sodass das menschliche Agieren sich letztendlich vor allem als ein Re-Agieren auf die κίνησις darstellt. Thukydides könnte so über die Darstellung des Wirkens der κίνησις und dieses Re-Agierens der historischen Akteure in ihrem Kontext auch die Niederlage Athens als ein Ergebnis des Wechselverhältnisses von Mensch und historischem Prozess darstellen. Das menschliche Verhalten konnte in der vorliegenden Untersuchung plausibel als Verhalten in der κίνησις interpretiert werden und somit hat dieses Verhalten einen entscheidenden Anteil am Fall der Stadt, die trotz ihrer erstaunlichen Ressourcen schließlich, nach Thukydides’ Urteil, am Verhalten ihrer Bürger scheiterte.78 Scheint die κίνησις nach Thukydides’ Darstellung in diesem Moment alternativlos zu sein, so ist sie selbst, obwohl mit dem Menschen verbunden, als historischer Prozess »übermenschlich« – die Notwendigkeit der Auseinandersetzung kann nicht von den Individuen beeinflusst werden. Das menschliche Verhalten muss daher eine adäquate Reaktion auf die Anforderungen der κίνησις sein, einschließlich einer angemessenen Vermeidung ihrer Potenzierung, um die Chance auf Erfolg zu erhöhen. Betrachtet man die zentralen Aspekte der κίνησις, die die hiesige Begriffs­ analyse plausibel gemacht hat, das Fehlen von Ordnung und Kontrolle, sowie die Unmöglichkeit, sich ihrer Wirkung zu entziehen, so wird ahnbar, inwiefern sie 78 Thuk. II, 65, 12: »[…] und sie ergaben sich nicht eher, als bis sie durch ihre persönlichen Fehden miteinander in Konflikt geraten und zugrunde gegangen waren.«

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in der vorsokratischen Philosophie und bei Thukydides auch als »übermenschlich« wahrgenommen worden sein könnte. Hat man jedoch bisher zuweilen »motion and rest« als neue göttliche Prinzipien bei Thukydides interpretiert,79 so deutet die vorgelegte Analyse der Darstellungstendenz darauf hin, dass die κίνησις allein für Thukydides die Funktion der herkömmlichen Götter übernommen haben könnte.80

79 Vgl. Strauss, City, S. 161; Orwin, Thucydides, S. 370. 80 Vgl. Schmid, Kinesis, S. 58; Meier, Erschütterung, S. 342–343.

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8. Index locorum

Fragmente der Vorsokratiker (nach Diels-Kranz) Anaximander DK12 A9 128–134 DK12 A11 128–135 DK12 A12 133, 130 Anm. 262 DK12 A17 131 DK12 A24 134 DK12 A26 134 DK12 B2 127 DK12 B3 127 und Anm. 247 Anaximenes DK13 A1 DK13 A5 DK13 A6 DK13 A7 DK13 A10 DK13 A18 DK13 A23 D13 B2 DK13 B3

135, 137 136 und Anm. 275 135, 137 135, 137 136 137 136 136 136

Xenophanes DK21 B11 DK21 B12 DK21 B13 DK21 B14 DK21 B15 DK21 B16 DK21 B23 DK21 B24 DK21 B25 DK21 B26 DK21 B34

138, 144 138, 144 138, 144 138, 144 138, 144 138, 144 138–147 138–147 138–147 138–147 138, 145

Heraklit DK22 B1 DK22 B12 DK22 B30

148, 151 148 151

DK22 B49a DK22 B53 DK22 B80 DK22 B91 DK22 B125

148 150 150 148 148, 149–151

Leukipp DK67 A1 DK67 A6 DK67 A7 DK67 A10 DK67 A16 DK67 A18 DK67 A28 DK67 A37 DK67 A40 DK67 A49 DK67 A56 DK67 A57 DK67 A69 DK67 A71 DK67 B2

155 Anm. 376 155 154–155 155 Anm. 376 155 155 Anm. 376 165–166 155 155 155 155 155 155 Anm. 376 155 156, 159–160

Demokrit DK68 B159 DK68 B164 DK68 B191 DK68 B297

165 153, 162–168 162, 164–168 165

Parmenides DK28 A1 DK28 B1 DK28 B2 DK28 B6 DK28 B8 DK28 B12 DK28 B13

55 Anm. 1 56, 58 56, 79 79 56–83 80 78

408

Index locorum

Zenon DK29 A5 DK29 A27 DK29 B1 DK29 B2 DK29 B3 DK29 B4

173 173 172 Anm. 461 172 Anm. 461 172 Anm. 461 172–173

Melissos DK30 B7 DK30 B10

60–65,154, 168–172 170–172

Empedokles DK31 B3 DK31 B7 DK31 B17 DK31 B21 DK31 B26

97 89 85–91 91, 100–105 91

DK31 B27 DK31 B30 DK31 B35 DK31 B115

95 101 89 101

Anaxagoras DK59 A15 DK59 B1 DK59 B3 DK59 B4 DK59 B6 DK59 B8 DK59 B9 DK59 B11 DK59 B12 DK59 B13 DK59 B17

105 106 106 106 106 120 112–114 117 106, 108–123 106–123 106

Thukydides Buch I 1 18, 26–46, 179–192, 357–364 2–21 184–186 22 23 Anm. 52, 119, 179, 193, 199, 248, 283, 389 23 36 Anm. 91, 186 Anm. 23, 188, 195, 245–248, 254, 326, 345, 351, 375 64–71 193–200 80–85 193–200 89–118 192 93 217–220 105 220–227 106 221–222 140–144 274–282

Buch IV 55 209–214 56 366 76–89 146, 228–232 98 353

Buch II 8 345–352 24 44, 103 Anm. 184, 353 65 225, 268, 275–283 81 206–209 82 297

Buch VII 4 284–293 50 293–301 67 301–307

Buch III 16 224–227 26–29 227 37–40 321–328 75 242–248, 365 82 248–254, 311, 365, 371, 390

Buch V 7–11 328–342 16 299 Anm. 292, 331 84 362 Buch VI 15 308 32–40 254–271, 367 70 44, 353

Buch VIII 5 269 Anm. 213, 388 15 354 48 43, 309–319, 365 57 388 71 232–235 100 235–238

9. Register

Moderne Autorinnen und Autoren sind nur aufgenommen, sofern sie im Fließtext genannt werden. Griechische Wörter werden in deutscher Transliteration und entsprechender alphabetischer Sortierung aufgeführt; die angegebenen Seiten beziehen sich auf Passagen, in denen explizit der griechische Terminus genannt und nicht allein der entsprechende Begriff behandelt wird. Bei Begriffen, die sehr häufig vorkommen, sind die Angaben auf die zentralen Stellen beschränkt. Reine Literaturangaben und Aufzählungen sind nicht berücksichtigt. Aer 135–138 Agis  217, 232–235, 317, 366 Alkibiades  20, 179, 268, 309–321 – als »Antreiber«  291, 300, 373, 381 – Kontrast zu Nikias  320 – Urteil über  179 Ananke  48, 68–73, 84, 102–104, 151–156, 159–160, 198 – im Cornford-Fragment  82 – in Bezug zum Kinesis-Begriff 218, 386–388 Anaxagoras  90, 105–126, 132, 146, 153 – und Thukydides  105 Anm. 187 Anaximander 127–135 Anaximenes 135–138 Apeiron  127–133 Archidamos  200–206, 215–216, 275, 324 – als »Warner«  209, 211, 326 Aristoteles  16, 69, 80, 86–87, 92, 126 Anm., 129, 142, 158, 381 – unbewegter Beweger  128, 146–148, 181, 240, 313 Anm. 320, 380 Athen, Athener  38, 43, 105, 146, 194–241, 274–343, 354–355 – als Seemacht  201, 212, 279 Anm. 241 – assoziiert mit Bewegung  38, 51, 194, 203, 376 – Imperialismus 38 – Kontrast zu Sparta  48–49, 193–197, 377 – Niederlage  38, 222 Anm. 107, 226, 240, 268 Anm. 212, 279, 291, 302, 391 – Rückzug von Syrakus  293–301

Athenagoras  44, 255, 257–259, 261–273, 281, 307 Atome, Atomismus  153–168 – Einfluss auf Thukydides  342, 363 Bewegung  14, 19 – als Erdbeben  345–352 – als philosophisches Problem  126–179 – als Sakrileg  353–356 – Bedeutung für Thukydides  13–24 – Begriffsklärung  14, 25–55, 371 – der Flotte  225–227, 229–232, 236, 266 – der Gesetze  194–200, 323–328 – des Heeres  223, 226, 295, 297, 331, 341 – der Waffen  200–206 – Kreisbewegung 106–114 – als Metapher für Aggression  242–248 – physikalische  15, 31, 36 Anm. 52, 37, 42, 62–69, 76, 87, 104, 220, 229, 236, 243, 272, 297, 303, 327, 334, 354, 371 – Vorstellung von  18, 22–23, 69, 161, 180–202, 234, 283, 378–391 – und Ruhe  46–54, 86, 93, 193–200, 273, 278, 339, 377, 386, 389 – Zentralität der  13–15, 153, 172, 365– 371, 375 Blockbildung  33–34, 185–191, 362–364 Brasidas  212–213, 266, 373 – assoziiert mit Schnelligkeit  46,  213 Anm. 93, 246 Anm. 157, 268, 291 – im Gegensatz zu Kleon  269, 321–343, 365, 383

410 Chaos  124, 152, 222–229, 244–245, 334, 356 Chios  235–238, 276, 354 Cornford, F. M.  60, 182 Anm. 11, 382–383 – Fragment 82–84 Curd, P.  72, 77, 108, 115 Demokrit  153–168, 251, 262, 374 Demosthenes  212, 292 Anm. 277, 293–302 Dichotomie  167, 234 – Bewegung und Ruhe  167, 193–200, 239 – Sparta und Athen  214, 272 Doxographie  126 Anm. 243 – zu Anaximander  128, 135 – zu den Atomisten  153, 155, 162 Eleaten  126, 161, 168–177 Empedokles  82, 85–105, 160, 313, 368, 375, 385 – Elemente des  85–93 Erdbeben  31 Anm. 36, 42, 126 Anm. 243, 345–353 Erschütterung  19, 22 Anm. 33, 28–36, 47, 140, 143, 348–353, 371, 391 Flotte  220–229, 235–239, 254–259, 285– 290, 294, 346, 386 Gomme, A. W.  285, 347 Göttlichkeit  100–102, 116, 127, 137 Anm. 283, 138, 144–147 Gylippos  270, 284–309 Hellespont 236–238 Heraklit  147–153, 156, 160–161, 252, 367, 375 Hermokrates  255–273, 290, 307–309, 337 Anm. 381, 367, 377 Herodot  42–43, 221, 345–352 Hoffnung  51, 188–190, 194, 232, 264–265, 294–298, 326 – fehlende  292, 301 Ionier  126–138, 253, 367 Jaffe, S.  51, 377–378 Kerkyra  31, 242–254, 262, 271, 309–310, 325, 335 Kleon  269, 321–344, 365–366, 383 Knemos  206–209, 297, 335

Register Kontrolle  50, 113, 121, 207, 210, 222, 225, 325–328, 356, 374 – als Illusion  212, 230, 240, 280–283, 324, 352 – fehlende  96, 102, 143, 146, 202, 203, 213, 223, 226, 231, 233, 244–246, 259–269, 287–309, 317–318, 363–371, 383, 389, 391 – über Bewegung  95, 109, 121 Korinth, Korinther  201, 205, 208, 219, 221–226, 260–266, 276, 315, 321–328 – Rede der  47–53, 193–200, 203, 211, 214–218, 239, 292, 385 Kosmos  38, 53, 72, 84, 91–136, 151–177, 179, 199, 342, 358, 361–370, 374 Kosmologie  15, 85, 95, 100, 104–105, 182, 313, 360 Latacz, J.  27, 32–46, 185, 189, 190 Anm. 30, 358 Logos  78, 148–152, 364 megiste kinesis  13–24, 39, 43, 100, 119, 143, 179, 200, 214, 226, 267, 299, 342, 351, 357–364 – als Erklärungsprinzip  124, 352, 391 – Anforderungen der  145, 204, 208–209, 277 – Ausdruck der  182, 245, 252, 254, 276, 299, 369 – Darstellung der Zeit als  191, 193, 199, 205, 212, 232, 239, 283, 389 – Forschung zu  25–54 – Konzept der  151–152,  184–190, 352, 373 – Übersetzung  182–183, 233, 265, 288, 385 Meier, M.  40–48, 73, 192, 360 Melissos  60–62, 65, 84, 154, 168–177 metabole  19, 35, 382–387 Metaphysik (Werk des Aristoteles)  80, 92, 158, 380 Mobilisierung/ mobilization  42–45, 327, 335, 360 Anm. 441 Moira  64,  68–76, 80, 83–84, 102 Mourelatos, A.  67–70, 72, 76–79, 82–83, 93, 354, 371 Mythos  22 Anm. 34, 126 Anm. 243, 348–349 Mytilene  224, 226–227, 366 – Debatte  269, 321–328, 335, 337 Anm. 382

411

Register Naturkatastrophe(n)  40, 188, 192, 347, 351, 358 Nikias  46, 257, 260–261, 268, 270, 283–307, 315, 336–337, 366 – Frieden des  299, 316, 331 – im Gegensatz zu Alkibiades  298, 308, 314, 317 Anm. 330, 320 – Urteil über  307–308 Nous  105–126, 132, 153, 177, 349 Oligarchie/Oligarchen  146, 233, 242–249, 258, 310–312, 365–366 Omnipräsenz  104, 123–124, 134–138, 147, 151–153, 166–177, 179, 364, Ordnung  131, 153, 206, 297, 354 – fehlende  47, 109, 207, 262–263, 302–303, 314, 330, 333 Anm. 372, 343, 356, 365–371 – politische  261–264, 384 – Prinzipien der  163–164 – Verlust von  233, 237, 287–288, 311–313, 331–334, 391 Orwin, C.  49–53, 316 Anm. 326, 386

– als Illusion  167, 283, 307, 339, 365 Anm. 1, 366, 376, 390 – als Prinzip  48, 51–54 – assoziiert mit Frieden  263 Anm. 198, 299, 336 – Bewegung und s. Lemma »Bewegung und Ruhe« – des Ortes  140 – fehlende (=«Unruhe«)  29–45, 198, 215–216, 234, 255, 279, 304, 320, 386 Rusten, J.  41–46, 327, 334, 345–352

Parmenides  55–84, 89, 99–104, 120–121, 130 Anm. 262, 141 Anm. 305, 151–156, 169–176, 385 Parmeggiani, G.  151, 198 Pathemata-Liste  36 Anm. 52, 41–45, 192, 245, 278, 345, 351, 356, 360, 376 Perichoresis  105–125 Perikles  38–39, 226, 229, 274–283, 312 Anm. 319, 374 – Kriegsplan des  275–277 – Urteil über 179, 220 Anm. 105, 275, 278–283, 299 Anm. 290, 319 Anm. 339 und 341 Philosophie  14–22, 182 Anm. 11, 189, 313, 367, 392 Planbarkeit  313, 324–327 – fehlende  226, 237, 244, 262–263, 286– 296, 304–307, 334, 356, 366–375, 382, 389 Platon  14 Anm. 5, 16, 44, 82–83, 111 Anm. 201, 121 Anm. 233, 148, 152, 172–174, 379–380 Plemmyrion  284–293, 298–299, 316 Proömium  13–24, 26–46, 183–191, 224, 232, 248, 267, 357–364, 368–371

Schmid, A.  36–49, 73 Sicherheit  102, 278, 338, 349 – fehlende  82 Anm. 115, 98, 200–210, 253, 262–264, 275–276, 286–288, 296–299, 314, 332–334, 365, 384 Simplikios  82–84, 86–103, 128, 130 Anm. 262, 135 Sizilien  238, 254, 290, 292, 310 – Debatte  284 Anm. 255, 307 Anm. 305, 310 – Expedition  35, 48, 208, 240, 247, 255– 277, 284, 291, 309, 314–320, 355 – Misserfolg auf  293–309 Sparta, Spartaner  47, 217–220, 224, 227– 239, 241–242, 249, 263–268, 271–273, 275–276, 309, 310, 331, 366–367, 376– 378, 388 – assoziiert mit Ruhe oder Unbeweglichkeit ​48–50, 200–216, 299–300, 314, 319, 324, 327, 335, 355 – Tagsatzung in  49–52, 193–200, 325– 326, 385 Stahl, H.-P.  382–384 Stasis  41–43, 247, 271, 354 Anm. 431, 365 – auf Kerkyra  248–254 – in Athen  309–319 Stimson, D.  52, 376–378 Strauss, L.  48–52, 300, 386 Syrakus/Syrakusaner  273, 284–301, 315, 320, 353–355 – Debatte in  44, 241, 254–272, 278 – Charakter der  238, 276, 300, 308–309, 367, 377 – Seeschlacht bei  279, 301–307

Ruhe  85–93, 94 Anm. 150, 95–102, 134, 173, 194–199, 203, 211–212, 266–273, 278, 374

Teleologie  120–123 Themistokles 217–220 Thrasyllos 235–239

412 Thukydides – Darstellungskonzept  19, 119, 151, 161, 167, 183, 191–192, 344, 374 – Forschung zu  26–54, 180 – Historiographie  145, 361, 369 – intellektuelles Milieu  18, 20–21, 100, 105, 365–367 – Objektivität  379–382, 391–392 – Rationalismus des  180 Anm. 3, 181–182, 346–347 – Redensatz 185–188

Register – thukydideische Frage  16, 379 – Urteil über Personen  20, 119, 279, 343–344, 376–378 Tissaphernes  236, 310–311, 317, 388–389 Tyche  302, 332, 382–384 Veränderung  61–81, 87–104, 142, 147–152, 169–172, 196–197, 243, 349, 368, 384–386 Voegelin, E.  47–49 Zenon 172–177