Hermann Gunkel: Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode 9783666532290, 9783525532294

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Hermann Gunkel: Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode
 9783666532290, 9783525532294

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Werner Klatt · Hermann Gunkel

W E R N E R KLATT

Hermann Gunkel Zu seiner Theologie der Religionsgeschichte und zur Entstehung der formgeschichtlichen Methode

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1969

Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Ernst Käsemann und Ernst Würthwein 100. Heft der ganzen Reihe

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1969. — Printed in Germany. — Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

GELEITWORT Es ist ein glückliches Zusammentreffen, daß der 100.Band der „Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments" Leben und Werk Hermann Gunkels gewidmet ist. Herausgeber und Verleger freuen sich, auf diese Weise das Andenken des Begründers dieser Reihe zu ehren. Die umfassende Darstellung und Würdigung des Werkes von H . G u n k e l durch W . K l a t t macht einen Hinweis auf seine Bedeutung f ü r die theologische Wissenschaft an dieser Stelle überflüssig: sie liegt dem, der sich in die folgende Untersuchung vertieft, in ihrer ganzen Breite und Tiefe vor Augen. Wohl aber mag ein Wort über Gunkels Anteil an der Begründung dieser Reihe und ihren inneren Zusammenhang mit der Aufgabe der altund neutestamentlichen Forschung, wie er sie sah, gesagt werden. Die Initiative ist offensichtlich ganz von ihm ausgegangen. In einem Brief vom 15.3.1899 spricht ihn der Verleger Gustav Ruprecht auf den von Gunkel früher geäußerten Plan der „Herausgabe religionsgeschichtlicher Forschungen in zwangloser Folge" an, „in denen Sie eigene Arbeiten sowie Arbeiten Ihrer Schüler herausgeben" wollten. Gleichzeitig schlägt er ihm W. Bousset als Mitherausgeber vor. Gunkel äußert sich sehr erfreut über Boussets Bereitschaft, in das geplante Unternehmen einzutreten, „ist mir doch Boussets wissenschaftlicher Ernst und seine Begabung guter Darstellung wol bekannt". Trotzdem ist er zunächst etwas bedenklich, da Bousset über seine letzten Ziele und Pläne, die er in diesen „Forschungen" vorhabe, noch nicht orientiert sei. „Schöpfung und Chaos" betrachte er nur als ein Vorläufiges; „es soll noch ganz anders kommen". Er selbst will als N r . 1 der ganzen Folge ein Programm schreiben unter dem Titel: „Die religionsgeschichtliche Forschung im Alten und Neuen Testament. Ziele, Methoden, Hülfsmittel". Es ist sehr zu bedauern, daß diese programmatische Schrift nicht in der geplanten Form zur Ausführung kam. An ihrer Stelle eröffneten die 1901 gehaltenen Vorträge „Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments" (1903) die Reihe. Doch hat sich Gunkel in mehreren Aufsätzen grundsätzlich über Ziel und Methode der alt- und neutestamentlichen Arbeit geäußert, erinnert sei nur an die in „Reden und Aufsätze" (1913) zusammengefaßten. Aus ihnen erhellt, wie sehr der Titel der von ihm begründeten Reihe Ausdruck seines wissenschaftlichen Programms war. Es kann, schreibt er im

6

Geleitwort

Vorwort des erwähnten Bandes, „ein Eindringen in die Welt der religiösen Gedanken ohne das Verständnis der Stoffe und Formen nicht geben. Demnach haben Religions- und Literaturgeschichte beide keinen andern Zweck als den, den eigentlichen religiösen Inhalt der heiligen Schrift verstehen zu lehren." Und er fügt hinzu: „Es unterliegt mir keinem Zweifel, daß diese Untersuchungsarten, die mit aller Gewalt auf das Zentrum der biblisdien Forschung dringen, in hervorragender Weise berufen sind, der praktischen Arbeit der Kirche zu dienen." Es erscheint nicht überflüssig, unserer Zeit solche Sätze in Erinnerung zu rufen! Unter H . Gunkel, W. Bousset und dem 1920 auf ausdrücklichen Wunsch Gunkels zunächst in die Mitherausgeberschaft eingetretenen R. Bultmann, von dem Gunkel überzeugt war, daß er „unsere Traditionen einer jüngeren Generation übermitteln" wird, haben die „Forschungen" durch eine große Anzahl einflußreicher Arbeiten sehr viel zu dem von Gunkel, natürlich in der Sprache seiner Zeit, formulierten Ziel — Verständnis des eigentlichen religiösen Inhalts der heiligen Schrift — beizutragen vermocht. Möge ihnen das auch in Zukunft gelingen! Herausgeber und Verleger

VORWORT Als H U G O GRESSMANN im Jahre 1 9 1 3 bei H E R M A N N G U N K E L um Informationen für sein über A L B E R T E I C H H O R N geplantes Buch nachfragte, erhielt er einen Antwortbrief, der mit folgenden Sätzen begann: „Gern komme ich Deinem Wunsche nach und entwerfe Dir ein Bild von Eichhorn. Nur bitte ich Dich dabei um Eines: wenn Du das eigene entwirfst, so nimm Dir dabei Zeit und Muße! Es ist ja für Dich, der Eichhorns Anfänge nicht mit erlebt hat, ganz außerordentlich schwierig, die richtige Nuance zu treffen." 1 Nun sind bei dieser Arbeit für G U N K E L selbst Zeit und Muße gewiß genommen worden; ob jeder Leser aber audi finden mag, daß jeweils die richtige Nuance getroffen worden ist, wage ich angesichts der zu bewältigenden Aufgabe kaum zu hoffen. Diese Arbeit ist im Sommersemester 1966 von der Hamburger Theologischen Fakultät als Dissertation angenommen worden, für den Druck wurde sie ein wenig gekürzt und überarbeitet. Dank abzustatten habe ich zu allererst an Herrn Professor Dr. K L A U S K O C H , der mich seinerzeit in Wuppertal auf G U N K E L hinwies und mich zu einer Dissertation ermunterte, als ich als sein Assistent mit nach Hamburg ging. Er hat nicht nur diese Arbeit mit Ratschlägen und Ermunterungen begleitet, sondern darüber hinaus allererst bei mir Verständnis für die Probleme einer Epoche unserer Theologiegeschichte erweckt, die ich von meinem Studium her nur als Scheinprobleme kannte. Weiter habe ich vielen zu danken für Ratschläge, Auskünfte, Uberlassung von Briefen und anderen Schriftstücken, sowie für die Erlaubnis zur Archivbenutzung: Herrn Prof. D. R. B U L T M A N N D. D. in Marburg, Herrn Prof. Dr. W. EBEL in Göttingen, Herrn Prof. D. O. EISSFELDT in Halle, Herrn Prof. D. K . G A L L I N G in Tübingen, Frau H A N N A GRESSMANN in Berlin, Herrn Senatspräsident i. R. Dr. W. G U N K E L in Celle, Herrn Prof. D. H.-J. K R A U S in Göttingen, Herrn Dr. K . V O N R A B E N A U in Naumburg/Saale, Herrn Dr. A. R U P R E C H T in Göttingen, Herrn H.-G. SIEBECK in Tübingen, Herrn Prof. Dr. R. SMEND in Münster, Herrn Prof. D. Ε. W Ü R T H W E I N in Marburg. Der Volkswagenstiftung danke ich für einen namhaften Druckkostenzuschuß; den Herren Professoren D. E . W Ü R T H W E I N und D. E . K Ä S E M A N N D. D. sowie dem Verlag für die Aufnahme der Arbeit in diese einst von 1

Dieser Brief jetzt in ZThK 66, 1969, 2—6.

8

Vorwort

G U N K E L zusammen mit W. B O U S S E T begründete Reihe der „Forschungen". Für Hilfe bei den Korrekturen danke ich meiner Frau und meiner Kollegin Frl. H. W E G E N E R . Meinen Eltern in Brühl sei bei dieser Gelegenheit für manche Entbehrung früherer Zeiten und für einen Zuschuß zu den Druckkosten gedankt.

Roringen bei Göttingen, im März 1969

W. Klatt

INHALT

Geleitwort

5

Vorwort

7

Einleitung

11

I. Teil: D i e Anfänge 1. Bis zur Habilitation 1888

15

2. Die geistige Orientierung

17

3. Die Wirkungen des heiligen Geistes, nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus, 1888 . . . .

29

4. Die Bedeutung der Apokalyptik

36

5. Von Göttingen über Halle nach Berlin

40

II. Teil: Die regilionsgeschichtliche Periode Α Schöpfung und Chaos 1895 — das erste Hauptwerk 1. Die Lage im Alten Testament

46 46

2. Über die Entstehungsgeschichte von „Schöpfung und Chaos"

51

3. Der Aufbau des Werkes und die neue Methode

53

a) Der alttestamentlidie Teil: Gen 1

54

b) Der neutestamentlidie Teil: A p J o h l 2

60

4. Die hinter A p J o h l 2 stehende Tradition

64

5. Der Streit mit Wellhausen

70

6. Israel und Babylonien: das religionsgeschichtliche Problem

74

7. Auf dem Wege zur Gattungsgeschichte

78

Β Andere Arbeiten zur Religionsgeschichte 1. Gunkels Arbeiten und Pläne sowie seine populärwissenschaftliche Tätigkeit

81 81

2. Religionsgeschichtliche Volksbücher und RGG

87

3. Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments — 1903

90

4. Der Babel-Bibel-Streit

99

10

Inhalt

I I I . T e i l : D i e literaturgeschichtliche P e r i o d e Α

Β

C

D

D i e G e n e s i s 1901 — d a s z w e i t e H a u p t w e r k

104

1. Religionsgeschichte und Literaturgeschichte

104

2. Die Herkunft der gattungsgeschichtlichen Methode

106

3. Die ästhetische Betrachtung und die Religion der Sagen der Genesis

117

4. Die Bedeutung der Anwendung des Gattungsbegriffs auf die Sage . . . .

125

5. Vom Mythus zum Märchen — die Sagen der Genesis und ihre Vorstufen .

129

6. Die Kunstform der Sagen der Genesis

138

7. Sitz im Leben, Uberlieferungs- und Gattungsgeschichte

144

8. Die Quellenschriften der Genesis

149

9. D a s Problem von Einzelerzählung und Komposition und die theologische Beurteilung der Genesissagen

156

E i n e Geschichte der L i t e r a t u r Israels

166

1. Die Probleme

166

2. Die israelitische Literatur — ein Aufriß

180

Gunkels Beitrag zur Prophetenforschung

192

1. Von Berlin nach Gießen und die Entstehung von S A T

192

2. Gunkels Schriften zur Prophetie

199

3. D a s „Grunderlebnis" der israelitischen Prophetie und seine Bewertung . .

203

4. Die Formensprache der Propheten

210

Die Psalmen — das dritte H a u p t w e r k

218

1. Zur Entstehung von Gunkels Schriften über die Psalmen

218

2. Die Bedeutung der Gattungsforschung für die Psalmenexegese

228

3. Der Hymnus

241

4. Die übrigen Gattungen

252

Schluß

261

Literatur

272

Abkürzungsverzeichnis

275

Namensregister

276

EINLEITUNG Das Thema dieser Arbeit bedarf kaum einer Rechtfertigung. Der Name ist heute bei den Exegeten in aller Munde, er fehlt in keiner Einleitung einer exegetischen Untersuchung. Jeder Theologiestudent bringt spätestens nach zwei Semestern die Schlagwörter wie „Gattung" oder „Sitz im Leben" mit seinem Namen in Verbindung. Dem entspricht die Situation auf dem Sektor der theologischen Forschung: Zumindest auf dem europäischen Kontinent hat sich GUNKELS formgeschichtliche Methode bei den protestantischen Exegeten Alten und Neuen Testaments, die sich historisch-kritischer Arbeit verpflichtet fühlen, so durchgesetzt, daß man ihn bei aller Verschiedenheit der Auffassungen weithin als einen Bahnbrecher würdigt. Aber nicht nur die protestantischen, auch die katholischen Exegeten haben sich diesem Trend angeschlossen1. So kann es sidi denn hier lediglich um eine Standortbestimmung handeln, die freilich interessant genug sein dürfte. Daß sich seit GUNKELS Tagen an der Anwendung der Methode manches geändert hat, versteht sich von selbst. Hier liegt eine Entwicklung vor, die alle Erscheinungen des Geistes durchlaufen. Diese Tatsache ist keineswegs darauf zurückzuführen, daß sich die Formgeschichte für das allgemeine theologische Bewußtsein zuerst auf dem Gebiet des Neuen Testaments mit den Werken von M A R T I N DIBELIUS und RUDOLF BULTMANN 2 , die freilich bei GUNKEL in die Schule gegangen sind, durchsetzte3. H E R M A N N GUNKELS

1 Die katholische Exegese des Neuen Testaments hat sich in einem erstaunlichen M a ß auf die in der protestantischen Theologie aufgekommenen neuen Fragestellungen eingelassen, so daß dort auch formgeschichtliche Gesichtspunkte eine Rolle spielen. H i e r f ü r genügt es, auf das Buch von E. S C H I C K , Formgeschichte und Synoptikerexegese, 1940, und auf A. W I K E N H A U S E R , Einleitung in das Neue Testament, 2. Aufl. 1956, bes. 182 ff. zu verweisen. Etwas anders sieht es in der katholischen Exegese des Alten Testaments aus; aber auch da kann auf ein Buch verwiesen werden wie das von H . E I S I N G , Formgeschichtliche Untersuchung zur Jakobserzählung der Genesis, 1940, vgl. bes. 1—11; aus jüngster Zeit sei nur genannt W . R I C H T E R , Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zum Richterbuch, 2 1966. Zum Ganzen und zu der weithin ablehnenden Einstellung zur Formgesdiichte im angelsächsischen Bereich vgl. den Forschungsbericht von G. IBER, Zur Formgesdiichte der Evangelien, ThR N F 24, 1956, 283—338. 2 M. D I B E L I U S , Die Formgeschichte des Evangeliums, 1 9 1 9 , 4 . Aufl., mit einem Nachtrag von G. I B E R , hg. v. G . B O R N K A M M , 1 9 6 1 und R. B U L T M A N N , Die Gesdiichte der synoptischen Tradition, F R L A N T N F 12, 1921, 5. Aufl. nebst Ergänzungsheft 2. Aufl. 1 9 6 1 / 6 2 . Das in seiner Bedeutung für die Forschung ebenfalls wichtige Buch von K. L. S C H M I D T , Der Rahmen der Geschichte Jesu, 1 9 1 9 , nur einige Monate später als das Buch von D I B E L I U S erschienen, trägt zwar mit Recht den Untertitel „Literarkritische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung", ist darüber hinaus aber ebenfalls von formgeschichtlichen Gesichtspunkten bestimmt, wenn dieses auch nicht in den theoretischen Überlegungen zur Geltung kommt. So scheidet S C H M I D T zwischen Rahmen und Einzelüberlieferung (Evangelist — mündliche Tradition), als deren „Sitz im Leben" er den

12

Einleitung Auch unabhängig v o n der neutestamentlichen

P r o b l e m a t i k , die

von

i h r e r S t r u k t u r h e r die r e d a k t i o n s g e s c h i c h t l i c h e F r a g e s t e l l u n g in d e r s y n o p tischen Ü b e r l i e f e r u n g d u r c h d a s G e g e n ü b e r v o n R a h m e n u n d

Tradition

v o n A n f a n g a n mitbrachte, ging die alttestamentliche F o r s c h u n g

darin

ü b e r GUNKEL h i n a u s , d a ß sie die F r a g e n a c h d e r G a t t u n g in s t a r k e r E r w e i t e r u n g 4 d e r h i e r n u r g e r i n g v o r h a n d e n e n A n s ä t z e bei GUNKEL a u c h a u f g r ö ß e r e K o m p o s i t i o n e n a n w a n d t e , w a s sich a u c h t h e o l o g i s c h als ü b e r a u s f r u c h t b a r u n d , j e d e n f a l l s a u f a l t t e s t a m e n t l i c h e m G e b i e t , als g e r a d e z u u m w e r f e n d e r w i e s 5 . S o l ä ß t sich d e n n m i t e i n i g e m R e c h t s a g e n , d a ß seit e t w a e i n e m V i e r t e l j a h r h u n d e r t in d e r a l t - w i e in d e r n e u t e s t a m e n t l i c h e n 6 F o r s c h u n g die f o r m g e s c h i c h t l i c h o r i e n t i e r t e E x e g e s e d a s F e l d d e r a u f ü b e r Gottesdienst erkennt. Vgl. W. G. KÜMMEL, Das Neue Testament, 1958, 419. In Eucharisterion I I , 1923, 50—134, steuert er den Aufsatz bei: Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte. 3 Das Buch von E. FASCHER, Die formgeschiditliche Methode, 1924, trägt demgemäß und bezeichnenderweise den Untertitel: Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des synoptischen Problems. Bei dieser Gelegenheit ist zur Terminologie anzumerken, daß der Begriff „Formgeschichte" in der neutestamentlichen Forschung entstanden ist und terminologisch erstmals von M. DIBELIUS in seinem A.2 genannten Buch verwandt wurde. Der Begriff stammt also nicht von GUNKEL, eher könnte man mit KÜMMEL, a. a. O., 423 und A.389 sagen, daß DIBELIUS in der Formulierung an F. OVERBECK, Die Anfänge der patristischen Literatur, Historische Zeitschrift 1882, 417—472, Separatdruck 1954 („Ihre Geschichte hat eine Literatur in ihren Formen, eine Formengeschichte wird also jede wirkliche Literaturgeschichte sein." Ebenda 12, vgl. bei DIBELIUS, Formgeschichte, 4. Aufl., 5 A . l und KÜMMEL a. a. O. 256) und an E.NORDEN, Agnostos Theos, 1913, mit dem Untertitel „Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede", anknüpft. 4 G. VON RAD, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuchs, B W A N T 4. Folge, Heft 26 (78), 1938, wieder abgedruckt in: Gesammelte Studien zum Alten Testament, 1958, 9—86. 5 Zu VON RAD, Theologie des Alten Testaments, Band I und I I 1957 ff. vgl. K . KOCH, Neuorientierung der alttestamentlichen Theologie, Pastoralblätter 101, 1961, 548—559. 6 Vgl. W.MARXSEN, Der Evangelist Markus, F R L A N T N F 49 (67), 1956, 2. Aufl. 1959, wo der Begriff „Redaktionsgeschichte" erscheint (vgl. den Untertitel: Studien zur Redaktionsgeschichte des Evangeliums). Die Redaktionsgeschichte des Lukasevangeliums hatte H . CONZELMANN bereits zwei Jahre früher einer Untersuchung unterzogen: Die Mitte der Zeit, 1954, 5. Aufl. 1964. Hier verrät der Untertitel „Studien zur Theologie des Lukas", daß der Unterschied zwischen dieser Art redaktionsgeschichtlicher Arbeit zu der früheren darin besteht, daß nicht nur Rahmen und Überlieferung säuberlich getrennt werden. Ursprünglich zielte man auf Ausscheidung des sekundären Rahmens, den man für die historischen Probleme der Leben-Jesu-Forsdiung, von denen man fixiert blieb, nicht gebrauchen konnte. Mit CONZELMANN und MARXSEN aber — M. DIBELIUS hatte eigentlich bereits mit seinen „Aufsätzen zur Apostelgeschichte" 1951 (erster Aufsatz 1923 in Eucharisterion I I , 27—49) die Bahn gebrochen — wurde nun der Rahmen nicht mehr als irrelevant ausgeschieden, sondern als Quelle für die Theologie des Evangelisten genutzt (das abschätzige Wort Redaktor verbietet sich dabei eigentlich von selbst, weshalb auch das Wort „Redaktionsgeschichte" mit einem falschen Vor Verständnis belastet bleibt). Gleichzeitig wurde die Überlieferung nicht nur nach ihrer eigenen Intention befragt, sondern auch nach dem Verständnis, das der Evangelist ihr möglicherweise jeweils unterlegt hat. Zusammenfassend für das Neue Testament vgl. jetzt J . ROHDE, Die redaktionsgeschichtliche Methode, 1966. Freilich stiftet dieser Sprachgebrauch Verwirrung, so als handle es sich hierbei um eine eigene Methode etwa im gegenüber zur „gattungsgeschichtlichen Methode". Man sollte sich aus Gründen der Rationalität darauf einigen, „Formgeschichte" als Oberbegriff zu verstehen und die verschiedenen Aspekte der formgeschichtlichen Arbeit jeweils mit „gattungsgeschichtlich", „traditionsgeschichtlich", „redaktionsgeschichtlich" zu bezeichnen.

Einleitung

13

lieferungsgeschichtlicher Grundlage arbeitenden Redaktionsgesdiichte erschlossen und sich zum Hauptarbeitsgebiet erkoren hat 7 . Aber diese Feststellung reicht für eine Beschreibung der augenblicklichen Situation keineswegs aus, sie ist zu formal und läßt den Bruch zwischen gestern und heute, zwischen G U N K E L und VON R A D oder besser: zwischen G U N K E L und der heutigen theologischen Gesamtsituation, nicht einmal ahnen. Dieser Brudi besteht darin, daß wir heute in der Theologie eine exegetische Methode anwenden, ohne die theologischen Voraussetzungen, die diese Methode mit ans Licht gebracht und stets begleitet haben, in vollem Umfang noch zu teilen. Die dialektische Theologie bedeutete einen solchen gewaltigen Umbruch im theologischen Denken, daß man sich von heute auf morgen, von Generation zu Generation, nicht mehr verstehen konnte 8 , und an der Stelle des abgerissenen alten Gebäudes der liberalen Theologie — jedenfalls von K A R L B A R T H — ein völlig neues errichtet wurde. Das Merkwürdige aber geschah nun damit, daß diese Methode mit diesem theologischen Umbruch nicht gleichfalls verschwand, sondern mit R U D O L F BULTMANN, der zu Anfang mit B A R T H eine Kampfgemeinschaft eingegangen war, erst ihren Siegeslauf begann. Daraus ergibt sich die Frage: Die Entstehung der formgeschichtlichen Methode ist zwar ohne religionsgeschichtliche Theologie als ihre geistige Voraussetzung schlecht denkbar 9 . Ist es aber vielleicht so, daß die formgeschichltliche Methode grundsätzlich gar nicht an eine bestimmte Theologie gebunden ist und der Religionsgeschichte sozusagen nur als einer Initialzündung bedurfte? Die formgeschichtliche Methode scheint demnach keine bestimmte theologische Weltanschauung zu implizieren, sondern in dieser Hinsicht wertfrei zu sein. G U N K E L kann in seiner Methode weiterleben, ohne daß gleichzeitig auch seine religionsgeschichtliche Theologie die herrschende wäre. Aber diese Vorstellung hat von vornherein nicht viel Wahrscheinlichkeit für sich. Die neuen Fragen einer Gruppe jüngerer Theologen 10 scheinen denn auch dafür zu sprechen, daß die Formgeschichte, selbst ein Kind der 7 Zur Differenzierung dieses Pausdialurteils vgl. K. KOCH, Was ist Formgeschichte? 1964, § 5, besonders 68 ff. 2. Aufl. 1967. 8

D a f ü r sei an die b e i s p i e l h a f t e A u s e i n a n d e r s e t z u n g A . VON HARNACKS m i t K . BARTH

in der Christlichen Welt erinnert, CW 37, 1923, 6 ff., 89 ff., 142 ff., 244 ff., 305 f. Vgl. dazu A. VON ZAHN-HARNACK, Adolf von Harnack, 1936, 529—536. * Insofern ist EISING zuzustimmen, wenn er a . a . O . 3 schreibt: „Von der religionsgeschichtlichen Forschungsmethode aus ist nur mehr ein Schritt zur formgeschichtlidien Forschung." 10 Gemeint ist die Gruppe um W. PANNENBERG, vgl. K u D 5, 1959, 218 Α. 1. Genannt sei nur die Programmschrift: Offenbarung als Geschichte, KuD, Beiheft 1, 1961, 2. Aufl. 1963. — Von GUNKEL zu PANNENBERG — das ist sicher eine unerlaubte Engführung und gibt ein sehr einseitiges Bild der Forschungsgeschichte von damals bis heute, insofern alle religionsgeschichtliche Arbeit des letzten halben Jahrhunderts dabei ausgeklammert zu sein scheint. Es sei deshalb erklärt, daß die so ausgezogene Linie nur den Ort markiert, an dem ich selbst an GUNKEL herangeführt wurde, freilich als an einen Ort, w o die

14

Einleitung

Religionsgeschichte, nun ihrerseits sich revanchiert und mit den durch sie zutage geförderten literaturgeschichtlichen und historischen Erkenntnissen eine Theologie hervorbringt, die wieder stärker in die Bahnen der religionsgeschichtlichen Fragestellungen einschwenkt. Das Kind ist zum Manne geworden und zeugt selbst wieder Kinder, wobei sidi das genetische Entwicklungsgesetz bestätigt, daß der Enkel dem Großvater besonders ähnlich ist. Mit dem Widerspruch, der sich sogleich gegen die eigenen systematischen Vorstellungen dieser Gruppe erhob 11 , ist aber „die gegenwärtige Problematik in der theologischen Behandlung des Offenbarungs- und Geschichtsbegriffes" 12 keineswegs überwunden. Die historisch-kritische Methode hat insgesamt in wachsendem Maße das hermeneutische Problem aus sich herausgesetzt 13 . Die von GUNKEL in einem jahrelangen Mühen entwickelte und nach ihm durch eine besondere überlieferungsgeschichtliche Komponente verfeinerte formgeschichtliche Methode lehrt uns die Geschichtsverflochtenheit der in den christlichen Kirchen als „Offenbarung Gottes" geltenden Texte in einem viel tieferen Sinn erkennen als zuvor, so daß ein „religionsgeschichtlicher Vergleich" innerhalb einer Exegese, der lediglich als Kontrast zur Profilierung des biblischen Textes angestellt wird, immer weniger befriedigt 14 . Vor diesem allgemeinen theologischen Hintergrund unserer Tage, der freilich hier nur angedeutet werden kann und der im einzelnen sehr viel genauer zu differenzieren wäre, erscheint die Rückfrage nach GUNKEL, und zwar sowohl nach seiner Lösung des religionsgeschichtlichen Problems wie auch nach den Anfängen der formgeschichtlichen Methode, nicht als eine nur historisch-statistische. religionsgeschichtliche Fragestellung GUNKELS m. E. so wieder aufgenommen worden ist, wie sonst nicht. 11 Genannt seien: L.STEIGER, Offenbarungsgeschichte und theologische Vernunft. Zur Theologie W. Pannenbergs, ZThK 59, 1962, 88—113. G. KLEIN, Offenbarung als Geschichte?, Marginalien zu einem theologischen Programm, MPTh 51, 1962, 65—88. W. ZIMMERLI, „Offenbarung" im Alten Testament, Ein Gespräch mit R. Rendtorff, EvTh 22, 1962, 15—51. H.G.GEYER, Geschichte als theologisches Problem, Bemerkungen zu W. Pannenbergs Geschichtstheologie, EvTh 22, 1962, 92—104. P. ALTHAUS, Offenbarung als Geschichte und Glaube, Bemerkungen zu Wolfhart Pannenbergs Begriff der Offenbarung, ThLZ 87, 1962, 321—330. 12 So der Herausgeberkreis von K u D im Vorwort zu KuD, Beiheft 1. 13 Vgl. etwa G. EBELING, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche, Z T h K 47, 1950, 1—46, wieder abgedruckt in: Wort und Glaube, 1960, 1—49. 14 Vgl. etwa die theologischen Konsequenzen, die von KOCH, Der Tod des Religionsstifters, K u D 8, 1962, 100—123 aus NOTHS Pentateuchanalyse gezogen werden. Dazu BAUMGÄRTEL, Der Tod des Religionsstifters, K u D 9, 1963, 223—233. Was eine religionsgeschichtliche Hinterfragung des at. Topos von der Schöpfung durch das Wort an theologischer Problematik impliziert, zeigt wiederum der Aufsatz von KOCH, Wort und Einheit des Schöpfergottes in Memphis und Jerusalem, ZThK 62, 1965, 251—293. Dazu wieder BAUMGÄRTEL, Das Offenbarungszeugnis des Alten Testaments, ZThK 64, 1967, 393—422.

1. T E I L :

DIE

ANFÄNGE

1. Bis zur Habilitation

1888

JOHANNES H E I N R I C H HERMANN GUNKEL w u r d e a m 2 3 . M a i 1 8 6 2

zu

Springe 1 bei Hannover als ältester Sohn des dortigen Pastors KARL WILHELM A U G U S T PHILIPP GUNKEL ( 1 8 2 9 — 1 8 9 7 )

geboren. D e r

Großvater

JOHANN D I E T R I C H GUNKEL ( 1 7 9 2 — 1 8 3 8 ) w a r z u n ä c h s t P r i v a t l e h r e r

in

Duderstadt, ehe er 1821 Pastor wurde, erst in Lutterberg, dann in Landolfshausen 2 . Er ist der erste Theologe in der Familie, denn HERMANN GUNKELS U r g r o ß v a t e r JOHANN AUGUST KUNKEL w a r noch G ü t e r v e r w a l t e r

von Kurmainz und katholisch. Die Konversion zum evangelischen Glauben bedeutete den Verlust der Stellung, so daß er sich als Ökonom in Heiligenstadt niederlassen mußte; zugleich änderte er seinen Namen in GUNKEL. Der Vater HERMANN GUNKELS siedelte in dessen Geburtsjahr nach Lüneburg über, wo er bis zu seinem Tod an der Kirche St. Nicolai, in deren Sakristei heute noch ein Bild von ihm hängt, die 1. Pfarrstelle bekleidete. HERMANN GUNKEL besucht bis zum Abitur 1881 in Lüneburg das Johanneum, und da das Interesse für religiöse Fragen in der Familie nun nahezu erblich geworden war, bedeutet es keine Überraschung, daß auch er sich der Theologie zuwenden will. So verdirbt er sich denn im Dienst seiner zukünftigen Wissenschaft bereits auf der Schule die Augen, weil das Hebräische bei ungenügender Beleuchtung in der Frühstunde stattfindet. Am 14. 3. 1881 erhält er das Reifezeugnis und bezieht im selben Jahr die für einen Hannoveraner sich anbietende Universität Göttingen, von wo aus er im April 1885 die 1. theol. Dienstprüfung pro venia concionandi in Hannover besteht. Zwischendurch war er von 1882—83 an einer seiner künftigen Wirkungsstätten, in Gießen, wo u. a. ADOLF HARNACK und BERNHARD STADE lehrten. Von Ostern 1885 bis Oktober 88 hat er sich in Lüneburg, Göttingen und Leipzig aufgehalten und sich seiner theologischen Weiterbildung gewidmet, wobei er mit der Erteilung von Privatunterricht den Lebensunterhalt bestritt. 1 In seinen unveröffentlicht gebliebenen gelegentlichen Erzählungen und Novellen bezeichnet er sich deshalb mit dem Pseudonym „Hermann Springe". Diese nur im Manuskript vorhandenen Arbeiten samt einer Fülle von Gedichten sind im Besitz seines Sohnes Dr. WERNER GUNKEL in Celle. 2 Vgl. Die Pastoren der Landeskirchen Hannovers und Schaumburg-Lippes seit der

R e f o r m a t i o n , 3 Bde, hg. v. PH. MEYER, 1 9 4 1 — 1 9 5 3

nach Bericht von GUNKELS Sohn.

s. v . G U N K E L . D a s F o l g e n d e Ζ.

T.

16

Die Anfänge

Am 16. Oktober 1888 erteilt die Theologische Fakultät Göttingen dem Universitätskurator Dr. VON MEIER Bericht über die Verleihung der venia legendi an den Licentiaten der Theologie H. GUNKEL. Auf Grund einer Dissertation, „welche von wissenschaftlicher Begabung, exegetischer Gewandtheit und eindringendem Scharfsinn zeugt", und nach einem „magna cum laude" bestandenen Kolloquium und einer öffentlichen Disputation 8 sei ihm der Grad eines Licentiaten der Theologie „rite" erteilt worden. Am 16. 10. hatte GUNKEL zum Zweck der Habilitation eine Probevorlesung mit dem Thema „Die Eschatologie der jüdischen Apokalypsen" gehalten, woraufhin die Fakultät den Beschluß faßt, ihm die venia legendi für das Fach „biblische Theologie und Exegese" vorerst auf zwei Jahre, also bis Oktober 1890, zu erteilen 4 . Dieses vorläufig letzte Ziel in einem durch nichts Besonderes auffälligen oder gar interessanten Lebenslauf hat GUNKEL aber nicht so ohne Schwierigkeiten erreicht, wie es aussieht. Dabei kündigen sich bereits Dinge an, die ihm das Leben schwer machen werden und ihn am Ende tief enttäuscht und fast verbittert werden lassen. Da GUNKELS Vater, ohne Vermögen und mit kleinem Gehalt, nicht länger den jüngeren Sohn stud. jur. KARL und den älteren, sofern dieser sich anschicken würde, in die akademische Laufbahn zu gehen, aushalten 3 Die Disputationsthesen zur Erlangung der Licentiaten würde, die er am 15. Okt. 1888 um 11 Uhr (ursprünglich war der 2 1 . 7 . vorgesehen) gegen die Opponenten Lie. theol. C. MIRBT, Privatdozent, und Lie. theol. J . WEISS, Privatdozent, verteidigt, lauten (vorhanden in GUNKELS Kuratorialakte 411 b/84 im Universitätsarchiv zu Göttingen) : 1. Kein Psalm von David 2. Joel ist nadiexilisch 3. Hosea 1—3 liegt eine wahre Geschichte zugrunde 4. Einleitung ins N.T. ist die Wissenschaft von den Quellen des apostolischen Zeitalters 5. „Mt 28, 19 ist kein Herrnwort" (Harnack) 6. Das synoptische und das johanneisdie Bild Johannis des Täufers befinden sich im Widerspruch 7. 'Ελισάβετ (Lc 1.2) ist ein Schreibfehler 8. Bei Paulo findet sich die Prädestinationslehre in schärfster Form ausgesprochen 9. Der Jakobusbrief ist nachpaulinisch 10. Die Differenz des Paulus und des Jakobus in der Rechtfertigungslehre muß von ihrer Gesetzeslehre aus verstanden werden 11. Die Nottaufe ist eine katholische Institution 12. Die Prädestinationslehre der C.F. ist zu begreifen aus der Absicht der Verfasser, eine praktische Anweisung für die christlidie Predigt zu geben. Diese Absicht ist als durchaus erreidit zu betrachten GUNKELS Dissertation umfaßt 34 Seiten und bildet den ersten Teil seiner Abhandlung über die „Wirkungen des heiligen Geistes". Aus einem Zeugnis in der Kuratorialakte geht hervor, daß er im SS 81 gehört hatte: Psalmen bei BERTHEAU und Historische

G r a m m a t i k der deutschen Sprache bei W.MÜLLER, W S 1 8 8 1 / 8 2 J e s a j a bei SCHULTZ und E i n l e i t u n g ins N T bei WENDT.

4 Diese und alle diesbezüglichen folgenden Mitteilungen aus GUNKELS Kuratorialakte aus dem Göttinger Universitätsarchiv. Seine Personalakte aus der Theol. Fakultät ist neben den Akten anderer Angehöriger der späteren Religionsgeschichtlichen Schule seit offenbar schon längerer Zeit (wie aus Revisionsvermerken hervorgeht) in Göttingen nicht mehr vorhanden. Zufall?

Geistige Orientierung

17

kann, kommt er am 23. 11. 1887 beim preußischen Kultus-Minister D r . VON GOSSLER um die Erteilung eines Dozentenstipendiums für seinen Sohn H E R M A N N ein. Das Ministerium wendet sich an den Kurator in Göttingen mit der Bitte, „in den Kreisen der dortigen theologischen Fakultät sowie bei dem Geheimen Regierungs-Rath Professor D r . de Lagarde" über G U N K E L Erkundigungen einzuziehen 5 . Was VON M E I E R am 26. 4. 88 nach Berlin meldet, ist nicht ermutigend: „Die in den Kreisen der Theologischen Fakultät und beim Geh. R e g - R a t h Prof. D r . de Lagarde über den Cand. theol. Hermann Gunkel eingezogenen Erkundigungen stimmen darin überein, daß seine wissenschaftliche Begabung bei aller Anerkennung seines Strebens keine hervorragende, seine Persönlichkeit bei aller Anerkennung seiner Charaktereigenschaften keine sympathische sei, und daß demgemäß seine Habilitation nicht gewünscht wird." Bestenfalls sei das Licentiatenexamen anzuraten und „bei der Unsicherheit der akademischen Laufbahn" die zweite theologische Prüfung abzulegen. Wie trotz dieses Votums das Habilitationsverfahren in Gang kommen konnte und wer seine Hand über G U N K E L gehalten hat, ist nicht mehr zu ermitteln. Jedenfalls ermächtigt am 19. 10. 1888 der Königliche Kurator die Theol. Fakultät, den Grad an ihn zu erteilen. Am 27. 12. 88 setzt das Berliner Ministerium den Kurator davon in Kenntnis, daß es G U N K E L „ein Stipendium von jährlich 1200 M. vom 1. April 1889 ab auf zwei Jahre bewilligt" habe, eine eventuelle Verlängerung hänge von seinen Leistungen ab. D a ß große Geister auf der Schule schlechte Noten® hatten, ist häufig anzutreffen, daß jemand seine akademische Laufbahn unter solchen Auspizien antritt, dürfte als Ausnahme gelten.

2. Die geistige

Orientierung

„Er war vom Vater und Großvater her für Religion, Geschichte und Literatur angeregt und dadurch für sein ganzes Leben entscheidend bestimmt." 1 „Schon als Tertianer hatten ihn die historischen Anmerkungen zu SCHEFFELS .Ekkehard' und G. FREYTAGS ,Bilder aus der Deutschen Vergangenheit' mächtig gepackt und seinen geschichtlichen Sinn geweckt, wie später die Werke von R A N K E und M O M M S E N . " 2 GRESSMANNS MitteiDas Schreiben ist datiert vom 6. April 1888. • So audi GUNKEL, als ihm der Deutschlehrer einmal unter einen Aufsatz schrieb: „Gunkel wird nie einen guten Aufsatz liefern", WALTER BAUMGARTNER, Zum 100. Geburtstag von Hermann Gunkel, V T S I X , 1963, 15. 1 H . GRESSMANN, Albert Eichhorn und die religionsgesdiichtliche Schule, 1914, 20. 2 W . BAUMGARTNER, VTS I X , 1963, 3, vgl. W . BAUMGARTNER, Hermann Gunkel, in: Zum Alten Testament und seiner Umwelt, 1959, 374. „Er hat oft davon gesprochen, er 5

2

Klatt, Gunkel

18

Die A n f ä n g e

lung und diese auf Erzählung GUNKELS zurückgehende Erinnerung BAUMGARTNERS markieren bereits den geistigen Horizont des Heranwachsenden und können an Bedeutung für seine spätere Entwicklung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wenn irgendeine geistesgeschichtliche Herkunft feststeht und f ü r GUNKEL virulent geworden ist, so ist es die bereits in früher Zeit gewonnene Einsicht, daß alle Erscheinungen des Geistes, in Literatur und Religion, geschichtlich verstanden werden müssen. Das ist das Gesetz, nach dem er angetreten ist, ihm ist er treu geblieben bis an sein Lebensende. In seiner Studienzeit sind diese Ansätze von zwei Seiten her weiter ausgebaut und bereichert worden: von ALBERT EICHHORN und seinem Kreis auf der einen Seite und von ADOLF HARNACK auf der anderen. Obwohl HARNACK sich inzwischen ALBRECHT RITSCHL angeschlossen hatte, w a r es neben EICHHORN infolge seiner überragenden Beherrschung der historischien Methode HARNACK, der GUNKEL recht bald in einen scharfen Gegensatz brachte zur damals weithin herrschenden 8 Theologie, die mit dem Namen A . RITSCHLS 4 verbunden war. Besser gesagt: in einen Gegensatz zu dessen Handhabung der historischen Methode. Es muß so gewesen sein, wie STEPHAN-SCHMIDT schreiben, daß RITSCHL „das mit besonderer K r a f t zum Ausdruck brachte, was viele Theologen als Ergebnis einer wirrenreichen Entwicklung halbbewußt erstrebten" 5 . Von der Zeit SCHLEIERMACHERS und HEGELS her gab es im 19. Jahrhundert in der deutschen Theologie nebeneinander die verschiedensten theologischen Richtungen: Schleiermacherianer, Hegelianer verschiedener Provenienz, Bibelhabe sich schon auf der Schule vor allem mit Geschichte und Religion leidenschaftlich beschäftigt. Er hat das Johanneum in Lüneburg als Primus inter omnes verlassen und hat als solcher zur Feier der Abschlußprüfung die lateinische Rede über ein geschichtliches Thema gehalten." Brief von W . GUNKEL vom 8. 8. 1967. 3 Die Gründung der RiTscHL-SchuIe datiert vom J a h r e 1 8 7 5 , da WILHELM H E R R M A N N A. RITSCHL, den er selbst nie persönlich kennengelernt hatte, in einem Brief mitteilt, d a ß er aus seinen Büchern die entscheidenden theologischen Einflüsse erfahren habe. V g l . zu diesem Komplex RGG 1 IV, 2 3 2 6 — 2 3 3 8 s. v. Ritschl und Ritschlianer. Hochburgen der RiTscHL-Schule w a r e n außer Göttingen in den 80er J a h r e n noch Gießen, Berlin, M a r burg, Tübingen, vorübergehend Leipzig, Bonn und J e n a . Drei der bedeutendsten Zeitschriften entstehen binnen kurzem und vertreten die RiTSCHLsdie Theologie: 1 8 7 6 Theologische Literaturzeitung ( E M I L S C H Ü R E R ) , 1 8 8 7 Die Christliche Welt ( M A R T I N R A D E ) und 1 8 9 1 Zeitschrift für Theologie und Kirche (JOHANNES G O T T S C H I C K ) . 4 ALBRECHT BENJAMIN RITSCHL, geb. 1822 zu Berlin, 1843 in H a l l e zum Dr. phil. promoviert mit einer Arbeit über Augustin, ging 1845 zu C. F. BAUR, dessen Schriften ihn angezogen hatten, und w u r d e ein Anhänger der Tübinger Schule. Ein J a h r später habilitierte er sich in Bonn. Zu Bedeutung gelangte er erst nach seinem Bruch mit B A U R 1856, dessen gewaltsame Auffassungen über die ersten beiden christlichen J h . er nicht länger zu teilen vermochte. Sein H a u p t w e r k „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung" erschien Bd. I 1870, Bd. II und III 1874. Dies W e r k führte zum Durchbruch und leitete die Schulbildung ein, gleichzeitig bedeutete es die H i n w e n d u n g zur systematischen Theologie. V g l . weiter R E 3 17, 1906, 22 ff. und O. RITSCHL, Ritschls Leben, 2 Bände 1892—96, sowie H . STEPHAN - M . SCHMIDT, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie seit dem deutschen Idealismus, 2. Aufl. 1960, 214 ff. 5

STEPHAN-SCHMIDT, a . a . O . 2 1 4 .

Geistige Orientierung

19

theologen, Neulutheraner, Vermittlungstheologen, die sich alle gegenseitig die Verhaftung an zeitgenössische Philosophien oder umgekehrt an überkommene Denkschemata zum Vorwurf machten. In R I T S C H L erstand der Mann, der „eine völlige Frontveränderung in der theologisch-kirchlichen Welt" bewirkte®. Das Geheimnis dieses Durchbruchs dürfte einerseits in der engen Verbindung von historischem und systematischem Denken, andererseits — damit zusammenhängend — in der vermeintlichen Freiheit von aller Philosophie, wie sie in R I T S C H L S K a m p f gegen jede Metaphysik (Prolegomena der Dogmatik als „Vorhof der Heiden") zum Ausdruck kommt, liegen. S C H O T T kann deshalb feststellen, daß die künftigen RiTscHLianer, die in der Hauptsache aus konfessionellen Kreisen und der Vermittlungstheologie herkamen, sich angezogen fühlten „durch den energischen Rückgang auf die geschichtliche Offenbarung in der Person Christi, wodurch die Theologie von den philosophischen Zeitströmungen unabhängig wurde, sowie durch die Zuversicht, bei voller Handhabung der historisch-kritischen Methode die zentralen Offenbarungswahrheiten aus der Schrift erheben zu können. Auch der ethisch-praktische Zug und der Rückgang auf Luther wurden begrüßt." 7 Die Auffassung des Christentums im Bild einer Ellipse, in deren einem Brennpunkt die Sündenvergebung, in deren anderem das Reich Gottes steht, führt aus der traditionellen Engführung der protestantischen Dogmatik heraus, indem es alle sittlichen K r ä f t e theologisch legitim dem Reich Gottes zuordnet und damit den Boden für den sog. Kulturprotestantismus bereitet. Gleichzeitig werden Religion und Sittlichkeit, wie seit den Tagen SCHLEIERMACHERS nicht mehr, geschieden und doch neu aufeinander bezogen. Ferner brachte es dann R I T S C H L mit Hilfe der Erkenntnistheorie des aufkommenden Neukantianismus (LOTZE) und einer damit gegebenen Neubesinnung auf die Verschiedenheiten der Geistesgebiete (die Grenzen der theoretischen, die Bedeutung der praktischen Vernunft) fertig, der Theologie einen festen und notwendigen Platz innerhalb der universitas litterarum, das heißt dann aber auch zugleich im gesellschaftlichen Leben zurückzuerobern. Jedenfalls schienen hier neue Möglichkeiten zu liegen, und die Wirkung, die von R I T S C H L S Theologie ausging, war entsprechend. Auch die Vertreter der späteren Religionsgeschichtlichen Schule sind systematisch-theologisch genuine Vertreter RiTSCHLScher Gedanken geblieben, dafür genügt bereits ihre Hochschätzung der Sittlichkeit für das theologische Denken als Beweis, wenngleich der Begriff des „Reiches Gottes" bei G U N K E L keine Rolle mehr spielt. Zum Differenzpunkt wurde die Problematik der Geschichte, und zwar auf dem Felde der exegetischen Arbeit, was freilich die theologische Fragehinsicht in völlig andere Bahnen lenkte. 8

2*

RADE in R G G 1 IV, 2334.

7

R G G 3 V, 1118.

20

Die Anfänge

Was nämlich den Widerspruch jener jungen Theologen 8 , mit denen sich in Göttingen zusammenfand und von deren Kreis gleich zu sprechen sein wird, hervorlockte, das war die Gefahr aller historisierenden Dogmatik, der auch R I T S C H L nicht entgehen konnte, nämlich daß er unter der Notwendigkeit der Errichtung eines auf die Aussagen des Neuen Testaments gegründeten Systems der Mannigfaltigkeit der dort niedergelegten Aussagen nicht gerecht werden konnte und ihnen Gewalt antun mußte. G U N K E L beschreibt das Empfinden der geschichtlich eingestellten Studenten sehr sinnfällig: „Allen denjenigen, die zu den Füßen Ritschis gesessen haben, wird es in Erinnerung sein, mit welcher Gewaltsamkeit der große Theologe die neutestamentlichen Texte behandelt hat, wie es denn kein Zufall ist, daß die jüngere Schule sich gerade im Gegensatz zu dieser Art Texterklärung entwickelt h a t . " 9 Dabei war G U N K E L durchaus „einst ein Schüler Ritschis" 1 0 , und es bedurfte erst des nachhaltigen Einflusses A L B E R T E I C H H O R N S , ihn und seine Freunde in eine entgegengesetzte Position zu bringen oder — wie G R E S S M A N N es ausdrückt — „von Ritsehl loszukommen" u . In den achtziger Jahren nämlich fand sich in Göttingen ein Kreis von Theologiestudenten zusammen, die sich bald einig waren in der Abneigung gegen die herrschende exegetische Methode, besonders gegen die exegetische Behandlung des zentralen Themas der RiTSCHLschen Theologie. Der Kreis, damals in Studentenkreisen die „kleine F a k u l t ä t " 1 2 genannt, fluktuierte zwar etwas, bildete aber doch eine feste Größe und wurde die Geburtsstätte der Religionsgeschichtlichen Schule, von der G U N K E L selbst sagt: „Eine seltsame .Schule' freilich war es, die so entstand. Eine Schule ohne Lehrer und zunächst auch ohne Schüler! Es war ein durch wechselseitige Freundschaft eng verbundener Kreis junger Gelehrter." 13 Hauptumschlagplatz der Gedanken war, wie üblich, die Mensa. Die wichtigsten Mitglieder dieses Kreises waren, ihrem Alter nach aufgezählt: A L B E R T GUNKEL

EICHHORN

14

g e b . 1 8 5 6 , WILLIAM W R E D E

15

1859, HERMANN GUNKEL 1862,

8 „In den letzten Jahren vor Ritschis Tode sammelte sich unter seinem Katheder ein Kreis jüngerer Theologen, teils unter seinem Einfluß, teils im Gegensatz zu ihm, aus dem später die .religionsgeschichtliche Schule' hervorging." SOKAYSER in R G G 2 II, 1928,1298. • GUNKEL, Gedächtnisrede auf Wilhelm Bousset am 9. Mai 1920, in: Evangelische 1 0 H . GRESSMANN, A . Eichhorn 20. Freiheit 20, 1920, 142. 1 1 Ebenda 5. D a ß audi Κ . HOLL „bei Ritsehl nie recht wohl w a r " , bekennt er 1912 in einem Brief an A. SCHLATTER; Z T h K 64, 1967, 207. 12

GUNKEL, E v a n g e l i s c h e F r e i h e i t 2 0 , 1 9 2 0 , 1 4 6 ; v g l . TROELTSCH, C W 1 9 2 0 , S p . 2 8 2 .

A.EICHHORN weilte „Ostern 1877 bis Michaelis 1878" als Student in Göttingen, Ostern 1884 kehrte er zur Vorbereitung seiner Licentiatenarbeit für eineinhalb J a h r e dorthin zurück. GRESSMANN a.a.O. 1.5. Dies sei betont, da einerseits ZIMMERN nur eine Vermutung über eine gemeinsame Göttinger Zeit zwischen EICHHORN und GUNKEL hat, vgl. unten S. 23; andererseits GUNKEL selbst die Göttinger Zeit zugunsten der Hallenser in seinem Brief an GRESSMANN 1913 unterschlägt, vgl. Z T h K 66, 1969, 2—6. 1 3 A. a. O . 146. 14 Geboren ist EICHHORN zu Garlstorf im Kreise Lüneburg, worin ein sicher nicht unwichtiges verbindendes Element dieses Kreises zu sehen ist, denn ihre norddeutsche

Geistige Orientierung WILHELM

BOUSSET 1 6

und

der

erst

später

21 hinzukommende

ERNST

TROELTSCH 1 7 , beide 1 8 6 5 , u n d WILHELM HEITMÜLLER 1 8 1 8 6 9 . D e m K r e i s a s s o z i i e r t w a r JOHANNES WEISS 1 9 . U n b e s t r i t t e n e r W o r t f ü h r e r dieses K r e i ses w a r ALBERT EICHHORN, d e m HUGO GRESSMANN noch z u dessen L e b -

zeiten ein literarisches Denkmal gesetzt h a t 2 0 . Abstammung haben bis auf TROELTSCH, der in Augsburg geboren ist, alle anderen fünf gemein: WREDE geb. zu Bücken (Hannover), GUNKEL in Springe, BOUSSET in Lübeck (audi der spätere intimste Freund GUNKELS, HUGO GRESSMANN, ist in Mölln geboren und hat das Lübecker Katharineum durchlaufen), HEITMÜLLER in Döteberg bei Hannover. EICHHORN war nach seinem Studium zunächst Pastor der Hannoverschen lutherischen Kirche, wurde 1886 Privatdozent für Kirchengeschichte in Halle und dort 1888 Extraordinarius. 1901 ging er nach Kiel, schied 1913 aus dem Dienst und starb nach langer Krankheit (Lähmung) 1926. HARNACK schätzte EICHHORNS Einfluß hoch ein: „Idi glaube midi nicht zu irren, wenn ich behaupte, . . . daß der stille Einfluß, den Eidihorn auf die jüngeren Kirdienhistoriker ausübt, wirksamer ist als ein allgemeines religionsgeschichtliches Kolleg." Reden und Aufsätze II, 2. Aufl. 1906, 181 f., vgl. H. GRESSMANN, A. Eidihorn 9. 15 WREDE erwarb das Reifezeugnis in Celle 1877, studierte in Leipzig und Göttingen. 1881 legte er die 1. theol. Prüfung ab, 1884—86 war er Inspektor des theol. Stifts in Göttingen, ab 1887 Pastor zu Langenholzen, 1889 kam er zurück nach Göttingen, 1891 habilitierte er sich, wurde 1893 a. o. Prof. und 1895 Ordinarius in Halle. Mit 47 Jahren starb er 1906 in Breslau an einem Herzleiden nach überwundener Lungenentzündung. Die führenden Geister der Religionsgesdiiditlichen Sdiule starben fast a l l e f r ü h : B O U S S E T m i t 5 5 , T R O E L T S C H m i t 5 7 , H E I T M Ü L L E R m i t 5 6 , GRESSMANN m i t

50

J a h r e n , nur EICHHORN und GUNKEL erreichten je 7 0 J a h r e .

16 BOUSSET wurde 1889 Privatdozent in Göttingen, 1896 dort Extraordinarius und erst 1916 Ordinarius in Gießen. Er wurde neben GUNKEL der eigentliche Führer der Schule auf neutestamentlichem Gebiet, seine Hauptwerke 1895 „Der Antichrist", 1896 in Meyers Kommentar „Die Offenbarung Johannis", 1902 „Die Religion des Judentums im neutestamentlidien Zeitalter", 1903 „Die jüdische Apokalyptik", 1907 „Die Hauptprobleme der Gnosis", 1910 „Kyrios Christos". Mit GUNKEL gab er ab 1903 die „Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments" heraus und mit HEITMÜLLER von 1897 bis 1917 die „Theologische Rundschau". 17 TROELTSCH hatte zunächst den geringsten Kontakt mit dem Kreis und ersdiloß sich erst ab 1895 ganz den religionsgesdiiditlichen Gedankengängen, um dann allerdings der „Dogmatiker der religionsgesdiiditlichen Schule" zu werden, R G G 3 V I , 1045. Er wurde 1891 Privatdozent in Göttingen, 1892 Extraordinarius in Bonn und 1894 Ordinarius in Heidelberg, wo er ab 1910 auch einen Lehrauftrag für Philosophie wahrnahm. Ab 1914 war er Professor für Philosophie in Berlin, von 1919—21 im Nebenamt Unterstaatssekretär für die evangelischen Angelegenheiten im Preußischen Kultusministerium. 1 8 HEITMÜLLER war der jüngste im Kreis, wurde 1902 in Göttingen Privatdozent, 1908 Ordinarius in Marburg, 1920 in Bonn und 1923 in Tübingen. 1903 erschien sein Hauptwerk „Im Namen Jesu". Eine sprach- u. religionsgeschiditlidie Untersuchung zum Neuen Testament, speziell zur altchristlichen Taufe. 1 9 vgl. unten S . 2 9 Α. 1. Vorübergehend gehörten audi MIRBT, BORNEMANN, der

Philologe GEFFCKEN (WREDES Schwager) und der Philosoph KÜLPE (WuNDTsdiüler) zum

Kreis; in Halle der Germanist O.BREMER. H . GRESSMANN, A. Eidihorn 5.12. 2 0 HUGO GRESSMANN, Albert Eidihorn und die religionsgeschiditlidie Schule, 1914. Trotz mancher Uberzeichnung muß diese Arbeit als authentisch gelten, denn zumindest BOUSSET und GUNKEL haben das Manuskript vorher gelesen und nach einigen Korrekturen gebilligt. GUNKEL wollte es in die F R L A N T aufnehmen und rechtfertigt diesen Besdiluß später gegen Bedenken B O U S S E T S : „Da in Gr.s Schrift kein Urteil über unsere

22

Die Anfänge

Wenn EICHHORN auch außer seiner Licentiatenarbeit 21 nur zwei Aufsätze geschrieben hat 22 , so hat er persönlich doch stark gewirkt. GRESSMANN veranschlagt diese seine Wirkung im Blick auf die Entstehung der Religionsgeschichtlichen Schule als „Hebbammendienste" 2S . BAUMGARTNER, GUNKELS persönlicher Schüler in dessen Gießener Zeit, ist von den Ausführungen GRESSMANNS SO überzeugt, daß er selbst überrascht konstatiert, „ wie viel von dem, was uns für GUNKEL charakteristisch erscheint, im Keim schon bei EICHHORN und bereits in seinen Doktorthesen vorhanden ist" 2 4 . Als GRESSMANN sein Buch über EICHHORN vorbereitete, fragte er bei allen, die ihm Material beisteuern konnten, an und erhielt von E. TROELTSCH einen Brief vom 4. 7. 1913 2 5 , in dem es u. a. heißt: Lieber Herr Kollege! Ich will Ihre Anfrage so gut beantworten als es möglich ist. Ich habe Eichhorn verschiedentlich auf kurze Zeit gesehen, wenn er seinen Freund William Wrede in Göttingen besuchte u. zwar war das in den Jahren 1889—1892. Die Eindrücke, die ich von ihm empfangen habe, sind großenteils durdi Wrede vermittelt, der außerordentlich viel von E. hielt u. selbst unzweifelhaft in vieler Hinsicht von ihm beeinflußt war. Es ist wohl vor allem durdi das Medium Wredes hindurch geschehen, daß die ganze Göttinger theologische Privatdozentenschaft jener Jahre von Eichhornschem Geiste irgendwie berührt war. Es ist vermutlich auch bei Gunkel der Fall. Die Wirkung von Eichhorn ist schwer zu fixieren. Im Ganzen aber ging dieser Geist auf eine starke psychologische Vertiefung der geschichtlichen Forschung u. dementsprechend auf Zurückstellung aller dogmatischen Interessen. E. suchte u. fand überall Analogien, von denen aus er die israelitisch-christliche Welt beleuchtete, und suchte andererseits doch wieder die Letzten möglichst psychologisch aus sich selbst zu konstruiren. Wo er dann für die psychologische Rekonstruktion Lücken fand, da setzte er mit außerchristlichen Einflüssen ein, aber erst dann. Seine psychologische Rekonstruktion ging dabei soweit wie möglich von der Spannung des Kausalzusammenhanges (aus) u. durchbrach audi in dieser Hinsicht die einseitig dogmatisch-ideologische Behandlung. Dabei war aber das Anziehende, daß ihm unter dieser bald mehr psychologisch-rekonstruktiven, bald „religionsgeschichtlichen" Behandlung (das Wort im heutigen Sinne der Erklärung nur fremder Religionen genommen) die Größe der christlichen Lebenswelt selbst nicht litt. Er sah in ihr etwas Lebendiges, das seinen heutigen Sinn nicht an die verschiedenen historischen Entstehungszusammenhänge bindet. Es war die Unbefangenheit des wissenschaftlichen Verhaltens, die Lebendigkeit u. Beweglichkeit der rekonstruktiven Phantasie und die völlige Abwesenheit aller dogmatischen Konsequenzen geschichtlicher Forschung für die religiösen Gegenwartsfragen, was mir und uns so an ihm imponierte. Freilich sehe ich ihn dabei vielleicht zu sehr in den mir jetzt geläufig gewordenen KatePersonen oder Werke ausdrücklich ausgesprochen wird, so hatte ich kein Bedenken gehegt, die Schrift aufzunehmen." So an RUPRECHT vom 13. 2 . 1 9 1 4 . 21 Athanasii vita ascetica testimonia collecta, 1886. 22 „Die Rechtfertigungslehre der Apologie" in: ThStKr 1887, 415—491 und „Das Abendmahl im Neuen Testament" Hefte zur Christlichen Welt 36, 1898. Ferner: „Aphorismen zur Dogmengeschidite", ZThK 18, 1908, 154—156. 2 3 A. a. O. 20. Damit soll freilich zugleich das weitergehende Urteil HARNACKS, vgl. A. 14, etwas eingeschränkt werden. 24 VTS I X , 1963, 4. 2 5 Der Brief ist heute, wie der folgende von H . ZIMMERN, im Besitz von Frau HANNA

GRESSMANN, B e r l i n .

23

Geistige Orientierung

gorien. Es waren ja Anregungen, Wortblitze, gelegentliche Bemerkungen, paradoxe Einfälle, klug gestellte Fragen, was wir von ihm hörten. Und das wirkte dann nach, Gott weiß wie u. wann. Jedenfalls trägt er neben Usener u. Lagarde ein Teil der Verantwortung für die „Religionsgeschichtliche Schule" . . . HEINRICH ZIMMERN, GUNKELS Freund aus ersten Tagen in Halle, erinnert sich in einem Brief an H. GRESSMANN vom 22. 8. 1913 wie folgt: Lieber Herr Kollege, Entschuldigen Sie, bitte, daß ich doch nicht so ganz rasch zur Beantwortung Ihres freundlichen Briefes kam, wie ich gerne wollte. Ich hatte allerlei Abhaltungen dieser Tage. Ihre Auffassung und Charakterisierung der Sachlage, speziell audi soweit sie sich gegen die Harnack'sche Behauptung von Eichhorn als dem Gründer wendet, kann ich in jeder Hinsicht nur voll bestätigen und unterschreiben. Das Hauptverdienst in der ganzen Sache kommt entschieden Gunkel zu. Meine Beziehungen zu Eichhorn waren übrigens doch nur ziemlich loser Natur und bestanden eigentlich wirklich nur darin, daß wir längere Zeit hindurch beim Mittagstisch zusammentrafen u. dabei Eichhorn allerlei Zwischenbemerkungen machte, insbesondere allerlei Fragen aufstellte, wenn zwischen Gunkel u. mir über bibl. Apokalyptik u. babyl. Mythologie die Rede war. So erinnere ich mich ζ. B. noch, daß es wohl Eichhorn war, der einst darauf hinwies, daß es wohl eine besondere Bewandtnis damit haben müsse, wenn in Apoc. Joh. 12 von dem großen Adler, und nicht etwa blos von „einem" großen Adler die Rede sei. Vgl. dazu die Bemerkung in der Vorrede zu Gunkels Schöpfung u. Chaos S. V I I unten. Aber eben in dem Aufstechen solcher einzelnen Auffälligkeiten bestand, soweit ich wenigstens davon einen Eindruck u. eine Erinnerung habe, auch der ganze positive Beitrag in der damaligen Zeit des Hallenser Zusammenseins; u. dann allerdings stark in der kritisierenden und vor zu starkem Übertreiben warnenden Betätigung Eichhorns, wie Sie das ganz richtig u. treffend geschildert haben. Mag sein, daß er in der davor liegenden Göttinger Zeit des Zusammenseins mit Gunkel (ich glaube wenigstens, daß eine solche stattgefunden hat) etwas mehr auch direkt und sachlich auf Gunkel eingewirkt hat. In jener Göttinger Zeit hat wohl auch Wrede die Beeinflussung von Eichhorn erfahren. Das könnten Sie ja Alles jedenfalls viel sicherer von Gunkel direkt erfahren, als von mir. In Halle war, außer dem Germanisten Otto Bremer für einige Zeit auch nodi Carl Clemen in unserem Kreise, aber wohl erst zu der Zeit, als Schöpfung und Chaos bereits geschrieben war und auch ohne daß große innere Harmonie zwischen Gunkel u. mir einerseits und Clemen andererseits bestand. An Κ Α Τ habe ich damals in Halle (in den Jahren 1890—1894) nodi nicht gearbeitet, sondern erst mehrere Jahre später in Breslau und dann in Leipzig (1899—1902). Die freundlichen Grüße audi Ihrer sehr verehrten Frau Gemahlin erwidere ich angelegentlich. Ihr aufrichtig ergebener H . Zimmern. Z e i t l i c h f ä l l t d e r d i r e k t e E i n f l u ß EICHHORNS a u f GUNKEL in die Z e i t

nach Ostern 1884, wo EICHHORN nach seinem Abschied aus dem Pfarrdienst nach Göttingen zurückkehrt, um sich auf die akademische Laufbahn vorzubereiten. Allerdings stand der sich dort bildende Freundeskreis brieflich mit ihm in regem Verkehr 2 6 . GUNKEL selbst hat aus der Bedeutung, d i e EICHHORN f ü r i h n h a t t e , nie ein H e h l g e m a c h t ; o b EICHHORN a l l e r M

H . GRESSMANN, A. Eichhorn 5, vgl. oben S. 20 A. 12.

24

Die Anfänge

dings für GUNKELS Entwicklung allein entscheidend wurde, steht dahin. Denn EICHHORNS Ideen fielen bei ihm auf bereits gepflügten Acker. V o r ihm waren es zwei andere große Männer gewesen, die auf den jungen Studenten mit dem frühgeweckten geschichtlichen Sinn einwirken konnten: LAGARDE in G ö t t i n g e n und HARNACK in Gießen. P A U L DE L A G A R D E 2 7 , 1 8 2 7 — 1 8 9 1 , ist ohne Zweifel eine der originellsten

Gestalten unter den Theologen des 19. Jahrhunderts 2 8 . GUNKEL hat bei ihm Arabisch und Syrisch gelernt, das LAGARDE eigens für ihn anzeigte 2 9 . E s entwickelte sich ein freundschaftlicher Verkehr, bei dem der „vielseitige und rätselhafte L a g a r d e " 3 0 den jungen GUNKEL auch in sein theologisches Denken einführte 3 1 . D a LAGARDE theologische Forschung vornehmlich als Geschichtswissenschaft verstand, mußten bei GUNKEL verwandte Saiten angerührt werden. Ein Lagardianer ist er aber nie geworden, und später hat er sich heftig dagegen gewehrt, in LAGARDE einen Vorläufer der R e ligionsgeschichtlichen Schule akzeptieren zu sollen 3 2 , im Gegensatz also zu E . TROELTSCH33.

Der eigentliche und zeit seines Lebens von ihm verehrte Lehrer w a r ein anderer: ADOLF HARNACK34. „Die drei Semester, die ich unter seinem Katheder in Gießen gesessen habe, sind mir noch jetzt in treuer Erinnerung. Z w a r w a r ich schon von Jugend an für die geschichtliche Forschung gewonnen und hatte bereits in Göttingen den Unterricht des gelehrten und feurigen R e u t e r 3 5 genossen; aber während mir bei diesem und dem feinen H a s e 3 8 , dessen Bücher ich mit Entzücken las, alle Dinge wie auf einer 2 7 Geboren als Sohn des Gymnasiallehrers WILHELM BÖTTICHER 1827 in Berlin; nach seiner Adoption durch seine Großtante ERNESTINE DE LAGARDE trug er ihren Namen, R G G 2 I I I , 1929, 1 4 5 2 . 1 8 6 9 kam er als Nachfolger EWALDS nach Göttingen. 28

V g l . z u DE LAGARDE R E ' X I , 1 9 0 2 ,

212—219.

A. RAHLFS, Paul de Lagardes wissenschaftliches Lebenswerk im Rahmen einer Geschichte seines Lebens dargestellt, 1928, 91 f. 29

30

S o b e z e i c h n e t e G U N K E L i h n , n a c h BAUMGARTNER, V T S I X , 1 9 6 3 , 3 .

Die Polemik gegen RITSCHL dürfte dabei eine große Rolle gespielt haben. In einem Brief an GUNKEL vom 18. 6. 1890 schreibt DE LAGARDE: „Eigentlich, lieber Gunkel, sollten Sie die Ritschlschlachtung brevissime erhalten." Dabei könnte es sich um LAGARDES „Bescheinigung über den richtigen Empfang eines von Herrn O t t o Ritsehl an mich gerichteten offenen Briefes" von 1890 handeln, auch Mitteilungen I V , 1891, 163 ff. Die Polemik trifft also in diesem Fall auch den Sohn. 3 2 s. unten S. 53 A. 15. 3 8 Vgl. oben S. 23. 3 4 Zu HARNACK brauche ich nur zu verweisen auf die Biographie seiner Tochter 31

AGNES VON Z A H N - H A R N A C K , A d o l f v o n H a r n a c k , 1 9 3 6 . 35

G e m e i n t ist d e r K i r c h e n h i s t o r i k e r HERMANN R E U T E R , 1 8 1 7 — 1 8 8 9 , d e r 1 8 5 5

Ordi-

narius in Greifswald wurde und im selben J a h r 1876, da er mit TH. BRIEGER zusammen die Zeitschrift für Kirchengeschichte ins Leben rief, nach Göttingen überwechselte. Zu RITSCHLS Theologie, die er als „Intellektualismus" empfand (KOLDE), hatte er keinen Zugang. 1881 wurde er Abt von Bursfelde. Über Leben und Werk vgl. TH. KOLDE in R E 3 16, 1905, 36

696—703.

K A R L A U G U S T VON H A S E , 1 8 0 0 — 1 8 9 0 ,

a b 1 8 3 0 zuerst als a u ß e r o r d e n t l i c h e r ,

ab

1836 als ordentlicher Professor in Jena, hat eine Fülle vor allem kirchengeschichtlicher Werke verfaßt. Gelesen hat er noch bis 1883, aber GUNKEL hat ihn nicht persönlich kennengelernt. Über HASE vgl. G . KRÜGER in R E 3 7 , 1 8 9 9 , 4 5 3 - 4 6 1 .

Geistige Orientierung

25

Fläche aufgetragen erschienen, lernte ich erst bei Harnack, daß die Geschichte des menschlichen Geistes in Perioden verläuft, aus denen die Einzelgestalten erst wahrhaft zu verstehen sind und Licht und Luft empfangen . . . Und diese Schulung in der Erkenntnis des Persönlichen war mir um so wertvoller, als der neben Harnack wirkende Stade, unter dessen Einfluß ich damals in hohem Grade stand, gerade für das Persönliche, durch dichterische Anschauung zu Erfassende, weniger begabt war . . . Kein Wunder, daß dieser Einfluß Harnacks auch späterhin in meinen Schriften stark hervorgetreten i s t . . . Zum Zeichen der dankbaren Verehrung habe ich ihm mein Hauptwerk, die ,Genesis', gewidmet." 3 7 RITSCHL a u f d e r e i n e n Seite — HARNACK

38

, DE LAGARDE u n d E I C H H O R N

auf der anderen, das war so der äußere Rahmen, innerhalb dessen GUNKEL die Fundamente legte für seine künftige Entwicklung. Aber was meint das in der Sache? Mit dem zum Schlagwort werdenden Begriff der Religionsgeschichte 3 ' ist eigentlich bereits alles umschrieben, was diese junge Garde ihre neuen Gedanken als den Anbruch einer neuen Zeit erleben und sie mit einem unheimlichen Elan an die Arbeit gehen ließ. 1914 sagt GUNKEL in einem als Rechenschaftsbericht zu verstehenden Aufsatz über Entstehung und Ziele der Religionsgeschiditlichen Schule 40 von sich und seinen Freunden, daß ihnen die Worte „Religion" und „Geschichte" als die „Leitsterne unseres Lebens erschienen" seien. „Die Begeisterung ist es, die den Ausdruck ,Religionsgeschichte' in diesem Sinne geprägt hat. Vor unseren Augen stand, uns erhebend und hinreißend, ein wundervolles Bild: die biblische Religion in ihrer ganzen Herrlichkeit und Würde. Es war uns 3 7 GUNKEL, Die Lieder in der Kindheitsgeschichte Jesu bei Lukas, Festgabe A. von Harnack zum 70. Geburtstag 1921, 43 f. O b e r den Einfluß WELLHAUSENS auf GUNKEL wird an anderer Stelle zu reden sein, vgl. unten S. 46 ff. D a ß beide Männer sich persönlich gekannt haben, ergibt sich aus den äußeren Lebensdaten nicht von selbst. K . v. RABENAU, Tendenzen der Theologie im 2 0 . Jahrhundert, hg. v. H . J . SCHULTZ, 1966, 87, verzeichnet Göttingen als Stätte der Begegnung. 3 8 Der scheinbare Widerspruch, der darin besteht, daß der als RiTscHLianer geltende HARNACK hier auf der gegen RITSCHL stehenden Seite erscheint, erklärt sich leicht dahin, daß GUNKEL durch HARNACK in seinem geschichtlichen Denken bestärkt wurde, was methodologisch mehr ins Gewicht schlug als systematisch-theologisch. 3 * D e r Begriff fällt in der Verbindung „religionsgeschichtliche Methode", soweit ich sehe, zum erstenmal bei GUNKEL in einer Rezension in T h L Z 1889, 369. Bei EICHHORN selbst erscheint er erstmals 1898 in seiner Abhandlung über das Abendmahl im N T , vgl. dazu H . GRESSMANN, A. Eichhorn 14. 4 0 C . COLPE, Die religionsgeschichtliche Schule, 1961, 9 A.L hat darauf hingewiesen, daß W . BOUSSET 1907 bei einem Vortrag in Göttingen die für die von ihm und seinen Freunden vertretene Richtung innerhalb der theologischen Wissenschaft bereits aufgekommene Bezeichnung Religionsgeschichtliche Schule mit einiger K r i t i k als Selbstbezeichnung aufgenommen hat. J . HEMPEL weiß zu berichten, daß die Bezeichnung 1904 von A . JEREMIAS in polemischer Absicht zuerst geprägt worden ist; R G G V 3 , 1961, 9 9 1 . G . W . ITTEL, Urchristentum und Fremdreligionen im Urteil der Religionsgeschichtlichen Schule (Phil. Diss. Erlangen, Maschinenschrift), 1956 geht S. 1 6 — 2 2 den verschiedenartigen Bedeutungen nach, die dem Namen dieser Schule im Laufe der Zeit und in den verschiedenen theologischen Lagern beigelegt wurden.

26

Die Anfänge

aufgegangen, daß eine solche Erscheinung nur verstanden werden kann, wenn man sie in ihrer Geschichte, in ihrem Werden erfaßt. Es erschien uns als eine erhabene Aufgabe, diese Religion in ihrer Tiefe und Breite zu erkennen, ihren viel verschlungenen Gängen nachzuspüren, ihre tiefsten Gedanken bei der Stunde ihrer Entstehung zu belauschen. Man hat später oft darüber nachgedacht, aus welchen Quellen die religionsgeschichtliche Bewegung zusammengeflossen sei, und ist dabei manchmal auf die absonderlichsten Vermutungen verfallen. In Wirklichkeit ist sie nichts anderes als eine neue Welle des gewaltigen geschichtlichen Stromes, der sich von unseren großen idealistischen Denkern und Dichtern her über unser gesamtes Geistesleben und auch seit lange in unsere Theologie ergossen hat." 4 1 1 9 2 2 sieht sich GUNKEL gezwungen, aus Anlaß eines Vortrags von RUDOLF K I T T E L , den dieser im September 1 9 2 1 vor den Vertretern der verschiedenen alttestamentlichen Richtungen in Leipzig gehalten und wobei er audi auf die Entstehung der Religionsgeschichtlichen Schule Bezug genommen hatte 42 , gegen dessen Darstellung Protest einzulegen. Er schreibt: „So muß der Unterzeichnete als einer von denen, die diese Anfänge noch mit erlebt haben und von ihnen Zeugnis ablegen können, feststellen, daß Kittels Auffassung der Sache zwar weitverbreitet ist, aber dennoch auf Irrtum beruht. Die ,Schule' entstand nicht, wie er es beschreibt, durch den Einfluß der orientalischen Ausgrabungen (TellAmarna) und Entdeckungen, audi nicht durch den der ,Allgemeinen Religionsgeschichte', mit der sie zunächst nichts zu tun hatte, sondern sie war eine durchaus innertheologische Bewegung; sie entstand durch eine innere Wandelung, die bereits in der Mitte der achtziger Jahre, ganz ohne diese Einwirkungen, in einem Freundeskreise junger Theologen begonnen hatte. Sie bezog sich zunächst auch nicht sowohl auf das Alte, sondern das Neue Testament. Sie strebte aus der Engigkeit der Schranken des damaligen wissenschaftlichen Betriebes in die Weite und Freiheit; heraus aus den Schranken des Kanons und des kirchlichen Dogmas über die Bibel, aus der Einseitigkeit der dogmatisierenden ,Biblischen Theologie' und allzu philologischen Literarkritik, aus einer allzu spitzfindigen oder modernisierenden Schrifterklärung, aus alledem, was uns von der Erfassung der biblischen Religion trennte, audi aus der Isolierung des Alten und Neuen Testaments von seinen durch die Geschichte gegebenen Verbindungen mit andern Religionen, mitten hinein in den flutenden Strom der wirklichen Geschichte

4 1 GUNKEL, Was will die „religionsgeschichtliche" Bewegung? Deutsch-Evangelisch 5, 1914, 356 f. 4 2 R. KITTEL, Die Zukunft der Alttestamentlichen Wissenschaft, ZAW 39, 1922, 84—99.

Geistige Orientierung

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d e r biblischen Religion. Denn das w a r unser eigentlichstes und letztes Bestreben, die Religion selber in ihrer Tiefe und Breite zu erfassen." 4 3 Daraus ergibt sich eine andere Frage, in der man der Religionsgeschichtlichen Sdiule von A n f a n g bis Ende V o r w ü r f e gemacht und Verdächtigungen gegen sie ausgesprochen hat, so als ginge es ihr um eine Geschichte aller Religionen, unter denen die christliche eben n u r eine unter anderen sei. Nichts liegt jedenfalls GUNKEL ferner, und so sagt er auch hier: „Wenn w i r also damals,Religionsgeschichte' auf unser Banner schrieben, so dachten wir nicht an eine ,Geschichte der Religionen', sondern an eine Geschichte der biblischen Religion."44 H i e r zeigt sich eine Konsequenz des RiTSCHLschen Ansatzes: H a t t e er selbst die Theologie von der Metaphysik befreit und sie gleichzeitig wieder aufmerksam gemacht auf das, was man Offenbarungsgeschichte nennt, so zeigte sich hier, d a ß die jüngere Generation ihrerseits nicht gewillt war, diesen geschichtlichen Ansatz wieder dogmatisieren und zu einer neuen Form von Metaphysik werden zu lassen. Wenn schon Geschichte — und im Zeitalter der Naturwissenschaften w a r Geschichte auf Seiten der bald von DILTHEY so genannten Geisteswissenschaften das einzig ernstzunehmende P e n d a n t — dann aber auch Geschichte mit all ihrer Freiheit und Mannigfaltigkeit! Das Geschichtsbild darf nicht von der Dogmatik abhängig sein, es ist umgekehrt: auch die Dogmatik ist geschichtlichen Wandlungen unterworfen wie alle anderen Erscheinungen des Geisteslebens. Dies w a r es jedenfalls, was jeder Wissende heraushören sollte aus EICHHORNS 9. Habilitationsthese: „Die Dogmatik ist weder von der Metaphysik noch von der Geschichte unabhängig." 4 5 U n d wenn GUNKEL 1906 den Satz formuliert, der f ü r ihn Axiom und Bekenntnis zugleich ist: „Offenbarung ist nicht widergeschichtlich oder außergeschichtlich, sondern vollzieht sich innerhalb der Geschichte des Geistes" 4 e , so wollte er ihn mit 43 GUNKEL, Die Richtungen der alttestamentlidien Forschung, C W 36, 1922, 66. Mit diesen Sätzen liefert GUNKEL eine Interpretation seines Begriffs von Religionsgeschichte und markiert damit den Graben, der ihn an dieser theologisch entscheidenden Stelle v o n LAGARDE trennt. So wird verständlich, weshalb er sich mit solcher Leidenschaft dagegen wehrt, als LAGARDES „Schüler" zu gelten, vgl. unten S . 5 3 A. 15. Hier liegt auch der Grund dafür, daß man den Einfluß LAGARDES auf die Religionsgeschichtliche Schule so „auffällig gering" bemessen hat, was H.-W. SCHÜTTE zu unrecht rügt, s. Theologie als Religionsgeschichte. Das Reformprogramm Paul de Lagardes, in: N e u e Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 8, 1966, 112. 44 Ebd. Gegen diese Darstellung der Dinge durch GUNKEL hat KITTEL selbst in C W 36, 1922, 3 2 3 f . wieder protestiert, u.a. mit Berufung auf RADE; er rechnet zu den eigentlichen Vätern der Religionsgeschichtlichen Schule nach wie vor: LAGARDE, WELL-

HAUSEN, S T A D E u n d D U H M . 45 Bei H . GRESSMANN, A. Eichhorn 5. Alle 24 Thesen sind abgedruckt bei E. BARNIKOL, A. Eichhorn (1856—1926), in: Wiss. Zeitschr. d. M.-Luther-Universität HalleWittenberg 9, I960, 144 f. 46 CW 1906, 176.

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Die Anfänge

allen Konsequenzen verstanden wissen 47 . Dann wollte er diese Offenbarung mit der wirklichen Geschichte konfrontieren und für sie keinen Naturschutzpark reservieren, wie es RITSCHL in seinen Augen tat. E r fürchtete dabei weder um die Theologie noch um die Kirche 4 8 , sondern war von der Notwendigkeit und Fruchtbarkeit dieses geschichtlichen Bemühens zutiefst überzeugt. So, wenn er schreibt: „ U m so mehr müssen wir uns bemühen, das Banner einer höheren A r t Religion vor allem Volke aufzupflanzen, einer Religion, die nicht von der Geschichte widerlegt, sondern geradezu von ihr gefordert w i r d . " 4 9 Allerdings, ein Banner, das aus lauter programmatischen Äußerungen bestanden hätte, würde in deutschen Landen kein Auge auf sich gezogen haben. Die Arbeit mußte schon ins einzelne gehen, damit man sehen konnte, was das Programm wert sei. GUNKELS erstes Werk zeigte denn auch, welche Fragen er an die neutestamentliche Wissenschaft seiner Zeit zu stellen hatte. Es geht um das biblische Thema des heiligen Geistes und sein geschichtliches Verständnis. Dabei bleibt der traditionelle Rahmen der bisherigen Exegese: Altes und Neues Testament gewahrt, wenn auch — das ist allerdings ein entscheidender Schritt über das Traditionelle hinaus — beide Testamente nun in ein konsequent geschichtliches Verhältnis zueinander gesetzt werden, wobei die Frage nach dem Bindeglied zwischen beiden akut wird. Die „Pfütze des Judenthums" 5 0 kann nicht länger ignoriert, sie muß durchschritten werden, und sollte es nasse Füße geben. 4 7 Der letzte Grund für die vielen Anfeindungen, denen die Religionsgeschichtlidie Schule ausgesetzt war, war, „daß wir mit den Grundsätzen historischer Forschung vollen, unerbittlichen Ernst zu machen gewillt waren und daß wir dadurch in mehr oder weniger schweren Konflikt mit fast allen älteren Richtungen der Theologie geraten sind". GUNKEL, Was will die „religionsgeschichtliche" Bewegung? Deutsch-Evangelisch 5, 1914, 388. 4 8 Anders als WELLHAUSEN verstand GUNKEL seine wissenschaftliche Arbeit durchaus als kirchliche Funktion und verlieh seinen Gedanken über die kirchliche Wirkung der religionsgeschichtlichen Forschung Ausdruck, vgl. etwa das Vorwort zu „Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des N T " V f . : Leichtherzige Neuerungssucht liege ihm fern. „Zumal im Interesse der evangelischen Kirche. Denn der Forscher, der sich als Sohn seiner Kirche fühlt und der kein schöneres Ziel wüßte, als dies, mit seiner Wissenschaft der christlichen Gemeinde zu dienen, kann die Überlegung nicht abwehren, ob seine Ergebnisse, wenn sie sich von der geläufigen Anschauung entfernen, der Gemeinde der Gegenwart förderlich oder nachteilig sein mögen. Solche Erwägungen werden ihn sicherlich zu besonderer Vorsicht führen; aber sie dürfen ihn nicht zum Schweigen verpflichten. Denn vor allem fest steht dies, daß ernste wissenschaftliche Arbeit dem wahren Interesse der evangelischen Kirche niemals widerstreiten kann. So wird auch die religionsgeschichtliche Forschung . . . letztlich dazu dienen müssen, das wahre Wesen des Christentums immer besser zu erkennen und diese unvergleichlich einzige geistige Bewegung, der die Menschheit das Beste verdankt, was sie besitzt, in ihrer ganzen gesdiichtlidien Größe zu zeigen." Vgl. auch unten S. 81 ff. über GUNKELS Beitrag zur Popularisierung der theologischen Forschung.

Beiträge 63. GUNKEL in seiner Rezension von O. EVERLING, Die paulinische Angelologie und Dämonologie in T h L Z 14, 1889, 369. 49

50

D i e Wirkungen des heiligen Geistes

29

3. Die Wirkungen des heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus, 1888 GUNKEL wollte Exeget, und zwar Neutestamentier, werden, wie BOUSSET, WREDE u n d WEISS 1 es auch w u r d e n . E s w a r k l a r , d a ß eine A u s -

einandersetzung mit RITSCHL nur auf dem Boden des Neuen Testaments stattfinden konnte. So erscheint denn GUNKELS Erstlingsschrift als ein Abschluß seiner bisherigen Studien, von denen HUGO GRESSMANN zu sagen weiß: „Als Student hatte er ( = GUNKEL) begonnen, selbständig die Erklärung des Neuen Testamentes zu suchen, in der Überzeugung, es müsse historisch, aus einer unmittelbar vorgehenden Erscheinung, und nicht aus dem Alten Testament erklärt werden. Er studierte dazu die Apokryphen und glaubte eine Zeit lang, in der Apokalyptik die anzunehmende Vorstufe gefunden zu haben. Zugleich schaute er sich in der Umwelt des Judentums um, in der von vornherein feststehenden Grundanschauung, daß ein Volk oder eine Religion ohne seine Umwelt nicht verständlich sei." 2 So liegt denn audi die Bedeutung der „Wirkungen" nach der einen Seite hin darin, das historische Verhältnis von Altem und Neuem Testament zueinander nachdrücklich herausgestellt zu haben. Ohne daß RITSCHLS N a m e n in dem ganzen Buch fällt, heißt es bereits S. 3 pointiert gegen ihn: „Dennoch (obwohl das Neue Testament nicht ohne das Alte entstanden ist) wird so viel sicher sein, daß man mit der größten Behutsamkeit verfahren muß, wenn man N.T.liche Anschauungen als Nachwirkungen A.T.licher im Judentum abgestorbener Gedanken erweisen will. Zunächst besitzt immer die Annahme des jüdischen Einflusses eine viel größere Wahrscheinlichkeit als die des A.T.lichen." 3 D a s war Sprengstoff f ü r jede irgendwie „positiv" eingestellte Theologie, denn es bedeutete ein ö f f n e n der Grenzen des Kanons, wenn man nun für die Erklärung des Neuen Testaments auf außerkanonische Schriftdenkmäler und außerhalb der Offenbarungsgeschichte Gottes liegende geschichtliche Erscheinungen zurückgreifen sollte. Was damit auf die Theologie 1

JOHANNES WEISS, 1863—1914, gehörte zwar nicht unmittelbar zum engen Freun-

deskreis

d e r EICHHORN, BOUSSET, WREDE, GUNKEL. A b e r

er w a r

in v i e l e m m i t

ihnen

gleichgerichtet und vor allem in der Opposition gegen RITSCHL mit ihnen einig. Nach seinem epochalen Werk „ D i e Predigt Jesu v o m Reiche G o t t e s " 1892 (2. neubearb. Aufl. 1900, 3. Aufl. 1964), mit dem er RITSCHL für seinen wichtigsten Begriff den neutestamentlichen Boden entzog, übernahm er in diesem Punkt die Führung. Erst in diesen Tagen ist der Versuch unternommen worden, die K r i t i k von WEISS einer genaueren P r ü f u n g zu unterziehen und RITSCHL in etwa zu rehabilitieren. So R . SCHÄFER, D a s Reich G o t tes bei Albrecht Ritschl und Johannes Weiß, Z T h K 61, 1964, 68—88. Vgl. auch R . SCHÄFER, Die Rechtfertigungslehre bei Ritschl und K a h l e r , Z T h K 62, 1965, 66—85. Diese eigentlich längst fällige neue Würdigung RITSCHLS durch R . SCHÄFER klänge allerdings überzeugender, wenn sie nicht belastet wäre durch sich überall verratendes antiapokalyptisdien Ressentiment. 2

H . GRESSMANN, A. Eichhorn 20.

3

Wirkungen 3.

30

D i e Anfänge

zukam, konnte aus den „Wirkungen" noch nicht klar erkannt werden, sollte aber in „Schöpfung und Chaos" von 1895 offenkundig werden. Die Hauptbedeutung dieses Werkes liegt dennoch in der neuen Art der Behandlung des Themas „heiliger Geist im Neuen Testament". An der bisherigen Arbeit 4 hat GUNKEL dies auszusetzen, daß man der Forderung eines Verständnisses aus dem Zusammenhang nur so gerecht zu werden sucht, daß man des Apostels Lehre vom Geist sinnvoll mit dem Gesamtgefüge seines theologischen Lehrgebäudes zu verknüpfen sucht. Dagegen hat er natürlich nichts einzuwenden, aber es kann sich dabei nur um einen Schritt unter mehreren handeln. Zunächst muß klar sein, was Paulus unter heiligem Geist versteht, wobei gar nicht so klar ist, ob der paulinische Begriff identisch ist mit dem der Theologen des 19. Jahrhunderts. Die paulinischen Ausführungen müssen hineingestellt werden in den Gedankenkreis der Umwelt des Apostels, d. h. ohne die Kenntnis von den Vorstellungen der Urgemeinde bleibt Paulus konturenlos. „Denn es ist wohl unbestreitbar, daß auch die Stellung des Paulus in diesem Punkte seiner Lehre nur dann richtig verstanden werden kann, wenn man sich zunächst die Vorstellungen vergegenwärtigt, welche der Apostel hierüber in christlichen Kreisen vorfand." 5 So erklärt sich der umständliche Titel dieser erweiterten Habilitationsschrift, die sich ausnimmt wie eine Probe auf den später formulierten Grundsatz: „Geschichtliche Exegese heißt also die Erklärung aus dem Zusammenhang. D. h. wir dürfen den einzelnen Gedanken niemals für sich allein denken, sondern wir müssen ihn zusammenstellen sowohl mit den übrigen Gedanken des Schriftstellers wie auch mit den Gedanken jener Zeit über denselben Gegenstand." 6 Aber auch die Vorstellungen der Urgemeinde ihrerseits bedürfen wieder einer geschichtlichen Hinterfragung. Die Frage, die GUNKEL hier unüberhörbar aufwirft, lautet: Können die Vorstellungen der Urgemeinde direkt auf das Alte Testament zurückgeführt werden, oder gibt es Zwischenglieder? Bis auf den heutigen Tag sind Bestrebungen erkennbar, dieses Problem zu verharmlosen, indem man die geschichtliche Erforschung der in Frage kommenden Zeiträume unterläßt. Andererseits findet sich neben dieser exegetischen Neuorientierung ein neuer hermeneutischer Ansatz, der gekennzeichnet ist durch die Geringschätzung alles Dogmatischen zugunsten von Anschauung und Erfahrung des Lebens selbst. GUNKEL ist es nicht zu tun um die urchristliche oder 4 GUNKEL hat vor allem die beiden letzten Arbeiten zu diesem Thema vor Augen: WENDT, Die Begriffe Fleisch und Geist, 1878 und J. GLOEL, Der Heilige Geist in der Heilsverkündigung des Paulus, 1888. 5 Wirkungen 1. 8 R u A 26. Eine Seite der Sache stellte bereits A. EICHHORNS 14. Habilitationsthese heraus, bei GRESSMANN, A. Eichhorn 8: „Für alle historischen Einzeluntersuchungen muß der Grundsatz gelten, niemals einzelne Fragen, sondern stets v o n vornherein das ganze Gebiet, dem die einzelne Frage angehört, in Angriff zu nehmen."

Die Wirkungen des heiligen Geistes

31

paulinische Lehre vom Geist, ihm geht es um die Wirkungen, die dem Geist zugeschrieben werden. Dogma, Lehre, Definition ist das Sekundäre, lebendige Erfahrung ist das Primäre. Deshalb will er sich nicht „mit dem dogmatischen Begriffe ,Geist' beschäftigen" 7 , sondern muß versuchen, „den Begriff einer Geisteswirkung und darnach den des Geistes selbst zu definieren" 8. Das kann nur so geschehen, daß gefragt wird, „was für Erscheinungen in den Gemeinden und bei Paulo für pneumatisch gelten, und warum grade diese vom Geiste abgeleitet werden" 9 . Wenn ich recht sehe, ist GUNKEL bewegt von der Frage nach dem Lebensbezug einer theologischen Lehre 10 . Die Aufgabe eines Theologen ist nicht damit erschöpft, die „Lehre" eines neutestamentlichen Autors exakt wiederzugeben. Ginge es darum, dann reichte es wirklich zu, „den Geist bei Paulus als einen ,Begriff' aufzufassen, den man nur richtig zu definieren braucht, um sich seiner zu bemächtigen" n . Was bei einem solchen dogmatisch orientierten Vorgehen übersehen wird, ist das eigentlich Wertvolle. Es entsprechen nämlich dem „Begriff" Geist bei Paulus „sehr konkrete Anschauungen und tief innere Erfahrungen, die man dem Apostel nachempfinden muß, um seine dogmatischen Aussagen verstehen zu können" 12. Die Lehre ist Abstraktion 13 , der mehr oder weniger gelungene sprachliche Ausdruck des Gefühlten und Geschauten, so daß jede Lehre eigentlich immer wieder ins Leben rückübersetzt werden muß. Daraus ergibt sich, daß es „die weit schwerere und anziehendere Pflicht des Theologen ist, dieselben ( = die Aussagen nt. Schriftsteller) aus ihren Anschauungen und Erfahrungen heraus zu verstehen" 14. Es tut sich hier bereits bei GUNKEL ein Hiatus auf zwischen Theologie und Religion, Denken und Erleben, zwischen dem Theologen und dem religiösen Menschen, wie er sich dann immer schärfer herausbildet. Auch der spätere Literaturgeschichtler, der wie kaum ein anderer die ästhetische Form eines Gedankens zu analysieren und zu würdigen weiß, drängt doch immer wieder darüber hinaus zu dem Menschen, der diesen Gedanken gedacht hat, so daß vor dem Hintergrund des Letztgültigen die ästhetische Form keinen eigenen Wert besitzt. Er bringt es fertig zu sagen: „Denn nirgends sind Worte das Eigentliche. Nur dem Kleinigkeitskrämer sind sie die Haupt8 Wirkungen 1. Wirkungen 2. Ebenda. In den so gewiesenen Bahnen hat später WEINEL, der zu einem Schüler GUNKELS wurde, sein Buch „Die Wirkungen des Geistes und der Geister im nachapostolischen Zeitalter bis auf Irenaus", 1899 geschrieben und dabei GUNKELS Arbeit fortzusetzen versucht, sehr zu dessen Lob, vgl. Wirkungen, 3. Aufl. 1909, Vorwort. 10 Das im folgenden Ausgeführte erklärt, wie er auf die geniale Idee kommen konnte, seiner späteren Gattungsforschung die entscheidende soziologische Komponente zu geben. 11 Wirkungen 62. 12 Ebenda, Kursivierung von mir. 13 Nach Mitteilung von Gunkels Sohn war das Wort „konkret" bei GUNKEL ein Hauptwort, das zusammen mit dem Wort „Anschauung" auf seine Vorliebe für GOETHE zurückgeht und einen betont antiphilosophischen Affekt widerspiegelt. 14 Wirkungen 62. 7

9

32

Die Anfänge

sache, Worte sind Ausdrucksmittel der Gedanken und Empfindungen. Und auch diese sind nicht das letzte; Gedanken und Empfindungen sind die Äußerungen der lebendigen, bewegten Seele. Die Seele des Menschen, das geheimnisvolle Innenleben, das sich der Außenwelt offenbart, indem es sich ausspricht, das ist das eigentlich Wertvolle." Das Buch ist wertvoll, „weil es der Spiegel ist, in dem der lebendige Mensch wiedererscheint" 15 . Diese Unterscheidung und Wertabstufung meint G U N K E L nicht an Paulus heranzutragen, um ihn so dem modernen Menschen wieder verständlich zu machen; er meint diesen Gegensatz vielmehr bei Paulus selbst konstatieren zu können. Paulus erscheint ihm als ein Theologe, der „in erster Linie gar nicht theoretisch-dialektisch, sondern praktisch-religiös interessiert ist" , e . Bereits in seinem ersten Werk — und das zeigt, wie fertig er schon in seinen grundlegenden Anschauungen war, als er begann — sagt er dem herrschenden exegetischen Betrieb, was sich dann bald zur Polemik gegen die öde Literarkritik verdichtet, den Kampf an, wenn auch die deutlichsten Worte in diese Richtung sich vorerst in einer Anmerkung finden: „Ich bin überzeugt, daß die biblisdie Theologie um so mehr gefördert wird, je mehr die Erkenntnis sich Bahn bricht, daß es sich im N.T. um lebendige Anschauung und nicht um scharf abgegrenzte Lehrbestimmungen handelt." 17 Betont gegen W E N D T heißt es: „Die Theologie des großen Apostels ist Ausdruck seiner Erfahrung, nicht seiner Lektüre (sc. des Alten Testaments)." 18 Das Ergebnis der Arbeit besteht in der Erkenntnis, daß die paulinische Anschauung vom heiligen Geist sich charakteristisch von der urchristlichen abhebt und auch in der heutigen Zeit noch von Belang ist. Geht die populäre Auffassung der neutestamentlichen Zeit in wesentlicher Übereinstimmung mit der Auffassung des Alten Testaments 19 dahin, daß alle Erscheinungen des christlichen Lebens von „geheimnisvoll-mächtiger und unerklärlich gewaltiger Art" (charakteristischstes Beispiel: die Glossolalie) als vom Geist gewirkt aufgefaßt werden, so befindet sich Paulus damit in völliger Übereinstimmung; nicht jedoch auch in der Beurteilung dieser Phänomene. Er mißt den Wert der geistgewirkten Erscheinungen daran, ob sie der οικοδομή dienen; nur soweit sie das tun, sind sie wertvoll. Also 15

19 RuA 12. Wirkungen 62. Wirkungen 62 Α. 1, Kursivierung von mir. Was bei GUNKEL nur eine Unterscheidung ist, wird bei WEINEL, a. a. Ο. VI f. recht enthusiastisch zu einem absoluten Gegensatz weiterentwickelt, so daß sich gar BOUSSET ZU der Frage veranlaßt sieht, „ob man hier mit dem berechtigten Gegensatz gegen das Begriffliche und Vorstellungsmäßige und mit der Vorliebe für das Unausgesprochene, Erlebte, in der Erfahrung Empfundene nicht bereits übers Ziel hinausgeschossen sei". Die Religionsgeschichte und das N e u e Testament, ThR 7, 1904, 272. 18 Wirkungen 86. 19 Der Hauptunterschied von A T und N T besteht darin, daß im A T der Geist besonders herausragenden Personen vorbehalten ist, der gemeine Israelit nidit über ihn verfügt, während nach der populären Anschauung des N T alle Christen als vom Geist begabt gelten. 17

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in der „ethischen Beurteilung" 20 geht Paulus eigene Wege. Darüber hinaus aber faßt Paulus auch den Kreis der vom Geist gewirkten Erscheinungen viel weiter als die Urgemeinde und rechnet dazu auch die nichtspektakulären Erscheinungen wie Liebe, Freude, Friede, Langmut. „Die Gemeinde . . . hält für pneumatisch das Außerordentliche im Christenleben, Paulus das Gewöhnliche; jene das einzelnen Eigentümliche, er das Stetige; jene einzelnes im Christenleben, er das Christenleben selbst." 2 1 Woher hat Paulus diese Anschauung vom heiligen Geist? Antwort: aus seiner eigenen Erfahrung. „Paulus glaubt an den göttlichen Geist, weil er ihn erfahren hat." 2 2 Diese Erfahrung hat Paulus bei seiner Bekehrung gemacht, wo er erlebte, daß aus ihm ein neuer Mensch wurde. Dieser Wandel aber liegt nicht in den Möglichkeiten der menschlichen Natur, sondern muß als vom heiligen Geist selbst gewirkt angesehen werden. So versteht denn Paulus seinen ganzen neuen Wandel als von diesem Geist gewirkt, was G U N K E L im Sinne von Paulus so formuliert: „das Christenleben ist aus der Welt schlechthin unbegreiflich; es ist ein Wunder Gottes." 2 3 Oder deutlicher: „Der Christenstand ist nicht ein organisch hervorgehendes Produkt des früheren Lebens. . . Ein Christenleben kommt zu Stande durch einen Bruch, durch das Eingreifen eines Uebernatürlidien, Neuen, d. h. des Geistes Gottes." 2 4 Hieran kann G U N K E L seine eigene Zeit und sich selbst anschließen, indem er die paulinische Rede und Vorstellung vom Geist Gottes ihres zeitgebundenen Kolorits entkleidet und davon das Wesentliche unterscheidet. Er sagt: „Die Geistesgaben der apostolischen Zeit sind verschwunden, wenn auch in einzelnen christlichen Kreisen vielleicht Aehnliches bis heute beobaditet werden mag. Aber wir können diese wunderbaren Gaben auch entbehren. Denn noch heute erfahren wir täglich andere Geisteswirkungen in unserm Leben. Audi uns ist der Christenmensch ein Wunder Gottes." 2 5 G U N K E L würde sich sehr wundern, wollte man auf Grund dieser Sätze von ihm behaupten, damit habe er den Idealismus überwunden oder gar überwinden wollen. Nichts lag ihm ferner. Aber dennoch muß man an dieser Stelle sagen, daß Sätze des Neuen Testaments ihn zu Worten geführt haben, die er ohne diese „Vorlage" sicher nicht gefunden und jedenfalls nicht als seine Meinung freiwillig und ungefragt geäußert hätte. Wo G U N K E L nämlich als er selbst spricht, da merkt man nichts von einem „Bruch" im geistigen Leben des Menschen, da gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen dem Geist Gottes und dem Geist des Menschen. Statt vieler Prosabelege hier ein poetischer: Aus allem Handeln irdischer Geister Webt sidi ein Kleid der ewige Meister. 26 2 1 Wirkungen 82. 2 2 Wirkungen 86. Wirkungen 77. 2 4 Ebenda. 2 5 Wirkungen 83. Wirkungen 81. 2 6 Aus einem Gedicht „ S ü n d e " aus dem Nachlaß, Entstehungszeit nicht zu ermitteln. GUNKEL hat mehrfach Gedichte veröffentlicht, vor allem in der C W . Eines („Gericht") 20

23

3

K l a t t , Gunkel

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Die Anfänge

In, mit und unter aller Geister-Geschichte27 ist Gott am Werk, dieser Geist ist hier wie dort derselbe. Die Bestimmung des irdischen Geistes ist die Vollendung zum absoluten, dem göttlichen Geist. Man muß urteilen, daß G U N K E L seine Ansätze in den „Wirkungen" selbst nicht durchgehalten hat, sondern auf der idealistischen Woge weitergeschwommen ist. 1888 aber schreibt er: „Die Wirkung des Geistes ist also nicht etwa eine Steigerung des in allen Menschen befindlichen Natürlichen, sondern das schlechthin Uebernatürliche und daher Göttliche." 28 In seinem Schlußsatz aber formuliert er das unüberwindliche Hindernis für die Übernahme dieser apostolischen Geistlehre in seine Zeit: „Freilich, wie nur der die πνεύμα -Lehre des Paulus versteht, der in die Weltanschauung des Supernaturalismus sich hineindenken kann und will, so kann auch nur der über den Geist in vollem Sinne N.T.lich, d. h. hier paulinisch, lehren, der diese Weltanschauung billigt." 2 9 Aber G U N K E L billigt sie keineswegs. Bevor wir zusammenfassen, sei noch auf einen Punkt verwiesen, der für die alttestamentliche Forschungsgeschichte nicht ohne Interesse ist. Gemeinhin gilt B E R N H A R D D U H M als der Entdecker der pneumatisch-ekstatischen Komponente bei den alttestamentlichen Propheten. So schreibt etwa W. B A U M G A R T N E R : „Duhm hat uns audi die Augen für die Rätsel ihres (sc. der Propheten) Seelenlebens geöffnet und in kleineren Schriften die Bedeutung der ekstatischen Erscheinungen für die Religionsgeschichte anschaulich gemacht." 30 Nun ist aber G U N K E L bei der Sichtung pneumatischer Erscheinungen im Neuen und im Alten Testament bei den alttestamentlichen Propheten auf Erscheinungen gestoßen, die denen bei den urchristlichen Pneumatikern ähnlich sind 31 . So sieht sich denn B A U M G A R T N E R in den Nachträgen zu einer Korrektur zugunsten von G U N K E L veranlaßt: „Tatsächlich hat Gunkel bereits in seiner Erstlingsschrift . . . die pneumatischen Erfahrungen der Propheten herangezogen und damit wohl als erster so behandelt." 3 2 Fazit: „Die literarische Priorität liegt somit bei G U N K E L , natürlich ohne daß dies Abhängigkeit auf D U H M S Seite bedeuten würde." 3 3 wurde aufgenommen in die Anthologie „ D e r heilige G a r t e n " , Ein Hausbuch religiöser Lyrik, hg. v. R . GÜNTHER, 3. Aufl. 1920 und in: Trost und Licht des Wortes. Die Christusbotsdiafl im Gedicht unserer Tage, dargestellt von C.BOURBECK, 2. Aufl 1948. 2 7 GUNKELS Geschichtsbegriff umfaßt, terminologisch gebraucht, nur die Geschichte des Geistes, auf welchen hin alles äußere Geschehen zu hinterfragen ist. So sehr hier an RITSCHL zu denken sein wird, von wo aus sich die Identifizierung von Reich der Geister mit Reich Gottes nahelegt, erklärt dieser G e d a n k e doch gleichzeitig auch, weshalb GUNKEL sich scherzhaft als „letzten Hegelianer" bezeichnen konnte. (Mitteilung seines Sohnes) 2 8 Wirkungen 24. 2 9 Wirkungen 110. 3 0 W. BAUMGARTNER, Israelitischer Prophetismus, in: Zum Alten Testament und seiner Umwelt, 1959, 37. 3 1 Wirkungen 34 ff. 3 2 BAUMGARTNER a. a. O. 41. 33

BAUMGARTNER V T S I X , 1 9 6 3 , 5.

D i e Wirkungen des heiligen Geistes

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Bei seiner Beschäftigung mit den alttestamentlichen Propheten kommen GUNKEL Zweifel, ob er seiner selbstgesteckten Aufgabe in den „Wirkungen" voll gerecht geworden ist. 1899, bei der Neuauflage seines Werkes, ist er der Meinung, noch viel zu sehr „vom Standpunkt des fremden, hinzukommenden Beobachters" geschrieben zu haben. Jetzt sieht er, „daß diese Dinge erst Leben gewinnen, wenn man . . . im Stande ist, die inneren Zustände des Pneumatikers nachzuerleben. Damals glaubte ich, die Ueberzeugung , es sei ein G e i s t . . . in einem Menschen, erwachse aus gewisssen Wahrnehmungen, die der fremde Beobachter mache . . . Jetzt aber sehe ich, daß die Ueberzeugung, ein Geist rede oder handle durch den Pneumatiker, kein nachträglicher Schluß eines Anderen, sondern eine unmittelbare Erfahrung des Begeisteten selber ist: so erfährt man jene Erlebnisse, als Wirkungen eines fremden Wesens, einer Macht, die nicht das Ich ist". Es handelt sich „um wirkliche psychologische Vorgänge", die nachvollziehbar sind, weil nur „die organisierte Kirche aller Zeiten" behauptet, „daß die Epoche der Propheten und der Offenbarung vorüber sei", in Wirklichkeit aber die pneumatischen Erscheinungen „in besonderen Zeiten und Personen" wieder ans Licht kommen und auch heute noch „unter uns" existieren 3 4 . Mit seiner Erstlingsschrift zeigt GUNKEL eine rein geschichtlich orientierte Alternative zur herrschenden dogmatisch historisierenden Exegese RiTSCHLscher Prägung auf. Dabei erweist es sich als methodisch nidit korrekt, für neutestamentliche Begriffe und Vorstellungen „Anknüpfungspunkte" direkt im Alten Testament zu suchen, weil die neutestamentlichen Zeitgenossen das Alte Testament durch die zeitbedingte Brille eines wie auch immer gearteten Judentums betrachteten. S o formuliert er den für die Folgezeit wichtigen Satz: „Wir werden also als den eigentlichen Mutterschoß des Evangeliums das Judentum bezeichnen müssen." 3 5 Es ist keine Ubertreibung, wenn H . SCHMIDT in der Rückschau über GUNKELS Erstlingswerk feststellt: „Als der 26jährige Privatdozent Hermann Gunkel in Göttingen mit seinem Buch ,Die Wirkungen des heiligen G e i s t e s . . . ' hervortritt, da ist dieses Buch nicht das Glied einer langen Entwicklung; es spricht ein in Wahrheit neues Wort. Man kann nicht sagen, daß es sich leicht in den Rahmen der Ritschl'schen Schule fügt, von der der junge Privatdozent herkommt. Es ist kein Abschluß, sondern ein A n f a n g . " 3 6 Aber GUNKEL sollte seinen Weg ohne den Segen der von ihm am meisten verehrten Männer gehen müssen. Wie wenig später WELLHAUSEN, so distanziert sich hier HARNACK von ihm, indem er in einer ReWirkungen 2. und 3. A u f l a g e V o r w o r t I V f. Wirkungen 4. Für die aktuelle und bleibende Bedeutung dieser Erkenntnis sei nur verwiesen auf den in unseren T a g e n formulierten und ähnlich klingenden S a t z E . KÄSEMANNS, D i e A n f ä n g e christlicher Theologie, Z T h K 57, 1960, 180: „ D i e A p o k a l y p t i k i s t . . . die Mutter aller christlichen Theologie gewesen." 3 0 H . SCHMIDT, In memoriam Hermann Gunkel, ThBl 11, 1932, 98. 34

35

3*

Die Anfänge

36

zension von W E I N E L S „Wirkungen" erklärt, G U N K E L habe „seine Erkenntnisse religiöser Grunderscheinungen mit einer bedenklich atavistischen Theorie der Religionsgeschichte" kombiniert, aber es vertrage „die Geschichte der christlichen Religion, wenn ihr Eigentümliches nicht verwischt werden soll, die Anwendung dieser Betrachtungsweise nur unter großen Einschränkungen" 37 . Was hilft da seine freundliche Prophezeiung, daß dies Buch G U N K E L S „in der Geschichte der Theologie unvergessen bleiben wird" 3 8 ?

4. Die Bedeutung der

Apokalyptik

In der Folgezeit hat G U N K E L vor allem in kleineren Rezensionen auf die Wichtigkeit des Judentums für die Erklärung und das Verständnis des Neuen Testaments hingewiesen. Des Judentums, das bisher von der Forschung so vernachlässigt worden war, weil es als selbständige Größe im kirchlichen Kanon nicht vertreten ist. W. B O U S S E T erinnert sich später: „Allmählich lernten wir dann erkennen, wie zwischen der alttestamentlichen und der neutestamentlichen Zeit und Literatur kein leerer Raum sich befinde, den man einfach überspringen könne, sondern daß hier eine höchst folgenschwere Entwickelung der Religion stattgefunden habe, ohne deren Kenntnis und Verständnis man die Literatur des neuen Testaments nicht verstehen könne." 1 War die geschichtliche Notwendigkeit der Erfassung dieser zwischentestamentlichen Zeit erst einmal erkannt, so konnte dann genauer nach der Beschaffenheit dieser Größe gefragt werden, wobei der Begriff des „Judentums" dann stark zu differenzieren war. G U N K E L war von Anfang an der Meinung, daß das apokalyptische Judentum das Bindeglied zwischen A T und N T darstelle und nicht das rabbinische 2 . In Frage kommt damit ein Teil der literarischen Denkmäler, die als Apokryphen und Pseudepigraphen bezeichnet werden. 1 8 9 2 ist G U N K E L SO weit, daß er eine scharfe Unterscheidung trifft zwischen den Apokryphen und den pseudepigraphischen Apokalypsen, was ihre „religiöse Anschauung" betrifft 3 . Sprechen die Apokryphen eine „diesseitige Weltanschauung aus", 3 8 Ebenda 513 f. A. HARNACK, T h L Z 24, 1899, 514. BOUSSET, Die Religionsgeschichte und das Neue Testament, T h R 7, 1904, 267 f. BOUSSET hat bei dieser Ausführung vor allem im Auge E. SCHÜRER, Predigt Jesu in ihrem Verhältnis zum A.T. und zum Judentum, 1882. Aber in diesem A u f s a t z hat SCHÜRER das Problem noch keineswegs scharf erfaßt. „ J u d e n t u m " ist ihm die gesetzliche Richtung des nachexilischen Israel, dem er seine besondere Aufmerksamkeit widmet, während er gerade von den apokalyptischen Schriften urteilt, daß sie sich „alle in dem durch die bisherige Entwickelung gegebenen Vorstellungskreis" bewegen. A. a. O . 10. 2 J . WEISS bestätigt GUNKELS Anschauung glänzend, indem er einen Zusammenhang zwischen der Reich-Gottes-Idee Jesu mit der jüdisdi-apokalyptischen Esdiatologie herstellt. 3 T h L Z 1892,127, vgl. auch T h L Z 1889, 369 ff. 37

1

Die A p o k a l y p t i k

37

so beherrscht in den Apokalypsen „der Glaube an einen kommenden Aeon und an die Auferstehung alles". Beide verhalten sich! demnach zueinander nicht wie zwei Richtungen derselben Zeit, sondern wie zwei Zeitalter: die Apokryphen sind die Ausläufer des Alten Testaments, die Apokalypsen, als Vertreter einer jüngeren Frömmigkeit, „die Vorbereitung des Neuen", die die religionsgeschichtliche Erklärung des N T vor allem anderen heranzuziehen hat. C O R N I L L spricht sich dann bald dafür aus, den Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments endlich eine „organische Stellung in unsrer Disciplin anzuweisen" 4 . Jedoch nicht G U N K E L S Anschauung setzte sich durch, sondern eine andere, die in Bahnen ging, die bereits O T T O P F L E I D E R E R gewiesen hatte 5 , wenn er von „der jüdischen Theologie" sprach, worunter er im wesentlichen das „offizielle Judentum" verstand. Dies wollte er dann allerdings differenziert haben in die beiden Richtungen der pharisäischen Theologie, nämlich der palästinensischen Synagoge und der hellenistischen Theologie Alexandriens. Gemeint sind die beiden großen Männer A D O L F S C H L A T T E R und G U S T A V D A L M A N , die „mit großer Energie betonen, daß man das zeitgenössische Milieu . . . mehr aus der Ueberlieferung der offiziellen jüdischen Schriftgelehrsamkeit als aus den apokryphen und pseudepigraphen Schriften des Judentums zu rekonstruieren habe"®. Im Gefolge dieser Anschauung entstand dann das monumentale und weithin kanonisches Ansehen genießende Werk von STRACK-BILLERBECK, die meinen, man müsse Talmud und Midrasch erforschen, um „den Glauben, die Anschauungen und das Leben der Juden in der Zeit Jesu und der ältesten Christenheit... objektiv darlegen" zu können 7 . Dabei wird dann leicht übersehen, daß Talmud wie Midrasch erst Jahrhunderte nach der Zeitenwende niedergeschrieben worden sind 8 . In späteren Arbeiten, so zunächst in seinem ersten Hauptwerk „Schöpfung und Chaos", greift G U N K E L die apokalyptische Problematik in Einzeluntersuchungen auf und setzt sich selbst in seiner unübertrefflichen Erklärung des 4. Esra in K A U T Z S C H S Apokryphen und Pseudepigraphen ein Denkmal Wie sehr er sich dabei über gängige Vorurteile gegenüber der 1

C A R L HEINRICH CORNILL, E i n l e i t u n g in d a s A l t e T e s t a m e n t , 3. u. 4. A u f l . 1 8 9 6 ,

8.

O . PFLEIDERER, Der Paulinismus. Ein Beitrag zur Geschichte der urchristlichen Theologie, 2. Aufl. (nur diese konnte ich leider benutzen), 1890. 6 BOUSSET, T h R 1904, 270. In dieser F r a g e hatte BOUSSET dann eine persönliche Fehde mit F. PERLES, Boussets Religion des Judentums, 1903, worauf er antwortete m i t : Volksfrömmigkeit und Sdiriftgelehrtentum, 1903. 7 STRACK-BILLERBECK, K o m m e n t a r zum Neuen Testament aus T a l m u d und Midrasch I : D a s Evangelium nach Matthäus, 1922, VI. 8 Eine überlieferungsgeschiditlidie Erforschung von T a l m u d und Midrasch steht bis heute aus. • GUNKEL, D a s vierte Buch Esra, in: D i e Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, hg. v. E . KAUTZSCH, 2. B d . : D i e Pseudepigraphen, 1900, 331 ff. N e u drucke 1921 und 1962. Aus einem Brief GUNKELS an seinen Verleger RUPRECHT v o m 8. 8. 1897 geht hervor, daß er für den erkrankten BAETHGEN IV. Esra lesen mußte, den 5

38

Die Anfänge

Apokalyptik zu erheben weiß und das religiöse Empfinden der ihr zugehörigen Männer nachzuvollziehen sich bemüht, das beweist deutlicher noch als sein im nüchternen wissenschaftlichen Ton abgefaßter Kommentar ein Gedicht vom September 1902, das jetzt im Besitz seines Sohnes ist: I V Ε s r a. Ich f a n d dies alte Buch, im Schutt vergraben, Vergessen, ja verachtet und geschmäht; D i e Herzen, die es einst geliebet haben, Ach, deren Asdie ist schon längst verweht. Ich las es, w a r d erschüttert, las es wieder, U n d alte Zeiten stiegen zu mir nieder. Ehrwürd'ges Buch, geschrieben unter Thränen, Voll, übervoll von eines Volkes Schmerz, D a s redet von der Menschheit G r a m u Sehnen U n d hebt sidi aus dem Staube himmelwärts. Ein laut'res Streben, ehrlich frommes Ringen, Es muß durch Alles doch zum Höchsten dringen. Wie manchen T a g hab ich dabei gesessen U n d über seine Worte nachgedacht. Ehrwürd'ges Buch, nicht ganz seist du vergessen; Aufs neue zieh' ich dich aus tiefer Nacht. N u n hebe wieder an die alte Weise, U n d wo du Herzen findest, rede leise.

Besonders in einem Aufsatz über „Der Prophet E s r a " von 1900 1 0 macht er deutlich, wie er sich das Verhältnis des Apokalyptikers zu den alttestamentlichen Propheten denkt. Der Apokalyptiker ringt mit dem theologischen Problem der Theodizee und macht darüber visionäre Erfahrungen, die ihn psychisch zutiefst erregen. Diese visionären Erfahrungen meint GUNKEL als „Tatsachen" ansprechen zu können. „Diese Zerspaltung seines Wesens in den Menschen und den Engel ist für ihn keine künstlich nachgeahmte Form, sondern erscheint mit seinem innersten Leben erfüllt." 1 1 Allerdings will GUNKEL bei der Niederschrift des Erlebten Ausschmückungen zugestehen. Bei diesen Ausschmückungen habe der Apokalyptiker „die alten Propheten" nachgeahmt, weshalb ihm der „Titel eines Propheten" nicht versagt werden kann 1 2 . KAUTZSCH für seine Apokryphen haben wolle. Der Problemkreis der A p o k a l y p t i k wird von GUNKEL vor allem noch einmal angesprochen im Zusammenhang mit „Schöpfung und C h a o s " . Auf folgende Werke kann hier nur hingewiesen werden: W. BOUSSET, D i e jüdische Apokalyptik 1903; Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter 1903, 2 1906, 3 1926; H . GRESSMANN, Der Ursprung der israelitisch-jüdischen Eschatologie 1905; P. VOLZ, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter 1934. 1 0 Preuß. Jahrbücher 99, 1900, 498—519. 1 2 Ebenda. " A . a . O . 518.

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Die Anfänge

Im ganzen aber bleibt die Frage nach der Bedeutung der Apokalyptik für die Entstehung des Neuen Testaments, die GUNKEL SO hoffnungsvoll aufgeworfen hatte, bei ihm selbst ungeklärt. In der neutestamentlichen Forschung spitzte sich dann alles zu auf die Frage, wie der Einfluß des hellenistischen Judentums von dem des palästinensischen zu bestimmen und abzugrenzen sei. Es dürfte sich in Zukunft immer mehr herausstellen, daß der Gegensatz hie hellenistisch-gnostisches Judentum — da palästinensischt-alttestamentiiches Judentum zu einer fehlleitenden Schablone wird, wo man diesen Gegensatz als alles umgreifende Alternative ansieht. GUNKEL selbst ist später diesen religionsgeschichtlichen Fragen nicht mehr nachgegangen, weil sich ihm literaturgeschichtliche Probleme in den Vordergrund drängten. Der von ihm in mancher Beziehung beeinflußte RUDOLF BULTMANN13 hat die Hellenisten zum Siege geführt. Wie wenig E. KÄSEMANN selbst unter seinen theologischen Freunden auf Verständnis rechnen darf, wenn er von der gewohnten Bahn abweicht und die Frage nach der Apokalyptik stellt, zeigen die Erwiderungen von GERHARD EBELING 1 4 u n d ERNST FUCHS 1 5 . E i n z i g DIETRICH RÖSSLER h a t

dieser Sache in jüngerer Zeit eine Monographie gewidmet 16 , aber von PHILIPP VIELHAUER umgehend eine unmißverständliche Abfuhr erhalten 17 . 5. Von Göttingen über Halle nach Berlin 1891 zeigt SCHÜRER GUNKELS „Wirkungen" verspätet in der ThLZ an und muß dort seinen Wunsch, dem Verfasser auch fürderhin literarisch wieder begegnen zu können, in eine verräterisch weite Formulierung kleiden: „Auf dem Gebiete biblisch-theologischer Untersuchungen" möchte er ihn wieder antreffen 1 . Inzwischen ist nämlich GUNKEL vom Neuen Testament zum Alten umgestiegen, nicht aus freien Stücken. Über die Hintergründe dieses Vorganges äußert sich noch am deutlichsten HANS SCHMIDT2: „ . . . , wo es der Ministerialdirektor Althoff 3 für gut hielt, dem jungen Vgl. unten S. 168 A. 14. G. EBELING, Der Grund christlicher Theologie, ZThK 58, 1961, 227—244, vgl. oben S. 35 A. 35. 1 5 E. FUCHS, Über die Aufgabe einer christlichen Theologie, Z T h K 58, 1961, 245 bis 13

14

267.

1 6 D. RÖSSLER, Gesetz und Geschichte. Untersuchungen zur Theologie der jüdischen Apokalyptik und der pharisäischen Orthodoxie, W M A N T 3, 1960, 2. Aufl. 1962. 1 7 PH. VIELHAUER, Die Apokalyptik, in: E . HENNECKE, Neutestamentliche Apokryphen, 3., völlig neu bearb. Aufl. von W. SCHNEEMELCHER, II. Band, 1964, 416. 1 SCHÜRER, ThLZ 16, 1891, 123 ff. Die Fortsetzung des Zitats ehrt den Rezensenten: „ . . . , für welche er durch seine Gabe, sich in den Geist der Zeiten zu versenken, besonders befähigt ist." 2 H . SCHMIDT, In memoriam Hermann Gunkel, ThBl 1 1 , 1 9 3 2 , 98. 3 Ober FRIEDRICH ALTHOFF, der lange Jahre für die preußische Kulturpolitik als Ministerialdirektor unter wechselnden Ministern federführend war, vgl. die warmherzigen und würdigenden Seiten bei AGNES VON ZAHN-HARNACK, Adolf von Harnack, 1936, 302 ff. und A. SACHSE, Friedrich Althoff und sein Werk, 1927.

Göttingen — H a l l e — Berlin

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Privatdozenten eine Umhabilitierung anzuraten von Göttingen nach Halle. D a s war ein Rat, der Befehl war. Hier in Halle aber war damals — ich vermag nicht zu sagen aus welchem Grunde — kein R a u m für einen Privatdozenten des Neuen Testamentes. So sah sich der junge Gelehrte gezwungen, auf der neuen Hochschule ein neues Fach zu ergreifen." 4 D a s war ein folgenschwerer Schritt, nicht nur für GUNKEL selbst, sondern auch für die alttestamentliche Wissenschaft. Aber gerade dieser plötzliche Wechsel zu einer neuen Disziplin, auf die er sachlich nur ungenügend vorbereitet war, trug dazu bei, daß er sich an eine literaturgeschichtliche Betrachtung der Texte machte und so zunächst zu seiner gattungsgeschichtlichen Methode fand. W. BAUMGARTNER erinnert sich: „Aber da ergab sich aus jenem Wechsel der Disziplin eine Schwierigkeit. Zum Alttestamentier gehörte nach damaligem Begriff eine gründliche semitistische Ausbildung, und diese — empfand er selber — fehlte ihm trotz des bei LAGARDE Gelernten. Eben das veranlaßte ihn, wie er mir erzählte, sich dem Alten Testament von einer anderen Seite her zu nähern, wo dieser Mangel weniger ins Gewicht fiel, nämlich die einst von HERDER und REUSS begonnene literargeschichtliche Betrachtung aufzunehmen. Er orientierte sich darüber an entsprechenden Strömungen zu der klassischen Philologie (EDUARD NORDEN u n d PAUL WENDLAND) u n d d e r G e r m a n i s t i k ,

wobei

ihm die Bedeutung der literarischen Gattungen . . . klar w u r d e . " 5 Eine 4 Eine kaum zu belegende Hypothese für ALTHOFFS Ratschlag an GUNKEL könnte dahin lauten, daß ALTHOFF der jungen religionsgeschichtlichen Bewegung positiv gegenüberstand, daß er aber dabei den Obelstand vermerkte, daß sie ausschließlich aus N e u testamentlern bestand. Wollte sie auf ganzer Breite zur Wirkung kommen, so mußten alle Fächer bearbeitet werden, gleichzeitig mußte sie in die Zerstreuung gehen. GUNKEL hatte bei LAGARDE gelernt. Bot er sich damit nicht für das Alte Testament wie von selbst an? Von seiner späteren Berufung nach Berlin sagt GUNKEL, daß „eine gütige H a n d " ihn „aus der N o t des Privatdozenten gerettet" habe. HARNACK habe ihm nie verraten wollen, wer es war. (Festgabe für Harnack 1921, 43) War es auch diesmal ALTHOFF? Jedenfalls scheint GUNKEL nicht ganz ahnungslos gewesen zu sein, denn am 6. 4. 1901 bittet er seinen Verleger, ein Exemplar seiner Genesis an „Herrn Ministerialdirektor Althoff" zu senden. — BAUMGARTNERS Darstellung ( V T S I X , 1963, 5) scheint mir einer solchen Hypothese entgegenzukommen: „Der Übergang zum Alten Testament, an den er von sidi aus wohl kaum je gedacht hätte, wurde dadurch veranlaßt, daß die Hallenser Fakultät 1889 einen Privatdozenten für Altes Testament suchte, die Wahl auf ihn fiel und auch vom Kultusministerium lebhaft befürwortet wurde." Auf Grund der Benutzung des von und über GUNKEL vorhandenen Materials in der Universitätsbibliothek Halle und im Merseburger Deutschen Zentral-Archiv konnte K . VON RABENAU nun einen Grund für seinen Fortgang von Göttingen ermitteln, der nur vordergründig theologisch ist. Er schreibt: In Göttingen „wurden die Ideen der religionsgeschichtlichen Schule entwickelt und schnell in einen abwertenden Gegensatz zur herrschenden Theologie der Fakultät gebracht. Gunkel mußte sich, weil man ihm ungenierte Meinungsäußerungen übelgenommen hatte, entschließen, seine Privatdozentur für ,Biblische Theologie' in Göttingen aufzugeben und in H a l l e als Privatdozent seine Arbeit fortzusetzen. Mit dem Obergang nach Halle, wo sein Lehrfach wohl bewußt auf das Alte Testament beschränkt war, begann audi seine Konzentration auf dieses Gebiet." Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert 87. 5

BAUMGARTNER V T S I X , 1 9 6 3 , 6 .

Die Anfänge

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wichtige Mitteilung BAUMGARTNERS, die aber, was die Rolle der klassischen Philologie und Germanistik angeht, der Überprüfung bedarf 6 . So sind die „Wirkungen" das einzige Buch, das GUNKEL als Neutestamentler geschrieben hat, es bleibt allerdings nicht sein einziger Beitrag auf diesem Gebiet 7 . BAUMGARTNER weiß weiter zu berichten, daß GUNKEL in Halle zwar wenig Hörer hatte, diese aber von ihm „geradezu fasziniert" waren, wie CORNILL in einem Gutachten schrieb 8 . Dabei hat die Hallenser Fakultät den Göttinger Privatdozenten nicht einmal haben wollen. Nachdem KAUTZSCH GUNKEL in Göttingen besucht und darüber am 8. 2. 1889 einen Bericht verfaßt hatte, kam folgende Vorschlagsliste zustande: ROTHSTEIN, REISSEL, GUTHE. Erst an 4. Stelle wurde GUNKELS Name nebenbei auch aufgeführt. Wahrscheinlich setzte der Kultusminister sich gegen die Fakultät durch. Die Antrittsvorlesung hielt GUNKEL in Halle über das Thema „Die eschatologische Erwartung des Judentums . . . " , von der die Fakultät in einem Votum feststellte, sie habe Unreife gezeigt 9 . GUNKEL mußte nun natürlich gewaltige Lücken aufarbeiten, besonders wollte er Israels Umwelt genauer kennenlernen. Für das Ägyptische hat er das zwölfbändige Werk von LEPSIUS über die ägyptischen Denkmäler durchgearbeitet. Das Babylonische konnte er durch die neue Freundschaft mit dem Assyriologen HEINRICH ZIMMERN aus erster Hand erlernen, was für ihn besonders wichtig wurde, weil es auf diesem Gebiet an Literatur kaum etwas gab. ZIMMERN übersetzte GUNKEL das für das Alte Testament, besonders für die Genesis, wichtige Keilschriftmaterial aus dem Zweistromland 10 . Damit waren die äußeren Voraussetzungen zu „Schöpfung und Chaos" gegeben. Denn was GUNKEL mit diesem Material machen wollte, wußte er selbst. Bevor „Schöpfung und Chaos" erschien, konnte GUNKEL sich noch einmal verändern, nachdem er endlich „1894 in Halle den Titel eines außerordentlichen Professors" erhalten hatte 1 1 . Diesmal folgte er dem Ruf gern, der ihn ereilte: er kam aus der Hauptstadt Preußen-Deutschlands und rief ihn auf ein Extraordinariat an die theologische Fakultät von Berlin, wo DILLMANN den einzigen Lehrstuhl für Altes Testament innehatte und inzwischen auch sein verehrter Lehrer ADOLF HARNACK wirkte. Was Vgl. unten S. 106 ff. Besonders ist zu nennen: Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments 1903, 2. Aufl. 1910. Der erste Brief des Petrus, SNT, hg. v. J . WEISS, 1906, 2. Aufl. 1908, 3. Aufl. 1917, sowie sein Aufsatz in der Harnatkfestschrift 1921, 43 f.: Die Lieder in der Kindheitsgesdiichte Jesu bei Lukas. 6

7

8

V g l . BAUMGARTNER a . a . O . 8 .

• Diese Information verdanke ich K. v. RABENAU. KAUTZSCHS Bericht liegt im Deutschen Zentral-Archiv zu Merseburg. 10 BAUMGARTNER a . a . O . 6: „So gehört er, neben DILLMANN und BUDDE, zu den Ersten, die die Bedeutung der Ausgrabungen im Zweistromland für die Bibel erkannten." 11 K. v. RABENAU in: Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert 87.

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Göttingen — Halle — Berlin

bisher geschrieben hatte und was von seinen Kollegs her bekannt geworden sein dürfte, hatte zwar H . VON DER G O L T Z veranlaßt, darüber Bedenken zu äußern, „daß ,die Neigung Gunkels, sich in kühnen Hypothesen und Kombinationen zu ergehen', Verwirrung unter den Studenten anrichten könne" 1 2 . Andererseits scheute sich offenbar der Evangelische Oberkirchenrat, eine völlig eindeutige Haltung einzunehmen, die darin bestanden hätte, GUNKEL ganz von Berlin fernzuhalten. So beschied er sich — kompromißvoll wie schon seinerzeit im Fall H A R N A C K — mit der Vorbehaltsklausel, „daß sein Einverständnis jetzt nicht auch schon die Zustimmung zu einer eventuellen Berufung in ein Ordinariat bedeuten solle" 1 3 . In der Tat blieb denn audi G U N K E L in Berlin ein Ordinariat versagt, zunächst, als für DILLMANN ein Nachfolger zu suchen war (1895, im selben Jahr, da GUNKEL nach Berlin kam) 1 4 . Nachdem E M I L KAUTZSCH abgesagt hatte, wurde F R . W. A. BAETHGEN berufen. Einige Jahre später wurde eine mögliche Berufung GUNKELS wiederum akut. „Bei der Erörterung über die Besetzung einer zweiten alttestamentlichen Professur neben der des zunächst nur langfristig beurlaubten BAETHGEN zog die Fakultät auch die Berufung GUNKELS in Erwägung und brachte in einem Proömium ihres Votums seine Qualifikation für ein Ordinariat unumwunden zum Ausdruck." 15 Aus personellen Gründen — den älteren Extraordinarius STRACK wollte man wegen mangelnder Befähigung nicht haben, aber audi nicht durch eine Berufung des Jüngeren vor den Kopf stoßen — wurde G U N K E L auch diesmal wieder übergangen. So kam 1899 W. W. VON B A U DISSIN nach Berlin. ELLIGER scheint aber dieser offiziell-inoffiziellen Begründung für die Nichtberufung GUNKELS nicht so ganz zu trauen, wenn er schreibt: „Wieweit diese Form der Empfehlung nur oder auch eine taktische Maßnahme war, seiner (GUNKELS) etwaigen Einsetzung in Berlin vorzubeugen, ist schwer auszumachen." 16 Das Ergebnis jedenfalls liegt im Licht: G U N K E L blieb bis zu seinem 45. Lebensjahr, d. h. bis 1907, Extraordinarius in Berlin, weil für Leute wie ihn im kaiserlichen Preußen kein Ordinariat zu haben war 1 7 . Es sei erlaubt, an dieser Stelle einige Passagen aus einem Rundbrief H . GRESSMANNS an seine Freunde im Schwarzburgbund wiederzugeben, die die internen Verhältnisse an der Berliner theol. Fakultät, wenn auch aus etwas späterer Zeit, schildern, wie er sie sieht: GUNKEL

1 2 HERMANN VON DER GOLTZ war 1892 Vizepräsident des Evangelischen Oberkirchenrats geworden und hatte deshalb sein Ordinariat an der theologischen Fakultät im gleichen Jahr aufgegeben. Vgl. W. ELLIGER, 150 Jahre Theologische Fakultät Berlin, 1960, 68 ff. Das Zitat aus P. GENNRICH und E. v. D. GOLTZ, Hermann von der Goltz,

1 1 8 , bei ELLIGER a. a. O . 9 2 . 13

ELLIGER a . a . O . 9 2 .

14

K . v . RABENAU a . a . O .

87.

1 6 Ebenda. ELLIGER a. a. O. 94. 1 7 TROTT ZU SOLZ, preußischer Kultusminister, über BOUSSET: „Für Leute wie Bousset gibt es in Preußen kein Ordinariat", wobei die Formulierung „für Leute" eindeutig auch die Einsetzung des Namens H . GUNKELS erlaubt. S. den Familienrundbrief HUGO GRESSMANNS, unten S. 223 ff. 15

44

Die Anfänge Westend, den 26. Oktober 1908

. . . Die Berliner Gelehrtenluft ist eigentümlich stickig und trübe. Ich denke zunächst ausschließlich an die theologische Fakultät, die allerdings eine exzeptionelle Stellung in der Berliner Universität einnimmt. Es wird Euch ja allen aus den Zeitungen bekannt sein, wie jedesmal bei der Besetzung einer neuen theol. Professur ein großer Streit entbrennt. Die Orthodoxie steht auf der Wacht und verteidigt jeden Posten mit einer Energie, die dem Liberalismus Ehre machen würde, wenn er sie besäße. D a s schlimmste sind auch hier die unverantwortlichen Ratgeber, die sich hinter die Schleswig-Holsteinerin stecken und durch ihren Mund die höfischen Schranzen lenken: Holle ist ja nur Höfling, Staffage, Lakei, genau wie S t u d t 1 8 . Der Erfolg ist denn ja auch darnach: die theol. Berliner Fakultät ist keineswegs das, was man von der geistigen Kapitale Deutschlands erwarten sollte. Die Professoren sind — mit Ausnahme Harnacks — keine führenden Geister. Harnack ist ja eine wunderbare Persönlichkeit, deren Zauber jeden bestrickt, und deren universale Bildung jeder bewundert. Er steht über jeder Kritik, aber es bleibt doch eine Schranke, und eine bedauernswerte Tatsache, daß selbst er den Geist der neuen Zeit nicht versteht. Niemand wird von ihm erwarten, daß er selbst sich auf das religionsgeschichtliche Glatteis wage, aber das sollte man erwarten, daß er wenigstens ein Verständnis für die neuen Fragestellungen hätte, die uns bewegen. Er versagt hier ebenso vollständig wie der ihm kongeniale Wellhausen. Beide sind und gehören einer vergangenen Generation an. Vergebens suchten sie, die wissenschaftliche Entwicklung zu hemmen; sie haben die Sisyphusarbeit bereits aufgegeben und sich auf die passive Obstruktion beschränkt. Harnack ist der alles überragende Geist; Holl, ein tüchtiger Arbeiter, wird durch ihn völlig an die Wand gedrückt. Deißmann — leider haben wir Jülicher nicht bekommen — der ihn um eines Hauptes Länge überragt — ist jugendlich und hat Probleme und Verständnis für die modernen Fragestellungen. Er ist jetzt der einzige, der einen etwas frischeren Luftzug in die schwüle Atmosphäre bringt, seitdem der gute, bis ins hödiste Alter jugendliche Pfleiderer die Augen geschlossen hat. Aber die anderen alle, daß G o t t erbarm! Mummelgreise: Baudissin, K a f t a n , Seeberg, Kleinert, Deutsch, Müller, Simons, Bernhard Weiß! Strack! und wie sie alle heißen. N u r keine Probleme, die die wohlverdiente Ruhe stören könnten! Diese Leute haben wohl meist Schaden daran genommen, daß sie in jungen Jahren Ordinarius in Berlin wurden, ein Glück, das ich niemandem wünschen möchte, der noch etwas leisten will. N u n sind sie satt und zufrieden, haben Orden und Einkommen, bilden sich ein, was zu können, und die „wahre" Wissenschaft zu vertreten. Was nach ihnen kommt, ist, milde gesagt, jugendlicher Most, unreife Jugend — worin sie ja nicht ganz Unrecht haben! A m meisten gewundert hat mich und wundert mich immer wieder, daß auch die Privatdozenten in Berlin Nullen sind. D a s erklärt sich wohl daraus, daß die Chefs auf ihre Untergebenen abfärben: ein Knecht darf nicht über seinen Meister sein! A m besten ist auch hier die kirchenhistorische Abteilung, genau entsprechend den Ordinarien: Harnack, Holl. Von den anderen wollen wir lieber nicht reden. Die ganze Misere der Fakultät findet ihren beredten Ausdruck in dem Verkehr auf der Universität: im Sprechzimmer ist es strenge verpönt, Gedanken zu haben; die Ordinarien haben keine, wonach zu richten! S o schäkert man ein bißehen und vertrödelt die Zwischenpausen mit nichtssagenden und, wenn man höflich ist, verbindlichen Redensarten . . . 1 9

D a ß GUNKEL überhaupt nach Berlin berufen worden war, ist ebenso erstaunlich wie die seinerzeitige Berufung HARNACKS20. Wie HARNACK war er Zielscheibe vieler Angriffe. Mit oder auch ohne Verwunderung HOLLE und STUDT wurden bald vorübergehend preußische Kultusminister. · Der Brief ist datiert vom 26. 10. 1908 und befindet sich im Besitz von HUGO

18 1

GRESSMANNS W i t w e . 20

Vgl. dazu A. v. ZAHN-HARNACK, Adolf von Harnack, 1936, 156 ff.

Göttingen — Halle — Berlin

45

liest man heute einen Brief BODELSCHWINGHS, den er bei Fragen der Gründung der Betheler Schule 1905 an den Minister schrieb, worin es heißt, daß die Berufung von Ν . N . an die Berliner Hochschule „den doch überaus schädlichen Einfluß von Harnack und Gunkel mildern würde, und das tut in der Tat hoch not. Verschiedene edele Berliner Studenten haben mir noch vor wenigen Tagen erklärt, wie die Pietätlosigkeit beider genannten Herren manche junge Theologen entweder ganz von ihrer Laufbahn wegdränge, oder sie für dieselbe ganz untauglich mache, indem sie ihnen den Boden der heiligen Schrift unter den Füßen wegzieht." 2 1 Inzwischen hatte GUNKEL, vor seinem Umzug nach Berlin, noch unbeschwert von solchen Querelen und voller Hoffnung, die wissenschaftliche Welt von seinen Ideen überzeugen zu können, sein erstes Hauptwerk „Schöpfung und Chaos" geschrieben. 21

A . VON Z A H N - H A R N A C K , a . a . Ο . 3 0 9 Α . 1 .

II. DIE

TEIL:

R E L I G I O N S G E S C H I C H T L I C H E

PERIODE

A. Schöpfung und Chaos 1895 — das erste Hauptwerk 1. Die Lage im Alten

Testament

Sagt H . S C H M I D T von G U N K E L S „Wirkungen", dies Buch spreche „ein in Wahrheit neues W o r t " 1 , so gilt das mit größerem Recht noch von seinem ersten Hauptwerk 2 . Zugleich ist es wohl sein faszinierendster Wurf. Es macht seinen Reiz aus, daß dieses Buch mit jugendlich frischem Stil die Geschichte eines uralten Mythus erzählt, der seinen Ausgang nahm im Zweistromland und von dort nach Israel kam. Bei diesem Volk hatte er durch mehr als ein Jahrtausend hindurch eine wechselvolle Geschichte, die sich im Alten Testament noch abspiegelt, bis er das Alte Testament gleichsam übersprang, um — inzwischen eschatologisch gewendet und aus seiner alten Quelle neu gespeist — heimisch zu werden in einer Schrift des neutestamentlichen Kanons, der Offenbarung des Johannis: der Mythus vom Chaosdrachenkampf. Die Dimensionen sind atemberaubend, zumal der Leser zu Ende des vorigen Jahrhunderts auf solche Perspektiven kaum vorbereitet sein konnte. Was hätte dieser Leser denn füglich erwarten können? Als H E R M A N N G U N K E L , notgedrungen, in die alttestamentliche Wissenschaft eintrat, wurde diese bereits ganz beherrscht von dem Manne, der jüngst als „der größte deutsche Alttestamentler der Vergangenheit" bezeichnet worden ist 3 : J U L I U S W E L L H A U S E N . Von Anfang an standen BERNHARD D U H M , BERNHARD STADE, RUDOLF SMEND u n d K A R L BUDDE

auf

seiner

Seite;

zunächst widerstrebende Männer wie H E R M A N N und K A R L M A R T I schlossen sich bald an 4 . Das war die Elite der Forscher. G U N K E L selbst hat W E L L H A U S E N immer für seinen größten Lehrer gehalten und aus diesem seinem Verhältnis zu dem SCHULTZ, EMIL KAUTZSCH

S. oben S. 35 A . 36. Die ersten Exemplare gingen noch 1894 aus, als Erscheinungsjahr gilt jedoch 1895. 3 So R. SMEND in dem von ihm herausgegebenen Buch: JULIUS WELLHAUSEN, Grundrisse zum Alten Testament, 1965, 5. WELLHAUSEN (1844—1918), als Pastorensohn zu Hameln geboren, wurde 1870 Privatdozent für A T in Göttingen, 1872 Professor in Greifswald, 1882 a. o. Professor in der Philosophischen Fakultät zu Halle, 1885 Ordinarius zu Marbug. 1892 kam er als LAGARDES Nachfolger wieder nach Göttingen und wurde 1913 emeritiert. 4 Vgl. H . - J . KRAUS, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments 1956, 250. 1

2

47

Lage im Alten Testament

von ihm als genial bezeichneten Mann nie ein Hehl gemacht, auch und gerade da nicht, wo er selbst bald andere Wege meinte gehen zu müssen. Zwar ist er dann zunächst voller Verärgerung und Polemik, aber auch voller Stolz, mit diesem verehrten Meister die Klinge kreuzen zu können. Die Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert ist weithin eine Geschichte der Erforschung des Pentateuch, d. h. vor allem seiner Quellenschriften. Die Entwicklung, die vor, von damals gerechnet, 150 Jahren, nämlich 1711, mit dem bald vergessenen Hildesheimer Pastor HENNING BERNHARD WITTER durch dessen literarkritische Thesen zum Pentateuch begonnen und mit dem französischen Arzt JEAN ASTRUC 1753 noch einmal, aber wirkungsvoller — weil von JOHANN GOTTFRIED

EICHHORN

durch

Vermittlung

JOHANN

DAVID

MICHAELIS'

aufgenommen —, eingesetzt hatte, erreichte in WELLHAUSEN ihren Höhepunkt. Seine Anschauung von der zeitlichen Abfolge der Quellen und das daraus gewonnene Bild von der Geschichte Israels erscheinen als die klassische Lösung, hinter die es auch in der Folgezeit kein Zurück mehr geben konnte, allenfalls ein Darüberhinaus 5 . Die verschlungenen und stets mit der allgemeinen deutschen Geistesgeschichte verbundenen Linien dieser Entwicklung von WITTER bis W E L L H A U S E N , ü b e r S E M L E R , DE W E T T E , V A T K E , H U P F E L D u n d

schließlich

GRAF, EWALD, können hier nicht dargelegt werden. WELLHAUSEN selbst wurde durch seinen von ihm unvergessenen Lehrer HEINRICH EWALD 6 an das Alte Testament herangeführt, verdankt seinen Durchbruch zum zündenden Gedanken aber einem anderen. Diese Episode wurde so folgenreich, daß sie auch hier kurz erzählt werden darf. Sie erklärt, mit welcher Begeisterung die ganze letzte Generation des 19. Jahrhunderts sich der literarkritischen Arbeit verschreiben konnte. Sie läßt aber auch ahnen, wie öde diese Arbeit werden mußte, als die bahnbrechenden Entdeckungen einmal gemacht waren. Was dem jungen WELLHAUSEN die Freude an dem von ihm erwählten Fach verdarb, war die ihm unklar erscheinende 5 Die bahnbrechenden W e r k e WELLHAUSENS folgten dicht aufeinander. In den Jahren 1 8 7 6 bis 1 8 7 7 legte er in Teilstücken „Die Composition des Hexateuchs" vor, in der er seine Quellentheorie entwickelte. 1878 folgte seine „Geschichte Israels" Bd. I, die v o n der 2. Auflage 1883 ab den berühmten Titel „Prolegomena zur Geschichte Israels" trägt. Wie Quellenkritik und Geschichtsentwurf bei WELLHAUSEN zusammenhängen, dokumentiert wie nichts sonst der erste Satz in seiner Geschichte Israels von 1878, 1 : „Das vorliegende Buch unterscheidet sich von seinesgleichen dadurch, daß die Kritik der Quellen darin einen ebenso breiten R a u m einnimmt als die Darstellung der Geschichte." 6 1 8 7 0 kam es zwischen beiden Männern zum Bruch: EWALD wies seinem Lieblingsschüler die Tür, „weil dieser sich weigerte, Bismarck für einen Schurken zu erklären". R . SMEND in: WELLHAUSEN, Grundrisse, 1965, 8. Hinzu kam der wissenschaftliche Bruch, da WELLHAUSEN in der F r a g e des Gesetzes im Pentateuch über EWALD hinweg direkt an DE WETTE und GRAF anknüpfte. Ober HEINRICH GEORG AUGUST EWALD ( 1 8 0 3 — 1 8 7 5 ) , Orientalist und Theologe, vgl. R E 3 V, 6 8 2 ff. und vor allem J . WELLHAUSEN, Heinrich E w a l d , in: Festschrift zur Feier des 150jährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, 1901, 6 1 — 8 1 , wiederabgedruckt in: WELLHAUSEN, Grundrisse, 1965, 120 ff.

48

Schöpfung und Chaos

geschichtliche Stellung des Gesetzes, und er fühlte sich in diesem Punkt auch von EWALD in einer „unbehaglichen Confusion" gelassen 7 . Er beschreibt dies sein Unbehagen sehr anschaulich, wie er die Erzählungen über Saul und David und die Bücher der Propheten las und davon ergriffen wurde, dabei jedoch das ungute Gefühl hatte, „als ob ich bei dem Dache statt beim Fundamente anfinge; denn ich kannte das Gesetz nicht, von dem ich sagen hörte, es sei die Grundlage und Voraussetzung der übrigen Literatur" 8 . Aber mit dem Studium des Gesetzes ergoß sich nicht das erwartete helle Licht auf die geschichtlichen und prophetischen Bücher. „Vielmehr verdarb mir das Gesetz den Genuß jener Schriften . . . D a erfuhr ich bei einem gelegentlichen Besuch in Göttingen im Sommer 1867, daß Karl Heinrich Graf dem Gesetze seine Stelle hinter den Propheten anweise; und beinah ohne noch die Begründung seiner Hypothese zu kennen, war ich für sie gewonnen." 9 Ausgehend von der literarkritischen Arbeitshypothese, daß das „mosaische Gesetz" nachexilisch sein muß, entwickelt WELLHAUSEN ein Bild vom Ablauf der Religionsgeschichte Israels, das die traditionelle, einfach den biblischen Berichten selbst folgende Anschauung auf den Kopf stellt. E r ist sich dessen bewußt 1 0 , daß er diese Hypothese nicht als erster aufstellt. Aber er hat das nicht gering zu veranschlagende Verdienst, deren Vorstellungen mit den seinen in genialer Weise zum Sieg geführt zu haben. Es spricht für GUNKELS realistischen Blick, daß er diesen Durchbruch WELLHAUSENS nicht nur unter geistesgeschichtlichem Aspekt betrachtet, sondern auch die staats- und kirchenpolitische Situation mitbedenkt. So sagt er in seiner Rede auf BERNHARD STADE am 11. 5. 1908 in Gießen, wo er die Anfänge der WELLHAUSEN-Ära schildert: „Nach den großen Siegen über Frankreich, nach der Schöpfung des Deutschen Reiches Schloß Bismarck seinen Bund mit dem Liberalismus. Die Kirchenpolitik ward eine andere; es war die Zeit, da Ritsehl das Vizepräsidium des Preußischen Oberkirchenrats angeboten wurde. Der Raum für die wissenschaftliche theologische Forschung ward frei. Und mehr als eines solchen Raumgebens bedurfte es nicht; denn die Männer, welche die folgende Zeit beherrschen sollten, waren schon auf getreten." 1 1 So hinreißend das Bild ist, das WELLHAUSEN von der Geschichte Israels 12 gemalt hat, es hat einen Schönheitsfehler. Er hat Israels Ge7 w

WELLHAUSEN, Geschichte Israels I, 1878, 4. V g l . WELLHAUSEN a . a . O . 4 u n d Α . 1 .

8

Ebenda 3.

9 11

Ebenda 3 f. RuA

2.

So bekannt und in der Interpretation eindeutig dieses WELLHAUSENSche Geschichtsbild Israels ist, so umstritten ist die Herkunft des Entwicklungsschemas, das sich bei ihm findet. Während KRAUS, Geschichte 248, der Meinung Ausdruck gibt, daß WELLHAUSEN „die Entwicklung innerhalb des Alten Testaments auf der Basis der Quellenforschung im Sinne der Hegeischen Geschichtsphilosophie" darstellt — wobei der unstreitig von HEGEL beeinflußte VATKE die Vermittlerrolle spielt, hat LOTHAR PERLITT jüngst in seiner Studie: Vatke und Wellhausen, B Z A W 94, 1965, dieser Deutung WELLHAUSENS von HEGEL her heftig widersprochen. 12

L a g e im Alten Testament

49

schichte geschrieben, als sei dieses Volk durch die ganze Zeit seiner Existenz hindurch nur mit sich selbst beschäftigt gewesen und als sei es mit all seinen Institutionen und Vorstellungen ganz aus sich selbst zu erklären. Inzwischen aber war bekannt geworden und wurde von T a g zu T a g mehr bekannt, daß Israel weder in einem Vakuum gelebt hatte noch daß es das älteste Volk mit der ältesten Kultur im Vorderen Orient war. D i e Archäologie des Vorderen Orients, in deren Gefolge ganz neue Wissenschaftszweige wie die Assyriologie und die Ägyptologie entstanden waren, machte Israel zu einem ausgesprochenen Spätling in diesem geschichtlichen R a u m und zeigte immer mehr die kulturelle, politische, wirtschaftliche und religiöse Verflechtung des Volkes Gottes mit seiner orientalischen Umwelt. Nicht als ob WELLHAUSEN das nicht gesehen hätte. Bei ihm steht zu lesen, wenn auch nicht in seinen frühen Schriften, immerhin es steht zu lesen: „ D a s L a n d Palästina, die Brücke zwischen Vorderasien und Ägypten, in der Mitte dieser beiden alten Kulturzentren gelegen, hat das Volk in den Wirbel der Weltgeschichte hineingezogen, und auch die Religion ist von diesem Wirbel entscheidend beeinflußt, wenngleich sie nicht darin untergegangen, sondern siegreich daraus emporgetaucht ist." 13 Aber aus dieser Erkenntnis hat er erstaunlicherweise keine Konsequenzen gezogen 1 4 . Die Geschichte Israels blieb für ihn eine Geschichte, die allein auf sich stand und audi aus sich selbst begriffen werden wollte. Als einzige religionsgeschichtliche Parallele, zur Veranschaulichung der Frühzeit Israels, ließ er das arabische Nomadentum gelten, dem er sich in vielen Arbeiten zuwandte, nachdem er freiwillig aus der theologischen Fakultät als Privatdozent in die philosophische Fakultät übergewechselt war. Dabei muß heute festgestellt werden, daß die Entdeckungen im R a u m des Vorderen Orients eine neue Epoche in der alttestamentlichen Wissenschaft einleiten. In ihrer Bedeutung und in ihrer Anziehungskraft auf einen nicht geringen Teil der damaligen Forscher sind sie nicht leicht zu überschätzen, überlegte doch GUNKEL selbst, ob er der Theologie nicht untreu werden und zu HUGO WINCKLER 15 abwandern sollte 1 6 . WELLHAUSEN, Israelitisch-jüdische Religion, in der N e u a u f l a g e bei SMEND S. 65. Vgl. KRAUS, Gesthichte 2 6 8 : „ U n d es bleibt unverständlich, daß der geniale Wellhausen sich allen neuen Entdeckungen und Funden gegenüber in eigenartiger Abweisung verschloß." 1 5 H . WINCKLER, 1863—1913, w a r Assyriologe und wurde als solcher der Begründer der panbabylonistischen Schule. 1904 wurde er a. o. Professor f ü r orientalische Sprachen in Berlin (neben GUNKEI. also), wo er sich 1891 habilitiert hatte. M BAUMGARTNER V T S I X , 6 : „ D i e gewaltige Anziehungskraft der eben erstandenen Assyriologie auf die jungen Theologen kann m a n sich heute k a u m mehr vorstellen. Auch GUNKEL stand allen Ernstes vor der Frage, ob er sich nicht an HUGO WINCKLER anschließen solle. Er hat es nicht getan; sein weiterer H o r i z o n t bewahrte ihn d a v o r . " 13

14

4

K l a t t , Gunkel

50

Schöpfung und Chaos

Die Arbeiten der zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandenen Assyriologie 17 und Ägyptologie 1 8 waren der theologischen Welt, wenn auch nicht verborgen, so doch gleichgültig geblieben. Spätestens jedoch die Funde von Tell-el-Amarna und die Entzifferung der Bibliothek Assurbanipals hätten audi die Theologen aufhorchen lassen müssen. Jetzt hätte W E L L H A U S E N seine Geschichte Israels neu schreiben müssen. Aber weder er noch irgendeiner seiner Schüler, der bereits einen Namen hatte, dachte daran, „der Wucht der Thatsachen Rechnung zu tragen" Wie die Dinge bei den Theologen des Alten Testaments betrachtet wurden, mag R. K I T T E L als unverdächtiger Zeuge selber schildern. Er berichtet, daß er zum erstenmal von E. M E Y E R eine flüchtige Kunde „von der ungeheuren Umwälzung, die sich in eben jenen Jahren in unserem Wissen vom Alten Orient und somit auch vom Alten Testament vollzog", erhalten habe. „Niemand konnte damals noch die wirkliche Tragweite dieser Funde ahnen . . . Als mir längst feststand, daß die Geschichte Israels eines ganz neuen Aufrisses bedurfte, sah ich immer noch andere Darstellungen des Gegenstandes teils in neuen Auflagen, teils in eben erst geschaffener Bearbeitung ans Tageslicht treten, die so gut wie nichts davon ahnen ließen, daß die Welt sich inzwischen gedreht und die Weltgeschichte ein neues Gesicht bekommen hatte. Mit vollem Recht sagt soeben ein genauer Kenner der Verhältnisse jener Zeit, daß die Gelehrten unseres Faches fast samt und sonders von dem Vorhandensein des Materials wohlwollend Kenntnis nahmen, um es dann unbearbeitet liegen zu lassen, weil es nicht recht ins Schema paßte 20 . In der Tat wäre es für Männer wie Wellhausen und Stade und die auf sie eingeschworen waren, 1 7 D i e Assyriologie datiert von 1802, als es G . F. GROTEFEND gelang, die persische K o l u m n e der dreisprachigen (persisch, elamitisch, babylonisch) kurzen Inschriften der Achämeniden aus Persepolis zu entziffern; vgl. R G G 8 I, 655 ff. D i e A n f ä n g e waren bescheiden. Erster H ö h e p u n k t w a r die E n t z i f f e r u n g der Annalen Tiglatpilesers I. 1857. A u f eine K o n f r o n t a t i o n mit der alttestamentlichen Wissenschaft steuerten die D i n g e zu, als der Engländer GEORGE SMITH sich daranmachte, die ins Britische Museum verbrachten T a f e l n aus der Bibliothek Assurbanipals zu entziffern, worunter sich das babylonische Weltschöpfungsepos und die Sintfluterzählung befanden. Erste Stücke des babylonischen Schöpfungsepos wurden von SMITH zusammen mit dem Gilgamesch-Epos 1875 herausgegeben, und zwar in einer Synopse mit dem biblischen Schöpfungs- und Sinflutbericht, nachdem er schon am 3. 12. 1872 in L o n d o n einen V o r t r a g über diesen Gegenstand gehalten hatte. 1 8 D i e Ä g y p t o l o g i e ist jünger und datiert v o n 1822, als CHAMPOLLION die aufsehenerregende Entzifferung v o n Hieroglyphen auf dem Stein v o n Rosette gelang, vgl. R G G 3 I, 127 ff. Schlagartig rückte Ä g y p t e n ins Blickfeld der Theologen, als per Z u f a l l 1887 in Tell-el-Amarna die diplomatische K o r r e s p o n d e n z palästinensischer Vasallen mit ihrem ägyptischen Oberherrn aus dem 14. vorchristlichen J a h r h u n d e r t gefunden wurde, vgl. R G G 3 I, 304 f. 1 9 S o der Althistoriker EDUARD MEYER in einer Besprechung von GUNKELS „Schöpf u n g und C h a o s " , das er als epochemachend preist in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, München, v o m 13. 12. 1894, N r . 287, 1. 2 0 KITTEL zitiert hier W. STAERK, T h L Z 50, 1925, 198, aus dessen Besprechung seines Werkes, Geschichte des Volkes Israel, 6. Aufl. 1925, w o STAERK KITTEL selbst von diesem Urteil ausnimmt.

51

Entstehung von Schöpfung und Chaos

nicht ganz einfach gewesen, von den neuen Funden wirklich Gebrauch zu machen." Allein die Amarnafunde hatten KITTEL bereits gelehrt, „daß es nicht mehr möglich sei, mit der bisherigen Gepflogenheit vornehmer Ignorierung des Alten Orients auszukommen. Was bei Wellhausen zum System erhoben war, nämlich, daß man im Alten Testament selbst und einiger Kenntnis des arabischen Altertums alles vor sich habe, was zum Verständnis Israels nötig sei, das entsprach ganz den Uberlieferungen, in denen ich herangewachsen w a r . " 2 1 Aber es war keineswegs RUDOLF KITTEL, sondern es war HERMANN GUNKEL, der daranging, den „Tatsachen Rechnung" zu tragen in einer Weise, wie es die theologische Öffentlichkeit aus dem Lager WELLHAUSENS nicht zu hören gewohnt war. 2. Über die Entstehungsgeschichte

von „Schöpfung

und Chaos"

Vandenhoeck & Ruprecht hatten GUNKELS Erstlingswerk verlegt, ihm 1889 die Mitarbeit am NowACKSchen Kommentarwerk angeboten und auch nach seiner Absage ihn gebeten, ihrem Verlag 1 „alles zuerst anzubieten" 2 . GUNKEL sollte bei NOWACK die Genesis übernehmen. Er fühlte sich aber dazu noch nicht genügend vorbereitet und schlug deshalb statt seiner ROTHSTEIN v o r 3 . Drei Jahre später 4 jedoch meldet er sich aus eigener Initiative und teilt mit, er habe gerade wieder Genesis gelesen „und midi bei Durchsicht meiner Hefte überzeugt, daß ich so viele selbständige Forschungen auf diesem Gebiet fertig abgeschlossen habe, daß ich wohl Freude daran haben würde, sie in einem Commentar zu publicieren. Falls Sie mir die Bearbeitung der Genesis noch jetzt übertragen wollten, bitte ich um Mitteilung der festgesetzten Bedingungen". E r möchte aber auf keinen Fall gedrängt werden 5 und erst noch zwei Publikationen zu Ende führen, von denen er bereits gesprochen habe. Der Titel des einen in Arbeit befindlichen Werkes verlautet am 6. 1. 1894: „Schöpfung und Chaos in A T u N T " . Am 15. 6. 94 ist er für den 21

R. KITTEL in: Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg.

v . E . STANGE, B d . I, 1 9 2 5 , 1 2 4 f.

1 Der theologische Sachverständige im Hause Ruprecht war zu der Zeit GUSTAV RUPRECHT, mit dem GUNKEL zeit seines Lebens zu tun hatte. 2

B r i e f an GUNKEL v o m 3 1 . 1 0 . 1 8 8 9 .

* GUNKEL a n RUPRECHT v o m 2 7 . 1 0 . 9 2 .

3

GUNKEL a n RUPRECHT v o m 3 0 . 1 0 . 8 9 .

5 GUNKEL stellte hohe Anforderungen an sich und litt unter Minderwertigkeitsgefühlen, weil er seiner Ansicht nach diesen Anforderungen nicht genügen konnte. Äußerlich versuchte er unbewußt, seine Unzulänglichkeit durch schroffes Auftreten zu kompensieren. Erlaubte sich aber ein Außenstehender, den Finger in diese Wunde zu legen — so verstand er Anfragen des Verlegers —, so konnte er bitterböse werden. GUNKELS Sohn erzählte mir, daß in den letzten Jahren Familienmitglieder fluchtartig das Haus verließen, wenn sich unter der Post ein Brief des Verlegers befand. Das beherrschende Bild ist jedoch dieses: „Ich sehe meinen Vater im Kreise seiner Studenten oder unter auswärtigen Gästen, die ständig in unserem Hause verkehrten. Was mir immer den größten Eindruck machte, war die Einfachheit seines Wesens, die so gar nicht der Vor-

4*

52

Schöpfung und Chaos

Druck bereit, das Manuskript befindet sich aber noch bei H E I N R I C H in Leipzig. Uber dessen Mitarbeit an seinem Buch und das von ihm beigesteuerte Material äußert sich G U N K E L gegenüber seinem Verleger so: „Ich bin zwar der bab. Sprache nicht kundig, glaube aber doch nach langjähriger Beschäftigung mit bab. Antike, wenn auch nur in relativer Weise, urteilsfähig zu sein. Ich habe die Z.schen Ubersetzungen mit sehr großer Freude gelesen. Sie sind nicht nur bei weitem vollständiger, als die bisherigen; eine ganze Fülle von einzelnen Fragmenten wird jetzt zum ersten Male in deutscher Sprache veröffentlicht; eine solche Sammlung von Texten existiert überhaupt noch nicht." 7 Es sieht so aus, als solle es bei der Behandlung der Apokalypse des Johannes zu einem kleinen Wettrennen mit W I L H E L M BOUSSET kommen, dem G U N K E L aber ruhig entgegensehen kann; er fühlt sich nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich vorn. BOUSSET arbeitet zu gleicher Zeit an einem Kommentar über die Apokalypse Johannis und zeigt sich an G U N K E L S Arbeit interessiert. Der hat nichts dagegen, daß der Verlag die ersten Bogen seines Werkes BOUSSET auf dessen Bitten hin zeigt, wenn er auf Diskretion achte. Dabei gibt er diesen Wink: „Die lten Bogen werden ihm gleichgültig erscheinen; vielleicht teilen Sie ihm mit, daß der lte Teil der notwendige Unterbau für die Ap Joh sei." 8 „Schöpfung und Chaos" war zunächst geplant als erster Band einer Reihe „Religionsgeschichtliche Untersuchungen", aber noch vor Beginn der Drucklegung 9 spricht G U N K E L den Verzicht auf den Obertitel aus. Vielleicht wollte er nicht eine Sache beginnen, deren endliche Durchführung er wegen der Fülle der Aufgaben nicht garantieren konnte. 10 G U N K E L hat „Schöpfung und Chaos" dem Manne gewidmet, dem er sich am meisten verpflichtet fühlte: A L B E R T E I C H H O R N „in Freundschaft", ZIMMERN6

Stellung entspricht, die man von einem würdigen Professor hat, aber jeden faszinierte, der mit ihm in Berührung kam. Im größeren Kreise konnte er lange Zeit zuhören, ohne ein Wort zu sagen. Wenn er dann aber das Wort ergriff, so brachte er alles auf den einfachsten Nenner. Er trug so klar und einfach vor, daß meist die Sache damit abgeschlossen war. U n d niemals fehlte es an Humor." So brieflich GUNKELS Sohn vom 8 . 8 . 1 9 6 7 . 6 H . ZIMMERN ist wie GUNKEL 1862 geboren, stand in mehrjährigem Dienst der evangelischen Kirche Badens und war tätig an der Straßburger Üniversitäts- und Landesbibliothek, bis er sich 1889 in Königsberg habilitierte und 1890 nach H a l l e kam, w o GUNKEL i h n k e n n e n l e r n t e . G i n g GUNKEL 1 8 9 5 nach Berlin, s o ZIMMERN 1 8 9 4 als a. o.

Professor für Assyriologie nach Leipzig, w o er 1900, nach einem Zwischenspiel in Breslau, Ordinarius wurde. ZIMMERN starb 1931, ein Jahr vor GUNKEL. Dieser verdankt ihm viel, nicht nur für „Schöpfung und Chaos" und die „Genesis", sondern auch für seine Psalmenforschung. 7

GUNKEL a n RUPRECHT v o m 12. 1 0 . 9 4 .

9

GUNKEL an RUPRECHT v o m 24. 6. 9 4 . D i e erste M S - L i e f e r u n g e r f o l g t e a m 2. 7. 94,

8

GUNKEL a n RUPRECHT v o m 9. 8. 9 4 .

mit der Auslieferung des Buches wurde noch im selben Jahr begonnen. 10 W. BAUMGARTNER hat GUNKEL seinerzeit gefragt, warum er sein Buch „Schöpfung und Chaos" genannt habe, obwohl das Chaos der Schöpfung doch immer vorangehe, worauf dieser antwortete, er wolle nicht, daß man zitiere „Gunkel Chaos". BAUMGARTNER V T S I X , 3 .

53

Aufbau und neue Methode

später ließ er dann ergänzen „und Dankbarkeit" Im Vorwort erläutert er die Widmung: EICHHORN habe ihn in den „Principien und in der Forschungsmethode" befestigt, ihm Auge und Ohr geschärft. Er habe ihm die Ergebnisse seiner Untersuchung stets zur Begutachtung vorgelegt, sein Beifall und Widerspruch sei ihm gleich wertvoll gewesen 12 . Als jedoch später MAX REISCHLE als GUNKELS Vorgänger in der Religionsgeschichte auch eben diesen ALBERT EICHHORN nennt 1 3 , präzisiert GUNKEL seine Schülerschaft und schränkt sie — wohl mit Recht — ein auf die großen Prinzipien und Methoden 14 . Sein Vorgänger sei EICHHORN „bei allen Verdiensten, die er sich um midi erworben hat, und die ich audi hier mit Dankbarkeit anerkenne" nicht gewesen; „ich bemerke übrigens, daß Eichhorn diese Worte vorgelegen haben, und daß er sie ausdrücklich gebilligt hat. Er fügt meiner Erklärung noch hinzu, daß er sich nicht entsinnen kann, auch nur einen einzigen Gedanken zu ,Schöpfung und Chaos' beigesteuert zu haben" 1 5 . Nach getaner Arbeit schreibt GUNKEL am 12. 12. 94 gleichsam als sein eigener Rezensent an seinen Verleger über seine Beurteilung der theologischen Situation: „Eine Vermehrung unserer religionsgeschichtlichen ( + theologischen) Kenntnisse ist zu hoffen, vor allem durch die Assyriologen. Die ägyptische Religion ist — soweit ich sehe — ganz ohne Einfluß auf das A.T. Die babylonischen Denkmäler sind bisher in Bez. auf die Religion ganz oder fast ganz unausgeschöpft; die meisten davon sind aber auch noch nicht einmal ediert. Der Wert dieser Dinge für das A T wird von wenigen gesehen; auch der Recensent der ,Zukunft' kennt ihn nicht u wäre auch nicht der Mann dazu, religiöse Urkunden zu verstehen . . . Daß wir aus der kritischen in eine religionsgeschichtliche Epoche übergehen, ist meine Hoffnung u das Ziel meiner Arbeit." 3. Der Aufbau des Werkes und die neue Methode Das Buch hat einen alttestamentlichen Teil, der sich mit der Schöpfungsgeschichte vor allem in Gen 1 (S. 3—170) und einen neutestamentlidien Teil, der sich mit Kap. 12 der Ap Joh befaßt (S. 171—398). Beigegeben sind hinzugehörige babylonische Texte in der Ubersetzung von H.

ZIMMERN. 11

GUNKEL a n R U P R E C H T v o m 2 8 . 1 0 . 9 4 .

12

SuC

VII.

M. REISCHLE, Theologie und Religionsgeschichte, 1904. Als Ahnherren der Religionsgeschichtlichen Schule zählt REISCHLE dort außer EICHHORN auch SCHOPENHAUER, 13

NIETZSCHE,

CARLYLE,

LAGARDE

und

KIERKEGAARD

auf.

Vgl.

die

abweichende

Liste

R. KITTELS oben S . 2 7 A . 4 4 . 1 4 In einer Besprechung von REISCHLE, Theologie und Religionsgeschichte, D L Z 25, 1904, 1102 f. 1 5 Entrüstet lehnt GUNKEL bei dieser Gelegenheit auch die Schülerschaft LAGARDES ab. „Das alte Gerede, das mich zum ,Schüler von Lagarde* machen wollte, könnte nunmehr, nachdem ich mich über die verschiedensten Dinge in einer von Lagardes Stellung so oft abweichenden Weise geäußert habe, bald verstummen. Aber dergleichen ist fast unsterblich wie die H y d r a . " D L Z 25, 1904, 1103.

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Schöpfung und Chaos

a) Der alttestamentliche

Teil: Gen 1

J. W E L L H A U S E N hielt Gen 1 für eine „freie Construction des Verfassers" der Priesterschrift, der eine kosmische Theorie darbieten will. Gegeben sei lediglich das Chaos, von wo das Ganze entsponnen sei, „alles Folgende ist Reflexion, systematische Konstruktion, der man mit leichter Mühe nachrechnen kann" 1 . Hier tritt W E L L H A U S E N S literarkritische Methode, von der aus sein Bild von der Geschichte Israels entworfen ist, deutlich zutage. Er ermittelt auf literarkritischem Wege die Quellen, die von „Verfassern", „Schriftstellern" stammen. Die vorgetragenen Inhalte, Gedanken und Vorstellungen sind so alt wie die Quellen, wenn sich nicht wahrscheinlich machen läßt, daß eine Quelle auf eine noch ältere zurückgeht. Ρ ist in diesem Falle die Endstufe, und Gen 1 stammt vom Verfasser von P. Ein Vergleich mit dem babylonischen Schöpfungsepos konnte von W E L L H A U S E N in den frühen Auflagen der „Prolegomena" noch nicht durchgeführt werden. Aber auch als die Texte vorlagen, kommt es ihm nicht in den Sinn. Dagegen formuliert GUNKEL nun mit Nachdruck: „Gen 1 ist nicht eine freie Construction des Verfassers" 2 , vielmehr handelt es sich um die Niederschrift einer Tradition, was an einer „Reihe mythologischer Züge" deutlich wird, die es nahelegen, für diese Tradition ein hohes Alter anzunehmen 8 . Er rechnet mit einer Fortpflanzung von Gedanken und Vorstellungen nicht nur von Buch zu Buch, sondern von Mund zu Mund. Seine entscheidende Tat in „Schöpfung und Chaos" ist es, daß er mit der mündlichen Tradition Ernst macht, was Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte im Gefolge hat. Daß GUNKEL den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht mit dem babylonischen Schöpfungsepos in Verbindung bringt, ist so wenig neu wie manches andere, dem er zuerst Glaubwürdigkeit und Durchschlagskraft verschafft hat. Die meisten Forscher ringsum sind der Meinung, daß Gen 1 der babylonische Schöpfungsmythus zugrunde liege, nur denkt man an eine direkte literarische Übernahme und ist lediglich über den Zeitpunkt dieser Übernahme geteiltester Meinung 4 . Alle Möglichkeiten von der Amarnazeit, der Zeit der Assyrerherrschaft über Juda und der Zeit des Exils werden durchgespielt. Auch hat man an eine gemeinsemitische Grundlage gedacht und allerdings auch die babylonische Herkunft bestritten 5 . GUNKELS Leistung besteht darin, die Abhängigkeit des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts von dem babylonischen infolge methodischer 1 Prolegomena 3. A u f l . 1886, 312, 6. Aufl. 1927, 2 9 7 ; vgl. audi HOLZINGER, Einleitung in den Hexateudi, 1893, 363. 2 S u C 4. 3 SuC 14. 4 Vgl. dazu die Besprechung der Literatur S u C 3 f. 5 So A . DILLMANN, Die Genesis, 6. A u f l . 1892, 11.

A u f b a u und neue Methode

55

Klarheit zu unmittelbarer Evidenz erhoben zu haben. So untersucht er zunächst Gen 1 unter bewußter Absehung von den „assyriologischen Gleichungen" e , um dem Vorwurf zu entgehen, er finde das Ergebnis, das er gesucht habe. Er entspricht damit der im Vorwort angegebenen Arbeitsweise: „ I m Allgemeinen ist die Art unsrer gemeinsamen (der andere ist ZIMMERN) Arbeit durch die Form der folgenden Untersuchungen gekennzeichnet: der Theologe erkannte, von innertheologischen Beobachtungen ausgehend, den fremdartigen Charakter eines Stoffes, postulierte aus allgemeineren Gründen seine babylonische Herkunft, versuchte, seine ursprüngliche Gestalt zu reconstruieren und legte dann dem Assyriologen die Resultate zur Bestätigung v o r . " 7 Für die Herkunft von Gen 1 lautet das aus „innertheologischen Gründen" gewonnene Ergebnis, „daß diese Tradition nicht in Israel entstanden sein k ö n n e " 8 . Erst der zweite Blick gilt dann der babylonischen Parallele 9 . GUNKEL versucht, die Konturen des in mehreren Rezensionen vorliegenden M y thus herauszuarbeiten und kommt schließlich zu dem Ergebnis, daß auf den ersten Blick bei einem Vergleich des biblischen mit dem babylonischen Schöpfungsbericht nur ein gewaltiger Dissensus festgestellt werden kann „in der religiösen Haltung und in der ästhetischen Färbung", so daß man die Abneigung derer begreife, „die sich scheuen, beide Berichte nebeneinander auch nur zu nennen" 1 0 . Dies Urteil wäre für einen Mann der literarkritischen Schule, der mit Hilfe eines Textvergleichs literarische Abhängigkeitsverhältnisse überprüft, Veranlassung, die Untersuchung mit negativem Ergebnis abzubrechen. An diesem Punkt aber setzt GUNKEL erst eigentlich mit seiner Untersuchung ein, indem er nach der „mündlichen T r a d i t i o n " 1 1 der 6 Dahinter steht der methodische Grundsatz, der im Unterschied zu den „Panbabylonisten" für alle Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule von EICHHORN bis GRESSMANN stets gegolten hat, nämlich „ d a ß die Entwicklung einer Religion zunächst aus ihren eigenen Motiven abgeleitet werden muß", ehe man den Blick über die Grenze hinaus schweifen läßt. H . GRESSMANN, A. Eichhorn 17. 7 S u C V I I f. 8 S u C 15. Begründet wird dies Urteil, um nur einiges zu nennen, mit dem Hinweis auf die Bedeutung, die in Gen 1 im Unterschied zu Gen 2 ( = J ) dem Wasser zukommt. In Gen 2 ist die Erde ohne Vegetation, weil ihr der Regen mangelt; die Schöpfung beginnt hier damit, daß G o t t Wasser aus der E r d e hervorgehen läßt und so Leben möglich macht. G a n z anders Gen 1, wo das Wasser als Feind des Schöpfers auftritt. GUNKEL kann sich die Verschiedenheit solcher Berichte nur aus bestimmten klimatischen Verhältnissen erklären. D a ß die eine Erzählung gut nach Palästina paßt, die andere aber nur im wasserreichen Zweistromland entstanden sein kann, gehört dabei zu den Dingen, die auf der H a n d liegen. 9 S u C 16 ff. 10 S u C 29. Die Unterschiede bestehen etwa darin, daß im biblischen Schöpfungsbericht alles „Mythologische" weitgehend ausgeschlossen und von Polytheismus keine Spur mehr zu finden ist. 1 1 D e r Terminus fällt hier ebenfalls bereits mehrfach, als Beleg nur ein Zitat; S. 143 heißt es:„ D a die Schriftsteller J und Ε ihre Stoffe nicht erfunden, sondern nur gesammelt und höchstens leise bearbeitet haben, so ist im allgemeinen aus literarkritischen

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Schöpfung und Chaos

„Stoffe" 1 2 fragt. Dazu stellt er das Vergleichsmaterial auf eine breitere Basis und zieht alle alttestamentlichen, auch apokryphe, Stellen an, die „Anspielungen an den Mythus vom Kampfe Marduks gegen Tiamat" 1 3 zu sein scheinen, wo also nur einzelne Züge oder Motive auftauchen, die man erst ergänzen muß, um das Ganze zu erhalten. Bei dieser Untersuchung stellt sich heraus, daß die über das ganze Alte Testament, besonders über die poetischen Texte, verstreuten Motive sich alle zwanglos in den Schöpfungsmythus, in dem Chaosdrache und Urmeer die Hauptrolle spielen, einordnen lassen. Israelitischer und babylonischer Schöpfungsbericht haben so besehen „alle Hauptpunkte gemein" 14 . Strenggenommen darf man gar nicht von zwei Mythen reden, sondern man muß von einem Mythus reden, „der in zwei verschiedenen Recensionen-Familien erhalten ist" 1 5 , einer babylonischen und einer israelitischen. Die Frage der Abhängigkeit kann nicht zweifelhaft sein: da der Mythus wegen seines klimatischen Kolorits eindeutig auf Babylonien als sein Ursprungsland hinweist, muß Israel ihn übernommen haben. Diese Behauptung erhebt G U N K E L zum Beweis durch überlieferungsgeschichtliche Überlegungen 16 . Ist eine Abhängigkeit zwischen beiden Mythen anzunehmen, kann sie aber nicht so gedacht werden, daß der eine Schriftsteller vom anderen einfach abgeschrieben hat, muß füglich eine mündliche Überlieferung veranschlagt werden. Dann sind aber die Zwischenglieder aufzusuchen, die den Weg von der Urgestalt des Mythus in seiner babylonischen Form zu seiner Letztgestalt in Gen 1 markieren. Diese Zwischenglieder findet G U N K E L in den poetischen Rezensionen des Mythus im Alten Testament 17 . So ergibt sich folgende Entwicklungslinie: Beobachtungen f ü r die Geschichte des Stoffes selbst nicht viel zu schließen; die Sagen haben schon vor der literarischen Fixierung eine Geschichte in der mündlichen Tradition gehabt, und diese, schließlich allein wichtige, Vorgeschichte ist durch keine Literarkritik zu erreichen." 1 2 D i e Formgeschichte begann mit der „Stoffgeschichte". „ S t o f f " meint eine E r z ä h lung etc. nach ihrer inhaltlichen Aussage. D e r Stoff läßt sich wiederum in mehrere „ Z ü g e " zerlegen, die sich selbständig machen und dann einzeln als „ M o t i v e " auftreten können. In seiner Genesis definiert GUNKEL M o t i v als: „elementarer, in sich einheitlicher Teil eines poetischen S t o f f e s " , 3 G e n X X A . l . Erst als er auf die „ F o r m " des „ S t o f f e s " achten und beides zueinander in Beziehung zu setzen lernte, wobei er die literarische „ G a t t u n g " entdeckte — in der Zeit v o n .Schöpfung und C h a o s ' 1895 bis z u m Genesiskommentar 1901 — , w u r d e aus der S t o f f geschichte eine Gattungsgeschichte. 1 3 S u C 29. 1 4 S u C 113. 1 5 S u C 114. 1 6 D e r Terminus „Oberlieferungsgeschichte" f ä l l t in S u C bereits mehrfach: S. 3 : „Überlieferungsgeschichte der Erzählungen der Genesis", S. 2 0 9 : „ M a n ist vielleicht geneigt, sich darüber zu wundern, d a ß diese auf Überlieferungsgeschichte achtende Methode bisher so sehr zurückgetreten ist." GUNKEL b e v o r z u g t allerdings die latinisierte F o r m „Traditionsgeschichte". 1 7 S u C 117. D a ß Gen 1 die einzige vollständige Rezension des Schöpfungsmythus auf israelitischem Boden ist (Gen 1 ist ein „abgeblaßter M y t h u s " , S. 117), alles andere im A T nur „Anspielungen, Nachklänge, A n w e n d u n g e n " , erklärt sich f ü r GUNKEL leicht: „ d a s

Aufbau und neue Methode

57

Aus dem babylonischen Mardukmythus entwickeln sich in Israel die poetischen Rezensionen des Jahwemythus, und am Ende steht die prosaische Gestalt von Gen 1. Durch diese überlieferungsgeschichtliche Dimension wird das von GUNKEL entworfene Bild einleuchtend: „Jetzt ist Gen 1 nicht mehr ein isoliert stehendes Stüde, dessen Berührung mit der Mardukgeschichte sehr sonderbar erscheinen mag; sondern es ist ein Glied in einer großen Kette, eine Recension neben so vielen andern, für die wir schon den babylonischen Ursprung festgestellt haben." 1 8 Die Entwicklungslinie der Rezensionen ist gekennzeichnet durch ein ständiges Zurücktreten des Mythischen: in Babylon ist das Chaos älter als die Gottheit — dieser Gedanke findet sich in Israel überhaupt nicht. Dagegen spricht ein Teil der poetischen Rezensionen von einem Kampf der Gottheit gegen das Chaosungetüm, ein anderer Teil entpersonifiziert das Chaos und spricht nur noch von einem Kampf gegen das Meer. „In Gen 1 ist auch dieser letzte Rest verschwunden." 19 Das Verhältnis der poetischen Rezensionen zu Gen 1 bestimmt GUNKEL nach literarischen und religiösen Kriterien: „Nüchterne Prosa an stelle antiker Poesie, aber zugleich höhere Gottesanschauung an stelle antiker Naivetät." 2 0 Das Bild von der Geschichte des Schöpfungsmythus bliebe aber schematisch, wenn nicht jetzt im Anschluß an die mit religions- und überlieferungsgeschichtlichen Erwägungen bewiesene Verbindung von Gen 1 mit babylonischer Literatur der historische Weg nachgezeichnet werden könnte, den dieser Mythus bei seiner Wanderung zu den Israeliten genommen hat. Es spricht von vornherein für die streng kalkulierte und reflektierte Methode GUNKELS, daß er sich nicht damit zufrieden gibt, eine literarische Analogie mit Hilfe allgemeiner Erwägungen flugs in eine direkte Abhängigkeit zu modeln. Im Rahmen seiner Untersuchung zur Apokalypse äußert er sich grundsätzlich zu seiner Methode. „Es würde nicht genügen, einen beliebigen Mythus aus irgend einer uns bekannten Mythologie, der etwa größere oder geringere Ähnlichkeiten mit Ap Joh 12 hätte, herauszugreifen und ihn für das O r i g i n a l . . . auszugeben. Vielmehr wird eine methodische Untersuchung die Übernahme des einen Stückes aus fremder Religion nur dann behaupten, wenn sie dasselbe für andere, ähnliche Traditionen . . . wahrscheinlich machen kann; und wenn sie ferner im Stande ist, die Einwirkung dieser fremden Religion . . . mit jüdischem Geiste erfüllte und dem Judentum congeniale Gen 1 hat die übrigen Recensionen verdrängt". S. 119. 1 8 SuC 117. 1 9 SuC 120. 2 0 Ebenda. Der Gedanke, daß menschliche Sprache zuerst Poesie gewesen und dann erst als „Gebraudissprache" prosaisch geworden sei, ist seit HAMANN und HERDER allgemeines Bildungsgut. Es ist deshalb schwierig, für GUNKELS Urteil hier direkten Einfluß der Lektüre HERDERS anzunehmen. Sie erscheint geradezu als unwahrscheinlich, da die Bemerkung beiläufig und wie selbstverständlich fällt.

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Schöpfung und Chaos

geschichtlich zu verstehen."21 Was für die Apokalypse gilt, gilt natürlich in gleicher Weise für die Genesis und für jeden anderen Fall. Es ist der Religionsgeschichtlichen Schule und speziell GUNKEL der Vorwurf nicht erspart geblieben, er achte nicht genügend auf den Unterschied zwischen bloßer Analogie und tatsächlicher Abhängigkeit 22 . Erfreulich an diesem Vorwurf ist, daß offenbar auch außerhalb der Religionsgeschichtlichen Schule eine rein phänomenologische Betrachtung Verdacht erregt. Unerfreulich ist, daß dieser Vorwurf ausgeredinet gegen GUNKEL erhoben wird. Er würde mit viel mehr Berechtigung eine Arbeitsweise treffen, die etwa die Geschichte Alt-Arabiens untersucht in der Meinung, dadurch näheren Aufschluß über die Geschichte Israels vor der Seßhaftwerdung zu erhalten, da die äußeren Verhältnisse in beiden Fällen gleich gewesen seien (handelt es sich doch jeweils um Nomaden 2 3 ), und die ihr Unternehmen methodologisch immerhin folgendermaßen begründet: „Der vielgehörte Einwurf gegen solche Vergleichung, daß doch eine Zeit von mehr denn 2000 Jahren das alte Israel von dem hier behandelten Alt-Arabien trennt, hat für den mit dem Gebiete der Religionsgeschichte nur einigermaßen Vertrauten keine Bedeutung." 24 Gegen sich gerichtet aber kann GUNKEL diesen Vorwurf nur als ungerecht empfinden. In seiner Antwort auf REISCHLE klärt er deshalb noch einmal den Sachverhalt und weist dessen Vorwurf für seine Person zurück. „Nun gibt es aber Fälle, in denen man auf Grund von Analogien auf Abhängigkeit schließen muß, nämlich dann, wenn 1. die Erscheinung selber sich aus ihrer eigenen Umgebung nicht verstehen läßt, wenn 2. eine besonders frappante Analogie vorliegt, und wenn 3. ein Verhältnis der Abhängigkeit, wie es hier anzunehmen wäre, aus anderen Gründen wahrscheinlich gemacht werden kann. So schließen wir für die biblische Sintflutgeschichte auf babylonischen Ursprung, weil sich 1. diese Sage nicht aus den Verhältnissen Kanaans erklären läßt, weil wir 2. die besonders ähnliche babylonische Fluterzählung besitzen, und weil wir 3. schon aus anderen Gründen die Abhängigkeit der biblisdien von der babylonischen Uberlieferung annehmen." 2 5 Wie ist Israel mit dem babylonischen Schöpfungsmythus bekannt geworden? Daß der Verfasser der priesterschriftlichen Quelle einen Mythus, dessen heidnischer Ursprung ihm bekannt ist, in der gespannten religiösen Situation der exilisch-nachexilischen Zeit aufgreift, umgestaltet und seinem Werk betont voranstellt, mag zwar der Weisheit letzter Schluß für literarkritisches Denken sein, ist für GUNKEL aber „religionsSuC 282 f. Kursivierung von mir. M. REISCHLE, Theologie und Religionsgesdiidite 30 f. 3 3 So etwa WELLHAUSEN, Reste arabischen Heidentums, Skizzen und Vorarbeiten III, 1887. 2 4 J . MEINHOLD, Wellhausen, Hefte zur „Christlichen Welt" 27, 1897, 34. 21

22

25

GUNKEL, D L Z 1 9 0 4 ,

1106.

Aufbau und neue Methode

59

geschichtlich ein Ungedanke" 2 e . Wenn hier Tradition aufgenommen worden ist, und daran kann kein Zweifel sein, dann kann es sich nur um israelitische Tradition handeln. Der Mythus ist in Israel vorexilisch. K . BUDDES Vorschlag 2 7 , die assyrische Zeit für die Übernahme in Erwägung zu ziehen, ist für GUNKEL mit so vielen unhaltbaren literarkritischen Thesen verknüpft, daß er ihn ernsthaft nicht in Erwägung ziehen kann. Aber er braucht nicht lange zu rätseln. Er gehört zu den Glücklichen, die, anders als der frühe WELLHAUSEN, in der Zeit leben, da soeben das Archiv Amenophis I I I . und die Tell-Amarna-Tafeln entdeckt und entziffert worden sind. Sie lassen erkennen, daß der ganze Vordere Orient um 1400 unter der „Herrschaft der babylonischen Cultur" stand 2 8 . Das bedeutet Infiltration auf allen Gebieten. Schwer kann nun die Annahme nicht fallen, daß in dieser Zeit, da selbst die Ägypter sich der fremdländischen Keilschrift bedienten, auch der babylonische Schöpfungsmythus von Babylon gewandert und in Kanaan heimisch geworden ist, von dessen vorisraelitischen Bewohnern die Israeliten ihn kennengelernt haben. GUNKEL tut sich auch gar nicht schwer, diese Erkenntnis auszusprechen, aber welche Sprengkraft steckt darin! Zwar sagt er geradezu beruhigend im Blick auf WELLHAUSEN: „SO ließe sich also der Schöpfungsgedanke sehr wohl in der alten Zeit vorstellen, ohne daß dadurch das Bild der israelitischen Religion, wie es Wellhausen gezeichnet hat, wesentlich verändert würde." 2 8 Aber es wird verändert und gerade an der Stelle, wo es jenem am liebsten war: in den Anfängen. Uberall tritt bei WELLHAUSEN die Wertschätzung dieser erdhaften, naturverbundenen und unverbildeten Anfänge Israels hervor. Von diesem Bild bleibt wenig übrig, wenn man sich jetzt, unter Anleitung GUNKELS, vergegenwärtigen muß, daß nicht nur die Schöpfungsgeschichte, sondern ja auch Paradiesesund Sintfluterzählung von außen auf Israel zugekommen sind. Israel hatte nunmehr zu Anfang keine „einfache Religion . . . , die sich ganz aus sich selbst entwickelt hätte. In Wirklichkeit ist sie schon in der für uns ältesten Zeit das Product einer Geschichte; sie hat entscheidende Motive aus der Religion Kanaans aufgenommen; sie ist deshalb schon zu der Zeit, wo unsereQuellen einsetzen,einecomplicierteErscheinung." 3 0 GuNKELkönnte auch von den Anfängen Israels die Bezeichnung verwenden, mit der er hier in „Schöpfung und Chaos" das Judentum 3 1 und später das Urchristentum belegt 8 2 , nämlich daß es „synkretistisch" sei. SuC 135 f. K. BUDDE, Die biblische Urgesdiidite, 1883, 515 f. 2 8 SuC 58. 2» SuC 160. 3 0 SuC 157. 31 Es ist zu unterscheiden, ob das Judentum synkretistisch „gestimmt" war — das verneint GUNKEL für das palästinensische apokalyptische Judentum mit Entschiedenheit — oder ob es fremdes Gut in sich aufgenommen hat, was er bejaht. Vgl. SuC 284 ff. Nur in diesem zweiten Sinn spricht er von Synkretismus. 3 2 Verständnis 95. 28

27

60

Schöpfung und Chaos

Mit der Bemerkung, daß der babylonische Schöpfungsmythus „auch in einer eschatologischen Wendung nach Israel gekommen" sei und die Propheten beeinflußt habe sowie später bei der Endhofinung der Juden von Bedeutung geworden sei 33 , schließt der 1. Hauptteil des Buches ab und leitet zum 2. über. b) Der neutestamentliche

Teil: Ap Joh 12

Die Verbindung zum ersten Teil des Buches liegt darin, daß G U N K E L vermutet und schließlich für bewiesen erklärt, audi einem Kapitel eines Buches des neutestamentlichen Kanons liege der alte Schöpfungsmythus zugrunde, in A p Joh 12. Bedeutender als diese singuläre exegetische Erkenntnis ist aber wiederum die neue Fragestellung, mit der er an die Dinge herangeht. Audi hier ist es das Rechnen mit einer mündlichen Tradition der Stoffe und der Versuch einer feinen psychologischen Einfühlung in die Verfasser der Antike und die Kreise, denen die Schriftsteller angehören, was aus dem literarkritischen Engpaß herausführt oder hätte führen können. Bei der Apokalypse Johannis hatte sich die literarkritische Interpretation in der besonderen Spielart der „zeitgeschichtlichen Interpretation" etabliert. An ihre Stelle setzt G U N K E L die traditionsgeschichtliche Methode. Aber zunächst ist eine Orientierung über den Stand der Apokalypse-Forschung vonnöten. Mehrfach hatte man in letzter Zeit versucht, den überaus schwierigen literarischen Problemen, die dieses Buch aufgibt, gut literarkritisch durch die Annahme mehrerer Quellen oder mehrerer Überarbeitungen zu lösen. Hier hat V Ö L T E R 3 4 , der versuchte, die A p Joh auf mehrere zugrunde liegende Quellen christlicher Herkunft zurückzuführen, unbestreitbare Verdienste. Noch konnte niemand ahnen, daß hier, auf literarkritischem Boden, eine Zeitbombe lag, die bibeltreue Exegeten arg in Verwirrung bringen würde. Die Zündung war auf den Namen E B E R H A R D V I S C H E R 3 5 eingestellt, der 1886 erstmals in der Auslegungsgeschichte die These ver3 3 S u C 170. D a s sind Anregungen, präzisiert noch in „ Z u m religionsgeschichtlichen Verständnis des N T " (S. 21 spricht GUNKEL dort gegen WELLHAUSEN den S a t z aus, „ d a ß man die Propheten nur verstehen kann, wenn m a n annimmt, daß sie eine Eschatologie bereits vorgefunden, übernommen, bekämpft und umgebildet haben".), die später dann H . GRESSMANN in „ D e r U r s p r u n g der israelitisch-jüdischen Eschatologie" von 1905 weiter ausgeführt hat. „ M a n kann als den Inhalt dieses Büches den Versuch bezeichnen, die . . . These Gunkels zu beweisen." So H . SCHMIDT, H u g o Greßmann in memoriam, ThBl 6, 1927, 159. 3 4 D . VÖLTER, D i e Entstehung der A p o k a l y p s e , 1882, 2. Aufl. 1885. 3 5 E. VISCHER, D i e O f f e n b a r u n g des Johannis. Eine jüdische A p o k a l y p s e in christlicher Bearbeitung, 1886. I m N a c h w o r t berichtet A . HARNACK, wie er den Studiosus VISCHER etwas unsanft angelassen habe, als dieser ihm zum erstenmal seine These vortrug. War er doch noch ein jugendlicher Student, „der noch keine C o m m e n t a r e durchgearbeitet, sondern bisher nur das Buch selbst sorgfältig gelesen h a t t e " . Bei VISCHER 126. Als HARNACK aber unter dem neuen Gesichtspunkt die Probleme der A p J o h noch einmal durchdacht habe, sei es ihm „wie Schuppen von den A u g e n " gefallen.

A u f b a u und neue Methode

61

trat, bei der Ap Joh handle es sich um eine ursprünglich jüdische Schrift, die später christlich überarbeitet worden sei. Es sollte sich mit dieser neutestamentlichen Schrift also ähnlich verhalten wie mit einer Reihe jüdischer Apokalypsen, die zu den Pseudepigraphen gezählt werden (Testament der zwölf Patriarchen, Ascensio Jesaiae etc.) und ebenfalls Spuren christlicher Bearbeitung aufweisen. Wie zu erwarten, war die Ablehnung dieser These bei weitem größer als die Zustimmung 36 . G U N K E L ist also völlig mit seiner Ansicht im Recht, daß „eine erneute Erwägung der Instanzen nicht überflüssig" sei 37 . Dafür, daß er seine Erwägungen nur an einem einzigen Kapitel der Apokalypse durchführt, braucht er eine Rechtfertigung. Mit namentlichem Bezug auf WEIZSÄCKER38, dessen Beobachtungen der Uneinheitlichkeit weiter Stücke der Ap Joh G U N K E L auf die ganze Schrift ausdehnt, vertritt er die Meinung, daß es sich hier um „eine complicierte Zusammenstellung sehr vieler einzelner Visionen" handelt, die man als ursprünglich selbständige Größen zu behandeln hat 3 9 . Daraus ergibt sich der wichtige methodische Grundsatz, der bei der Behandlung von Gen 1 wie von selbst gegolten hatte, weil die literarischen Verhältnisse eindeutiger waren: „Es ist stets zunächst der innere Zusammenhang des Stoffes festzustellen, die Grenzen der dem Stoff nach selbständigen Einzelvisionen sind aufzusuchen, das Einzelne innerhalb der Vision ist, soweit es möglich ist, aus diesem Zusammenhange zu erklären; und erst, nachdem diese Fragen beantwortet sind, ist es erlaubt, den gegenwärtigen literarischen Zusammenhang zu untersuchen; dabei ist offen zu halten, daß derselbe erst später hinzugekommen sei." 4 0 Durch das Achthaben auf stoffliche Zusammenhänge kommt er nun dazu, zu K a p 12 noch Ap Joh 19, 11—20, 3 hinzuzunehmen, das insofern den Schluß zur Drachenvision in K a p 12 darstellt, als hier von der Besiegung des Drachen die Rede ist. Ebenso gehört die Kriegsrüstung des Drachen in 16, 12—16 zur Drachenvision. G U N K E L tut hier intuitiv nichts anderes, als was wir heute wie selbstverständlich nach allen Regeln der Kunst tun, wenn wir eine Gattungsbestimmung vornehmen wollen: Er versucht die Abgrenzung einer sinnvollen literarischen Einheit nach hinten und vorn. Dabei läßt er sich von stofflich-inhaltlichen Kriterien leiten, noch nicht von formalen. 3 8 Eine nützliche Übersicht über den Stand der Literatur zur Apokalypse bis 1894 bietet CHR. RAUCH, Die Offenbarung des Johannes, 1894. Das B u i ist initiiert durch eine Preisfrage der Teylerschen Theologischen Gesellschaft, die durch ihre Formulierung die völlig einseitig literarkritisch orientierte Fragestellung sehr schön verdeutlicht; sie lautet: „Welche Resultate haben die Untersuchungen der letzten Jahre über die Johanneische Apocalypse in Bezug auf ihre Zusammensetzung und die Zeit ihres Entstehens geliefert?" 3 7 S u C 173. 3 8 Κ . H . WEIZSÄCKER, Das apostolische Zeitalter, 2. Aufl. 1892, 489 ff. 3 9 S u C 194. 4 0 S u C 195.

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Schöpfung und C h a o s

Man hat ihm gerade bei dieser Schrift vorgeworfen, er habe sich zu sehr in gewagten Hypothesen ergangen 41 . Der Vorwurf läßt sich leicht auch gegen die methodische Seite ausdehnen 42 . Was G U N K E L ZU seinem entscheidenden methodischen Schritt, der Isolierung einer einzelnen Vision, kommen läßt, ist nicht mehr als das intuitive Gefühl dafür, daß der literarische Komplex, den er als einzelne Vision anspricht, von Haus aus ein selbständiges Gebilde ist. Was er später unter gattungsgeschichtlichen Gesichtspunkten in Form eines Beweises mit formgeschichtlidien Argumenten vorträgt, bietet er hier noch weniger gesichert auf der Basis stoffgeschichtlicher Argumentation dar, indem er für einen Schriftsteller nicht zu erwartende literarische Zusammenhanglosigkeiten feststellt und eine literarische Einheit auf Grund ihrer stofflichen Zusammengehörigkeit postuliert. Man sieht hier deutlich, wie er auf dem Wege ist und der Gedanke, es in seinem Genesiskommentar einmal mit der Methode der Gattungsgeschichte zu versuchen, nicht über Nacht und von außen an ihn herangekommen ist, sondern gründlich in seiner Entwicklung vorbereitet war 4 3 . Auf dem Wege zu einer literatur geschieht liehen Behandlung von Altem und Neuem Testament bedeutet „Schöpfung und Chaos" gerade mit seinem neutestamentlichen Teil einen Meilenstein. Den Beweis dafür, daß Ap Joh 12 eine jüdische Tradition zugrunde liegt 44 , führt G U N K E L über eine Talmudstelle 45 , in der es heißt, der Messias sei am Tage der Tempelzerstörung geboren und seiner Mutter danach durch einen Sturmwind entrückt worden. Allerdings geht es nicht an, beide Stellen in ein literarisches Abhängigkeitsverhältnis zu bringen 46 . Es handelt sich bei der Talmudstelle um eine selbständige Tradition oder besser um den Rest einer solchen, die lediglich beweist, „daß die in Ap Joh 4 1 G e r a d e auch W. WREDE in seiner sonst so positiven Besprechung T h L Z 21, 1896, 6 2 7 : „ D e n V o r w u r f kann man Gunkel wohl nicht ersparen, daß er eine Reihe gewagter, mitunter auch sehr gewagter Thesen ausgesprochen h a t . " Diese K r i t i k ist typisch f ü r die gegenseitige Behandlung der theologischen Freunde der Religionsgeschichtlichen Schule. M a n scheut keineswegs d a v o r zurück, sich gegenseitig zu kritisieren. 4 2 ERNST LOHMEYER hat Jahrzehnte später die Bedeutung der traditionsgeschichtlichen Methode stark eingeschränkt und mit Genugtuung festgestellt, „ d a ß Bousset, als er die O f f e n b a r u n g in ihrer Gesamtheit zu erklären begann, alsbald die Gunkelschen Richtlinien an entscheidenden Stellen u m b o g " . T h R N F 6, 1934, 284. LOHMEYER vertritt also den S t a n d p u n k t , m a n d ü r f e die einzelnen Visionen nicht von ihrem jetzigen literarischen Zusammenhang isolieren. Im ganzen vertritt er eine Position, die im E n d effekt sehr nahe an WELLHAUSEN herankommt. D a s Pendel schlägt wieder zurück. 4 3 Vgl. d a z u unten S. 78 ff. 4 4 D i e herkömmliche christliche D e u t u n g (reichs- oder kirchengeschichtliche Methode) von A p J o h 12 auf J e s u G e b u r t und H i m m e l f a h r t führt GUNKEL nicht ohne eine gehörige Portion S p o t t und H u m o r ad absurdum, daß m a n sich nur verwundern kann, wie danach noch ein solches Buch wie das v o n M. KOHLHOFER, D i e Einheit der A p o k a l y p s e , 1902, gedruckt werden kann. 4 5 J e r Berachot 2,4 (5 a , 12). 4 6 wie es VÖLTER infolge „des literarkritischen Zuges unserer Z e i t " versucht, S u C 200.

Aufbau und neue Methode

63

niedergelegte Überlieferung im Judentum existiert hat" 4 7 . So kommt er auf traditionsgeschichtlichem Wege zu einer Stützung der V i s c H E R s d i e n , auf literarkritischer Basis gewonnenen These — jedenfalls für diese eine Vision. Damit ist die zeitgeschichtliche Methode weithin erledigt. Diese war von der Voraussetzung ausgegangen, daß in den einzelnen Zügen der Offenbarung, die sie als „Bilder" interpretierte, überall versteckte Anspielungen auf zeitgeschichtliche Ereignisse oder Personen gesucht werden müßten. Dabei galt der Apokalyptiker als Urheber seiner Stoffe, die er frei oder in Anlehnung an das Alte Testament erfunden habe. Freilich hatte die zeitgeschichtliche Interpretation sich selbst mit schweren Hypotheken belastet, weil die Suche nach zeitgeschichtlichen Anspielungen in eine allgemeine Raterei ausgeartet war, so daß es GUNKEL nicht schwer fällt, hierfür einen regelrechten Lasterkatalog unsinnigster und verschiedenster Deutungen aufzustellen 48 und im Ansdiluß daran feierlich den „Bankerott" dieser Methode zu erklären 49 . Die „traditionsgeschichtliche Erklärung" ist berufen, „die zeitgeschichtliche in Zukunft zu ersetzen" 5 0 . Was die Apokalypse Johannis anlangt, so hatte GUNKEL in gewisser Weise einen direkten Vorgänger in SPITTA, der für dieses Buch bereits auf die jüdische Apokalyptik hingewiesen und gemeint hatte, es müsse ein „gemeinsames apokalyptisches Material" geben, an dem auch die Ap Joh teilhabe 51 . Allerdings ist SPITTA zumindest methodisch über die Vorstellungen der Literarkritiker nie hinausgekommen, insofern er sich die Tradierung dieses Materials nur „von Schrift zu Schrift" vorstellen konnte 5 2 . Daß es eine mündliche apokalyptische Tradition gebe, woraus im einzelnen noch viel weiter gehende Schlüsse zu ziehen sind (ζ. B. nach dem Ursprung dieses „Materials"), hat in der Tat als erster GUNKEL behauptet und damit die zeitgeschichtliche Methode entthront 53 . SuC 2 0 0 . 4 e SuC 2 3 3 . SuC 2 0 2 — 2 3 5 . 5 0 SuC 2 3 3 . Infolge dieser scharfen Formulierung ist GUNKEL dahin mißverstanden worden, als wolle er eine zeitgeschichtliche Deutung in jedem Einzelfall ausschließen. E r selbst ist der Meinung, daß in Ap J o h 13 und 17 so manche zeitgeschichtliche Anspielung steckt. N u r als generelle Methode hält er die zeitgeschichtliche für erledigt, er stellt die Forderung auf, daß in jedem Einzelfall gute Gründe für eine zeitgeschichtliche Deutung beizubringen sind. 5 1 F . SPITTA, Offenbarung des Johannes, 1889, 3 0 1 . 47

48

52

S o GUNKEL S U C 2 0 9 A . L .

In der traditionsgeschichtlichen Methode nennt GUNKEL selbst SPITTA seinen V o r gänger und BOUSSET seinen Nachfolger, „die mir freilich im einzelnen noch keineswegs genügen". Z w T h 1899, 6 0 3 . In bezug auf BOUSSET ist dies Urteil gewiß etwas anmaßend. Wenn dieser auch die Korrekturfahnen von „Schöpfung und C h a o s " einsehen konnte, so wird man ihm für seinen „Antichrist" und seinen K o m m e n t a r zur A p J o h nicht alle Eigenständigkeit nehmen dürfen. E r erklärt selbst „Antichrist" 1 : „Als ich vor zwei Jahren ein Kolleg über die Apokalypse las, w a r es mir bereits sehr wahrscheinlich geworden, daß zum mindestens K a p . X I unserer Apokalypse in einer älteren T r a dition wurzelte." Auch ihm ist die literarkritische Methode mit ihrer zeitgeschichtlichen Erklärung verdächtig geworden, und er fordert eine neue Methode. So kam GUNKEL 53

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Schöpfung und Chaos

4. Die hinter Ap Joh 12 stehende

Tradition

Es erscheint mir geboten, G U N K E L S Methode wenigstens an einem Punkte auch in ihrer Durchführung kurz nachzuzeichnen. Das soll dort geschehen, wo er V I S C H E R S These, die er zunächst auch für sich akzeptiert hat, daß nämlich Ap Joh 12 eine jüdische Tradition zugrunde liege, seinerseits übersteigt. Bei V I S C H E R war nämlich ein Rest geblieben; er hatte erklären müssen, daß es ihm nicht gelingen wolle, Kap 12 „bis in alle Einzelheiten zu deuten" 1 . Dies konnte, so meint nun G U N K E L , V I S C H E R wie seinen Vorgängern P F L E I D E R E R und S P I T T A nicht gelingen, weil sie auf der Suche nach dieser Tradition vom Alten Testament fixiert waren. Denn dies waren ihre Überlegungen: die in der Ap Joh vorliegenden Bilder sind nicht einfach durch zeitgeschichtliche Ereignisse veranlaßt, aber sie können vom Verfasser audi nicht einfach frei aus der Luft gegriffen sein. Die Phantasie muß durch vorgegebene Anhaltspunkte in Bewegung gesetzt worden sein, diese Anhaltspunkte lieferte das Alte Testament. Die Inbeziehungsetzung von Altem Testament und Apokalyptik weist G U N K E L nicht rundherum ab, „ist doch die Apokalyptik überhaupt nur unter der Voraussetzung, daß die Prophetie vorangegangen, zu begreifen, und audi im einzelnen leuchten bei sehr vielen apokalyptischen Bildern die prophetischen Originale, nach denen sie angelegt sind 2 , deutlich genug hindurch" 3 . Aber eine Erklärung der Apokalypse, die alles als Nachklang des Alten Testaments versteht, überschätzt den Einfluß des A T auf Judentum und Christentum gewaltig. Hier ist ein längerer Passus zu zitieren: „Diesem Irrtum, der seinen protestantischen Ursprung nicht verleugnen kann, ist entgegenzuhalten, daß selbstverBOUSSETS eigenen Neigungen sehr entgegen. Sein Verhältnis zu GUNKEL beschreibt er so: „Es ist für midi eine Pflicht der Dankbarkeit, hier sogleich am Anfang darzulegen, inwieweit ich von dieser Arbeit ( = „Schöpfung und Chaos") Anregung und Förderung erhalten habe. Namentlich hinsichtlich der Methode und der Fragestellung ist diese Anregung eine sehr große gewesen, und ich betone dies hier am Anfang um so lieber, als ich gezwungen bin, hinsichtlich der Resultate im einzelnen Gunkel sehr oft zu widersprechen." Antichrist 3. Auch im Ziel der Exegese gehen dann BOUSSETS Bahnen schnell in eine andere Richtung. Im Vorwort zu seinem Kommentar 1896 erklärt er S. VI: „Die Hauptaufgabe der Arbeit an der Apokalypse bleibt, wie ich midi im Laufe meiner Untersuchungen mehr und mehr überzeugt habe, die Erkenntnis und das lebendige Verständnis der Apokalypse als eines eigenartigen und charakteristischen litterarischen Ganzen." GUNKEL sah die Kleinarbeit als vordringlich an, er benötigte 25 Jahre, bis er sich auch dem „literarischen Ganzen" zuwenden konnte. Zum Problem von kleinste Einheit und Komposition s. unten S. 156 ff. 1

VISCHER 3 0 .

Das heute wieder aktuelle Problem des Verhältnisses der Apokalyptik zur Prophetie entpuppt sich hier als ein Greis von bereits siebzig Jahren. Im Grunde ist es so 2

alt wie die Apokalyptikforschung selbst, die mit FABRICIUS und SEMLER begann und d a n n m i t N a m e n w i e d e n e n v o n CORRODI, EICHHORN, DE W E T T E , V A T K E , L Ü C K E

und

HILGENFELD verbunden ist. Dazu jetzt J. M. SCHMIDT, Die jüdische Apokalyptik. Geschichte ihrer Erforschung von den Anfängen bis zu den Textfunden von Qumran, 1969. 3 SuC 238.

D i e Tradition hinter A p j o h 12

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ständlicher Weise das älteste Christentum, aber auch das Judentum lebendige Religionen sind, mit selbständigen religiösen Bedürfnissen, in denen ein Buch zwar viel, aber nicht alles bedeutet. Grade das Lebenskräftige, geschichtlich-Wirksame, dh das Bedeutsame in ihnen, so sehr es auch durch die Lektüre der ,Schrift' genährt oder wenigstens beeinflußt sein mag, hat seinen letzten Grund nie in dem Buche, sondern in den Personen, ihren Erfahrungen und Erlebnissen, und in der Geschichte, in der sie wurzeln. So ist auch die jüdisch-christliche Apokalyptik mehr als nur eine Alttestamentliches fortsetzende Epigonenbewegung. Der Hinweis auf den jüdischen Glauben an die Auferstehung, an die Hölle, an ein ewiges Leben im Himmel — Überzeugungen, die nicht alttestamentlich, aber auch nicht einmal aus dem A T organisch hervorgewachsen sind — genügt, um zu zeigen, daß in der jüdischen Apokalyptik neben dem aus dem A T Ererbten eschatologische Anschauungen stehen, die dem A T gegenüber von hoher Originalität sind." 4 Selbst wo alttestamentlicher Einfluß vorliegt, muß nach der Art desselben gefragt werden. Schaut man unter dieser Voraussetzung auf die Anknüpfungspunkte von Ap Joh 12 im Alten Testament, so zerrinnen sie unter der Hand. Größer als die Ähnlichkeit mit alttestamentlichen Stellen müssen P F L E I D E R E R , S P I T T A und V I S C H E R die Phantasie des Apokalyptikers veranschlagen; direkte literarische Abhängigkeit läßt sich in keinem Fall nachweisen. Das Ergebnis ist also, „daß die Einzelheiten des Capitels nicht aus dem A T verstanden werden können" 5 . Eine psychologische Überlegung stellt außerdem heraus, daß man nicht beliebig mit der Phantasie des apokalyptischen Schriftstellers umspringen kann. Die Apokalypse Johannis erhebt doch den Anspruch, absolut gültige Wahrheit zu verkünden und Offenbarung zu geben e . Wie aber kann der Verfasser selbst an die Wahrheit seiner Worte und Visionen glauben, wenn sie ein Produkt seiner eigenen Phantasie sein sollen? „So würde als ein völlig unausweichlicher Schluß folgen, der Apokalyptiker habe eigentlich an die Wahrheit seiner Worte selbst nicht geglaubt." 7 Diese Visionen bedürfen, wenn sie für den Verfasser glaubhaft sein sollen 8 , einer Autorität, die nicht in der Phantasie des Verfassers liegen kann. „Diese Autorität kann keine andere sein als — die Tradition." 8 S u C 238 f. f S u C 249. * GUNKEL verweist S u C 253 A . 6 auf das viermal v o r k o m m e n d e „diese Worte sind zuverlässig und w a h r " A p J o h 1,5; 19,9; 21,5; 22,6. W. WREDE hat sehr wohl gespürt, welche Bedeutung diesen psychologischen Überlegungen GUNKELS f ü r die Exegese zuk o m m t : „ D i e Hauptsache scheint m i r : Gunkel hat den G r u n d gelegt zu einer Psychologie der A p o k a l y p t i k . " S o in seiner Rezension v o n S u C in T h L Z 21, 1896, 629. 7 S u C 252 f. 8 Es sei denn, so meint GUNKEL, man wolle die A p o k a l y p s e als eine „referierende Beschreibung des Gesehenen und G e h ö r t e n " verstehen, w o z u er sich nicht entschließen könne. S u C 255. » S u C 255. 4

5

Klatt, Gunkel

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Schöpfung und C h a o s

Eine andere Argumentationsreihe plädiert ebenfalls für die Annahme einer Tradition für Ap Joh 12: die Gesetze der Sagenforschung. Bereits bei der Analyse von Gen 1 hatte G U N K E L auf diese Gesetze hingewiesen und es als Aufgabe der Sagenforschung bezeichnet, „nachdem der literarische Tatbestand festgestellt ist, dann die — oft bei weitem wichtigere — Frage aufzuwerfen, ob vielleicht über die frühere Geschichte der Erzählung eine Aussage gegeben werden könne" 1 0 . Aber erst im Zusammenhang mit der Apokalypse werden diese Gesetze theoretisch entfaltet. „Dem geübten Auge" gelingt es, bei einem Text aus alter Zeit auf Grund gewisser Symptome „die Codifikation einer Tradition und das selbständige Werk eines Schriftstellers" von einander zu unterscheiden 11 . Denn die Geschichte der mündlichen Tradition hinterläßt in aller Regel Spuren von der bewegten Vergangenheit des nun in seinem Endstadium schriftlich vorliegenden Textes. Die mündliche Tradition ändert bei aller Treue zum Uberlieferten ständig. „Solche Auslassungen, Zusätze, Verschiebungen, welche spätere Geschlechter an dem alten Stoffe vorgenommen haben, verraten sich in der vorliegenden Codifikation dadurch, daß der Zusammenhang der Erzählung, der einst lückenlos gewesen ist, gegenwärtig irgend welche Unklarheiten oder Sonderbarkeiten aufweist, oder daß einzelne Züge, die zur Zeit ihrer Entstehung ihren guten Sinn gehabt haben, weder aus dem vorliegenden Zusammenhange deutlich sind, noch als allgemein bekannt gelten können, und daher sonderbar abrupt und unverständlich aussehen. Wie man das Alter eines Gemäldes an der Nachdunkelung erkennt, so erkennt man das Alter einer Tradition an solchen ,Verdunkelungen'. Bei jeder Untersuchung einer Uberlieferung ist bei diesen Verdunkelungen einzusetzen; das letzte Ziel der Forschung aber ist, den ursprünglichen Zusammenhang zu reconstruieren und die Gründe seiner Veränderung anzugeben, dh die Geschichte der Tradition zu schreiben." 12 Ap Joh 12 reizt zu solcher Untersuchung. So gibt sich der mit den Sagengesetzen vertraute Forscher mit der Mitteilung von Ap Joh 12, daß das Weib vor dem Drachen in die Wüste flieht, nicht zufrieden. Er weiß nämlich, daß solche Ortsangaben in der Regel nicht beliebig austauschbar sind; das heißt aber, sie haben immer eine bestimmte Bedeutung. Warum flieht das Weib ausgeredinet in die Wüste? G U N K E L überlegt: „Für die Wüste ist charakteristisch, daß sie wasserlos ist, das Weib 1 1 S u C 255 f . S u C 5 f. S u C 256. D a s sind erstaunliche S ä t z e — 7 J a h r e vor Erscheinen der Genesis! GUNKEL spricht hier von „ d e m Sagenforscher" als einer bekannten Größe, und es sieht so aus, als wende er allgemeine und in einer bestimmten Forschungsrichtung geltende Gesetze an. Dennoch scheinen mir GUNKELS „Gesetze der Sagenforschung" viel eher auf eigener Beobachtung zu beruhen, als d a ß sie der Germanistik entstammen. Vgl. d a z u unten S. 106 ff. 10

12

Die Tradition hinter A p j o h 12

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aber flieht natürlich dorthin, wo sie sich vor dem Verfolger sicher fühlt; wir schließen also, daß das eigentliche Element des Drachen . . . das Wasser sei." 1 3 Dazu stimmen zwei weitere Angaben. Der Drache speit aus seinem Radien einen Strom aus, den aber die Erde rechtzeitig unschädlich macht, indem sie ihn verschlingt. Ferner wird der Drache in 20, 3 in den Urozean gebunden und versiegelt: er wird dorthin gebracht, wohin er eigentlich gehört. Ergebnis: Im Hintergrund dieser einzelnen Züge liegt die Vorstellung, daß der Drache ein Wasserungeheuer ist; „aber diese Anschauung ist in der Ap Joh selbst nicht mehr enthalten" 1 4 . Nun lassen sich dieser Zug und noch andere aus diesem Kapitel erklären und auf eine ursprünglich reichere Gestalt der Erzählung zurückführen. Aber der Zusammenhang des ganzen Kapitels ist lückenhaft und unlogisch und die einzelnen Züge darin unverständlich. Für diesen Sachverhalt gibt es nach G U N K E L nur eine Erklärung: „Derjenige, der dieses Capitel niedergeschrieben hat, kann selbst keine klare Anschauung von dem ganzen Organismus dieser Erzählung haben." 1 5 Das heißt aber wiederum, daß Ap Joh 12 „nicht aus dem Gedankenkreis des Schriftstellers stammt", sondern Tradition ist 1 6 . Woher stammt diese Tradition, wenn nicht aus dem Alten Testament? Dazu müssen nicht nur die einzelnen Züge, sondern es müssen Stil und Wesen der ganzen Erzählung erfaßt und beschrieben werden. G U N K E L tut es mit den Kategorien des „ästhetischen Eindrucks", bei dem er sich von seiner Intuition leiten läßt 1 7 . Wer diese Art „impressionistisch" nennen wollte, hätte dafür gute Gründe und könnte sich sogar auf GUNKEL selbst berufen 1 8 . Er empfindet bei diesen Zügen, daß sie alle „ein gewisses brennendes Colorit, das Symptom einer leidenschaftlich erregten Phantasie" tragen 1 9 . „Uberläßt man sich diesem ästhetischen Eindrucke, und fragt weiter, wo man zu diesen Zügen Analogien zu suchen habe, so muß die Antwort lauten: in der Mythologie." 2 0 Daraus folgt der entscheidende Satz — da das Judentum zwar mythologische Überlieferungen anderer Vöker aufgenommen und umgeprägt, aber nicht selbständig Mythologien erzeugt hat —, daß, sobald „der mythologische Charakter 1 4 SuC 258. SuC 258. 1 6 SuC 272. SuC 261. 1 7 Vielleicht hatte HARNACK dies intuitive Einfühlungsvermögen GUNKELS vor Augen, als er ihn „partiell genial" nannte. So bei O. DIBELIUS, Ein Christ ist immer im Dienst, 1961, 59. 1 8 GUNKEL, Die Religionsgeschichte und die alttestamentlidie Wissenschaft, V. Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt, 1910, 1 7 4 : „Der moderne Impressionismus soll uns lehren, neue Farben zu sehen und neue Töne zu hören." 1 9 SuC 272. Man kann hier sehen, was GUNKEL meinte, als er im Vorwort V I I sagte, er habe sich bemüht, „in demütiger Unterordnung unter den Gegenstand seiner Untersuchungen den Dingen ihr Geheimnis abzulauschen und ihre eigentümliche Natur zu erkennen". 2 0 SuC 272. 13 15

5*

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Schöpfung und Chaos

einer Überlieferung constatiert i s t . . z u g l e i c h der außerjüdische Ursprung derselben gegeben" ist 21 . Woher kommt dann der Ap Joh 12 zugrunde liegende Mythus? DIETERICH22 ist mit seiner Ableitung vom griechischen Leto-ApolloMythus nach GUNKEL deshalb auf falscher Fährte, weil die Einwirkung des Griechentums auf das apokalyptische Judentum geschichtlich nicht verständlich gemacht werden kann. Der nähere Umkreis sind jüdische Apokalypsen wie Henoch 23 oder Daniel 2 4 , deren Stoff sich hinauf bis zum Buch des Propheten Sacharja verfolgen läßt. GUNKEL kann sich darauf berufen, daß man das Gemeinsame an diesen Schriften längst erkannt und sie mit dem gemeinsamen Namen „Apokalypse" belegt hat, ohne sagen zu können, was das eigentlich Apokalyptische ist 2 5 . Er bestimmt nun seinerseits das Apokalyptische nach seinem Inhalt, wobei er gleichzeitig eine Gattungsbestimmung trifft. Inhaltlich partizipieren die Apokalypsen alle „an einem ganz eigentümlichen Material", das aus Kosmologie und Eschatologie besteht 26 . „Die schriftstellerische Einkleidung, in der dies Material mitgeteilt wird, ist ständig die Vision." 2 7 Dieses ganze apokalyptische Material, zu dem u. a. auch so wichtige Stücke wie der Glaube an die Auferstehung, an Paradies und Hölle gehören 2 8 , ist nun weder alttestamentlichen noch griechischen, sondern letztlich babylonischen Ursprungs 29 . Und es ist kein anderer Mythus als der ins Eschatologische gewandte babylonische Mythus vom ChaosDrachenkampf, der auch hinter Gen 1 steht. Dieser Mythus sei, so stellt es sich GUNKEL vor, in nachexilischer Zeit noch einmal, und zwar jetzt in eschatologischer Form, nach Israel eingewandert. Er kann sich nicht den2 1 SuC 276 f. Was natürlich in keiner Weise ausschließt, daß sich im jetzigen Text Stücke finden, die auf jüdische Hand zurückgehen; besonders deutlich ist das bei dem „Hymnus über den Drachensturz" in V. 10. 12. Des weiteren vgl. SuC 277—282. 22

A . DIETERICH, A b r a x a s 1 8 9 1 , 117FF. u n d N e k y i a 1 8 9 3 , 2 1 7 A . 3 , n a c h S u C 2 8 3 A . l .

Der Unterschied besteht zwischen beiden nach GUNKEL darin, daß bei Henoch das Kosmologische, in der Ap Joh das Eschatologische überwiegt, SuC 289. 2 4 Auch in Daniel finden sich Stoffe, die „ihrer Natur nach denen von Henoch und Ap Joh verwandt" sind, SuC 290. 25 SuC 290. 2 6 SuC 290. 2 7 SuC 290 f. Die in unserer Zeit erhobene Forderung, das Problem Prophetie und Apokalyptik im Blick auf formgeschichtliche Sachverhalte hin anzugehen, könnte also direkt bei GUNKEL anknüpfen. Vgl. K. KOCH, Neuorientierung der alttestamentlichen Theologie, Pastoralblätter 101, 1961, 552. 2 8 SuC 291. 2 8 SuC 292. GUNKEL schließt persischen Einfluß nicht aus. Er will im folgenden auch nicht die Spuren des gesamten Materials verfolgen, sondern nur den Stoff von Ap Joh 12. Um dafür babylonischen Ursprung wahrscheinlich zu machen, „genügt es, nachzuweisen, daß für einzelne, apokalyptische Traditionen der babylonische Ursprung wahrscheinlich ist". SuC 293. Den Beweis führt er im wesentlichen über die sieben Engel oder Geister, die im Babylonischen den sieben Planeten entsprechen, und über die 24 Presbyter, die im Babylonischen 24 Götter sind, die den himmlischen Rat bilden. SuC 294 ff., vgl. Verständnis 40 ff. 23

D i e Tradition hinter A p j o h 12

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ken, daß der Mythus erst in Israel seine eschatologische Wende erfahren habe 3 0 . Bei der Übernahme und Tradierung des Stoffes wurde dieser judaisiert, aber es wurde beim Überlieferungsprozeß auch Unverständliches mitgeschleppt, was sich leicht aus dem Selbstverständnis der Apokalypsen erklärt: sie wollen Geheimnisse bieten 31 . Die von G U N K E L rekonstruierte Gestalt des babylonischen Mythus hat zum Inhalt die Geburt des in einem Orakel verkündeten siegenden Gottes, dem der Chaosdrache zur Verhinderung des Eintreffens des Orakels nachstellt, und den schließlichen Sieg des herangereiften Marduk über den Chaosdrachen 32 . Obwohl er eine allgemeine Ableitung von Mythen aus meteorologischen Erscheinungen ablehnt, möchte er doch für den Schöpfungsmythus eine Ausnahme machen, weil gerade bei ihm erklärlicherweise Naturanschauungen eine besondere Rolle gespielt haben dürften. Und zwar handelt es sich um den Sieg der Sonne und des Frühlings über Nacht und Winter 3 3 . G U N K E L steht nicht an, f ü r die beiden Wendepunkte des Mythus — Geburt und Sieg Marduks — je ein Fest anzunehmen und diesen Mythus als „die zum Feste gehörige Legende" anzusprechen 34 . Damit ist wie von selbst und ohne Absicht und Methode eine literarische Gattung entdeckt: die Festlegende. Marduks Geburt ist das Winterfest, Marduks Sieg ein Frühlingsfest. Der Religionsgeschichtler weiß diesen nichtisraelitischen und schon gar nicht christlichen Mythus theologisch durchaus zu würdigen: „Es erfreut, zu sehen, daß wir auch die Stimmung des babylonischen Weihnachtsfestes so gut erkennen können; Weihnachten war schon damals das Fest der Hoffnung, die nicht zu schänden wird, und des Glaubens, der grade an dem Tage, an dem der Winter, das Chaos, das Böse zu siegen scheint, die Geburt des Frühlings, des Weltordners, des Guten feiert." 3 5 Wenn man den Entstehungsort dieses Mythus bedenkt und „wenn man es nur recht versteht", so ist dies „ein wundervoller Mythus, der zu uns aus uralten Tagen von den ewigen Schmerzen und dem ewigen Glauben der Menschheit spricht" 3e . 30 SuC 369 A.3: „Es ist sehr unwahrscheinlich, daß die Urmythen erst in Israel eschatologisch verwandt seien. Vielmehr dürfen wir mit großer Sicherheit postulieren, daß diese Übertragung schon in babylonischer Tradition geschehen sei." GUNKEL meint S. 87, daß die Esthatologisierung in Israel aus der innerisraelitischen Religionsgeschichte nicht zu erklären sei. Vgl. oben S . 6 0 A. 33. 31 Es ist keine Frage, wer das Anliegen der Apokalypse besser erspürt hat, SPITTA, der Harmaggedon als Megiddo versteht und gut zeitgeschichtlich meint, „unter Caligula konnte man hier in einem bestimmten Momente die Vereinigung dreier Römerheere erwarten" (GUNKELS bissiger Kommentar SuC 264 A . l : „Aber solche durch Frösche zusammengerufenen Heere bestehen sicherlich nicht aus römischen Soldaten.") — oder GUNKEL, der die Erklärung des Wortes als unmöglich ansieht, weil seine Bedeutung schon damals nicht mehr bekannt gewesen sei. „So konnten auch Dinge, die man eigentlich nicht verstand, mit weiter überliefert werden; man schätzte sie wegen ihrer Dunkelheit nicht gering, im Gegenteil, man war geneigt, grade deshalb in ihnen ein tiefes göttliches Geheimnis zu ahnen." SuC 265. 32 33 34 SuC 385—388. SuC 389. SuC 390. 35 36 SuC 391. Ebenda.

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Schöpfung und Chaos

Das von Rom bedrückte und auf den Messias hoffende Judentum entnahm diesem Mythus den Trost, daß der Retter bereits geboren und zu Gott entrückt sei, der schließlich dann den Sieg behalten werde 8 7 . Die noch später aufgesetzte christliche Deutung erweist sich als der jüdischen wesensverwandt 3 8 .

5. Der Streit mit Wellhausen Während E. M E Y E R über „Schöpfung und Chaos" urteilte, es sei gelungen, „aus einem Chaos eine Schöpfung" zu machen 1 , wird von J . W E L L H A U S E N das Diktum überliefert, das Buch sei „mehr Chaos als Schöpfung" 2 . Nach einigen Jahren klingt sein Protest etwas gemildert: „Er ( = GUNKEL) will einen neuen Weg zur Erklärung der Apokalyptik überhaupt einschlagen und an Apoc.Ioa.12 erweisen, daß derselbe zum Ziel führe. Von früherer Kenntnisnahme her hatte ich den Eindruck, daß dagegen nur zu protestiren sei. Bei erneutem L e s e n . . . finde ich freilich, daß er doch auch gute Beobachtungen gemacht hat. Im Ganzen und Großen muß es jedoch beim Proteste verbleiben." 3 Dabei räumt W E L L H A U S E N G U N K E L zunächst ein, eine Reihe richtiger Erkenntnisse ausgesprochen zu haben. So hat er nichts dagegen, daß G U N K E L für die gesamte jüdische Eschatologie eine gemeinsame feste Tradition annimmt. N u r sage er damit nichts Neues, das sei bereits von Männern wie S E M L E R , C O R R O D I , V A T K E und S C H Ü R E R festgestellt worden. Neu sei allerdings die Behauptung, „daß dieser traditionelle Stoff weniger aus dem Alten Testamente als aus der babylonischen Mythologie stamme" 4 . Aber auch dem kann und will W E L L H A U S E N nichts entgegenGUNKEL

3 7 D e r M y t h u s ist in den jüdischen A p o k a l y p s e n besser erhalten als im A l t e n T e s t a m e n t . GUNKEL macht d a f ü r d a s andere geistige Verhältnis zur T r a d i t i o n v e r a n t w o r t lich, aber d a s mit Worten, die zeigen, d a ß er die „ P f ü t z e des J u d e n t u m s " wohl als historische G r ö ß e veranschlagt, aber nicht lieben k a n n . S . 396 heißt es: „ W ä h r e n d die P r o pheten u n d Dichter des A T die T r a d i t i o n in großer geistiger Freiheit f ü r ihre Zwecke v e r w a n d t haben, zeigt sich hier ein g a n z anderer G e i s t : die d u m p f e L u f t der jüdischen C o n v e n t i k e l weht uns entgegen, w o die Menschen dicht bei einander sitzen, um sich tiefe Geheimnisse z u z u r a u n e n , über d e m H a l b v e r s t a n d e n e n nachzugrübeln u n d d a s g a n z Unverständliche u m so mehr zu b e w u n d e r n . " 3 8 S u C 397. 1 E . MEYER, B e i l a g e zur Allgemeinen Z e i t u n g , München, v o m 13. 12. 1894, Nr. 287, 1. 2 Ich k a n n diesen Ausspruch bei WELLHAUSEN nicht verifizieren, es scheint sich u m mündliche T r a d i t i o n zu handeln, f ü r die es zuverlässige Zeugen gibt. Zuerst hörte ich ihn v o n K . K O C H . R.SMEND v e r b ü r g t sich „steif u n d f e s t " f ü r ihn (brieflich v o m 7 . 1 1 . 1 9 6 3 ) und beruft sich nur nebenbei a u d i auf SMENDsche F a m i l i e n t r a d i t i o n . Ü b e r l i e f e r t w i r d der A u s s p r u d i auch aus O . EISSFELDTS K o l l e g . D a r ü b e r b e f r a g t , teilte er mir a m 2 7 . 3 . 1 9 6 6 mit, er habe ihn aus HARNACKS M u n d , aus K o l l e g , S e m i n a r oder persönlichem Gespräch. 3 J. WELLHAUSEN, Z u r a p o k a l y p t i s c h e n L i t e r a t u r , S k i z z e n u n d V o r a r b e i t e n V I , 1899, 2 1 5 — 2 4 9 . Z i t a t 225 f. 4 S k i z z e n V I , 226.

Streit mit Wellhausen

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setzen. „Daß audi babylonisches Material importiert ist, muß ebenfalls anerkannt werden." 5 Allerdings möchte er GUNKELS Erkenntnis ihrem Umfang nach ein wenig einschränken. „Wozu es aber nötig ist und wozu es dienen soll, eine förmliche babylonische Reunionskammer einzurichten, läßt sich schwer begreifen. Gunkel reklamiert alles Mögliche und Unmögliche als aus Babylon entsprungen." 6 Daran wird deutlich, daß hauptsächlich der neutestamentliche, nicht der alttestamentliche Teil von „Schöpfung und Chaos" zur Diskussion steht. Bei diesem Satz nun kündigt sich WELLHAUSENS Protest an: er hält von der ganzen Fragestellung GUNKELS nichts. Die Frage nach dem Ursprung eines Stoffes und seiner Geschichte hält er für theologisch irrelevant. Er erklärt: „Das Proton Pseudos ist, daß er der Ursprungsfrage überhaupt großen Wert beimißt. Von methodischer Wichtigkeit ist es zu wissen, daß tatsächlich ein Stoff in den Apokalypsen vorliegt, der von der Conception des Autors nicht immer völlig durchdrungen, in seinem Guß nicht immer ganz aufgegangen ist und noch öfter für unsere Erklärung einen undurchsichtigen Rest läßt; woher jedoch dieser Stoff ursprünglich stammt, ist methodisch ganz gleichgiltig." 7 Es gehe einzig und allein um das Verständnis des Schriftstellers, nicht um das seines Materials. Was GUNKEL tut, „hat vielleicht antiquarisches Interesse, ist aber nicht die Aufgabe des Theologen und des Exegeten" 8 . GUNKEL war über diese Kritik zutiefst empört 9 . Freilich nicht über WELLHAUSENS andere theologische Position, die nur den Schriftsteller und nicht den Stoff erklären will. Über diese Abneigung wundert er sich nur ein wenig. „Wir kennen diese Stimmung einer älteren Schule sehr wohl, die im letzten Grunde die Religion des Volkes Israel allein untersuchen will und behauptet, Israels Berührungen mit den Culturvölkern zu behandeln, habe kein theologisches, sondern ,vielleicht' antiquarisches Interesse; die zwar im allgemeinen sehr wohl von dem Einfluß fremder Religionen auf Israel weiß, die aber diese Erkenntnis in der Einzelexegese nicht anwendet; . . . weil sie keine Augen hat für das gewaltige Bild der Geschichte der Völker und Religionen, das im Hintergrund solcher Zusammenstellungen steht; die zwar auch gelegentlich von /Tradition' redet, aber bei der Exegese doch fast immer nur an die Schriftsteller denkt; wir kennen diese Stimmung wohl, aber wir wundern uns, sie bei einem so weitblickenden Mann, den wir als unsern Bahnbrecher 6 Ebenda. Skizzen VI, 233. Ebenda. 8 Ebenda. Weiter spöttelt er: „Wenn es feststeht, daß Goethe selber im Fischer mit der Todesglut, in die der Fisdi aus seinem kühlen Element hinaufgelockt wird, eine Bratpfanne gemeint hat, so ist es überflüssig, sich in die Etymologie des Wortes zu vertiefen und daraus den eigentlichen Sinn zu schöpfen." 9 GUNKEL, AUS Wellhausens neuesten apokalyptischen Forschungen. Einige principielle Erörterungen, ZwTh N F VII, 1899, 581—611. 5

7

72

Sdiöpfung und Chaos

und Führer verehrt haben, zu finden."10 Über WELLHAUSENS prinzipielle Haltung ist GUNKEL nicht empört; eher resigniert er, daß der von ihm hochgeschätzte Gelehrte die Probleme einfach nicht sehen will. Empört ist er, weil WELLHAUSEN sein Buch nur sehr oberflächlich („ein bloßes Blättern" " ) gelesen und seine Position völlig schief dargestellt hat. So, als habe er, GUNKEL, jede zeitgeschichtliche Erklärung verworfen; so, als sei er nicht auch bestrebt, selbstverständlich nicht nur nach der Vorgeschichte der Stoffe zu fragen, sondern vor allem „den Sinn, den die apokalyptischen Schriftsteller gemeint haben", zu erforschen 12 . Er fühlt sich karikiert und schlägt hart zurück: „Ein Älterer aber, Hochangesehener, dessen Wort viel gilt, sollte sich doch, ehe er einen Jüngeren, der noch um die Palme ringt, verspottet, recht genau orientiren, ob er ihm Unrecht thut oder nicht." 1 3 Ist WELLHAUSEN etwa bösartig? Keineswegs, er erkennt nicht als Problem, was GUNKEL und seine Freunde umtreibt. Der Hauptstreitpunkt zwischen den beiden Kontrahenten besteht darin, daß WELLHAUSEN der Meinung ist, Ap Joh 12 lasse sich durchaus als Schöpfung eines einzelnen Verfassers begreifen, der auf dem Boden des Judentums stehe. GUNKEL ist zu dem Ergebnis gekommen, dies Kapitel sei „reich und überreich an Zügen, die jeder Deutung vom Standpunkt des Judentums spotten" 1 4 . Wer allerdings so wie WELLHAUSEN exegesiert, der verzichtet in Wahrheit auf eine Erklärung. So nützt es nichts, wenn er prinzipiell für die Apokalyptik eine feste Tradition zubilligt, GUNKEL will die Auswirkungen im Einzelfall sehen. „Es genügt mir nicht, daß man im allgemeinen von apokalyptischer Tradition rede, sondern ich wünsche auch, daß man bei der Einzelerklärung beständig auch an diese Tradition und nicht nur an den einzelnen Schriftsteller denke." 1 5 Allerdings entgegnet er auf WELLHAUSENS Hauptvorwurf, er werte die Vorgeschichte der Stoffe theologisch viel zu hoch, lediglich mit dem lapidaren Hinweis, diese Vorgeschichte enthalte ein „wichtiges und echt-theologisches Problem" und gehe den Exegeten sehr wohl etwas an. Im übrigen ließen sich aus dieser Vorgeschichte „häufig die allerbedeutsamsten Schlüsse für die Religionsgeschichte" ziehen 1β . Welche Bedeutung jeweils der Vorgeschichte zukomme, hänge aber letzten Endes ganz und gar von der Beschaffenheit des Textes ab. Ist der Stoff vom Schriftsteller in sehr konservativer Gestalt übernommen, so gilt das Hauptinteresse diesem Stoff, ist der Anteil des Schriftstellers an ZwTh 610 f. » ZwTh 596. 1 2 ZwTh 605. „Wellhausen und ich sind also in der Forderung, daß man den Sinn, den die apokalyptischen Schriftsteller gemeint haben, erforschen müsse, vollständig einverstanden. Audi dies, daß in einer Exegese über die Ap Joh dieser Sinn das Hauptthema sein müsse, ist durchaus meine Meinung." 1 3 ZwTh 597. * 1 4 ZwTh 601. 1 8 ZwTh 604. " ZwTh 603. 10

Streit mit Wellhausen

73

der Textgestalt größer, so richtet sich das Hauptinteresse wie von selbst auf den Schriftsteller 17 . Aber G U N K E L gibt auf W E L L H A U S E N S Frage nach der theologischen Bedeutung der traditionsgeschichtlichen Methode letztlich keine systematisch-theologische Antwort, indem er etwa auf den Sinn der Geschichte verwiese. Dem Exegeten W E L L H A U S E N gegenüber besteht er darauf, daß er dieses Problem nur als eine quaestio facti verstanden wissen wolle 18 . Daß die quaestio facti für den Theologen wie von selbst zur quaestio iuris umschlagen werde, setzt er voraus, geht aber nicht weiter darauf ein. Die Frage nach dem Wert oder der Bedeutung biegt G U N K E L um zur Frage nach dem Faktum: Liegt außer jüdischer Einfluß auf das Judentum vor oder nicht? Wenn ja, darf, ja muß der Theologe dieser Frage nachgehen? G U N K E L hat W E L L H A U S E N offenbar nicht mehr für einsichtig genug gehalten, diese Frage ohne Vorurteil beantworten zu können, deshalb hat er die Antwort der Zukunft anheimgestellt 19 . Er ist bei dieser Antwort auf diese religionsgeschichtliche Frage auch nicht stehengeblieben, vielmehr hat er bereits in „Schöpfung und Chaos" so manches theologische Urteil abgegeben. Diese wollte er W E L L H A U S E N hier nicht wiederholen 20 , dem er in diesen Jahren trotz aller Anerkennung zürnte. W E L L H A U S E N S Name stand noch auf der Liste, die G U N K E L seinem Verleger zur Versendung von Freiexemplaren von „Schöpfung und Chaos" zusandte, die „Genesis" erhielt W E L L H A U S E N nicht mehr. In welchem Gegensatz zur WELLHAUSENschule sich audi später noch die junge Garde der Religionsgeschichtler wußte, zeigt ein mit „Erklärung" überschriebenes und von der Hand H . G R E S S M A N N stammendes Schriftstück, das leider nicht datiert ist, das aber wohl zu Beginn dieses Jahrhunderts angesetzt werden muß 21 . Mit Gunkel, E d u a r d Meyer und anderen Forschern weiß ich midi einig im Gegensatz gegen die Orthodoxie der Schule Wellhausens, die ihre Anschauungen als die wissenschaftlich allein berechtigten hinstellt, die ihre Gegner vornehm ignoriert oder als „Ästhetiker" und „Impressionisten" verspottet, aber zugleich ihre Gründlichkeit und philologische Exaktheit bezweifelt und damit ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten überhaupt leugnet. Es ist sehr zu bedauern, daß solche Werturteile, die nicht aus Tatsachen, sondern nur aus dem Geist einer Schule zu erklären sind, ihren Weg auch in die Laienwelt finden; und darum sehe ich midi veranlaßt, gegen dies Verfahren, das nicht von allen, aber von einzelnen Vertretern jener Schule geübt wird, öffentlich Protest einzulegen. 1 7 Z w T h 6 0 5 f . An derselben Stelle heißt es: „Wenn in diesem Werk ein so großer R a u m der Vorgeschichte des Stoffes gewidmet wird und ein verhältnismäßig geringer dem Sinn, den er in der A p J o h hat, so erklärt sich das . . . daraus, daß diese Vorgeschichte ein neues Thema war, w o jeder Schritt neu erobert werden mußte." 1 8 Z w T h 607. 1 9 Z w T h 611: « . . . weil ich im stillen an das Urteil der Zukunft appellire . . . " 2 0 Vgl. d a z u den folgenden Abschnitt. 2 1 Es f a n d sich jetzt in GRESSMANNS Schreibtisch und ist im Besitz seiner Witwe. Soweit ich sehe, ist es unveröffentlicht geblieben.

74

Schöpfung und Chaos

Die Literarkritik hat unter der Führung Wellhausens einen ungewöhnlichen Siegeszug erlebt. Auch wir sind uns bewußt, auf den Schultern der vergangenen Generation zu stehen, und erkennen dankbar an, was sie geleistet hat. Willig rühmen wir nicht nur ihre philologischen, sondern audi ihre literarischen und religionsgeschichtlichen Arbeiten. Aber es ist unmöglich, die Augen länger vor der Tatsache zu verschließen, daß die einseitige Literarkritik und damit auch die Sdiule Wellhausens ihre Rolle ausgespielt hat. Nachdem sie eine Generation hindurch fast unbestritten die Herrschaft innegehabt hat, wird ihr jetzt durch neue Fragestellungen und durch die Erforschung neuen Materials der erste Rang streitig gemacht. Die jüngeren Forscher und vielleicht noch mehr die unbeteiligten Zuschauer werden mit mir die Empfindung haben: Wir sind es satt, uns mit Literarkritik abspeisen zu lassen. D a wir am Anfang einer neuen Epoche in der Auffassung der alttestamentlichen Religions- und Literaturgeschichte stehen, so kann wohl der Schein des Impressionismus erweckt werden; aber es ist eben nur Schein, weil die neuen Anschauungen noch nicht nach allen Seiten hin durchdacht und die neuen Positionen noch nicht bis in die Einzelheiten ausgebaut werden konnten. Daß nicht alles in gleicher Weise haltbar ist, versteht sich von selbst. Man sieht ja auch an den Aufstellungen Wellhausens, wie eine nach der anderen in sich zusammenstürzt, wenn auch Vieles bleibt. Dies diem docet, gilt auch oder sollte wenigstens auch in der Sdiule Wellhausens gelten, den ich trotz alledem als Meister verehre. Jeder Forscher weiß, daß die wissenschaftliche Arbeit Sisyphusarbeit ist, daß sie aber dennoch nicht vergebens geleistet wird, falls sie das rechte Wort zu ihrer Zeit findet. Und sollte uns die Gegenwart nodi nicht gehören, so sind wir doch der frohen Zuversicht, daß die Zukunft unser ist. Hugo Greßmann. 6.

Israel

und

Babylon:

Das

religionsgeschichtliche

Problem

I s r a e l , ein S p ä t l i n g u n t e r d e n V ö l k e r n des V o r d e r e n O r i e n t s !

Israel

g a r in seiner R e l i g i o n a b h ä n g i g u n d b e e i n f l u ß t v o n f r e m d e n R e l i g i o n e n , v o r a b d e r B a b y l o n s ! S e l b s t eine n e u t e s t a m e n t l i c h e Schrift n i c h t a u s o r i g i när

christlichem

Geist

geflossen,

sondern

eine

ursprünglich

jüdische

Schrift, d u r c h s e t z t m i t R e s t e n eines b a b y l o n i s c h e n M y t h u s ! W a s f ü r j e d e T h e o l o g i e ein Ä r g e r n i s u n d ein z u l ö s e n d e s P r o b l e m d a r s t e l l t —

wie

s t e h t es u n t e r diesen U m s t ä n d e n m i t d e r R e d e v o n d e r O f f e n b a r u n g ?

—,

GUNKEL selbst e m p f a n d seine e x e g e t i s c h e n B e o b a c h t u n g e n als b e f r e i e n d e E r k e n n t n i s . W e n n e r eine t h e o l o g i s c h e P o s i t i o n j e v o n G r u n d a u f b e k ä m p f t h a t , d a n n w a r es d i e des S u p e r n a t u r a l i s m u s , hinter jeder F o r m auch dort,

wo man

von

Inspirationslehre

den e r nicht n u r

d e r Schrift w i t t e r t e ,

sondern

neben der allgemeinen Menschheitsgeschichte

besondere Heilsgeschichte a n n a h m

o d e r m i t einer speziellen

eine

göttlichen

O f f e n b a r u n g i n n e r h a l b I s r a e l s r e c h n e t e . D i e M e n s c h h e i t ist eine E i n h e i t , v o n diesem G e d a n k e n w a r er zutiefst durchdrungen1.

In

„Schöpfung

u n d C h a o s " h a t t e e r eine B r ü c k e s c h l a g e n k ö n n e n z w i s c h e n d e m

aner-

„Ich hebe nur das eine hervor, daß der Historiker, dem die Geschichte der Menschheit eine Einheit ist, sie nicht in zwei Hälften, die christliche und die außerchristliche Entwicklung, auseinanderschneiden kann." Die Religionsgesdiichte und die alttestamentlidie Wissenschaft 1910, 179. Wenn er dann doch davon redet, daß Gott sich in Israel „in besonderer Weise" offenbare, so ist das kein Rückfall in supernaturalistische Denkweise, sondern geschichtlich vergleichend zu verstehen. 1

Israel und Babylonien

75

kannten Gottesvolk und einem heidnischen Volk. Er beschreibt später seine Begeisterung darüber selbst so: „Das Leben der Menschheit ist Geschichte, d. h. es ist ein ungeheures Lebendiges, ein großes Ganze, ein gewaltiger Zusammenhang, in dem alles Frucht ist und alles Samen. Und in diese vielumschlungene Kette von Ursache und Wirkung gehört audi die Religion mitten h i n e i n . . . So sind wir erfüllt von der begeisternden Ahnung der unendlichen Weite und Fülle der Welt, wo ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. Das ist der Grund, weshalb midi die babylonische Beeinflussung Israels einst so entzückt hat, weshalb sie mir mehr als eine ,Kuriosität' 2 , als eine ,antiquarische' Notiz 2 gewesen ist: so weit entfernte Völker, geistig getrennt durch eine Welt, und doch im Zusammenhang! Urmythen der Menschheit und die Offenbarung Johannis, so weit in der Zeit und in Gedanken getrennt, und doch im Grunde derselbe Stoff!" 3 Nicht als ob G U N K E L auf den Gedanken gekommen wäre, nun alles in einen Topf zu werfen und zu behaupten, Marduk sei Christus. Im Gegenteil! Sah er die Dinge im Fluß und rechnete er mit einer geschichtlichen Entwicklung, so war er mehr gefeit gegen eine „Überhöhung" alttestamentlicher Vorstellungen als andere Theologen. So konnte er nicht nur den Unterschied christlichen Denkens und Glaubens gegenüber Babylon, sondern auch gegenüber Israel betonen. „Nun ist aber der Geist eines Volkes wie Israels, das unter anderem Himmel lebt, anderer Rasse ist und der Zeit nadi weit von uns entfernt, von unserem Geiste weit unterschieden." 4 Aber dennoch, „ewige Wahrheit" 5 gibt es auch dort, wenn auch nicht in solcher Fülle. Das gilt dann aber auch für die noch älteren und fremderen polytheistischen Mythen aus dem Zweistromland. „Der Theologe wird gut tun, auch den Mardukmythus mit Pietät zu behandeln; man ehrt seine Eltern nicht dadurch, daß man von den Urahnen gering denkt." 8 Oder noch deutlicher: „Wir Christen haben zu der Annahme, daß alles Gute und Wertvolle in der Religion nur aus Israel stammen könnte, durchaus keinen Grund; vielmehr würde solch jüdischer Chauvinismus in unserm Munde sehr sonderbar klingen. Der Same der göttlichen Offenbarung ist nicht allein auf den jüdischen Boden ausgestreut." 7 Dies ist die eine Seite der Sache, die von G U N K E L stark herausgestellt wird: wer sich auf ein echt geschichtliches Verständnis der christlichen Religion einläßt, muß auch zu den anderen Religionen — Ägypten war zur Zeit von „Schöpfung und Chaos" noch nicht so recht ins Blickfeld getreten — des Vorderen Orients eine neue theologische Stellung ein2

A n s p i e l u n g a u f Ä u ß e r u n g e n v o n A . HARNACK u n d J . WELLHAUSEN.

D L Z 1904, 1109 f. 4 Die Religionsgeschidite und die alttestamentliche Wissenschaft 178. 5 Ebenda. 6 SuC 391. * Verständnis 14. 3

76

Schöpfung und Chaos

nehmen. Dieser Haltung aber, so meint er, widerspricht es keineswegs, wenn er auf der anderen Seite das Israel „Eigentümliche" besonders herausstellt und würdigt. Bereits im Vorwort zu „Schöpfung und Chaos" läßt er daran keinen Zweifel: „Ich halte es für methodisch verwerflich, nur die Anfänge der Dinge zu untersuchen und die weitere, oft wichtigere und wertvollere Geschichte derselben zu ignorieren. Demnach habe ich midi nicht begnügt, den babylonischen Ursprung eines biblischen Stoffes zu behaupten, sondern überall daneben erörtert, in welcher eigentümlichen Weise der übernommene Stoff in Israel aufgefaßt und umgebildet sei." 8 Weder will er das Eigentümliche der israelischen Religion leugnen noch den Glauben zerstören, „daß sich in dieser Geschichte ( = Israels) Gott in besonderer Weise offenbare" G U N K E L gibt den Offenbarungsbegriff nicht preis, nur daß er Offenbarung nicht supernaturalistisch, sondern eben nur geschichtlich verstehen kann. Deshalb wird bei ihm Offenbarung auf das Ganze der Geschichte und auf alle Religionen bezogen. Die Geschichte hat ein ganz bestimmtes Gefalle; dies kann der Historiker nachzeichnen, ja er kann sogar die besonders wichtigen Umbrüche wahrnehmen und den Finger legen auf das Walten des lebendigen Gottes. „Die geschichtliche Betrachtung kann Gen 1 nicht, wie es unsere Väter getan haben, als das Denkmal einer speciellen Offenbarung, die etwa dem ersten Menschen zu teil geworden sei, ansehen. Unerschütterlich aber bleibt die Uberzeugung, daß in dem Werdegange der israelitischen Religion das Walten des lebendigen Gottes sich offenbare; unanfechtbar Recht und Pflicht des Religionshistorikers, diese Überzeugung an jedem Höhepunkte der Geschichte, wo sich die Aussicht nach allen Seiten hin öffnet, kräftig auszusprechen. Gen 1 ist ein solcher Höhepunkt, ein Markstein in der Geschichte der Welt, ein Denkmal der Offenbarung Gottes in Israel." 10 Die Linien werden noch weiter ausgezogen werden müssen. Hier sollten G U N K E L S Gedanken nur insoweit dargestellt werden, als sie im Zusammenhang mit „Schöpfung und Chaos" vorgetragen werden. Eine gewisse Unausgeglichenheit kann dabei nicht übersehen werden. Die Betonung und schließlich fast alleinige theologische Wertung der „Eigentümlichkeit" der israelitischen Religion kontrastiert nicht wenig dem Pathos, mit dem auf die Bedeutung der außerisraelitischen Religionen 8

SuC VI, von mir kursiviert.

9

S u C V I . D a ß GUNKEL a u s g e r e d i n e t z u d e r Z e i t , a l s O T T O DIBELIUS i h n in B e r l i n

hörte, kein Wort davon geredet haben soll, daß sich im A T und der Geschichte Israels Gott „in besonderer Weise offenbare", will nicht recht glaubhaft erscheinen. Und dennoch schreibt DIBELIUS: „Daß das Alte Testament in irgendeinem Sinne Offenbarung Gottes an die Menschen sei, das erfuhr man bei ihm nicht." O. DIBELIUS, Ein Christ ist immer im Dienst 1961, 59. Immerhin hatte KARL BARTH einen eher gegenteiligen Eindruck: „Daß es sich im Alten Testament um eine bewegende Sache handeln möchte, fing mir erst in Berlin bei Gunkel an aufzugehen." So in seinem Nachwort zur Schleiermacher-Auswahl, Siebenstern-Taschenbuch 113/114, 1968, 2 9 0 f . 10 SuC 118.

Israel und Babylonien

77

hingewiesen wird. Die babylonische Religion erscheint in „Schöpfung und C h a o s " nur in einer negativen Beleuchtung, und Gott scheint mit Israel doch eine besondere Geschichte gehabt zu haben. Etwas später kann GUNKEL im Gegensatz zu einem soeben gegebenen Zitat sagen: „ O b es die Modernen gern hören oder nicht, es bleibt doch dabei, daß das Heil von den Juden gekommen ist." 11 J a , in anderem Zusammenhang kann er es eine „Beleidigung des geschichtlichen Geistes" nennen, „Babylonier und Ägypter mit Israel auch nur in einem Atem zu nennen" 12 . Ist er nicht auf der anderen Seite der Meinung, daß alle Religionen ein Körnchen Wahrheit enthalten? Oder meint er sein Urteil nur relativ: keine Religion so viel wie die jüdisch-christliche? Jedenfalls liegt hier ein Problem, für dessen Lösung, wie mir scheint, GUNKEL auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nicht genügend systematische Kraft besaß. Allerdings hat er sich auch nicht zur Klärung solcher Fragen berufen gefühlt, und das an einer Stelle auch einmal ausgesprochen: „Es ist nicht meine Aufgabe, hier zu fragen, wie die dogmatische Frage, die so entsteht, d. h. im letzten Grunde das Problem der Absolutheit des Christentums, zu lösen sei." 13 Die sich in den „Wirkungen" ankündigenden neuen Dinge finden hier in „Schöpfung und C h a o s " ihre Fortsetzung durch die Anwendung der religionsgeschichtlichen Methode in ihrer klassischen Form, und zwar zugleich auf dem Gebiet des Alten wie des Neuen Testaments. Methodologisch bedeutet dies vor allem die Vertiefung der literarkritischen Betrachtung durch die hier erstmals in reflektierter Gestalt erscheinende Dimension der Uberlieferungsgeschichte, was speziell für die Apokalypse Johannis das Ende der Vorherrschaft der zeitgeschichtlichen Interpretation bedeutet. Sachlich, im Blick auf die Inhalte der Religionsgesdiichte Israels sowie des Urchristentums verändert diese neue Methode, die einhergeht mit der Betrachtung außerisraelitischer stofflicher Parallelen zu den kanonischen Texten, das Bild von der Geschichte Israels und stellt zugleich das Problem von Offenbarung und Geschichte in den Mittelpunkt des Denkens. Nach „Schöpfung und C h a o s " kann kein Zweifel mehr über die Verflechtung des Gottesvolkes alten und neuen Bundes mit seiner, bislang immer als heidnisch abqualifizierten, Umwelt bestehen. GUNKEL, ausgehend von der wie selbstverständlich anzunehmenden Absolutheit des Christentums, kann Offenbarung Gottes nur noch im Blick auf das Ganze der Menschheitsgeschichte denken und kommt dabei zu einer theologischen Aufwertung der nichtisraelitischen orientalischen Religionen, obwohl es nicht an Äußerungen fehlt, die den Graben zwischen Israel und diesen anderen Religionen als unüberbrückbar erscheinen lassen. 11 13

1 2 Was bleibt vom Alten Testament? 1916, >1. Beiträge 62. Die Religionsgesdiichte und die alttestamentlidie Wissenschaft 179.

78

Schöpfung und Chaos

7 . Auf dem Wege zur

Gattungsgeschichte

F ü r GUNKELS methodische Entwicklung ist der Begriff der „mündlichen T r a d i t i o n " und seine methodische Anwendung in „Schöpfung und C h a o s " ein entscheidender Schritt. In gewisser Weise hatte sich dies Denken bereits in den „Wirkungen" angekündigt, als er die flächenhafte Vergleichung neu- und alttestamentlicher T e x t e v e r w a r f und auf ein ganz spezifisches Verständnis des Alten Testaments in neutestamentlicher Zeit rekurrierte. E r erhob diese „mündliche Tradition" aus den zeitgenössischen jüdischen Schriften. In „Schöpfung und C h a o s " ging er einen Schritt weiter und fragte nach den Gesetzen mündlicher U m p r ä gung auch da, w o kein literarisches Zeugnis mehr greifbar war. Diese Entdeckung 1 w a r eine der notwendigen Voraussetzungen für den nächsten Schritt, das Achten auf die literarische Gattung. Mit der Gattungsforschung w a r t e t GUNKEL erst 1 9 0 1 in seinem G e nesiskommentar auf, aber Vorstufen sind in „Schöpfung und C h a o s " greifbar. E s taudien hier bereits Gattungsbegriffe auf. So nennt er den babylonischen Schöpfungsmythus einen „ H y m n u s " und vergleicht ihn mit israelitischen Schöpfungshymnen 2 . Allerdings hat er noch keine formalen Kriterien zur H a n d , sondern sagt auf Grund seines ästhetischen Eindrucks lakonisch: „Der Schöpfungsmythus ist seiner Natur nach H y m n u s . " 3 Einzige formale Unterscheidungsmerkmale sind auch bei ihm noch die traditionellen von Poesie und Prosa. Auch andere Gattungsbegriffe fallen, wie Mythus, Sage, ätiologische Sage, ätiologischer Mythus, 1 GUNKEL hat Sache und Begriff der „mündlichen Tradition" nicht erfunden. So rechnet vor allem bereits EDUARD REUSS in seinem posthum herausgegebenen Werk, Das Alte Testament III, 1893, 73 damit, daß die Patriarchensagen unabhängig voneinander entstanden seien. Bei WELLHAUSEN findet sich für die Sache sogar der Begriff, leider kann ich nur die 3. Auflage von „Die Composition des Hexateuchs" 1899 zitieren, wo es S. 7 f. heißt: „JE ist nicht wie Q ein Werk einheitlicher Composition, sondern durch mehr als eine Phase und mehr als eine Hand gegangen, ehe es seine gegenwärtige Gestalt erlangte. An sich schließen allerdings heterogene Bestandteile die Einheit und Ursprünglichkeit eines schriftlichen Zusammenhanges nicht aus, daß schon die erste Aufzeichnung der mündlichen Tradition (Kursivierung von mir) allerlei in Verbindung brachte, was in keiner innerlichen Verwandtschaft stand. Die Überlieferung im Volksmund kennt nur einzelne Geschichten, die wohl aus gleichem Vorstellungskreise erwachsen, aber doch nicht zum Plan eines Ganzen geordnet sind." J a man wird sogar dafür auf DE WETTE (wenn nicht noch weiter) hinuntergehen müssen, der von Volkslied und Volkssage redet, die sich „im Munde des Volks fortgepflanzt" haben und im Zusammenhang mit seiner Behandlung der „Ergänzungshypothese" direkt von „mündlicher Tradition" spricht. Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung, 8. Aufl. 1869, § 179 f., 201. Der Unterschied zu GUNKEL wird greifbar, wo dieser von den Verfassern der Pentateuchquellen J und Ε sagt, sie hätten ihre Stoffe nicht erfunden, sondern nur gesammelt und höchstens leise überarbeitet, SuC 143, und dann in A.l hinzugefügt: „Dieser Satz wird wol im Princip von niemandem bestritten werden, wird aber in praxi nicht selten unbeachtet gelassen." 2 SuC 116. Der Vergleich erstreckt sich aber nur auf die einzelnen Züge des Stoffes, nicht auch auf die Form. 3 SuC 119, Kursivierung von mir.

Auf dem Wege zur Gattungsgeschichte

79

Vision, Festlegende. Audi der Begriff der „Gattung" selbst fehlt nicht: „Es muß eine ganze Literaturgattung von Schöpfungshymnen gegeben haben." 4 Aber all diese Beobachtungen gehen auf das Konto seiner Intuition, die Reflexion hat noch nicht eingesetzt. Auch von einem „Sitz im Leben" ist bereits in einer gewissen Spielart die Rede. So macht er sich darüber Gedanken, wo die alttestamentlichen Schilderungen von Gewittertheophanien (also eine weitere Gattung) zuhause gewesen sein mögen und kommt zu dem Ergebnis: „Der eigentliche Sitz dieser Gewittertheophanien werden alte Lieder gewesen sein, die von der Moseerscheinung auf dem Sinai handelten." 5 Aber er fragt hier nur nach dem literarischen Ort, er fragt noch nicht nach dem Lebenskreis, danach, wer für wen erzählt. Die entscheidende soziologische Komponente fehlt also noch. Immerhin mag daran die Entwicklungstendenz seines Bemühens um eine echt geschichtliche Methode abgelesen werden können. Das Echo, das „Schöpfung und Chaos" hervorrief, war so unterschiedlich wie die Positionen der einzelnen Forscher. Gewürdigt wird es außer von E. M E Y E R und W. W R E D E auch von C. C L E M E N , der es „eine bahnbrechende Leistung" nennt 6 . R. SMEND urteilt, das Buch beweise, daß der Verfasser für die Erforschung des Alten Testaments „nicht gemacht" sei 7 . Zusammenfassend sei der Erfahrungsbericht von J . W E I S S zitiert: „Dem Sachkundigen ist bekannt, welch außerordentliche Wirkung dies Werk in unserer Wissenschaft hervorgebracht hat, obwohl einige der Ersten unter den Fachgenossen mit schlechten Witzen, Protesterklärungen und allgemeinen Ablehnungen sie abzuschwächen versucht haben. Mir ist es folgendermaßen mit ihm ergangen. Bei der ersten Lektüre hat es mich hingerissen und in einen Rausch versetzt, bei dem mir immerhin etwas unheimlich war. Bei weiterem Studium habe ich erkannt, daß sein Wert nicht dadurch vermindert wird, daß man ihm in Einzelheiten widersprechen und einseitige Formulierungen bedauern muß. Indem ich es jetzt wieder lese, erkenne ich erst, wie durchdacht und angriffsfest es ist, wie stark es uns gefördert hat und noch fördern wird; es ist ein Gewinn für alle Zeit — und das werden dann wohl auch die einsehen, die erst urteilten, was gut daran sei, sei nicht neu, und was neu sei, sei nicht gut." 8 G U N K E L selbst betrachtete „Schöpfung und Chaos" nur als ein Vorspiel und meinte, „es soll noch ganz anders kommen" 9 . Das Erscheinen von „Schöpfung und Chaos" bedeutet den Beginn des Bestehens der Religionsgeschichtlichen Schule 10 . 5 SuC 104, Kursivierung von mir. SuC 45. 7 D L Z 16, 1895, 805. « ThStKr 1895, 619. 8 C W 18, 1904, 705, Anmerkung. 9 So in einem Brief an RUPRECHT vom 1 1 . 4 . 99. 1 0 Vgl. o. S. 25 A. 40. 4

80

Schöpfung und Chaos

Theologisch gesehen, fordert GUNKEL hier eine religionsgeschichtlich ausgerichtete Theologie, die Offenbarung Gottes nicht versteht als ein isoliertes Handeln Gottes an einem bestimmten Volk oder einzelnen Personen in diesem Volk 1 1 , sondern die das Handeln Gottes in der gesamten Menschheitsgeschichte als Offenbarung, d. h. die Menschheitsgeschichte als Offenbarungsgeschichte begreift. Diese Auffassung führt gerade nicht zu einer allgemeinen Religionsgeschichte mit ihrer berüchtigten und unumgänglichen Relativierung und zu einer religiösen Nivellierung, im Gegenteil. Betrachtet man das „Gefalle" der Geschichte nur recht, so fällt die Unvergleichbarkeit der Offenbarung Gottes im Volke Israel mit der etwa in Babylonien oder Ägypten, so sehr auch dort wahre Gotteserkenntnis vorhanden gewesen ist, erst recht sinnenfällig ins Auge. Auf der anderen Seite ist der Ausgangspunkt der historischen Fragestellung dadurch gegeben, daß die Absolutheit des Christentums aus systematisch-theologischen Gründen, die der Exeget nicht zu erörtern hat, vorausgesetzt wird. Der Vorteil einer solchen religionsgeschichtlich orientierten Theologie liegt einmal darin, daß allen religiösen Phänomenen der Vergangenheit geschichtliche Würdigung widerfahren kann, ohne daß die eigene Religion Schaden nimmt. Zum anderen liegt er darin, daß sich die Theologie, daß sidi die Kirche vor der historischen Wahrheit, vor der Geschichte, nicht länger zu fürchten braucht, wie eine wie auch immer geartete „supernaturalistische" Theologie das tun muß. Methodisch gesehen, bedeutet „Schöpfung und Chaos" eine nicht weniger umstürzende, wenn auch nicht so abrupte, Umorientierung. Durch die unvoreingenommene Konzentrierung auf historische Sachverhalte erfuhr die herrschende exegetische Methode eine Verfeinerung, die sieht als Angriff auf die Alleinherrschaft der Literarkritik erwies. GUNKEL macht Ernst mit der längst vor ihm ausgesprochenen Erkenntnis, daß manche nun in literarischer Form existierenden Erzählungen des Alten Testaments ursprünglich in mündlicher Gestalt bestanden haben, unter Umständen sogar über längere Zeiträume hinweg. Diese Erkenntnis bedeutet einmal eine neue Perspektive für das Verhältnis der Literatur Israels zur Literatur anderer, umliegender Völker. Zum anderen gelingt es, durch Aufmerken auf spezifische Veränderungen bei bestimmten „Rezensionen" derselben Erzählung Überlieferungsgesetze zu beobachten, die sich dann allgemein anwenden lassen. Bei dieser Arbeit benutzt GUNKEL Begriffe literarischer Gattungen, ohne daß hier allerdings bereits eine bewußte Methodik zu erkennen ist. 1 1 Zur heutigen Diskussion um das Problem der Offenbarungsqualität einer „Stifterpersönlichkeit" im gegenüber zur anonymen Geschichte vgl. zuletzt F. BAUMGÄRTEL, Das Offenbarungszeugnis des Alten Testaments im Lichte der religionsgeschichtlidivergleichenden Forschung, ZThK 64, 1967, 393—422.

Pläne und populärwissenschaftliche Tätigkeit

81

B. Andere Arbeiten zur Religionsgeschichte 1. Gunkels Arbeiten

und Pläne sowie seine

populärwissenschaftliche

Tätigkeit von 1895 bis 1907 Was G U N K E L in diesen zwölf Jahren seiner Berliner Zeit der alttestamentlichen, in vieler Hinsicht audi der neutestamentlichen, Wissenschaft an Büchern und Aufsätzen geschenkt hat, ist allein dem Umfang nach so unwahrscheinlich viel, daß eine kurze Ubersicht hier nicht fehlen darf. Hinzu kommt, daß er nahezu gleichzeitig Arbeiten auf allen drei Hauptgebieten des Alten Testaments in Angriff nahm: Pentateuch, Propheten und Psalmen. Dazu kommt noch Grundsätzliches zur exegetischen Methode, Eingreifen in den Babel-Bibel-Streit, Pläne zu Textausgaben, Überlegungen zur Popularisierung der wissenschaftlichen Forschung, eine Fülle von Vorträgen — und das alles bei (so jedenfalls im Wintersemester 1898 / 99 1 ) 14 Wochenstunden Kolleg. Dabei war er von Anfang an nicht bei bester Gesundheit. Nach „Schöpfung und Chaos" mußte er sich, „in Folge geistiger Überanstrengung nervenleidend" 2 , für 8 Wochen in eine Nervenheilanstalt in Bad-Nassau begeben. Erst Frühjahr 1896 kann er mitteilen, daß er von seiner Nervosität genesen sei 3 . Sogleich hat er neue Pläne: eine hebräische Metrik will er herausgeben, die ersten Anregungen hatte er bereits während der Drucklegung von „Schöpfung und Chaos" bekommen 4 . Ein Vortrag über Elias erscheint ein Jahr später, 1897, als Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern 5 . „In demselben Stile" möchte er „ein ganzes Buch über ATliche Prophetie" schreiben, allgemeinverständlich für Laien 6 . Nachdem die Pläne für die Metrik zurückgestellt sind, geht er 1897 nun mit Macht an die Genesis. Die Auseinandersetzung mit W E L L H A U S E N und die Erklärung des IV. Esra 7 werden nebenbei erledigt. Herbst 1899 erfolgt die erste Manuskript-Lieferung für die Genesis, die im Frühjahr 1901 erscheint, und von der binnen Jahresfrist eine Neuauflage nötig wird. Die „Sagen der Genesis" erscheinen separat 8 . Pläne 1 2 3

GUNKEL a n RUPRECHT v o m 2 7 . 1 1 . 1 8 9 8 . B r i e f v o n GUNKELS V a t e r a u s L ü n e b u r g a n R U P R E C H T v o m 8 . 2 . 9 5 . GUNKEL a n RUPRECHT v o m 2 2 . 4. 9 6 .

Der Plan versandete, als von ihm zu Rate gezogene Metriker (wer?) einer seiner Hauptthesen keinen Beifall zollten. 5 Preuß. Jahrb. 87, 1 8 — 5 1 . 4

6

GUNKEL a n RUPRECHT v o m 1 3 . 8. 9 6 .

KAUTZSCH, Apokryphen II, 1900, 3 3 1 — 4 0 1 . Ferner: Der Prophet Esra (IV. Esra), Tübingen, 1900, X X X I I und 100 Seiten und: Der Prophet Esra, ein antiker jüdischer Religionsphilosoph, Preuß. Jahrb. 99, 1900, 4 9 8 — 5 1 9 . 8 Der Separatdruck 1901 geht auf Anraten von A. EICHHORN zurück, den GUNKEL audi sein Genesis-Manuskript fortwährend einsehen ließ. Gewidmet ist das Bänddien E . TROELTSCH. Im selben J a h r erschien eine englische Übersetzung „The Legends of Genesis translated by Char ruth", Chicago. 1913 erschien von den „Sagen der Genesis" in Tokio eine japanische Ubersetzung, auf die die ganze Familie so stolz war, daß 7

6

Klatt, Gunkel

82

Arbeiten zur Religionsgeschichte

für eine kritische hebräische Bibelausgabe, an der BENZINGER mitarbeiten soll 9 , versanden wie die Metrik 10 . In Zusammenarbeit mit BOUSSET wird die Reihe der „Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments" geplant, als deren erstes Heft 1903 GUNKELS eigene Arbeit „Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments" erscheint11. Im selben Jahr erscheint sein Beitrag zum Babel-Bibel-Streit 12 und „Die geheimen Erfahrungen der Propheten Israels". Eine Vorstufe zur Beschäftigung mit den Psalmen war sein Aufsatz von 1893 über „Nahum 1", worin er einen eschatologischen Psalm erkennt 13 . 1903 erscheinen dann eine Reihe von Interpretationen einzelner Psalmen 14 , ein Aufsatz über „Die Endhoffnung der Psalmisten" 15 und schließlich die für weitere Kreise gedachten „Ausgewählten Psalmen" von 1 9 0 4 , wo GUNKEL die Psalmen erstmals zusammenhängend gattungsgeschichtlich behandelt 1β . Grundsatzfragen werden behandelt in „Ziele und Methoden der alttestamentlichen Exegese" 17 und in „Das Alte Testament im Lichte der modernen Forschung" 1S. Das Religionsgeschichtliche Volksbuch „Elias, Jahve und Baal" erscheint 19 1 9 0 6 , im selben Jahr „Der erste Brief des Petrus" in der von J. WEISS seine F r a u ein E x e m p l a r stets in der G a r d e r o b e ausliegen hatte. Mitteilung seines Sohnes. • GUNKEL a n RUPRECHT v o m 4 . 3. 1 9 0 1 . 10

Zugleich h a t t e sich GUNKEL G e d a n k e n über eine kritische Septuaginta-Ausgabe gemacht u n d sich bei seinem Verleger d a f ü r eingesetzt. In einem Brief an RUPRECHT v o m 6. 3. 1902 schlägt er f ü r dies U n t e r n e h m e n die beiden Forscher R . ( d a m i t k a n n doch w o h l n u r RAHLFS gemeint sein?) u n d NESTLE vor. 11 A u d i englisch in „The Monist" 1903, 398 ff. 12 Israel u n d Babylonien, 1903, 48 Seiten, englisch 1904. F e r n e r : Die jüdische u n d die babylonische Schöpfungsgeschichte, D R 115, 1903, 267—286; Babylonische u n d biblische Urgeschichte, C W 17, 1903, 121—134. 13 Z A W 1893, 233—244. In der Z A W h a t GUNKEL ungern u n d a u d i nicht viel v e r öffentlicht, über den G r u n d schreibt er am 27. 3. 1918 an RUPRECHT: „Diese Zeitschrift z a h l t so gut wie kein H o n o r a r u. ist nicht über die Kreise der Fachgelehrten hinaus ged r u n g e n . " In der T a t sdileppte sich die Z A W unter MARTIS Leitung m ü h s a m d a h i n ; das w u r d e erst anders, als H . GRESSMANN 1924 mit N F 1 die H e r a u s g a b e ü b e r n a h m . 14 Die A u f z ä h l u n g w ü r d e hier zu viel P l a t z beanspruchen, ich verweise deshalb auf HEMPELS Bibliographie in Eudiaristerion II, 216. Nicht a u f g e n o m m e n sind d o r t einige P s a l m e n i n t e r p r e t a t i o n e n , die unter dem Aspekt des „Erbaulichen" bereits 1901 in C W 15 erschienen w a r e n , s. u n t e n S.272 Α. 1. 15 C W 17, 1903, 1130—1135, audi R u A 125—130. 16 Die 2. A u f l a g e w u r d e bereits 1905 nötig. Dies Budi ist dem „väterlichen F r e u n d e A D O L F LASSON"

gewidmet.

17

M k P r IV, 1904, 521—540. 18 i n : Beiträge zur Weiterentwicklung der christlichen Religion, 1905, 40—76, auch als Sonderdruck. 19 Festzuhalten ist hier, d a ß er die G a t t u n g des Briefes als „Epistel" bestimmt („kein P r i v a t b r i e f " ) . F ü r sein exegetisches Gespür spricht, d a ß er die Stücke, die m a n später a l s l i t u r g i s c h e s G u t e n t d e c k t e , v o r a l l e m 1, 1 8 — 2 1 u n d 3 , 1 8 — 2 2 ( v g l . R . BULTMANN,

Bekenntnis — u n d L i e d f r a g m e n t e im ersten Petrusbrief, i n : Coniectanea N e o t e s t a m e n tica X I in h o n o r e m A. Fridrichsen, 1947, 1—14), als den Z u s a m m e n h a n g störend e m p fand.

Pläne und populärwissenschaftliche Tätigkeit

83

besorgten Reihe SNT. Ebenfalls 1906 seine programmatische Abhandlung „Die israelitische Literatur" in HINNEBERGS „Kultur der Gegenwart" 20 und „Die Grundprobleme der israelitischen Literaturgeschichte" 21 . Geplant war ursprünglich für FRLANT eine Untersuchung über die Literaturgeschichte der Psalmen und Propheten 22 . 1904 wird ein alttestamentliches Parallelwerk zu SNT geplant, die Schriften des Alten Testaments in Auswahl = SAT 2 3 . Diese Ubersicht bietet von G U N K E L S fruchtbarer Berliner Zeit nur das wichtigste, die große Zahl der Einzeluntersuchungen und Rezensionen sind hinzuzurechnen. Dabei war er in dieser Zeit nicht nur wissenschaftlich tätig. Er plagte sich nicht nur mit Plänen zur Gründung eines Gemeindeblattes in Berlin 24 und eines Bibelwerkes nur für Konfirmanden 25 , er war auch als Dozent eingespannt bei den theologischen Ferienkursen in Jena und entwickelte eine reiche Vortragstätigkeit, die ihn beispielsweise im Düsseldorfer Schauspielhaus 26 und in Gemeindesälen so zu Hause sein ließ wie im akademischen Hörsaal. Diese außerakademische Tätigkeit war für einen damaligen Professor der Theologie durchaus nicht das Übliche. Nimmt man hinzu, daß G U N K E L eine erkleckliche Anzahl rein populärwissenschaftlicher Veröffentlichungen aufzuweisen hat und auch seine rein wissenschaftlichen Arbeiten, oft nur wenig verändert, an mehreren Orten erscheinen ließ, und fragt man dafür nach dem Grund, so ergibt sich folgendes Bild. Zunächst litt GUNKEL, der im Jahre 1 8 9 4 eine Tochter des Hallenser Dompredigers BEELITZ geheiratet 27 und somit für eine bald größer wer20 21 22

2. A u f l a g e 1925. D L Z 27, 1906, 1 7 9 7 ff., 1861 ff., auch R u A 29—38. GUNKEL a n RUPRECHT v o m 2 9 . 3 .

1904.

GUNKEL an RUPRECHT v o m 31. 3. 1905. Er gibt in diesem Brief einen A u f r i ß des geplanten Werkes, der seine Iiteraturgeschiditlidie Orientierung v e r r ä t ; er schlägt v o r : „1. Die Urgeschichte — 1. Mose. 2. Die religiöse Lyrik, hauptsächlich Psalmen. 3. Die Prophetie. a) Die ältere Periode — Arnos, Hosea, Micha, Jesaias. b) Die spätere Periode — Jeremias, Ezechiel, Deuteroj. usw. 4. Das Gesetz, Übersicht über die ganze Entwicklung, charakteristische Proben: Bundesbuch ganz, Teile aus Dt u PC, Entstehung der 5 Bücher Mose. 5. Historische Überlieferungen — Sage, Geschichte, Legende (Mose, Samuel, Elias). Bei den Psalmen müßten alle wichtigeren, nach Gattungen geordnet, mitgeteilt und auch die anderen im A.T. erhaltenen nicht ganz wenigen lyrischen Partien hinzugefügt werden." 2 1 GUNKEL an RUPRECHT vom 22. 4. 1904. „Wir planen in Berlin, ein Gemeindeblatt zu gründen: dies im Vertrauen." 2 5 Protokoll eines Gespräches zwischen GUNKEL U. RUPRECHT am 2. 8. 1 9 1 1 in Göttingen. 2S

26

GUNKEL a n RUPRECHT v o m 7 . 1 2 .

1905.

GUNKELS Sohn erzählt, daß die Dinge sich etwas schwierig anließen, da er bei seinen Schwiegereltern aus zwei Gründen etwas verdächtig w a r ; einmal w a r BEELITZ reformiert, GUNKEL lutherisch; außerdem w a r er Universitätstheologe, was bei einem 27

6*

84

Arbeiten zur Religionsgeschichte

dende Familie zu sorgen hatte, unter notorischer Geldknappheit. D a s Gehalt eines Extraordinarius, zumal in Preußen, wo die Gehälter unter dem Reichsdurchschnitt lagen 2 8 , reichte als wirtschaftliche Grundlage für die Bedürfnisse einer Familie nicht aus, wenn nicht ein Vermögen im Hintergrund stand. Statt der vielen Briefe, die in Sachen Honorar zwischen GUNKEL und seinem Verleger gewechselt wurden, sei hier nur aus einem Brief zitiert, den er am 17. 5. 1917 an ADOLF VON HARNACK schrieb 29 . „Sehr verehrter Lehrer und Freund! Vor einer Operation stehend, deren Ausgang idi nicht kenne und also vom Leben Abschied nehmend, sage ich Ihnen D a n k für die mir und meiner Arbeit so lange Jahre hindurch bewiesene Teilnahme. Der Abschied wird mir nicht ganz leicht, denn meine Arbeit ist unvollendet und meine Familie nur mäßig versorgt. Sicherlich hätte ich bei weitem mehr leisten können, wenn mir eine deutsche Regierung ein auskömmlicheres Gehalt gegeben hätte und ich nicht mein Leben lang für das tägliche Brot hätte arbeiten müssen. Ich schreibe diese Zeilen nicht, um jetzt noch zu klagen oder anzuklagen, sondern an die Möglichkeit denkend, daß diese Zeilen, vielleicht einer maßgebenden Stelle vorgelegt, dazu beitragen können, daß man auf ähnliche Unterlassungen aufmerksam wird und anderen, die in derselben L a g e sind, wie ich stets gewesen bin, ihre Arbeit erleichtert . . . Ihr stets ergebener H e r m a n n Gunkel."

Aber diese Nebentätigkeit mit populärwissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen ist ihm nicht nur J a g d nach notwendigen Nebenverdiensten. Nach sechs Vorträgen schreibt er 1910 an seinen Verleger: „Diese Tätigkeit rechne ich mit als zu meinem Berufe gehörig; denn man darf doch nicht den Pfuschern das Feld allein überlassen." 3 0 Der gebildete Laie spielte um die Jahrhundertwende im Denken und in den Aktionen der wissenschaftlich arbeitenden Theologen eine ungleich größere Rolle als in unseren Tagen, da die Theologie nicht nur erst zur Geheimwissenschaft zu werden droht, sondern es bereits geworden ist. GUNKEL darf für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, einer der ersten gewesen zu sein, die zur Notwendigkeit, die Ergebnisse der wissenschaftlichen Theologie auch im Volk bekanntzumachen, aufgerufen hat. Diese Aufgabe verstand er als kirchliche Funktion der Wissenschaft von der Theologie. So stößt er bereits im Jahre 1900 aus Anlaß eines zu besprechenden Buches einen Mann der Kirche auch damals schon nicht von vornherein zur Reputation beitrug. Aber es k a m bald alles ins Lot, und GUNKEL kann im Vorwort zu „Schöpfung und C h a o s " bereits dankbar vermerken, daß sein Schwiegervater beim Korrekturenlesen geholfen hat. 2 8 Vgl. den Familien-Rundbrief GRESSMANNS u. S. 223 ff. 2 9 Der Brief ist im Besitz von GUNKELS Sohn. 3 0 Brief vom 15. 4. 1910. In diesem Brief heißt es weiter: „Alle diese Arbeit, die mich schon seit Jahren nicht mehr zum Familienleben oder zu irgend einem Lebensgenuß kommen läßt u. die, wie mir unser Arzt versichert, früher oder später zum Zusammenbruch führen wird, wollte ich gerne auf mich nehmen. Aber die Empfindung, bei aller Tätigkeit den Anforderungen, die man an mich stellt, nicht genügen zu können, ist so niederschlagend, daß meine N e r v e n fast versagen wollen."

Pläne und populärwissenschaftliche Tätigkeit

85

„Notschrei" aus: „Wollte Gott, ich hätte eine Stimme, die an die Herzen und Gewissen der theologischen Forscher dringt, so wollte ich Tag und Nacht nichts Anderes rufen, als dies: Vergeßt nicht eure heilige Pflicht an eurem Volk! Schreibt für die Gebildeten! Redet nicht so viel über Litterarkritik, Textkritik, Archäologie und alle andern gelehrten Dinge, sondern redet über Religion! Denkt an die Hauptsache! Unser Volk dürstet nach euren Worten über die Religion und ihre Geschichte!"31 Die Religionsgeschichtlichen Volksbücher 32 , Die Religion in Geschichte und Gegenwart 3 3 — vor allem gedacht als möglichst umfassende Informationsquelle für den Laien —, das Göttinger Bibelwerk S N T und S A T sind die Frucht dieses Geistes der Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der kirchlichen oder nur religiös interessierten Öffentlichkeit. So reist denn GUNKEL kreuz und quer durch Deutschland, um dem deutschen Volk klarzumachen, daß auch ein kritischer Geist die Bibel heute noch verehren könne. Die Vortragstätigkeit hält ihn nicht nur von der wissenschaftlichen Arbeit ab, sie bringt ihm auch Verdruß. So schreibt er am 12. 3 . 1 9 0 4 an seinen Verleger von einer Vortragsreise, die ihn außer nach Dortmund auch nach Elberfeld führte: „Die Vorträge laufen nun programmäßig. In Elberfeld haben die Pfarrer nach gemeinsamer Verabredung, wie man mir erzählt, am Sonntag vorher gegen mich gepredigt." Ist das Semester mit letzter Kraft, häufig wegen Krankheit und Uberarbeitung auch frühzeitig, zu Ende gebracht, so rufen ihn die Jenaer Ferienkurse, denen er sich schon früh zur Verfügung gestellt hatte. Lange Jahre hat er dort eine Hörerschaft um sich geschart, wie es nicht für jeden Akademiker selbstverständlich ist: vor allem waren es Volksschullehrer, bald auch Lehrerinnen und andere Interessierte, die seit 1889 auf Initiative der Professoren REIN und DETMER zur Zeit der Universitätssemesterferien in Jena zu Fortbildungskursen zusammenkamen. Die Wurzeln dieser sogenannten „Universitätsausdehnungsbewegung" 34 liegen in Dänemark 3 5 und England 3 6 . GUNKEL tat diese Arbeit um so lieber, weil er Erfolg zu sehen meinte. War er um die Jahrhundertwende eigentlich doch mehr als von der Religiosität im Volk beeindruckt von dem allenthalben in Deutschland herrschenden Materialismus und der Abwendung von allem Uberirdischen 37 , 31

C W 1900, 60.

32

A b 1 9 0 4 h g . v . F . M . SCHIELE, z u m P r o g r a m m v g l . K R A U S , G e s c h i c h t e 2 9 9 f .

Zu R V und R G G vgl. den nächsten Abschnitt S. 87 ff. Festschrift zum 25jährigen Bestehen der Ferienkurse in Jena, 1913, 13. 3 5 1844 erste Volkshochschule durch GRUNDTVIG. 3 8 JAMES STUART hielt ab 1873 volkstümliche Kurse in Cambridge, bald auch in London und Oxford. Der erste Ferienkurs in Bonn startete 1892, vgl. R G G 2 II, 1928, 542 f. 3 7 Er führte sie zurück auf das Zerbrechen der idealistischen Philosophie um die Jahrhundertmitte, das Aufkommen der Naturwissenschaften und die Realpolitik Bismarcks mit ihren irdischen Erfolgen (!). So in seinem Beitrag über „Die Popularisierung der theologischen Forschung" Festschrift Ferienkurse Jena 70 ff. 33 34

86

Arbeiten zur Religionsgeschichte

so konstatiert er ein Jahrzehnt später ein neues religiöses Erwachen. „Aus geheimnisvollen Tiefen . . . ist eine neue religiöse Welle über unser Volk und weit darüber hinaus ergangen oder im Entstehen begriffen. Wie man in den bildenden Künsten zu größerer Tiefe und Innerlichkeit zurückstrebt, wie eine neue idealistische Philosophie ihr Haupt emporhebt, so erwachen die religiösen Fragen . . . aufs neue. Eine tiefe Sehnsucht nach Religion geht durch unsere Zeit. Die Zeit des Materialismus ist vorüber." 38 Mit dem Materialismus, so meint er, sei auch die Zeit des Rationalismus zu Ende gekommen. Das heißt zugleich für die theologische Wissenschaft: „Nicht mehr Kritik, Religionsgeschichte heißt jetzt die Losung." 3 9 Hoifnungsfreudig blickt G U N K E L in die Zukunft: „Wenn uns die Zeichen der Zeit nicht täuschen, so wird die Woge, die uns jetzt emporträgt, fortdauern und uns weiterführen." 40 So ist hier zu vermerken, und deshalb mußte ausführlicher auf diese Seite der Tätigkeit G U N K E L S eingegangen werden, daß sein Selbstverständnis als religiöser Lehrer seines Volkes zusammenhängt mit einer bei ihm und bei seinen Freunden neu hervortretenden theologischen Umorientierung. Als Probleme des Pentateuchs gelten ihm nicht mehr die Fragen der Quellenscheidung, als Probleme der Psalmenauslegung nicht mehr ihre zeitliche Ansetzung, sondern die Religion dieser Bücher ist Ziel seiner Exegese. Hier waren Dinge zu erheben, die auch das Volk angingen, jeden Menschen. In der Tat, man kann sich nicht vorstellen, daß eine solche Bewegung aus der Schule eines W E L L H A U S E N hätte hervorgehen können 41 . Die Zeichen der Zeit haben nicht getrogen. G U N K E L behielt recht. Die religiöse Frage versandete nicht in Deutschland. Der 1. Weltkrieg brachte sie aufs neue hervor oder hielt sie am Brennen. Aber es war nicht die religionsgeschichtliche Theologie, die auf dieser „Woge" emporgetragen wurde, es war die aufkommende dialektische Theologie. Sie wußte von einer analogielosen Wirklichkeit Gottes zu reden und wollte die Theologen zur Sache rufen, indem sie die Religionsgeschichte begrub. Die idealistische Philosophie wurde als Grund allen Übels betrachtet und die gesamte Epoche der liberalen Theologie in den Orkus verdammt. Eine nur zu 3 9 Festschrift Ferienkurse J e n a 75. GUNKEL vermerkt, daß in allen Wissenschaftszweigen die Religion als geschichtsmächtiges Element wieder ernst genommen und hodi veranschlagt wird und bezeichnet es aus diesem G r u n d e als einen „bedauerlichen A t a v i s m u s " , „wenn die neuen Universitätsgründungen von F r a n k f u r t und H a m b u r g und nun auch der Dresdener P l a n die theologische F a k u l t ä t auszuschließen gedenken". Prophetisch f ü g t er hinzu: „ U n d unsere Trauer über dieses Attentat auf eines der wertvollsten Bestandteile aller geistigen K u l t u r würde untröstlich sein, wenn wir nicht der sicheren Überzeugung wären, das kommende Geschlecht werde sich beeilen, den in einer f a s t unglaublichen Kurzsichtigkeit begangenen Fehler wieder gut zu machen." E b e n d a 75. 3 9 Festschrift Ferienkurse J e n a 76 f. 4 0 E b e n d a 78. 4 1 WELLHAUSEN hatte um seine Entlassung aus der theol. F a k u l t ä t gebeten, weil ihm die Pflicht, die Studenten zu Pastoren heranzubilden, zu schwer auf dem Gewissen lastete, da er ihr nicht nachkommen konnte.

Religionsgeschichtlidie Volksbücher und RGG

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verständliche Reaktion! Wenn aber nicht alles täuscht, ist mit der äußeren Ruhe der zwanzig Jahre nach dem 2. Weltkrieg mit einer neu heranwachsenden Generation die Situation verwandelt und die Anknüpfung auf breitester Basis an die von der dialektischen Theologie nicht ausdiskutierten, sondern nur abrupt abgebrochenen Probleme der liberalen Theologie und der Religionsgeschichtlichen Schule im besonderen nur eine Frage der Zeit. 2. Religionsgeschichtliche Volksbücher und RGG Aus der GuNKELkorrespondenz mit dem Mohr-Verlag war über die Entstehung der „Religionsgeschichtlichen Volksbücher" naturgemäß nichts zu entnehmen, da diese Reihe zunächst in der Hand des Verlags GebauerSchwetschke in Halle war und erst 1906 an den Mohr-Verlag in Tübingen überging. Aber aus einem Buch des langjährigen Verlagsredakteurs von Mohr-Siebedi OSKAR RÜHLE 1 geht hervor, daß der Initiator der „Religionsgeschiditlichen Volksbücher" niemand anders war als WILHELM BOUSSET, der durch seinen Bruder HERMANN Beziehungen zum Verlag Gebauer-Schwetschke hatte. BOUSSET hatte allerdings nur an eine populäre Literaturreihe über das Neue Testament gedacht. Als 1904 der Plan zur Verwirklichung F. M. SCHIELE übertragen wurde, erweiterte dieser den Rahmen auf alle theologischen Hauptdisziplinen 2 . Demnach hat GUNKEL mit dieser Reihe nicht mehr zu tun, als daß er der Autor einiger Bücher ihrer alttestamentlichen Abteilung war 3 . Daß aber bei dem engen Freundschaftsverhältnis, wie es zwischen ihm und BOUSSET bestand, ein Gedankenaustausch stattgefunden hatte und dann schließlich nur BOUSSET initiativ wurde, wird man nicht ausschließen dürfen. Auch der Plan für „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" oder „Die Religion in Vergangenheit und Gegenwart", wie der offizielle Titel bis zum Frühjahr 1908 lautete, stammt nicht von GUNKEL, sondern von dem Oberhaupt der Freunde der „Christlichen Welt" und dem Herausgeber dieser großartigen Zeitschrift: MARTIN RADE. Er „hatte schon im Jahr 1900 Siebeck die Anregung zu enzyklopädischer Zusammenfassung der Ergebnisse der theologischen Wissenschaft gegeben . . . Zunächst wurden Walther Köhler und Gustav Krüger in den Plan des Handwörterbuchs eingeweiht. Im Jahr 1904 wurde dann auf einer Tagung der Freunde der Christlichen Welt in Eisenach der Plan einem kleinen Kreis von einflußreichen theologischen Persönlichkeiten vorgelegt, und man kam überein, in aller Stille Vorarbeiten zu treffen. Die eigentliche Aufbauarbeit begann im Jahr 1905, als Friedrich Michael Schiele zusammen mit Her1 2 3

O. RÜHLE, Der theologische Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1926. Ebenda 118. Elias, Jahve und Baal 1906, Esther 1916, Das Märchen im A T 1917.

88

Arbeiten zur Religionsgeschidite

mann Gunkel die Leitung des großzügig ausgedachten Unternehmens in die Hand nahm." 4 G U N K E L S Name erscheint in diesen Sätzen nun zwar an letzter Stelle, tatsächlich aber ist er es gewesen, der den Geist des ganzen Werkes bestimmt hat und auch in den Zeiten, da das Unternehmen an personellen Schwierigkeiten zu scheitern drohte, immer wieder vermittelnd eingriff und mit seinem von S I E B E C K stets eingeholten R a t 5 weiterhalf. Zunächst war W . K Ö H L E R für die Hauptredaktion vorgesehen. Aber dessen Überlastung durch andere Geschäfte und sein organisatorisches Unvermögen veranlaßten S I E B E C K bereits am 7 . April 1 9 0 5 , bei G U N K E L telegraphisch anzufragen, ob er mit SCHIELES Eintreten in die Hauptredaktion für K Ö H L E R einverstanden sei. Er war es und brauchte seine Entscheidung nicht zu bereuen. Am 1 9 . 7 . 1 9 0 5 schreibt er an S I E B E C K : „Gegenwärtig arbeite ich an der Aufstellung der Stichwörter für das Lexikon. In Herrn M. Schiele haben wir eine ganz ausgezeichnete Akquisition gemacht." Bevor S C H I E L E dann durch sein enormes Organisationstalent an der R G G hervortrat, hatte GUNKEL, der sich in der Folgezeit — obwohl zur Hauptredaktion gehörig — auf seine Aufgabe als Abteilungsredakteur für Altes Testament beschränkte, bereits die Geschäfte der Hauptredaktion eingeteilt e . Geistig ist die R G G G U N K E L S Werk vor allem in zwei entscheidenden und charakteristischen Punkten. Der wichtigere ist die religionsgeschichtliche Ausrichtung auf allen Gebieten. In einem von ihm und S C H I E L E zugleich unterzeichneten Rundschreiben von 1906 heißt es, und es kann nicht zweifelhaft sein, daß dieser Satz auf G U N K E L zurückgeht: „Das 4

RÜHLE, a. a. O . 1 0 5 f.

5

A n d e r s als d e r B r i e f w e c h s e l

GUNKELS m i t R U P R E C H T ist d e r m i t SIEBECK

ausge-

zeichnet durch den Ton der Verehrung und Bewunderung einerseits und dem der D a n k barkeit und Zuvorkommenheit andererseits. SIEBECK hatte GUNKELS Fähigkeiten ebenfalls sofort erkannt; so wollte er nach Erscheinen der „Wirkungen" mit ihm in Verhandlung treten, nahm aber davon Abstand, als er erfuhr, daß GUNKEL RUPRECHT versprochen hatte, ihm alles zuerst anzubieten. Anfangs der neunziger Jahre bot er ihm an, Herausgeber des Kurzen Handcommentars zu werden. GUNKEL lehnte ab mit der Begründung, er sei noch zu sehr in der Entwicklung; so trat MARTI an die ihm zugedachte Stelle. 6 Das geht aus einem Brief SIEBECKS an GUNKEL vom 8. 4. 1905 hervor: Am 2. 2. 1905 stellt dieser in einem Brief an SIEBECK U. a. folgende Richtlinien für die R G G auf. 1. Billiger Preis. 2. „Klare u. entschlossene Stellungnahme zu den Problemen, die Zeit der Verschleierung ist vorüber. Aber zugleich Vermeiden des Radikalismus . . ." 3. Hauptsache sei eine präzise Diktion. „Sehr viele Gelehrte gibt es nicht, die so schreiben können, daß es dem Laien wirklich verständlich ist. Und die Philosophen u. Dogmatiker sind dabei die schlimmsten." Sein Verteilungsplan sieht v o r : KÖHLER — Alles Geschichtliche, GUNKEL — Bibel, WOBBERMIN — Dogmatisches. WOBBERMIN, w i e G U N K E L s e i n e r z e i t v o n

KÖHLER vorgeschlagen,

bekannten Gründen aus dem Unternehmen aus.

schied b a l d

aus

un-

Religionsgeschichtliche Volksbücher und R G G

89

wissenschaftliche Verfahren der Religionsgeschichte soll als methodisches Prinzip die gesamte Arbeit am Wörterbuch beherrschen." 7 Zwar ist er mit der Ausführung des religionsgeschichtlichen Programms keineswegs zufrieden. Am 11. 6. 1909 schreibt er deshalb an SIEBECK: „Besonders aber fällt mir auf, daß das Religionsgeschichtliche im Lexikon sehr stark zurücktritt. Darin zeigt sich eben, daß wir keinen eigtl. Sachkundigen für Relgesch. unter uns haben." Dennoch darf die R G G in ihrer 1. Auflage durchaus als Standardwerk der religionsgeschichtlichen Theologie angesprochen werden. D a ß es aber dabei keineswegs einseitig und radikal auftritt, sondern auf Polemik verzichtet und andere Ansichten zu Wort kommen läßt, ist wiederum nicht zuletzt das Verdienst GUNKELS. E S geht dabei um einen Kampf, der ganz zu Anfang zwischen K Ö H L E R und ihm ausgefochten wurde und mit GUNKELS Sieg endete, da K Ö H L E R schließlich — vielleicht auch infolge dieser Auseinandersetzung — aus der Hauptredaktion ausschied. K Ö H L E R sah in diesem Lexikon einzig die Möglichkeit zur Propagierung der Thesen einer radikalen und kritischen Theologie liberaler Färbung 8 . Folgender Satz GUNKELS aus einem Brief an SIEBECK vom 24. 2. 1905, der schließlich die Richtung bestimmte, gehört in diese Auseinandersetzung mit KÖHLER: „Vielleicht fördert es die Verhandlung, wenn ich erkläre, was ich unter Radikalismus verstehe. Ich verstehe darunter eine Gesinnung, die nicht eine allmähliche Fortbildung des Bestehenden, sondern einen Bruch anstrebt, die in der Entwicklung der Kirche und des Dogmas die großen religiösen Kräfte nicht anerkennt, sondern darin wesentlich nur eine Verirrung sieht. Dem gegenüber möchte ich eine Position vertreten, der alles an der positiven Mitarbeit an den Aufgaben der evangelischen Kirche gelegen ist. Ich möchte, daß diese positive Haltung besonders in der Form des Theol. Lexikons hervorträte, die alles Verletzende, Kränkende pietätvoll vermeiden sollte." Die Anerkennung für GUNKELS Anteil an der R G G bleibt denn auch von Seiten des Verlegers nicht aus. Am 5. 3 . 1 9 0 6 schreibt SIEBECK an ihn: „ . . . , gestatten Sie mir, bitte, daß ich den Wunsch des Herrn Lie. Sdiiele, Sie möchten sidi neben ihm auf dem Titel zu ,Religion in Vergangenheit und Gegenwart' nennen lassen, hiermit unterstütze und Sie herzlich· bitte, seinen Wunsch zu erfüllen. D a ß Ihr Anteil an dem ganzen Unternehmen und Ihre wertvolle Beratung in redaktionellen Fragen die Nennung Ihres Namens neben demjenigen des Herrn Lie. Schiele durchaus rechtfertigt, unterliegt keinem Z w e i f e l . . . Ich habe wesentlich deshalb Mut zu dem Unternehmen gewonnen, weil ich darauf rechnen zu können glaubte, daß Sie als Hauptredakteur auf dem Titel genannt werden 7 RÜHLE, a. a. O. 106. Das erste Rundschreiben in Sachen R G G erging bereits im Juli 1904. 8

B r i e f SIEBECKS a n G U N K E L v o m 2 . 2 . 1 9 0 5 .

90

Arbeiten zur Religionsgeschichte

dürfen." GUNKEL antwortet darauf: „Ich hatte eine Änderung des Lexikontitels vorgeschlagen, womit ich Schiele, der die meiste Arbeit davon haben wird, auch die alleinige Ehre überlassen wollte, füge mich aber, auf Ihren u. seinen ausdrücklichen Wunsch." B Das Jahr 1908 wird das Jahr der Krise; selbst GUNKEL möchte seine Tätigkeit als Hauptredakteur einstellen und besteht darauf, zumindest nicht neben SCHIELE als Herausgeber genannt zu werden 10 . KÖHLER tritt nun auch als Abteilungsredakteur zurück, wofür dann LEOPOLD ZSCHARNACK u n d

O T T O SCHEEL e i n t r e t e n .

Als 1910

g a r SCHIELE d i e

Haupt-

redaktion niederlegt, ist das Werk nicht mehr zu gefährden. ZSCHARNACK hat es leicht, an seine Stelle zu treten. Dadurch wird aber GUNKELS Anteil an der RGG audi äußerlich erst recht deutlich. Er ist der einzige Hauptredakteur, der alle 5 Bände der 1. Auflage betreut hat, alle anderen Hauptredakteure haben nur zeitweilig mitgewirkt. GUNKEL ist es denn audi, der die RGG mit zur 2. Auflage führt; in Zusammenarbeit diesmal mit ZSCHARNACK, neben dem er als Mitherausgeber erscheint. Von dieser 2. Auflage der R G G , für die die 1. Konferenz am 5. 1. 1922 zusammen m i t GUNKEL, K R Ü G E R , SCHEEL, ZSCHARNACK u n d t e i l w e i s e STEPHAN s t a t t -

fand und von der im ganzen zu sagen ist, daß sie im Unterschied zur 1. Auflage viel mehr die Gegenwart betont als die Geschichte, sei nun nur noch mitgeteilt, daß GUNKEL offenbar nicht zuletzt wegen dieser seiner Arbeit an der R G G vorzeitig um seine Emeritierung bat. Denn am 7. 7. 1927 schreibt SIEBECK an GUNKEL: „Daß Sie in der Zwangslage, entweder auf Ihre amtliche Tätigkeit oder auf die Mitarbeit an R G G zu verzichten, es möglich gemacht haben, diesem unserm gemeinsamen Unternehmen treu zu bleiben, weiß ich nicht zuletzt als einen Beweis Ihrer freundlichen Gesinnung zu schätzen." 1 1 3. Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments — 1903 Inzwischen war GUNKELS Genesis-Kommentar erschienen, und .die1 Berliner theologische Fakultät hatte ihren Extraordinarius zum Dr. theol. honoris causa promoviert. Ihr ist dieses Buch „Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments" gewidmet. Die Behandlung dieser Schrift wird hier vorweggenommen, weil sie gänzlich religionsgeschichtlich orientiert ist und sich thematisch eng an Teile von „Schöpfung und Chaos" anschließt. Nur daß GUNKEL hier die religionsgeschichtliche Fragestellung auf das ganze Neue Testament ausdehnt. Die Arbeit ist GUNKEL an SIEBECK vom 9. 3. 1906. Brief GUNKELS an SCHIELE vom 14. 11. 1908 und 12. 1. 1909. Beide Männer sind sich inzwischen so zugetan, daß sie sich gar duzen, was nicht einmal zwischen GUNKEL und GRESSMANN der Fall war. 11 Leider fehlt der betr. Brief GUNKELS in der Korrespondenz. Zu seiner Emeritierung vgl. u. S. 227. 9

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Z u m religionsgeschichtlichen V e r s t ä n d n i s des N e u e n T e s t a m e n t s

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hervorgegangen aus Vorträgen, die er vor den Freunden der „Christlichen W e l t " in Goslar und anderwärts gehalten hat. E r sagt selbst von ihr, daß er hier Auffassungen vortrage, die ihm in den „Grundzügen" „seit A n fang der neunziger J a h r e " f e s t s t ü n d e n V i e l e s in diesem Buch, vor allem die Äußerungen zur Christologie, ist eine Zumutung auch für den Leser, der durch die Entmythologisierungsdebatten der letzten 20 J a h r e einiges gewöhnt ist. Das Buch hält aber nicht so sehr in Atem durch die einzelnen behaupteten historischen Zusammenhänge als vielmehr durch das doppelte Spannungsmoment: wie steht Jesus von Nazareth als individuelle Persönlichkeit innerhalb der geistig-religiösen Entwicklung in den beiden J a h r hunderten vor und nach der Zeitenwende? Das zweite ist die zwar ganz am Rande liegende aber innerhalb der Religionsgeschichtlichen Schule als latenter Zündstoff stets vorhandene Frage: Welche theologische Evidenz hat die Geschichte? W o sich die religionsgeschichtliche Behandlung des Neuen Testaments inzwischen Bahn gebrochen hat und man diesen Teil des Kanons hineinstellt in seine religiöse Umwelt, da richtet man den Blick fast ausschließlich auf den Hellenismus 2 . Der eigentliche Orient blieb außen vor. In seinem ersten Hauptwerk war GUNKEL auf babylonische Motive im Neuen Testament gestoßen, inzwischen hatten andere auf den Einfluß der parsischen Religion aufmerksam gemacht 3 . Wiewohl er nun den Einfluß des hellenistischen Griechentums auf die urchristliche Religion keineswegs leugnen w i l l 4 , nähert er sich dem Neuen Testament bewußt vom Alten her und gewinnt von dort und seiner Beschäftigung mit der religiösen Umwelt Israels her den Eindruck, auch manches Neutestamentliche sei zu jener Welt der orientalischen Religionen in Beziehung zu setzen. Er beginnt seine nicht auf Vollständigkeit abzielende Übersicht — methodologische Erörterungen und eine Skizze über das Judentum gehen voraus — mit der Apokalypse Johannis, denn: „Wer in diesem Punkte nicht überzeugt wird, für den ist alles Folgende sicherlich nicht beweiskräftig." 5 Verständnis, V o r w o r t . Plausible G r ü n d e für die B e v o r z u g u n g des griechischen R a u m e s : die klassische Schulbildung u n d das F e h l e n literarischer E r z e u g n i s s e aus d e m orientalischen R a u m . E s w a r ein g r o ß e r F o r t s c h r i t t , als WINCKLER u n d ZIMMERN 1 9 0 1 „ D i e Keilinschriften u n d das A l t e T e s t a m e n t " v o n EBERHARD SCHRÄDER in 2 . A u f l a g e und 1 9 0 5 in 3. A u f l a g e herausbringen k o n n t e n . 3 V o r BOUSSET, D i e R e l i g i o n des J u d e n t u m s , 1 9 0 3 bereits STAVE, Ü b e r den Einfluß des Parsismus auf das J u d e n t u m , 1 8 9 8 u n d BÖKLEN, D i e V e r w a n d t s c h a f t der jüdischchristlichen m i t der parsischen Eschatologie, 1 9 0 2 . 4 V e r s t ä n d n i s 8 8 : „ W i e d e r u m sei b e t o n t , d a ß dieser hellenistische E i n f l u ß . . . nicht a u ß e r Anschlag gelassen u n d nicht als gering eingeschätzt w e r d e n d a r f . " V o r a b g i l t : „ D a s N . T . ist wirklich ein griechisches B u c h ; w e r wie der V e r f a s s e r dieser A b h a n d l u n g v o m A . T . h e r k o m m e n d das N . T . b e t r a c h t e t , empfindet deutlich, w i e s t a r k das griechische M o m e n t im N . T . ist." S. 6 . 5 Verständnis 38. 1

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Arbeiten zur Religionsgeschichte

D a sind zunächst wieder die sieben Fackeln β in K a p . 4, die für G U N K E L stofflich zusammenhängen mit den sieben Engeln Ap. Joh. 8, 2, den sieben Erzengeln Tobit 12, 15, die Ez. 9 zum erstenmal auftreten. Diese sieben Geister sieht er symbolisch verschieden dargestellt, als sieben Fackeln (Ap. Joh. 4), sieben Leuchter (1, 12), sieben Sterne, die Jesus in der Hand hat (1,16), die sieben Augen des Lammes (5, 6); verwandt sei der siebenarmige Leuchter von Ex. 25 und Sach. 4, wo sie als die sieben Augen Jahves verstanden werden. Wie kommt es, so fragt er, daß das Judentum an sieben höchste Wesen glaubt? „Die Engellehre der Juden — dies ist der allgemeine Grundsatz, nach dem wir entscheiden — ist herabgedrückter Polytheismus." 7 Bei den Heiden entsprechen den sieben Geistern oder Engeln demnach sieben Götter, die sich leicht mit den sieben Planeten identifizieren lassen, die von den Babyloniern ausgehend im ganzen Orient ihre Verehrer gefunden haben. G U N K E L findet die Verehrung der sieben Planeten bei den Persern, Orphikern, Gnostikern, Mandäern 8 und Zabiern; er bringt Belege aus Philo (Siebeneinigkeit Gottes), dem Mithraskult (sieben flammende Altäre), dem Parsismus (Lehre von den sieben Ameshaspenta) 9 . Aus dieser synkretistischen Welt hat diese Vorstellung mehrfach auf das Judentum eingewirkt, das dabei selbst zu einer synkretistischen Religion geworden ist und mit dem alten Israel nur wie durch einen dünnen Faden verbunden ist. Von dort ist sie auch in den christlichen Bereich eingedrungen. Allerdings: „Das Judentum hat diese Götter im Interesse des Monotheismus zu Engeln oder Geistern herabgedrückt und sie so für die Religion unschädlich gemacht." 10 So sind die 24 Presbyter der Apokalypse ursprünglich 24 babylonische Sterngötter, die beratende Funktion haben und als Richter des Weltalls gelten 11 . Die vier Wesen (Löwe, Stier, Mensch, Adler), die in anderer Form bei Ezechiel erscheinen, sind bei den Babyloniern ursprünglich die vier „Quartal-Tierkreisbilder" 1 2 , die ZIMMERN noch weiter auf die vier Winde zurückführen will 1 3 . Das himmlische Jerusalem läßt sich zurückführen auf eine ursprünglich himmlische Götterstadt, deren Gasse die Milchstraße ist 14 . Die Heusdirecken und Reiterheere, die Disposition der Plagen sind ebenfalls auf mythologische Vorstellungen zurückzuführen 15 . Neu gegenüber von „Schöpfung und Chaos" ist, daß G U N K E L hier im Gefolge von B O U S S E T 1 Β 6

Vgl. S u C 294 ff.; BOUSSET, Kommentar zur Apokalypse, 1896, 214 ff.; Die Reli-

g i o n des J u d e n t u m s , 1 9 0 3 , 3 1 9 , ZIMMERN in SCHRÄDERS „ K e i l i n s c h r i f t e n u n d d a s A T " ,

3. Aufl., 1905, 624 ff. 7 Verständnis 41. 8

N a c h d e r E r i n n e r u n g BAUMGARTNERS ( V T S I X , 17) ist es GUNKEL gewesen, der

BULTMANN zuerst auf die Bedeutung des mandäischen Schrifttums aufmerksam gemacht hat. Von BULTMANN brieflich bestätigt (16. 11. 65). 1 0 Ebenda 42. 9 Ebenda 41 f. 12 Ebenda 43—47. 1 1 Ebenda 42 f. 1 3 Bei SCHRÄDER, Keilinschriften, 3. Aufl., 631. 1 5 Ebenda 51—54. 14 Verständnis 48—51. 16 Kommentar zur Apokalypse 410 f.

Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des N e u e n Testaments

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f ü r die Geburt des Messias in A p J o h 12 nun auch auf ägyptisches Material, nämlich den Hathormythus, hinweist 1 7 . Ob ursprünglich babylonisch oder ägyptisch — GUNKEL hat damit zu rechnen begonnen, daß es Stoffe gibt, die international sind —, jedenfalls steht hinter A p J o h 12 ein ursprünglicher Mythus, der die Geburt des Sonnengottes durch die Himmelsgöttin erzählt, die vom Drachen des feindlichen Wassers bedroht wird 1 8 . Eine ganze Reihe einzelner — auch ursprünglich mythologischer — Züge, die sich nicht mehr erklären lassen, vor allem solche, die nun im Umkreis der Christologie erscheinen, führt er a u f 1 β , um daraus das Fazit zu ziehen: alle diese auf einen Messias sich beziehenden ursprünglich mythologischen Züge haben christliche Kreise mit ihrem Meister, Jesus, identifiziert. „Jesus ist, das war die Kardinalüberzeugung, der Christus. So übertrug man auf Jesus das, was man vom Christus bereits wußte. U n d so sind ganz allogene, ja die groteskesten Züge Attribute Jesu geworden." 20 Die urchristliche Christologie ist nicht einfach der Reflex des Eindrucks der Person des historischen Jesus, vielmehr spielt dieser Eindruck gerade in der Christologie eine untergeordnete Rolle: „Die Hauptstücke der Christologie aber kommen nicht von dem historischen Jesus her, sondern sind unabhängig von ihm und vor ihm entstanden." 2 1 — Bei diesen Ausführungen wird ein wesentlicher Punkt der theologischen Gesamtanschauung GUNKELS deutlich: die umwälzenden und bedeutenden Ideen der Menschheitsgeschichte, wozu die religiösen als die vornehmsten gehören, kommen erst nach einer langen Bewegungsgeschichte zum Durchbruch. Danach mögen sie sich abklären in besonders hervorragenden Persönlichkeiten, so daß der D a n k der Menschheit diesen zu gelten hat. Aber die Persönlichkeiten sind nicht allein das Entscheidende, sie sind getragen oder auch hervorgebracht von den hinter ihnen stehenden anonymen geschichtlichen Bewegungen. D a s gilt nach GUNKEL nicht nur für irgendwelche herausragenden Persönlichkeiten, sondern auch etwa für Paulus, ja sogar für Jesus. So lehnt er es nun ab, die Christologie des Apostels aus 17 Verständnis 54. GUNKEL entwickelte geradezu eine große Gabe darin, Kollegen aus anderen Fachgebieten an seinen Forschungen zu beteiligen, indem er hemmungslos um R a t fragte. So hatte er auch K o n t a k t mit dem Ägyptologen ERMAN, seinem Berliner Kollegen, aufgenommen. Vgl. Verständnis 25 f. Diese Offenheit für alle Gebiete bewahrte ihn vor Einseitigkeiten. BAUMGARTNER V T S I X , 7, schreibt d a r ü b e r : „Aber bezeichnend ist, wie er in jener Zeit, wo sonst alles auf das neue Licht aus dem Osten schaute, auf die nicht minder große Bedeutung der etwas älteren und weniger turbulenten Ägyptologie hinwies." BAUMGARTNER verweist auf Verständnis 1903, 25 f. und „Ägyptische Parallelen zum A T " 1909. Aber bereits 1895 hat GUNKEL auf Ägyptisches a u f m e r k s a m gemacht, S u C 90, ebenso in der 1. A u f l a g e der Genesis 1901, wobei sich in der 3. A u f l a g e die Verweise um ein mehrfaches erhöht haben. 1 8 Verständnis 54—58. 19 Ebenda 58—64. 2 0 Ebenda 64. 2 1 Ebenda. D a v o r heißt es: „In der ganzen Christologie des N . T . ist die historische Person Jesu und ihr Eindruck nur ein F a k t o r neben anderen." Wie RUDOLF BULTMANN später dieser historischen Erkenntnis beipflichtet und sie theologisch verarbeitet, ist bekannt.

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Arbeiten zur Religionsgeschichte

seinem Damaskuserlebnis abzuleiten, wozu er in den „Wirkungen" neigte 22 . Ganz abgesehen von dem religionsgeschichtlichen Grundsatz, den er aufstellt, daß „der Visionär die himmlische Welt in derjenigen Form schaut, an die er schon vorher geglaubt hat" — so daß rein methodisch schon der Visionär, die Einzelpersönlichkeit, eingewiesen wird in eine hinter ihr stehende Tradition —, generalisiert er dieses Problem und erklärt: „Und auch diese Frage dürfen wir aufwerfen, ob es wirklich erlaubt ist, eine geschichtliche Tatsache von so gewaltiger Bedeutung wie diese Christologie ( = des Paulus) von dem einmaligen Erlebnis eines Einzelnen abzuleiten, und sei dieser Einzelne eine noch so überragende Person. Ein Glaube, der die Welt erfüllt, der die Gemüter von nunmehr zwei Jahrtausenden beherrscht, muß tiefere und umfassendere Fundamente haben." 2 3 Die geschichtliche Persönlichkeit hat je ein bestimmtes Geheimnis in sich selbst und ist an diesem Punkt der anonymen geschichtlichen Bewegung inkommensurabel. Deshalb geht es nicht an, sie einfach in ihre geschichtlich vor auf gehenden Traditionen zu „verrechnen" 24 . Aber sie ist auf der anderen Seite doch auch nicht so etwas wie die Trägerin der Weltvernunft, wie man im Gefolge der „Persönlichkeitsmetaphysik" eines C A R L Y L E anzunehmen bereit sein mochte 25 , sie ist allenfalls eine besonders hervorragende Funktion eben dieser „Weltvernunft", von der G U N K E L häufig spricht 26 . Deshalb ist er so fasziniert von dem wechselvollen Spiel „der Wirkungen der Person und Zeiten aufeinander", wie es ihm zuerst in den Kollegs von H A R N A C K und S T A D E vor Augen geführt worden ist 2 7 . So ist auch Jesus selbst nicht eine historische Persönlichkeit mit gottähnlichen Kräften; die Wirkung des historischen Jesus veranschlagt GUNKEL nicht allzu hoch. Die einzigartigen religiösen Gedanken, die sich an seine Person heften und für die es im Judentum und auch sonst keine Parallele gibt 2 8 , sind nicht von Jesus ausgegangen, sondern auf ihn übertragen worden 2e . Ein für einen an alttestamentliche Sachverhalte gewöhnten Forscher naheliegender Gedanke. Hier macht G U N K E L im Anschluß an HARNACK30 und die Ergebnisse der Leben-Jesu-Forschung 31 einen 2 3 Verständnis 91. Vgl. oben S . 3 3 . Ebenda 12. 2 5 „Nicht zu unterschätzende Wirkungen gingen von Carlyle und seiner Persönlichkeitsmetaphysik aus." KRAUS, Geschichte 326. Vgl. audi a. a. O . 338. 2 8 Ein Zitat aus C W 17, 1903, 632: „Was aber in solchem alten Gedichte ( = Ps. 104) ewigen Wert hat, das ist der Geist, der in dem wunderbaren B a u des Weltalls nicht das Erzeugnis eines blinden Ungefährs sieht, sondern der darin das Wirken einer Alles beherrschenden Vernunft erkennt, die wir staunend bewundern und anbetend verehren." 2 ' Verständnis 12. 2 8 E b e n d a 91 f. 2 9 Ebenda 9 3 : „Alles dies ist auf Jesum übertragen worden, weil es schon vor ihm Christo gehörte." 3 0 HARNACKS Vorstellungen, seine Isolierung und einsame Hochschätzung des E v a n geliums Jesu gegenüber der Lehre des apostolischen Zeitalters, wie sie besonders in seiner berühmten Vorlesung 1899/1900 über „ D a s Wesen des Christentums" zum Ausdruck kommt, ist bekannt. Aber ebenso wie HARNACK Jesus nach vorne isolierte, so tat er es auch nach rückwärts. „ D i e Predigt Jesu wird uns auf wenigen, aber großen Stufen so22

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scharfen Unterschied zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens der Urgemeinde. Die Predigt des reinen Evangeliums stammt von Jesus von Nazareth, aber die Hauptstücke der späteren christologischen Lehren gehen nicht auf ihn selbst zurück, sondern existierten vorstellungsmäßig bereits vor ihm. Jesus hat diese Vorstellungen auf sich gezogen. So die Kindheitsgeschichten, deren Hauptmotiv (die Zeugung des Heroen ohne Zutun eines Mannes) mythologisch ist und überall in den orientalischen Religionen zu belegen ist 3 2 . Alle Hauptzüge der evangelischen Tradition von Jesus tragen mythologischen Charakter: Taufgeschichte, Versuchungsgeschichte, Verklärungsgeschichte, Brotvermehrung, Weinwunder zu K a n a , Seewandel, Auferstehung, Himmel- und Höllenfahrt, Auferstehung am 3. T a g und die damit zusammenhängende Feier des Sonntags als Auferstehungstag 3 3 . Uberhaupt ist die ganze Vorstellungswelt des Paulus und des Johannes im Unterschied zu gewissen Teilen der synoptischen Tradition für einen vom Alten Testament Herkommenden so fremd, daß hier fremde Grundanschauungen veranschlagt werden müssen. Beim historischen Jesus — und hier nimmt GUNKEL ein Zitat von WERNLE auf — „bewegt sich alles um einen aus höchstem religiösen Individualismus geborenen ethischen I m p e r a t i v " 3 4 , von dem kein Weg zu den christologischen Systemen führt. „Die gewaltige Produktionskraft des U r christentums" geht zurück auf Vorstellungen einer im späten Judentum sich ausbildenden „synkretistischen Religion" 3 5 . Die Frage „ H a t das U r christentum fremde Elemente aufgenommen?" hat GUNKEL 1912 in einem Vortrag thematisch behandelt 3 6 . Dabei versucht er eine Abgrenzung solcher neutestamentlichen Vorstellungen, die sich aus dem Alten Testament erklären, von solchen, die aus einem anderen Strang hergeleitet werden müssen wie die „Auferstehungslehre" und das „christliche Messiasideal". Die „Christusfigur" 3 7 muß der Urgemeinde bereits eine vorgegebene Größe gewesen sein, hervorgebracht durch eine gewaltige Kumulation geschichtlich gewordener religiöser Vorstellungen. Sie kann nicht von fort in eine Höhe führen, auf welcher ihr Zusammenhang mit dem Judentum nur noch als ein lockerer erscheint und auf der überhaupt die meisten Fäden, die in die Z e i t g e schichte' zurückführen, unbedeutend werden." Siebenstern-Taschenbuch 27, 1964, 23. HARNACK mochte sich zu keiner Zeit auf die religionsgeschiditliche Fragestellung einlassen, diese Haltung hängt mit seiner Reduktion des christlichen Glaubens auf das von ihm rekonstruierte schlichte Evangelium Jesu zusammen. 3 1 Die Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts hatte dem HARNACKsdien Verständnis in großem vorgearbeitet, als um 1900 wie selbstverständlich die Gedankenwelt Jesu und die der Urgemeinde als zwei fast voneinander unabhängige Größen angesehen wurden. 3 2 Verständnis 65—70. Ebenso gibt es Parallelen für den Kindermord des Herodes, nicht nur im Alten Testament. 3 3 Verständnis 70—83. 3 1 Ebenda 87. 3 5 Ebenda 88. 3 6 Frei und gewiß im Glauben!, Beiträge zur Vertiefung in das Wesen der christlichen Religion, hg. v. F. KOEHLER und B. VIOLET, 1912, 21—25. 3 7 Verständnis 90.

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einem Individuum, und sei es Jesus von Nazareth, erst hervorgerufen worden sein. Man wird nicht behaupten können, diese Auffassung GUNKELS von der Geschichte und den sich in ihr ausbildenden Ideen sei eine ihm vorgegebene Ideologie gewesen, die er nur durch seine exegetischen Beobachtungen am Neuen Testament — mehr oder weniger gewaltsam — legitimieren wollte. Die religionsgeschichtlichen Parallelen, das Verhältnis etwa des Apostels Paulus zum historischen Jesus, sprechen ihre eigene Sprache. Aber diese religionsgeschichtlichen Beobachtungen zeichnet er ein in das Bild vom Wechselspiel geschichtlicher anonymer Bewegungen und einzelner Persönlichkeiten, wie er es längst gewonnen hatte. Daß G U N K E L neben der geschichtlichen Persönlichkeit auch und gerade diese anonymen geschichtlichen Bewegungen hoch veranschlagt, hindert ihn daran, mit H A R N A C K das urchristliche religiöse Gedankengut einfach auf den historischen Jesus und sein „schlichtes" Evangelium zu reduzieren. Dies ist einer der Punkte, an denen deutlich wird, daß die religionsgeschichtlich eingestellten Theologen im Gegensatz zu den eigentlichen Liberalen, für die nach R I T S C H L S Tod der Name H A R N A C K steht, konservativere Auffassungen durch ein neues, geschichtliches Verständnis festzuhalten vermochten. Die Liberalen waren viel „radikaler" als die Religionsgeschichtler. G U N K E L läßt den historischen Jesus nicht als alleinigen Maßstab der christlichen Religion gelten. Die christliche Religion trägt, wie sie sich in der Urgemeinde ausgebildet hat, ihren Maßstab in sich selbst. „Das Christentum ist eine synkretistische Religion. Starke religiöse Motive, die aus der Fremde gekommen waren, sind in ihm enthalten und zur Verklärung gediehen, orientalische und hellenistische. Denn das ist das Charakteristische, wir dürfen sagen, das Providentielle am Christentum, daß es seine klassische Zeit in der weltgeschichtlichen Stunde erlebt hat, als es aus dem Orient in das Griechentum übertrat. Darum hat es Teil an beiden Welten. So stark audi später das Hellenistische in ihm geworden ist, so ist dodi das Orientalische . . . niemals ganz verschwunden . . . Ebendeshalb würde es unrichtig sein, das Christentum — wie vielfach geschieht — an dem vorwiegend aus den Synoptikern erschlossenen Evangelium Jesu als dem allein gültigen Maßstabe zu messen; vielmehr ist es dem Evangelium gegenüber, von dem es einerseits herkommt, andererseits doch eine neue selbständige Erscheinung, die ihre Wurzeln auch in einem Boden hat, aus dem das Evangelium nicht erwachsen ist, und die daher auch nicht nach dem Evangelium allein gemessen werden kann, sondern ihren Maßstab in sich selber trägt. Das Christentum, das bestimmt war, vielen Völkern gepredigt zu werden, war selber nicht von einem. Volke erzeugt worden, sondern war aus einer großen und vielverschlungenen Geschichte vieler Völker erwachsen."38 38

Ebenda 95.

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Das Wort „Synkretismus" kann unter der Voraussetzung dieses Denkens nichts Negatives an sich haben. Von hier aus erklärt sich audi, wie G U N K E L den hoffnungsvollen Gedanken aussprechen konnte, daß seine religionsgeschichtliche Arbeit, die das Neue Testament nur scheinbar auflöst und auf verschiedene religiöse ausländische Traditionen zurückführt, in Wahrheit jedoch ein dem modernen Menschen adäquates, weil nicht supernaturalistisches Verständnis der christlichen Religion eröffnet, dem kirchlichen Interesse nur dienen kann 3 9 . Alle Religionen haben einen wahren Kern in sich, die christliche Religion, wie sie sich im Neuen Testament, nicht nur in der Verkündigung Jesu darstellt, hat absoluten Ewigkeitswert 4 0 , aber diese christliche Religion ist nicht vom Himmel gefallen, sondern geworden, geschichtlich gewachsen. Das ewig Heutige ist „aus dem Gestrigen erwachsen", deshalb läßt es sich geistig durchdringen, verstehen und nicht nur verehren 41 . Daß Auferstehungsglaube und Messiasvorstellung als „wesentliche Elemente in der christlichen Religion" 4 2 auf fremde Einflüsse zurückgehen, ist kein Grund, an der Absolutheit des Christentums zu zweifeln. Entscheidend ist die „Umgestaltung", die diese Vorstellungen in christlichem Bereich erfahren haben. „Die christliche Religion hat solche fremden Stoffe in sich aufgenommen und in eigentümlicher und glänzender Weise verarbeitet, denn es ist und bleibt die höchste aller Religionen." 4 3 Für G U N K E L ist es die größte Apologie des Christentums, daß „es kein Zufall gewesen ist, wenn dieser Glaube die Welt überwunden und eine neue Epoche in der Geschichte der Menschheit heraufgeführt hat", vielmehr offenbart sidi darin „eine höhere geschichtliche Notwendigkeit" 4 4 . Man kann sagen, darin zeige sich der ganze HEGELsche Unterbau des theologischen Denkens der Religionsgeschichtlichen Schule und besonders GUNKELS45. Wenn dies aber nichts weiter ist oder sein soll als der nachwirkende Einfluß des großen idealistischen Philosophen, dann muß man in der zweiten Jahrhunderthälfte mit der Lupe suchen, ob man jemanden finde, der von dieser Art Hegelianismus frei war. Jedenfalls kann G U N K E L zum Schluß einen Satz PFLEIDERERS 48 zitieren, der noch mehr von diesem Geist atmet: „Wenn demnach das Christentum ,erkannt wird als das notwendige Entwiddungsprodukt des religiösen Geistes unserer Gattung, auf dessen Bildung die ganze Geschichte der alten Welt hinstrebte, in dessen Ausgestaltung alle geistigen Erträgnisse des Orients und Occidents ihre Verwertung und zugleich Veredelung und Harmonisierung gefunden haben: dann ist das', so sagen wir mit Pfleiderer, ,die großartigste und » Ebenda V f. Vgl. Verständnis 11: „Nicht das ewig Gestrige, sondern das ewig H e u t i g e ! " 4 2 Frei und gewiß im Glauben! 1912, 25. 4 1 Ebenda 11. 4 4 Verständnis 96. 4 3 Ebenda. 4 1 Urchristentum I, 2. Aufl. 1902, V I I . 4 5 Vgl oben S . 3 4 A . 2 7 . 3

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Klatt, Gunkel

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Arbeiten zur Religionsgeschichte

solideste Apologie des Christentums, die sich (und nun eine Einschränkung, die G U N K E L macht: „auf geschichtlichem Standpunkt") denken läßt'." 4 7 G U N K E L brauchte kein Hegelianer zu sein, um so zu denken. Seine religionsgeschichtlichen Erkenntnisse von der religiösen Entwicklung im Vorderen Orient durch Israel und das Judentum hindurch bis hin zum frühen Christentum brauchten nicht gewaltsam in ein vorgegebenes philosophisches Sdiema eingepaßt zu werden. Viel zu sehr von selbst stellten sich die Dinge in eine Reihe, so daß man von einer Entwicklung geradezu hätte sprechen müssen, wenn dieses Wort nicht schon in der Luft gelegen hätte. Theologisch befreiend wurde diese Erkenntnis freilich erst, als G U N K E L — hier allerdings ausgerüstet mit dem Gedankengut seines Freundes A. E I C H H O R N und der anderen — die „Geschichte" mit theologischer Dignität bekleidete. Hier fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er konnte geradezu, begeistert von seiner Erkenntnis, im Stile eines Missionars seine Stimme erschallen lassen. Nur eine Einschränkung ist hier zu machen, die mit G U N K E L S Zusatz in dem eben gegebenen PFLEIDERER-Zitat zusammenhängt. Sie scheint mir darauf hinzudeuten, daß ihm eine Apologie des Christentums auf allein „geschichtlichem Standpunkt" für das eigene religiöse Bewußtsein nicht auszureichen scheint. Der Beweis für die Wahrheit des Christentums auf geschichtlichem Wege ist doch nur ein indirekter, von abgeleiteter, nicht unmittelbarer Evidenz. Ausreichend, den Gebildeten einen gangbaren Weg zurück zum christlichen Glauben zu zeigen; ausreichend, der Theologie einen Ort unter den anderen Wissenschaften der universitas litterarum anzuweisen. Aber auch ausreichend für den Glauben? Es scheint so, als habe G U N K E L für sich noch eine Apologie des Christentums auf ganz anderer Ebene gefunden, die ihm unmittelbare Evidenz verhieß. So, wenn er davon sprechen kann, daß wir das Leben, das Jesus in seiner Auferstehung ans Licht bringt, dann erfahren, wenn es zu einer mystischen Vereinigung mit ihm kommt. „Christus bringt in seiner Auferstehung das Leben ans Licht, und wir erfahren es mit ihm, wenn wir uns mit ihm mystisch vereinigen." 48 Nur so erklärt sich m. E. andererseits die Hochschätzung der religiösen Persönlichkeit — „jetzt in unserer sozialistischen Zeit" zu sehr vernachlässigt 49 —, und zwar da, wo er sie nicht als Faktor und gleichzeitig als Widerspiel geschichtlicher Zeitströmungen ansieht, sondern wo er sich ihr als isoliertem menschlichem Individuum nähert, um von ihr zu erfahren, was Religion ist. Alle Erkenntnis von geschichtlicher Entwicklung ist vergessen, wenn G U N K E L den religiösen Heroen ins Herz schaut und etwa sagt: „Gottes Offenbarung erkennen wir in den großen Personen der Religion, die in ihrem tiefsten Innern das heilige Geheimnis erfahren und mit Flammenzungen davon reden." 5 0 " 50

4 8 Verständnis 93. Verständnis 95 f. Israel und Babylonien, 1903, 36.

49

Ebenda 12.

Babel-Bibel

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Liegen Geschichtstheologie und Mystik so dicht beieinander? 31 Geistesgeschichtlich müßte man diese Haltung in die Nähe des neukantischen Ritschlianismus ansiedeln, der zwischen relativen Geschichtsurteilen und absoluten Werturteilen unterscheidet. Biographisch wäre an GUNKELS Lehrer HARNACK — wenn nicht an RITSCHL selbst — zu denken, der etwa sagen konnte: „Absolute Urteile vermögen wir in der Geschichte nicht zu fällen . . . Die Geschichte kann nur zeigen, wie es gewesen ist, und auch, wo wir das Geschehene durchleuchten, zusammenfassen und beurteilen, dürfen wir uns nicht anmaßen, absolute Werturteile als Ergebnisse einer rein geschichtlichen Betrachtung abstrahieren zu können. Solche schafft immer nur die Empfindung und der Wille; sie sind eine subjektive Tat." 5 2 GUNKEL wollte die Geschichte zur Stringenz erheben, im letzten konnte er dies nicht durchhalten und hat sich in die Mystik geflüchtet. Aber er hat es wohl nicht für seine Aufgabe erachtet, darüber — vielleicht war es mehr unbewußte Frömmigkeit als reflektierte Theologie? — ausführlicher zu handeln. Er befand sich damit in guter Gesellschaft. E. TROELTSCH konnte die ihm auferlegte Frage nach der Absolutheit des Christentums auf rein geschichtlicher Ebene nicht beantworten. Das Gewißheitsproblem bemächtigt sich des Irrationalen, so daß man sogar hat sagen können, für TROELTSCH sei die Mystik „das Urphänomen" der Religion gewesen53. Hier wirken sich, geistesgeschichtlich gesehen, Gedanken aus, die mit SCHLEIERMACHER unlöslich verbunden sind. GUNKEL war mit ihnen in der RiTSCHLschen Ausprägung bekannt geworden, worauf es zurückzuführen ist, daß dies erlebnishafte, romantisch-mystische Moment andererseits gänzlich aufgewogen wird durch die Betonung des sittlichen Momentes in der R e l i g i o n 5 4 . Schließlich hatte RITSCHL über SCHLEIERMACHER auf KANT

zurückgegriffen.

4. Der Babel-Bibel-Streit Der Babel-Bibel-Streit traf viele Theologen ungerüstet und fand sie hilflos. Es kann von vornherein nicht zweifelhaft sein, welche Position GUNKEL in dieser Auseinandersetzung bezogen hat. Den öffentlichen Streit selbst begrüßte er lebhaft, weil sich hier theologisches Interesse der Öffentlichkeit bekundete und dadurch gleichzeitig neues Interesse geweckt wurde; zugleich bedauerte er ihn, weil durch den Ton und die Art vieler Argumente Mißtrauen gegenüber der Theologie geweckt wurde. So konnte er 5 1 Dazu würde passen, was mir H . - J . KRAUS von einem Ohrenzeugen berichtete: GUNKEL habe auf seiner letzten Weihnachtsfeier mit Studenten in Halle, also 1931, gesagt, er habe sein ganzes Leben nadi seinem verlorenen Kinderglauben gesucht. 5 2 Das Wesen des Christentums, 24. 6 3 K. D. SCHMIDT, Grundriß der Kirchengesdiidite, I960 3 , 484. 5 4 Zur Entstehung einer Neumystik und ihrem Unterschied zur alten Mystik vgl. RGG 1 IV, 608—611.

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Arbeiten zur Religionsgeschidite

nicht schweigen, sondern ergriff unter vielen anderen 1 das Wort 2 . Aber worum ging es? Es hatte damit begonnen, daß — noch ehe die eigentlichen „Panbabylonisten" A L F R E D J E R E M I A S , H U G O W I N C K L E R und P E T E R J E N S E N mit ihren großen Werken hervorgetreten waren 3 — der Assyriologe F R I E D RICH D E L I T Z S C H am 1 3 . Januar 1 9 0 2 in Gegenwart des Kaisers zu Berlin vor der Deutschen Orientgesellschaft einen Vortrag mit dem Thema „Babel und Bibel" gehalten hatte 4 . F R I E D R I C H D E L I T Z S C H ist der Sohn des Alttestamentiers F R A N Z D E L I T Z S C H und gilt neben E. S C H R Ä D E R , dessen Schüler er war, als eigentlicher Begründer der Assyriologie. Im Jahre 1899 wurde er — von Leipzig über Breslau kommend — in Berlin als ordentlicher Professor der semitischen Sprachen und der Assyriologie zugleich Direktor der Vorderasiatischen Abteilung der Königlichen Museen. Sein Ansehen war, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und besonders Amerika — „In Amerika ist die Assyriologie Modewissenschaft" 5 — enorm. Der Tenor dieses ersten im Vergleich zu seinen späteren Veröffentlichungen noch maßvollen Vortrags geht dahin, die Ergebnisse der Ausgrabungen an Euphrat und Tigris, an denen D E L I T Z S C H zum Teil selbst beteiligt war, „als Interpret und Illustrator der Bibel"® heranzuziehen. Neben einigen eigenen Hypothesen, die ihm nicht einmal seine eigenen Freunde abnahmen 7 , brachte er nichts vor, was nicht unter den Assyriologen und auch inzwischen unter den Alttestamentlern allgemein bekannt war. Aber eben die Öffentlichkeit hatte von diesen Dingen bisher keine Ahnung gehabt, und ein Aufschrei ging durchs Land. Die Tagespresse hatte ihr Thema, und die kirchlichen Publikationsorgane schäumten über 8 . Stand doch nicht weniger auf dem Spiel als der Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift, wenn sich, wie D E L I T Z S C H nachgewiesen zu haben schien, herausstellen sollte, daß das Alte Testament an wichtigen Stellen und zu großen Teilen direkt von babylonischer Literatur abhängig war. 1 Die Babel-Bibel-Literatur ist unübersehbar, das widitigste hat KÜCHLER ab 1902 in C W besprochen. 2 Israel und Babylonien, 1903 und in einem A u f s a t z C W 17, 1903, 121—134: B a b y lonische und biblische Urgeschichte. 5 A. JEREMIAS, D a s Alte Testament im Lichte des alten Orients, 1905. H . WINCKLER in SCHRÄDERS, „ D i e Keilinschriften und das Alte Testament", 2. Aufl. 1903. P. JENSEN, D a s Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur I, Die Ursprünge der alttestamentlichen Patriarchen-, Propheten- und Befreier-Sage und der neutestamentlichen Jesus-Sage, 1906. 4 Vgl. R G G , 2. Aufl. I, 714. Der Vortrag wurde auf Wunsch Wilhelms II. am 1. 2. im Königlichen Schloß wiederholt; vgl. DELITZSCH, Babel und Bibel 1902, 52. 5

GUNKEL a n RUPRECHT v o m 12. 12. 1 8 9 4 .

• DELITZSCH, Babel und Bibel I, 1903, 53. 1

V g l . P . JENSENS R e z e n s i o n in C W 16, 1902, 4 8 7 ff.

N o d i 1912 erschien ein Buch wie das von HERMANN KLÜGER, Friedrich Delitzsch der Apostel der neubabylonischen Religion. Ein Mahnruf an das deutsche Volk. 8

Babel-Bibel

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Dies zur Schilderung der Atmosphäre, die Geschichte des Streites soll hier nicht weiter interessieren 9 . Wichtig für G U N K E L S Stellungnahme ist nur noch, daß D E L I T Z S C H ein Jahr später einen zweiten Vortrag mit demselben Titel veröffentlichte, wo er sich nun, wie G U N K E L ihm zubilligt, „durch seine kirchlichen Gegner gereizt" 10, mehr auf theologisches Gebiet begab und dem Alten Testament den Charakter einer göttlichen Offenbarung absprach n , was er vorher so nicht getan hatte. Trotzdem sieht sich G U N K E L gezwungen, zunächst D E L I T Z S C H in Schutz zu nehmen und das Recht an seinen Aufstellungen über das Verhältnis Babyloniens zu Israel nachdrücklich zu unterstreichen. Für die Erregung in der Öffentlichkeit macht er allein die Haltung der evangelischen Kirche selbst verantwortlich. „Aber der Haupterklärungsgrund ist doch die bejammernswerte Entfremdung der evangelischen Kirche von der evangelischen Wissenschaft." 12 Wo G U N K E L sich aber nun mit D E L I T Z S C H anlegt, tut er es nicht so, daß er dessen Ausführungen über die Abhängigkeit des A T von babylonischer Literatur in wesentlichen Punkten bestreitet oder in der Bedeutung herunterspielt. Vielmehr geht er zum Gegenangriff über 1 S , stellt den Offenbarungsbegriff zur Diskussion und weist D E L I T Z S C H nach, daß er „ein Rationalist alten Schlages" sei, dessen Offenbarungsbegriff selbst noch ganz vom Supernaturalismus geprägt ist und der noch nichts davon vernommen hat, daß „die Geschichte die eigentliche Stätte der Offenbarung Gottes sei" 1 4 . G U N K E L hat sowohl die Vertreter der Orthodoxie wie die Rationalisten 1 5 , die sich über D E L I T Z S C H S Provokation freuen, vor Augen, wenn er schreibt: „Ein Glaube . . . muß mutig und tapfer sein. Was wäre das für ein Glaube, der sich vor Tatsachen fürchtet, der wissenschaftliche Untersuchungen scheut! Glauben wir wirklich an Gott, der sich in der Geschichte offenbart, so haben wir nicht dem Höchsten vorzuschreiben, wie die Ereignisse sein sollen, in denen wir ihn finden, sondern wir haben nur demütig die Spuren seiner Füße zu küssen und sein Walten in der Geschichte zu verehren . . . Finden wir also wirklich in der Religion Israels babylonische Elemente, ja wären es auch überaus wertvolle und wichtige ' DELITZSCH verhärtete sich in seinem S t a n d p u n k t immer mehr und veröffentlichte 1921 D i e große Täuschung. Vgl. zu dem ganzen K o m p l e x KRAUS, Geschichte 2 7 4 — 2 8 3 . 1 0 Israel und Babylonien 4. 1 1 E t w a Babel und Bibel II, 1903, 19: „ O f f e n b a r u n g ! E s läßt sich k a u m eine größere Verirrung des Menschengeistes denken als die, daß m a n die im Alten Testament gesammelten unschätzbaren Ueberreste des althebräisdien Schrifttums in ihrer Gesamtheit jahrhundertelang f ü r einen religiösen K a n o n , ein offenbartes Religionsbuch hielt." 1 2 Israel und Babylonien 3. is Wegen dieser H a l t u n g GUNKELS und der folgenden Ausführungen, die seine theologische H a l t u n g präzisieren helfen, ist hier überhaupt nur auf den Babel-Bibel-Streit B e z u g genommen worden. 1 4 Israel und Babylonien 39. 1 5 Sehr schön sagt KRAUS: „ D i e Ressentiments der A u f k l ä r u n g suchen angesichts der Entdeckungen und Aufhellungen eine neue religiöse und weltanschauliche Position zu finden." Geschichte 276.

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Arbeiten zur Religionsgeschichte

Stücke, so sollte sich doch unser Glaube freuen, daß die Welt sich uns jetzt auftut und wir Gottes Walten sehen . . . Wir erkennen freudig und ehrlich Gottes Offenbarung überall da, wo sich eine menschliche Seele ihrem Gott nahe fühlt, und sei es unter den dürftigsten und sonderbarsten Formen. Fern sei es von uns, Gottes Offenbarung auf Israel zu beschränken." 16 Das war eine Apologie des A T als Offenbarungsbuch, die orthodoxen Kreisen sicher nicht als solche erscheinen mochte. Aber in diesem Punkte traf sich G U N K E L inzwischen ganz mit einer Stimme aus dem W E L L H A U S E N S c h e n Lager 1 7 , wie ja immer mehr an den Tag kommen sollte, daß G U N K E L auf die jüngeren Wellhausianer Einfluß gewann und umgekehrt er selbst den Anschluß an W E L L H A U S E N suchte18. Nun sind die Spuren der Offenbarung Gottes in Babylonien nicht gar so groß, wie D E L I T Z S C H sie veranschlagt. Dies ist der Hauptvorwurf, den G U N K E L gegen ihn erhebt, daß er es verabsäumt habe, die parallelen Stücke hier und dort unvoreingenommen zu vergleichen. Hätte er dies getan, so hätte er den gewaltigen Unterschied zwischen Babylonien und Israel nicht übersehen können. Noch einmal nahm G U N K E L zum Thema Babel und Bibel Stellung, und zwar anläßlich von P . J E N S E N S „Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur Ι " , 1906 1 9 . Der um das Gilgamesch-Epos hoch Verdiente 20 war von dieser Erzählung so fasziniert, daß er sie nicht nur im Alten Testament hinter so mancher Erzählung durchschimmern sah und so das Alte Testament weithin von Babylon abkünftig machte, audi Jesus war nichts anderes als eine Reinkarnation Gilgameschs. G U N K E L S Antwort darauf ist das Humorvollste und Ironischste, was er je geschrieben hat. Dabei hat er sich noch Zügel angelegt: „Ich halte Jensen für krank und habe mich daher im Ton aufs möglichste gemäßigt." 2 1 Tatsächlich nahm er es mit J E N S E N SO ernst, daß er ihm alles zutraute und deshalb in diesen Jahren neben seinem Schreibtisch einen Stock stehen hatte, um sich nötigenfalls, wenn die Tür aufginge und J E N S E N zur Tat schreiten sollte, siegreich verteidigen zu können 22 . Was er ihm vorwirft und was er ihm geduldig nachrechnet, sind die methodischen Verirrungen. G U N K E L fühlt sich so überlegen, weil J E N S E N von den 18 Israel und Babylonien 15. S. 16 f ü g t er hinzu: „Wie viel großartiger als die modernen Orthodoxen haben dodi hierin die Väter der christlichen Kirche gedacht, die in den großen und edlen Heroen der griechischen Philosophie Träger des überallhin zerstreuten Samens des göttlichen Wortes gesehn haben." 1 7 Vgl. K . BUDDE, D a s Alte Testament und die Ausgrabungen, 2. Aufl. 1903, besonders das V o r w o r t . 1 8 Israel und Babylonien 23. 1 9 Jensens „Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur", D L Z 30, 1909, 9 0 1 — 9 1 1 ; wieder abgedruckt R u A 149—163. 2 0 D a s unterläßt GUNKEL nicht anzumerken, R u A 150. 21

22

GUNKEL a n RUPRECHT v o m 11. 5. 1 9 0 9 .

So berichtete mir GUNKELS Sohn.

Babel-Bibel

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methodischen Dingen der Sagenforschung keine Ahnung hat. Nach GUNKELS boshaftem Unterricht steht JENSEN etwas lächerlich da in der wissenschaftlichen Welt, erst recht, wenn GUNKEL schließt: „Jensen wird seinen Weg weitergehen und nun zunächst die griechischen Sagen angehen; man wird es uns nicht übel nehmen, wenn wir dabei etwas freundnachbarliche Schadenfreude gegen unsere hellenistischen Kollegen empfinden; denn was dem einen recht ist, ist dem andern billig." 2 3 Die Bedeutung des Babel-Bibel-Streites für den Fortgang der alttestamentlichen Wissenschaft ist nicht gering zu veranschlagen, hat er doch die Alttestamentier gezwungen, den Vorderen Orient nun nachdrücklich zur Kenntnis zu nehmen und über die Methode der Behandlung ins reine zu kommen 2 4 . Das gilt nicht für GUNKEL, der seiner Zeit in diesen Dingen weit voraus war. Aber Folgen hatte der Babel-Bibel-Streit auch für ihn. Sie lagen nicht auf wissenschaftlichem, sondern auf persönlichem Gebiet und sollten sich in den Jahren 1905 3Gen L X V . " 3Gen L X X X V . 14

10*

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Genesis

oder Absicht eines Autors erklären, sondern aus dem verschiedenen Weg in der mündlichen Tradition. Damit ist der Weg frei für eine Rekonstruktion der frühisraelitischen Religion und Sittlichkeit. G U N K E L sieht zu seinem eigenen Erstaunen, daß er hierbei über die WELLHAUSENSchule zurück zu konservativeren Ergebnissen gelangt. Natürlich, denn wenn alles Polytheistische in den Sagen der Genesis für stehengebliebene Rudimente aus ihrer vorisraelitischen Gestalt erklärt werden kann, erstrahlt auch die Frühzeit der Religion Israels in einem reineren Licht als bei W E L L H A U S E N . Natürlich, denn die mündliche Tradition der Sagen verlangt, daß viele Gedanken sehr viel älter sind, als die literarkritische Schule meinte, für die das Alter der Idee identisch war mit der Zeit, in der der Schriftsteller schrieb. So beobachtet G U N K E L von Anfang an in Israel eine „monotheistische Tendenz" mit bereits „universalistischen Gedanken", wie sie in der Sintfluterzählung und in der Turmbaugeschichte sichtbar werden 22 . „Daneben aber waren auch die niederen Gedanken früherer Religionsstufen noch nicht ganz vergessen... Die Genesis aber zeigt uns, wie die höheren Ideen mit den niederen Stoffen gekämpft und sie schrittweise umgebildet haben." 2 3 Besonders die Geschichte der Theophanieerzählungen von der naiven Erzählung der Erscheinung der Gottheit auf der Erde über die Traumoffenbarung bis hin zu den Sagen, „in denen die Gottheit nicht mehr an einer bestimmten Stelle der Geschichte erscheint, sondern in denen sie als letzter verborgener Hintergrund des Ganzen waltet", zeigt die Entwicklung von der krassen Mythologie zum „modern anmutenden Vorsehungsglauben" 24 . Auch der später besonders bei den Propheten greifbare Individualismus ist bereits in einer Vorform zu finden25. Hand in Hand mit der religiösen Entwicklung geht eine Verfeinerung des sittlichen Urteils, was sich daran zeigt, daß manches Anstößige an den Vätergestalten im Laufe der Zeit getilgt oder anderweitig erträglich gemacht wird 2 6 . Als überaus wichtiges Ergebnis dieser gattungsgeschichtlichen Untersuchung wird hier demnach dies festzustellen sein, daß G U N K E L auch dem ältesten Israel einen Abwehrkampf gegen fremdländische Vorstellungen aller Art zuschreibt und damit diesem Volk von Anfang an im Verhältnis zu seinen Nachbarvölkern theologisch ein Sonderstatus zugeschrieben wird. Jedenfalls scheint mir hier — auch wenn die Anhaltspunkte noch so dürftig sind — bei ihm eine Tendenz greifbar zu werden, die, von „Schöpfung und Chaos" bis zur „Genesis", dadurch gekennzeichnet ist, daß Israel zunehmend stärker von seiner Umwelt abgehoben wird. 22 3Gen LXVIII. " 3Gen LXIX. 28 3Gen LXXIII f.

23 25

3Gen LXVIII. 3Gen LXXI.

Die Quellenschriften

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8. Die Quellenschriften der Genesis Die Frage nach den Quellenschriften, ihren Verfassern und ihrer örtlichen wie zeitlichen Ansetzung ist die Hauptkampfbahn der traditionellen Pentateuchexegese. G U N K E L hat die Akzente nach vorne verlagert, und ein Mann wie G I E S E B R E C H T hat diese Verlagerung als so erheblich empfunden, daß er sich darüber wundert, daß dieser für die literarkritische Seite der Sache überhaupt ein Augenmerk h a b e A b e r wer etwa heute audi noch meinen sollte, G U N K E L habe die Frage der Quellenscheidung für unwichtig oder gar erledigt gehalten und er hätte auf diesem Gebiet keine eigenen Forschungen getrieben, der muß sich schnell eines Besseren belehren lassen, Freilich, audi innerhalb der literarkritischen Erörterung haben sich nun infolge der neuen Einsichten die Akzente verschoben. Die Beobachtungen über die Vorgeschichte der Sagen der Genesis in der mündlidien Tradition konnte nicht ohne Einfluß bleiben audi auf die Vorstellungen über die Art ihrer Schriftwerdung. In der Rückschau aus dem Jahre 1934 ist es deshalb H E R M A N N G U N K E L , den P A U L H U M B E R T für den „Sturz der Vierquellentheorie" verantwortlich madit 2 . Es ist G U N K E L S geringstes Verdienst nicht, die Frage nach den Quellen J , Ε und Ρ erheblich erschwert zu haben 3 . Für die Ära W E L L H A U S E N waren die Verfasser der Quellenschriften Autoren im modernen Sinne des Wortes, die zu einer bestimmten, durch ein Lebensalter scharf umrissenen Zeit irgendwann einmal ihr Buch zu Papier gebracht haben. Auf Grund sprachlidier und inhaltlidier Kriterien, wobei für letzteres das Verhältnis der Quellenschriften zu den israelitischen Propheten eine entscheidende Rolle spielt, sucht man eine chronologische Ansetzung zu gewinnen. Der springende Punkt liegt für G U N K E L nun darin, daß er sich von der gängigen These der hinter den Quellenschriften stehenden Schriftstellerpersönlichkeiten nicht überzeugen kann. Er stößt auf bestimmte Fakten, die er mit der Annahme, hier habe der Geist eines Autors geschaffen, nicht erklären kann. So fehlt den Quellenschriften ein doch vorauszusetzender „einheitlicher Charakter", vielmehr enthalten sie „verschiedenartigen Stoff . . . : J umfaßt Einzelsagen . . . und Sagenkränze . . . , 1 F. GIESEBRECHT hatte wohl nicht genau gelesen und in seiner Rezension geschrieben, D L Z 1904, 1863: „ G . behauptet ja, epochemachend zu sein in der Nachweisung neuer mündlicher Ueberlieferungen. Das ist die neue Methode, welche an Stelle der mechanischen, äußerlich verfahrenden Quellenabteilung des Sagenmaterials zu treten hat. Danach sollte man erwarten, daß er selbst sich neuer Quellenhypothesen enthielte. Aber weit gefehlt." 2 P. HUMBERT, Die neuere Genesis-Forschung, T h R N F 6, 1934, 208. 3 G a n z unabhängig von seiner neuen Einsicht gibt er zu bedenken, daß man bei der chronologischen Ansetzung der Quellen aus einem „Zirkel" nicht herauskomme: innere Entscheidungsgründe sind von der vorherigen zeitlichen Ansetzung der Quellen abhängig und umgekehrt. 3Gen X C , vgl. I G e n L X I I .

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knappe . . . und ausgeführte . . . Geschichten, Derbes und Z a r t e s . . religiös und sittlich U r a l t e s . . . und Junges ..Geschichten von lebhaften, altertümlichen Farben und ganz abgeblaßte; nicht viel anders Ε . . . Diese Mannigfaltigkeit zeigt, daß die Sagen des Ε und noch mehr des J nicht den Charakter einer bestimmten einzelnen Zeit, geschweige denn einer Einzelpersönlichkeit tragen." 4 Erschwert wird das Problem noch dadurch, daß die Varianten bei J und Ε durchaus nicht so beschaffen sind, daß der eine immer die ältere Form bewahrt hätte und der andere die jüngere, vielmehr gehen die Dinge durcheinander, und man kann nur im Blick auf das Ganze sagen, daß Ε die jüngere Form bewahrt habe 5 . Als Erklärung für diesen Tatbestand legt sich G U N K E L nun natürlich die Annahme nahe, die er denn audi mit Emphase vertritt, die Verfasser der Quellenschriften seien eben nicht Schriftsteller, die aus ihrer Phantasie unter eventueller Zuhilfenahme mündlicher Überlieferungen aus dem Volk geschaffen hätten, sondern sie seien als Sammler anzusprechen; als Sammler, deren vornehmste Charaktereigenschaft die „Treue" gegenüber der überkommenen mündlichen Uberlieferung war 6 . Genau genommen handelt es sich aber nicht nur um einzelne Sammler, sondern um einen ganzen Sammlungsprozeß, der weit in die mündliche Uberlieferung zurückreicht und mit der ersten schriftlichen Fixierung noch längst nicht abgeschlossen ist 7 . Wie weit dabei die Hauptgruppen bereits in der mündlichen Tradition bestanden haben, läßt sich naturgemäß nicht ausmachen. G U N K E L neigt aber zu der Annahme, daß Urgeschichte, Vätersage und Josephsgeschichte erst das „Werk der schriftlichen Sammlungen" gewesen sind 8 . Als Begründung für die beginnende schriftliche Aufzeichnung der Sagen genügt ihm die wenig überzeugende Annahme vom Aussterben der Zunft der Sagenerzähler ·. 4

3Gen L X X X I I f., IGen LVI. Dies schließt natürlich auch eine Abhängigkeit der einen Quelle, etwa Ε von J, wie sie E. MEYER, Israeliten, dann behauptete, aus. 3Gen L X X X I I I , IGen LVII. „Wenn beide Quellen manchmal auch im Wortlaut übereinstimmen, so ist das aus wurzelverwandter Oberlieferung zu erklären." Ebenda. 8 3Gen L X X X V , IGen LVIII. 7 3Gen L X X X V : „Für das ganze Bild der Geschichte der Sammlung aber ist die wichtigste Beobachtung diejenige, die diesen Erörterungen vorangestellt ist: der ganze Prozeß hat schon in mündlicher Überlieferung begonnen. Die ersten Hände, welche Sagen aufgeschrieben haben, mögen solche schon zusammengehörige Geschichten aufgezeichnet haben; andere haben neue Sagen hinzugefügt; so ist der ganze Stoff nach und nach angeschwollen. U n d so sind neben anderen auch unsere Sammlungen J und Ε entstanden." 5

8 Diese Vermutung erst in 3Gen L X X X . ' 3Gen L X X X . Der darauf folgende Satz lautet: „Die schriftliche Fixierung wird dann ihrerseits mit dazu beigetragen haben, die noch vorhandenen Reste mündlicher Überlieferung zu töten; so wie das schriftliche Gesetz die Institution der Priestertora, und wie der neutestamentlidie Kanon die urchristlichen Geistesträger getötet hat." Man wird KOCH kaum widersprechen können, wenn er daraus eine „anti-literarische Einstellung" bei GUNKEL herausliest und sie auf den „Einfluß der deutschen Romantik und ihre Betonung des Volksmäßigen" zurückführt. Formgeschichte 69.

Die Quellenschriften

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Was die Dreiquellentheorie — das Deuteronomium steht außerhalb der Diskussion — anlangt, so steht G U N K E L ganz auf den Schultern WELLHAUSENS, der die eineinhalbjahrhundertjährige Forschung auf diesem Gebiet dadurch krönte — um mit GUNKELS Worten zu sprechen —, d a ß er „die Quellen der Genesis chronologisch zu bestimmen und in den Gesamtverlauf der Religionsgeschichte Israels einzusetzen" suchte 10 . Im einzelnen war die Diskussion über die Pentateuchquellen aber noch längst nicht zur Ruhe gekommen. Namentlich seit der „Urgeschichte" von 11 12 K A R L BUDDE 1883 , galt es als allgemein anerkannt , d a ß die jahwistische Quelle in sich nicht einheitlich ist. BUDDE hatte den Jahwisten in J 1 und J 2 zerlegt, von denen die eine Quelle die Sintfluterzählung nicht kannte, während die andere sie bot. B E R N H A R D STADE hatte in einem Aufsatz die Analyse f ü r die Urgeschichte noch weiter fortgeführt 1 3 , und R I C H A R D KRAETZSCHMAR hatte dasselbe f ü r den Komplex Gen 1 8 - 1 9 versucht 14 . G U N K E L k n ü p f t e an diese Arbeiten an und versuchte nun seinerseits, die Quelle J über die ganze Genesis hinweg auf verschiedene Fäden aufzuteilen. Dabei ergab sich ihm, d a ß J in der Urgeschichte aus drei Quellen besteht, von denen zwei parallele und voneinander unabhängige 15 Fäden darstellen; aus einer dritten Quelle ist die Kainssage eingestellt, die ursprünglich nicht in der Urzeit gespielt habe 1 β . Drei „ H ä n de" erkennt G U N K E L ebenfalls in den Abrahamserzählungen: „in einen Sagenkranz, der Abrahams und Lots Schicksale behandelte, sind, wohl aus einem anderen Sagenbuche, andere Stücke . . . eingesetzt worden; eine dritte H a n d hat einzelnes, wie Abrahams Fürbitte f ü r Sodom, hinzugefügt" 11. Bei der Unterscheidung der einzelnen H ä n d e in der Jakobsgeschichte kapituliert er, stellt sich aber das Zustandekommen dieses Sagenkranzes so vor, daß in den Sagenkranz von Jakob, Esau und Laban zuerst einige Kultussagen eingestellt wurden, danach Sagen der Söhne Jakobs. Noch schwieriger stellt sich die Analyse bei der Josephsgeschichte dar, w o sich nur sagen läßt, d a ß auch hier verschiedene H ä n d e am Werk waren. „Aus dieser Übersicht ergibt sich, d a ß J weder selber ein einheitliches Werk ist, noch auf ältere, in sich völlig einheitliche Werke 10 11

3Gen L X X X I , fehlt noch in IGen. K. BUDDE, Die biblische Urgeschichte (Gen. 1—12,5) untersucht, 1883.

12

V g l . BERTHOLET i n R G G 1 I V , 5 2 7 f .

13

B. STADE, Beiträge zur Pentateuchkritik, Z A W 14, 1894, 250—318. Z A W 15, 1895, 157—178. 14 R. KRAETZSCHMAR, Der Mythus von Sodoms Ende, Z A W 17, 1897, 81—92. 15 Das ist neu gegenüber BUDDE, bei dem J 2 eine erweiterte Umarbeitung von J 1 war. GUNKEL nennt die Quelle, die die Gottesbezeichnung Elohim gebraucht, Je; die Quelle, die Jahve sagt, nennt er Jj, die dritte Quelle heißt J*. " 3Gen L X X X I V , vgl. 2 f. 17 3Gen L X X X I V , IGen LVII. GUNKEL nennt die drei Schichten hier J», J·», Je. Zur Kennzeichnung der verschiedenen Quellen innerhalb der Genesis benutzt er sieben verschiedene Sdirifttypen, drei für die verschiedenen Schiditen von J, je eine für Ε, P, Gen 14 (das er keiner Quelle zurechnen kann) und Redaktionelles.

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zurückgeht, sondern durch Zusammenarbeiten mehrerer, ja vieler Hände zusammengekommen ist." 18 Einfacher liegen die Dinge für G U N K E L beim Elohisten, wo aber audi der jetzige Ort der Ismaelsage und die verschiedene Ableitung Beersebas, einmal von Abraham, einmal von Isaak, auf verschiedene Stufen der schriftlichen Fixierung hindeuten. Die Quellenschrift Ρ schließlich, aus einem ganz anderen Zeitalter stammend, ist teils mit J, teils mit Ε verwandt und bringt darüber hinaus eine Reihe von Sonderüberlieferungen. Daraus schließt er, was auch für die neutestamentlichen Evangelien gelte, daß die uns in der Genesis überkommenen Erzählungen nur die Reste einer ursprünglich viel reicheren Literatur sind 1β . Wenn G U N K E L es audi ablehnt, eine Charakteristik der Personen der Quellenschriftsteller zu geben, wie es dann wieder L U T H E R 2 0 und P R O C K S C H 2 1 versuchten, so verzichtet er doch nicht auf jede Charakterisierung wenigstens der Quellen. Die Treue der Sammler gegenüber ihrer Uberlieferung war nicht sklavisch. „Sie haben die Sagen durch ihren Geist hindurchgehen lassen." 22 So geht die „Vergeistlichung" der Sagenstoffe auf sie, die er nicht für Einzelschriftsteller, aber auch nicht für simple „Redaktoren", sondern für „Erzählerschulen" hält 23 , zurück. Ein Vergleich mit den Überlieferungen anderer antiker Völker zeigt „ihre hohe religiöse und sittliche Überlegenheit" 24 . In diesem Zusammenhang stößt G U N K E L auch auf das Problem der redaktionsgeschichtlichen Fragestellung, insofern als er es als notwendig empfindet, die Grundtendenz auch der Sagenbücher zu erfassen, die er also als gegeben voraussetzt. So möchte er als das Thema der Sagenbücher im Anschluß an eine Formulierung WILDEBOERS „die Erwählung Israels zum Volke Jahves" angeben 25 . Für die Urgeschichte meint er, daß der letzte Sammler des J für die Anordnung der einzelnen Sagen eine chronologische Reihenfolge beabsichtigte, „im folgenden mag ihm der Gedanke vorgeschwebt haben, das allmähliche furchtbare Zunehmen 18 3Gen L X X X I V , IGen LVIII. Die Angriffe EERDMANS' gegen die Quellentheorie in Alttestamentliche Studien, I Die Komposition der Genesis, 1908, vermochten GUNKEL an keiner Stelle zu überzeugen, vgl. 3Gen L X X X I A . l , EERDMANS beginnt mit einer Fanfare, S. III: „In dieser Abhandlung . . . sage ich mich los von der kritischen Schule Graf-Kuenen-Wellhausen und bestreite ich die . . . Urkundenhypothese überhaupt." 18 3Gen L X X X I V . 20

B . L U T H E R b e i M E Y E R , I s r a e l i t e n 1 0 8 ff.

21 OTTO PROCKSCH, Das nordhebräische Sagenbuch. Die Elohimquelle, 1906, 207 ff. und 289 ff. PROCKSCH gerät dabei deshalb in große Schwierigkeiten, weil er, GUNKELS Erkenntnis aufnehmend, davon ausgeht, daß Ε „keine freie Schöpfung des Erzählers" ist und deshalb „die Gestaltungskraft des nordhebräischen Erzählers nicht allzu weit von der volkstümlichen" ansiedeln darf. Ebenda 207. Vgl. audi HOLZINGER, Einleitung in den Hexateuch, 1893, l l O f f . und 191 ff. 22 23 3Gen L X X X V . 3Gen L X X X V , IGen LVIII. 24 3Gen L X X X V . Dieser Hinweis fehlt noch in IGen. 25 3Gen L X X X , IGen LVI.

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des Verderbens in der Menschheit . . . zu veranschaulichen" 2e . Auch dem „Grundgedanken der Abrahamerzählungen" des jahvistischen Buches sucht er auf die Spur zu kommen. Er findet ihn in Jahves „Gnade und Weisheit, die sich den Stammvater erwählt, ihn durchs Leben geleitet, beschirmt und segnet . . . So war der Urahnherr Israels — das will das Buch sagen . . . " 2 7 Was die lokale Ansetzung von J und Ε anlangt, so geht G U N K E L in traditionellen Bahnen. J meint er trotz des Widerspruchs von L U T H E R 2 8 doch eher in Juda suchen zu dürfen, Ε dagegen in Nordisrael 2 9 . Schwieriger gestaltet sich für ihn natürlich die chronologische Frage. „Wir, nach deren Auffassung es sich hier um allmähliche Niederschrift alter Überlieferungen handelt, haben diese Frage in eine Reihe von Unterfragen aufzulösen: wann sind diese Sagen entstanden? wann sind sie in Israel bekannt geworden? wann sind sie niedergeschrieben worden? Wir haben hier also nicht die Aufgabe, eine bestimmte Jahreszahl zu nennen, sondern wir sollen einen langen Prozeß chronologisch ansetzen." 3 0 Er denkt sich die Gesamtentwicklung so, daß um 1200 die Vätersagenbildung abgeschlossen ist — die sogenannte Richterzeit bringt keine Ahnherrnsagen mehr hervor, sondern Geschichten von Führern der Stämme 3 1 — und daß mit beginnender Königszeit der Prozeß der Umformung beginnt. Da außer einer Anspielung auf Edoms Abfall, die aber deutlich Zusatz ist, nichts in den Sagen auf eine spätere Zeit hinweist, hält G U N K E L das Jahr 900 für das Datum, da die Sagen der Genesis in der jetzigen Form vorgelegen haben 8 2 . Aber nur, was „den Hergang der Erzählung betrifft", die „religiösen und sittlichen Änderungen", also die „Vergeistlichung", ist erst nach dieser Zeit erfolgt. „Dieser Zeitraum geht in die Epoche der Sagensammlung über und wird durch sie beschlossen." 33 Man muß hier zur Kenntnis nehmen, daß G U N K E L das eigentlich Wertvolle an den israelitischen Sagen, ihre Ausstattung mit den Gedanken einer höheren Religion, mit der Sammlung der Sagen und damit auch mit den Sammlern in Verbindung bringt. Offenbar stellt er es sich so vor, daß die letzten Erzähler aus einem nicht mehr erkennbaren Grund selbst dazu übergegangen sind, die Sagen zu sammeln und niederzuschreiben. Auf keinen Fall sind diese Sammler, das sei noch einmal betont, mit den späteren Redaktoren gleichzusetzen. M

3Gen 1, IGen 1.

28

LUTHER bei MEYER, Israeliten

29

3Gen L X X X V I I ,

27

3Gen 162. Vgl. für die Jakobserzählung 3Gen 293.

158.

IGen L X . Zwischen 1. und 3. Aufl. der Genesis entschieden

sich d a r i n n o c h w i e G U N K E L : PROCKSCH, E . M E Y E R , C A R P E N T E R , C O R N I L L ,

KAUTZSCH;

vgl. 3Gen L X X X V I I A.3. 3 0 3Gen L X X X V I I I , IGen L X I . 3 1 Das ist ein Hinweis darauf, daß Gattungen ihre Zeit haben, da sie entstehen und florieren. Ändern sich die Verhältnisse, sterben sie aus, und neue entstehen. Hier liegt der Zusammenhang von Literaturgeschichte und allgemeiner Geschichte. 3 2 3Gen L X X X I X , IGen L X I . 3 3 3Gen X C , IGen L X I I .

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Für die zeitliche Ansetzung der letzten Sammlungen J und Ε

(GUNKEL)

b z w . der Quellenschriftsteller J u n d Ε (WELLHAUSENschule) h a t nun

das Verhältnis der Quellenschriften zur israelitischen Schriftprophetie eine ausschlaggebende Rolle gespielt. So hatte noch jüngst H O L Z I N G E R konstatiert: „Doch zeigt J audi dabei den Einfluß der prophetischen Anschauungen darin, daß ausgesprochen Heidnisches im alten volkstümlichen Kult aus der Erzählung stillschweigend entfernt ist." 34 Für die Ansetzung von J will er deshalb die Zeit bis 700 offenhalten 35 . W E L L HAUSEN selbst hatte über die dem Jehovisten ( = redaktionelle Vereinigung von J und E) zugrundeliegenden Quellen J und Ε geurteilt: „Nachweisbar ist zuerst die Einwirkung jenes spezifischen Prophetismus, den wir von Arnos ab verfolgen können." 30 Für Ε sieht H O L Z I N G E R das Jahr 750 als obere Grenze an. G U N K E L kehrt nun, wie so häufig, den Spieß um und argumentiert: Daß sich in den Quellen J und Ε Prophetisches findet, sollte zu der Schlußfolgerung Anlaß geben, daß „die Gedanken der Propheten in manchem schon lange vor Arnos umgingen" 37 . Hier zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen einer literarkritischen und einer überlieferungsgeschichtlichen Argumentation. Im übrigen fehle bei J und Ε aber gerade das spezifisch Prophetische wie die Weissagung vom Untergang Israels und der Kampf gegen die fremden Götter und die Kultstätten 38 . Deshalb plädiert er für die vorprophetische Entstehung der Sagensammlungen J und E, wobei er J in das 9. Jahrhundert und Ε in die erste Hälfte des 8. Jahrhunderts verlegt, „doch ist zu betonen, daß solche Zahlen immer sehr unsicher bleiben" 39 . Die Vereinigung der beiden Quellen geschah vor Hinzutreten der späten Quelle P , und G U N K E L nennt dieses so entstandene Werk im Anschluß an WELLHAUSEN den „Jehovisten". Ebenfalls im Anschluß an ihn werden die auf diesen Redaktor zurückzuführenden sekundären Stücke bestimmt. Daß hier und da „deuteronomistischer Sprachgebrauch" festzustellen ist, hatte ebenfalls schon WELLHAUSEN entdeckt 40 . 34

35

HOLZINGER, G e n e s i s 1 8 9 8 , X V I I .

Ebenda X V I I I . Für WELLHAUSEN gehört J in die „goldene Periode" der hebräischen Literatur, STRACK in RE 3 X V , 1904, 120. 38 WELLHAUSEN, Prolegomena, 6. Aufl. 1927, 359. Die Bezeichnung Abrahams als N a b i (Gen 20,7) ist ein zusätzliches und seit WELLHAUSEN stets wiederholtes Argument. GUNKEL, 3Gen X C , kontert es mit dem Hinweis, daß auch Mose bei Hosea (12,14) N a b i genannt wird, der Stand der Nebiim aber schon lange vor Arnos geblüht hat. Ε lebt in einer Zeit, da Gottesmann und Prophet noch dasselbe waren. 37 3Gen X C I , IGen LXIII: „ja wir müssen sie annehmen, um das Auftreten der ,Propheten' verstehen zu können." Nidit erst VON RAD, sondern GUNKEL stellt demnach die Propheten bereits in vorgegebene Traditionen hinein, vgl. freilich unten S. 184 A. 25; dazu wieder S.214 A . 2 0 . 38 „Gerade dies Eigentümliche der .Propheten' findet sich in den Sagen von J und Ε nicht." 3Gen X C I , IGen LXIII. 39 40 3Gen X C I , IGen LXIV. 3Gen X C I I , vgl. 202; IGen L X I V und 184.

Die Quellenschriften

155

Bei der Priesterschrift, der dritten und letzten Quellenschrift in der Genesis, hat auch GUNKEL es mit einem „richtigen Schriftsteller" zu tun 4 1 . Hier fragt er nun auch nicht in erster Linie nach dem ursprünglichen Sinn der Einzelüberlieferungen, sondern zunächst nach dem Geist und dem Anliegen dieses einen Mannes, der gleichwohl die Gedanken eines großen Kreises, der Jerusalemer Priesterschaft, ausspricht. Man mag daran ermessen, wie treu er seinen methodischen Grundsätzen folgt, dort nach der umgreifenden Komposition zu fragen, wo sie die entscheidende Gestaltungskomponente ist, und dort nach der Einzelüberlieferung, wo die Komposition nur locker ist. In Einzelheiten geht GUNKEL nicht über WELLHAUSEN hinaus, in der Gesamtbeurteilung von Ρ erst recht nicht. Wie WELLHAUSEN ist audi er ganz erfüllt von der Abneigung gegen die israelitische Theokratie, die sich in diesem Werk ausspricht. Er gibt zwar zu, daß die Gottesvorstellung der Priesterschaft bei weitem höher entwickelt ist als in den Sagen von J und E. „In Gen 1 vermögen wir den Gott, an den wir glauben, wiederzufinden", hatte GUNKEL bereits in „Schöpfung und C h a o s " erklärt 4 2 . Aber im Blick auf die gesamte hinter dieser Pentateuchquelle stehende Geisteshaltung wird er dieses Urteils nicht so recht froh: Ρ ist nur an den objektiven Gehalten der Religion interessiert, hier handelt es sich um eine „Orthodoxie" 4 3 . Höher aber als alle objektiven Daten einer Religion steht ihm die subjektive Seite, die persönliche Frömmigkeit. Es ist auch GUNKELS Geist, wenn HUGO GRESSMANN in den Jubelruf ausbricht über „unsere in jeder Beziehung dogmenfreie Z e i t " 4 4 . Von Frömmigkeit haben aber die alten Sagen bei J und Ε im Unterschied zu Ρ noch gewußt 4 3 . So gewinnt man denn den Eindruck, GUNKEL bedaure den Lauf der Geschichte, der ihn zwingt, von den Alten Abschied zu nehmen und sich den so viel höher entwickelten Jungen zuzuwenden. Aber wo die Geschichte gesprochen hat, da müssen Gefühle zurückstehen, und so ringt sich GUNKEL als korrekter Theologe zu einer Anerkennung dieser Entwicklung durch: „Uberblicken wir zum Schluß die ganze Geschichte, die in diesem Buche niedergelegt ist, so erkennen wir, daß es fast ein Kompendium der ganzen Religionsgeschichte Israels genannt werden kann . . . D e m frommen Betrachter aber, der an diesem Schlußpunkt angekommen ist, wird man es nicht verwehren können, wenn er diese Einheit in der Mannigfaltigkeit der Religionsgeschichte Israels als das Walten Gottes erkennt, der damals zu Kindern kindlich sprach und dann zu Männern männlich." 4 ® 3Gen X C V I I , IGen L X V I I . S u C 118, vgl. dazu 3Gen 116 ff., I G e n 107 ff. « 3Gen X C V I , fehlt in I G e n . 4 4 H . GRESSMANN, A . Eichhorn 30. 4 5 3Gen X C V I : „. . . die zwar die, Kirchlichkeit' von Jerusalem nodi nicht kannten, die aber wußten, was Frömmigkeit ist." I G e n L X V I I I . « 3Gen C , 2Gen L X X X I X , fehlt in I G e n . 41 42

156

Genesis

9. Das Problem von Einzelerzählung und Komposition theologische Beurteilung der Genesissagen

und die

Der Genesiskommentar erschien 1917 in 4. und 1922 in 5. jeweils unveränderter Auflage, audi für die 2. Auflage seiner Genesis in SAT 1921 konnte G U N K E L keine neue Überarbeitung vornehmen. Daß er selbst aber durchaus der Meinung war, seine Genesis sei noch nicht so, wie er sie in letzter Gestalt gerne der Wissenschaft hinterlassen wollte, ist oben bereits festgestellt worden 1 . In zwei Aufsätzen hat er dann wenigstens andeuten können, was ihm noch vorschwebte. Die Aufsätze handeln über die Jakobs- und über die Josephsgeschichte2. Der Haupttenor dieser Aufsätze entspricht nicht der Überschrift dieses Abschnitts, führt aber zu ihm hin. Es geht G U N K E L dort nämlich um eine letzte Begründung für seine Abwendung von der stammesgeschichtlichen Deutung der Sagen 3 , die ihm offenbar schwerer gefallen ist, als es nach dem Kommentar den Anschein hat. Erst jetzt, also im Jahre 1919, erklärt er ohne Umschweife, die stammesgeschichtliche Deutung stamme aus dem Rationalismus und sei veraltet 4 . Solange er sich aber über das Verhältnis von Historischem und Märchenhaftem in diesen Sagen nicht restlos klar war, stand seine Position auf schwachen Füßen. Deshalb hatte er „in dem letzten Jahrzehnt unablässig daran ( = an der Josephsgeschichte) gearbeitet", nun ist er „zu besseren Ergebnissen und im ganzen zu einem einfacheren und klareren Gesamtbilde gekommen" 5 . Bei diesen Untersuchungen kommt es zu Ausführungen, die wir heute in das Gebiet der Redaktionsgeschichte verweisen würden, was um so interessanter ist, als kein Geringerer als G E R H A R D VON R A D G U N K E L eine „hermeneutische Vernachlässigung der Komposition" zum Vorwurf gemacht 6 u n d d a m i t d a s heutige GuNKELbild entscheidend geprägt hat. D a s F o l -

gende ist darum zugleich auch eine Uberprüfung des VON RADSchen Urteils. Zwar erklärt G U N K E L auch hier unüberhörbar: „Die grundlegende Einheit bildet . . . die Einzelerzählung, die fast überall auch noch deutlich erkennbar ist." 7 Aber dieser Satz widerspricht völlig dem Tenor seiner eigenen Ausführungen. Mir scheint, diese Parteinahme für die Einzelerzählung ist ein Relikt aus der Kampfzeit gegen die literarkritische Schule, gegenüber der er mit Leidenschaft die ursprüngliche S. oben S. 134. J a k o b , Preuß. Jahrb. 176, 1919, 339—362, im folgenden abgekürzt mit: J a k o b . Die Komposition der Joseph-Geschichten, Z D M G 76, 1922, 55—71, im folgenden abgekürzt mit: Joseph. 3 Die stammesgesdiichtlidie Deutung war am konsequentesten durchgeführt worden von C . STEUERNAGEL, Die Einwanderung der israelitischen Stämme in K a n a a n , 1901. 5 Joseph 55. * J a k o b 341. 8 G. v. RAD, D a s hermeneutische Problem im Buche Genesis, V u F 1942/46, 44. 7 Joseph 71. 1

2

Einzelerzählung und Komposition

157

Selbständigkeit der Einzelsagen hervorgehoben hatte. Aber an diesem Nagel hingen auch schwere Gewichte: die ganze Gattungsforschung, die Vorstellungen über die mündliche Tradition und die Bildung von Sagenkränzen, auch die Entdeckung vom Sitz im Leben mit den von Ort zu Ort wandernden Erzählern standen auf dem Spiel, wenn die WELLHAUSENschule recht behalten sollte mit ihrer Vorstellung über die schriftstellernde Einzelpersönlichkeit der Quellenschriften. Wenn GUNKEL jetzt noch, nach gewonnenem K a m p f gewissermaßen 8 , so stark und entschieden für die Einzelsage plädiert, dann kann er damit nicht ein prinzipielles hermeneutisches Urteil fällen wollen. D a n n kann dieser Satz nur so verstanden werden: auch dort, wo es zu größeren organischen Literaturwerken gekommen ist, ist weithin die Einzelerzählung die Keimzelle gewesen, sie steht am A n f a n g der Entwicklung. Will man GUNKEL anders verstehen, so muß man ihm unterstellen, er habe auch das Buch Ruth, das Buch Jona, Esther, Judith und Tobia nur im Blick auf die darin zusammengeschmolzenen Einzelerzählungen würdigen wollen, denn mit diesen Literaturwerken vergleicht er die Josephserzählung literaturgeschichtlich 9 . D a s Büchlein Ruth aber hat er nachweislich 10 vornehmlidi nur auf seine jetzige Komposition hin untersucht 11 . Er spricht von d e m Erzähler, fragt nach der Gattung des g a n z e n Buches und nach der religiösen Haltung des Autors. N u r kurz deutet er an, daß es eine Motivverwandtschaft zwischen dem Buch Ruth und der Tamargeschichte der Genesis und einer ägyptischen Erzählung gebe. Aber nach Einzelerzählungen zu fragen, die ursprünglich selbständig gewesen sind, unterläßt er hier ganz. Die grundlegende Einheit ist die umfangreiche Komposition des Erzählers. Nicht anders ist es bei dem Buch Esther 1 2 . In diesem Buch ist es ihm nur um das Verständnis des jetzt so vorliegenden Werkes zu tun, dessen Gattung er bestimmt und nach dessen Gesamtintention er f r a g t 1 3 . Auch hier ist das Werk des „Erzählers" die maßgebliche literarische Einheit, obwohl man hier wie sonst nach ursprünglichen Einzelerzählungen forschen könnte. Zu dieser Fragestellung nach Komposition und Sinn einer größeren literarischen Einheit ist GUNKEL schließlich auch, zwar nicht für J oder 8 Der V o r t r a g von RUDOLF KITTEL, D i e Zukunft der alttestamentlichen Wissenschaft, Z A W 39, 1921, 84—99 ist auf weite Strecken eine Rezeption des gesamten

GuNKELsdien

religions- und

literaturgeschichtlichen

Programms.

GUNKEL w a r

nur

des-

halb ungehalten über die Darlegungen KITTELS, weil dieser die Dinge so darstellte, als habe die zweite Generation der WELLHAusENschule stets so gedacht wie KITTEL jetzt und weil KITTEL das Verdienst um einen Neueinsatz, das der Religionsgeschichtlichen Schule z u k o m m t , verschwieg. 9 J o s e p h 71. 1 0 Ruth, D R 3 2 , 1 9 0 5 , 50—69, auch R u A 65—92. 1 1 U n d das, obwohl er doch nur das Buch H i o b als ein „ v ö l l i g selbständiges K u n s t w e r k " ansieht, das aber audi wiederum eine alte Volkserzählung aufgenommen hat. Literatur 4 und 41 f. 1 3 E b e n d a 76 f. " Esther, R V 11/19.20. 1916.

158

Genesis

Ε, wohl aber für die Josephsgeschichte vorgedrungen. Und zwar verstärkte sich der Eindruck von der Notwendigkeit dieser doch ganz gewiß im Vorfeld der Redaktionsgeschichte sich befindenden Fragestellung, als er einen besseren Einblick in die Entstehungsgeschichte der Josephsgeschichte bekam. War er in IGen noch ganz von der Vorstellung eingenommen, daß nach dem Vorgang bei den anderen Sagen der Genesis auch dieser, wenn audi durch besonders straffe Komposition ausgezeichnete Sagenkranz aus ursprünglichen Einzelsagen bestehen „muß" 1 4 , weshalb er denn auch stets im Plural von den „Josephgeschichten" spricht, so stellt sich ihm die Josephsgeschichte jetzt ganz anders dar, was ihr Endstadium und ihre Geschichte betrifft. Er sieht nun die Josephsgeschichte — die 3. Auflage der Genesis ist deutlich ein Zwischenstadium — „wesentlich aus zwei Stoffmassen durch einen bedeutenden Künstler zusammengeschlossen" 15 , wobei der Grundstock von den eigentlichen Joseph-Erzählungen mit dem Thema „Joseph und seine Brüder" gebildet wird 1 6 . Die ägyptischen Abenteuer entstammen eigener Uberlieferung, sind „aber später auf Joseph übertragen und in die künstlerische Komposition des Ganzen eingeschmolzen worden . . . , so daß die Joseph-Geschichte in ihrer gegenwärtigen Gestalt sie nicht entbehren kann" 1 7 . Erst jetzt bekommt die Formulierung aus IGen, die Josephsgeschichte sei eigentlich gar kein Sagenkranz, sondern vielmehr eine „Novelle", ihr rechtes Gesicht 18 . Die vorisraelitische Form der Josephsgeschichte ist — wovon GUNKEL nunmehr durch die Vermehrung der Parallelen bei anderen Völkern völlig überzeugt ist — ein Märchen 19 , eine reine Familiengeschichte, die mehrere Erzählungen von Haus aus zusammenfaßte. In Israel wurde diese Familiengeschichte mit geschichtlichen Zügen ausgestattet und auf den Stamm Joseph übertragen in Form einer Geschichte vom Ahnherrn dieses Stammes 2 0 . Demnach unterscheidet er für die Entstehungsgeschichte der Josephsgeschichte vier Stufen: Auf der 1. Stufe ist das WanderI G e n 358. Joseph 69. M a g man dies audi nur als eine überlieferungsgeschichtliche Fragestellung gelten lassen — R . RENDTORFF, Literarkritik und Traditionsgeschichte, E v T h 27, 1967, 142 —, in der Konsequenz zielt das auf Redaktionsgeschichte oder schließt sie mit ein. 16 „Alle diese Erzählungen bilden ihrem Grundstock nach eine fortlaufende Geschichte, eine deutliche Einheit. Die Einzelstücke . . . sind von A n f a n g an nichts als die Teile eines großen G a n z e n . " Joseph 66 f. 1 7 Ebenda 66. 18 I G e n 358. Wohl um v. RADS GuNKELinterpretation zu erklären, spricht W. BAUMGARTNER die Vermutung aus, dieser A u f s a t z GUNKELS über die Josephsgeschichte sei v. RAD wohl unbekannt geblieben. Bibel und Volkskunde, in: Zum Alten Testament und seiner Umwelt, 1959, 367 A.3. 1 9 Im Zuge der Entwicklung dieser Anschauung liegt es, daß GUNKEL jetzt audi nicht mehr Josephs Zug nach Ägypten, wie noch in 3Gen, als historische Reminiszens, sondern nur noch als reines Märchenmotiv ansehen kann. 2 0 Joseph 67. 14

15

Einzelerzählung und Komposition

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märchen vom Glücksbruder in Israel erzählt worden, das war in der Urzeit Israels. Die Anwendung auf die zwölf Stämme geschah — 2. Stufe —, „da die Träger der Geschichte Israels noch die verschiedenen Stämme waren . . . und da noch der einheitliche Stamm Joseph bestand" 2 1 . Die 3. Stufe mit der großen künstlerisdien Komposition setzt Benjamin als jüngsten Sohn bereits voraus. Die große Komposition liegt den Quellenschriften J und E, die die 4. Stufe bilden, bereits vor. Und da beide Pentateuchquellen voneinander unabhängig sind, „ so ist anzunehmen, daß beide nicht die eigentlichen Former der Uberlieferung gewesen sind" 2 2 . Zum Schluß stellt GUNKEL dieses Ergebnis in einen literaturgeschichtlichen Zusammenhang ein und unterscheidet in Israel generell vier Stufen der Überlieferung von Erzählungen: Einzelerzählungen in der ältesten Zeit 2 3 . Ferner umfangreichere Schöpfungen von künstlerisch begabten Erzählern. Hierher gehören literaturgeschichtlich, wenn auch nicht chronologisch, Bücher wie Ruth, Jona, Esther, Judith und Tobia, ferner die nun als Teile in größeren Zusammenhängen erscheinenden Sagen um Elia und Elisa, Samuel, Absalom und David. Dritte Stufe sind die umfassenden Sammelwerke, wie J und Ε sie darstellen. „Schließlich ist ein großer Teil der gesamten Uberlieferung in unseren geschichtlichen Büchern zusammengekommen." 2 4 Hieraus wird ja nun doch sinnenfällig deutlich, daß GUNKEL die exegetische Arbeit in gar keiner Weise beschränkt wissen wollte auf die kleinsten literarischen Einheiten oder gar nur auf ihre vorisraelitischen U r f o r men. Zumindest hier in seinem Aufsatz über die Josephsgeschichte und nicht anders in dem über Jakob f a ß t er das, was wir heute überlieferungsgeschichtliche Arbeit nennen, ins Auge. Er selbst hat die überlieferungsgeschichtliche Fragestellung so weit vorangetrieben, daß sie ohne Bruch in die Redaktionsgeschichte einmündet. Freilich verabsolutiert er diese letzte Stufe der Uberlieferung nicht, sondern f a ß t sie als ein organisch sich an die voraufgehenden Stufen der Uberlieferung anschließendes Glied. Damit hat GUNKEL einen weiten Weg zurückgelegt. Die Entdeckung stand am Anfang — IGen, aber auch schon in „Schöpfung und Chaos" —, daß der große literarische Komplex der Genesis sich auflösen läßt in einzelne Sagen, die selbständig bestanden haben und deren vorisraelitische Gestalt es auszumachen gilt, weil es diese vorisraelitische Gestalt in vielen Fällen nun einmal gegeben hat. Aber auf dieser Stufe seiner Entwicklung galt sein Hauptaugenmerk immer schon der israelitischen Gestalt der Sagen — worüber gleich noch zu handeln sein wird —, denn diese allein sind ausgestattet mit den Gedanken einer höheren Religion. Die nächste Stufe der Entwicklung bei GUNKEL ist bestimmt durch die Frage, ob die vorisraelitischen Erzählungen Mythen oder Märchen wa« Ebenda 70. » Ebenda 71.

22 24

Ebenda. Ebenda.

160

Genesis

ren, nachdem ihm die stammesgeschichtliche Deutung suspekt geworden war, so von der 2. bis zur 3. Auflage der Genesis. In dem Moment, da er die Theorie vom Märchen als der ältesten menschlichen Erzählform in vollem Umfang zu akzeptieren vermag, richtet sich seine Aufmerksamkeit auf den Werdeprozeß der israelitischen Erzählungen von ihrer vorisraelitischen oder israelitischen Urform bis hin zur Gestaltwerdung der uns jetzt vorliegenden alttestamentlichen „Bücher". Der Weg von der Sagenanalyse bis zur redaktionsgeschichtlichen Betrachtung ist durchschritten. Daß freilich G U N K E L nach dem „Kerygma" des Erzählers 23 nicht in dem eindrücklichen und ausschließlichen Sinne fragte, wie es heute in der von K A R L B A R T H beeinflußten Richtung der alttestamentlichen Forschung üblich ist, hängt mit G U N K E L S geschichtlichem Sinn zusammen. Dieser nämlich erlaubt es ihm nicht, eine bestimmte Stufe — und sei es die letzte — der Überlieferung der Erzählungen theologisch absolut zu setzen, er hat es bei der Exegese mit dem gesamten Überlieferungsprozeß zu tun. Wie man theologisch auch zu dieser Anschauung stehen mag, wie anders man heute auch über die Verfasser der Quellenschriften und damit über die Aufgabe redaktionsgeschichtlicher Arbeit denken mag, dies wird sich nicht gut bestreiten lassen, daß die redaktionsgeschichtliche Fragestellung bei G U N K E L sich ihr Recht erstritten hat. Deshalb kann hier gegen das Urteil V O N R A D S nur K L A U S K O C H zugestimmt werden, wenn er schreibt: „In der formgeschichtlichen Theorie ist also von Anfang an die redaktionsgeschichtliche Betrachtung miteinbegriffen." 26 Die beiden Aufsätze über Jakob und Joseph aber lassen darüber hinaus erkennen, daß die Redaktionsgeschichte bei G U N K E L nicht in der Theorie allein berücksichtigt war, sondern daß er audi versucht hat, sie an Texten zu exemplifizieren. Ferner sei mitgeteilt, daß er es war, der im Zusammenhang mit der Bearbeitung alttestamentlicher Schriften für S A T 1911 beim Verlag anfragte, wer denn in Samuel und Könige die deuteronomistische Bearbeitung behandle, mit folgender Begründung: „Irgendwie müssen diese Bücher in ihrem gegenwärtigen Zustand behandelt u. gewürdigt werden." 2 7 2 5 D a ß bei GUNKEL der „ E r z ä h l e r " die Rolle spielt, die bei v. RAD wieder der Quellenschriftsteller einnimmt, ist, hermeneutisch gesehen, keine so unterschiedliche Position. 2 8 KOCH, Formgeschichte 69. 2 7 GUNKEL an RUPRECHT v o m 26. 6. 1911. Wenn MOWINCKEL von der neuen f o r m geschichtlichen Fragestellung her 1913 seine Studie „ Z u r K o m p o s i t i o n des Buches J e r e m i a " ausgehen läßt, so erklärt er z w a r , daß — obwohl dies Buch ohne GUNKEL nicht entstanden wäre — dieser seines Wissens bei den Prophetenbüchern „die Kompositionsf r a g e " nicht gestellt habe. S. 67. Andererseits zeigt MOWINCKELS Buch selbst, wie sehr die redaktionsgeschichtliche Fragestellung der f o r m - oder literaturgeschichtlichen Betrachtung inhärent ist. H . RINGGREN scheint mir GUNKELS Position in Sachen R e d a k tionsgeschichte verständnisvoll anzuerkennen, in: Literarkritik, Formgeschichte, Ü b e r lieferungsgeschichte, T h L Z 91, 1966, 644 unten.

Einzelerzählung und Komposition

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Gleichzeitig ist hier einer anderen Mißdeutung G U N K E L S entgegenzutreten, die ebenfalls auf G. v. RAD zurückgeht und mit seinem Urteil über dessen alleiniges Interesse an den Einzelerzählungen zusammenhängt. Es geht dabei um G U N K E L S theologische Würdigung der isreaelitischen Sagen. V. R A D stellt für G U N K E L S exegetische Arbeit an der Genesis fest, daß er die Einzelsagen nur „nach ihrem ältesten, archaischen Sinngehalt zu erfassen" sucht. „Fast nur widerwillig, so meint man zu spüren, läßt sidi Gunkel zu dem Zugeständnis einer späteren Vergeistigung 28 , der Läuterung einer Sage ins ,Religiöse' herbei." 29 H . - J . K R A U S hat diese Interpretation aufgegriffen und weiter ausgeführt 30 . Sehr eindrücklich vertritt er die These, daß der G U N K E L von „Schöpfung und Chaos" ein anderer sei als der G U N K E L der Genesis. In seinem bedeutenden Aufsatz über die Geschichte des Oberlieferungsbegriffs weist er darauf hin, daß mit A L B E R T E I C H H O R N eine „Neubesinnung" in den Fragen der Uberlieferung im Alten Testament einsetzt 31 . E I C H H O R N habe an die Stelle einer „allgemeinen Religionsvergleichung" den lebendigen „Prozeß überlieferungsgeschichtlicher und religionsgeschichtlicher Umbildung und Umgestaltung gesetzt. Diese wichtigen Neuansätze gehen nachweislich32 von Albert Eichhorn und nicht — wie man gemeinhin erklärt — von Hermann Gunkel aus. J a , wir werden sogar feststellen müssen, daß G U N K E L sich in einer auffallenden (bis heute aber leider noch nicht deutlich aufgezeigten) Weise von den durch Albert Eichhorn gewiesenen Wegen abgewandt hat" 3 3 . G U N K E L sei zwar in „Schöpfung und Chaos" in „hervorragender und mustergültiger Weise den methodischen Winken Albert Eichhorns" gefolgt. „Wie die außerisraelitische, babylonische Überlieferung von der Entstehung der Welt sich in dem Verlaufe ihrer alttestamentlichen, israelitischen Tradition gewandelt hat und wie allmählich die in Gen 1 vorliegende eigentümliche Lehre ihre Gestalt gewonnen hat — das zeigt Gunkel in einer hervorragenden religionsgeschichtlichen und über lief erungsgeschichtlichen Untersuchung." Im Genesiskommentar offenbare sich jedoch „mehr und mehr eine entgegengesetzte Richtung des überlieferungsgeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Forschens und Fragens". Jetzt frage er nicht mehr so sehr — obwohl das nicht ganz fehle — nach der „Eigentümlichkeit" der israelitischen Religion, sondern sein Eifer richte sich auf die „unbearbeiteten Urformen", auf den „vom alttestamentlichen Geist nodi unberührte(n) Sinngehalt" 3 4 . G U N K E L trachte mit Fleiß danach, „durch GUNKEL sagt allerdings „Vergeistlichung". » G . v. RAD, Das hermeneutisdie Problem . . . V u F 1942/46,44. 30 KRAUS, Geschichte 315—320 und: Zur Geschichte des Überlieferungsbegriffs in der alttestamentlichen Wissenschaft, E v T h 16, 1956, 371—387. 3 1 E v T h 1956, 379. 3 2 KRAUS beruft sich d a f ü r auf H . GRESSMANN, A. Eichhorn, 1914. 3 3 E v T h 1956, 380. 34 Ebenda 381. 28 2

11

K l a t t , Gunkel

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Genesis

die israelitisch-jahvistischen Rezeptionen und Rezensionen hindurch an die Quelle der frischen und jungen Urformen zu gelangen" 35 . Die „Stimmen der Völker" seien ihm nun wichtiger als die Eigentümlichkeit der israelitischen Religion 36 . Die archaischen Sinngehalte „werden als die frischen, lebendigen und natürlichen Urquellen beschrieben und in der Auslegung bemerkenswert stark bevorzugt — ja: nicht selten in ihrem religiösen Ursprungswert absolut gesetzt" 37 . Wie ist diese eigentümliche Rückwärtsbewegung in der theologischen Fragestellung bei G U N K E L zu erklären? „Sehr einfach: Es macht sich der nicht zu unterschätzende Einfluß der Grundkonzeption Herders bemerkbar." 38 H E R D E R habe auf die alttestamentliche Wissenschaft des 19. Jahrhunderts eine eigenartige Macht ausgeübt. „Gunkel ist ihr verfallen. Seine gesamte Beurteilung der Religionsgeschichte ist im Grunde romantisch . . . Die frühen religiösen Lebensäußerungen in ihrer natürlichen Relation atmen den Geist des Ursprungs, später ist alles religiöse Gut in Zisternen aufgefangen." 39 Damit sind nun zwei Fragen gestellt: 1. H a t G U N K E L seine theologische Position zwischen „Schöpfung und Chaos" und seinem Genesiskommentar tatsächlich so revidiert, wie K R A U S feststellt? 2 . Geht es ihm in seinem Genesiskommentar tatsächlich nur um die „archaischen Sinngehalte" und nicht vielmehr doch um das „eigentümlich" Israelitische? Mir scheint, wenn man sich auf GUNKELS eigene Äußerungen berufen darf und sich nicht wie VON RAD auf das „Gespür" verläßt, wird sich die Frage eindeutig und — das sei vorweggesagt — im Gegensatz zu der Auffassung von K R A U S beantworten lassen. ad 1 ) Wenn G U N K E L seine theologische Position von 1 8 9 5 bis 1 9 0 1 geändert hat, dann allenfalls so, daß seine aus „Schöpfung und Chaos" sprechende Begeisterung für die außerisraelitischen Texte eher nachgelassen hat zugunsten der Frage nach der israelitischen Umprägung. Der G U N K E L von „Schöpfung und Chaos" schreibt: „ . . . die Sagen haben schon vor der literarischen Fixierung eine Geschichte in der mündlichen Tradition gehabt, und diese schließlich allein wichtige Vorgeschichte ist durch keine Literarkritik zu erreichen." 40 Wenn man zunächst auch im Zweifel sein kann, ob solche Wertung der Vorgeschichte der Stoffe audi die vorisraelitische Gestalt mit einbezieht, so wird man doch aller Zweifel ledig, wenn man sich GUNKELS Wertung des „babylonischen Weihnachtsfestes" vergegenwärtigt 41 . Wenn er hier von diesem babylonischen Fest sagt, daß es „schon damals das Fest der Hoffnung, die nicht zu schänden wird", war, so möchte man tatsächlich fragen, ob er damit nicht 35 Geschichte 319. Weiter heißt es, GUNKEL strebe den „archaischen Urgehalten" zu, also eine ähnliche Formulierung, wie sie bei v. RAD auftauchte. 37 3e EvTh 1956, 381. Geschichte 319. 39 38 Ebenda 382. Ebenda. 41 40 Ebenda 391. SuC 143, v o n mir kursiviert.

Einzelerzählung und Komposition

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die einem christlichen Theologen gesetzten Grenzen überschritten hat. Solche Äußerungen findet man später bei ihm nicht mehr, auch und erst recht nicht in seinem Genesiskommentar. D a ß er aber trotz solcher Ansichten die israelitische Religion in „Schöpfung und Chaos" ungleich höher gewertet hat, soll damit keineswegs in Abrede gestellt werden, nur: dieses Urteil hat er nie revidiert, audi nicht in seinem Kommentar zur Genesis, wie jetzt zu zeigen sein wird. ad 2 ) Es gibt in GUNKELS Genesiskommentar keine Äußerungen, die ein Indiz d a f ü r sein könnten, daß er seine Frage nach der eigentümlich israelitischen Umprägung der alten Sagen aufgegeben oder sich gar ganz den frischen Urformen zugewandt habe. Wohl aber finden sich Äußerungen, die das Gegenteil beweisen und dazu erkennen lassen, daß seine Begeisterung f ü r die religionsgeschichtlichen Parallelen spürbar nachgelassen hat. N u r einige Zitate aus dem Umkreis des Schöpfungsberichts, der ja audi in „Schöpfung und Chaos" zur Diskussion stand, sollen d a f ü r angeführt werden. So hebt er gegenüber den Schöpfungserzählungen der Phönizier, Ägypter und Babylonier den biblisdien hervor: „Gen 1 aber unterscheidet sich dadurch aufs stärkste von ihnen allen, daß solche Theogonie fehlt. Diese Beobachtung lehrt also die Hoheit der Religion Israels erkennen: die Völker ringsumher glauben an Götter, die in uralter Zeit entstanden sind; Israel aber hat einen Gott, der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit!" 4 2 Und etwas weiter: „Kein größerer Gegensatz demnach als zwischen der bunten, phantastischen Mythologie jener Völker und dem geistesklaren, nüchternen Supernaturalismus von Gen l . " 4 3 . Im selben Zusammenhang fällt das Stichwort von der „religiösen Eigenart Israels", wie sie sich in Gen 1 charakteristisch ausspreche, die sich allerdings erst im Laufe einer Geschichte durchgesetzt habe. Vollends ein Satz wie der folgende läßt eindeutig erkennen, welches Stadium der Uberlieferung auch der G U N K E L des Genesiskommentars als das theologisch wertvollere ansieht: „Israel aber — und dies ist für uns das wichtigste in dem ganzen Bilde — hat den Mythus aufs stärkste sich und seiner Religion amalgamiert. Es hat das Mythologische, das seiner Religion so sehr widerstrebte, zuerst gedämpft . . . und schließlich bis auf geringe Reste ganz ausgetrieben . . . Der ursprünglich hochpoetische Stoff ist so immer prosaischer geworden; aber er ist erfüllt worden mit den Gedanken der Jahvereligion." 4 4 D a ß G U N K E L solche Sätze nicht nebenbei einfließen läßt und auch kaum nur halben Herzens ausspridit, sondern daß diese Unterscheidung zwischen den anderen orientalischen Religionen und der israelitischen Religion Zielpunkt seiner Forschung auch bei der Genesis ist, zeigt sich daran, daß diese Sätze sich in den zusammenfassenden Ab42 43

3Gen 124, IGen 113, Kursivierung von mir. 3 Gen 125, IGen 114.

44

3Gen 129 f., 1 Gen 118, Hervorhebung von GUNKEL selbst.

11*

164

Genesis

schnitten finden, mit denen er regelmäßig einen Teil exegetischer Einzelauslegung abschließt, um das Wesentliche noch einmal herauszuheben. Daß er dabei, wie bei den Fragen der Redaktionsgeschichte, weit hinter heutigen Erwartungen zurückgeblieben ist, sollte hier nirgendwo bestritten werden. Übrigens hat GUNKEL das selbst empfunden, wenn er 1 9 0 6 zu SELLINS Buch „Die biblische Urgeschichte" bemerkt: „Mit Vergnügen sehen wir ζ. B., wie er die letzten Sammler und ihre religiösen Grundgedanken, die gewöhnlich und auch in dem Kommentar des Unterzeichneten zur Genesis zu kurz gekommen sind, zu würdigen weiß." 45 Ein Bruch im Denken GUNKELS ist damit nicht festzustellen, allenfalls ist zu beobachten, daß ihm im Laufe der Zeit die Eigenart der israelitischen Religion immer klarer vor die Augen trat. Der Einfluß H E R D E R S auf GUNKEL liegt auch keineswegs auf dem Gebiet des religionsgeschichtlichen Denkens48, sondern auf dem Gebiet des Ästhetischen oder Literaturgeschichtlichen, wie deutlich aus dem erst in der 3. Auflage des Genesiskommentars hinzugekommenen Satz hervorgeht: „Wie lange wird es noch dauern, bis die alttestamentlichen Forscher endlich einsehen, welche gewaltigen Aufgaben ihnen durch die literaturgeschichtlidien Probleme, audi auf dem Gebiete der Erzählungen gesteckt sind, und wann wird das Testament des großen Herder endlich vollstreckt werden?" 47 — Abgesehen von einem Verriß durch GIESEBRECHT 48 ist GUNKELS Kommentar unerwartet günstig aufgenommen worden, hier und da macht sich auch eine gewisse Ratlosigkeit breit. Das merkt man vor allem S T E U E R NAGELS ausführlicher Besprechung an, die eigentlich nur eine Inhaltsangabe darstellt49. Greifbar wird diese Ratlosigkeit da, wo er sich über das bloße Referieren hinaus zu einer Beurteilung aufschwingt. Er möchte die vorisraelitischen Formen der Genesissagen zwar nicht leugnen, ist dann aber doch über die sich daraus ergebenden theologischen Konse4 5 GUNKEL in C W 1906, 177, Kursivierung von mir. Anders H . GRESSMANN, der die redaktionsgeschichtliche Problematik nicht wahrhaben wollte, vgl. C W 26, 1912,

442—448.

4 6 Hier wäre zu beachten, daß HERDER von GUNKEL bereits in „Schöpfung und Chaos" mehrfach zitiert wird, vgl. 185.212. 4 7 3Gen V f . 4 8 D L Z 1904, 1853 ff. „Gunkels Kommentar ist mit kräftigem Aufstampfen in die Welt getreten. Auch das große Publikum ist durch Sonderausgaben und Zeitschriftenaufsätze zur Lektüre der Arbeit angeregt worden, und volle Posaunenstöße haben der Welt an der Größe der Leistung bereits jeden Zweifel benommen. Auch im Kommentar wird darauf aufmerksam gemacht, daß nun für die Genesiserklärung eine neue Aera angebrochen sei, die älteren Mitarbeiter werden mehrfach über ihre Unzulänglichkeit belehrt und ermahnt, in das Allh akbar einzustimmen." Natürlich sei nichts von dem Neuen haltbar, ansonsten sei der Kommentar lediglich ein „Sammelbecken". 4 9 C. STEUERNAGEL, Hermann Gunkels Kommentar über die Genesis, ThR 4, 1901, 437—458. Über die Freundlichkeit der Rezension ist GUNKEL sehr erstaunt, an RUPRECHT vom 31. 10. 1901: „Über die Steuern.sche Ree. war ich sehr verwundert; Ostern vor 1 Jahr hat er doch eine ganz andere Ansicht über den Comm. gehabt?" Es war zwischen beiden damals zu einer Kontroverse gekommen, die nur durch das Eingreifen von NOWACK selbst, dem Herausgeber der Kommentarreihe, beigelegt werden konnte.

Einzelerzählung und Komposition

165

quenzen entsetzt und sagt deshalb von der von GUNKEL überall festgestellten Umprägung der alten Sagen durch Israel: „Gewiß wird es gut sein, wenn man das ( = diese Umprägung) stark betont, namentlich solchen religionsgeschichtlichen Theorien gegenüber, die das alte Israel als ein Volk darstellen, in dem der Monotheismus noch mit allerlei Resten eines ursprünglichen Polytheismus zu ringen h a t . " 5 0 Ob STEUERNAGEL damit GUNKEL selbst zu den Vertretern solcher Theorien rechnen will oder ob er etwa WELLHAUSEN dabei im Auge hat, ist unklar. Statt einer Zusammenfassung sei an dem Schluß dieses Abschnittes über GUNKELS Genesiskommentar das Urteil PAUL HUMBERTS wiedergegeben, das dieser 1934 — also mehr als dreißig Jahre nach Erscheinen der 1. Auflage, d. h. nach einer Zeit, da Kommentare für gewöhnlich sich selbst überlebt haben — im Vergleich zu jüngeren Genesiskommentaren aussprach 51 . E r bescheinigt GUNKEL, daß er u. a. in seinem K o m mentar nicht nur eine „erschöpfende Analyse", sondern vor allem audi eine „gelungene Synthese" vorgelegt habe. „Gunkel gebührt vielleicht der Vorrang: keiner hat wie er in so mustergültiger Weise der literarkritischen Methode eine ebenso nötige Untersuchung des literarischen Prozesses selbst an die Seite gestellt (literargeschichtliche Methode); keiner hat wie er die Forschungen über Form und literarische Gattungen (die formgeschichtliche Methode) gefördert, zum analytischen und vergleichenden Studium der von den Sammlern gebrauchten Stoffe (die stoffgeschichtliche Methode) angeregt und die wichtige Rolle der mündlichen Überlieferung bestimmt, welche dieser ganzen literarischen Bewegung zugrunde lag." D a die 6. Auflage des Kommentars von 1964 kurz nach Erscheinen vergriffen war, gewinnt der folgende Satz geradezu aktuelle Bedeutung und Bestätigung. „Heute noch" — schreibt HUMBERT zwei Jahre nach GUNKELS Tod, und dreißig Jahre später gilt dies W o r t ebenfalls noch — „bleibt Gunkels ,Genesis' die anregendste Arbeit, weil sie die weitesten und verschiedensten Gesichtspunkte entwickelt, die Methoden mit ebensoviel Klarheit wie Feinheit formuliert, bis in die geheimsten Momente dieser literarischen Entwicklung eindringt und zugleich am besten den verwickelten Stand der Aufgabe offenlegt." 5 2 Fast wäre GUNKEL im Jahr des erstmaligen Erscheinens seines Genesiskommentars doch der Sprung auf ein alttestamentliches Ordinariat gelungen. Anfang 1901 wurde an der theologischen Fakultät der Universität Jena eine alttestamentliche Ersatzprofessur errichtet. Auf der Vorschlagsliste stand an dritter Stelle HERMANN GUNKEL, hinter BRUNO BAENTSCH — mit dem selbst und dessen Schüler WILLY STAERK er bald 50 51 ä2

ThR 1901, 456. P. HUMBERT, Die neuere Genesis-Forsdiung, ThR N F 6, 1934, 207 Ebenda.

166

Geschichte der Literatur Israels

näheren Kontakt bekommen sollte — und hinter H E R M A N N G U T H E , dem bereits zweiundfünfzigjährigen Extraordinarius in Leipzig. Der Vorschlagsbericht bezeichnete G U N K E L zwar als einen „zwar einseitigen, aber geistvollen und gewandten Forscher" 53 , aber es war von vornherein klar, daß die Fakultät ihren eigenen Extraordinarius B A E N T S C H berufen würde. K A R L H E U S S I scheint mir aber G U N K E L S Ambitionen doch etwas zu unterschätzen, wenn er dazu feststellt: „Die beiden anderen (also G U T H E und G U N K E L ) waren zwar ebenfalls nur Extraordinarien, hatten aber in Leipzig und Berlin so gute Kolleggeldeinnahmen, daß sie kaum für Jena zu gewinnen gewesen wären." 5 4

B. Eine Geschichte der Literatur Israels 1. Die Probleme „Inzwischen ist der Religionsgeschichte die zukunftsreiche Literaturgeschichte an die Seite getreten, audi sie zur Ergänzung der Literarkritik bestimmt, auch sie nicht eine Abschweifung von der Hauptsache, kann es doch ein Eindringen in die Welt der religiösen Gedanken ohne das Verständnis der Stoffe und Formen nicht geben. Demnach haben Religionsund Literaturgeschichte beide keinen andern Zweck als den, den eigentlichen religiösen Inhalt der heiligen Schrift verstehen zu lehren." 1 Um die Jahrhundertwende hatte G U N K E L die Arbeit am Genesiskommentar fast ganz in Anspruch genommen. Aber daneben hat er sich längst schon mit den Psalmen beschäftigt, so daß 1904 seine „Ausgewählten Psalmen" erstmals erscheinen konnten. D a auch „Die Literaturgeschichte der Propheten" „schon seit mehreren Jahren im Ms begonnen" war — sie sollte einer geplanten Literaturgeschichte der Psalmen noch vorausgehen 2 —, hatte sich G U N K E L bis auf die gesetzlichen Partien, die ihm nicht lagen 3 , einen eingehenden Überblick über die Literatur des gesamten Alten Testaments verschafft. So war er denn gut gerüstet, als er um einen Beitrag über die israelitische Literatur für H I N N E B E R G S „Kultur der Gegenwart" gebeten wurde. Der Aufsatz über „Die israelitische 53 54 1

K . HEUSSI, Geschichte der theologischen F a k u l t ä t zu J e n a , 1954, 372. Ebenda. RuA VII.

2

G U N K E L a n R U P R E C H T v o m 1 3 . 1. 1 9 0 4 .

In einem Brief an RUPRECHT vom 20. 11. 1896 hatte GUNKEL die ihm angetragene Übernahme auch des Exodus-Kommentars f ü r das Handbuch abgelehnt mit dem H i n weis d a r a u f , E x o d u s , Leviticus und N u m e r i sollten in eine H a n d , womit er keineswegs sich selbst meinte. Darüber hinaus ist es a u f f ä l l i g , daß er sich in keiner Schrift eingehender mit den Gesetzeskorpora des A T beschäftigt hat. Hier wirkte doch unzweifelhaft eine Antipathie gegen alles Gesetzliche mit. 3

167

D i e Probleme

Literatur", nicht mehr als 52 Seiten stark, erschien 1906 4 und ist bis auf den heutigen T a g die einzige Literaturgeschichte Israels geblieben, die in den von GUNKEL gewiesenen Bahnen geschrieben wurde. Die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet ist dadurch gekennzeichnet, daß der in der 1. Auflage der R G G noch unter „Bibelwissenschaft" laufende Unterartikel „Literaturgeschichte" sich in der 2. Auflage zu einem eigenen Artikel verselbständigen konnte, während er in der 3. Auflage vollständig fehlt. GUNKEL hat diesem Abriß seine geplante große Literaturgeschichte Israels 5 nicht mehr folgen lassen können. Wie GUNKEL von HERDERS nicht vollstreckten! Testament sprach 6 , so ist heute zu konstatieren, daß noch niemand daran gegangen ist, GUNKELS Testament zu vollstrecken. Denn sein Testament war es. D a s religionsgeschichtliche Programm hatte ihm gewiß am Herzen gelegen, er hat sich ihm immer verpflichtet gefühlt. Aber er hatte es doch nicht allein entwickelt. Der Kreis um ALBERT EICHHORN hatte gemeinsam diese Gedanken entworfen und gepflegt, wenn GUNKEL dabei auch weithin den Ton angab 7 . Die literaturgeschichtliche Forschung aber war völlig sein eigenes Werk. Der religionsgeschichtliche Sinn und seine ästhetische Begabung zugleich waren die Voraussetzungen für dies Unternehmen. Von den Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule hat er zwar Männer der zweiten Gener a t i o n w i e H U G O GRESSMANN E, M A X H A L L E R 9, H A N S SCHMIDT

10

, WAL-

4 Die israelitisdie Literatur, K u l t u r der G e g e n w a r t 1,7, hg. v. HINNEBERG, 1906, 51—102. HINNEBERG hatte zunächst WELLHAUSEN um diesen Beitrag gebeten, dieser aber GUNKEL vorgeschlagen. S o brieflich O . EISSFELDT v o m 27. 3. 1966. Ein Passus aus diesem Brief über das Verhältnis von GUNKEL ZU WELLHAUSEN muß noch zitiert werd e n : „ S o wenig Gunkel mit den ,Wellhausianern', e t w a mit B u d d e , einig w a r , so große Hochachtung hatte er vor Wellhausen. D a ß dieser Gunkels A r t nicht völlig bejahte, veranlaßte Gunkel wohl zu gelegentlicher K r i t i k an Wellhausen, aber audi d a blieb der Unterton der Hochachtung . . . Bei aller Verschiedenheit der beiden, die ein näheres persönliches Verhältnis wohl nicht hat a u f k o m m e n lassen, hatten die beiden doch Hochachtung voreinander." 5 N a c h seiner Emeritierung 1927 behielt GUNKEL in H a l l e einen L e h r a u f t r a g f ü r Israelitische Literaturgeschichte, den er audi noch wahrgenommen hat, vgl. K . GALLING. Z M R 47, 1932, 258. 6 3Gen V I . 7 V g l . ZIMMERNS Brief an GRESSMANN, oben S . 2 3 . 8 V g l . oben S . 1 3 6 A . 4 5 . 9 M. HALLER, geb. 1879 in Freiburg (Schweiz), seit 1905 P f a r r e r bei Bern und a b 1906 außerdem P r i v a t d o z e n t f ü r A T , seit 1921 Ordinarius daselbst, veröffentlichte 1905 sein von GUNKEL inauguriertes (vgl. V o r w o r t ) und in 3Gen häufig zitiertes Werk „Religion, Recht und Sitte in den Genesissagen". Spätestens seit BAENTSCHS T o d , f ü r den HALLER 1908 „ D a s J u d e n t u m " , S A T II/3, übernahm, hatte GUNKEL erneut persönlichen K o n t a k t mit ihm. In einem Brief an RUPRECHT v o m 24. 3. 1909 bezeichnet er HALLER als seinen Schüler. 1 0 Η . SCHMIDT, geb. 1877, wurde 1904 Studieninspektor in N a u m b u r g am Q u e i s , 1907 bis 1914 w a r er P f a r r e r in Breslau und daneben ab 1909 P r i v a t d o z e n t daselbst. E r wurde zweimal GUNKELS Nachfolger, in Gießen 1921, in H a l l e 1928. Persönlichen K o n t a k t hatte er mit GUNKEL spätestens seit 1904, v g l . T h B l 6, 1927, 157. 1906 bot er GUNKEL seinen „ J o n a " f ü r F R L A N T an, Brief an RUPRECHT v o m 13. 3. 1906.

168

Geschichte der Literatur Israels

TER BAUMGARTNER 11 , EMIL BALLA 1 2 , MARTIN DIBELIUS 13 u n d RUDOLF 14

vor allem für die literaturgeschichtliche Arbeit zu begeistern vermocht. Aber gegenüber den Männern der ersten Stunde wie W R E D E und BOUSSET ist er hier ganz eigene Wege gegangen 15 . Warum gab es noch keine Geschichte der israelitischen Literatur? — Daß ERNST MEIER mit seinem Buch über die „Geschichte der poetischen National-Literatur" von 1856 ein krasser Außenseiter und ohne Wirkung geblieben ist, ist bereits festgestellt worden 16 . — Die Forschung in BULTMANN

11 W. BAUMGARTNER, geb. 1887, f a n d erst ein Jahrzehnt später, im Jahre 1912, zu GUNKEL. Darüber vgl. seinen Bericht auf dem Bonner Alttestamentlerkongreß 1962, VTS I X , 1963, 1 ff. GUNKEL hat ihn denn auch gleich zu literaturgeschichtlichen Arbeiten angeregt. 1914 erscheint: Die literarischen Gattungen in der Weisheit des Jesus Sirach, Z A W 34, 161—198; 1915 Märchen und Märchenforschung, SLZ 60, 117—119; 1916 Die Klagegedichte des Jeremia und die Klagepsalmen, theol. Diss., als BZAW 32. In der Festschrift für GUNKEL schrieb er über „Ein Kapitel vom hebräischen Erzählungsstil", Eucharisterion 1923, 145—157. 12 E. BALLA, geb. 1885, schrieb 1912 das von GUNKEL inaugurierte Buch über „Das Ich der Psalmen", das mit der kollektiven Deutung aufräumte. BALLA wurde 1912 Privatdozent in Kiel, 1914 in Marburg, 1915 a. o. Professor in Münster, 1921 Ordinarius daselbst und 1924 in Leipzig. In einem Brief an R U P R E C H T vom 3. 12. 1911 bezeichnet GUNKEL ihn als „Lieblingsschüler", „vortrefflicher, gewissenhafter, zuverlässiger junger Forscher". BALLA hat bereits 1908 f ü r GUNKEL Korrektur von 3Gen mitgelesen. Brief GUNKELS an RUPRECHT vom 15. 2. 1908. 13 M. DIBELIUS, geb. 1883, hatte 1906 „Die Lade Jahves", eine bei GUNKEL geschriebene und f ü r den Druck in F R L A N T überarbeitete Seminararbeit, mit der er 1905 in Tübingen zum D r . phil. promoviert hatte, veröffentlicht und 1909 über „Die Geisterwelt im Glauben des Paulus" geschrieben. 1910 wurde er Privatdozent in Berlin, 1915 Ordinarius in Heidelberg. GUNKEL und DIBELIUS scheinen sich bereits früh nähergekommen zu sein, denn schon 1904 empfiehlt GUNKEL ihn als Rezensenten (Brief GUNKELS an R U P R E C H T vom 30. 11. 1904). GUNKEL über DIBELIUS an R U P R E C H T vom 16. 6. 1905: „Herr cand. Dibelius aus Dresden ist ein fixer junger H e r r . . . Es ist Ihnen gewiß angenehm, sich einen solchen jungen Mann, der zu den größten Hoffnungen berechtigt, verpflichten zu können." DIBELIUS, BULTMANN und KARL LUDWIG SCHMIDT zählten zu GUNKELS Hörern in Berlin. Vgl. BAUMGARTNER VTS IX, 8, ferner M. D I B E LIUS in: Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. v. E. STANGE, Band 5, 1929, 1—37, bes. 10—17. 14 R. BULTMANN, geb. 1884, wurde 1912 Privatdozent in Marburg, seine Dissertation hatte er 1910 geschrieben über „Der Stil der paulinischen Predigt und die kynischstoische Diatribe". 1916 wurde er a. o. Prof. in Breslau. Am 22. 9. 1917 schreibt GUNKEL an R U P R E C H T , daß er BULTMANN „schon viele Jahre als begabt, tüchtig und strebsam" kenne. BULTMANN seinerseits hatte GUNKEL während seines Studiums in Berlin gehört und war vor dem 1. Weltkrieg mehrfach mit ihm in Ferien an der N o r d see (Briefl. Mitteilung BULTMANNS vom 16. 11. 1965). Als BOUSSET 1920 gestorben war, schlug der Verlag HEITMÜLLER als Mitherausgeber f ü r F R L A N T vor, GUNKEL lehnte ab, da er nicht „die freundschaftliche u. vertrauensvolle Beziehung zu ihm" habe. „Am liebsten aber sähe ich neben mir Bultmann, den ich persönlich genau kenne u. hoch schätze, u. der in diesen Tagen Ordinarius in Gießen f ü r Bousset werden wird." Brief an RUPRECHT vom 26. 6. 1920, zu welcher Zeit ihm BULTMANNS „Geschichte der synoptischen Tradition" bereits vorgelegen hatte. GUNKEL: „Ich schätze sie (die Arbeit) hoch." 15 KOCH, Formgeschidite 77 A . l l : „Unter den Neutestamentlern stimmte zunächst nur Wilhelm Bousset der formgeschiditlichen Behandlung — und das allein im Blick auf die Apokalypse — zu (zur Anwendung auf die Evangelien entschloß er sich nur zögernd; Kümmel, 316 f., 344 f.)." " Vgl. oben S. 112 ff.

Die Probleme

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der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war völlig von ihrer analytischen Arbeit gefangengenommen; historische Kritik hieß die Parole. Und solange diese Kritik nicht ans Ziel gelangt war, konnte an einen positiven Aufbau, wie ihn eine Literaturgeschichte verlangt, nicht gedacht werden. Das Feld wurde beherrscht von der analytischen Einleitungswissenschaft. In W E L L H A U S E N und seiner Quellenkritik war diese Forschung zu relativ endgültigen Ergebnissen gelangt 17 . Gleichzeitig hatte er selbst bereits die literarischen Fragen mit den geschichtlichen verknüpft und so eine Religionsgeschichte Israels entworfen. Die dann unter der pangeschichtlichen Devise daran weiterbauende Religionsgeschichtliche Schule hatte in den ersten Jahren ihr Augenmerk ganz auf die Stoffe gerichtet, die sie mit außerisraelitischen Literaturwerken in Beziehung setzte. Diese Periode der Stoffkritik wurde bei G U N K E L in mehr literaturgeschichtliche Bahnen gelenkt, als er gleichzeitig durch die Genesis auf die Bedeutung der Gattung und des Sitzes im Leben und durch seine Beschäftigung mit den Psalmen noch stärker auf die Formensprache der israelitischen Literatur, und aller Literatur überhaupt, aufmerksam wurde. Das brachte ihn auf den Gedanken einer Literaturgeschichte ganz eigenen Gepräges, die ihre Kategorien nicht aus der allgemeinen Literaturwissenschaft bezog, sondern sich leiten ließ von der Struktur der in Frage stehenden Literatur selbst, wobei alle Zweige der Literaturwissenschaft wie Stilistik, Poetik und Metrik aufgerufen sind 18 . Erst als G U N K E L die Bedeutung der Gattung für die antike Literatur klar wurde 19 , sah er eine neue, faszinierende Möglichkeit. Kann auch eine israelitische Literaturgeschichte nicht aussehen wie etwa eine Geschichte der deutschen Literatur, die auf ihren Höhepunkten geradezu und notwendigerweise den Charakter einer Biographie der Schriftsteller, „aus deren persönlichstem Erleben die Schriftwerke herzuleiten sind" 2 0 , annimmt, so könnte das konstitutive Moment ja vielleicht die Gattung sein. Gerechtfertigt sah er dies Unternehmen schließlich durch die sich stetig steigernde Erkenntnis über eine gewisse Formelhaftigkeit besonders in den Psalmen — aber nicht nur dort —, die sich nicht nur auf die Aus1 7 Z w a r w u r d e n i m m e r w i e d e r Versuche z u neuen L ö s u n g e n u n t e r n o m m e n ( R . SMEND, W . RUDOLPH, O . EISSFELDT, G . HÖLSCHER), aber die Diskussionsebene ä n d e r t e sich nicht. 1 8 GUNKEL, R G G I, 1. Aufl. 1 9 0 9 , 1 1 8 9 f. 1 9 D e s h a l b w a r e n kleinere A r b e i t e n , die sich m i t d e r Beschreibung einer literarischen G a t t u n g beschäftigten, f ü r ihn viel w i c h t i g e r , w e n n sich v o n d o r t a u d i noch nicht d a s P r o g r a m m einer L i t e r a t u r g e s c h i c h t e u n m i t t e l b a r n a h e l e g t e . GUNKEL n e n n t als b e s o n d e r s w i c h t i g n e b e n JÜLICHERS Gleichnisreden J e s u v o n 1 8 9 9 d e n A u f s a t z v o n WETZSTEIN, D i e syrische D r e s c h t a f e l , Zeitschrift f ü r E t h n o l o g i e , 1 8 7 3 , 2 7 0 ff., BUDDES A u f s a t z ü b e r das Leichenlied, Z A W 1 8 8 2 , 1 ff. u n d seine A u s f ü h r u n g e n über das L i e b e s - u n d H o c h zeitslied in seinem K o m m e n t a r z u m H o h e n l i e d 1 8 9 8 . L i t e r a t u r 4 9 .

R u A 31.

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Geschichte der Literatur Israels

drucksformen bezieht, sondern audi „Gedanken, Stimmungen . . . Bilder, rhetorische Figuren, ja Worte" betrifft 21 . „Der Grund dieser Erscheinung ist, daß in jener Antike die Sitte den Menschen viel stärker zwingt als in der Gegenwart; zugleich, daß die religiöse Literatur, um die es sich im Alten Testament fast ausschließlich handelt, wie alles Religiöse sehr konservativ ist. Demnach hat es die Literaturgeschichte Israels, wenn sie ihrem Stoff gerecht wird, zunächst weniger mit den Schriftstellerpersonen zu tun . . . , sondern mehr mit dem Typischen, das dem Individuellen zugrunde liegt, d. h. mit der schriftstellerischen Gattung." Und nun folgt der programmatische Satz: „Israelitische Literaturgeschichte ist demnach die Geschichte der literarischen Gattungen Israels." 22 Die erste Hauptaufgabe einer Literaturgeschichte muß demnach die Feststellung der Gattungen sein; die zweite, ihre Geschichte zu erforschen, oder mit GUNKELS eigenen Worten: „Eins der bedeutsamsten Ziele der Literaturgeschichte ist, auf Grund dieser Gattungsbeobachtungen ein ganzes Gebäude zu errichten und das Werden und Wachsen des gesamten israelitischen Schrifttums zu schildern." 23 Bei dieser Erforschung der Gattungsgeschichte ist für alle Gattungen zu beobachten, daß sie ursprünglich ihren Sitz im Volksleben hatten und dort, in der Frühzeit des Volkes, ein Stüde Volkskunst waren. Dann aber treten aus der Masse des Volkes, auf einer bestimmten, inzwischen vom Volksganzen erreichten Kulturstufe, Einzelpersönlichkeiten hervor, Schriftsteller wie Sänger, Erzähler und Propheten. Diese Schriftsteller bedienen sich nun der vom Volk ausgeprägten Gattungen und verwenden sie für ihre Zwecke24. Es gilt festzuhalten, daß G U N K E L diese Zeit der großen Schriftsteller und Dichter und nicht etwa die Frühzeit, da die Gattung noch ihren originalen Sitz im Volksleben hatte, die „klassische Zeit" der Gattung nennt 25 . An dieser Stelle wird die Literaturgeschichte Israels der modernen verwandt: sie hat die Aufgabe, „Geistesart und Kunst dieser Schriftsteller zu schildern, und" — so fährt G U N K E L fort, was nicht genug betont werden kann — „diese Darstellung der großen Schriftsteller Israels ist die Krone 2t

22 Ebenda. Ebenda. Der Micha-Schluß, Zeitschrift für Semitistik 2, 1924, 146. 24 „Gattungen erfindet kein Einzelner." Literatur 39. Damit hängt es zusammen, daß GUNKEL von einem Sitz im Leben nur bei mündlichen Gattungen spricht. Buch und Sitz im Leben schließen sich seiner Ansicht nach aus. Vgl. die Kritik bei KOCH, Formgeschichte 31 A.2. Von dieser Kritik aus legt sich die Frage nahe, ob der Begriff „Sitz im Leben" tatsächlich so glücklich gewählt ist, da man „Leben" dabei im Sinne GUNKELS immer gleich als „Volksleben" interpretiert. 25 R u A 35. Weil nahezu alle „schriftlichen" Gattungen ursprünglich Gattungen mündlicher Rede waren, kann es so scheinen, als spiele die Gattung für GUNKEL nur eine Rolle, solange sie in mündlicher Form existierte. D a ß dagegen eine Gattung in schriftlichem Aggregatzustand von GUNKEL mit eingeplant und sogar überaus hoch angesehen werden konnte, wird nicht nur aus diesem Zitat deutlich. 23

Die Probleme

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der Literaturgeschichte Israels." 2 8 Daß dazu natürlich die Kenntnis der von den Schriftstellern benutzten Gattungen Voraussetzung ist, wird nebenbei als selbstverständlich betont 2 7 . Das sich hier stellende chronologische Problem hatte er schon gleich zu Anfang beiseite geräumt, als er erklärte, man müsse sich halt mit der Feststellung von „Perioden der Schriftstellerei" begnügen 28 . Anders als die Einleitungswissenschaft, die die Bücher des Alten Testaments ihrer mehr zufällig zustande gekommenen Reihenfolge nach vornimmt und auf ihre Entstehungsverhältnisse hin untersucht, bekommt die Literaturgeschichte die Form einer „Geschichtserzählung" 29 , die aber nicht schon dadurch erreicht wird, daß man die Ergebnisse der Einleitungswissenschaft einfach chronologisch anordnet. „Denn eine solche Aufreihung von Einzelheiten ergibt keine wirkliche Geschichte, deren besondere Art vielmehr darin besteht, durch innere Verknüpfung des Einzelnen ein Ganzes in seinem Werden zu zeigen." 3 0 Sowenig wie G U N K E L die Literarkritik für überflüssig hält, will er künftig auf die Einleitungswissenschaft verzichten 31 , beides ist ihm der notwendige Unterbau für eine Literaturgeschichte. Eine literaturgeschichtliche Forschung hätte also damit zu beginnen, die einzelnen literarischen Einheiten aus den umfassenderen literarischen Gebilden herauszulösen. „Hilfe bei dieser Untersuchung wird leisten können das Aufachten auf die organischen Zusammenhänge, auf häufige oder gar gesetzmäßige Anfänge, Dispositionen und Schlüsse der Einheiten." 3 2 Erst danach muß der Versuch unternommen werden, die Einheiten „nach Klassen" 3 3 zu ordnen. „Dabei wird man sich wohl hüten müssen, sich von den Theorien irgend einer modernen Ästhetik leiten zu lassen, Theorien, die für die L.(iteraturgeschichte) I.(sraels) nicht geschaffen sind und auf eine so andersartige Literatur nicht passen. Viel2 6 R u A 35. Hierhin gehört ein Satz aus dem Aufsatz über „Ziele und Methoden der Erklärung des Alten Testamentes", R u A 1 2 : „Ziele aller Exegese ist: es ist das V e r ständnis des Schriftstellers und seines Werkes." Diese Sätze scheinen mir ungenügend kommentiert zu sein, wenn man lediglich feststellt, daß GUNKEL die „Rolle des Individuellen im Alten Testament" durchaus nicht unterschätzt habe. „Eher hat er mit seiner Betonung der ,Persönlichkeiten' des Guten zuviel getan." KOCH, Formgeschichte 15. Sollte bei GUNKEL nur eine Verbeugung vor dem Zeitgeschmack sein, was er als Krone der Literaturgeschichte und als Ziel aller Exegese bezeichnet? 2 7 R u A 36. Die Propheten, 1917, 1 0 8 : „ W e r die Höhen der einzelnen Berge erkennen will, muß zuerst wissen, wie hoch der ganze Gebirgszug ist, über den sich die Gipfel erheben; so muß derjenige, der die großen Dichter und Schriftsteller richtig zu würdigen begehrt, zuerst ein Bild von dem Durchschnitt gewinnen, den die literarische Kunst ihrer Zeit erreicht h a t . " 2 8 R u A 30. 2 9 R G G 1 I, 1 1 9 1 . 30 Ebenda. 3 1 Das gilt t r o t z gelegentlich anders lautender Formulierungen wie etwa C W 21, 1907, 8 5 0 : „Die Ersetzung der .Einleitung' durch die Literaturgeschichte' bedeutet das Fortschreiten der Wissenschaft von zerstreuten Einzeluntersuchungen zu einem Gesamtbilde." 3 2 R G G 1 I, 1191 f. 3 3 Ebenda 1192.

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Geschichte der Literatur Israels

mehr wird man diejenigen Gattungen zu suchen haben, nach denen sich diese Einheiten durch ihre Natur zusammenschließen 34 . Man beginnt, indem man zwei besonders ähnliche Einheiten vergleicht und andere, in Gedankeninhalt und literarischer Form verwandte hinzuzufinden sich bemüht." 3 5 Diese methodologischen Forderungen werden an jede Art von Literatur gestellt. Ausdrücklich wird erklärt: „Solche Betrachtung der Formen hat auch bei solchen Stücken zu geschehen, deren Kunst eine unbewußte ist, wie bei solchen, die auf ästhetische Schätzung keinen Anspruch erheben; unterliegt doch auch bei diesen die Form bestimmten, mehr oder weniger unbewußt empfundenen, Gesetzen." 3 6 Diese Ausweitung ist freilich nicht zu denken ohne die Vorstellungen über Literatur und Leben, die in ihrer Kombination mit der Formensprache als das Spezifische des GuNKELSchen Programms anzusehen sind. Allerdings ist auch umgekehrt festzustellen: ohne Wissen um die Bedeutung der Formensprache für die soziologische Hinterfragung wäre eine so intensive Beobachtung der sprachlichen Form gar nicht zu denken gewesen. In dieser genialen Kombination steckt G U N K E L S ganzes wissenschaftliches Verdienst. Die Literaturgeschichte Israels hat zu zeigen, „wie die Literatur Israels aus der Geschichte des Volkes hervorgegangen und der Ausdruck seines geistigen Lebens ist" 3 7 . Literatur in dieser Konsequenz als Ausdruck des Lebens eines Volkes verstanden, schließt rein theoretisch zwei notwendige Folgerungen in sich, die sich bei G U N K E L denn auch finden. Erstens wird so jede rein formale Betrachtung, die nur auf ästhetische Würdigung aus ist, ausgeschlossen. Das Primäre ist nicht das sprachliche Kunstwerk, sondern der Inhalt der sprachlichen Aussage, der erst recht verstanden werden kann, wenn man ihn an seinen ursprünglichen Sitz im Leben einstellt. Das bedeutet die schon vorher festgestellte theologische Vorrangigkeit der Religionsgeschichte vor der Literaturgeschichte 38 . Das erklärt auch zu einem gewissen Teil die bei G U N K E L scheinbar vorliegende Unausgeglichenheit zwischen der Formulierung, die Literaturgeschichte Israels müsse eine Geschichte der Gattungen sein, und der anderen, ihre eigentliche Höhe gewinne sie erst bei der Behandlung der Schriftstellerpersönlichkeiten in der späteren Königszeit, obwohl dort die 3 4 Vgl. KOCH, Formgeschidite 17: „Welche G a t t u n g e n sidi im Alten und N e u e n Testament finden, das läßt sich nicht von allgemeinen literaturwissenschaftlichen E r wägungen aus bestimmen . . . , sondern nur durch ein geduldiges Beobachten der biblisdien Formensprache." 3 5 R G G 1 I, 1192. 3 6 Ebenda. N a c h dieser Äußerung d ü r f t e es doch fraglich sein, ob GUNKEL so g a n z ahnungslos, „ f a s t ohne es zu m e r k e n " (KOCH, Formgeschichte 17) f ü r die A n w e n d u n g des Gattungsbegriffs die Schranke zwischen bewußter Kunstdichtung und der anderen Literatur eingerissen hat. 3 7 R G G 1 I, 1194. 3 8 Vgl. oben S. 104 f.

D i e Probleme

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Gattungen schon nicht mehr rein vorhanden sind, sondern durch Zusätze zerdehnt und ihrem ursprünglichen Sitz im Leben entrissen. Der Höhepunkt wird nämlich dort erreicht, weil dort das Individuum auf den Plan tritt mit religiösen Gedanken, die theologisch ungleich höher zu bewerten sind als die der alten Zeit mit ihren unverletzten Gattungen. Formale Ästhetik wird nicht zum Kanon theologischer Beurteilung. So wird auch an diesem Punkte noch einmal klar, warum G U N K E L von seinen Voraussetzungen aus nicht der Mann war, der für „archaische Urformen" sich zu begeistern vermochte. Zweitens bedeutet die Auffassung von Literatur als kollektiver Lebensäußerung eine Abhängigkeit ihrer Formen von den geschichtlichen Wandlungen des Volkes, dem die Literatur angehört. Deshalb hat die Literaturgeschichte Israels für G U N K E L S Vorstellungen eine unablösbare Beziehung zu allen anderen Forschungsarten und Fragerichtungen der alttestamentlichen Wissenschaft. Die literaturgeschichtliche Fragestellung ist nur eine unter vielen, die es mit dem Geschichtsganzen Israels in Religion, Kultur, Wirtschaft, Politik und eben Literatur zu tun hat. G U N K E L beruft sich denn audi nur auf das „Interesse der Klarheit", wenn er trotz der Verflochtenheit der Literatur mit allen Lebensbereichen Israels darauf besteht, die Literaturgeschichte als eigene Disziplin zu betreiben 39 . Die Gliederung dieser Literaturgeschichte in einzelne Epochen wird deshalb auch den großen Epochen der Geschichte Israels entsprechen. Oder mit seinen Worten: „In der Disposition werden sich die Rücksichten auf die Gattungen und auf die Perioden der Volks- und Kulturgeschichte durchdringen müssen." 40 Diese Betrachtung von Literatur scheint nun geradezu mit Stringenz auf die um die Jahrhundertwende hervortretende Lebensphilosophie, die selbst wieder nicht unbeeinflußt von der Romantik war, hinzudeuten. Dieser Hinweis ist auch bereits ausgesprochen worden 41 , wenn er audi nicht direkt mit Äußerungen G U N K E L S untermauert werden kann. Aber es liegt in der Natur solchter Beeinflussungen auf dem Gebiet des Geistes, daß sie auch ohne direktes Zeugnis vorhanden sein können, und so wird man auch hier bis zum Beweis des Gegenteils diese Möglichkeit offenhalten müssen. Freilich spräche G U N K E L S Abneigung gegen jede Philosophie nicht gerade von vornherein dafür, daß er sich ausgerechnet der modernen Lebensphilosophie sollte verschrieben haben. Eine andere Erklärung scheint mir denn auch näher zu liegen, nicht schon deshalb weil sie theologischer ist, sondern weil sie die gesamte G u N K E L S c h e Theologie und Methodik in ihrem Kern zu erschließen vermöchte, und das ist sein Religionsbegriff. Von ihm war oben schon kurz 4 0 R u A 37. R G G 1 I, 1190. KOCH, Formgeschichte 69. Für eine umfassende geistesgeschichtliche Einordnung GUNKELS in die R o m a n t i k plädiert KRAUS, Geschichte, passim. 39

41

174

Geschichte der Literatur Israels

die Rede 4 2 . Frömmigkeit, „die rein subjektive Seite der Religion, wobei zwar Gotteserkenntnis und heiliger Wille eingeschlossen ist, das Gefühlsleben aber entschieden den Ausschlag gibt" 4 S , ist das Stichwort für seinen Religionsbegriff. Es kommt hinzu, daß seine psychische Konstitution hier noch mehr als bei anderen zur Verabsolutierung dieser Seite drängen mußte. B A U M G A R T N E R hat es offen ausgesprochen, daß G U N K E L ein „kindliches Gemüt" besaß 44 . Anschauung im GoETHESchen Sinne galt ihm mehr als intellektuelle Erkenntnis. Deshalb waren er und H A R N A C K trotz aller Gemeinsamkeiten verschiedene Männer. Sich intuitiv hineinfühlen in den anderen, nicht in den Gedanken — dies erst in zweiter Linie —, sondern in den, der ihn denkt, das wollte GUNKEL. „Wer Jesaja erklärt, muß träumen, er sei Jesaja." 4 5 Er wollte nicht nur mit der Zeit des Textes gleichzeitig werden, er wollte mit dem Schöpfer oder Denker des Gedankens identisch werden. Deshalb wollte er auch bei seiner reflektierenden wissenschaftlichen Arbeit hinter die Literatur zurück zu den Menschen, die sich hier in ihrer Zeit ausgesprochen hatten. Wollte ihre Frömmigkeit kennenlernen, um seine eigene Frömmigkeit daran zu nähren. Diese Tendenz in G U N K E L S Denken zeichnete sich bereits in den „Wirkungen" ab 4 6 , sie tritt im Laufe der Zeit immer stärker hervor. Diese theologische Grundhaltung ist zweifellos für die Art der Ausprägung von G U N K E L S literaturgeschichtlichem Programm mit verantwortlich zu machen. Freilich ist damit die Frage nachl der geistesgeschichtlichen Einordnung nicht geklärt, nur verschoben. Es müßte jetzt gefragt werden, woher dieser Religionsbegriff stammt. Diese Frage ist naturgemäß schwer zu beantworten. Daß hier der Geist der Romantik Pate gestanden hat, scheint auf der Hand zu liegen. Nur, wie weit hat dieser Einfluß G U N K E L bewußt erreicht? Ist seine eigene religiöse Veranlagung nicht in gleichem Maße zu berücksichtigen, so daß die Nachbarschaft zur Romantik nur mehr rein zufällig ist? Ein weiteres will bedacht sein. Bemerkenswert scheint mir die bei G U N K E L konstitutive Verknüpfung von geschichtlichem Denken und 4 2 S. 97 ff. Vgl. audi das Zitat S. 155 und A. 45. A u f den ersten Blick scheint es, als könne wenigstens von diesem S a t z aus die GuNKELinterpretation von v. RAD und KRAUS gerechtfertigt werden. Aber es ist in Rechnung zu stellen, daß GUNKEL zwar große Antipathien gegen den Geist der Priesterschrift hat, auf der anderen Seite aber doch die religionsgeschichtliche Entwicklung von der verhältnismäßig primitiven Theologie der alten Sagen zum reinen Monotheismus von Ρ freudig begrüßt. D i e bei Ρ erreichte religiöse Höhenlage ist j a glücklicherweise nicht gebunden an das theokratisdie P r o gramm. 4 3 So BAUMGARTEN im Artikel „ F r ö m m i g k e i t " in R G G 2 II, 812. 4 4 BAUMGARTNER V T S I X , 14: „GUNKEL besaß in seltenem M a ß die G a b e der Einfühlung, und daß er in mancher Hinsicht ein fast kindliches Gemüt besaß — wie freute er sich auf die neuen K a r t o f f e l n und Heringe des Frühsommers! — ließ ihn auch in den Texten manch verborgenes Veilchen sehen . . 4 5 So sagte GUNKEL einmal im Kolleg, bei HANS SCHMIDT, In memoriam H e r m a n n Gunkel, ThBl 11, 1932, 101. 4 « Vgl. oben S . 2 9 f f .

Die Probleme

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theologischer Hodisdiätzung der religiösen Persönlichkeit. Beides erklärt sich m. E. so, daß die Geschichte durch ihren bloßen Verlauf keine axiomatischen theologischen Kriterien mitliefert, sondern diese von anderswoher beigebracht werden müssen. Dies „anderswoher" ist aber das nicht aus der Geschichtsbetrachtung ableitbare religiöse Empfinden der Persönlichkeit. Hier, auf dem Boden des persönlichen Lebens, findet die direkte Begegnung mit Gott statt. Damit steht GUNKEL ganz nahe bei H A R N A C K , der sagen kann: „das persönliche höhere Leben und die Ethik sind das einzige Gebiet, auf welchem wir Gott zu begegnen vermögen." 47 Wenn GUNKEL gegen eine solche im Grunde geschichtsfeindliche Position den Gott der Geschichte beschwört, dessen Wirken „manchmal . . . wie mit Händen zu greifen sei", so meint er damit in bezeichnender Weise aber gerade die „besonders großen und eindrücklichen Ereignisse und Personen" der Geschichte48, wobei die Ereignisse doch nur die Folie für das Erfassen der menschlichen Personen sind. Dann ist es aber so, daß GUNKEL die theologischen Grundsätze der liberalen Theologie nicht verlassen, sondern nur modifiziert hat, insofern als er Offenbarung nicht mehr einflächig zusammendenkt mit dem höheren Leben des Menschen schlechthin, sondern mit den Menschen in der Geschichte. Die Geschichte gibt dabei aber nur den Rahmen ab, die Überzeugungskraft der theologischen und sittlichen Anschauungen liegt in diesen selbst, die von der religiösen Persönlichkeit erfahren und erlebt werden. Die Geschichte in ihrer Entwicklung setzt gerade keinen eigenen theologischen Kanon, sondern wird vielmehr theologisch hinterfragt auf Grund des theologischen Maßstabs der sie befragenden Persönlichkeit des Forschers. Das macht die hermeneutische Funktion der religiösen Persönlichkeit aus, die deshalb bei der religionsgeschichtlichen Betrachtung GUNKELS eher auf- als abgewertet wird. Mag deshalb hinter seinem religiösen Denken der bewußte oder unbewußte Einfluß der Romantik stehen, schlüssig wird solche geistesgeschichtliche Einordnung doch erst, wenn sie es nicht unterläßt, die letzten theologischen Prinzipien eines Theologen in ihrer organologischen und immanenten Verknüpfung aufzuzeigen, wie es hier versucht worden ist. Wie sehr GUNKEL mit seinen literaturgeschichtlichen Vorstellungen auf sich stand, zeigt die im gleichen Jahr 1906 erscheinende „Geschichte der althebräischen Literatur" von K A R L B U D D E 4 9 . Dabei handelt es sich um eine Einleitung in das Alte Testament in chronologischer Anordnung mit stärkerer Betonung literaturgeschichtlicher Fragen. In sechzehn Kapiteln 4 7 HARNACK, Vortrag auf dem Berliner Weltkongreß f ü r freies Christentum 1 9 1 0 , zitiert bei K . KUPISCH, Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus 1871 bis 1945, Siebenstern-Taschenbuch 41/42, 1965, 1 1 2 . 4 8 IGen IV. 49 in: Die Litteraturen des Ostens in Einzeldarstellungen VII/1, 1906. Darin von A . BERTHOLET, Apokryphen und Pseudepigraphen.

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Geschichte der Literatur Israels

handelt BUDDE zunächst über den Kanon und seine Vorgeschichte, springt dann aber um an den Anfang der hebräischen Dichtkunst, die er im Singen und Sagen der Sänger sieht. Die Stilistik und Metrik wird verhandelt, dann nacheinander der Jahwist, die Propheten der assyrischen Zeit, die Anfänge der Geschichtsschreibung, das Deuteronomium, die deuteronomistische Schule, schließlich das prophetische Schrifttum während der neubabylonischen und nachexilischen Zeit. Priesterschrift und Hexateuchredaktion, Redaktion des Prophetenkanons, das chronistische Geschichtswerk, Psalter, Weisheit und Apokalyptik mit Daniel folgen. Die Chronologie ist der rote Faden. BUDDE hat keineswegs die Mühe auf die Reflexion einer literaturgeschichtlichen Methode verwandt wie GUNKEL. Deshalb sind seine eingestreuten Gattungsbeobachtungen am Hohenlied (eine Sammlung von Hochzeits- und Liebesliedern, Verfasser ist das Volk 5 0 ) oder bei den frühen Liedern mehr zufälliger Natur. Wären diese Beobachtungen systematisch ausgedehnt worden, hätte das Kapitel über die Psalmen anders aussehen können, wo statt exakter Gattungsbezeichnungen Überschriften wie „Die Davidspsalmen" oder „Makkabäische Psalmen" erscheinen. Dennoch ist hier überraschend aus der WELLHAUSENschule ein zu neuen Ufern eilendes Werk entstanden — auch zieht BUDDE zum erstenmal in größerem Maße außerisraelitische Vergleichsliteratur heran —, die BERTHOLET bei seiner Besprechung von GUNKELS „Israelitischer Literatur" fragen läßt, ob GUNKEL etwa das Buch von BUDDE bereits gekannt habe, als er sein Werk schrieb 51 . Aber es fehlen bei BUDDE gerade die für GUNKELS Auffassung wichtigsten Dinge wie Gattung und ihre Geschichte und die Verbindung mit dem Sitz im Leben. Immerhin hat GUNKEL diesem Buch in einem Akt der Selbstverleugnung und in an ihm nicht gewohnter Weise 52 Respekt gezollt: „Die weitere Forschung wird sich auf den von Budde betretenen Bahnen vollziehen müssen." 53 Es war ihm Zeichen dafür, daß die alttestamentliche Wissenschaft nun auf breiter Bahn aus dem Stadium der Literaturkritik in das Zeitalter der Literaturgeschichte hinübertreten werde. Zweifellos war diese Hoffnung nur der Wunsch seines eigenen Herzens. Wie wenig man ihn auf der Gegenseite verstand oder auch verstehen wollte, dafür ist BERTHOLETS Rezension von GUNKELS „Israelitischer Ebenda 286 f. A. BERTHOLET, H . Gunkels „Israelitische Literatur", THR 10, 1907, 143. GUNKEL konnte in Rezensionen ausgesprochen bissig und sarkastisch werden. So Schloß er ζ. B. seine Rezension des Buches von E . FISCHER, Das Alte Testament und die christliche Sittenlehre 1889, mit den Worten: „Wann werden endlich einmal solche Dilettantenarbeiten aufhören, einen Verleger zu finden und die theologische Wissenschaft zu compromittiren!" T h L Z 17, 1892, 402. 50 51 52

55

GUNKEL, C W 2 1 , 1 9 0 7 , 8 5 1 .

D i e Probleme

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Literatur" ein bezeichnendes Beispiel 5 4 . S o bringt er die Behauptung zustande, daß für GUNKEL die Geschichte der Gattungen „vor allem Stilgeschichte" ist 5 5 . Darin aber stünde er ja nicht allein; KAUTZSCH, Die Poesie und die poetischen Bücher des A T , habe darin Vortreffliches geleistet. BERTHOLET anerkennt, daß die Darstellung „vortrefflich geschrieben" ist. „Aber nachdem ich sie gelesen und wieder gelesen habe, komme ich über den Eindruck einer zu ausschließlich formalen Behandlung des Stoffes nicht hinweg." 5 6 Dahinter steht der Vorwurf eines Vergehens am Allerheiligsten der damaligen Theologie, was natürlich zu einer Anrufung BERNHARD DUHMS f ü h r t 5 7 ; der Vorwurf nämlich, GUNKEL werde dem „eigentlich Persönlichen" nidit gerecht 58 . So wird denn von seinem Satz, der Weg zu der individuellen Schriftstellerpersönlichkeit führe über das Studium der Gattungen (zu dem er sich „versteige"), festgestellt, daß er „weit über das Ziel hinaus" schieße. Freilich wird an Argumenten nur dies vorgebracht, aus GUNKELS Schilderung der einzelnen Propheten könne man sich über diese kein rechtes Bild machen, was die Unzulänglichkeit der Methode beweise. Schließlich seien es nicht allgemeine, sondern persönliche Gründe gewesen, die die Propheten hätten zu Schriftstellern werden lassen, woraus dann der gegen GUNKEL pointiert formulierte Satz entsteht: „Also ist die israelitische Literaturgeschichte am Ende dodi mehr Personengeschichte als uns G.(unkel) glaubhaft machen will." 5 9 K . BUDDE selbst wirft GUNKELS literaturgeschichtlicher Betrachtung noch 1920 vor, sie arbeite „eben zu sehr nur mit Manieren, zu wenig mit dichterischen Persönlichkeiten, und der organische geschichtliche Zusammenhang geht ihr gar zu leicht verloren" e o . T h R 10, 1907, 143—153. M E b e n d a 149. E b e n d a 149 f. DUHM, D a s Buch J e s a j a , H A T I I I / l , 1902 2 , I I I : „ D a s beste, was man thun kann, ist versuchen, in die Persönlichkeit des Schriftstellers selber so tief wie möglich einzudrängen. D a s ist überhaupt auf dem Gebiet der Religion die wichtigste und dankbarste A u f g a b e , denn nirgends mehr als hier steht die lebendige Persönlichkeit hoch über dem bloßen W o r t . " 5. Aufl. 1968, 3. H i e r a u f beruft sich BERTHOLET a. a. O . 150 ausdrücklich, ohne zu merken, daß GUNKEL diesen K a n o n nicht antasten, aber nach der Möglichkeit suchen will, ihm methodisch gerecht zu werden. 5 8 Auch EVA OSSVALD verkennt GUNKELS Interesse an der Einzelpersönlichkeit, wenn sie schreibt: „ D a r i n , daß Gunkel J und Ε nicht als Einzelpersönlichkeiten, sondern f ü r Schulen erklärt, zeigt sich die um 1900 a u f k o m m e n d e Tendenz, die Person hinter die Masse zurücktreten zu lassen." Mose 120. 54

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57

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BERTHOLET a. a. O .

151.

BUDDE, D a s Lied Mose's, 1920. Er bezieht sich damit auf GUNKELS R G G - A r t i k e l „ L i e d des M o s e s " in R G G 1 I V 534 f. Wie schwer es die formgeschichtliche Methode hatte, verstanden zu werden, zeigen Äußerungen eines solchen Forschers, der durchaus die Bereitschaft, sich auf neuere Fragestellungen methodologischer Art einzulassen, erkennen läßt. S o ist L. KÖHLER der Meinung, die formgeschichtliche Methode sei nur auf 60

12

Klatt, Gunkel

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Geschichte der Literatur Israels

GUNKEL sah, daß die Erarbeitung einer Literaturgeschichte Israels, die ja zudem das fernere Ziel verfolgen sollte, die religiösen Gedanken Israels samt den literarischen Formen, in denen sie sich ausgesprochen hatten, in die Literaturgeschichte des Vorderen Orients einzustellen, nicht von einem Forscher allein bewältigt werden konnte. Aber sein Ruf nach einer „deutschen Akademie", die die Wichtigkeit der Sache erkennen und sich ihrer annehmen sollte 61 , verhallte ungehört. Im Jahre 1920 kam es aus Anlaß von BUDDES 70. Geburtstag, zu dem er eine Festschrift62 auch mit einem Beitrag von GUNKEL erhielt, zu einem Briefwechsel zwischen beiden Männern, der kaum eines Kommentares bedarf. B r i e f K A R L BUDDES a n HERMANN

GUNKEL·3

Marburg (Lahn), 15. 4. 20 Hochverehrter, lieber H e r r Kollege! Von allen, die zu meiner Festschrift, der größten Freude, die mir von außen her je zuteil geworden ist, beigetragen haben, müssen Sie zu allererst ein Wort des D a n kes von mir haben, auch für die liebenswürdigen Zeilen, mit denen Sie das schöne Glückwunschsdireiben Ihrer Fakultät, für das ich noch besonders danken werde, begleitet haben. Sie zuerst, damit nicht meine Auseinandersetzungen mit Ihren Anschauungen in meiner Schrift über das Lied Mose's, die Sie in diesen Tagen erreichen wird, einen Mißklang in unser kollegiales Verhältnis bringe. Idi möchte Ihnen ausdrücklich sagen, wie ganz und gar nicht es meine Absicht war, durch die Fassung, die ich meinem Widerspruch auf S. 6 — 8 , insbesondere zu Anfang und zu Ende, gegeben habe, irgendwie persönlich Ihnen zu nahe zu treten. Ich hatte nur den Eindruck, daß es sich hier um ein Schulbeispiel gewissermaßen für die Gefahren handelte, die bei allem Segen, der so sichtlich auf Ihrem besonderen Verfahren in unserer Wissenschaft ruht, doch mit seiner Handhabung verbunden sein können. Dennoch hätte ich, wenn ich dem Abschnitt seine Fassung in jüngster Zeit gegeben hätte, ihr etwas von ihrer Schärfe genommen; das Mscr. hat sehr lange, ein paar Jahre, auf den Abdruck warten müssen. Ich bitte also, daß Sie mich richtig, das heißt freundlich, verstehen wollen, und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß wir noch lange in fruchtbaren Zusammenarbeiten, uns gegenseitig in erwünschter Weise ergänzend, neben einander mögen wirken dürfen. In Ihrem Beitrag zu meinen Ehren, den ich soeben verschlungen, erkenne ich ein ausgezeichnetes Beispiel der Vorzüge Ihrer Auslegungsweise und der Weite Ihres Blicks; mit den Einzelheiten muß ich midi noch auseinandersetzen. Sehr freue ich mich auf Ihren Kommentar. Mit herzlichen Grüßen

Ihr dankbarer alter Kollege K . Budde

geschiditslose Stoffe anwendbar, auf solche, die „geschichtliche Erinnerungen haben" aber nicht. So ließen sich zwar die Genesis, nicht aber die Davidgeschichten formgeschichtlich untersuchen. Das formgeschichtliche Problem des Neuen Testaments, Sammlung gemeinverständlicher Vorträge 127, 1927, 34 bzw. 26 f. 6 2 Als B Z A W 34, 1920. « R u A 37. •3 Diesen Brief BUDDES und den folgenden Entwurf des Antwortschreibens GUNKELS, der sich auf der Rückseite von BUDDES Brief befindet, hat mir KONRAD VON RABENAU zugänglich gemacht. E r befindet sich in der Handschriftl. Abt. der Universität Halle in der Kapsel 25 Al.

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Die Probleme A n t w o r t GUNKELS an

BUDDE

Hochverehrter, lieber Herr Kollege! Der Zweck unserer Festschrift, des (von mir verfaßten) Glückwunschschreibens unserer Fakultät, so wie der beiliegenden Zeilen von mir war, Ihnen an Ihrem schönen Ehrentage eine Freude zu bereiten und Ihnen die Verehrung auszudrücken, die wir vor einem Forscherleben, das so ganz von erfolgreicher, hingebender Arbeit erfüllt war und ist, empfinden. Jeder freut sich ja, wenn er eine Gelegenheit findet, seines Herzens Meinung öffentlich aussprechen zu können, und wenn er dazu beitragen kann, auf den Lebensabend eines tüchtigen Mannes etwas von einem lichten Schein zu werfen. Es dient mir zu hoher Genugtuung, von Ihnen selber zu hören, daß wir diesen Zweck erreicht, und daß Sie unsere Gaben gern entgegengenommen haben. Auch mir würde nun sehr daran liegen, daß unser Verhältnis ein freundliches und vertrauensvolles bleibt. Ich erkläre mich daher schon jetzt gern bereit, über etwaige Schärfen in Ihrem Aufsatz, soweit es irgend möglich ist, hinwegzusehen und nur die sachlichen Unterschiede ins Auge zu fassen. Wie fern Sie freilich gerade an meinen Anschauungen über das Lied Moses Anstoß genommen haben, kann ich mir zunächst nicht recht erklären, es liegen doch darüber von mir wenige Zeilen in R G G vor. Erlauben Sie mir aber hinzuzufügen, daß ich seit langem den Eindruck habe, daß Wolken des Mißverständnisses zwischen mir und einigen meiner Fachkollegen, zu denen auch Sie gehören, aufgezogen sind. Niemals habe ich in meinen Veröffentlichungen die Ehrfurcht vor dem älteren Geschlecht verleugnet, und auch darin keinen Zweifel gelassen, daß ich mich ganz auf dessen Schultern stehend fühle. Aber diese Empfindungen des Vertrauens sind mir leider wenig erwidert worden. Die neuen Fragestellungen, die ich versucht habe, erfordern neue Einstellungen des Geistes, und ich muß die bittere Klage führen, daß man so wenig Neigung gehabt hat, sich auf solche Neueinstellungen einzulassen! Das gilt nicht so recht für die Älteren, von denen ich das ja nicht verlangen darf, aber doch für die Jüngeren. Und wie oft habe ich harte Urteile auch von solchen gehört, die gar nidit in der Lage sind, ein Urteil fällen zu dürfen! So bin ich in meiner Vereinsamung müde und traurig geworden und meine Freude sind nur meine Schüler, die meine Forschung verstanden haben. Meine Hoffnung bleibt, die spätere Zeit werde erkennen, daß ich ein echter Wellhausianer gewesen bin, der die alttestamentliche kritische Forschung in eine andersartige Zeit eingeführt und so vor dem Verfall bewahrt hat. Ich habe bisher wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit den älteren Fachkollegen eher vermieden als gesucht, habe aber bedauert, daß auch die Jüngeren so selten sich mir gestellt haben. Auch zu persönlichen Unterredungen über die schwebenden Fragen ist es kaum je gekommen. Ich werde also jetzt wohl mit Ihnen die Klinge kreuzen müssen, hoffe aber zugleich, daß die Sache, die uns beiden gleichermaßen am Herzen liegt, dadurch Klarheit gewinnen wird. Der Psalmenkommentar, der sich nun auch dem Ende nähert, ist eine unendliche Mühsal gewesen. Sie wissen ja selber am besten, in welchem Zustande der Text uns erhalten ist; dazu habe ich bei der Erfüllung meiner eigentlichen Aufgabe, der Durchführung der literaturgeschichtlichen Aufgabe keinen Vorgänger und keinen Helfer. Staerk ist nicht weitergehender als meine „Ausgewählten Psalmen", und Kittel ist im hohen Grade oberflächlich. Oft habe ich mich gefragt: für wen ich eigentlich schreibe? Für die Fachgenossen, die mich so wenig lesen und noch weniger verstehen? Oder nur für meine Schüler? Oder wird die Zukunft gerechter gegen mich sein, als es die Gegenwart gewesen ist. Mit herzlichen Grüßen Ihr ganz ergebener H . Gkl. 12*

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Geschichte der Literatur Israels

2. Die israelitische Literatur — ein Aufriß G U N K E L teilt die ganze Literaturgeschichte Israels in drei große Epochen ein, von denen die mittlere nach Inhalt und Form die wichtigste ist. Es sind dies: 1. Die volkstümliche Literatur bis zum Auftreten der großen Schriftsteller (bis ca. 750). 2. Die großen Schriftstellerpersönlichkeiten (ca. 750—540).

3. Die Epigonen. In einer knappen Einführung instruiert er den Leser über Grundsätzliches einer israelitischen Literaturgeschichte, was er in seinem Aufsatz über die „Grundprobleme der israelitischen Literaturgeschichte" ausführlicher dargelegt hatte. Über das Wichtigste des Folgenden sei hier in aller Kürze Bericht erstattet. 1. Die volkstümliche Literatur. Als „Grundtatsache für das Verständnis der Religion wie der Literatur" Israels wird die Verbindung „Urisraels und Urkanaans zu einem neuen Volke" betont 1 . Aber die kanaanäische Kultur selbst ist wieder innerhalb des Kreises der westsemitischen Völker nur ein Teil der vorderasiatischen Gesamtkultur, die ihre Ursprünge auf Babylonien und Ägypten zurückführt. Daraus erklären sich die fremden Einflüsse auf die Literatur Israels, die sich nicht nur auf die beiden genannten Völker beschränken2. G U N K E L tritt nicht ausführlich in einen Vergleich der israelitischen mit dieser fremdländischen Literatur ein, sondern vermittelt gleich skizzenhaft das Ergebnis. So konstatiert er als Volkseigenschaft eine „starke Subjektivität, ja flammende Leidenschaftlichkeit", die für das „Pathos" in der israelitischen Poesie verantwortlich zeichnet. Erst in späterer Zeit entwickelt sich eine Vorliebe auch für das „Idyllische, Zärtliche, Gemütvolle". Was die Dichter besonders auszeichnet, ist eine „wunderbare Kraft der Anschauung", der freilich als Kehrseite ein „Mangel an logischem Denken" korrespondiert: „der Sprache fehlen die Abstrakta, die Wortkompositionen und die Partikeln; in der Syntax liebt sie die Koordination" 3 . „So ist der schwache Punkt am hebräischen Kunstwerk gewöhnlich die Disposition: der hebräische Dichter begnügt sich, die Gedanken nebeneinanderzustellen, wie man Perlen auf eine Schnur reiht." 4 Gewiß, wer die Literatur als Erzeugnis und Gemeingut eines ganzen Volkes ansieht5, muß auch den Volkscharakter zu beschreiben versuchene. 2 Ebenda 6 f. Literatur 5. 4 Ebenda 7 f. Ebenda 7. 5 Was natürlich nicht heißen soll, daß bei GUNKEL ein V o l k als Autor auftritt, vielmehr: „Auch die Urheber solcher Stüdke sind natürlich einzelne Personen — ein V o l k dichtet nicht." R G G 1 I, 1193. 6 Er beschreibt den Volkscharakter des frühen Israels als ein rein historisches Phänomen, völlig unvorbelastet von etwaigen antisemitischen Hintergedanken, wie es 1

3

Ein A u f r i ß

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Obwohl G U N K E L die herkömmliche Scheidung zwischen prosaischen und poetischen Formen der Dichtung wie selbstverständlich beibehält, ist für die Gliederung doch nicht dieser formale Gesichtspunkt allein ausschlaggebend, sondern auch der weitere Umkreis, der mit „Sitz im Leben" umrissen wird. Für ihn ist das Verhältnis der poetischen Formen zu den prosaischen kein statisches, vielmehr stellt er sich die Sache so vor, daß aus ursprünglich gesungenen Liedern — in der Regel im Wechselgesang, daher der Parallelismus membrorum als Grundstruktur der hebräischen Dichtung — allmählich unter Fortlassen der Musik eine rezitierte Dichtung wurde, woraus sich schließlich die Prosaform entwickelte 7 . So faßt er als erstes unter dem Oberbegriff „profane, private Gedichte" als besondere Gattungen zusammen: Kinderlied, Arbeitslied, Wächterlied, Spottlied, Trinklied, Königslied, Liebeslied, Siegeslied, Leichenlied, Rätselspiel 8 . An zweiter Stelle nennt er die „politischen Gedichte", wobei nach Geistesart der Alten Politisches und Religiöses nicht scharf voneinander zu trennen ist. Er begreift „das Buch der Kriege Jahves" und „das Buch des Redlichen" als Sammlungen der politischen Gedichte und nennt an Gattungen Siegeslied, Spottlied und Königlied, ferner Fluch- und Segenssprüche 9 . Diesen mehr profanen privaten und öffentlichen poetischen Gattungen stehen schon in der frühesten Zeit die Gattungen der eigentlichen religiösen Lyrik gegenüber. Hier zeigt sich eine tiefgreifende Korrektur an der in der W E L L H A U S E N s c h u l e herrschenden Ansicht über die Literaturgeschichte Israels. Für G U N K E L ist bei der Psalmendichtung das Problem der Literaturgeschichte Israels nicht erledigt mit einigen literarkritischen Ergebnissen über die Psalmenbücher und einzelne darin aufgenommene Psalmen sowie deren Chronologie. Freilich ist auch er der Meinung, daß der Großteil der in den jetzigen Psalter aufgenommenen Psalmen abhängig ist von den Propheten und vom Gesetz und damit in die nachexilische Zeit gehört. Aber die ägyptischen und babylonischen Parallelen hindern ihn daran, die Psalmdichtung in dieser Zeit erst entstehen zu lassen. Die Psalmengattung als solche muß in Israel bedeutend älter sein. Bei der Frage nach dem Sitz im Leben der ältesten religiösen Lyrik in Israel stößt er auf ein Phänomen, das in seiner vollen Bedeutung er ahnungsvoll als erster erkannte, sein späterer persönlicher Schüler SIGdurdi sein Verhältnis zu DE LAGARDE ja durchaus im Bereich des Möglichen gelegen hätte. Auf der anderen Seite liegt ihm eine Idealisierung des jetzigen Judentums a u f grund einer Identifizierung mit dem alten Gottesvolk wegen seines geschichtlichen Sinns fern. S o schreibt er ζ. B. am 15. 1. 1916 an RUPRECHT: „ D a ß die alten Israeliten ein sehr kriegerisches u. tapferes Volk gewesen sind, steht über allem Zweifel fest. D a ß die heutigen J u d e n sehr anders sind, erklärt sich genugsam aus der langen Gesdiidite, die dazwischen liegt." 7 Literatur 2. 8 E b e n d a 8—10. » E b e n d a 10—12.

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Geschichte der Literatur Israels

brauchte diese Erkenntnis nur zu vertiefen: es war das Phänomen des Kultus. So sagt G U N K E L denn ohne Einschränkung: „Älteste religiöse Dichtung ist in Israel und anderswo Kultusdichtung11 Kultische Handlung und dazu gesprochenes oder gesungenes Wort korrespondieren einander, „man sang das Lied nur, wenn man die Handlung vornahm." 12 Neben den großen öffentlichen Festen hat man auch mit kultischen Handlungen zu rechnen, die mehr privaten Charakter tragen, wie etwa die Beschneidung oder die Reinerklärung des Priesters für den bisher Aussätzigen. Kleinere poetische Gattungen sind in diesem Umkreis Zauberworte, Orakel, liturgische Formeln. Als ältestes Beispiel für ein Kultlied sind die Ladesprüche anzusehen. Das Ineinander von Handlung und Wort demonstriert G U N K E L an Num 16,17 f., einem „Beschwörungslied, wenn man einen Brunnen grub" oder auch an Ps. 24, einem Lied, das zur „Feier des Einzuges der Lade in das Heiligtum von Zion" gesungen wurde 13 . Die Hauptarten dieser Kultlieder, Hymnen, Volksklagelieder, Danklieder und Klagelieder des Einzelnen seien nur genannt, weil unten ausführlicher davon zu handeln sein wird. Betont sei, wie sehr G U N K E L mit der kultischen Verhaftung all dieser Psalmengattungen rechnet. Lediglich weil er hier zu modern denkt und sich audi eine antike Religion ohne individuelle Ausrichtung nicht vorstellen kann, postuliert er neben diesen Kultusdichtungen, die in eine Gemeinschaft hineingehören, auch Kultuslieder des Einzelnen: „auch diese muß es gegeben haben." 14 Man darf ohne Ubertreibung sagen, daß G U N K E L den Kult durchaus gegen seinen Willen entdeckt hat, denn er stand diesem Phänomen bis zuletzt fremd gegenüber. Um so höher ist das Loblied auf seine exegetische Redlichkeit zu singen. Neben der Lyrik, die also vor allem Kultlyrik ist, blühte in der frühen Zeit Israels die Erzählung. Daß er die poetische Form der Erzählung von der strengen Geschichtsschreibung unterscheidet, wie er sich die Überlieferung der Volkserzählung denkt, ist oben im Umkreis der Behandlung der Genesis ausgeführt worden. Auf die Zeit der Ur- und Vätersagen folgt in geschichtlicher Stunde die Zeit, da Israel die Gattung der Erzählung vom Volkshelden hervorbringt15. Neben diesen Gattungen von Mythus und Sage hat Israel noch die Gattung des Märchens und der Fabel, nur in Resten erhalten, geübt16. Die Geschichtserzählung, in ihren charakteristischsten und in der Bibel zitierten Beispielen (Tagebücher) MUND M O W I N C K E L 10

1 0 S. MOWINCKEL, geb. 1884, habilitierte sich 1916 in Oslo für Altes Testament. Als er vor seiner Habilitation zu GUNKEL nach Gießen kam, war er bereits von der skandinavischen Erforschung primitiver Kulturen und Religionen, wie sie vor allem von GRÖNBECH und PEDERSEN getrieben wurde, geprägt. 11 Literatur 13. 1 2 Ebenda. 1 S Ebenda 13 f. 1 4 Ebenda 14. 1 6 Literatur 23. » S. oben S. 129 ff.

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verloren, hatte ihren Sitz im Leben in dem besonderen Kreis von Lesenden, die sich selbst als „Gebildete", als „besser Wissende" beurteilt haben 1 7 . Tora und Rechtsspruch, zunächst audi mündliche Gattungen und im Kreis der Priester gepflegt, sind erst sekundär niedergeschrieben worden, indem sie zunächst wohl auf steinernen Tafeln zur öffentlichen Kenntnisnahme aufgestellt wurden. Die beiden Dekaloge stammen aus dieser Zeit 1 8 . Von diesen religiösen Gesetzen unterscheidet GUNKEL „Rechtssatzungen profaner A r t " 1 9 , wie sie dann im Bundesbuch gesammelt worden sind. Sie sind von den Ältesten gepflegt worden, betreffen die profane Gerichtsbarkeit und unterscheiden sich durch den Stil — „bedingter Satz" wie im Gesetzbuch des Hammurabi — von der Priestertora — „kategorischer Befehl" 2 0 . Über die Rechtsgattungen Israels hat GUNKEL sidi nur hier in aller Kürze geäußert 21 , jedoch darf nicht ganz ausgeschlossen werden, daß er vielleicht auch auf diesem Gebiet weitergehende eigene Studien getrieben hat 2 2 . Diese frühe Epodie der Geschichte Israels ist literaturgeschichtlich also dadurch ausgezeichnet, daß, abgesehen von der von Haus aus in schriftlicher Gestalt existierenden Geschichtsschreibung, alle Literaturformen zunächst in mündlicher Gestalt bestanden und erst gegen Ende ihrer Blütezeit in jeweiligen Sammlungsbewegungen schriftlich niedergeigt wurden. 2. Die großen Schriftstellerpersönlichkeiten. Vorangestellt wird wieder ein kurzer Überblick über die politische, kulturelle, soziale und religiöse Situation. Politisch entscheidend für diese Zeit ist die aus dem Zweistromland drohende Gefahr. Zunächst die assyrische, der Nordisrael zum Opfer fällt, wodurch die Führung — auch in der Literatur — ganz an Juda übergeht; dann die neubabylonische, der schließlich auch Juda erliegt. Diese gewaltigen Erschütterungen auf dem Gebiet des Politischen machen verständlich, daß auch die Literatur dieser Jahre „im 1 7 Ebenda 2 4 . BERTHOLET hat diese Vorstellung wohl mit Recht als zu modern empfunden, T h R 10, 1907, 146. 1 8 Literatur 2 5 . 19 Ebenda. 8 0 Ebenda 25 f. Hier sind also Beobachtungen gemacht, an die A . ALT in seinen Untersuchungen über „Die Ursprünge des israelitischen Rechts" direkt anknüpfen konnte; zuerst erschienen 1934, dann Kl.Sdir. I, 1953, 2 7 8 — 3 3 2 . 2 1 ALT, Kl.Schr. I 2 8 5 , Α . 1: „ H . Gunkel, der Begründer der gattungsgeschichtlichen Forschung . . . , hat sich über die Gattungen der israelitischen Rechtsliteratur nur kurz geäußert." Von seinen Schülern trieben auf diesem Gebiet die Forschung voran HANS SCHMIDT mit seinem Aufsatz „Mose und der Dekalog" in derGuNKEL-Festschrift I, 1 9 2 3 , 7 8 — 1 1 9 und SIGMUND MOWINCKEL, Le Decalogue, 1927. 2 2 W ä h r e n d der Entstehung von S A T bemühte sich GUNKEL beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht stark um eine Zusage für die Nachfolgeschaft von NOWACK als Herausgeber des Handkommentars mit der Begründung, er habe auf allen Gebieten des Alten Testaments gearbeitet und könne nicht wünschen, „daß dies Alles mit meinem Tode zugrunde geht, da ich nun doch nicht im stände bin, dies alles selber auszuarbeiten, erscheint es mir als das Gegebene, mein Material anderen für ihre Arbeiten zu schenken." Brief an RUPRECHT vom 15. 9. 1912. GUNKEL erhielt die gewünschte Zusage nicht.

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höchsten Grade aufgeregt und leidenschaftlich ist" 2 3 . Kulturgeschichtlich ist das bedeutsamste, daß der babylonische Einfluß, bisher nur über Kanaan indirekt wirksam, nun direkt auf Israel einwirkt. G U N K E L sieht ihn, wie bereits in „Schöpfung und Chaos" angedeutet, vor allem in einer mythologisch geprägten Eschatologie, die auf die Propheten eingewirkt hat. Auf sozialem Gebiet findet eine gewaltige Umstrukturierung statt. Der Grundbesitz kommt in die Hand weniger Reicher, die Propheten nehmen sich der Armen an. Die Psalmisten gehören zum Stand der Armen, während G U N K E L die Vertreter der Weisheitsliteratur in einer Mittelschicht beheimatet denkt. Diese Zeit des inneren Umbruchs und der äußeren Bedrohung ist auch für den einzelnen Menschen eine Zeit der Entscheidung, und als wichtigstes Ergebnis dieser geschichtlichen Konstellation feiert G U N K E L die Entstehung eines bis dahin in Israel nicht gekannten Individualismus. Zwar ist er der Meinung, daß in Israel stärker als sonst in anderen Völkern bereits zu Anfang „große Personen hervorgetreten sind, und daß die Religion Israels niemals bloß eine einfache Volksreligion" war 2 4 , aber die Mose, Samuel, Ahia und Elia sind mit den nun auftretenden Gestalten, „die allein auf die Stimme des Gottes in ihrer Brust hören" 2 5 , nur von ferne zu vergleichen. Dieser Kampf des Individuums gegen das Kollektiv spielt sich natürlich in der Hauptsache auf dem Gebiet des Religiösen ab, und die Träger dieses Kampfes sind die großen Propheten. Gegen die herrschende antike Volksmeinung, Religion bestehe „im Darbringen von Opfern und Vollziehen von Zeremonien" 26 verkünden sie als „Vertreter der höheren Religion, daß Jahve soziale Gerechtigkeit und gläubiges Vertrauen verlangt: so wird der Monotheismus, auf den Israel von jeher angelegt war, endgültig gewonnen" 27 . Uber G U N K E L S Prophetenverständnis und die literarischen Gattungen soll unten ausführlicher gehandelt werden. Hier soll deshalb nur noch Folgendes festgehalten werden. Das „eigentliche prophetische Genre" ist für ihn außer der Vision „die Verkündigung der Zukunft" 2 8 . Aber Literatur 27. Artikel „Individualismus und Sozialismus im A T " in R G G 1 III, 498. GUNKEL sieht die Entwicklung Israels nach demselben Gesetz ablaufen wie bei anderen Völkern, und dieses Gesetz lautet unter dem hier verhandelten Gesichtspunkt: vom Sozialismus zum Individualismus. „ E s ist ein Gesetz der geistigen Entwicklung des menschlichen Geschlechts, daß auf niederer Stufe die gesellschaftlichen Verbände, Volk, Geschlecht, Familie das einzelne Individuum an Bedeutung überragen, daß aber auf höherer Stufe das Individuum ersteht und seine Rechte fordert." R G G 1 III, 493. Es sei vermerkt, daß GUNKEL audi hier den bei ihm stets zu beobachtenden Ideologievorbehalt anbringt, der solche Theorien nur als Leitgedanken gelten läßt, die stets von den Einzelerscheinungen korrigiert werden müssen. So betont er audi hier für das Verhältnis von Sozialismus und Individualismus: „Hier ist also alles relativ und muß in dieser seiner Relativität erkannt werden." Ebenda 494. 2 5 R G G 1 III, 498. 2 7 Ebenda 29. 2« Literatur 28 . 2 8 Ebenda 35. Über die Bewertung aber vgl. unten S. 203 ff. 23

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in dem Bestreben, den Mund am Ohr ihres Volkes zu haben, haben die Propheten nahezu alle gängigen Gattungen aufgenommen und sie zu Trägern ihrer Gedanken gemacht. An lyrischen Gattungen zählt er auf: Jubellied, Spottlied, Leichenklage, Wallfahrtslied, Klagelied, auch profane Gattungen wie Trinklied, Wächterlied, Spottlied über eine Dirne. Die Propheten dichten Liturgien und halten Monologe, ergehen sich in Disputationen und bedienen sich der Geschichtserzählung, so daß GUNKEL sagen kann: „ S o ist also in der H a n d dieser Männer an die Stelle der ursprünglichen Einförmigkeit eine fast unübersehbare Fülle getreten; alle Strahlen der bisherigen religiösen Literatur sind bei den Propheten wie in einem Brennpunkt zusammengekomm e n . " 2 9 Er veranschlagt die Bedeutung der Propheten — und das keineswegs etwa im Gegensatz zur gängigen Meinung der Forschung — so hoch, daß er sagen kann: „Mit den Propheten ist die Höhe erreicht; alles Weitere ist ihre Begleiterscheinung oder Weiterwirkung." 3 0 Geschichtsschreibung und Tora und vor allem die Lyrik erfahren die einschneidendste Veränderung unter dem prophetischen Geist. Aus der Kultusdichtung von einst wird die geistliche Lyrik, aus dem Dankopferlied das vom Kult gelöste Danklied. Für GUNKELS Psalmenverständnis ist dies wohl der bedeutsamste Punkt: an die Stelle des Tempels als Ort des Singens und Betens tritt das stille Kämmerlein. „Hier spricht eine Frömmigkeit des Herzens, die aus der Religion des Geistes und der Wahrheit stammt: die Seele steht, befreit von den Kultusformen, vor ihrem G o t t . " 3 1 Persönliche Erfahrung spielt mit, wenn GUNKEL besonders die Klagelieder des Einzelnen, — die sich am weitesten vom Kult entfernt haben — „Lieder voller Tränen und Seufzer und Herzeleid" zu würdigen weiß. „ D a r a n erkennen wir ein Gesetz religiösen Lebens: der Acker der Religion ist fruchtbar gemacht durch Tränen und Blut."32 Aber auch die anderen Gattungen der Psalmen, die wie die Hymnen und Volksklagelieder zwar weiterhin noch fest mit dem Kult verbunden bleiben, können sich dem neuen prophetischen Geist nicht entziehen, wie es sich besonders an den von GUNKEL als Sonderkomplex der „eschatologischen H y m n e n " herausgegriffenen Psalmen zeigt 3 3 . So nehmen diese Ebenda 37. 31 Ebenda. Ebenda 38. 3 2 Literatur 39. Hinter dieser Formulierung, die mit ähnlichen Worten häufiger begegnet, darf man vielleicht ein Stück persönlicher Glaubenserfahrung sehen. Gegen das von ihm stark empfundene Verschweigen seines N a m e n s durch seine Gegner, gegen den Untergang des Vaterlandes, der manchem die wissenschaftliche Tätigkeit als widersinnig erscheinen ließ, sowie gegen persönliches Leid (1920 starb im Alter von nur ein paar Wochen ein nachgeborenes Söhnchen, 1923 verlor er die jüngste Tochter, 20 Jahre alt, durch einen „plötzlichen Unglücksfall" — an RUPRECHT vom 31. 3. 1923) setzte GUNKEL das Dennoch seines Glaubens an eine höhere Vernunft und an eine höhere Gerechtigkeit. 3 3 Literatur 39. 29 30

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Psalmen — das ist seine Vorstellung — den Weg aus dem Kult hin zu den Propheten und kehren von dort, mit neuem Geist befrachtet, und audi andere, prophetische Gattungen nach sich ziehend, in den Kult zurück. Die Religions- und Literaturgeschichte Israels wird durch die Rolle, die G U N K E L den Propheten im Ganzen des öffentlichen und privaten Lebens in Israel zumißt, überaus kurvenreich und in der Geschlossenheit der Darstellung geradezu stilvoll 34 . Neben der prophetischen Literatur und der von ihr beeinflußten Psalmendichtung dieser Zeit blüht die Weisheitsdichtung, die ihren Sitz im Leben „auf den freien Plätzen oder im Tor" hat, wo der Stand der Weisen die Jugend unterweist 35 . Demnach ist der einzelne Spruch die ursprüngliche literarische Einheit dieser Dichtung, nicht die größeren Kompositionen wie Hiob, Prediger und Weisheit Salomonis. Die älteste literarische Form aber sind die Spruchsammlungen wie die Proverbien und Jesus Sirach. D a G U N K E L Proverbien und das Buch Hiob einer älteren Zeit zuweist und die anderen genannten Schriften einer späteren, wird gerade die Weisheitsdichtung zum Paradebeispiel für das Anordnungsprinzip der Literaturgeschichte, die keine Rücksicht auf die mehr oder weniger zufällige Chronologie der erhaltenen Bücher nimmt, sondern die Dinge in ihrer organischen Entwicklung darstellt. „Anders aber als die Chronologie reiht die Literaturgeschichte die Schriften an: danach ist die älteste literarische Form die der Sammlungen, auf Grund deren dann die großen Weisheitsbücher verfaßt sind. Im Leben aber ist die ursprüngliche Einheit der einzelne Spruch gewesen." 36 Die singuläre frühe Ansetzung des Hiob löste bereits bei B E R T H O L E T Protest aus 3 7 . Die im Buche Hiob auftauchenden Gattungen der „Streitreden von Weisen", ausgestattet mit lyrischen Motiven, Klageliedern, Unschuldsbeteuerungen und Hymnen — von G U N K E L auch als Gattung des philosophisch-religiösen Gesprächs bezeichnet — finden sich vor allem audi in der ägyptischen Literatur, was für ihn ein Grund gewesen sein mag, mit der Abfassungszeit des Hiobbuches so weit nach oben zu gehen 38 . 3. Die Epigonen. Die nadiexilische Zeit ist für Israel die Zeit des Niedergangs. So hat es W E L L H A U S E N eindrucksvoll dargestellt, und 34 D a ß dieses Bild in dem Moment starke Korrekturen erfahren mußte, als der neuprotestantische K a n o n f ü r das Alte Testament „religiöse Innerlichkeit contra K u l t " seine Oberzeugungskraft verlor und auch bestimmte protestantische Forscherherzen die Notwendigkeit erkannten, ihre Sympathie dem Kultischen zu schenken, bedarf keines Wortes. Es war kein anderer als der GuNKELschüler SIGMUND MOWINCKEL (Psalmenstudien III. Kultprophetie und prophetische Psalmen, 1923), der das Problem der Kultprophetie a u f w a r f , eine Fragestellung, die auch zu einer anderen Lösung für die Herkunft der Eschatologie führte, daß sie nämlich aus dem K u l t stamme. Diese These, so fruchtbar sie war, konnte sich wie viele andere dieses eigenwilligen Skandinaviers nicht in vollem U m f a n g auf dem Kontinent durchsetzen. 3 5 Literatur 40. 36 Ebenda. 3 7 T h R 10, 1907,148, vgl. dazu C . STEUERNAGEL, Einleitung 709 f. 3 8 Vgl. Literatur 43.

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GUNKEL folgt ihm darin. Von der Höhe der Propheten geht es nicht in einer langsam noch weiter ansteigenden K u r v e nach oben, auf das Neue Testament zu, vielmehr liegt dazwischen der tiefe Graben der jüdischen Gesetzesreligion. D i e Zeit der Propheten ist analogielos, aber die nachexilische Zeit der „Erschöpfung" 3 9 , des „langen Winters" 4 0 läßt sich wieder unter allgemeinen völkischen Entwicklungsgesetzen begreifen. Deshalb kann es GUNKEL als ein „in der Weltgeschichte . . . nicht seltenes Schauspiel" bezeichnen, wenn Völker nach ihrer politischen Zerschlagung dennoch weiter existieren, „wenn sie an der nationalen Religion einen H a l t finden"41. Diese Religion aber habe zwangsläufig die Form der autoritativen Institution mit dem Priester an der Spitze: die „Religion empfängt die Form des Gesetzes und der Hohepriester von Jerusalem übernimmt die Führung" 4 2 . Die Religionsgeschichte Israels verläuft nach WELLHAUSEN von links oben nach rechts abwärts: ein fortlaufender Abfall vom Urwüchsigen, nur aufgehalten und mit neuen Ideen ausgestattet durch die Propheten 4 3 . Bei GUNKEL steigt die K u r v e von unten links an, bis sie bei den Propheten ihren höchsten Punkt erreicht, danach fällt sie wieder ab, ja man möchte fast meinen, sie sinke tiefer, als sie je gestanden habe, wenn er von dieser Zeit des Niederganges schreibt: „So geht die urwüchsige Volksreligion zugrunde." 4 4 Die nachexilische Zeit ist demnach geprägt durch die Entstehung der Gesetzesliteratur — wobei es ein Schönheitsfehler ist, daß das Deuteronomium in seinem Grundstock bereits aus der Zeit Josias stammt — und durch die Sammlungs- und Redaktionstätigkeit. Für die entstehende Gesetzesliteratur ist die Priesterschrift mit der Tora als Hauptgattung repräsentativ. GUNKELS Beurteilung ist überaus charakteristisch: „ D a s System eines geistlichen Volkes, das diese Schrift verkündet, hat eine großartige Geschlossenheit, aber es entbehrt des Lebens: das natürliche Volkstum tritt darin höcht auffallend zurück, und für individuelle Frömmigkeit haben diese Kirchenmänner keinen S i n n . " 4 5 Unter dem Eindruck der Katastrophe entsteht die deuteronomistische Geschichtsschreibung, noch später das chronistische Werk, worin er „einen immer tieferen Sturz in der Kunst der Geschichtserzählung" erblickt, weil hier Geschichte nicht mehr erzählt, sondern nur noch beurteilt wird. An die Stelle der Geschichtserzählung tritt, weil man keine Geschichte mehr „erlebte", die Tagebuchliteratur: die Memoiren Esras und Nehemias und die Nachahmung der Gattung im Prediger und im Tobias stehen d a f ü r ; kleinere Novellen (vielleicht Ruth, sicher Jona, Esther, Judith, Tobias) runden das Bild ab. 4 0 E b e n d a 44. E b e n d a 43 . 4 2 E b e n d a 44. E b e n d a 43 f. 4 3 L. PERLITT über WELLHAUSEN, Tendenzen der Theologie im 20. J a h r h u n d e r t 1966, 3 5 : „Seine Vorliebe gehörte den frühen Stadien in Religion, S t a a t und K u l t u r . " 4 4 Literatur 44. 4 5 E b e n d a 45. 39

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Der prophetische Geist ist mit dem Exil beileibe nicht abgestorben, ja durch das Eintreffen der Unheilsweissagungen gewinnt er an Kurswert: der Monotheismus setzt sich endgültig durch, auch im Volk. Aber zugleich strömt der die ganze Epoche charakterisierende priesterliche Geist auch hier ein, so daß G U N K E L von den Exilspropheten Deuterojesaja und Ezechiel nichts anderes zu sagen weiß, als daß sie, nach einer langen Zeit der „Agonie" in den Apokalyptikern ihre Nachfahren gefunden hätten, wobei jene sich vor diesen durch ihre Originalität auszeichneten 4e . Bei der Psalmdichtung werden die reinen Gattungen immer mehr durch Mischgattungen abgelöst 47 . Zugleich ändert sich für die Hauptmasse erneut der Sitz im Leben: die Psalmen kehren weithin wieder an den Tempel zurück, was natürlich das Psalmodieren bei privaten Zusammenkünften von Frommen nicht ausschließt. In der Spruchdichtung zeigt sich der Niedergang der Religion am deutlichsten: den „Prediger", „das Hohe Lied des Weltschmerzes", kann G U N K E L nur als eine „Urkunde der Auflösung der Religion" verstehen 48 . Zusammenfassend heißt es für die Literaturgeschichte dieser Epoche, was für die Religionsgeschichte bereits festgestellt war: „Gegen Ende des Zeitalters nimmt die religiöse Kraft auf allen Gebieten sichtbar ab: in den spätesten Psalmen, Sprüchen, Prophetenstücken überwiegt die Nachahmung . . . So starb die israelitische Literatur langsam dahin." 4 9 G U N K E L S theologische Intention bei seinem Programm einer israelitischen Literaturgeschichte wäre nun gründlich verkannt, wollte man deren Hauptanliegen allein oder auch nur zum überwiegenden Teil auf dem Gebiet des Literaturwissenschaftlichen suchen. So daß also hier neben eine israelitische Geschichte aller anderen möglichen Bereiche nun auch noch eine Geschichte der Literatur hätte gestellt werden sollen, um eine Lücke zu schließen. Seine Absichten liegen tiefer, und die theologische Konsequenz reidit weiter. Er geht dabei von der hier nidit weiter zu diskutierenden These aus, daß ohne eine sachgerechte Erfassung der Literatur Israels eine Erkenntnis des Lebens und der Religion dieses Volkes nicht zu gewinnen ist, vor allem daß seine Geschichte nur zur Hälfte und das heißt völlig unzulänglich aufgehellt werden kann 5 0 . Denn die Literatur ist nun einmal das einzige Medium, das uns einen E b e n d a 47. E b e n d a : „Diese M a n n i g f a l t i g k e i t der Mischformen ist es, die bisher die Erkenntnis der Gattungen unter den Psalmen aufgehalten h a t . " Womit GUNKEL in dürren Worten seine neue Entdeckung f ü r die Psalmenexegese beschreibt. 4 8 Literatur 47. 4 9 E b e n d a 40. In R u A 36 heißt es: " Z u m Schluß dann die T r a g ö d i e der israelitischen L i t e r a t u r : der Geist nimmt a b ; die G a t t u n g e n sind verbraucht; Nachahmungen häufen sidi; an Stelle der selbständigen Schöpfungen treten die Bearbeitungen." 5 0 R u A V I I : „. . . kann es doch ein Eindringen in die Welt der religiösen G e d a n k e n ohne das Verständnis der S t o f f e und Formen nicht geben." 46

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Zugang zur Vergangenheit verschaffen kann. Sachgerechte Erfassung dieser Literatur aber heißt: eine Beachtung der Gattungen und ihrer Geschichte. Weil aber Literatur und Religion in einem derartigen Verhältnis zueinander stehen, kann G U N K E L sagen, und dabei wird die ganze Tragweite des Programms erkennbar: „Nach solchen Gattungen verläuft das geistige Leben Israels, so daß in unserer ,Biblischen Theologie' oder ,Religionsgeschichte Israels' bei der Disposition des Stoffes die Gattungsforschung ein Wort mitzusprechen hat." 5 1 Das ganze Interesse dieser Arbeit ist darauf gerichtet, durch die Geschichte dieser Literatur die Geschichte Israels in weitestem Sinne zu erfassen. Darin unterscheidet sich die Literaturgeschichte von der herkömmlichen Einleitungswissenschaft, daß sie nicht einzelne Bücher in ihrer mehr oder weniger zufälligen kanonischen Reihenfolge kritisch analysiert, sondern selbst die Gestalt einer Geschichtserzählung annimmt 52 . Dabei ist hinter die Gestalt der erhaltenen biblischen Bücher zurückzufragen nach dem Sitz im Leben der ELnzelstücke, d. h. die durch literarkritische Analyse nicht erreichbare mündliche Überlieferung kommt entscheidend ins Spiel. J . H E M P E L erklärt deshalb ganz im Geiste GUNKELS, daß diese Wissenschaft der israelitischen Literaturgeschichte „auf den Gang der Geistes- und Religionsgeschichte in Israel acht hat und dabei an die Stelle des Beieinander im Räume eines biblischen Buches das Beieinander in der Zeit eines biblischen saeculum setzt" 53 . Indem G U N K E L eine solche literaturgeschichtliche und religionsgeschichtliche Untersuchung der Heiligen Schrift fordert 54 mit dem Ziel einer geschichtlichen Darstellung, ist einmal der Gefahr gewehrt, daß durch die kritische Analyse der Kanon von innen her aufgelöst und eine Einheit der biblischen Bücher nicht mehr auszumachen ist, sondern nur noch eine Vielfalt von Quellen und religiösen Anschauungen55. Die Einheit der Heiligen Schrift wird zurückgeführt auf die hinter ihr liegende Geschichte56. Damit kommt aber nun — und das ist das andere — die Frage in Sicht, worin diese Geschichte ihre Einheit hat, m. a. W. es wird die Frage nach dem Gefälle dieser Geschichte virulent. 51

R G G 2 III 1929, 1 6 7 7 . GUNKEL e b e n d a : „Ein solches B i l d aber erhält m a n noch nicht, i n d e m m a n einfach die kritischen E i n z e l u n t e r s u c h u n g e n an e i n e m chronologischen F a d e n a u f z i e h t ( K a u t z s A , B u d d e ) , s o n d e r n erst, i n d e m m a n das E i n z e l n e als T e i l des G a n z e n , in seiner inneren Verknüpfung, aufweist." 53 J. HEMPEL, D i e althebräische Literatur 1930, 5. 54 V g l . R u A V I I : „ D e m n a c h h a b e n R e l i g i o n s - u n d Literaturgeschichte beide k e i n e n andern Z w e c k als den, den eigentlichen religiösen I n h a l t der heiligen Schrift v e r s t e h e n z u lehren." 55 D a r a u f h a t KOCH, Formgeschichte 112, m i t Recht h i n g e w i e s e n . 56 D i e s e r Z i e l p u n k t k o m m t in den Blick, w e n n GUNKEL es als „das l e t z t e W o r t " der a l t t e s t a m e n t l i d i e n Bibelwissenschaft bezeichnet, „eine Geschichte des V o l k e s Israel auf allen seinen L e b e n s ä u ß e r u n g e n " z u erstellen. R G G 2 I, 1927, 1073. 52

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K O C H muß nun hier mit Bedauern feststellen, daß es bei G U N K E L schließlich offen bleibt, wohin diese Geschichte letztlich „treibt" 5 7 . Zwar gebe er einmal einen Zielpunkt an, indem er formuliert: „Die Sprache stirbt als Volkssprache aus. Aber schon hat die Geschichte der Sammlung der Sammlungen begonnen: der Kanon entsteht." 5 8 So daß also die Literaturgeschichte Israels in der Bildung des Kanons endet. Im ganzen aber seien seine Äußerungen nicht eindeutig. „Einerseits kann er gerade die Spätzeit als Zeit der Epigonen abtun, andrerseits unterstreicht er den theologischen Rang des nachbiblischen Schrifttums der Apokryfen und Pseudepigrafen." 59 K O C H sieht den Grund für diese Unausgeglichenheit bei GUNKEL darin, daß es ihm nicht vergönnt gewesen sei, „sein Programm zu verwirklichen" 60 . Nun ist zuzugestehen, daß K O C H S Frage an eine theologische Konzeption, die Offenbarung Gottes geschichtlich verstehen will und gleichzeitig die Geschichte Israels eingebettet sieht in den Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte und somit diese Geschichte trotz aller Seiten- und Sprungbewegungen als Einheit begreift, zu Recht besteht. Es wäre von GUNKEL auch nur konsequent gewesen, wenn er die Geschichte Israels auf direktem Wege hätte einmünden lassen in das durch das Neue Testament repräsentierte Geschehen. So wären Altes Testament und Neues Testament organisch verklammert und ihr jetzt gegebenes Gegeneinander als eben die zwei Teile des Kanons geschichtlich und theologisch zu einer Einheit überhöht. Kommt man von den frühen Äußerungen GUNKELS ZU diesem Thema her 6 1 , so meint man seine Gedanken auf eine solche Lösung zusteuern zu sehen. Daß er in diesem Sinne aber keine befriedigende Lösung vorgelegt hat, glaube ich gegen K O C H nicht darin begründet sehen zu dürfen, daß er seine große israelitische Literaturgeschichte nicht mehr hat schreiben können. Dafür gibt es vielmehr einen sachlichen Grund, der an die theologische Substanz rührt. Es ist letztlich der theologische Kanon der liberalen Theologie gewesen, der GUNKEL daran gehindert hat, das Alte Testament als ein „Buch einer ständig wachsenden Erwartung" 6 2 zu lesen. Deshalb hat er seinen Blick von den Entwicklungstendenzen der Geschichte Israels abgewendet und nach einem anderen theologischen Wertekanon Umschau gehalten: er fragt nicht nach dem Zielpunkt, sondern nach dem Höhepunkt der israelitischen Religionsgeschichte. Dieser Höhepunkt liegt aber für sein sittliches 5 8 RuA 36. Formgeschichte 113. KOCH, a . A . O . 113 f., für letzteres beruft er sich auf einen Satz GUNKELS aus RGG I, 2.Aufl., 1090, wo es von den Apokryphen und Pseudepigraphen, die früher von der biblischen Theologie ausgeschlossen wurden, heißt, daß sie „nunmehr aber in die Darstellung miteinbezogen werden müssen, da in dem wirklichen Verlauf der Geschichte der Religion kein so scharfer Abschnitt, der den Ausschluß dieser späten Schriften rechtfertigen würde, gegeben ist." 6 0 A. a. O. 113. 6 1 Vgl. oben S.36ff. 6 2 G. VON RAD, Theologie des Alten Testaments II, 1960, 329. 57

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und religiöses Empfinden nicht am Ende der Geschichte Israels, sondern in der Mitte, genauer gesagt: bei den Propheten. Die Geschichte Israels hat kein über sich selbst hinausweisendes Ziel, längst vor der Zeitenwende kommt sie an ihr Ende. Deshalb kann er sagen: „ D a ß aber in dieser Epoche ( = hellenistische Zeit) etwas Neues beginnt und daß nun die alte Geschichte Israels endgültig beschlossen ist, hat man selber empfunden."® 3 S o sieht er denn auch nicht Jesus Christus als den Gipfel der sich im Alten Testament anbahnenden Offenbarung, was j a eine von ihm geforderte geschichtliche Kontinuität voraussetzte, sondern er vergleicht Jesus von Nazareth, indem er die geschichtliche Dimension völlig ausschaltet, mit den Propheten Israels und sagt: „Wenn wir Jesus den Christus nennen, so tun wir es in dem Sinne, daß wir ihn für den Erfüller, zugleich aber auch für den Überbieter der religiösen und sittlichen Ideen der Propheten halten." 8 4 A u f der anderen Seite hat GUNKEL das Mißverhältnis zwischen dieser A r t theologischer Beurteilung und seinem religionsgeschichtlichen Ansatz selbst empfunden und deshalb — freilich mühsam genug — nachträglich nun doch eine Art geschichtlidier Verbindungslinie zwischen den Propheten und Jesus herzustellen versucht, indem er anmerkt: „aber auch die Religion der Propheten dauert, besonders unter den Psalmisten, fort und tritt schließlich im Evangelium Jesu in erneuter und verklärter Gestalt auf."® 5 Wo es dann aber auf eine Wertung des ganzen Alten Testaments ankommt, betrachtet er es als ein eigenes, geschlossenes Corpus Heiliger Schrift und bedenkt seine Rolle in der abendländischen Kulturwelt und Literaturgeschichte. Theologisch gerühmt werden die Propheten als auch heute noch gültige „Standarte wahrer sittlicher Religion", ästhetisch gewürdigt wird der „unübertreffliche Anschauungsstoff für die J u g e n d " , und drittens werden als religiös bedeutsam hervorgehoben die Lieder des Alten Testaments als „Urquell der E r b a u u n g " β β . GUNKEL schließt mit dem S a t z : „ S o bleibt das Alte Testament als religiöses Werk trotz seiner Schranken ein Fundament der religiösen und sittlichen Bildung der abendländischen Völker und als Literaturdenkmal eine nie auszuschöpfende Fundgrube künstlerischen Stoffes."® 7 S o wird man denn urteilen müssen, daß GUNKEL sein eigenes theologisches Programm nicht so ausgeführt hat, wie man es nach konsequenter Ausziehung seines theologischen Ansatzes hätte erwarten dürfen. Der theologisch sittliche Wertmaßstab wie das aus protestantischer Tradition zu erklärende Vorurteil gegen den K u l t hat in seinen Augen — und darin folgt er ja eigentlich nur seinem großen Vorgänger J . WELLHAUSEN Literatur 48, von mir kursiviert. « 4 R G G 1 V, 1913, 1877.