Der Dialogus de oratoribus des Tacitus: (Motive und Zeit seiner Entstehung) [Reprint 2021 ed.] 9783112483008, 9783112482995

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Der Dialogus de oratoribus des Tacitus: (Motive und Zeit seiner Entstehung) [Reprint 2021 ed.]
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BERICHTE ÜBER DIE VERHANDLUNGEN DER SÄCHSISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN ZU LEIPZIG

Philologisch,-historische Klasse Band 101 . Heft 4

KARL

BARWICK

DER DIALOGUS DE ORATORIBUS DES TACITUS (Motive und Zeit seiner Entstehung)

1954

A K A D E M I E . V E R L A G • B E R L I N

Vorgetragen in der Sitzung vom 12. Oktober 1953 Manuskript eingeliefert am 12. Oktober 1953 Druckfertig erklärt am 10. März 1954

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH., Berlin W 8, Mohrenstraße 39 Veröffentlicht unter der Lizenznummer 1217 des Amtes f ü r Literatur und Verlagswesen der Deutschen Demokratischen Republik Satz und Druck: VEB Werkdruck Gräfenhainichen-302 Bestell- und Verlagsnummer 2026/101/4 Preis: DM 3,— Printed in Germany

Der Rednerdialog des Tacitus behandelt eine im 1. Jahrhundert der Kaiserzeit viel diskutierte Frage: Wie erklärt sich der gegenwärtige Niedergang auf allen Gebieten des geistigen Lebens, insbesondere aber auf dem der Beredsamkeit ? Schon unter Tiberius erörtert Vellerns Paterculus in seinem Abriß der römischen Geschichte (1,16ff.) kurz die Gründe dieser Erscheinung. Dann widmet ihr seine Aufmerksamkeit Seneca der Vater (Contr. 1 praef. 6 ff.) und sein Sohn, der Philosoph Seneca (Epist. mor. 114), Petron in seinem Sittenroman (c. l f . c. 88; vgl. auch c. 83, 9—84, 3) und der ältere Plinius (Nat. hist. 14 praef. 3 ff.). Quintilian schrieb eine leider verlorene Monographie mit dem Titel De causis corruptae eloquentiae. Auf griechischem Gebiet ist der anonyme Verfasser einer geistvollen Schrift Über das Erhabene, IJegi vy>ov£, zu nennen, der in einem ausführlichen Exkurs (c. 44) sich mit dem Problem auseinandersetzt. Und wir dürfen mit Gewißheit annehmen, daß es noch häufiger diskutiert wurde, als wir heute zufällig nachweisen können. Tacitus ist, wie es scheint, der letzte, der sich zu der Frage geäußert hat; und da seine Vorgänger sie nach den verschiedensten Richtungen hin und, wie man meinen sollte, erschöpfend erörtert hatten, müssen es besondere Gründe gewesen sein, die den großen Historiker veranlaßt haben, in einer besonderen Schrift das viel erörterte Problem erneut zur Diskussion zu stellen. Bevor wir auf diese Gründe eingehen, zunächst einige Bemerkungen über den Aufbau des Dialogs. Er ist von der Art der meisten ciceronischen Dialogfe. An der Spitze steht ein Vorwort (c. 1) mit der Widmung des Werkes, der Angabe seines Themas und dem Hinweis, daß der Verfasser, Tacitus, das Gespräch, das er im folgenden mitteilen will, als ganz junger Mann

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mit angehört habe. Es folgen (c. 2) einige Angaben über die Szenerie des Dialogs, seine Veranlassung und eine Charakteristik der Gesprächsteilnehmer: Es sind lauter Personen, die als Redner sich bereits einen Namen gemacht hatten: Curiatius Maternus, zugleich auch ein namhafter Tragödiendichter, M. Aper und Julius Secundus; später kommt noch Vipstanus Messala hinzu, c. 3 beginnt der eigentliche Dialog, der durch ein kurzes Nachwort (c. 42) beschlossen wird. Sein Kernstück bilden 3mal 2 Reden des Aper-Maternus, des Aper-Messala und Messala-Maternus1. Sie werden durch Zwischenbemerkungen unterbrochen und so voneinander geschieden. Je zwei Reden gehören, als Rede und Gegenrede, enger zusammen, so daß sich drei gegensätzliche Redepaare ergeben. Nur die beiden letzten behandeln das eigentliche Thema, die Frage nach den Gründen des Verfalls der modernen Beredsamkeit. Das wird auch äußerlich dadurch unterstrichen, daß nach dem ersten Redepaar eine neue Person auftritt, Vipstanus Messala. Das erste der beiden letzten Redepaare erörtert eine Vorfrage des Hauptthemas: Bedeutet die moderne Beredsamkeit tatsächlich einen Rückschritt gegenüber der alten, d.h. der Beredsamkeit der ausgehenden Republik eines Cicero und seiner Zeitgenossen 1 Aper verneint die Frage; sie wird von Messala in seiner Gegenrede entschieden bejaht, und Tacitus läßt keinen Zweifel darüber, daß Messala im Recht und daß die von Aper vertretene These auch von ihm 1 Daß Secundus keine Rede gehalten hat, habe ich in der Pestschrift für Walther Judeich 1929, S. 90 ff. bewiesen. Meine Ausführungen wurden später ergänzt und bekräftigt von K. Keyßner, Würzb. Stud. z. Altertumsw. 9, 1936, 94fi. Zu dem gleichen Ergebnis gelangte auch, von einer anderen Seite herkommend, R. Waltz in einem feinsinnigen Aufsatz, Revue de philol. 61, 1935, 29611. Dagegen sprechen sich K. von Fritz (Rhein. Mus. 81, 1932, 275ff.) und neuerdings auch E. Koestermann (Burs. Jahresber. 282, 1943, 87. 91) wieder für eine Rede des Secundus aus. Sie erkennen, und mit Recht, nach c. 41, 1 eine Lücke nicht an und glauben daher, die Rede des Secundus sei vollständig durch die Lücke nach c. 35 verschlungen worden. Das ist aber aus räumlichen Gründen nicht möglich. Denn der Umfang dieser Lücke beträgt nicht, wie von Fritz und Koestermann irrtümlich annehmen (meinen Aufsatz in der Festschrift für Judeich scheinen sie nicht zu kennen), 6, sondern nur l x /a folia; vgl., am Schluß dieser Ausführungen, Anhang I.

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selbst nicht ernst gemeint ist 1 . Und nun erst, im letzten Redepaar, erfolgt durch Messala und Maternus die Beantwortung des zur Diskussion stehenden Problems. Messala sieht die Schuld an dem Verfall der modernen Beredsamkeit in den Menschen und ihrer Abkehr von der guten alten Sitte: in der Trägheit der Jugend, in der Nachlässigkeit der Eltern und in der Unwissenheit der Lehrer; m. a. W., in den Mängeln der Kindererziehung, des Jugendunterrichtes und der rednerischen Ausbildung, die früher viel besser gewesen seien als jetzt. Daher stellt Messala in seinen Ausführungen überall das Einst dem Heute gegenüber. In der alten Zeit, so beginnt er, standen die Kinder unter der Obhut ihrer Mutter, die unterstützt wurde durch eine alte Verwandte von erprobtem Charakter2. Damals vermied man es sorgfältig, in Gegenwart der Kinder etwas Anstößiges zu sagen oder zu tun. Die Mutter überwachte mit einer gewissen heiligen Ehrfurcht nicht nur die ernsten Beschäftigungen der Kinder, sondern auch ihre Spiele. Die Folge war, daß sie, rein und unverdorben, durch keinerlei Verkehrtheiten verbildet wurden und daß sie den edlen Wissenschaften und ihrem zukünftigen Beruf sich mit ganzem Herzen hingaben (c. 28). Ganz anders heute. An die Stelle der Mutter ist eine griechische Magd getreten; und diese wird nicht von einer vertrauenswürdigen alten Verwandten unterstützt, sondern von irgendeinem, und meist nichtsnutzigen Sklaven. Was die Kinder von ihnen hören, wirkt sich schädlich aus auf die jugendlichen Gemüter. Und überhaupt kümmert sich niemand 1 c. 24,2 (die Paragraphen nach der Ausgabe von Halm-AndresenKoestermann); 15,2; 27,1; 28,1. Auch Tacitus selbst ist natürlich von dem Niedergang der Beredsamkeit überzeugt (c. 1,1). 2 In c. 28, 5 ist autem beanstandet und in aut geändert und dieses vor eligebatur gerückt worden: sicher falsch. Man hat nicht auf die Parallelität der Darstellung von c. 28 mit der von c. 29 geachtet: Die Rolle der Mutter während der alten Zeit (c. 28) übernahm später eine Qraecula ancilla (c. 29, 1); und wie ehedem der Mutter eine maior aliqua natu propinqua (c. 28, 5) zur Seite trat, so später der ancilla ein servus (c. 29, 1). Man bemerke ferner, daß coram qua (sc. subole) in c. 28, 5 corarn infante in c. 29, 1 entspricht und daß die Ausführungen in c. 28, 7 mit denen in c. 29, 3—4 kontrastieren.

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im Hause darum, was vor ihnen gesagt oder getan wird. J a , die Kinder werden von den Eltern geradezu an Dreistigkeit und vorlautes Wesen gewöhnt. Die Laster der Großstadt Rom, die Vorliebe f ü r Schauspieler und die Leidenschaft f ü r Gladiatoren und Pferde, bringen sie gewissermaßen schon mit zur Welt. So bleibt in ihrer Seele f ü r die edlen Wissenschaften kein R a u m : Zu Hause und in der Schule spricht man nur von Schauspielern, Gladiatoren und Pferden (c. 29). So wird weder in der Elementarschule noch beim Grammatiker mit dem nötigen Ernst gearbeitet (c. 30, l ) 1 . Und nun die eigentliche rednerische Ausbildung. Cicero u n d die Alten überhaupt hielten den Unterricht beim Rhetor allein nicht f ü r ausreichend. Man war bemüht, darüber hinaus sich eine umfassendeAllgemeinbildunganzueignen: Man studierte, außer Grammatik, auch noch die übrigen Fächer der eyxvxho^ jcaideia, ferner Rechtswissenschaft und vor allem Philosophie (c. 30, 3—32, 2). Davon ist heute keine Rede mehr (c. 32, 3—4). Der Schüler begißt sich vielme.hr nach dem Elementarunterricht zum Grammatiker und von da sofort in die Schule des Rhetors, dessen Lehrbetrieb sich aber im wesentlichen auf die Deklamationen beschränkt 2 . In diesem Mangel an einer umfassenden Bildung sieht Messala den Hauptgrund f ü r den Niedergang der modernen Beredsamkeit (c. 32, 5—6). Er ist im Begriff, seine Rede zu schließen, da er seine Aufgabe erfüllt habe; aber er wird von Maternus, dem Aper und Secundus beipflichten, daran erinnert, daß er nur einen Teil seiner Aufgabe erledigt habe. In der Tat h a t t e Messala früher (c. 30, 2) angedeutet, er würde auch über die rednerischen Übungen sprechen. Messala ist denn auch sofort bereit, dies nachzuholen (c. 32, 7—33, 4) 3 . 1

Zur Interpretation von c. 30, 1 vgl. meine Ausführungen a. a. O. 81 ff. Vgl. c. 30, 1—2 mit c. 35, wo der c. 30, 2 fallengelassene Faden wieder aufgenommen wird. 3 Wenn Tacitus den Messala in dieser Weise seine Rede unterbrechen und gewissermaßen neu beginnen läßt, so ist das ein Kunstgriff, mit dem er offenbar den Zweck verfolgt, die Aufmerksamkeit des Lesers neu zu beleben und auf die Wichtigkeit auch des noch Folgenden hinzuweisen. 2

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Er bespricht zunächst die Übungen der alten. Zeit (c. 33, 5—34). Zuerst betont er, daß die Aneignung einer umfassenden Bildung selbst schon eine gewisse Übung bedeute, daß sie jedenfalls den jungen Mann für die eigentlichen Übungen aufs beste vorbereite (c. 33, 5—6). Diese waren nach Messala durchaus praktischer Natur: Der Jüngling wurde von seinem Vater oder einem Verwandten einem hervorragenden Redner zugeführt, um von diesem zu lernen. Ihn begleitete er überall hin, er war bei allen seinen Reden zugegen. Nebenbei hörte er auch die anderen Redner seiner Zeit. So lernte er den Rednerberuf in der Praxis kennen und konnte feststellen, was man, um Erfolg zu haben, tun und lassen müsse, was beifällig aufgenommen wurde oder Mißfallen erregte (c. 34). Dagegen ist heute der Übungsplatz des jungen Mannes nicht das Forum, sondern die Schule des Rhetors. Und die Deklamationen, die Übungsreden, die dieser seine Schüler halten läßt, sind eher dazu angetan, sie zu verbilden als zu fördern. Denn die Themen der Deklamationen sind völlig wirklichkeitsfremd und überstiegen. Und dem entspricht die Unnatur der Deklamationen selbst, die im folgenden offenbar etwas eingehender geschildert wurden (c. 35). Leider bricht mitten in dieser Schilderung der Text ab. Im Hersfeldensis, auf den unsere Handschriften zurückgehen, waren 6 Kolumnen, d. h. l 1 ^ folia, unleserlich geworden, wie ich seinerzeit mit Sicherheit glaube nachgewiesen zu haben1. Sie machen genau 1j12 des gesamten Werkes aus, d. h. ungefähr 3—4 Kapitel. Die unleserlich gewordene Partie enthielt den Schluß der Rede Messalas und den Anfang der folgenden Rede des Maternus. Zwischen den beiden Reden wird Tacitus nach seiner Gepflogenheit einige Zwischenbemerkungen eingeflochten haben. Der Inhalt des verlorenen Schlußteils der Rede Messalas läßt sich mit einiger Sicherheit erschließen. Da, wo die Lücke einsetzt, war Messala im Begriff, über die Unnatur des deklamatorischen Stils zu sprechen. Er hatte ihn offenbar ganz ähnlich charakterisiert wie in seiner ersten Rede (c. 26) den modernen 1

Zuletzt a. a. 0. 102 fi. Siehe unten, Anhang I.

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Stil überhaupt, der ja durch den Einfluß der Deklamationen verdorben worden sein soll. Messala hatte dort auch die überstiegene Manier der modernen Vortragsart gebrandmarkt; auch darauf wird er also in seiner späteren Charakteristik der Deklamationen eingegangen sein und ferner auf die Vernachlässigung der Disposition, die er dort (c. 26, 4 contempto ordine rerum) gerügt hatte. Sie wurde von den Deklamatoren ebenso geringschätzig behandelt wie die Beweisführung 1 . Auch auf die Mängel der letzteren dürfte daher Messala hingewiesen haben. Messala hatte zu Beginn seiner Rede sehr nachdrücklich betont, die Gründe, die er für den Niedergang der Beredsamkeit vorbringen würde, seien nicht verborgen und unbekannt: Seine Gesprächspartner hätten ihm nur die Rolle zugewiesen, auszusprechen, was sie alle wüßten. Tacitus deutet damit an, daß er Messala damals ganz allgemein bekannte Anschauungen in den Mund gelegt habe. Nun hatte Quintilian, wie schon bemerkt, ein Buch De causis corruptae eloquentiae geschrieben. Für ihn, den Schulmann, lag es nahe, das Problem des Niedergangs der Beredsamkeit einseitig vom pädagogischen Gesichtspunkt aus zu beurteilen; und gerade das tut Messala. Daher möchte man von vornherein vermuten, daß Tacitus seinen Messala im wesentlichen die Gedanken Quintilians wiedergeben läßt, die dieser in dem genannten Buch niedergelegt hatte. Eine nähere Untersuchung wird diese Vermutung durchaus bestätigen. Unter der corrupta eloquentia verstand Quintilian vornehmlich die damals fast allgemein herrschende Stilmanier; aber diese nicht allein: Auch an der stofflichen Behandlung, an dem Aufbau der Reden und insbesondere an dem rednerischen Vortrag hatte er manches zu tadeln. Die Gegner dieser modernen Form der Beredsamkeit hielten sie, im Gegensatz zur sanitas2 1

Quint. 2, 11, 3 5, 12, 17 und Tac. Dial. c. 19, 3 und 20, lf., wo Aper als Vertreter der Modernen die umständliche Beweisführung der Alten tadelt. 2 So spricht Messala bei Tacitus von der sanitas eloquentiae eines Cicero und seiner Zeitgenossen (c. 25, 4) im Gegensatz zu der von ihm c. 26, 2—5 geschilderten kraftlosen und entarteten Beredsamkeit seiner Zeit; vgl. auch Quint. 8 praef. 18ff. 10, 1, 44 12, 10, 15.

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der Attiker und der römischen Beredsamkeit der ausgehenden Republik, für dekadent und korrupt1. Bezeichnend für sie waren, stilistisch, Schwulst und Ziererei, tändelnde und weichliche Rhythmen, ein Übermaß von Schmuckmitteln aller Art, besonders von Sentenzen, worunter man damals nicht nur das verstand, was wir heute als Sentenz bezeichnen, sondern auch kurze epigrammatisch zugespitzte Sätze, die sich, besonders am Ende, durch irgendein lumen auszeichneten2. Ebenso maßlos und weichlich wie der Stil war auch die Vortragsart: Die gesprochene Rede artete in Gesang, die Gestikulation in Tanz aus 3 . Dagegen wurde das Sachliche und die Beweisführung vernachlässigt4, und ebenso die Disposition5. Man war mehr bemüht, seine Kunst und sein stilistisches Können zur Schau zu stellen, als seinen Klienten durch sachliche Gründe zum Sieg zu verhelfen. Daher eine Vorliebe für Beschreibungen, die ganz in poetischer Manier ausgeschmückt wurden, und überhaupt für Partien, die sich anmutig ausgestalten ließen 6 . Der glänzendste Vertreter dieses neumodischen Stils war Seneca 7 , der ihm nicht nur als Redner, sondern auf allen Gebieten seiner schriftstellerischen Tätigkeit huldigte. Während seiner Lehrtätigkeit in Rom führte Quintilian einen lebhaften Kampf gegen die Auswüchse des modernen Stils (10, 1, 125). Diesen Kampf setzte er nach Aufgabe seiner Lehrtätigkeit literarisch fort; so gewiß schon in seiner Schrift De causis corruptae eloquentiae, die er um die Zeit seines Rücktritts vom Lehramt, also etwa 88 8 , 1

Das Schlagwort „korrupt" sehr häufig bei Quintilian: 2, 3, 9. 5, 10. 10, 3 8 praef. 17. 25. 3, 7. 18. 58. 5, 14. 25 9, 4, 17 10, 1, 125. 129. 2, 14. 16 12, 2, 9. 10, 73. 76. 2 Die Hauptstelle bei Quintilian: 12, 10, 73; außerdem vgl. etwa noch 2, 5, lOff. 4, 2, 37ff. 8, 5, 20—31 9, 4, 6. 66. 142 10, 1, 43. 3 Tac. Dial. 26, 3 Quint. 4, 2, 39 11, 1, 56. 3, 57. 1 Quint. 5 , 8 , 1 verglichen mit 5,12,17; 5 , 1 3 , 3 6 7, 1,40 f. 9 , 3 , 1 0 0 12, 8, 2. 8 Tac. Dial. 26, 4 Quint. 2, 11, 3. « Quint. 2, 2, 3 4,1, 57. 2, 122. 3, 1 7, 1, 41 ff. 12, 8, 2f. Tac. Dial. 20, 2. ' Quint. 10, 1, 125 ff. 8 So, wie ich glaube, richtig Aug. Reuter, De Quint, lib. qui est de c. c. e. Diss. Breslau 1887, S. 50ff.

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verfaßte, und in dem etwas später geschriebenen Lehrbuch der Rhetorik, der Institutio oratoria. Durch dieses Lehrbuch zieht sich wie ein roter Faden eine Polemik gegen die moderne Form der Beredsamkeit 1 und zugleich die Absicht, an ihre Stelle etwas anderes und Besseres zu setzen. Und so entwickelt Quintilian dort eine Theorie der Jugenderziehung und rednerischen Unterweisung, durch die er den damaligen Verfall der Beredsamkeit aufhalten und den alten Glanz der römischen Beredsamkeit wieder herstellen zu können glaubte. Daher gibt er am Schluß des Werkes der Überzeugung Ausdruck: Wenn wir uns mit ganzem Herzen der Beredsamkeit widmen und stets nach dem Höchsten streben (natürlich auf dem von Quintilian gewiesenen Wege), so werden wir das höchste Ziel, das Ideal der Beredsamkeit, erreichen oder jedenfalls viele hinter uns lassen. Um den Tiefstand der modernen Beredsamkeit zu überwinden, mußte Quintilian natürlich sich Klarheit über die Gründe ihres Niedergangs verschaffen. Und die Erkenntnisse, die er während seiner Lehrtätigkeit nach dieser Richtung hin gewonnen hatte, legte er offenbar in seiner Schrift De causis corruptae eloquentiae nieder. Er nimmt auf das Werk in seiner Institutio oratoria öfter Bezug; und die hier gegebenen Hinweise sind das einzige, was wir darüber erfahren. Einen Teil der Schuld an dem Niedergang der Beredsamkeit schob er, genau wie Messala bei Tacitus, auf die Verkehrtheiten der modernen Deklamationen. 2, 10, 3 betont er ausdrücklich eo quidem res ista (die Deklamationen) culpa, docentium reccidit, ut inter praecipuas, quae corrumperent eloquentiam, causas licentia atque inscitia declamantium fuerit. Und er polemisiert immer wieder gegen die Auswüchse des Deklamationsbetriebes seiner Zeit 2 . Freilich ist Quintilian kein Gegner der Deklamationen über1 Im einzelnen nachgewiesen von Friedmar Kuhnert, Die Tendenz in Quintilians Institutio oratoria. Diss. Jena 1951. 2 Die wichtigsten Stellen: 2, lOf. 20, 4 5, 12, 17—23 5, 13, 36 8, 3, 23. 76 10, 7, 21 ff. 12, 11, 14f.

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haupt. Aber er verlangt, daß der Studierende sich nicht auf die, maßvoll und richtig gehandhabten, deklamatorischen Übungen beschränkt: Er muß außerdem noch, wie es bei den Vorfahren Sitte war (eine Sitte, die, wohl gemerkt, auch von Messala gerühmt und der Verkehrtheit der modernen Deklamationen entgegengestellt wird), an einen erprobten Redner sich anschließen und bemühen, die Beredsamkeit in der Praxis zu studieren (10, 5, 14—20). Daß Quintilian auch schon in seiner Schrift De causis corruptae eloquentiae die modernen Deklamationen für den Niedergang der Beredsamkeit mit verantwortlich gemacht hatte, darf man daher als selbstverständlich betrachten und ergibt sich mit Sicherheit aus 5, 12, 17—23, wo unter Hinweis auf jene Schrift 1 gewisse Verkehrtheiten der modernen Deklamationen gerügt werden. Quintilians Urteil über den schädlichen Einfluß der Deklamationen auf die moderne Beredsamkeit deckt sich also genau mit dem des Messala bei Tacitus. Die oben (S. 10) aus Quintilian zitierte Stelle (2, 10, 3) beweist, daß dieser außer den Deklamationen auch noch andere praecipuae causae für den Niedergang der Beredsamkeit verantwortlich gemacht und in den Deklamationen vielleicht nicht einmal den Hauptgrund ihres Niedergangs erblickt hatte. Leider fehlt es in der Institutio oratoria an direkten Hinweisen, welche Gründe er sonst noch in seinem verlorenen Werk 2 genannt hatte. Aber das in der Institutio oratoria entwickelte Lehrsystem und die in ihr hervortretende Polemik gestatten nach dieser Richtung hin ziemlich sichere Schlüsse. Quintilian stellt 1 Quintilian hatte in ihr ferner über das Cacozelon (cacozelia) des modernen Stils ( 8 , 3 , 5 6 — 5 8 8 , 6 , 7 3 — 7 6 ) gehandelt; er brachte es mit den Deklamationen in Verbindung, wie sich aus 8, 3, 22 f. und 8, 3, 76 erschließen läßt. Auch das Zitat 2, 4, 41 f. weist auf die Deklamationen und legt die Vermutung nahe, daß Quintilian den Niedergang auch der hellenistischen Beredsamkeit mit jenen in Verbindung gebracht hatte. Für den Inhalt der Schrift gibt nichts aus das Zitat 6 praef. 3. 2 Seine Rekonstruktion durch Reuter a. a. O. stützt sich auf eine viel zu schmale Grundlage.

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in dem Werk sein eigenes Lehrsystem dem zu seiner Zeit üblichen rhetorischen Lehrbetrieb entgegen: Man begab sich damals in der Regel nach dem Unterricht bei dem Elementarlehrer und Grammatiker sofort in die Schule des Rhetors 1 , wo man die deklamatorischen Übungen im wesentlichen für die Ausbildung eines Redners für ausreichend hielt 2 . Quintilian dagegen erachtet diese, sofern sie richtig betrieben werden, zwar auch für recht nützlich 3 . Aber darüber hinaus verlangt er noch eine gründliche Unterweisung in der rhetorischen Theorie, der er ja den weitaus größten Teil seines Lehrbuches (Buch 2, 15—21 und Buch 3—11) widmet; ferner ein Studium nicht nur der Grammatik, sondern auch der übrigen Fächer der eyxvxfaoG naideia (1, 10), endlich der Rechtswissenschaft und Geschichte (12, 3. 4) und insbesondere der Philosophie (12, 2). Quintilian folgt in dieser Hinsicht seinem großen Vorbild Cicero. Auch dieser hatte für die Heranbildung eines großen Redners neben dem Studium der rhetorischen Theorie eine umfassende Allgemeinbildung verlangt. Und er hatte auf Grund der umfassenden Bildung, die er theoretisch gefordert und praktisch sich angeeignet hatte, das Höchste in der Beredsamkeit erreicht. Nun war man nach Cicero von dessen hohen Anforderungen an die Ausbildung eines Redners abgekommen; und man begnügte sich in der Regel, wie Quintilian selbst mit Bitterkeit feststellt (vgl. Anm. 1 und 2), mit dem Unterricht bei dem Grammatiker und, in der Schule des Rhetors, mit Deklamationsübungen. Da aber alsbald nach Cicero der Niedergang der Beredsamkeit einsetzte, lag es nahe, die veränderte Ausbildung für ihn verantwortlich 1 Vgl. Quint. 1 , 4 , 1 mit 2 , 1 , 1 — 3 und 1, 10, lfi. Auch Messala bei Tac. 30, lf. tadelt es, daß man heute vom Grammatiker (dieser ist 30, 1b gemeint: siehe meine Ausführungen a. a. 0 . 81 ff.) sofort zum Rhetor geht. 2 Quint. 2, 1, 2 illi (rhetores) declamare modo et scientiam declamandi ac facultatem tradere officii sui ducunt. 2, 10,2 (declamandi ratio) ita est celebrata, ut plerisque videretur adformandam eloquentiam vel sola sufficere; 2, 11. Auch Messala bei Tacitus (c. 35 verglichen mit c. 30, 2) setzt voraus, daß der Rhetorikunterricht sich im wesentlichen auf Deklamationsübungen beschränkt. 3 Vgl. z. B. 2, 10.

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zu machen. Und so hat Quintilian das ciceronische Bildungsideal offenbar erneuert in dem Glauben, dadurch das Höchste in der Beredsamkeit wieder erreichen und ihren Tiefstand überwinden zu können. Daher dürfte es nicht zweifelhaft sein, daß er in dem Abfall von dem ciceronischen Ideal der rednerischen Ausbildung den Hauptgrund für den augenblicklichen Verfall und Tiefstand der Beredsamkeit erblickte. Aber gerade dies ist, wie man sich erinnert, auch die Auffassung Messalas; und er hatte auch die von Quintilian bekämpfte rednerische Ausbildung der Gegenwart, die er in der gleichen Weise schildert wie dieser, gerügt und ihr die umfassende Ausbildung Ciceros und seiner Zeitgenossen1 entgegengehalten2. Die gewöhnlichen Lehrbücher der Rhetorik berücksichtigten in der Regel nur die eigentliche rhetorische Theorie, wie Quintilian 1 praef. 3—5 ausdrücklich hervorhebt. Dagegen geht er selbst zu Beginn seines Werkes (1, 1—3) auch auf die Kindererziehung und den Elementarunterricht ein. Denn er hält sie, wie Messala bei Tacitus (c. 28, 4—30, 1), für den zukünftigen Redner keineswegs für gleichgültig. Aber schon die Tatsache, daß Quintilian Hinweise und Ratschläge auch nach dieser Richtung hin für nötig hält, ist ein Beweis, daß ihm hier, ähnlich wie Messala, manches im argen zu liegen schien. Denn auch da, wo Quintilian, ohne zu tadeln, positiv belehrt, wenden sich seine Vorschläge stillschweigend vielfach gegen gewisse Mißstände seiner Zeit 3 ; so z. B., wenn er 1,1,3—11 sich ausläßt über 1 Messala nennt die gleichen Wissenschaften wie Quintilian; es fehlt bei dem ersteren nur die Geschichte, und zwar offenbar deshalb, weil er diese, worauf ich schon a. a. 0. 88 (vgl. 82 ff.) hingewiesen habe, in der Erwähnung der Grammatik (c. 30, 1) genügend berücksichtigt glaubte. 2 Man beachte auch, daß Messala die corrupta eloquentia (c. 26, 2—5) mit den gleichen Farben schildert wie Quintilian; siehe oben S. 8 f. Und noch in einem anderen Punkt deckt sich Messalas Urteil in überraschender Weise mit dem Quintilians. Darüber Anhang II. 3 Sehr bezeichnend für sein Verfahren ist eine Bemerkung 4, 2, 39. Er hatte eine Unart der modernen Redner getadelt und fährt dann fort: verum haec omittamus, ne minus gratiae praecipiendo recta quam offensae reprehendendo prava mereamur.

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den wünschenswerten Charakter und das Verhalten der nutrices des Kindes, seiner Eltern, der jungen Sklaven, in deren Mitte es erzogen wird, und insbesondere der Pädagogen. Schon hier klingt manches an die Ausführungen Messalas (c. 28,4 bis c. 29) an, vor allem aber in dem bitteren Exkurs über den schädlichen Einfluß des Elternhauses (1, 2, 6—8). Bereits in früher Jugend, heißt es hier, werden die Kinder verdorben, sie werden verweichlicht und an Üppigkeit gewöhnt. Man sieht ihnen Frechheiten und vorlautes Wesen nach, ja man hat seine Freude daran; und was sie zu Hause sehen und hören,-ist nichts Gutes. So werden sie an Laster gewöhnt, bevor sie wissen, daß es Laster sind; und sie bringen ihre Laster mit in die Schule. Nun war aber die Zügellosigkeit und Weichlichkeit ein Hauptmerkmal der modernen, oder, wie Quintilian sie nennt, der korrupten Beredsamkeit. Und so dürfte es sicher sein, daß Quintilian in seinem Buch De causis corruptae eloquentiae auch die Schäden der Kindererziehung als Grund für den Verfall der modernen Beredsamkeit geltend gemacht hatte. Die drei Gründe, die von Messala für den Niedergang der Beredsamkeit verantwortlich gemacht werden (Schäden der Kindererziehung und des Elementarunterrichtes, Mängel der wissenschaftlichen Ausbildung und drittens der verderbliche Einfluß der Deklamationen), lassen sich also sämtlich auch bei Quintilian nachweisen. Und wenn Messala zu Beginn seiner Rede (c. 28, 1) betont hatte, alles, was er vorzubringen habe, sei den Anwesenden wohl vertraut, diese hätten ihm nur die Rolle übertragen zu sagen, was sie alle wüßten, so wird auf diese Weise, dürfen wir nun zuversichtlich behaupten, auf das einige Jahre vor dem Dialogus1 erschienene Buch Quintilians De causis corruptae eloquentiae verwiesen und dies als allgemein bekannt vorausgesetzt. 1 Ich halte, auch abgesehen von den vorstehenden Ausführungen, die These, daß Tacitus seinen Dialogus nach dem Tod Domitians geschrieben hat, für erwiesen. Für sie setzt sich neuerdings mit guten Gründen auch R. Güngerich ein (Class. Philol. 46, 1951, 159fi.). Ich komme auf die Frage der Abfassungszeit unten noch einmal zurück.

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Ganz anders als Messala-Quintilian beurteilt Maternus in seiner Gegenrede (c. 36—41) die Gründe des Niedergangs der Beredsamkeit. Leider ist ihr Anfang durch die Lücke des Hersfeldensis verlorengegangen. Aber es kann von der Rede, wie ich früher schon bemerkt habe, nur wenig fehlen, etwa 1—2 Kapitel. Eine einleitende Bemerkung wird die Rede eröffnet haben. Dann folgten, nach den drei unmittelbar nach der Lücke erhaltenen Sätzen zu schließen, von denen der erste leider unvollständig ist1, Ausführungen über die innerpolitischen Zustände, die in Griechenland, natürlich besonders im Athen der demosthenischen Zeit, den Nährboden für eine große Beredsamkeit gebildet hatten. Anschließend kommt Maternus auf die Verhältnisse in Rom zu sprechen; auf die inneren Wirren und das zügellose Treiben, die dort, während der ciceronischen Epoche, zur höchsten Blüte der Beredsamkeit führten (c. 36, 1 bis 3). Waren jene Zustände auch kein Segen für den Staat, so spornte doch der große Lohn (praemia), der einem Redner damals, während der schrankenlosen Freiheit, winkte, seine Kräfte aufs äußerste an. Und überhaupt war jeder, der politisch etwas gelten wollte, gezwungen (necessitas), alles an die Entfaltung seiner rednerischen Fähigkeiten zu setzen (c. 36, 4 bis 37, 3). Einen weiteren Anreiz zu ihrer Entfaltung bildeten die gerichtlichen Verhältnisse der damaligen Zeit, so zunächst die glänzende Stellung der Angeklagten und die Größe der Prozesse. Sie lieferten der Beredsamkeit einen gewaltigen Stoff; und die Gewichtigkeit der Gegenstände wirkte anfeuernd auf die Entfaltung der geistigen Kräfte (c. 37, 4—8). Dazu kam die Form und das Verfahren der alten Gerichte: Die Redezeit stand im Belieben des Redners, er konnte sprechen, solange er wollte. Für Vertagungen gab es keine einschränkenden 1

rem cogitare (so zweifellos richtig die von Gudeman YZ genannten Handschriftenklassen und Decembrio; cogitare hängt offenbar, wie eloqui, von poterat ab), nihil humile, nihil abiectum eloqui poterai, magna eloquentia, sicut fiamma, materia alitur et motibus excitatur et urendo clarescit. eadem ratio in nostra quoque civitate antiquorum eloquentiam provexit.

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Bestimmungen, ebensowenig für die Zahl der zu einem Prozeß benötigten Tage und der dabei auftretenden Redner. Das wurde schon gegen Ende der Republik, im dritten Konsulat des Pompeius, anders und erst recht in der Kaiserzeit. Überdies spielen jetzt die Centumviralprozesse, bei denen eine Entfaltung der Beredsamkeit kaum möglich ist, die erste Rolle, während sie früher von ganz untergeordneter Bedeutung waren. Selbst die Paenula, in der der moderne Redner, wie eingeschnürt, vor Gericht spricht und nicht mehr, wie früher, in der frei wallenden Toga, und der Ort, wo die Gerichtsverhandlungen sich jetzt meist abspielen, Hörsäle und Archivräume, wirken sich ungünstig auf die Beredsamkeit aus. Sie verkümmert in den engen, geschlossenen Räumen; denn sie bedarf zu ihrer Entfaltung eines großen Tummelplatzes, sowie edle Pferde zur Bewährung ihrer Kräfte des weiten Raumes der Rennbahn. Auch hat es, bei der heutigen Gepflogenheit der Richter, nach ihrem Belieben den Redner zu unterbrechen und in den Gang seiner Ausführungen einzugreifen, keinen Zweck mehr, eine Rede stilistisch sorgfältig vorzubereiten; das wirkt sich naturgemäß ungünstig auf den Stil der Reden aus. Und endlich die Zuhörer. Bei den heutigen Gerichtsverhandlungen ist fast niemand mehr zugegen; aber der Redner braucht zu seiner Anfeuerung das Beifallsgeschrei eines großen Publikums. Früher strömte dies aus allen Teilen Italiens in großer Menge nach Rom und ergriff bei den Verhandlungen leidenschaftlich Partei. Und dann die zahlreichen Volksversammlungen und die privaten Feindschaften der römischen Großen, die unter Parteinahme einer gewaltigen Zuhörerschaft ausgetragen wurden. All das mußte die Redner in Feuer und höchste Leidenschaft versetzen (c. 38—40, 1). Denn1, fährt Maternus abschließend fort, jene große Beredsamkeit ist nicht ruhig und friedlich, rechtschaffen und maßvoll, sondern zügellos, aufrührerisch, frech und anmaßend; sie gedeiht daher nicht in wohlgeordneten Staaten (c. 40, 2). Das 1 Das Asyndeton c. 40, 2 (Non de otiosa re) ist begründend. Daher hatte Muretus nach non sogar enim einschieben wollen.

Der Dialogue de oratoribus des Tacitus

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wird durch Beispiele aus der Geschichte illustriert: durch den Hinweis auf Lakedämon, Kreta, Makedonien und Persien einer-, auf Rhodos und die zügellose Demokratie Athens andererseits (c. 40, 3); und ferner durch den Hinweis auf das wüste Treiben der ausgehenden römischen Republik im Gegensatz zu den geordneten Verhältnissen der Kaiserzeit (c. 40, 4—41, 2). In einem Idealstaat würde es überhaupt keine Redner mehr geben, so wenig wie Ärzte unter lauter Gesunden (41, 3—4). Maternus schließt mit einer Apostrophe an seine Zuhörer, in der er kurz die Quintessenz seiner Auffassung herausstellt (41, 5). Die Auffassung des Maternus ist der Messalas diametral entgegengesetzt. Dieser sah die Schuld an dem Niedergang der Beredsamkeit in den Menschen und in den Verkehrtheiten der modernen Jugenderziehung und rednerischen Ausbildung1, Maternus dagegen in den veränderten Verhältnissen politischer und gerichtlicher Art, wobei die letzteren wieder die ersteren zur Voraussetzung haben. Die Auffassung des Maternus verrät zweifellos einen tieferen historischen Blick, und sie wurde gewiß von Tacitus selber geteilt. In dem Gegensatz Messala-Quintilian auf der einen und Maternus-Tacitus auf der anderen Seite fassen wir eins der Hauptmotive, die Tacitus zur Abfassung seines Dialogs veranlaßt haben. Die Erklärung, die der hochangesehene Rhetor für den Niedergang der Beredsamkeit gegeben hatte, befriedigte den tiefer blickenden Historiker nicht. Und so setzte er der Auffassung Quintilians seine eigene entgegen: Sein Dialogus ist gewissermaßen die Antwort auf dessen Schrift De causis corruptae eloquentiae und auf den in der Institutio oratoria zur Schau getragenen Optimismus. Quintilian hatte in seiner älteren Schrift die Verkehrtheiten der modernen Jugenderziehung und rednerischen Ausbildung aufgezeigt und für den Niedergang der Beredsamkeit verantwortlich gemacht; und in dem späteren Werk wollte er, positiv, den Weg zeigen, diesen Nieder1 Oder, wie Messala 28, 2 sich ausdrückt, in der desidia iuventutis et neglegentia parentum et inscientia praecipientium et oblivione moris antiqui.

B a r w i c k , Der Dialogus

2

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K A R L BARWICK

gang zu überwinden. Daher gab er im Schlußwort dieses Werkes (12, 11, 30) der Überzeugung Ausdruck, man brauche diesen Weg nur zu gehen, um wieder, wie früher, das Höchste in der Beredsamkeit zu erreichen; ja man würde, wie an einer anderen Stelle bemerkt wird 1 , über das früher Erreichte hinauskommen. Diesem Optimismus stellt Tacitus seine eigene Überzeugung entgegen: Mit der großen Beredsamkeit ist es in Rom infolge der Veränderung der politischen Zustände endgültig vorbei. Diese Erkenntnis des Tacitus ist sicher sein persönliches Eigentum. Sie erinnert allerdings auf den ersten Blick an gewisse Ausführungen des Auetor liegt vtpovi, der in c.*44, 1—5 seiner Schrift die Schuld an dem Niedergang der Beredsamkeit ebenfalls der Einführung der Monarchie in Rom zuschreibt. Im einzelnen aber weichen Tacitus und der Auetor so weit voneinander ab, daß man glauben möchte, Tacitus habe seine eigene Auffassung polemisierend der bei dem Auetor geäußerten entgegengestellt. Der letztere ist der Überzeugung, daß unter dem Einfluß der Monarchie, d. h. dem Mangel an Freiheit, viprjXal

Xiav

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vneQfiey^&ei^,

et fJ.r/ ri

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yiyvovrai

Er vergleicht die unter der Demokratie herrschende öovXeia mit einem Käfig und einem Kerker der Seele, in dem diese verkümmert, wie die in einem Käfig eingeschlossenen Zwerge. Die Demokratie hingegen mit ihrer Freiheit ist dem Auetor die gütige Nährmutter alles Großen (rmv fieyäXmv äyaßrj ri&rjvdz) und insbesondere auch der Beredsamkeit; diese habe unter der Demokratie ihre höchste Blüte erlebt, und mit ihr habe sie ihr Ende gefunden. Ganz anders Maternus-Tacitus. Er ist nicht der Ansicht, daß es heute kaum noch große Naturen gibt. Im Schlußwort seiner Rede (41, 5) weist er darauf hin, daß die Menschen, also auch ihre Begabung und Fähigkeiten, heute dieselben sind wie früher und daß es nur an der quies der Gegenwart liegt und an der Mäßigung und Selbstbeherrschung der Menschen (modus et (piiaei£.

1 2, 16, 18 id adeo manifestum exit, si cogitaverimus, provecta sit orandi facultas: et adhuc augeri potest.

unde et quo usque

iam

Der Dialogus de oratoribus des Tacitus

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temperamentum), wenn es jetzt keine großen Redner mehr gibt. Dieser Auffassung, daß nicht nur die Vergangenheit über schöpferische Kräfte verfügte, ist Tacitus auch später treu geblieben. Bezeichnend dafür ist sein Ausspruch Ann. 3, 55 nec omnia apud priores meliora, sed nostra quoque aetas multa laudis et artium imitanda posteris tulit1. Nach Maternus-Tacitus ist also der Niedergang der Beredsamkeit unter der Monarchie nicht eine Folge des Mangels an Freiheit, wie der Auetor es darstellt, sondern eine Folge der quies, der Segnungen, die die Monarchie gebracht hat, der Zucht und Ordnung, der Eintracht und des Friedens, die man unter der Demokratie so schmerzlich vermißte. Daher hebt Maternus immer wieder hervor, daß die Segnungen der Monarchie sich ungünstig für die Beredsamkeit auswirkten, während auf der anderen Seite die Zustände unter der Demokratie zwar wenig wünschenswert waren, aber die Beredsamkeit zur höchsten Blüte führten. Der Niedergang der Beredsamkeit beginnt nach Maternus unter Augustus, postquam longa temporum quies et continuum populi otiurn et assidua senatus tranquillitas et maxima prineipis diseiplina ipsam quoque eloquentiam sicut omnia depaeaverat (38, 2). Die Beredsamkeit ist, wie es 40, 2 heißt, eine alumna licentiae, sie gedeiht daher nicht in wohlgeordneten Staaten. Beweis: Lakedämon, Kreta, das Reich der Makedonen und Perser. Wohl aber blühte die Beredsamkeit in der zügellosen Demokratie Athens und der aus1 In dem Glauben an die schöpferischen Kräfte auch der Gegenwart stimmt Maternus-Tacitus mit Messala überein, der c. 28, 2 nachdrücklich versichert, der Verfall der Beredsamkeit (und der übrigen artes) in der Gegenwart sei nicht durch einen Mangel an Begabung (inopia hominum) bedingt. Messalas Auffassung deckt sich auch hier mit der des Quintilian, der ja, wie wir sahen, von der Überzeugung durchdrungen war, man brauche nur die modernen Erziehungs- und Unterrichtsmethoden zu ändern, um wieder, wie früher, das Höchste in der Beredsamkeit zu erreichen. Aufschlußreich für Quintilian sind in dieser Beziehung seine Ausführungen 2, 55, 22ff., wo er reiferen Schülern empfiehlt, außer den alten auch moderne Redner zu lesen, quibus et ipsis multa virtus adest. Er fährt fort: neque enim nos tarditatis natura damnavit. sed dicendi mutavimus genus et ultra nöbis quam oportebat indulsimus: ita non tarn ingenio Uli (sc. antiqui) nos superarunt quam proposito. Vgl. auch 10, 2, 8.

2*

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gehenden römischen Republik: nostra quoque civitas, donee erravit, donee se partibus et dissensionibus et discordiis confecit, donec nulla fuit in foro pax, nulla in senatu concordia, nulla in iudiciis moderatio, nulla superiorum reverentia, nullus magistratuum modus, tulit sine dubio valentiorem eloquentiam, sicut indomitus ager habet quasdam herbas laetiores. sed nec tanti rei publicae Gracchorum eloquentia fuit, ut pateretur et leges, nec bene famam eloquentiae Cicero tali exitu pensavit (40, 4). Damit vergleiche man 36, 2ff.: etsi horum quoque temporum oratores ea consecuti sunt, quae composita et quieta et beata re publica tribui fas erat, tarnen ilia perturbatione ac licentia plura sibi assequi videbantur, cum mixtis omnibus et moderatore uno carentibus tantum quisque orator saperet, quantum erranti populo persuaderi poterat. hinc leges assiduae et populäre nomen, hinc contiones magistratuum paene pernoctantium in rostris, hinc accusationes potentium reorum et assignatae etiam domibus inimicitiae, hinc procerum factiones et assidua senatus adversus plebem certamina. quae singula etsi distrahebant rem publicam, excercebant tamen illorum temporum eloquentiam. Ferner 37, 4f. his accedebat (zur Zeit der ausgehenden Republik) splendor reorum et magnitudo causarum, quae et ipsa plurimum eloquantiae praestant. nam multum interest, utrumne de furto aut formula et interdicto dicendum habeas, an de ambitu comitiorum, de expilatis soeiis et civibus trucidatis. quae mala sicut non accidere melius est isque optimus civitatis status habendus est, in quo nihil tale patimur, ita cum acciderent, ingentem eloquentiae materiam subministrabant. Verbrecherische Existenzen wie Catilina, Milo, Verres und Antonius brachten dem Redner Cicero großen Ruhm : non quia tanti fuerit rei publicae malos ferre cives, ut überem ad dicendum materiam oratores haberent, sed, ut subinde admoneo, quaestionis meminerimus sciamusque nos de ea re loqui, quae facilius turbidis et inquietis temporibus existit (37, 6). Was für die innerpolitischen Zustände der Republik im Vergleich zu denen der Gegenwart, das gilt auch für die forma et consuetudo veterum iudiciorum: quae etsi nunc aptior est veritati, eloquentiam tamen illud forum

Der Dialogus de oratoribus des Tacitua

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magis exercebat (38,1). Was es daher unter diesen Umständen heute noch in Rom an Beredsamkeit gibt, non emendatae nec usque ad voturn compositae civitatis argumentum est (41, 1). In einem Idealstaat würde es überhaupt keine Beredsamkeit mehr geben, so wenig wie eine Heilkunde unter lauten Gesunden (41, 2ff.)Die fortgesetzten Hinweise, daß die Zustände der ausgehenden Republik, im Gegensatz zu denen der Monarchie, verderblich gewesen sind für den Staat und den Einzelnen, sind höchst auffällig: Sie sind in einer Diskussion über den Verfall der Beredsamkeit eigentlich überflüssig und legen daher die Vermutung nahe, daß sie in polemischer Absicht eingeflochten sind und sich gegen andersgeartete Auffassungen wenden. Das wird bestätigt durch c. 40, 2. Wenn hier die magna et notabilis eloquentia gebrandmarkt wird als eine alumna licentiae, quam stulti libertatem vocant, so sind mit den stulti offenbar die Männer gemeint, gegen die Maternus-Tacitus polemisieren: denn sie sahen ja in jener licentia eine libertas. Nun gibt der Auetor nepl vnpovZ vor, die Meinung eines Philosophen zu referieren, der sich seinerseits wieder auf weit verbreitete Ansichten (&ovXovp,evov) beruft. Es handelt sich dabei zweifellos um Vertreter der stoisch beeinflußten Opposition gegen das Kaisertum, die nicht im Sinne des Tacitus war und gegen die er auch Agr. 43, 4 polemisiert. Für Tacitus war die Erkenntnis, daß zu seiner Zeit Höchstleistungen in der Beredsamkeit nicht mehr zu erreichen sind, wohl aber auf anderen Gebieten geistigen Schaffens, ein aufregendes und für seine weitere literarische Produktion entscheidendes Erlebnis. Und damit kommen wir zu dem ersten Redepaar des Dialogs, das inhaltlich und kompositionell, so scheint es, mit den beiden folgenden Redepaaren ohne Zusammenhang ist. Man hat oft hervorgehoben, daß im Dialogus ein Mißverhältnis besteht zwischen der Durchführung seines Themas, wie es ausdrücklich in der Vorrede (c. 1) formuliert wird, und der

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Eingangspartie des Werkes. „Es liegt auf der Hand", sagt Leo 1 , „daß erst in c. 15 das in der Vorrede angegebene Thema des Dialogs angeschlagen wird und daß c. 1—13 dies gar nicht berühren." Die Eingangspartie ist also auffällig umfangreich; und das hier eingelegte Redepaar des Aper-Maternus mit dem Thema, ob die Tätigkeit eines Redners oder Dichters vorzuziehen sei, umfaßt nicht weniger als 9 Kapitel. So ist es verständlich, daß man von dem Fehlen einer einheitlichen Komposition gesprochen hat 2. Andere haben eine gewisse Beziehung zwischen der ersten und zweiten Maternusrede herstellen wollen und vermutet, der Dialog enthalte ein Programm des Tacitus und eine Erklärung, warum er seine bisherige Tätigkeit als Redner zugunsten der Geschichtsschreibung aufgegeben habe. Wieder andere 3 haben diese Vermutung abgelehnt. Und man muß zugeben, daß sie eine ausreichende wissenschaftliche Begründung bisher noch nicht gefunden hat. Um über diese Frage Klarheit zu gewinnen, muß zunächst noch einmal betont werden, daß erst in c. 15 die Erörterung des eigentlichen Themas beginnt, daß also die Eingangspartie einen unverhältnismäßig breiten Raum einnimmt. In ihr eine bloße „Einleitung" zu sehen 4 , die die Aufgabe habe, zum Thema hinüberzuleiten, ist unmöglich. Dazu ist sie zu sehr verselbständigt. Sie enthält ein Redepaar mit einem besonderen Theina, wie das Hauptstück des Dialogs zwei weitere Redepaare mit einem anderen Thema, und jenes erste Redepaar wird dialogisch ebenso sorgfältig vorbereitet und eingeführt, wie nach ihm das Hauptthema. Der Dialog enthält also außer dem Hauptthema noch ein Nebenthema; und man muß nun nach den Gründen dieser Tatsache fragen und dabei zunächst untersuchen, ob und wie es dem Verfasser gelungen ist, inhaltlich Gött. So z. 3 Z. B. Stud. 37, 4 So z. 1

2

gel. Anz. 1898 I 169. B. Andresen in seinem Kommentar 4. Aufl. (1918) S. 8f. Gudeman, Kommentar 2. Aufl. (1914) S. 33f. und Dienel, Wien. 1915, 244. B. Peter, Kommentar S. 18.

Der Dialogua de oratoribus des Taeitus

23

und kompositioneil, die beiden Themen miteinander zu verbinden und in Beziehung zu setzen. Wie in den zwei späteren, so werden auch im ersten Redepaar entgegengesetzte Auffassungen vertreten: Aper setzt sich für den Rednerberuf, Maternus für den Dichterberuf ein. In den beiden späteren Redepaaren läßt Taeitus keinen Zweifel, welche der in den beiden Reden entwickelten Auffassungen den Vorzug verdient. Wir sind daher berechtigt, das gleiche auch für das erste Redepaar zu erwarten. Aber Taeitus hat, so scheint es zunächst wenigstens, in keiner Weise angedeutet, ob Aper oder Maternus im Recht ist, und d. h., wessen Auffassung von ihm selbst geteilt wird. Ja Taeitus hat, man kann sagen, mit einer gewissen Geflissentlichkeit, die im ersten Redepaar behandelte Streitfrage offengelassen. Maternus schlägt Secundus als Schiedsrichter vor. Dieser fürchtet, Aper möchte ihn, wegen seiner Freundschaft mit dem Dichter Saleius Bassus, als befangen ablehnen. Aber Aper zerstreut die Bedenken des Secundus: Seine Anklage richte sich ja nicht allgemein gegen die Dichter überhaupt, sondern nur gegen solche, die trotz ihrer rednerischen Fähigkeiten der dichterischen Tätigkeit zuungunsten der eines Redners den Vorzug gäben; und so bleibt Secundus Schiedsrichter (c. 3,4—5, 4)1. Taeitus gibt ihm jedoch keine Gelegenheit, sein Amt auszuüben: Kaum hat der zweite Sprecher, Maternus, seine Rede beendet, da tritt Messala ein. Das Gespräch nimmt eine andere Wendung. Es wird zum Hauptthema übergeleitet, und keiner der Gesprächspartner erinnert sich mehr an das Schiedsrichteramt des Secundus. Die Frage, ob Aper oder Maternus im Rechte ist, bleibt unbeantwortet2. 1

In c. 5, 4 wird man dem geforderten Sinn durchaus gerecht, wenn man etwa inveni statt des überlieferten inveniri schreibt und mit Lipsius und Halm eos in vos ändert (dazu Peter). Unverständlicherweise ist vielfach der Text in dem Sinne zurechtgemacht worden, als ob Aper die Befürchtung des Secundus habe gelten lassen. Richtig z. B. Keyßner, a. a. O. 101 f. 2 R. Reitzenstein (Nachr. Gött. Ges. d. Wiss. Philol. histor. Kl. 1914 S. 215f.) findet eine Entscheidung zugunsten des Maternus dadurch angedeutet, daß Secundus (c. 14, 2) dessen Rede als oratio, die des Aper als sermo

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Das ist höchst auffällig: Es wird ein Schiedsrichter eingesetzt, der nach anfänglicher Weigerung sein Schiedsrichteramt behält, aber schließlich doch nicht dazu kommt, es auszuüben. Offenbar handelt es sich um einen Kunstgriff des Tacitus: Die Streitfrage soll zunächst nicht entschieden und durch jenen Kunstgriff die Erwartung und Spannung des Lesers auf eine spätere Lösung erregt und wach gehalten werden. Das ist ganz in der Art des Tacitus, der auch in seinen großen Geschichtswerken an die Aufmerksamkeit und das Nachdenken seiner Leser die höchsten Anforderungen stellt. Tatsächlich erfolgt denn auch eine Beantwortung der früher offen gelassenen Frage später, zugunsten des Maternus, und zwar bezeichnenderweise durch Maternus selbst in seiner letzten Rede. Wenn er hier ausführt, daß bei der heutigen Beschaffenheit der politischen und gerichtlichen Verhältnisse eine wahrhaft große Beredsamkeit nicht mehr möglich sei, so ist es selbstverständlich, daß ein Redner, der sich zu dem Höchsten berufen fühlt, daraus die Konsequenzen zieht und sich einer anderen ihm gemäßen geistigen Tätigkeit zuwendet, wo die für die Beredsamkeit bestehenden Schranken nicht vorhanden sind, also z. B. der Dichtkunst. Und wenn, wie Maternus wiederholt in seiner letzten Rede und besonders in ihrem Schlußteil (c. 40, 2—41, 4) ausführt, jene große Beredsamkeit wenig erstrebenswert und nicht nur für den Staat, sondern auch für den Redner selbst schädlich und verhängnisvoll ist 1 , so wird gerade eine edle und hochgestimmte Natur ihre Kräfte an eine solche Kunst nicht verschwenden. Maternus spinnt an der genannten Stelle Gedanken weiter, die er früher schon angedeutet hatte und auf die damit zurückverwiesen wird: Im Einleitungsgespräch zum ersten Redepaar, c. 4, 2, nennt er die Dichtkunst eine heiligere und erhabenere Beredsamkeit (sanctiorem et augustiorem

eloquentiam);

und in

bezeichnet. Aber das geht höchstens auf den Stil, nicht, wie man in diesem Fall erwarten müßte, auf das Inhaltliche. 1 Vgl. c. 40, 4 sed nec tanti rei publicae Oracchorum eloquentia fuit, ut pateretur et leges, nec bene famarn eloquentiae Cicero tali exitu pensavit.

Der Dialoguö de oratoribus des Tacitus

25

seiner ersten Rede bezeichnet er (c. 12, 2), im Gegensatz dazu, die praktische Beredsamkeit als gewinnsüchtig (lucrosa) und blutdürstig (sanguinans), als eine Ausgeburt schlechter Sitten (ex malis moribus nata) und eine Waffe, die zum Angriff erfunden worden sei (in locum teli

reperta).

Die zweite Rede des Maternus beantwortet also nicht nur die Frage nach den tieferen Gründen des Verfalls der modernen Beredsamkeit, sie beantwortet gleichzeitig auch, von einer höheren Warte aus, die früher offengelassene Frage, ob es besser sei, sich als Redner oder Dichter zu betätigen. So erhält das Hauptthema inhaltlich eine enge Beziehung zu dem Nebenthema, und außerdem wird auch kompositionstechnisch zwischen beiden eine enge Verbindung hergestellt: Im Eingangsteil zum ersten Redepaar wird, wie wir sahen, die Spannung auf eine Lösung der hier aufgeworfenen Streitfrage künstlich erregt, aber nicht befriedigt; die Spannung wird auf diese Weise wach gehalten, bis der aufmerksame Leser in der Schlußrede des Maternus die Antwort erhält. Tacitus hat also bewußt und mit berechnender Kunst mit dem Hauptthema ein Nebenthema verknüpft und festgestellt, daß der Beruf des Dichters vor dem eines Redners den Vorzug verdient. Offenbar haben ihn dabei bestimmte Absichten geleitet; und wir müssen zum Schluß nun fragen, welches diese Absichten gewesen sind. Da ist zunächst von Wichtigkeit festzustellen, was nicht immer genügend beachtet worden ist 1 , daß Aper nicht die dichterische Tätigkeit an sich angreift; im Gegenteil, er hält die Beredsamkeit mit allen ihren Teilen (und die Dichtkunst ist für ihn nur ein Teil der Beredsamkeit, eine poetica eloquentia, im Gegensatz zur praktischen Beredsamkeit, der oratoria eloquentia2) für verehrungswürdig: und er wendet

sich daher nur gegen diejenigen, die, wie Maternus, große rednerische Fähigkeiten besitzen, aber die Beredsamkeit zugunsten der Dichtkunst vernachlässigen. Tacitus hat das wieder1 2

Richtig Stroux, Philol. 86, 1931, 339f. Vgl. c. 10, 4 mit 5, 3—4.

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holt und eindringlich betont (c. 5, 3—4; c. 10, 3—5; c. 11, 1). Nun war Tacitus selber einer der namhaftesten Redner seiner Zeit. Aber nach dem Tod Domitians wandte er in immer stärkerem Maße sich von der Beredsamkeit ab und der Geschichtsschreibung zu. Zunächst erschienen von ihm zwei kleinere historische Schriften, der Agricola i. J. 98, zu Beginn der Regierung Trajans, und bald darauf die Germania. Dann nahm Tacitus offenbar die Vorarbeiten zu seinem ersten größeren Werk, den Historien, in Angriff 1 , die etwa seit 105 sukzessiv veröffentlicht wurden, und zwar zunächst die beiden ersten Bücher 2 . Mommsen hat in einer berühmten Abhandlung „Zur Lebensgeschichte des jüngeren Plinius" darauf hingewiesen3, daß Tacitus in den ersten vier Büchern der Briefsammlung des jüngeren Plinius, d. h. ungefähr bis zum Jahr 105, „durchaus nur als berühmter Redner" erscheint; in den späteren Büchern dagegen begegnet er nur noch als Historiker und Verfasser der Historien. Wir müssen also annehmen, daß er bald nach der Jahrhundertwende die rednerische Tätigkeit aufgegeben und sich ausschließlich der Geschichtsschreibung zugewandt hat. Wie Maternus im Dialogus (c. 11,3 13,5—6; vgl. auch c. 3, 4) entschlossen ist, die Beredsamkeit zugunsten der Dichtkunst aufzugeben, so hat auch Tacitus sich von der Beredsamkeit ab- und ausschließlich zwar nicht der Dichtkunst, sondern der Geschichtsschreibung zugewandt, die nach der Auffassung der damaligen Zeit mit der Dichtkunst eng verwandt 4 und wie diese eine Form der Beredsamkeit ist 5 . Aber damit ist über die Beziehungen zwischen der Persönlichkeit des Maternus und Tacitus noch nicht das Letzte und Wich1 E r hatte sie Agr. 3, 3 schon angekündigt; die spätere Ausführung fiel aber dann anders aus, als ursprünglich geplant war. 2 Fr. Münzer, Klio 1, 1901, 313fl. 3 Jetzt Ges. Sehr. I V 440f.; vgl. auch Münzer, a. a. O. 328. 1 Quint. 10, 1, 31 est enim (historia) proxima poetis et quodam modo Carmen solutum. 5 Schon f ü r Cicero war die Geschichtsschreibung ein opus oratorium maxime ( D e leg. 1, 5).

Der Dialogua de oratoribus dps Tacitus

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tigste gesagt. Nach Maternus ist die Dichtkunst etwas Besseres und Höheres als die Beredsamkeit. Wir dürfen ohne weiteres annehmen, und es wird sich sogleich bestätigen, daß dies nach der Auffassung des Tacitus auch für die Geschichtsschreibung gilt. Das führt uns auf die politischen Überzeugungen der beiden Männer und die Ziele, die der eine mit der Dichtkunst, der andere mit der Geschichtsschreibung verfolgte. Die letzte Rede des Maternus enthält zugleich auch bis zu einem gewissen Grad ein politisches Glaubensbekenntnis. Immer wieder wird hier betont, daß die Demokratie und ihre hemmungslose Freiheit und Zuchtlosigkeit, die den Nährboden für eine große Beredsamkeit abgeben, keineswegs segensreich und wünschenswert sind: c. 36, 4; 37, 5. 6; 38, 1; 40, 2—41, 4. Dagegen werden die Segnungen der Monarchie mit Wärme gepriesen (c. 38, 1; 40, 2—41, 4; vgl. auch c. 37, 5). Das ist von Maternus durchaus ernst gemeint, enthält aber nicht die ganze Wahrheit. Denn derselbe Maternus weiß, daß in der alten Republik nicht alles schlecht war und daß andererseits die Gegenwart manches zu wünschen übrig läßt. Sehr bezeichnend in dieser Hinsicht sind seine an Messala c. 27, 3 gerichteten Worte: Perge . . . et cum de antiquis loquaris, utere antiqua libertate, qua vel magis degeneravimus quam ab eloquentia. Der Freimut der alten Zeiten ist heute also weitgehend abhanden gekommen: natürlich eine Folge des politischen Systems, das Schmeichelei begünstigt 1 , freie Meinungsäußerung dagegen erschwert und gefährdet, wenn nicht unmöglich macht. So sind denn auch die Freunde des Maternus besorgt, er möchte durch die Rezitation seines Cato bei den Mächtigen Anstoß erregt haben (c. 2—3, 2) und durch seine dichterische Tätigkeit seine Sicherheit gefährden (c. 10, 5—8). 1 Die Hist. 1, 15, 4 von Galba an Piso gerichteten Worte sind gewiß im Sinne des Tacitus gesprochen: jidem libertatem amicitiam, praecipua humani animi bona, tu quidem eadern constantia retinebis, sed alii per obsequium imminuent: inrumpet adulatio, blanditiae, pessimum veri affectus venenum, sua cuique utilitas. etiarn (si) ego ac tu simplicissime inter nos hodie loquimur, ceteri libentius cumfortuna nostra quam nobiscum; nam suadere principi quodoporteat multi laboris, adsentatio erga quemcumque principem sine affectu peragitur.

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Maternus bejaht also die bestehende Regierungsform, kennt aber auch ihre Gefahren und Gebrechen. Und er ist daher bemüht, diesen durch seine Dichtungen (Prätexten und Tragödien) zu begegnen und an seinem Teil dazu beizutragen, die Mißstände der Gegenwart zu beseitigen und den mangelnden Freiheitssinn seiner Mitbürger zu wecken. In dieser Absicht schrieb er offenbar seinen Cato (c. 2, 1), den er als exemplum altrömischer virtus und libertas verherrlicht haben wird; in dieser Absicht auch seinen Domitius 1 (c. 3, 4), der unentwegt für die Freiheit gekämpft und schließlich sein Leben gelassen hatte. Wie Maternus durch die rühmlichen Beispiele seines Cato und Domitius zur virtus und libertas aufrief 2 , so scheint er in seinem Nero 3 , unmittelbar nach dem Tode des Kaisers, dessen verkommenes Regime und das verbrecherische Treiben seines Günstlings Vatinius gebrandmarkt und den Sturz des letzteren herbeigeführt zu haben. Und nun Tacitus. Wenn er Agr. 2, 3 bemerkt: et sicut vetus aetas vidit quid ultimum

in libertate

esset, ita nos quid in

Servitute,

so darf man aus dieser Bemerkung, die eine gewisse Bitterkeit nicht verkennen läßt, entnehmen, daß die Zügellosigkeit (licentia Dial. 40, 2) der ausgehenden Republik ebensowenig nach seinem Sinne war, wie die servitus unter despotischen Kaisern. Und so wird denn Ann. 1, 2 ein vernichtendes Urteil über die Zus t ä n d e der R e p u b l i k gefällt (suspecto senatus populique ob certamina potentium et avaritiam magistratuum,

imperio invalido

1 Mir ist sicher, daß nicht der Sohn, sondern der Vater, L. Domitius Ahenobarbus, gemeint ist. Ein erbitterter Gegner Caesars, wurde er von diesem in Corfinium gefangengenommen und freigelassen, nahm aber den Kampf wieder auf und organisierte den Widerstand gegen Caesar in Massilia. Von dort vor Einnahme der Stadt entkommen, floh er nach dem Osten zu Pompeius, nahm an der Schlacht bei Pharsalus teil und wurde unmittelbar nach der Schlacht von Caesars Reitern erschlagen. Er war, wie es scheint, in Rom sehr beliebt und angesehen (Caes. B. civ. 3, 83, 2), und Lucan widmet ihm 7, 599 ff. einen ehrenvollen Nachruf. 2 Ähnliche Ziele verfolgte er offenbar auch in seiner Tragödie Thyestes (c. 3,3). Auch in der Medea (3, 4) dürften tendenziöse Absichten nicht gefehlt haben. 3 c. 11, 2. Siehe Anhang III.

legum auxilio,

Der Dialogus de oratoribus des Tacitus

29

quae vi ambitu,

ein

postremo

pecunia

turbabantur),

Urteil, das Ann. 3, 27 f. wiederholt und weiter ausgeführt wird. Daher war nach der Auffassung des Tacitus die Monarchie, die Frieden und Eintracht, Zucht und Ordnung brachte, eine Notwendigkeit; sie lag im Interesse der pax: Nach Actium omnern potentiam

ad unum

conferri

pacis

interfuit

(Hist. 1 , 1 , 1 ) .

Und

Hist. 1,16, 1 läßt Tacitus, gewiß seiner eigenen Anschauung entsprechend, den greisen Galba den Ausspruch tun: Si immensum

imperii

corpus

stare ac librari

eram a quo res publica

inciperet.

sine rectore posset,

dignus

Aber Tacitus waren, genau

wie Maternus, die Schattenseiten der Monarchie nicht verborgen. Liberias ist unter ihr selten, und nur unter guten Kaisern möglich. So heißt es Agr. 3, 1: Nerva, dessen glückliche Zeiten Trajan täglich noch mehre, habe das ehedem Unvereinbare, Prinzipat und Freiheit, miteinander vereinigt; und Hist. 1, 1, 1, also unter Trajan, schreibt Tacitus, das gegenwärtige Glück der Zeiten sei selten, ubi sentire quae velis et quae sentias

dicere licet.

A u c h die virtus,

mannhafte Tüchtigkeit und

unerschrockener Mannesmut, ist zwar unter der Monarchie nicht unmöglich, aber ihre Betätigung erschwert. Das erste Kapitel des Agricola schließt mit dem bitteren Satz: Tarn saeva et infesta

virtutibus

tempora,

w o b e i m i t tempora

die G e g e n w a r t ge-

meint ist. Und Hist. 1 , 2 , 3 heißt es in einer allgemeinen Charakteristik der in den Historien beschriebenen Zeitspanne: atrocius in urbe saevitum: nobilitas, opes, omissi gestique honores pro crimine, et ob virtutes certissimum exitium. Gleichwohl f e h l t e es d a m a l s nicht a n Beispielen v o n virtus: non tarnen adeo virtutum sterile saeculum, ut non et bona exempla prodiderit: comitatae profugos Uberos matres, secutae maritos in exilia coniuges; propinqui audentes, constantes generi, contumax etiarn adversus tormenta servorum fides; supremae clarorum virorum necessitates, ipsa necessitas fortiter tolerata et laudatis antiquorum mortibus pares

exitus (Hist. 1, 3, 1). Denn auch unter schlechten Kaisern ist virtus, wenn auch unter erschwerenden Umständen, möglich: sciant,

quibus

moris

est illicita

mirari,

posse

etiam

sub

malis

30

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principibus magnos viros esse (Agr. 42, 4). Ein Beweis für diesen Satz ist Agricola, der, obwohl unter Domitian tätig, durch seine virtutes reichen Ruhm erntete (Agr. c. 41, 4; 44, 3; 46, lf.). Da also unter der Monarchie die Betätigung der virtutes so schwer gemacht wird, sieht Tacitus seine Hauptaufgabe als Historiker darin, erzieherisch für die virtus zu wirken. Er spricht das programmatisch aus an einer berühmten Stelle der Annalen (3, 65): praecipuum munus annalium reor, ne virtutes sileantur, utque pravis dictis factisque ex posteritate et infamia metus sit. D. h. der Historiker will zur virtus anfeuern, indem er Mannesmut und Tüchtigkeit, in Krieg und Frieden, in helles Licht rückt und nicht der Vergessenheit anheimfallen läßt, und andererseits von der Schlechtigkeit abschrecken, indem er die prava dicta fadaque anprangert und damit Furcht vor Schande bei der Nachwelt erweckt. Tacitus verfolgte also mit seinen historischen Werken ein ähnliches Ziel wie Maternus mit seinen Dichtungen. Die Parallele zwischen beiden Männern ist unverkennbar. Nicht nur daß beide gleiche oder ähnliche politische Anschauungen haben und die Tendenz ihrer Werke nach der gleichen Richtung weist: beide geben auch die Beredsamkeit auf, um sich einer erhabeneren und edleren Kunst zu widmen. Dazu kommt, daß Tacitus dem Maternus in seiner letzten Rede seine eigenen Ansichten über den Verfall der Beredsamkeit in den Mund legt. Kein Zweifel, daß Tacitus sich hinter Maternus verbirgt und unter dessen Maske auch das persönliche Anliegen seines Berufswechsels zur Sprache bringt, wobei natürlich im Dialog an die Stelle der Geschichtsschreibung die Dichtkunst treten mußte. Die Gründe, die Tacitus zur Abkehr von der Beredsamkeit veranlaßten, hängen so eng zusammen mit den Gründen, die nach seiner Ansicht den Niedergang der Beredsamkeit verschuldet hatten, daß die ersteren von den letzteren sich nicht trennen ließen. Das veranlaßte ihn, beide zusammen in einer Schrift zu behandeln: so erklärt sich im Dialog das auffällige Nebeneinander von zwei verschiedenartigen Themen.

Der Dialogus de oratoribus des Tacitus

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Es waren, dürfen wir jetzt rückschauend noch einmal feststellen, zwei Motive, die in Tacitus den Entschluß reifen ließen, den Dialogus zu schreiben. Erstens der Wunsch, zu der Antwort Quintilians Stellung zu nehmen, die dieser in seiner Schrift De causis corruptae eloquentiae auf die Frage nach den Gründen des Verfalls der modernen Beredsamkeit gegeben hatte: Tacitus hielt diese Antwort für ebenso verfehlt wie Quintilians in der Institutio oratoria vertretene Auffassung vom Wesen und Nutzen der Beredsamkeit 1 . Und zweitens wollte Tacitus sich und anderen über seine Abkehr von der Beredsamkeit zugunsten der Geschichtsschreibung Rechenschaft ablegen: Höchstleistungen sind in der ersteren heute nicht mehr möglich; und die Geschichtsschreibung ist eine Kunst höheren Ranges und vermag segensreicher zu wirken als die Beredsamkeit. Mit den beiden Zielsetzungen des Dialogs ist auch seine Abfassungszeit gegeben. Es ist eine alte Streitfrage, ob er unter Titus oder erheblich später, nach Domitian und nach dem Agricola und der Germania, entstand. Die letztere Auffassung hat unsere Untersuchung als richtig erwiesen. Man ist heute allerdings geneigt, den Dialog möglichst nahe an Agricola und Germania heranzurücken. Aber höchstwahrscheinlich muß man etwas weiter heruntergehen. Es spricht alles dafür, daß Tacitus in einer besonderen Schrift sich erst dann öffentlich von der Beredsamkeit losgesagt und zu dem neuen Beruf als Historiker bekannt hat, nachdem er hier durch eine besondere Leistung sich bereits ausgewiesen hatte. Das war aber erst der Fall, nachdem er mindestens die beiden ersten Bücher der Historien veröffentlicht hatte, die gewiß größtes Aufsehen und Bewunderung erregten. Es ist bedeutsam, daß auch Maternus sich von der Beredsamkeit erst lossagte, nachdem sein Dichterruhm sein 1 Quintilian bekämpft 2, 16, 1 die Ansiebt derer, die, wie Maternus-Tacitus, die Beredsamkeit für eine verderbliche und wenig erstrebenswerte Kunst halten; er sieht vielmehr in ihr, mit Cicero, ein opus maximum et pulcherrimum (2. 17, 3) und ist der Überzeugung, sie sei das Beste, was die Götter den Menschen geschenkt hätten (2, 16, 17 12, 11, 30).

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Ansehen als Redner bereits überflügelt hatte (c. 11, 2f.). Demnach dürfte der Dialogus eher bald nach als vor 105 entstanden sein. Auch Klingner hat ihn in seinem bekannten Aufsatz über Tacitus 1 , von einem anderen Aspekt aus, in das 1. Jahrzehnt des 2. Jahrhunderts und in unmittelbare Nähe der Historien gerückt. 1

Jetzt in: Rom. Geisteswelt 329f.

Anhänge I U m f a n g der Lücke Ende c. 35 (zu S. 4,1. 7) Ich hatte seinerzeit (Rhein. Mus. 68, 1913, 279ff., 638f. und dann in der Festschrift für Walther Judeich 1929, S. 81 ff.) den Umfang der Lücke auf l 1 ^ folia, d. h. 1/12 des Dialogs, berechnet. Man hat aber meine Berechnung entweder überhaupt nicht beachtet, oder mit leichter Hand und ohne sie gehörig zu prüfen, abgelehnt. Und doch ist es für ein tieferes Verständnis des Dialogs von größter Wichtigkeit, ob die Lücke 6 folia betrug, wie Gudeman, auf einer Notiz Decembrios fußend; annahm, oder, nach meiner Annahme, nur P/ 2 folia. Es scheint mir daher nicht überflüssig, meine Auffassung noch einmal ausführlicher darzulegen und zu begründen. Der Text unserer Handschriften des Dialogus geht bekanntlich zurück auf einen jetzt verlorenen codex Hersfeldensis, den Henoch von Ascoli, wie Jovianus Pontanus 1460 im codex Leidensis XVIII Perizonianus ausdrücklich bemerkte1, nach Italien gebracht hat. Um die (zahlenmäßigen) Angaben unserer Handschriften über die Lücke richtig zu deuten, ist es von Wichtigkeit, ihr Abhängigkeitsverhältnis vom Hersfeldensis festzustellen2. Von einer Abschrift des Hersfeldensis (X) hängen ab A und B dergestalt, daß X von A direkt benutzt wurde, von B über den Umweg einer verlorenen Abschrift des Pontanus, 1 Seine beiden diesbezüglichen Bemerkungen sind abgedruckt z. B. von Wissowa in der Vorrede zur faksimilierten Ausgabe dieses Kodex, Lugd. Batav. A. W. Sijthoff 1907 p. IV. 2 Ich verwende im folgenden die von Gudeman in seiner 2. Ausgabe des Dialogus (1914) gebrauchten Sigla, da sein kritischer Apparat, wenn auch nicht immer zuverlässig, so doch erheblich ausführlicher ist als der von Koestermann.

B a r w 1 c k , Der Dialogus

3

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die dieser seinerseits aus X genommen hatte. In A heißt es, am Rand, über die Lücke: hic desunt sex pagelle; in B, ebenfalls a m R a n d : deerant

in exemplari

sex pagellae

vetustate

consumptae.

Demzufolge waren in X sex pagellae als Lücke angegeben. Die übrigen für die Rezension in Betracht kommenden Handschriften (CDzlEV) sind von X unabhängig. Darüber besteht heute kein Zweifel. Aber es ist umstritten, ob sie eine (Y) oder zwei Abschriften (Y und Z) des Hersfeldensis repräsentieren. Die erstere Auffassung vertrat Scheuer, Bresl. philol. Abh. VI 1 (1893). Er nahm an, daß CD/1 auf ein Archetypon (y2), auf ein anderes Archetypon (yx) E V zurückgehen, und daß die beiden Archetypa ihrerseits Y als Vorlage gehabt hätten. Dagegen sucht Gudeman 128ff. nachzuweisen, daß CD/1 undE V aus je einer Abschrift des Hersfeldensis, Y und Z, kopiert seien. Ich halte diese Auffassung für richtig1. Denn einige wichtige Stellen (es genügt, zwei herauszugreifen), die übrigens Gudeman nicht herangezogen hat, setzen die Richtigkeit jener Auffassung außer Zweifel: c. 2, 8 (die Ziffer nach dem Komma bedeutet die Zeilenzahl in der Ausgabe von Gudeman) arcana semotae dictionis

A B C D J

archana

. . . ditionis

E (die A n g a b e n v o n

Gudeman sind ungenau) archana eruditionis V. Im Hersfeldensis stand, offenbar richtig, arcana semotae dictionis. Die Abschriften X und Y haben ihre Vorlage korrekt wiedergegeben. Im Hersfeldensis war semotae zweifellos schlecht zu lesen; daher hatte es der Schreiber von Z, unter Angabe einer Lücke, ausgelassen, außerdem dictionis fälschlich durch ditionis wiedergegeben. Der Kopist von E hat seine Vorlage getreulich abgemalt, der von V dagegen den Versuch gemacht, die Lücke auszufüllen und eruditionis geschrieben. Ähnlich liegen die Dinge c. 1, 13: 1

Andresen, Wochenschr. f. klass. Phil. 17 (1900) nimmt in der Frage eine widerspruchsvolle Stellung ein: S. 702 behauptet er, die These von Scheuer bedürfe „noch einer eingehenderen Begründung und Durchführung im einzelnen". Dagegen heißt es S. 781: es sei „wohl kein Zweifel, daß Scheuer Recht hat, wenn er behauptet, daß er (A) mit C D zusammen einen besonderen Zweig der Y-Klasse bildet (y2), während E V den anderen Zweig dieser Klasse repräsentieren (y x )".

Der Dialogus de oratoribus des Taoitus

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diversas vel easdem sed A B C D diversas . . . dem sed E (die Angaben bei Gudeman falsch) diversas quidem sed V. Der Tatbestand an den beiden genannten Stellen ist nur verständlich, wenn E V nicht auf die gleiche Abschrift des Hersfeldensis wie C D A zurückgehen, sondern wenn beide Gruppen, E V und C D A, von je einer besonderen Abschrift, Y und Z, abhängen. Nun machen die Handschriften der Y-Klasse keine zahlenmäßigen Angaben über die Lücke. Sie fehlten also auch in Y selbst. Anders die beiden Handschriften der Z-Klasse. In E und V findet sich die gleichlautende Notiz 1 : hic est defectus unius folii cum dimidio. In der Abschrift Z des Hersfeldensis war also die Lücke mit 1x / 2 folia angegeben. Der Widerspruch in den Angaben von X (sex pagellae) und Z ( l 1 ^ folia) ist nur scheinbar, wenn man bedenkt, daß der Hersfeldensis in Kolumnen geschrieben war. Offenbar hat der Schreiber von X pagella = Kolumne verstanden 2 , so daß sex pagellae = l 1 / 2 folia sind. 1 Nach Gudeman, Nachträge S. 138, stammt sie in E von zweiter Hand, nach seinem kritischen Apparat zu c. 35, 19 dagegen nicht. Zweifellos liegt an der ersteren Stelle ein Versehen Gudemans vor. Dafür spricht, daß die Notiz auch in V von erster Hand ist und daß, wenn der kritische Apparat zu c. 35, 19 fehlerhaft war, Gudeman Gelegenheit hatte, ihn im Nachtrag zu korrigieren, was er aber nicht getan hat. Wenn Gudeman ferner (im Apparat zu c. 35, 19) bemerkt, daß die Notiz auch in V von zweiter Hand stamme, so ist das evident falsch. Der codex ist, wie Ed. Philipp, Wien. Stud. 11, 1889, 288 ff. festgestellt hat, i. J . 1466 von Hugo Haemste geschrieben; und von ihm stammt auch, wie Philipp ausdrücklich betont, jene Notiz. Auch Hümer, der zuerst auf die Handschrift aufmerksam gemacht (Zeitschr. f. österr. Gymn. 29, 1878, 803) und Scheuer, der a. a. O. 41 ff. die erste (und m. W. letzte) Kollation des Vindobonensis vorgelegt hat, wissen nichts von einer zweiten Hand. Ich habe selber 1928/29 den codex eingesehen und ebenfalls festgestellt, daß die Notiz von der ersten Hand herrührt. Fol. 227 ist unbeschrieben (ungenau Hümer, der S. 803 von l 3 / 4 folia spricht). Nur am Anfang von 227r stehen noch die Worte in scola cotidie agitur in foro vel raro vel numquam ingentibus verbis prosequuntur. cum ad veros iudices ventum (sie füllen 2 Zeilen), der ganze Best der Seite ist frei, ebenso f. 227 v . Es stehen hier nur, rechts unten am Rand (daher ist die Tinte ein wenig verblaßt), die Worte hic e defect'uni' folii cum dimidio. 2 Wer, wie Gudeman S. 138, das nicht glaubt, muß nach Lage der Dinge beweisen, daß ein humanistischer Schreiber pagella oder pagina im Sinne von Kolumne nicht gebrauchen konnte. Bekanntlich bedeutete im Altertum

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Der Umfang der Lücke betrüge demnach sex pagellae = l 1 / 2 folia. Damit steht aber in Widerspruch eine Notiz Decembrios, die Sabbadini (Riv. di filol. 29, 1901, 262) aus dem codex Ambrosianus R 88 sup. ans Licht gezogen hat. Sie enthält eine Beschreibung des Hersfeldensis, derzufolge die Lücke 6 folia betrug. Man nimmt gewöhnlich an, Decembrio habe den codex selber eingesehen. Aber die Worte, mit denen er seine Besohreibung einleitet, sprechen dagegen; sie lauten: Cornelii taciti Uber reperituv Rome visus 1455 de origine et situ Germanie eqs. Decembrio bemerkt hier nur, daß man den Uber in Rom gesehen, aber nicht, daß er ihn' gesehen habe. Man muß also vermuten, daß die Notiz Decembrios sich auf eine Inhaltsangabe des codex^und nicht auf diesen selber stützt. Wie dem aber auch sei, die Lückenangabe Decembrios muß irrtümlich sein. Denn zwei ^voneinander unabhängige Zeugen, die beide den codex selber eingesehen hatten, die Schreiber von X und Z, stehen gegen den einen Decembrio. Daher erschien es mir früher und erscheint es mir heute absolut sicher, daß die Lücke 6 pagellae = l1/2 folia betrug und daß die 6 folia bei Decembrio auf irgendeinem Irrtum beruhen 1 . Daß dem wirklich so ist, wird bestätigt durch ein anderes Zeugnis, das von Decembrio ebenso wie von X und Z unabhängig ist. Es handelt sich um eine Inhaltsangabe des Hersfeldensis, die letzten Endes zurückgeht auf ein Inventarium, das ein Hersfelder Mönch Poggio pagina das, was wir heute Kolumne nennen (vgl. Mommsen, Herrn. 2, 1867, 1 1 6 , 2 ; Birt, Kritik und Hermeneutik 297 und Das antike Buchw. 255). Das war den Humanisten natürlich bekannt; und es lag daher für sie nahe, das Wort in dem gleichen Sinn zu verwenden. 1 Gudeman bemerkt S. 137: „Der Verlust von sex folia, den Decembrio für die erste Lücke angibt, muß im codex bereits vermerkt gewesen sein, denn sonst hätte diese Notiz nicht in mehrere Hss. übergehen können." Die konfuse Bemerkung ist kaum verständlich: In welche Handschriften ist denn die Notiz des Decembrio übergegangen ?! Daß vielmehr im Hersfeldensis keine zahlenmäßigen Angaben über den Umfang der Lücke gemacht waren, darf man daraus entnehmen, daß X und Z zwar inhaltlich gleich, aber dem Wortlaut nach verschieden darüber berichtet und Y keine zahlenmäßigen Angaben gemacht hatte.

Der Dialogus de oratoribus des Tacitus

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gesandt hatte; vgl. Jacobs, Wochenschr. f. klass. Philol. 30, 1913, 701 f., außerdem noch z. B. Gudeman 135f. und Till, Handschr. Untersuchungen zu Tac. Agricola und Germania 3 ff. Nach jenem Inventar enthielt der Hersfeldensis die Germania auf 12 folia, den Agricola auf 14 folia, den Dialogus auf 18 folia, außerdem Suetons Schrift De grammaticis et rhetoribus auf 7 folia. Diese Angaben stimmen mit denen des Decembrio überein, nur beim Dialogus weichen sie voneinander ab. Nach dem Hersfelder Inventar betrug sein Umfang 18 folia, nach Decembrio dagegen 14 folia vor der Lücke + 6 folia Lücke + 21/2 folia nach der Lücke. Das sind also, die Lücke mitgerechnet, 221/a folia und ohne die Lücke 161/2 folia. In beiden Fällen steht die Angabe Decembrios mit der des Hersfelder Inventars in Widerspruch. Gudeman sucht diese für ihn sehr unbequeme Tatsache (S. 137) folgendermaßen zu erklären. Er nimmt nach c. 40, 6 den Ausfall eines Blattes an, das zur Zeit, als das Hersfelder Inventar abgefaßt wurde, noch vorhanden, später aber, als Decembrio den Hersfeldensis „las und genau beschrieb", verschwunden gewesen sei. Aber die Annahme eines Blattausfalles ist nicht nur unbewiesen, sondern auch durchaus unwahrscheinlich und wird heute allgemein abgelehnt. Aber selbst wenn man den Ausfall eines Blattes zugeben würde, betrüge der Umfang des Dialogus, die Lücke nicht mitgerechnet, nur ll1^, nicht 18 folia. Betrug dagegen die Lücke nicht 6, sondern die von mir erschlossenen F/ 2 folia, so setzte sich der Hersfeldensis zusammen aus 14 + l 1 ^ + 21/2 = 18 folia', das deckt sich genau mit der Angabe des Hersfelder Inventars. Daraus ergibt sich zugleich, daß die F/g folia im Hersfeldensis nicht gefehlt haben können: Fol. 15 und die erste Seite von fol. 16 waren irgendwie schwer mitgenommen und daher nicht mehr zu entziffern. Und die 21/2 folia am Schluß füllten die Rückseite von fol. 16 und fol. 17—18 aus. Nach alledem dürfte es über jeden Zweifel erhaben sein, daß die Lücke im Hersfeldensis l 1 ^ folia, d. h. x/12 des Werkes, betrug. —

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Zum Schluß sei noch bemerkt, daß in E der Umfailg der Lücke, außer durch die Bemerkung hic est defectus unius folii cum dimidio, auch noch wie folgt angegeben wird: in exemplari dicitur deesse sex paginas. Daß mit diesen 6 paginae Kolumnen gemeint sind, kann nach den obigen Ausführungen nicht mehr zweifelhaft sein. Aber wo hat der Schreiber von E diese Angabe her ? Zunächst könnte man daran denken, daß in Z die Lücke in doppelter Weise, in paginae und folia, angegeben war. Dagegen spricht aber die eigenartige Umschreibung durch dicitur deesse. Sie läßt darauf schließen, daß der Schreiber von E seine Notiz nicht aus Z, sondern von irgendwo anders her bezogen hat. Möglicherweise war ihm bekannt, daß in einer Inhaltsangabe des Hersfeldensis, vielleicht der gleichen, die Decembrio vorgelegen hatte, der Umfang der Lücke mit 6 paginae beziffert war; auf diese Weise würde sich das unbestimmte dicitur deesse gut erklären. Es ist aber auch möglich, daß E seine Notiz in Anlehnung an B oder dessen Vorlage, die Abschrift des Pontanus, frei formuliert hat. Für diese Annahme, die ich früher vertrat, und die ich auch heute noch für die wahrscheinlichste halte, kann geltend gemacht werden, daß hier wie dort das Verbum desum und der Ausdruck in exemplari verwandt werden und daß eine Benutzung von B bzw. dessen Vorlage durch E auch im übrigen zum mindesten sich wahrscheinlich machen läßt. Es gibt fünf Stellen, wo E, gegen alle übrigen Handschriften, zusammen mit B allein das Richtige gibt. Dabei hat der Schreiber von E, mit einer einzigen Ausnahme, die falsche Lesung der übrigen Handschriften zunächst beibehalten, dann aber ver_bessert: 5, 18 factaque B E : fataque m 16, 5 si illud B illud E si supra v.: illud co 17, 1 Menenium B me nimium E in marg. Menenium: me nimium co 19,13 videretur B vide re tur E: videtur co 30, 3 notitia corr. B E ex notitiam: notitiam a».

Der Dialogus de oratoribus des Tacitus

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Dazu kommt eine Stelle, wo zu B E noch eine der interpolierten Handschriften, H, tritt: 28, 7 iam in B E H: in om co. Ferner noch eine Stelle, wo E mit A B, gegen Y und V, das Richtige überliefern: 21, 19 eloquentia A B E : eloquentiam co. Man könnte gegen eine Benutzung von B bzw. dessen Vorlage durch E einwenden, daß sein Schreiber paginae aus den pagellae gemacht habe. Aber eine ähnliche Ungenauigkeit liegt auch im Venetus vor. Er bemerkt zur Lücke: hic deficiunt quatuor parve pagelle. Die Notiz stammt offenbar aus einer Handschrift der X-Gruppe, wobei der Schreiber IV statt VI gelesen und parvae pagellae aus den pagellae gemacht hat. Aber mag man auch über die Herkunft der Notiz in E denken wie man will, die oben durchgeführte Berechnung der Lücke auf l x / 2 folia wird dadurch in keiner Weise fraglich gemacht. II Q u i n t i l i a n 10,5, 14—16 und T a c . Dial. c. 14 (zu S. 13, 2) Quintilian erörtert 1 0 , 5 die Frage, wie man sich durch schriftliche Arbeiten üben und als Redner vervollkommnen müsse. Dabei empfiehlt er u. a., § 14, auch Deklamationen, vorausgesetzt, daß sie der Wirklichkeit angepaßt und den Reden der Praxis ähnlich seien. Man solle aber auch, heißt es dann § 15f. weiter, zur Übung seines Stils Geschichtswerke, Dialoge, ja selbst Gedichte schreiben. So habe Cicero durch die Abfassung auch solcher Werke seiner Beredsamkeit einen so großen Glanz verliehen. Tacitus hat (c. 14) diese Anregungen Quintilians aufgegriffen, um zu seinem Hauptthema überzuleiten. Messala erklärt bei seinem Auftreten: Störe ich etwa durch mein Kommen ? Darauf Secundus: Keineswegs, ich wünschte, du wärest noch früher gekommen, denn du hättest an der Rede des Aper, durch die er Maternus veranlassen wollte, sein Talent und seinen Fleiß ganz in den Dienst der Beredsamkeit zu stellen, und an der des Maternus, in der er für seine dichterische Tätigkeit

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eintrat, deine Freude gehabt. Messala antwortet: Gewiß hätte mich euer Gespräch selbst (d. h. sein Inhalt) erfreut, und schon die Tatsache macht mir Vergnügen, daß ihr euch nicht nur durch Deklamationen übt, sondern auch solche Gespräche führt, die den Geist bilden und euch und anderen Genuß bereiten. Daher findet deine Biographie des Julius Africanus, bemerkt er an Secundus sich wendend, nicht weniger Beifall als die Deklamationen des Aper, die er noch nicht aufgegeben hat und mit denen er seine Muße nach der Gepflogenheit der modernen Redner lieber ausfüllt als nach der der alten Redner. Offenbar läßt Tacitus Messala, wie später in seiner zweiten Rede so auch schon hier, Gedanken Quintilians wiedergeben und empfiehlt, im Anschluß an dessen oben genannte Stelle, nach dem Vorbild der Alten (Ciceros) zum Zwecke der Übung auch schriftstellerisch sich zu betätigen. Aper dagegen, der Wortführer der Modernen, beschränkt sich auf Deklamationen, was von den Modernen natürlich ebenso gebilligt wird, wie von den andern, d. h. von Quintilian und seinen Anhängern, der von Messala vertretene Standpunkt. Die Einfügung von improbari vor in Apro in § 4 entspricht also, wie nebenbei bemerkt sei, nicht dem Sinn der Stelle.

III D i e N e r o - T r a g ö d i e des M a t e r n u s (zu S. 28) Nach c. 11, 2 hat Maternus auch eine Praetexta mit dem Titel Nero geschrieben, die, wie wir oben festgestellt haben, zu den Tendenzen seiner dramatischen Tätigkeit vortrefflich paßt. Leider ist der Text nicht intakt und seit langem umstritten. Ich will nicht die zahlreichen Verbesserungsvorschläge besprechen und begnüge mich, kurz auf die Behandlung der Stelle durch.Stroux (Philol. 85, 1931, 338ff.) einzugehen. Vor allem erregte et vor ingredi Anstoß, und daher hatte Lipsius vor hodie ein et eingefügt, so daß nun die beiden et einander entsprechen. Die Ergänzung wurde bis in die neueste Zeit von allen Herausgebern aufgenommen. Dagegen hält Stroux sie für überflüssig

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und setzt vor et ingredi einen Punkt; außerdem schreibt er statt des überlieferten in Nerone1, nach dem Vorgang anderer, im(perante) Nerone. Der Text lautet also nach Stroux folgendermaßen: ego autem sicut in causis agendis efficere aliquid et eniti fortasse possum, ita recitatione tragoediarum. et ingredi famam auspicatus sum, cum quidem im (perante> Nerone improbam et studiorum quoque sacra profanantem Vatinii potentiam fregi: hodie si quid in nobis notitiae ac nominis est, magis arbitror carminum quam orationum gloria partum. Die Argumente, mit denen Stroux seine Textgestaltung zu begründen sucht, sind nicht durchschlagend, und darüber hinaus sprechen gegen sie Bedenken formaler und sachlicher Art. Zunächst ein formales Bedenken: Nimmt man nach tragoediarum Satzschluß an, so klappt das letzte Glied des Satzes in matter und kaum erträglicher Weise nach. Man erwartet etwa: ego autem sicut in causis agendis, ita recitatione tragoediarum efficere aliquid et eniti fortasse possum. Und nun das Sachliche. Ergänzt man im (perante >, so muß sich der Satz et ingredi — fregi, wie natürlich auch Stroux annimmt, auf eine Rede des Maternus beziehen. Ein solcher Bezug ist aber ganz unwahrscheinlich, weil es kaum glaubhaft ist, daß Maternus es zu Lebzeiten Neros gewagt hat, in einer Rede dessen Günstling so nachdrücklich anzuprangern, daß dadurch, trotz des Schutzes von höchster Stelle, sein Sturz herbeigeführt wurde. Ferner: Bezöge sich jener Satz auf eine Rede des Maternus, so wäre der Sinn von c. 11, 2 folgender: Ich kann vielleicht wie als Redner so auch als Tragiker etwas leisten. Und meinen ersten Ruhm habe ich durch eine Rede unter Nero geerntet: heute bin ich aber durch meine Tragödien berühmter als durch meine Reden. Dieser Gedankengang ist in doppelter Hinsicht auffällig: Erstens sollte man meinen, daß, wenn Maternus zuerst durch eine Rede berühmt wurde, dies für ihn ein Ansporn gewesen wäre, sich um so eifriger der Beredsamkeit zu widmen. Zu unserer größten Über1 So der Hersfeldensis, da die unabhängig voneinander aus ihm abgeleiteten Klassen Y und 7, (s. Anhang I) in Nerone bieten.

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raschung erfahren wir aber dann, daß das nicht der Fall war und daß der heutige Ruhm des Maternus sich mehr auf seine Tragödien als auf seine Reden gründet. Zweitens wird der Ruhm des Maternus als Redner in einer Weise betont, die der Tendenz seiner Ausführungen zuwiderläuft. Er will ja seine Abkehr von der Beredsamkeit begründen, denn er fährt c. 11, 3 fort: ac iam me deiungere

a forensi labore constituí.

N a c h alledem halte ich

es für geboten, das überlieferte in Nerone nicht anzutasten, nach tragoediarum nicht zu interpungieren und mit Lipsius et vor hodie zu ergänzen. Wir gewinnen damit einen Text, der frei ist von den oben genannten Bedenken und darüber hinaus in Einklang steht nicht nur mit der Tendenz der Tragödiendichtung des Maternus, sondern auch mit der Absicht, die seine Ausführungen in c. 11,2 verfolgen. Diese haben also den Sinn: Ich vermag vielleicht als Redner etwas zu leisten: aber meinen ersten Ruhm habe ich durch meinen Nero erlangt, und auch heute bin ich durch meine Tragödien berühmter als durch meine Reden. — Der Nero muß unmittelbar nach dem Tod des Kaisers entstanden sein. Denn sieben Monate nach seinem Ende war Vatinius bereits, jedenfalls politisch, ein toter Mann (Hist. 1, 37).

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