Der blinde Fleck der Evolutionstheorie. Ansätze zu einem gewandelten Naturverständnis 3495489576, 9783495489574, 9783495817148

Gehirnforschung und Evolutionstheorie sorgen für Aufregung. Die Gehirnforschung wartet mit Entdeckungen auf, die, wie si

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Der blinde Fleck der Evolutionstheorie. Ansätze zu einem gewandelten Naturverständnis
 3495489576, 9783495489574, 9783495817148

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Karl-Heinz Nusser

Der blinde Fleck der Evolutionstheorie

Ansätze zu einem gewandelten Naturverständnis

VERLAG KARL ALBER

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Karl-Heinz Nusser

Der blinde Fleck der Evolutionstheorie

VERLAG KARL ALBER

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Karl-Heinz Nusser

Der blinde Fleck der Evolutionstheorie Ansätze zu einem gewandelten Naturverständnis

Verlag Karl Alber Freiburg / München

Karl-Heinz Nusser The Blind Spot of Evolutionary Theory Approaches to An Altered Understanding of Nature Brain research and evolutionary theory cause a stir. Brain research comes up with discoveries that amount to a frontal attack on the dignity of man, as it pretends. The genetical evolutionary theory promises possible improvements of the human germ line that are supposed to lead to a larger benefit for everyone. Modern Darwinism justifies cell fusion and mutation with nature in order to provide a clean conscience for modern genetics. The book deals with this conflict situation of Darwinian theories and points to the recent openness of genomic knowledge. Have we understood human beings if we first of all have understood unicellular organisms, or do we rather, conversely, understand unicellular organisms in its striving only because we know life out of ourselves, as Robert Spaemann argues? Other thinkers that are close to evolutionary theory, like Hans Jonas, have seen that it is unhelpful with regard to the question of man’s future and of other living beings. The self-experience of a material being, like ourselves, which is animated, and which knows itself and says »I« to itself, refers to a responsibility that only man has and that he must embrace.

The Author: Karl-Heinz Nusser, born 1940, teaches philosophy at the University of Munich. He held guest professorships at the college of education in Weingarten, at the universities of Halle/Saale, Basel, Passau, Freiburg, and Augsburg. Publications, among others: Causal Processes and Sense-Grasping Reason (Kausale Prozesse und sinnerfassende Vernunft [1986]), On the Roots of Democratic Commonwealth (Über die Wurzeln des demokratischen Gemeinwesens [2005]), Freedom, Social Goods, and Justice (Freiheit, soziale Güter und Gerechtigkeit [2012]). Publications in journals, collections of essays, and lexica.

Karl-Heinz Nusser Der blinde Fleck der Evolutionstheorie Ansätze zu einem gewandelten Naturverständnis Gehirnforschung und Evolutionstheorie sorgen für Aufregung. Die Gehirnforschung wartet mit Entdeckungen auf, die, wie sie behauptet, einem Frontalangriff auf unsere Menschenwürde gleichkommen. Die genetische Evolutionstheorie verspricht mögliche Verbesserungen der Keimbahn des Menschen, die für alle zu einem größeren Nutzen führen sollen. Der moderne Darwinismus rechtfertigt Zellfusion und Mutation mit der Natur, um der modernen Genetik das gute Gewissen zu verschaffen. Von keiner Zivilisation war die Menschenwürde so bedroht wie von der heutigen. Das Buch befasst sich mit dieser Gemengelage darwinistischer Theorien und verweist auf die neue Offenheit des Wissens vom Genom. Haben wir den Menschen verstanden, wenn wir erst einmal den Einzeller verstanden haben, oder ist es gerade umgekehrt, wie Robert Spaemann meint, dass wir den Einzeller mit seinem Streben nur deshalb verstehen, weil wir Leben aus uns selbst kennen? Andere, der Evolutionstheorie nahestehende Denker, wie Hans Jonas, haben gesehen, dass diese bei der Frage der Zukunft des Menschen und der anderen Lebewesen keine Hilfe sein kann. Die Selbsterfahrung eines materiellen Wesens, wie wir es sind, das lebendig ist, sich selbst erkennt und zu sich »Ich« sagt, verweist auf eine Verantwortung, die nur der Mensch hat und die er wahrnehmen muss.

Der Autor: Karl-Heinz Nusser, geb. 1940, lehrt Philosophie an der Universität München. Gastprofessuren an der PH Weingarten, an den Universitäten Halle a. d. Saale, Basel, Passau, Würzburg, Freiburg und Augsburg. Veröffentlichungen u. a. Kausale Prozesse und sinnerfassende Vernunft (1986), Über die Wurzeln des demokratischen Gemeinwesens (2005), Menschenrechte und Leistungsgerechtigkeit (2007), Freiheit, soziale Güter und Gerechtigkeit (2012); Veröffentlichungen in Zeitschriften, Sammelwerken und Lexika.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © Daniel Mîrlea – Fotolia.com Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI Books Gmbh, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48957-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81714-8

Vorbemerkung zum Buch

Tiefer Dank gebührt meinem Lehrer Robert Spaemann. In Auseinandersetzung mit dem aktuellen Reduktionismus der Evolutionstheorie ergeben sich überraschende Perspektiven. Manche neodarwinistische Theorie hat mit Darwin recht wenig zu tun und der viel gescholtene Aristoteles kann mit Darwin in einen fruchtbaren Austausch treten. Für freundschaftliche Gespräche danke ich: Angelika und Reinhold Breunig, Thomas Buchheim, Felix Dirsch, Ulrich Fichtner, Robert Hettlage, Markus Kartheininger, Christian Matek, Henning Ottmann, Tilo Schabert, Christof Schefold, Harald Schöndorf, Harald Seubert, Lukas Trabert, Brigitte Vrochte, Christian Weidemann. Besonders danke ich meiner Frau, der das Buch auch gewidmet ist. München, den 23. März 2018.

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Meiner Frau

Inhalt

I. 1. 2. 3. 4. 5. II. 1.

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3.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neue Eugenik des Darwinismus . . . . . . . . . . Die philosophische Sinnfrage als Aufklärung . . . . . Ein Darwinismus der Offenheit für Aristoteles . . . . Die neue Situation der Genetik und ihr Unterschied zur genetischen Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . Ausführliche Übersicht der Kapitel . . . . . . . . . .

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Hauptteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natur, Mensch, Philosophie und Wissenschaft . . . . . 1.1 Verstehen, Erklären und der Begriff der Natur. Naturwissenschaftliche Bedingungsforschung und philosophische Wirklichkeitserkenntnis . . . . . . 1.2 Der Test der Selbstprüfung nach Hans Jonas . . . 1.3 Die Grenzen der Physik bei der Thematisierung menschlicher Intentionalität und menschlichen Bewusstseins und das daraus folgende Recht der Anthropomorphisierung . . . . . . . . . . . . . 1.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . Natur und Mensch als Komplementarität. Das Leibfundament des Bewusstseins bei Augustinus und der Irrtum des Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zusammenfassung und Überleitung zum nächsten Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Menschenrechte als Manifestation des unverzichtbaren Anthropomorphismus und die Hypothesen des stammesgeschichtlichen Gewordenseins . . . . . . . . 3.1 Menschenwürde und Menschenrechte . . . . . . 3.2 Die argumentative Einsicht in die Menschenwürde

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3.3 Zur Differenz von antiker griechischer und moderner Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Menschenwürde, das unmittelbare Wissen um den Personkern und die Seele . . . . . . . . . . . . 3.5 Die exzessive Tierethik als Entanthropomorphisierung durch entdifferenzierende Wissenschaft – das Mensch-Tier-Kontinuum . . . . . . . . . . . . 3.6 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist die Materie alles? Stephen Hawkings Lob der Ionier. Gibt es einen Beitrag der Vorsokratiker zum modernen evolutionistischen Prozessverständnis? . . . . . . . . . 4.1 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles’ naturphilosophische Aspekte heute: die Zielstrebigkeit der Lebewesen; ökologisches und aristotelisches Kreislaufdenken von Verdunstung und Niederschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Würde der Pflanzen und Tiere. Das Lebewesen und sein Streben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Natur und Kunst als Ursachen . . . . . . . . . . . 5.3 Die Biosphäre als Element des Kosmos. Der Kosmos als Lebensraum . . . . . . . . . . . . 5.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . Darwins erste naturhistorische These über die Entstehung der Arten (1859) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Evolution und Erkenntnis der Spezies . . . . . . . . 6.2 Homologe Beobachtungen und analoge Seinsaussagen – die Hypothesen des stammesgeschichtlichen Gewordenseins . . . . . . . . . . . 6.3 Der Mensch als Tier unter Tieren . . . . . . . . . . 6.4 Der Mensch als moralisches Wesen . . . . . . . . . 6.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Zufall und das Tier-Mensch-Kontinuum . . . . . . Die Natur als das Gute und Beste . . . . . . . . . . . . 8.1 Philosophischer und biologischer Artbegriff . . . . 8.2 Art und Population . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Teleologie und Biologie . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Zusammenfassung der Kapitel sieben und acht . . .

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Evolutionäre Genetik und evolutionäre Kosmogonie . . . 9.1 Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen der Interpretation des Gens . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Die reduktiven Analyseebenen der Genetik: Bottom up und Top down . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Das Recht der Lebewesen als Eigensein . . . . . . . 9.4 Kausal-genetisches evolutives Weltbild und geistige Verursachung durch Verursachung der Ziele . . . . 9.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . Die philosophische Kritik am Reduktionismus . . . . . . 10.1 Natürliche Selektion und Intentionalität der Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Der Physikalismus: Die Moleküle als Grund von allem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Die inkonsequente Aufhebung des Reduktionismus durch Thomas Nagel . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . Die moderne Weichenstellung: Präbiotische und biologische Evolution als Prozess einer Ganzheit oder Erklärung von Leben und Geist aus der Metaphysik und der schöpferischen Freiheit Gottes? . . . . . . . . . . . 11.1 Der Evolutionismus und die Hirnforschung als Erschütterungen unserer Kultur? . . . . . . . . . . 11.2 »Sein und Gewordensein« Die Spannung zwischen dem Sein und der inneren Möglichkeit neodarwinistischer Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Sein und Negativität . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Die neue Perspektive der Genetik: Von der Erklärung zur Forschung. Die Evolution als heuristische Idee . Die Fülle des teleologischen Werdensprozesses: Woher stammt das Gute der Natur? . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 Die Schwundstufe der Teleologie: die Teleonomie, Leben als heuristischer Begriff der neuzeitlichen Wissenschaft: Teleologie und Teleonomie . . . . . . 12.2 Die metaphysische Grundlage des Ziel- und Bewegungscharakters der Natur . . . . . . . . . . Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9.

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Einleitung

1.

Die neue Eugenik des Darwinismus

Gibt es in der Gegenwart eine Ideologieanfälligkeit der wissenschaftlich begründeten Evolutionstheorie? Die Erinnerung an eine solche ist in der Geschichte der westlichen Aufklärung nur allzu lebhaft. Der Sozialdarwinismus der europäischen Nationen des 19. Jahrhunderts mit seiner Konzentration auf den Kampf ums Dasein gipfelte schließlich in der Rassenpolitik des Nationalsozialismus und der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 und dem deutschen Grundgesetz von 1949 ist eine an der Personwürde orientierte gesellschaftliche Umorientierung erfolgt, die eine kurzschlüssige Akzeptanz eines nur graduellen Übergangs des Tiers zum Menschen und eine für Darwin selbst typische mechanische Erklärung der Anpassung durch das Prinzip »survival of the fittest« verbietet. Der normative Riegel des Grundgesetzes und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verhindern jedoch nicht die in der evolutionstheoretischen Genetik rumorende Utopie eines neuen besseren Menschen. Vor allem nicht die Anwendung der auf dem Darwinismus beruhenden These, dass die Natur auch ohne Gentechnik schon Zellfusion und Mutation vornehme, sodass die Gentechnik, ohne maßlos zu werden, sich auch dieser Mittel bedienen dürfe. 1 Bei den neuen Formen der Höherzüchtung handelt es sich nicht um rassistische, sondern um genetisch-utilitaristisch bedingte Motive, die zu einem besseren, einem »transhumanen« Menschen oder zu nützlicheren Pflanzen und Tieren führen sollen. Im Jahr 1997 spricht Lee M. Silver dem menschlichen Embryo jedes Leben ab: »Der Embryo besitzt noch keines der Attribute, die wir Nicole Karafyllis, Grüne Gentechnik: Pflanzen im Kontext von Biotechnologie und Bioökonomie; in: Thomas Kirchhoff, Nicole C. Karafyllis u. a. (Hg.), Naturphilosophie, Tübingen 2017, S. 290.

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Einleitung

menschlichem Leben im eigentlichen Sinne zuordnen würden.« Aufgrund der grenzenlosen permanenten Verbesserung der menschlichen Gene wird es im Jahr 2350 in den USA zwei Klassen von Menschen geben: »Die Menschen der einen Klasse werden als die Naturbelassenen bezeichnet, die der zweiten als die Gen-Angereicherten oder einfacher als die Gen-Reichen.« 2 Es handelt sich bei dem Buch von Lee M. Silver nicht um die abartige Idee eines inzwischen längst vergessenen Exzentrikers. In der Gegenwart gehen Philosophen ernsthaft von einer universell genveränderten menschlichen Natur aus. Zwei Beispiele – Nick Bostrom und Colin Farrelly – sollen erwähnt werden. Nick Bostrom entwickelt ein Argument für den Transhumanismus. Er fordert in seinem Buch Superintelligenz 3 die Verbesserung des menschlichen Embryos, weil sonst der homo sapiens unter die Vorherrschaft der Computer geraten würde. Eilfertig hat der Philosoph Colin Farrelly in seinem Buch Biologically modified Justice 4 für die nach der von ihm angenommenen allgemeinen Manipulation der Gene und der Abschaffung des menschlichen Genoms eintretende neue Lage eine Gerechtigkeitstheorie entwickelt, die die Verteilung der neu geschaffenen genetischen Vorteile regeln soll. Das Gerechtigkeitsproblem entsteht nach Farrelly deshalb, weil genetische Verbesserungen nur von Reichen bezahlt werden können, während aufgrund demokratischer Gleichheit im Sinne von John Rawls alle Menschen gerecht behandelt werden müssten. Entwicklungen in der Gehirnforschung ergänzen die verschiedenen Angriffe auf den Humanismus. Der sich auf den Neodarwinismus stützende Gehirnforscher Wolf Singer spricht von den problematischen Entdeckungen der Hirnforschung, die einem »Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschenwürde gleichkommen«. 5 Die aus der Zeit rassistischer Ideale bekannte Forderung der Höherzüchtung des Menschen wird in der Gegenwart als aufgeklärte Verbesserung des Menschen durch die Änderung seines Erbguts als neues Programm verkündet und angestrebt. Die vom Darwinismus ermöglichten sozialdarwinistischen und eugenischen Programme sind nicht, wie der emeritierte Max-Planck-Direktor Hans2 L. M. Silver, Remaking Eden. Remaking and Beyond in a Brave New World, New York 1997, dt. Übersetzung München 1998, S. 61, S. 14. 3 Berlin 2016. 4 Oxford 2016. 5 »Ein Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschenwürde«. Ein Gespräch mit Wolf Singer und Thomas Metzinger, in: Gehirn & Geist 04, 2002, S. 33.

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Die neue Eugenik des Darwinismus

Jörg Rheinberger meint, »unwiederbringlich historisch«, 6 sondern sie bedrohen erneut, wenn auch fortschrittskonform, die Integrität und Existenz der menschlichen Natur. Überdies ist die zweite unheilvolle Wirkung, zu der Darwin durch die Übertragung der ökonomischen Konkurrenz als eines Naturgesetzes auf die Welt der Lebewesen beigetragen hat, der Sozialdarwinismus. Und dieser ist wieder in der Globalisierung lebendig und verschärft diese. Gemeinhin wird mit Darwin angenommen, in der Natur herrsche das Recht des Stärkeren und die manchesterliberale Zurückdrängung sozialer Einbindungen ökonomischer Dynamik sei damit gerechtfertigt. Näheres dazu wird in Abschnitt 12.2 ausgeführt. Einsichten gemäßigter Evolutionstheoretiker wie Raymond Tallis, die dieser in seinem Buch Aping Mankind Neuromania, Darwinitis and the Misrepresentation of Humanity 7 dargelegt hat, kritisieren die deterministischen Kurzschlüsse, mit denen die Natur des Menschen biologistisch reduziert wird, und brandmarken diese als »Darwinitis« und »Neuromania«. Finden sich bei der wissenschaftlichen Genetik schon keine Stimmen, die auf die fehlende Eindeutigkeit des Gegenstandes der Erklärung durch das Prinzip der natürlichen Selektion hinweisen, so ist erst recht beklagenswert, dass der philosophische Mainstream die physikalistische Ausweitung der Begründung des Lebensverständnisses durch den Neodarwinismus als Dogma akzeptiert. Kritiklos wird die Aufhebung des naturphilosophisch gedachten Artbegriffs hingenommen und dadurch die in vielen ungeklärten Verästelungen und Widersprüchen vorliegenden evolutionistischen Theorien politisch zur eindeutig-aufgeklärten Errungenschaft des Westens hochstilisiert. Es gehört zur westlichen Aufklärung, mit der Philosophie in Auseinandersetzung mit der Physik und dem Physikalismus immer wieder darauf zu bestehen, dass die Biosphäre, das menschliche Bewusstsein und die Vernunft ebenfalls zum Kosmos gehören, dass Fragen nach der Entstehung des Lebens und dessen Höherentwicklung nicht aus der Struktur der Materie, sondern aus der Vernunft und dem Geist beantwortet werden müssen. Es ist das Verdienst des analytischen Philosophen Thomas Nagel, in seinem Buch Geist und Kosmos. Warum die materialistische neoDie Politik der Evolution. Darwins Gedanken in der Geschichte, in: Jost Halfmann und Johannes Rohbeck, Zwei Kulturen der Wissenschaft – revisited, Weilerswist 2007, S. 36–51. 7 Durham 2012. 6

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Einleitung

darwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist 8 darauf nachdrücklich insistiert zu haben. Deterministisch-eindeutige Erklärungsprozesse des Evolutionismus setzen sich über die Einsicht Kants, dass empirische Wissenschaften keinen absoluten Anfang und kein absolutes Ende, keine Prozesstotalität thematisieren können, hinweg. Die Philosophie muss, mit dem Verweis auf den in der menschlichen Erfahrung bereitliegenden Sinn des Ganzen, einen metaphysischen Rahmen bereitstellen, in dem der christliche Humanismus seinen gebührenden Platz findet.

2.

Die philosophische Sinnfrage als Aufklärung

Hält man sich an die Ideale der Aufklärung, dann muss man nicht nur die Freiheit der Wissenschaft, sondern auch die jedes einzelnen Menschen wollen. Kein Mensch kann sich gleichzeitig als frei und als Produkt genomischer Manipulation durch andere ansehen wollen. Die Idee der Menschenwürde ist ein philosophisches Argument, und jede Art von Humanismus, die diese verteidigt, beruht auf philosophischen Einsichten und Methoden. Es ist im Sinne der Aufklärung, wenn Philosophie einen Platz bei der kritischen Beurteilung der Forschungsprozesse beansprucht. Die aus der Menschenwürde abgeleiteten Menschenrechte sind eine Errungenschaft der westlichen Welt. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde schützt bislang das menschliche Genom vor Eingriffen und den »guten« Absichten eines Enhancements durch Forschungs- und Gewinninteressen. Die Fortschritte der Gentechnik haben den Industriegesellschaften eine revolutionäre Erfindung, eine neue Schneidetechnik, genannt crispr cas 9, beschert. Man kann damit sehr genau dasjenige Gen aus dem Genom eines Lebewesens herausschneiden, das man herausschneiden will. Manche Genforscher haben deren Bedeutung mit der Erfindung der Atombombe verglichen, andere haben auf die gefestigten sittlichen Haltungen der Forscher verwiesen, die eine Aufhebung und Manipulation des menschlichen Genoms verhindern würden. Führende Industrienationen wie die USA, England, die Schweiz und China haben die Ampeln für die Forschung an menschlichen Embryonen auf Grün gestellt. Wenn man mit dem deutschen Grundgesetz von der Unantastbarkeit der menschlichen Würde ausgeht, ist der Gedanke des 8

Amerikanische Erstauflage 2012, deutsche Erstauflage Berlin 2013.

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Die philosophische Sinnfrage als Aufklärung

Wesens des Menschen, einer Natur, die der Mensch hat, unaufgebbar. Solchermaßen implizierte Voraussetzungen, nur philosophischer Begründung fähig, werden durch das Vordringen spektakulärer naturwissenschaftlicher Programme und Denkweisen, besonders im Bereich der Hirnforschung und der Soziobiologie, unterminiert. Unter Berufung auf die Naturwissenschaft kann man heute in der Öffentlichkeit fast alles behaupten. Physiker wie Ben Moore oder Evolutionsforscher wie Francis Crick belehren uns, dass der Mensch ein zufälliges Produkt der Moleküle und deren Evolution sei. Crick vermeint zu wissen, was die Seele wirklich ist: »›Sie‹, Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen.« 9 Der Leiter des Zentrums für Theoretische Astrophysik und Kosmologie an der Universität Zürich, Ben Moore, schrieb am 26. 12. 2015 im Spiegel-online: »Einen Sinn des Lebens gibt es nicht, nein. Wir sind durch Zufall hier, wir sind hier, weil Moleküle diesen erstaunlichen Weg von Bakterien zu Elefanten hin zu Menschen eingeschlagen haben, es gibt keine Regeln, wie Moleküle sich verhalten sollen. Es ist erstaunlich, es ist großartig, dass wir hier sind, aber es steckt kein Sinn dahinter. Gefühle sind eine molekulare Interaktion, Hormone führen dazu, dass wir uns gut fühlen oder schlecht.« 10 An die Stelle der Natur ist in den Äußerungen dieser Denker die Darwin’sche Evolutionstheorie getreten. Das Wesen der Natur wird nicht mehr mit einer Totalität, die der Mensch versteht und der er sich unterordnen muss, in Verbindung gebracht, sondern mit kausalen Zusammenhängen, die zu beherrschen er bereits jetzt oder in Kürze in der Lage sein wird. Der inzwischen verstorbene Georg Picht hat im Jahr 1989 darauf hingewiesen, »dass die Naturwissenschaft, gerade deshalb, weil sie nach dem Wesen von Natur nicht fragt, die Natur zerstört«. 11 Picht weist darauf hin, dass die Natur von den griechischen Philosophen »das All« genannt wurde und die Bibel von ihr mit dem Wort »Schöpfung« spricht. Die von Kant errungene kritische Einsicht, dass die Welt als Ganzes nicht einzelwissenschaftlich Francis Crick, Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins, übersetzt von Havey Garagai, München 1994, S. 17. 10 Spiegel-online vom 26. 12. 2015. 11 Georg Picht, Der Begriff der Natur und seine Geschichte, Stuttgart 1989, S 5. 9

17

Einleitung

erkannt werden kann, wird von den Totalitätsansprüchen dieser Naturwissenschaftler übergangen. Manche Naturwissenschaftler verwenden den Totalitätsanspruch, von dem sie wissen und den sie voraussetzen, in einer Weise, als wären sie selbst in der Lage, diesen hervorzubringen. Diese eine göttliche Macht beanspruchende Haltung steht hinter der modernen Fortschrittsideologie, was ich anderswo aufgezeigt habe. 12 Für sie ist es die Aufgabe der physikalisch-technischen Experimente und ihrer diesen nachfolgenden Konstruktionen, diese Totalität hervorzubringen. Das Problem dabei ist, dass Natur gerade ein Wissen um das, was uns vorausliegt, um das Unbegründete und Vorwissenschaftliche ist. Natur wird verstanden und das Verstehen geht dabei auf das Lebendige und dessen Unableitbarkeit. Die umfassenden Horizonte wie Natur und Sein bestehen durch sich selbst und nicht durch unser Erklären oder Begründen. Philosophie besteht gerade darin, im Unterschied zur Wissenschaft dieses Unbegründete anzuerkennen und den nachdenkenden Menschen in Abhängigkeit dazu zu versetzen. Wissenschaft hängt wie Philosophie mit dem Begründen zusammen, aber was wir untersuchen und begründen wollen, liegt uns voraus. Wir haben dazu Zugang, insofern wir selbst Natur sind. Das primär Erkennbare ist nicht der Prozess, sondern das in sich Fertige. Dieses Fertige sind Ganzheiten, die von unserem Erkennen nicht konstruiert, sondern nur aufgenommen werden können. So wie die Natur, die ein umfassender Wirkungszusammenhang ist, können sie nur aufgefunden bzw. verstanden werden. Der nächste Schritt ist dann, dass der Mensch auch eine Ganzheit der Natur ist. Wenn in der Natur Ganzheiten existieren, dann ist der Mensch für sich selbst auch eine Ganzheit, die sich im Denken, Sprechen und Wollen erfährt. Der Gedanke der Totalität oder Ganzheit muss aus ihr selbst erfasst werden. Georg Picht hat gesehen, dass die neuzeitliche Wissenschaft unserem natürlichen Wissen um die Totalität nicht genügt, dass sie dieses weginterpretiert. Seine These, dass die neuzeitliche Wissenschaft die Natur zerstört, kann man dort bestätigt finden, wo reduktionistische Denkweisen beanspruchen, das Leben und Denken auf bereits anfänglich erkannte Molekülbewegungen zurückführen zu können. Der philosophische Weltbegriff dagegen, von Kant schließlich über die Kritik der UrteilsKarlheinz Nusser, Fortschritt. Der Glaube an die Selbstbewegung der Welt im Ganzen, in: Robert Hettlage und Alfred Bellebaum (Hg.), Religion. Spurensuche im Alltag, Wiesbaden 2016, S. 95–111.

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Die philosophische Sinnfrage als Aufklärung

kraft eingeführt, kann komplementär zum Begriff der Natur verstanden werden. Welt und das Verstehen von Welt sind dann Zugangsperspektiven zum Begriff der Natur. Wenn wir Urteile und Sätze über die Wirklichkeit fällen, nehmen wir eine Ganzheits- und Weltperspektive ein. Diese philosophische Herangehensweise an die Natur führt über den Formbegriff zu einer eindeutigen Wesenserkenntnis von Arten des Lebendigen. Von der Philosophie her ergibt sich daraus erst die Möglichkeit für die Darwin’sche Empirie, den Begriff einer Abwandlung der Arten in bestimmten geologischen Kontexten zu bilden. Die Darwin’sche Evolutionstheorie wird in diesem Verständnis eine Bedingungsforschung, die Veränderungen innerhalb der Arten, aber nicht das Entstehen neuer Arten erklären kann. Der Punkt, an dem sich Philosophie und Darwin’sche Evolutionstheorie sowohl berühren als auch trennen, ist der Begriff der Form. Die Form und ihre naturhafte Zielstrebigkeit ist nach Aristoteles zusammen mit der Materie die Voraussetzung der Konstitution der Naturwesen. Auch Darwin greift auf die Form zurück. Er bezieht sie jedoch auf die Kunsttätigkeit des Menschen (dessen Züchtungen), um anhand von dieser eine natürliche Zuchtwahl abzuleiten. Das menschliche Tun überträgt Darwin auf die Natur und sieht deren Wirken in der natürlichen Selektion. Damit greift Darwin aber zu kurz. Nicht nur das menschliche Tun muss übertragen werden, sondern auch die menschliche Vernunft. Die Besonderheit teleologischer Erklärungen bei Aristoteles muss mit den Entdeckungen Darwins ins Gespräch gebracht werden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung sind die Arbeiten, die durch Marko J. Fuchs und Annett Wienmeister unter dem Titel Funktion und Normativität bei Darwin und Aristoteles 13 publiziert wurden. Innerhalb des Neodarwinismus sind dann, wegen des Wegfalls der Naturbeziehung der aristotelischen Form, die Begriffe Form und Funktion die neuen Antinomien, in denen gegenwärtige Neodarwinisten wie Richard Dawkins und Steven Jay Gould umgetrieben werden. Damit wird sich dieses Buch ausführlich befassen. Am ehesten ist die Philosophie mit Evolutionsbiologen im Gespräch, die wie der Entomologe Axel Hausmann auf die Begrenztheit der Ergebnisse der Evolutionsforschung hinweisen: »Es wäre jedoch vermessen, den Eindruck erwecken zu wollen, dass wir zum Thema Evolution schon alles wüssten. … Seit Charles Darwin werden Stammbäume zur Veranschaulichung stammesgeschichtlicher Ent13

Bamberg 2016.

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Einleitung

wicklungslinien verwendet. Sie haben durchaus großen Wert in der phylogenetischen Forschung und vermögen einen guten ersten Überblick über die Datenlage zu verschaffen. Jedoch sollte man sich auch der Problematik der Zweidimensionalität und der linearen Darstellung ›Art‹ bzw. Entwicklungslinie bewusst bleiben, die dem multidimensionalen Geschehen in Raum und Zeit nur bedingt Rechnung trägt, so wie sie die in vielen Parametern (Ökologie, Verhalten, Morphologie, Genetik) heterogenen, innerartlichen Muster mit oft sehr zersplitterten Verbreitungsarealen außen vor lässt.« 14 Dieser vorsichtigen Selbstbegrenzung stehen in der Evolutionstheorie Behauptungen wie die von Theodosius Dobzhansky gegenüber, nach dem nichts in der Biologie Sinn macht, »es sei denn im Lichte der Evolutionstheorie«. Wie viele andere Forscher möchte Dobzhansky suggerieren, dass Evolution längst keine Theorie mehr sei, sondern ein Faktum, an dem kein vernünftiger Mensch mehr zweifeln könne. 15 In Wirklichkeit ist dies aber nur der zugrundeliegende heuristische Glaube, der mit den reduktionistischen Methoden der Anpassung und Selektion die Wesensfrage ausklammern möchte, ohne dass er lückenlos zeigen könnte, wie die Anpassungen graduell zustande kamen oder wie die Regel des »survival of the fittest« auch im Katastrophenfall die Weiterentwicklung der Lebewesen erklärt. Ulrich Kutschera nennt sein 2009 bei DTV erschienenes Buch über die Evolution »Tatsache Evolution«. Im Eifer für die Evolutionstheorie übersieht er dabei, dass Wissenschaften primär aus Theorien bestehen, die sich aus Schlussfolgerungen von Tatsachen ergeben. Auch eine bloße Ansammlung von Tatsachen reicht dabei nicht aus, damit sich daraus eine wissenschaftliche Theorie ergibt. Die Tatsachen, aus denen die Wissenschaften Schlüsse ziehen, müssen intersubjektiv überprüfbar sein und sie müssen, da die Evolution vergangen ist, ein überprüfbares richtiges Alter haben. Wie für jede menschliche Geschichte werden Theorien über die Geschichte des Kosmos und des Lebens erschlossen. Harald Schöndorf weist in seiner Erkenntnistheorie darauf hin, dass die Naturwissenschaft ihre Objekte mit intersubjektiv überprüfbaren und von außen an die Sache herangehenden Instrumenten und Methoden untersucht. »Sie klassifiziert ihre Objekte und erforscht welche Anfangsbedingungen notAxel Hausmann, Faszination Biodiversität, in: Blickpunkt: Darwin, hg. von Eva Maria Herzog und Hans-Christian Bauer, Norderstedt 2011, S. 19. 15 So Olivier Rieppel, Unterwegs zum Anfang, Zürich 1989, S. 251. 14

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Die philosophische Sinnfrage als Aufklärung

wendig sind, damit ein bestimmter Prozess in Gang kommt und wie der Mechanismus dieses Prozesses im Einzelnen abläuft.« 16 Die Philosophie ist nicht auf diese Art empirischer Verifikation angewiesen; denn in ihr wird das Sich-selbst-Wissen des Forschers und sein Zusammenwirken mit anderen Forschern zur Erklärung der Wirklichkeit unmittelbar thematisch. Sie setzt voraus, dass der Forscher weiß, dass er sich auf eine von ihm verschiedene Wirklichkeit richtet, eine Wirklichkeit, die sowohl ihn selbst als auch die Natur umfasst. Das für die Philosophie prägende Wissen ist, dass dieses Wissen nicht hypothetisch und nicht empirisch überprüfbar ist, weil es für die empirische Überprüfbarkeit schon vorausgesetzt werden muss. Das Grundverständnis von Wirklichkeit umfasst den Menschen und die Natur, so wie der Mensch Natur wiederum in sich selbst und als das Umfassende außerhalb seiner selbst vorfindet. Mit dem Wissen von der Wirklichkeit, der der Mensch gegenübersteht, liegen ebenso wie beim Wissen um die Natur allgemeine Erfahrungen vor, die dem Menschen immer schon möglich sind. Das Wissen um die Wirklichkeit und das Wissen um die Natur deuten an, dass dem Menschen etwas vorausliegt, das nicht von seinem Tun und Machen abhängig ist, sondern ganz umgekehrt, von dem er abhängig ist, weil es ihn begrenzt, etwas, das ihm vorausgeht, oder wie Robert Spaemann das Natürliche immer zu kennzeichnen pflegt, etwas, das von selbst so ist, wie es ist. Die naive Sprechweise, wenn man sagt: »Die Natur hat alles gut gemacht, die Pflanzen, Tiere und Menschen«, geht von dieser unmittelbaren Erfahrung aus und verbindet mit dem unmittelbar Vorgefundenen Dank. Der Mensch erkennt dabei seine Endlichkeit, sein begrenztes Urteilsvermögen gegenüber dem Vorgefundenen an. Die Erkenntnis seines eigenen Wesens ist für den Menschen keine empirisch-statistische durch Beobachtung des Menschen von außen, sondern ergibt sich aus seinem Selbstverhältnis und seinem Verhältnis zur Natur, das sich der Mensch als endliches Wesen geben muss. Diese Erkenntnis ist dabei weder seinem Willen zur schrankenlosen Freiheit, wie Sartre gemeint hat, überlassen noch seiner empirisch beobachtenden und vergleichenden Vernunft, die sich subjektive Wünschbarkeiten ausdenkt. Wie die Natur durch den Menschen beurteilt wird, hängt wesentlich davon ab, als was er sich selbst sieht, ob als Beschenkter und Empfangender oder als Richter, Beherrscher und Ausbeuter der Natur. 16

Harald Schöndorf, Erkenntnistheorie, Stuttgart 2014, S. 14.

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Einleitung

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Ein Darwinismus der Offenheit für Aristoteles

Die »aufgeklärte« neodarwinistische Evolutionsbiologie nimmt einen höchsten vergleichenden und richtenden Standpunkt ein. Aus der Position eines Wunschdenkens »der besten aller Welten« übt sie an der naturgegebenen Ausstattung des Menschen Kritik. Dann wird bemängelt, dass sich beim Menschen die Luft- und Speiseröhre kreuzen, dass die Zähne nicht für ein größeres Alter taugen, oder ähnliches (Francisco Ayala). Dabei weiß man nicht, wie es dem Menschen erginge, wenn die genannten Mängel behoben, aber andere dafür da wären. Dass die Natur Resultat von Wesensgesetzlichkeiten ist, kann man mit der Evolutionstheorie nicht denken und rechtfertigen; denn diese kann nur behaupten, faktisch seien die existierenden Arten und der Mensch durch Mutation und Selektion das Ergebnis der Evolution. Die natürliche Auslese bei Darwin besteht nicht darin, dass dem Organismus zum Überleben verholfen wird. Vielmehr ist das Überleben durch Anpassung das beobachtbare Resultat eines an sich selbst richtungslosen und ziellosen Evolutionsprozesses der belebten Natur. Darin ist jedoch keine Achtung und Ehrfurcht vor dem Lebendigen enthalten, auch keine Einsicht in eine »unantastbare Menschenwürde«, wie es im deutschen Grundgesetz Artikel 1 formuliert ist. Die Evolutionstheorie ist »keine Lehre des Lebens«, weil sie keine normativen Ziele der Lebewesen enthält und begründen kann. Es ist das grundsätzliche Defizit der Evolutionsbiologie als strenger Wissenschaft, die sie ja sein will, dass sie keine Prognosen machen kann – ganz anders als die Physik. Sie enthält nur Behauptungen über die Entstehung des Lebens, aber kann nichts über dessen Zielcharakter sagen. Damit sprengt die Evolutionstheorie die Grenzen der Biologie; denn diese muss immer von zielgerichteten Abläufen ausgehen. Wenn wir die Physik betrachten, so thematisieren die Gesetze Newtons über die Schwerkraft nur Bewegungen materieller Körper. Die Planetenbewegungen werden erklärt. Sterne als Gas und Energiezustände werden nicht geboren und sterben nicht, auch dann nicht, wenn Astrophysiker in Unterhaltungssendungen des Fernsehens dauernd davon sprechen. Darwin überträgt jedoch den leblosen materiellen Mechanismus der Newton’schen Schwerkraft mit dem Mechanismus der Selektion auf die Lebewesen, ohne dass er das Nächstliegende des Menschen, die mit den anderen Lebewesen gemeinsame Formbedingung des Menschen, die Seele, als Seinsausstattung berücksichtigt. Die große Gemeinsamkeit von Menschen und den ande22

Ein Darwinismus der Offenheit für Aristoteles

ren Lebewesen, die Seele, wird von Darwin weginterpretiert. Das zentrale Problem, das wir oben schon erwähnt haben, ist die funktionale Aufhebung des metaphysischen Formbegriffs durch Darwin zugunsten des Dualismus von Form und Funktion, zugunsten einer universellen Übertragung des menschlichen Züchtungshandelns auf die Natur. Die Variationsbreite der lebendigen Arten wird nicht von der Form der Arten her interpretiert, sondern von ihrer Entwicklung. Durch den Begriff der Selektion ist die Anpassung an die Umwelt entscheidend und damit das Überleben der einen Art im Vergleich zum Überleben anderer Artexemplare. Anpassung zeigt sich somit erst im Faktum des Überlebens und nicht in der Selbsterhaltung der Form in Verbindung mit der Materie, wie es bei Aristoteles gedacht wurde. Das Fehlen der normativen Ziele ermöglicht eine schrankenlose Genetik. Es gibt keinerlei Verbot mehr. Mit der neuen Schneidetechnik »Crispr. Cas 9« wird man bald alles machen, was momentan oder zukünftig gesundheitliche oder finanzielle Handlungsvorteile verspricht. Der Aufschrei bleibt aus, wie Thea Dorn entsetzt in der Zeit bemerkt. 17 Die heute vorherrschende Richtung der synthetischen Theorie, die die Entstehung des Lebens aus der Materie erklären will, ist eine Ideologie, die der modernen Genetik alle normativen Türen zur Umgestaltung des lebendigen Materials der Pflanzen, Tiere und des Menschen öffnet. Wenn man sagt, die Natur hat alles gut gemacht, muss man in erster Linie eine Zielstrebigkeit der Natur und ein Eigenwirken der Natur annehmen. Die Mechanismen der Evolutionstheorie, Selektion und Mutation, können dann Hilfsmittel sein, Veränderungen innerhalb der Artgrenzen zu erklären. Damit würde man sich auf die erste Phase des Schaffens von Darwin, auf das klassische Werk Die Entstehung der Arten begrenzen. Für die Biologie als Wissenschaft würde die Notwendigkeit der natürlichen Haltung des Menschen, die eine empfangende und demütige, keine radikal konstruktive ist, bestehen bleiben. Dies wäre der Verzicht auf eine gesteigerte Naturbeherrschung, die durch den Reduktionismus ermächtigt wird, es wäre der Verzicht auf Roboter-Menschen und schrankenloses Ummodeln von Pflanzen, Tieren und Menschen, es bliebe eine Erkenntnis erhalten, deren Anerkennung der Biologe Portmann vor vielen

http://www.zeit.de/2016/27/gentechnik-crispr-anwendungsgebiete-kritik/kom plettansicht?print; heruntergeladen am 30. 6. 16.

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Jahren angemahnt hat: »das Geheimnis des Lebens und das der Evolution«. In der über Darwin hinaus erweiterten Evolutionsbiologie ist die reduktionistische Interpretation der Onto- und Phylogenese, d. h. der Individual- und Stammesgeschichte, weit verbreitet. Der Behauptung, dass das Leben sich aus den vom Big Bang geschaffenen materiellen Voraussetzungen über Wahrscheinlichkeiten bis hin zum Menschen entwickelt habe, entspricht die andere Behauptung, dass das Gehirn einen äußerst komplizierten Steuerungsmechanismus darstelle, der zwar noch nicht erforscht sei, von dessen endgültiger Kenntnis wir aber nicht mehr weit entfernt seien. Die der Evolutionsbiologie und Gehirnforschung gemeinsame, seit Descartes verbreitete irrige Auffassung ist, dass die Materie selbst schöpferisch sei. Der tatsächlich vorhandene Fortschritt der Wissenschaften wird zu einem utopischen verklärt, wie Dietmar Mieth, Die Diktatur der Gene, ausführt. 18 Gegen diese irreführenden und kühnen Konstruktionen muss man mit Richard Hassing darauf hinweisen, dass es keinen, aber auch gar keinen Beweis für die Ableitbarkeit des Lebens aus der Materie gibt. Die physikalischen Gesetze, insbesondere jene Newtons, die Darwin inspiriert haben, sind speziesneutral, d. h. sie sind nicht in der Lage, die ganz anderen Gesetzmäßigkeiten des Lebens zu schaffen. 19 Die Spezies-Neutralität bei Newton ermöglicht, durch die Ausblendung von formaler und finaler Kausalität in der Natur die unterschiedlichen Arten unter umfassende Gesetze der Gravitation, des Elektromagnetismus und der Thermodynamik zu stellen – Gesetze, die notwendig, aber nicht hinreichend für die Erklärung des Lebens sind. Durch die Ausblendung von formaler und finaler Kausalität vermag die Physik Newtons dann aber die Ziele Darwins, die natürliche Selektion des Lebendigen zu erklären, nicht zu erfüllen. Bei der Erklärung der Strukturen des Universums ist dann die Spezies-Neutralität wiederum von Vorteil, weil sie der ganzen Kosmogonie unterlegt werden kann. Schwerkraft, Elektromagnetismus und Thermodynamik wirken strukturneutral. 20 Bei der Darwin’schen Übertragung physikalischer Ordnungs- und Unordnungsbegriffe auf die Ent-

Dietmar Mieth, Die Diktatur der Gene. Biotechnik zwischen Machbarkeit und Menschenwürde, Freiburg 2001. 19 Richard Hassing, Final Causality in Nature and Human Affairs, The Catholic University of America Press 1997. 20 Hassing, a. a. O., S. 241. 18

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Ein Darwinismus der Offenheit für Aristoteles

stehung des Lebens und die biologische Evolution gibt es dann wieder Probleme, weil diese für biologische Phänomene nicht geeignet sind, 21 insbesondere muss die physikalische Methode auf die für die Erklärung der Lebewesen unabdingbare Zweckursache verzichten. Indes zeigen sich neue Entwicklungen in der Biologie und im Verständnis der Darwin’schen Theorie. Ein »Darwinismus der Offenheit für Aristoteles« kündigt sich in neueren biologischen Arbeiten wie z. B. der von D. Walsh an. Dort heißt es: »The explanation of adaptive evolution is a 21st century job that calls for classical Aristotelian concepts.« 22 Schon im Jahre 1997 lagen die Ausführungen Richard Hassings vor mit ihrer Anregung, die aristotelische Theorie der internen Finalität neu zu entdecken. Ferner zeigt eine brillante Untersuchung von Christian Steiner zur modernen Anthropologie einen weiteren Gesichtspunkt auf, der im Folgenden auszuführen ist. Steiner greift wie bereits Robert Spaemann und Reinhard Löw in ihrem Buch Die Frage Wozu? diejenige Form der Erklärung auf, die auf die Frage »Warum?« antwortet. Diejenige Erklärung, die auf diese Frage bei der Erklärung des Lebendigen antwortet, ist keine physikalische, sondern eine, die sich auf die Ebene aktueller Vollzüge von Lebewesen bezieht. 23 Schließlich sind die Einsichten von Robert Spaemann und Reinhard Löw zu entwickeln, die aus philosophischer Perspektive die Widersprüchlichkeit des modernen Darwinismus und die Aktualität naturphilosophischer Überlegungen aufgezeigt haben. 24 Angesichts der weitverbreiteten Billigung der modernen Evolutionstheorie mag die hier vorgeschlagene Begrenzung der Reichweite der Evolution auf Vorgänge innerhalb der Arten überraschen. Es gibt jedoch gute Gründe, von einer begrenzten Tragweite der Darwin’schen Theorie auszugehen und ein alle Phänomene übergreifendes naturwissenschaftlich erkennbares Lebensprinzip »Evolution« zu bestreiten. Hubert Yockey, Information Theory and Moleculare Biology, Cambridge 1992. Zitiert von Kristian Köchy, Organismen, Gene, Populationen, in: Gottfried Heinemann, Rainer Timme (Hg,), Aristoteles und die heutige Biologie, Freiburg 2016, S. 122. Die Stelle bei D. Walsh, Evolutionary Essentialism, in: British Journal of Philosophy of Science Vol 57, 2006, S. 425–448. Dort ferner die Hinweise auf die Arbeiten von E. F. Keller, T. Vinci und J. S. Robert. 23 Christian Steiner, Vernunft als menschliches Charakteristikum, in: Anton Hügli (Hg.), Die anthropologische Wende, Studia Philosophica Vol 72/2013, S. 205–220. 24 Robert Spaemann, Reinhard Löw, Die Frage Wozu?, Stuttgart 1981; ergänzte Neuauflage unter dem Titel: Natürliche Ziele, Stuttgart 2005. 21 22

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Einleitung

Dann könnte der Sozialdarwinismus, dessen Folgen zwei entsetzliche Weltkriege waren, nicht weiteres Unheil anrichten. In der Soziobiologie und manchen Richtungen der Anthropologie ist latent die These verbreitet, dass der Mensch ein Tier unter Tieren sei. Damit wird ein Überlebenskampf der menschlichen Gesellschaften suggeriert, anstatt über Möglichkeiten der Anerkennung, der Selbstbegrenzung und des Teilens nachzudenken.

4.

Die neue Situation der Genetik und ihr Unterschied zur genetischen Evolutionstheorie

Durch die neue Entwicklung der Genetik ist deren Verbindung zur genetischen Evolutionstheorie lockerer geworden. Die Genetik muss nicht mehr per se als reduktionistisch mit evolutionistischer Prämisse auftreten. Auch kann der empirisch forschende Genetiker ohne weiteres von ontologischen Annahmen ausgehen, etwa von dem ontologischen Prinzip, dass das Sein besser als das Nichtsein ist. Gerade in seinen Versuchen erwartet er von Kombinationen neue Ergebnisse, die auf der Fülle des Seins beruhen können. Sie kann sich empirisch verstehen und auf das Leben erklärende Totalitätsansprüche verzichten. Dazu führe ich in Kapitel 11.4 Näheres aus. Diese veränderte Situation ermöglicht es, Darwins Theorie in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit unbefangener zu thematisieren. Nach Myriam Gerhard ist, wobei sie sich auf Ernst Mayr bezieht, Darwins Theorie »keineswegs ein einheitliches, in sich abgeschlossenes Theoriengefüge, sondern eine Mehrzahl von mehr oder weniger aufeinander verweisenden selbständigen Theorien«. 25 Sie unterscheidet drei Theorienelemente, die je auch für sich stehen könnten: »1. die Evolutionstheorie, der gemäß die Lebensformen nicht statisch, sondern als in einem steten, kontinuierlichen und graduellen Entwicklungsprozess begriffen zu verstehen sind, 2. die Dependenztheorie, der gemäß alle Arten auf einige wenige Urformen als ihren gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden können, und Myriam Gerhard, Streit um die Deutungshoheit der Natur: Materialismus-, Darwinismus- und Ignorabimus-Streit, in: Kirchhoff, Karafyllis u. a. (Hg.), Naturphilosophie, Tübingen 2017, S. 69.

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Ausführliche Übersicht der Kapitel

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die Selektionstheorie, der gemäß der Anpassungsdruck einer spezifischen Umgebung zur natürlichen Selektion der am besten angepassten Exemplare einer Art führt.« 26 Es ist nun deutlich zu sehen, dass diese drei Elemente nicht notwendig miteinander verklammert sind. Entwicklungsprozesse lassen sich auch mit aristotelischen Theorien des Werdens und einem entsprechenden ersten Grund und Ziel der Bewegung denken. Darüber nachzudenken gibt es durch die Neuausgabe der aristotelischen Schrift Über Werden und Vergehen durch Thomas Buchheim genügend Anlass. 27 Während die Rückführung der Arten auf einige wenige Urformen weitgehend eine spekulative biologische Hypothese bleibt, bedarf die natürliche Selektion mit ihrem Kriterium des »survival of the fittest« durch die Entdeckungen der Epigenetik 28 der Korrektur. Nach diesen kommunizieren das Erbgut und die Umwelt miteinander, was sich im Rahmen eines aristotelisch verstandenen Form-MaterieVerhältnisses verstehen lässt und das bisherige Paradigma des »survival of the fittest«, das ein Sich-Durchsetzen des jeweils stärksten Individuums besagt, ablöst. All dies trägt dazu bei, dass die in diesem Buch entwickelte Kritik am Totalitätsanspruch des Evolutionismus triftig wird. Die innere Verbindung von Darwin’schem Evolutionismus und Genetik ist nicht zwingend. Das im Darwinismus liegende Weltverständnis, das beansprucht, die Entwicklung der Lebewesen und des Menschen allein aus der Empirie und einer dieser entsprechenden Wissenschaft zu erklären, ist ein überholter Positivismus des 19. Jahrhunderts.

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Ausführliche Übersicht der Kapitel

Im ersten Kapitel über das Verstehen und Erklären der Natur wird das selbstverständliche Wissen, das wir von der Natur haben, herausgearbeitet und den positiven und negativen Auswirkungen des wissenschaftlichen Reduktionismus gegenübergestellt. Gegen den Naturalismus wird die Selbsterfahrung des Menschen im Handeln und

Myriam Gerhard, ebenda, S. 70. Aristoteles, Über Werden und Vergehen, übersetzt und erläutert von Thomas Buchheim, Berlin 2010. 28 Zur Epigenetik Peter Spork, Gesundheit ist kein Zufall. Wie das Leben unsere Gene prägt. Die neuesten Erkenntnisse der Epigenetik, München 2017. 26 27

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Einleitung

Denken einsichtig gemacht. Das geistige Sein, zu dem der Mensch in seinen Begriffen und Urteilen Zugang hat, ist der Grund eines Verstehens, das die verschiedenen Seinsstufen von den Pflanzen, über die Tiere bis zum geistbegabten Menschen umfasst. Fraglos, das muss nicht eigens ausgeführt werden, erleichtern viele Errungenschaften der modernen Wissenschaften und der Technik unser Leben. Die Macht der Wissenschaften beim Eindringen in unser Lebensverständnis und in unsere Art der Kommunikation nimmt kontinuierlich zu. Das erste Kapitel kritisiert die antihumanistischen Grenzüberschreitungen der Wissenschaftssprache und betont, dass das Lebendige aus sich selbst verstanden werden muss, dass es nicht durch Konstruktionen materieller Prozesse ableitbar ist. Auch unser Verständnis vom Selbstverständlichsten, das wir haben, unser Verständnis vom »Ich« als Handlungszentrum der Person, kann nicht, wie von einigen Gehirnwissenschaftlern behauptet wird, durch hypothetisch-funktionale Gehirnprozesse ersetzt werden. Nach diesen Auffassungen wäre unser »Ich« demnach eine Täuschung, verursacht von kausalen Prozessen im Gehirn. Die Gehirnwissenschaften beweisen dies aber nicht. Sie versprechen nur, es einmal beweisen zu können. Anstelle von Fakten werden uns Hypothesen angeboten und das selbstverständliche Wissen, mit dem und durch das wir leben, wird außer Kraft gesetzt. Mit Rückgriff auf die Theorie von Hans Jonas wird dieser trickhafte Versuch des wissenschaftlichen Übertölpelns beiseitegeräumt. Für einige Gehirnforscher, Genetiker und Evolutionstheoretiker ist es charakteristisch, dass sie sich nicht auf die Lösung partikularer Probleme begrenzen, sondern verkünden, in Kürze das Selbstbewusstsein oder die Entstehung des Lebens erklären zu können. Von der Physik her hat sich Brigitte Falkenburg mit diesen Ansprüchen kritisch auseinandergesetzt und deren Unhaltbarkeit aufgezeigt. Das Selbstbewusstsein oder das Leben zu erkennen und darzustellen, ist eine Verstehensleistung des Menschen, der wie andere Lebewesen schon einmal deshalb von der Natur abhängt, weil er Hunger oder Durst hat. Disziplinmäßig muss sich diese Verstehensleistung in der Philosophie ausdrücken. Seit dem Umbruch von der aristotelischen zur frühmodernen Physik im 17. Jh. ist der Wirklichkeitsbezug der Physik und Biowissenschaft auf quantitative Objekte von immer umfassenderer Ausdehnung oder immer intensiveren Bestandteilen eingeschränkt. Ein Verstehen des Weltalls, der Seele oder des Geistes, das durch quantitative Erklärung nicht möglich ist, wird aus dem praktischen 28

Ausführliche Übersicht der Kapitel

Weltumgang des modernen Menschen eliminiert. Bei Thomas Nagel findet sich der universelle Anspruch der Erklärung und der Forderung nach einer Erklärung der Möglichkeit des Geistes formuliert: »Aber die Existenz des Geistes ist gewiss eine Gegebenheit, die bei der Konstruktion eines jeden Weltbildes vorauszusetzen ist: Zu allermindest muss seine Möglichkeit erklärt werden.« 29 Nagel sieht jedoch nicht, dass eine andere Methode beim Geist greift, nämlich die des Verstehens. Die Wirklichkeit Gottes und des Geistes kann nur aufgenommen und verstanden werden. Er kann nicht wie eine empirische Gegebenheit beobachtet und erklärt werden. Wie verhalten sich das Bewusstsein des Menschen und die Natur zueinander? Das zweite Kapitel über Natur und Mensch als Komplementarität greift dazu auf das Zweifelsargument von Augustinus zurück und stellt dieses der rationalistischen Ableitung des Bewusstseins bei Descartes gegenüber. Das Sein des Bewusstseins ist nicht die klare, helle und durchsichtige Idee des »ich denke, ich bin« von Descartes, sondern das Lebewesen, das von sich weiß. Wir erfahren unser Leben als Selbstsein und schreiben dieses Selbstsein auch anderen Lebewesen zu. Die Tätigkeiten des Lebewesens und seiner Organe verweisen auf die Wirklichkeit der Seele. Im dritten Kapitel über das Recht der Tiere und des Menschen entwickle ich das Mensch-Tier-Verhältnis, das nur fälschlicherweise als ein Kontinuum zu betrachten ist. Christian Steiner hat gezeigt, dass die Bestimmung des Menschen nicht durch eine zur Natur der Tiere additive Definition erfolgt. Im Unterschied zu Behauptungen des Darwinismus ist unser Unterschied als Menschen »zu den Tieren stärker als der Unterschied zwischen zwei beliebigen Tierarten, vielmehr ist er von der Art wie der Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren«. 30 Die von der Natur gegebene, nicht-relativierbare Würde des Menschen ist im deutschen Grundgesetz als Grundlage der Menschenrechte interpretiert worden. Neben dieser ontologischen Wurzel der Menschenrechte gibt es historische Entwicklungsgründe, die vor allem mit der Existenz des europäischen Absolutismus zusammenhängen. Analog zu den Menschenrechten werden heute Tierrechte diskutiert. Ich gehe mit Nikolaus Knoepffler davon aus, dass es gute Gründe gibt, »nichtmenschlichen Lebewesen keine prinzipielThomas Nagel, Das letzte Wort, Stuttgart 1999, S. 194. Christian Steiner, Vernunft als menschliches Charakteristikum, in: Studia Philosophica Vol 72, 2013, S. 220.

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le Gleichheit mit Menschen und keinen prinzipiellen Subjektstatus zuzuerkennen, andererseits aber ihre Empfindungsfähigkeit moralisch zu gewichten«. 31 Alle Wissenschaften, so führe ich im dritten Kapitel aus, besonders die weltbildsetzenden, sind dezidiert politisch. Der hohe Grad der Resonanz in der Öffentlichkeit dient nicht zuletzt der Forschungsfinanzierung und persönlichen Profilierung. Gerade die verschiedenen reduktiven Ansätze mit ihrem Anspruch, die Entstehung des Bewusstseins oder des Lebens erkennen zu können, prägen das Ethos in den Feuilletons und die Fortschrittserwartungen in den führenden Industrienationen. Der Materialismus ist deshalb so aktuell, weil er einen grenzenlosen Fortschritt verspricht. Mein bereits erwähnter Aufsatz Fortschritt. Der Glaube an die Selbstbewegung der Welt im Ganzen 32 zeigt, dass diese materialistische Fiktion einer Selbstbewegung der Welt im Ganzen das Versprechen eines grenzenlosen Fortschritts enthält. Während die Gegenwart den Naturbezug des Menschen durch den Einfluss der genannten Wissenschaften immer mehr abschneidet, ist mit der Anerkennung und rechtlichen Verankerung der Menschenwürde in anderer Weise ein Naturbezug präsent, der auf eine Erfahrung von Totalität und Unbedingtheit gerichtet ist. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde im Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes ist die letzte Trutzburg gegen den Ansturm der biokapitalistischen Interessen der Forscher und der Industrie. In einem Buch von Nick Bostrom, zuerst veröffentlicht in der Oxford University Press, immerhin einem seriösen Verlag, heißt es: »Falls wir eines Tages künstliche Gehirne bauen, die das menschliche an allgemeiner Intelligenz übertreffen, dann könnte diese neue Art von Superintelligenz überaus mächtig werden. Und genau wie das Schicksal der Gorillas heute stärker von uns Menschen abhängt als von den Gorillas selbst, so hinge das Schicksal unserer Spezies von den Handlungen dieser maschinellen Superintelligenz ab.« 33 Diese Äußerung erinnert an die Eugenik unheilvoller Zeiten, die scheinbar nicht überwunden ist. Für die damalig herrschende Mentalität soll eine Äußerung von Konrad Lorenz im Jahr 1940 stehen, der zur Steigerung des menschlichen Erbguts auffordert: »Ob wir das Schicksal Nikolaus Knoepffler, Tier- und Umweltethik, in: Nikolaus Knoepffler, Peter Kunzmann, Ingo Pies, Anne Siegetsleitner (Hg.), Einführung in die angewandte Ethik, Freiburg 2006, S. 83. 32 In: Hettlage und Bellebaum (Hg.), Religion. Spurensuche im Alltag, Heidelberg 2016, S. 95–111. 33 Nick Bostrom, Superintelligenz, Berlin 2014, S. 9. 31

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Ausführliche Übersicht der Kapitel

der Dinosaurier teilen, oder ob wir uns zu einer ungeahnten, unserer heutigen Gehirn-Organisation vielleicht gar nicht erfassbaren Höherentwicklung emporschwingen, ist ausschließlich eine Frage der biologischen Durchschlagskraft und des Lebenswillens des Volkes.« 34 Steigerung des Erbguts heißt bei Nick Bostrom nicht arisches Züchtungsprogramm, sondern Verbesserung des Genoms aller Menschen. Die Thesen von Bostrom führen genetische Tagträume weiter, die 1963 in einem Symposium der Ciba Foundation formuliert wurden. Im Vorwort der Tagungspublikation heißt es, dass die Welt für die Ankunft der Atomenergie nicht vorbereitet gewesen sei. Nun sei die biologische Forschung in einem Gärungsprozess, bei dem sie Methoden der Beeinflussung »natürlicher Prozesse« schaffen könne, die fast jeden Aspekt des menschlichen Lebens transformieren würden. 35 Der überzeugte Kämpfer für den Darwinismus J. B. S. Haldane spricht über die biologischen Möglichkeiten der menschlichen Spezies in den nächsten 10 000 Jahren, Hermann J. Muller über den genetischen Prozess durch eine freiwillige Keimbahnselektion. Die anderen Themen, die hier nicht eigens ausgeführt werden können, enthalten einen ähnlich euphorischen Wissenschaftswahn. In der ethischen Schlussdiskussion äußert sich Josua Lederberg und diese wird hier durch ein Originalzitat wiedergegeben: »We seem to prefer to put off the problem by talking in terms of the next ten thousand years, which is the kind of time-scale on which genetic modification could just begin to be plausible. On a very much shorter time-scale, we are going to modify man experimentally through physiological and embryological alterations, and by the substitution of machines for his parts. I wonder to what extent it is really worth thinking about genetic modification until we have made full use of these other methods. If we want a man without legs, we don’t have to breed him we can chop them of; if we want a man with a tail, we will find a way of grafting it on to him.« 36 Der bekannte Entdecker der DNA-Doppelhelix, Francis Crick, weist in der ethischen Diskussion darauf hin, dass die Entwicklung der Biologie die traditionellen Grundlagen des ethischen Glaubens zerstöre, wobei es nicht einfach sei, etwas an deren Stelle zu

Konrad Lorenz, Nochmals: Systematik und Entwicklungsgedanke im Unterricht, in: Der Biologe 9, 1940, S. 29. 35 Man and his Future. A Ciba Foundation Volume, edited by Gordon Wolstenholme, London 1963, Preface. 36 Man and his Future, a. a. O., S. 362. 34

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setzen. 37 Eine Perspektive für das, was an deren Stelle gesetzt werden solle, müsse sich, so argumentiert J. Z. Young, nicht nur an der Größenordnung von 10 000 Jahren, sondern an den relevanten 500 Millionen Jahren der Evolution orientieren. 38 Das elitäre Selbstbewusstsein der versammelten Genetiker drückt schließlich Josua Lederberg aus, der feststellt, dass der versammelte Kreis von Gelehrten diese ethischen Fragen nicht allein entscheiden könne. Man müsse dem Rest der Welt (»the rest of the world«) auch Gelegenheit geben, diese Fragen zu diskutieren (»should have the opportunity to discuss them«). 39 Wegen rassistischer und biologistischer Tendenzen war diese Tagung zeitweilig verrufen, aber Gordon Wolstenholme hat sie wieder öffentlich zugänglich gemacht und man muss vermuten, dass diese frühe Programmatik wieder aktuell ist. Es ist dringend notwendig, auf solche abseitigen Gedanken aufmerksam zu machen; denn sie stellen eine ernsthafte Gefahr dar. Im Endeffekt wird es auf das Gleiche hinauslaufen, ob die Menschheit durch gewaltige Wasserstoffbomben oder durch Selbstmanipulation ausgelöscht wird. Ernsthaft gemeint, aber doch nicht mehr als ein science-fiction-Produkt ist die Untersuchung von Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von morgen. 40 Wie der Titel schon andeutet, werden dem Menschen ein biologisch fast unbegrenztes Leben und ähnliche vermeintliche Fortschritte prophezeit. Die Wahrung der Menschenwürde wird nur gelingen, wenn das Genom des Menschen als ein Bestes der Natur interpretiert wird, das verstanden und akzeptiert werden muss und nicht allen Erklärungen und Plänen, die aus der Genetik stammen, zu unterwerfen ist. Im vierten Kapitel treffen wir auf die ersten Anfänge der Philosophie des Abendlandes, die einen Übergang von religiös-mythischen Chaos-Formen zu kosmologischen Welterklärungen darstellen. Ich behandle die Vorsokratiker und Atomisten. Indem diese alles auf materielle Grundstoffe und atomare Bestandteile der Körper zurückführen, haben sie keine Begründungen von Abläufen, die über die Vernunft verstanden werden. Sie können nicht erklären, warum eine Erkenntnis richtig oder falsch ist. Sie zeigen nicht, warum die Entwicklungen, die sie beschreiben, auf ein »Bestes« gehen. Wie So37 38 39 40

Man and his Future, a. a. O., S. 364. Man and his Future, a. a. O., S. 373 f. Man and his Future, a. a. O., S. 375. München 2017.

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Ausführliche Übersicht der Kapitel

krates im platonischen Dialog Phaidon erklärt, ist dies vor allem der Grund, weshalb er sich von der damaligen Naturphilosophie abgewandt hat. Durch ein Weiterdenken der Vorsokratiker, auch besonders der Theorien von Parmenides und Heraklits, rückt bei Platon im Dialog Timaios die Zielstrebigkeit in den Mittelpunkt des Denkens und Aristoteles macht die empirisch beobachtbare Zielstrebigkeit der Lebewesen und den auf das Gute ausgerichteten Entwicklungscharakter der Weltprozesse zum Mittelpunkt seiner Naturphilosophie, was vor allem durch die Forschungsarbeit von Thomas Buchheim deutlich geworden ist. 41 Das fünfte Kapitel fragt nach dem, was wir heute von Aristoteles’ Naturphilosophie lernen können. Das Lebendige in der Natur erkennen wir durch seine zielstrebigen Verhaltensweisen. Sicher, Aristoteles hat noch nichts von den physikalischen Gesetzen der Gravitation, der Elektrodynamik und Thermodynamik gewusst, aber er hat die lebendige Natur umfassend analysiert und durch ihr Zielstreben beschrieben. Dieses ist eine der Natur immanente Tendenz, die sich in den regelmäßigen Vorgängen, die die Lebewesen durchlaufen, zeigt. Bei allen Lebewesen, bei den Pflanzen, Tieren und Menschen, strebt die Natur nach ihrer Bestform. Es wäre für die Begrenzung der gegenwärtigen Tendenzen der internationalen Gen-Industrie wichtig, anzuerkennen, dass die Bestform der Lebewesen unübertreffbar ist. Darwins Theorie der Entstehung der Arten nimmt, erstaunlicherweise ganz aristotelisch, ihren Ausgang von dem Streben jedes Exemplars einer Art nach einer bestmöglichen Ausstattung, um in der Konkurrenz mit anderen Exemplaren bestehen zu können. Darwin selbst und seine Nachfolger ordnen dieses Naturstreben der »natürlichen« Selektion unter. Bei Aristoteles haben alle natürlichen Prozesse ein bestimmtes Ziel. Auch die menschliche Natur weist ein solches Streben auf natürliche Ziele auf. Die Vorgegebenheit einer zielgerichteten Natur, wie sie von Platon und Aristoteles gelehrt wurde, ist nicht widerlegt. Sie wurde durch die Interessen der Naturbeherrschung in der frühen Neuzeit durch die Theorien von Descartes, Galilei und Newton zurückgedrängt und ist teilweise in Vergessenheit geraten. Die von Darwins Lehre überzeugten Naturforscher verleugnen den teleologischen Aspekt von Darwins Theorie zugunsten von deren Grundzug einer naAristoteles, Über Werden und Vergehen, übersetzt und erläutert von Thomas Buchheim, Berlin 2010.

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türlichen Selektion und der Angepasstheit an die physikalische Methode. An die Teleologie erinnert der Philosoph Robert Spaemann. Dessen bedenkenswerte These vom heute als selbstverständlich geltenden, aber trotzdem nicht legitimen Recht der modernen Naturbeherrschung können wir nur zu unserem Schaden missachten. Die ökologischen Folgeschäden der modernen Naturausbeutung haben deutlich gemacht, dass es nicht nur die Kausalursachen zu beachten gilt, sondern auch die natürlichen Zielursachen und die damit gegebenen Grenzen. Das sechste Kapitel behandelt Darwins erste naturhistorische These über die Entstehung der Arten von 1859. Darwins berühmte Schrift enthält noch nicht die weitergehenden monistischen Schlussfolgerungen, wie sie das spätere Werk über die Abstammung des Menschen entwickelt. Weniger bekannt ist, dass Darwin einen mit Aristoteles gemeinsamen Ausgangspunkt hat, seine Verwendung der Analogie von menschlicher Schaffenskunst und deren Verhältnis zur Natur. Mit Aristoteles gedacht, müssten wir die Kunst als Nachahmung der Natur verstehen. Darwin indes überträgt die menschliche Kunst nicht auf eine zielgerichtete Natur, sondern auf das Faktum der im Konkurrenzkampf stattfindenden Selbsterhaltung. Während Aristoteles die Gesamttendenz der Natur metaphysisch auf die Zieldynamik, die der unbewegte Beweger auslöst, zurückgeführt hat und damit trotz seiner Distanz zu Platon in einer gewissen Nähe zu diesem verblieb, löste sich Darwin von alteuropäischen theologischen Voraussetzungen und interpretierte die Selbsterhaltung jedes Wesens in Spannung mit der Begrenztheit des Platzes durch die jeweilige Nische, in der sich die Lebewesen befinden. Thomas Hobbes, Isaac Newton und Adam Smith sind die geistigen Riesen, auf deren Schultern Darwin steht. Die Natur schafft für die Lebewesen nicht nur günstige Bedingungen. Sie fordert sie auch heraus und setzt sie unter Druck. Genau so hatte Hobbes die Einsetzung des absoluten Souveräns als Überlebensbedingung des Naturwesens Mensch interpretiert. Die Macht des absoluten Souveräns wendet die im Naturzustand immer präsente Gefahr des gewaltsamen Todes des Menschen ab. Hatte Newton als allgemein bewegende Kraft der Körper die Schwerkraft entdeckt, nahm Darwin nun an, dass eine ähnliche Kraft der Natur wie die Schwerkraft Newtons bei der Entwicklung der Lebewesen wirksam sei. Newtons Theorie wirkte als eine Art Rahmen für die Darwin’sche Theorie, obwohl keineswegs bewiesen war – und bis heute auch noch 34

Ausführliche Übersicht der Kapitel

nicht bewiesen ist –, dass die materiellen Gesetze ausreichen, das Lebendige zu erklären. So kam es, dass die Übernahme der physikalischen Theorie Newtons durch Darwin in einer Evolutionstheorie des Lebendigen und in deren zentralem Konzept, der Selektion, resultierte. Die »Schwerkraft« Newtons war somit zum Darwin’schen Selbsterhaltungsstreben jedes Lebewesens und zu dem durch die Natur in Form der Selektion ausgelösten Selbsterhaltungsdruck unter der Voraussetzung der beschränkten Naturressourcen geworden. Aus der zielstrebigen Natur des Aristoteles wird die undurchschaubare Natur, wie sie den neuzeitlichen vertragstheoretischen Entwürfen von Hobbes und Rawls zugrunde liegt. Das siebte Kapitel entwickelt die These, dass die Darwin’sche Theorie des Buchs von 1859 über die Entstehung der Arten in einer Verschränkung von natürlicher Finalität und erdgeschichtlicher Katastrophenzufälligkeit besteht. Ohne dass Darwin die Naturphilosophie von Aristoteles kennengelernt hat, betont er die Notwendigkeit von finalen Ursachen, die dazu beitragen, dass das Lebewesen seine Bestform im Kampf mit seiner Konkurrenz erstrebt. Das Heranziehen finaler Ursachen durch Darwin wurde in der Geschichte des Darwinismus, angefangen mit Ernst Mayr, immer geleugnet. Zur Erklärung des Artenwandels kommt dann bei Darwin, das ist das Neue gegenüber Aristoteles, die Selektion ins Spiel. Das achte Kapitel führt weiter in Darwins Lehre ein und zeigt deren Entwicklung auf. Das vorige Kapitel behandelte Darwins berühmtes Werk Über den Ursprung der Arten mit seiner Beschreibung der Varianten der Tier- und Pflanzenwelt. Diese Varianten werden nach dem Muster der menschlichen Zucht auf einen Auswahlmechanismus der Natur zurückführt. Darwin nimmt verschiedene Entwicklungslinien von Pflanzen und Tieren an. Er geht weder von einem Ursprung des Lebens noch von der Annahme, dass das Leben aus der Materie entstanden sei, aus. Die natürliche Selektion »als eine schöpferische Kraft zweiter Ordnung« 42 zwingt die Lebewesen zur Veränderung und verlegt diese als kausale Bewegung in das Lebewesen selbst. Es fehlt aber eine klare Aussage über das Leben selbst, ob dieses etwa in sich selbst eine Evolution sei, sodass auch der Mensch davon betroffen sei. Durch das Konzept der relativen Anpassung wird die Teleologie aufgehoben. Es gibt nur eine stetige Selbsterhaltung der organischen Elemente, aber keinen wirklichen Endzustand, der 42

Gerald Hartung, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2016, S. 50.

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Einleitung

das Beste des Lebewesens darstellt. Damit wird durch den heutigen Neodarwinismus eine schrankenlose Gentechnik möglich. Als Darwin dann 1871 sein zweites Hauptwerk Die Abstammung des Menschen veröffentlicht, gibt es in der Biologie mit Thomas Henry Huxley (1825–1895), Ernst Haeckel (1834–1919) und August Schleicher (1821–1919) bereits weitergehende Positionen, die eine Abstammung aus dem Tierreich annehmen. Eine Weiterentwicklung der Darwin’schen Theorie findet schon zu Darwins Zeiten durch Ernst Haeckel statt. An dessen Theorie kann man ersehen, was im Unterschied zu Darwin selbst ein undifferenzierter Darwinismus ist. In seinen Schriften Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen vom Jahr 1874 und in Welträtsel aus dem Jahr 1899 entwickelt Haeckel das Konzept eines »universalen Substanzgesetzes«. Er unterstellt dem Darwin’schen Entwicklungsgedanken ein universales Prinzip, eine materielle Substanz, die sich als Leben entwickelt. In Die Welträtsel heißt es: »Die Substanz desselben [des Lebens] mit ihren beiden Attributen (Materie und Energie) erfüllt den unendlichen Raum und befindet sich in ewiger Bewegung.« 43 Nach Haeckel stammt alles Leben von einigen Urformen ab. Er konzipiert einen einheitlichen zielgerichteten Prozess der Entwicklung und stützt sich wie Darwin auf die vergleichende Anatomie und die Paläontologie. Aber bei Haeckel ist eine gesetzliche Dynamik untergelegt. Die Substanz bewirkt notwendig mit ihrer Kraft die Hervorbringung des Menschen. Der christliche Schöpfer wird, was bei Darwin offengehalten ist, bei Haeckel durch einen natürlichen Prozess einer Substanz abgelöst. Der Mensch ist eine Art fortgeschrittener Affe. Darwin entnimmt der Philosophie, genauer der englischen Moralphilosophie seiner Zeit, den Begriff des moralischen Sinnes und des moralischen Gefühls. Dieses leitet er sowohl aus der Kooperation als auch aus der Konkurrenz von menschlichen Gemeinschaften her. Als soziales Tier hat der Mensch eine mehr oder weniger enge Bezugsgruppe. Eine solche Gruppenmoral kann sich aus der Einsicht der Nützlichkeit reziproker Unterstützung ergeben, aber reicht das, um universelle Zusammenschlüsse in einem Staat, der auf der Einsicht in Recht und Unrecht beruht, zu erklären? Darwin zitiert den Ethiker James Mackintosh (1837), ferner Kant und dessen Frage nach dem Ursprung der Pflicht. Das von diesen entwickelte hohe Niveau der Moral möchte er auf Eigenschaften von Stämmen zurückführen, die durch Zusam43

Ernst Haeckel, Die Welträtsel, Berlin 1899, S. 15.

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Ausführliche Übersicht der Kapitel

menhalt, Gehorsam, Mut und Sympathie über andere Stämme gesiegt haben. Indes ist fraglich, ob durch Kriege eine bessere Moral entwickelt wird. Zeitgenössische Evolutionsdenker und Kollegen Darwins wie Lyell und Wallace waren gegenüber Darwins Versuch, die höhere Moral des Menschen aus einer tierischen Basis zu entwickeln, skeptisch. Auch für uns heute ist eine Skepsis gegenüber dem Versuch, den Menschen als Tier unter Tieren zu entwickeln, angebracht. Die menschliche Natur, die als freie und gleiche zu begreifen ist, ist nur unter einer Norm begreifbar. Dieser Zustand findet sich nur beim Menschen vor und ist nur von dieser Ebene her erkennbar. Das achte Kapitel entwickelt aktuelle Argumente des wissenschaftlichen Darwinismus und zeigt dessen auch durch politische Einflüsse und wissenschaftliche Vorurteile wechselnde Positionen auf. Hans-Jörg Rheinberger referiert einige Auswirkungen des Darwinismus in Deutschland auf den Nationalismus und Imperialismus am Ende des 19. Jhs. und am Beginn des 20. Jhs. 44 Thomas P. Weber informiert in seinem Buch Darwin und die Anstifter 45 vorzüglich über aktuelle Probleme des Darwinismus. Doch zunächst zurück zu Darwin selbst. Als dieser 1871 sein zweites Hauptwerk Die Abstammung des Menschen veröffentlichte, war die metaphysische Lücke, die er in der Argumentation seines ersten Werkes Die Entstehung der Arten gelassen hatte, längst geschlossen. Dieses Werk geht ja nur über die Entwicklung der Arten als erschlossene reale Veränderungen, ohne dass über ein umfassendes Subjekt dieser Veränderungen etwas gesagt würde. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des zweiten Hauptwerks lehren jedoch Thomas Henry Huxley, Ernst Haeckel und August Schleicher die Theorie von einem materialen und formalen letzten Subjekt, das bewegende Grundlage der Materie und einfacher Lebensformen, die sich bis zum Menschen herauf entwickeln, ist. Aufgrund seiner christlichen Herkunft und der Haltung seiner Frau hat Darwin, ganz anders als etwa Herbert Spencer oder Ernst Haeckel, keine rassistischen Vorurteile, aber er vermag im Verhältnis von Mensch und Tier nicht genügend zwischen notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu unterscheiden. So gelangt er zu einer biologischen Natureinheit von Tier und Mensch, wobei die Geistigkeit des Menschen Hans-Jörg Rheinberger, Die Politik der Evolution. Darwins Gedanken in der Geschichte, in: Halfmann, Rohbeck, Zwei Kulturen der Wissenschaft revisited, Weilerswist 2007, S. 39. 45 Thomas P. Weber, Darwin und die Anstifter, Köln 2000. 44

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Einleitung

trivialisiert wird. Wenn er das Phänomen des menschlichen Gewissens auch Hunden zuspricht, dann verwechselt er diese hervorragende Gabe, die sich an Menschen wie Edith Stein, Mahatma Gandhi, Martin Luther und Martin Luther-King gezeigt hat, mit dem Phänomen der Dressur, das freilich bei Hunden sehr erfolgreich durchgeführt wird. Innerhalb des aktuellen Darwinismus gibt es große Lehrunterschiede, die mit den Positionen von Richard Dawkins, Steven Jay Gould, Denis Noble, Shapiro und anderen umschrieben werden können. 38 Jahre nach der Erstveröffentlichung des spektakulären Buchs von Richard Dawkins The Selfish Gene (1976) veröffentlichen Staffan Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger ein Buch Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme 46, das die Lehre von der Mittelpunktstellung des Gens aufhebt und einen Paradigmenwechsel in der Genetik beschreibt. Die Autoren verweisen auf die fast unüberschaubare Literatur und referieren den kritischen Überblick von Sahotra Sarkar. »Er unterscheidet fünf verschiedene Reduktionskonzepte, von denen drei für die Genetik besonders relevant seien: eine ›schwache Reduktion‹, wie sie der Begriff der Erblichkeit verkörpere; eine ›abstrakt-hierarchische Reduktion‹, wie sie die Verwendung informations-basierter Erklärungen in der molekularen Genetik darstelle.« Dabei betont Sarkar, dass »Reduktion – in ihren verschiedenen Typen – über die formalen Belange der meisten Wissenschaftsphilosophen 47 hinaus für die Wissenschaften besonders interessant ist«, insofern sie eine »wertvolle, manchmal aufregende und gelegentlich unerlässliche wissenschaftliche Strategie darstelle«. 48 Der bekannte französische Genetiker Jean Gayon hat darauf hingewiesen, dass in der Genetik gleich drei sich im Grunde ausschließende philosophische Methoden zur Anwendung kämen: der Phänomenalismus, der Instrumentalismus und der Realismus. 49 Ich Frankfurt 2009; Staffan Müller-Wille ist Dozent für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie und Research Fellow des Forschungszentrums für Genomik in der Gesellschaft an der Universität Exeter. Hans-Jörg Rheinberger ist Direktor am MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. 47 Man beachte, dass immerhin von Philosophen gesprochen wird! 48 Müller-Wille, Rheinberger, a. a. O., S. 129 f. 49 Jean Gayon, From measurement to organization: A philosophical scheme for the history of the concept of heredity, in: The Concept of the Gene in Development and Evolution: Historical and Epistemological Perspectives, hg. von P. Beurton, R. Falk und H.-J. Rheinberger, Cambridge 2000, S. 69–90; zitiert bei Müller-Wille, Rheinberger, a. a. O., S. 143 f. 46

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Ausführliche Übersicht der Kapitel

möchte hier nicht weiter erläutern, dass Gayon die Forschungslage mit drei völlig widersprüchlichen philosophischen Ansätzen statt sie zu dekonstruieren, diese für konsistent erklärt. Ich möchte vielmehr auf eine heikle Situation der Genetik aufmerksam machen. Die Autoren schreiben, »dass der Begriff des Gens, der zu den Hochzeiten der klassischen Genetik und in den frühen Phasen der Molekulargenetik dominiert hatte, nicht nur von der molekularen Evolutionsund Entwicklungsbiologie weitgehend dekonstruiert wurde«, und gestehen dann ein, dass »das klassische molekulare Genkonzept weiterhin als eine Art Stereotyp funktioniert, trotz der vielen Fälle, wo dieses Modell keine prinzipielle Beantwortung der Frage erlaubt, ob eine bestimmte Sequenz ein Gen ist«. 50 Möglicherweise zeigt diese Äußerung, dass vorgefasste Ideen und Vorurteile in der Genetik und in der genetischen Evolutionstheorie über empirische Unterschiede hinwegsehen lassen. Als Wissenschaftsphilosoph ist man jedoch veranlasst, zwischen der Genetik, die ein ganzes organisches Lebensphänomen vorliegen hat, das sie in seine Teile zerlegen kann, und der genetischen Evolutionstheorie, die aus Teilen ein Ganzes reduktiv erschließen möchte, zu unterscheiden. Mit dem Unterschied von genetischer Forschung und genetischer Evolutionstheorie befasst sich speziell der Abschnitt 11.2. Der mereologische Fehlschluss, aus einer Zusammensetzung von Teilen auf das Ganze schließen zu wollen, ist ein ganz grundlegender Einwand gegen die genetische Evolutionstheorie, wie sich in der beispielhaften Schwierigkeit zeigt, aus molekularen Genkonstellationen etwa eine fünfgliedrige Hand ableiten zu wollen. Wie diese Verlegenheit einfach mit der Behauptung der gelungenen reduktiven Erklärung des Lebens überdeckt wird, ist schon fast ein Gemeinplatzwerbetext, der im Folgenden idealtypischerweise auf Englisch entworfen wird: »Evolution, or constant change in nature is the deepest of human ideas. […] The dramatic revolution unfolded new informative horizons of constant combinatorial diversity, change, and emerging information from simple to complex in biological evolution … Much of the understanding of genome complex adaptive architecture, dynamic reorganisation, expression and regulation – as well as the origin of life, cells and biochemical networks – is a future challenge.« 51 Wir treffen wieder auf dasselbe Muster, das seit den wissenschaftlichen Revolutionen der frühen Neuzeit (Galilei, 50 51

Müller-Wille, Rheinberger, a. a. O., S. 132 f. Der Text stammt aus einem englischen Buch über die Evolutionstheorie.

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Einleitung

Descartes und Newton) in der Welt ist und in der Gegenwart fast als Dogma behandelt wird, dass es eine wissenschaftliche Erklärung der Entstehung des Lebens aus der Materie gebe, was aber nicht der Fall ist und niemals bewiesen wurde. Auch durch die Erklärung, dass es eine »future challenge« sei, wird es zu keiner Tatsache. Im neunten Kapitel geht es nicht um den aktuellen Forschungsstand der empirischen Genetik, 52 sondern um die evolutionäre Genetik und die evolutionäre Kosmogonie als Extrempositionen. Von Darwin her, der zwar jede Frage nach der Natur des Lebens vermeiden will, ihr aber doch nicht entkommt, kann man diese Positionen nur mit einem spekulativen Überschwang ihrer Vertreter rechtfertigen. Es muss deshalb immer wieder festgehalten werden, dass Darwin am Schöpfungsbegriff festgehalten hat, was ein markanter Unterschied zur modernen genetischen Evolutionstheorie ist, mit ihrer Auflösung der Lebewesen in atomistische Strukturen, die selbst schöpferisch sein sollen. Markant ist in diesem Zusammenhang das Scheitern der reduktionistischen Gen-Theorie von Richard Dawkins durch die Korrektur der solitären Stellung der Gene. Es gibt in der empirisch arbeitenden genetischen Theorie (u. a. Denis Noble, James Shapiro, Staffan Müller-Wille, Hans-Jörg Rheinberger) eine neue Sicht auf die Anpassungs- und Vererbungsdynamik der Organismen, über die hier kurz berichtet wird. Kritisch diskutiert wird dagegen die genetisch-evolutive Totalerklärung der Naturgeschichte durch John Maynard Smith und Eörs Szathmáry. Eine gewisse Nähe zu finalen Erklärungen gewinnt der offene Holismus von Sahotra Sakar und Scott Gilbert. Im zehnten Kapitel kritisiere ich den Reduktionismus auf der Basis philosophischer Einsichten. Durch die evolutionär-genetische Erklärung der gesamten Naturgeschichte wie bei John Maynard Smith und Eörs Szathmáry wird das Ganze der Natur in einen Möglichkeitsraum aufgelöst, der aus relationalen Ursache-Wirkungs-Verhältnissen besteht. Die genetische Erklärung bedingt eine Abkehr von der Wirklichkeit, weil alles Spätere aus früheren Formen entstanden sein muss. Der Reduktionismus schließt einen Materialismus ein und zeigt sich auch bei einigen Vertretern der Hirnforschung. Dass die ganze Wirklichkeit durch die Methode der Physik erkannt werden kann, wird anhand der Thesen des Physikers Carlo Rovelli diskutiert. Rovelli verwechselt universelle Messmethoden der Physik mit einem erkenntnistheoretischen Grundlegungscharakter, den die Physik 52

Vgl. dazu: Helen Pearson, What is a Gene?, in: Nature Vol. 441, 2006, S. 399–401.

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Ausführliche Übersicht der Kapitel

eben, wie Brigitte Falkenburg überzeugend gezeigt hat, nicht hat. 53 Erfreuliche, mit dieser Arbeit verwandte Einsichten finden sich bei Thomas Nagel, auch wenn Nagel es nicht über sich bringt, zu einem absoluten und schöpferischen Geist weiterzuschreiten. Zum elften und zwölften Kapitel: Es gibt ein populäres Verständnis der Evolutionstheorie dahingehend, dass man nicht wisse, wohin sich die Evolution entwickle. Das ist in dem Sinne richtig, dass niemand weiß, wie die Naturgeschichte verlaufen wird. Auch hier gilt, dass wir die Zukunft nicht kennen können. Da aber unser Denken und Handeln auf die uns zugängliche Wirklichkeit beschränkt ist und Argumente der Physik oder physikalischen Astronomie, die sich auf Einsichten beziehen, die vielleicht in Millionen Jahren zur Verfügung stehen, real nicht zählen, müssen wir uns auf die erfahrbaren Wechselwirkungen des Menschen mit seiner Umwelt stützen. Angesichts der modernen essentiellen ökologischen Erkenntnisse ist eine Aussage von ökonomisch orientierten Forschungsinstituten wie: »Die Evolution hat weder zum Ziel, Individuen zu schützen, noch den Menschen als Krone der Schöpfung zu präsentieren. Sie hat überhaupt kein Ziel«, 54 nicht nur fatalistisch. Sie imaginiert auch eine Unschuld, die das 19. Jahrhundert besessen hat, als man von der Bedeutung der Ökologie noch nichts wusste, die es aber heute nicht mehr gibt. Das in dem Zitat ausgedrückte schrankenlose Machtstreben bestimmter Eliten ist jedoch – noch – eine Randerscheinung. Im Allgemeinen wird die Evolution nicht als fatalistisches Argument ins Feld geführt, vielmehr wird anerkannt, dass der Mensch in der Lage ist, seine ökologischen Nischenbedingungen, die die Erde ihm geschenkt hat, zu erhalten und die Klimaerwärmung zu verlangsamen. Weltweite Abkommen sollen die schädlichen Eingriffe des Menschen reduzieren, so wie man schon jetzt in einzelnen Ländern in der Lage war, die natürliche Qualität der Flüsse, Seen, der Erde und der Luft wiederherzustellen bzw. zu verbessern. Bei der Beurteilung der Lebewesen und der gesamten Natur gibt es in der Einschätzung von deren Güte und Sinnhaftigkeit einen Bruch, der durch Darwin im 19. Jahrhundert zustande kam, aber nicht in jeder Hinsicht zwingend ist. Brigitte Falkenburg, Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung, Heidelberg 2012. 54 Norbert Bolz, David Bosshart, Gerd Folkers, Peter Wippermann und Stefan Kaiser, Bang: Die Zukunft der Evolution. Wie die Konvergenz der Spitzentechnologien den Menschen zum allmächtigen Schöpfer macht, Gottlieb Duttweiler Institut 2007, S. 39. 53

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Einleitung

Eine zwingende Notwendigkeit von Sinn und Ziel der Natur ergibt sich für Aristoteles aus dem Wirklichkeitscharakter des Werdens der Natur im Falle des einzelnen Lebewesens. Der Bohnensamen wird unter normalen Wachstumsbedingungen wieder eine Bohnenpflanze. Das Werden der Natur ist unabhängig vom menschlichen Forschungskonsens und den diesem Konsens zugrundeliegenden Ansichten der Menschen. Auch ein einstimmiger Konsens der Forschergemeinschaft kann sehr oft falsch sein, wie die Klimakatastrophe zeigt. Entscheidend ist, dass dem Werden ein Ziel auf eine Realität eingegeben wurde und es somit nicht in der bloßen Möglichkeit verbleibt. Da alle Dinge in Bewegung sind, lässt sich auch eine Gesamtnatur denken, die von den Bewegungsstrukturen aller Dinge bestimmt ist. Werden und Vergehen bilden, wie wir weiter unten sehen werden, den pulsierenden Seinsbereich der Natur. Der entscheidende Unterschied zur Evolutionstheorie ist, dass diese die Unveränderlichkeit und Geistigkeit der Formen als Naturzweck aufgibt und nur das faktische Resultat von Prozessen als survival of the fittest interpretiert. Wirklichkeit hat in darwinistischen Evolutionstheorien keine Strebetendenz zum Besten, sondern ist primär Bedrohung für das eigene Überleben. Diese neuzeitliche Akzentverschiebung im Naturverständnis begünstigt Entwicklungen zum Sozialdarwinismus. Es macht einen Unterschied, ob man die Natur mit dem unverfänglichen Blick, der sich bei Aristoteles findet, betrachtet oder mit dem Blick Darwins, der die Natur vom Konkurrenzkampf der neuzeitlichen Ökonomie her interpretiert. Bei Aristoteles heißt es in der Schrift Über Werden und Vergehen: »Da nach unserer Behauptung in allen Dingen die Natur immer nach dem Besseren strebt, besser aber das Sein als das Nichtsein ist […] dieses aber unmöglich in allem gegeben sein kann, weil es in weiterem Abstand zum Prinzip steht, füllte der Gott in der noch übrig bleibenden Weise das Ganze auf, indem er das Werden unablässig machte.« 55 Für den Menschen kann man diese Aussage so lesen, dass die Natur für alle genügend Lebensmöglichkeiten bereitstellt, was freilich auch impliziert, dass sich die Menschen einer Zeit dieser Natur, an der sie alle teilhaben möchten, verbunden fühlen und ihre unbegrenzten Begierden begrenzen. Darwin stellt keine lebendige Gesamtnatur in den Mittelpunkt, sondern das Aristoteles, Über Werden und Vergehen, hg. von Thomas Buchheim, Berlin 2010, S. 337 b 27–32. Thomas Buchheim ist für die Herausgabe dieser Schrift und die Hinweise auf ihre Bedeutung zu danken.

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Ausführliche Übersicht der Kapitel

Überleben des einen Individuums im Verhältnis zum anderen und zu den begrenzten Ressourcen. Aristoteles hat Überlebensbedingungen des Konkurrenzkampfs auch gesehen, aber hintangestellt, so wie andererseits Darwin auch das »heitere Erstrahlen der Natur« gesehen, aber als etwas »Auszublendendes« beiseitegestellt hat. In den entsprechenden Kapiteln wird dies anhand von Zitaten nachgewiesen. Die Richtung und Notwendigkeit der Naturbewegung in den Lebewesen, ihre Steuerung, die sie durch ihre geistigen Formen und ihre Seelen erfahren, erfordert für Aristoteles eine erste Wirkungsaktualität, die immer aktuell ist und von der mit Möglichkeiten durchsetzten Wirklichkeitsstruktur der Materie angestrebt wird. Dass dies bei Aristoteles und Platon ein religiös zu verehrender Gott ist, dass der Gott und nicht der Mensch die Herrschaft über die Natur hat, gehörte seit den Griechen zur europäischen Tradition und sollte nicht zugunsten des Machtstrebens einzelner Gruppen in der Moderne aufgegeben werden. Ein neuer »Urknall«, so das Buch Bang: Die Zukunft der Evolution, »dass wir selber in der Lage sein werden, unsere Welt zu gestalten – inklusive uns selbst« 56, sollte vermieden werden und niemand kann den kollektiven Selbstmord wirklich wollen.

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Bang: Die Zukunft der Evolution, a. a. O., S. 8.

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Hauptteil 1. Natur, Mensch, Philosophie und Wissenschaft

1.1 Verstehen, Erklären und der Begriff der Natur. Naturwissenschaftliche Bedingungsforschung und philosophische Wirklichkeitserkenntnis Robert Musil exemplifiziert den Unterschied von Normalsprache und wissenschaftlicher Sprache, von Verstehen und Erklären: »Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag des Jahrs 1913.« 57

Ist die Wissenschaftssprache, so können wir, angeregt durch Musil, weiter fragen, mit ihren multiplen Sonden, die sie in die Wirklichkeit senkt, um uns exakte Messungen zu liefern, immer besser in der Lage, uns treffsicherer zu informieren, oder ist die Alltagssprache nicht nur unverzichtbar, sondern auch geeigneter? Wenn wir den Wetterbericht über eine schöne Gegend, in die wir reisen möchten, in einer Wissenschaftssprache hören, so ist dies vielleicht zweckdienlich. Ganz anders dann das Sehen und Genießen der schönen Gegend. Dies ist ein Erleben der Natur und kein exaktes Messen mehr. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Roman, herausgegeben von Adolf Frisé, Erstauflage 1952, Stuttgart 1970, S. 9.

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Natur, Mensch, Philosophie und Wissenschaft

Was bringt uns die Natur nahe und was ist sie? Was die Natur im Menschen, was die Natur außerhalb des Menschen? Robert Spaemann unterscheidet den Begriff Natur, indem er von einer »Natur außer uns« und einer »Natur, die wir haben« spricht: »Das Gemeinsame zwischen der Natur außer uns und der Natur, die wir selbst sind, ist, dass die Natur immer das ist, das von sich selbst aus so ist, wie es ist.« 58 Wir fragen nach der materiellen Natur, nach dem Lebendigen, nach dem Menschen. Wer handelt, wer denkt, wenn der Mensch denkt? Steht der Mensch, wenn er denkt, der Natur gegenüber oder ist Denken eine andere Weise der Natur? Natur ist das vom Menschen Verschiedene, das unabhängig von ihm besteht, seinem Handeln vorausliegt. Sie ist das Gewachsene, sie ist aber auch das bleibende Andere von uns, das uns ermöglicht, aber auch begrenzt. Sie ist das, was unserer Handlung vorausliegt, obgleich diese wiederum im Einklang mit oder im Widerspruch zu ihr sein kann. Was von selbst so ist, wie es ist, wird verstanden und nicht erklärt. So versteht der Mensch das Lebendige, versteht der Mensch sich selbst als jeweils unableitbare Wirklichkeit. 59 Der Mensch scheint in seinem Handeln von der Natur abzuhängen, die Natur ihrerseits aber nicht ohne das Erkennen und Handeln des Menschen für den Menschen zugänglich zu sein. In welcher Situation befinden wir uns heute? Wir verstehen die Natur, wir erklären sie aber auch. Durch die Naturwissenschaften wissen wir sehr viel über die Natur, wodurch z. B. die Bewegung von Körpern bedingt ist, wie Sonnensysteme sich verändern, woraus sich die kleinsten Bauteile der Materie zusammensetzen. Das hat mit dem Erklären zu tun. Wenn wir die Natur dagegen verstehen, verstehen wir das Lebendige als Lebendiges und nicht nur als Konglomerat oder Prozess von Materieteilchen. Oder wenn wir uns verstehen, wissen wir, dass wir eine bestimmte Person sind und nicht nur eine riesige Ansammlung von konditionierten Zellen. Und als Personen wissen wir, dass wir unser Leben in bestimmten Grenzen gestalten können, Grenzen, die auch von anderen Personen und unserer Natur uns gezogen werden, die aber zugleich nicht nur Grenzen, sondern Erweiterung unseres Lebens sein können und müssen. Wenn Künstler unsere Gefühle in Texten, Tönen oder Bildern beRobert Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige, in: Grenzen, Stuttgart 2001, S. 123–136. 59 Zum Begriff des Verstehens: Robert Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt verstehen?, in: R. Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I, Stuttgart 2010, S. 171–188. 58

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Verstehen, Erklären und der Begriff der Natur

schreiben, erleben wir Natur. Große Dichter wie Goethe, Eichendorff u. a. haben auch herrliche Naturgedichte geschaffen, die wir verstehen. Haben wir über das Verstehen der Naturgedichte auch einen Zugang zum Verstehen »Schwarzer Löcher«, von denen die Astronomie spricht? Gibt es eine Verbindung zwischen der Welt der Naturgedichte und der Welt der Astronomie? Ist der bestirnte Himmel über uns, der noch Kants Gefühle der Achtung hervorruft, für uns noch ähnlich bewegend? Inwiefern können wir uns an der Natur orientieren? Gibt es eine Verbindung zwischen der Natur und unserem Handeln? Wie können wir unsere Zugehörigkeit zur Natur realisieren, wenn die Welt bereits seit Milliarden Jahren existiert? Und sind wir nicht selbst als ein Produkt einer wenn auch nicht so langen Geschichte am Ende in der Globalisierung des Marktes und Instabilisierung aller sonstigen Verhältnisse gelandet? Man kann daran zweifeln, dass der Mensch der Industriegesellschaft noch ein Sensorium für die Natur hat, weil durch die moderne Wissenschaft und die Technik der Naturbegriff verloren gegangen ist. Erkenntnisse der modernen Wissenschaft helfen uns dabei nicht, weil sie sich nur im Bereich der Bedingungsforschung bewegen. Unser modernes Weltbild wird immer mehr von mathematischen Formeln und Ergebnissen der Wissenschaft bestimmt. Was wir von der Natur durch diese selbst und durch unser Empfinden wissen, wird durch physikalische Hypothesen und Messergebnisse abgelöst. Wenn es im Gedicht von Matthias Claudius heißt, dass »die goldenen Sterne prangen am Himmel hell und klar«, dann rückt dieses Empfinden von der möglichen Schönheit der Sterne in die zweite Reihe, sobald wir erfahren, dass die Sterne glühende Gase sind, die sich seit dem Urknall mit Lichtgeschwindigkeit von uns wegbewegen. Das astronomische Wissen von den Sternen erzeugt in uns keine Vertrautheit, sondern ein Staunen über diese ganz andere Welt. Die Naturschilderung im Gedicht des Matthias Claudius dagegen erweckt in uns ein Gefühl der Vertrautheit, weil wir die geschilderte Naturszene sofort verstehen. Aus unserer Verbundenheit mit der Natur wissen wir, dass die Natur alles gut gemacht hat, dass Erde, Wasser, Luft und Klimazonen eine ökologische Nische für die Lebewesen und den Menschen geschaffen haben, in der diese gut leben können. Das »Gut-leben-Können« ist aber schon auch ein Problem, denn der Mensch, der selbst ein Lebewesen ist, lebt von der Ausbeutung seiner Umwelt. Anders als die Tiere aber kann er das Maß der Ausbeutung 47

Natur, Mensch, Philosophie und Wissenschaft

steuern. Er kann die Befriedigung seiner Bedürfnisse unbegrenzt ausweiten und dabei die Natur bloß als Material seiner Herrschaft ansehen oder der Natur auch Zwecke zuschreiben und seine Bedürfnisse begrenzen. Die Naturwissenschaft ermöglicht es dem Menschen, mittels der Nutzung ihrer Ressourcen ein bequemes Leben zu führen. Der Fortschritt der Wissenschaften besteht in einer sich steigernden Naturbeherrschung, bei der die Grenzen der Natur nicht beachtet werden dürfen, sondern außer Kraft gesetzt werden müssen. Indem der Mensch die makromolekularen Funktionen der Lebewesen erkennt, kann er diese simulieren, außer Kraft setzen und verbessern – wenigstens in dem Sinne, wie er es zu dem Zeitpunkt versteht. Die technische Simulation verdrängt nicht mehr nur die Wirklichkeit, sie gibt vor, deren Wesen zu enthüllen. Der englische empiristische Philosoph Wilfrid Sellars war der Meinung, die Wissenschaftssprache sei geeigneter als die Alltagssprache und solle diese ersetzen. 60 Die Technik gibt für solche Ansichten das Vorbild ab. Die kybernetischen Konstrukte ahmen nicht nur das Lebendige nach, sie beanspruchen auch, zu erklären, was Leben ist. Pflanzen und Tiere werden genetisch verändert. Versuche, die menschliche Keimbahn zu verbessern, sind im vollen Gange. Die Welt, in der wir leben und mit der wir deshalb vertraut sind, wird von einer Welt, die die Wissenschaft uns nahebringt, überlagert. Die uns von der Natur geschenkten Lebewesen werden von der Genetik durch Lebewesen aus dem Labor ersetzt. Reinhard Löw hat bereits vor 30 Jahren auf die damit gegebenen Probleme aufmerksam gemacht. 61 Die Physik überschüttet uns mit gigantischen Vorstellungen der Materie, des Raumes und der Zeit. Die Erde ist vor einer unvorstellbar langen Zeit entstanden, die Ausdehnung des Universums und die Anzahl der Universen, diese Fragen sind dann schon Gegenstand der Spekulationen, die mit aller Ernsthaftigkeit vorgebracht werden. Das physikalische Weltbild besteht wesentlich aus Hypothesen und aus Fakten, die sich beständig ändern. Durch die beständige mediale Präsenz dieser Wissenschaften entsteht eine Vertrautheit mit den von ihnen verkündeten Ergebnissen, die aus der Gewohnheit der Wiederholung entsteht, ohne dass dabei eine natürliche Vertrautheit entsteht. Eine solche haben wir im Umgang mit Wilfrid Sellars, Der Empirismus in der Philosophie des Geistes, übersetzt, herausgegeben und eingeleitet von Thomas Blume, Paderborn 1999. 61 Reinhard Löw, Leben aus dem Labor. Gentechnologie und Verantwortung – Biologie und Moral, München 1984. 60

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Verstehen, Erklären und der Begriff der Natur

Menschen und Tieren. Über diese einfachen Erfahrungen schieben sich die scheinbar authentischen Erfahrungen exakten Wissens, die das normale Wissen entwerten. Wer einen Delphin erlebt hat, seine therapeutischen Wirkungen auf autistische Kinder, seine Intelligenz, wer ihn füttert und pflegt, kennt den Delphin wirklich. Dem entspricht das natürliche Wissen, das wir aus dem Umgang mit Tieren haben. Die Wissenschaft, die den Delphin erforscht, in seine Teile zerlegt und weiß, wie er funktioniert, kennt den Delphin nicht besser. Der Wissenschaftler, der den Delphin militärisch zu einem lebendigen Torpedo umrüstet, hebt dessen Natur auf. Die Lebensäußerungen des Delphins in sich zu verstehen, ist für das Verständnis des Delphins völlig hinreichend. Dazu bedarf es keiner Erforschung der Funktionen seiner Hirn- und Wahrnehmungsstrukturen. Erst die wissenschaftliche Erklärung und in deren Gefolge die militärische Zielsetzung heben den Eigenwert des Delphins, mit dem man schon vor der Erklärung vertraut sein kann, auf und machen ihn zum Instrument der Kriegstechnik. Der Delphinforscher stellt keine Vertrautheit mit dem Delphin her, weil sein Wissen nicht den artgemäßen Zielen des Delphins dient, sondern deren Missbrauch. Parallel zum Delphin können wir auch vom menschlichen Körper sprechen. Auch dieser ist in seinen Funktionen weitgehend erforscht, sodass diese teilweise simulier- und ersetzbar sind. Nach den ethischen Regeln der Medizin dürfen Organe und Zellen nur ersetzt werden, wenn die Ersatzorgane eine heilende Wirkung haben. Eine Umpolung des Genoms zugunsten anderer Körpereigenschaften, mit denen gewünschte Aufgaben besser erledigt werden könnten, gehört durchaus zu den Überlegungen der Genetiker. Auf einer Konferenz der Firma Ciba-Geigy von 1963 soll der berühmte Genetiker Lederberg von möglichen menschlichen Züchtungen gesprochen haben. Man könnte etwa Menschen mit kleineren Rümpfen und längeren Armen schaffen, die dann besser geeignet zum Panzerfahren seien. 62 Heutzutage sind die Verbesserungstheorien verfeinert. Man spricht von höherer Intelligenz im Rahmen eines Enhancementsprogramms. Solche möglichen Horrorszenarien wie die des Herrn Lederberg werden jedoch nur vermieden, wenn das Wesen und die Würde des Menschen nicht nur als mehr oder weniger zufälliges Produkt der Ein bereinigter Tagungsbericht findet sich unter dem Titel »Gespenstische Visionen« unter Zeit online. http://www.zeit.de/1963/39/gespenstische-visionen; http:// de.wikimannia.org/CIBA-Symposium, heruntergeladen am 21. 7. 16.

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Natur, Mensch, Philosophie und Wissenschaft

Evolution aufgefasst werden, sondern als vollkommenes Resultat einer geheimnisvollen Evolution, die nicht nur auf der Basis ihrer materiellen Bedingungen interpretiert werden darf. Ein Indiz dafür, dass die Natur, in der wir uns bewegen, uns nicht ganz fremd, sondern vertraut ist, haben wir durch unseren Körper. Weil wir unseren Körper verstehen, haben wir in den meisten Fällen gute Voraussetzungen dafür, zu sagen, dass es uns gut geht, dass wir gesund sind und uns nichts fehlt. Wir brauchen dazu keine wissenschaftliche Erklärung. Oder wir spüren eine Beeinträchtigung, einen Schmerz, der auf eine mögliche Krankheit schließen lässt. Wenn bei einer Krankheit mit einer Narkose operiert wird und kranke Teile unseres Körpers herausgenommen werden, erfahren wir positiv am eigenen Leib, was es heißt, dass die Wissenschaft über die Methode der Erklärung verfügt und diese nutzbringend und gut anwenden kann. Die positive Seite der Auswirkung der wissenschaftlichen Erklärung durch die Technik ist ebenso leicht greifbar. In allen Lebensbereichen kommt uns die Methode der Erklärung zugute, denken wir nur an das Fahrrad- und Autofahren, an das Fliegen mit dem Flugzeug. Die Methode des Erklärens ermöglicht die Technik, und die Technik wirkt als Verstärkung menschlichen Handelns. Da aber das menschliche Handeln von Natur aus immer gut oder schlecht ist, wird auch die Technik immer gut oder schlecht angewandt. Es werden Waffen aller Art entwickelt und eingesetzt, auch ungeheuerliche Waffen wie die Atombombe. Niemand weiß, ob das Ausmaß einer erwartbaren atomaren Zerstörung die Menschen in der Zukunft davon abhalten wird, Atomwaffen einzusetzen. Denn die menschliche Natur ist gut oder böse, sie ist lenkbar und jede Generation muss neu die Grenzen lernen, die man, ohne ins Chaos zu gelangen, nicht überschreiten darf. Es gibt nun andere Bereiche von Naturwissenschaft und Technik, die ambivalent sind, die also für uns eine große Hilfe darstellen, aber auch Beeinträchtigungen zur Folge haben. Mit Hilfe der superschnellen Computer und der durch sie angewandten Algorithmen können die Banken Spekulationen, die zwischen einer kleinen Gruppe von Menschen getätigt werden, unendlich verfeinern. Wir können Massenbewegungen im Verkehr mit Hilfe der Computer und Algorithmen genauer erkennen, das Wetter genauer voraussagen. Mit Hilfe derselben digitalen Technik können wir bequem kommunizieren und auf eine grenzenlose Menge von Informationen zurückgreifen. Die dabei entstehenden Daten können dabei aber auch verwendet werden, uns zu kontrollieren und zu manipulieren. Kann 50

Verstehen, Erklären und der Begriff der Natur

man alles erklären? Oder gibt es Grenzen, weil es eine vorgegebene Natur gibt? Jedenfalls haben auch die superschnellen Computer den letzten Bankencrash nicht verhindert. Kann es, wenn wir eine grundgesetzlich verankerte Freiheit der Wissenschaft haben, eine Fehlentwicklung der Wissenschaft geben, sodass z. B. Menschen genetisch verändert werden? Kann man mit genetischen Veränderungen Erbkrankheiten ausrotten und unterentwickelte Funktionen des Körpers verstärken bzw. verbessern? Ist die menschliche Natur, weil sie die Materie zur Grundlage hat, in jeder Hinsicht verbesserbar? Wenn der Neurologe fragt, was das Bewusstsein ist, will er erkennen, wie unser Erkennen und Wollen funktioniert. Wer ist es, der den Arm hebt, wenn ich ihn hebe? Sind es nicht neuro-muskuläre Prozesse, die dafür verantwortlich sind, an deren Erforschung die Wissenschaften arbeiten, sodass es naiv ist, den natürlichen Standpunkt des Alltags gegen die besser wissende Wissenschaft ausspielen zu wollen? Wenn ich durch die Wissenschaft erfahre, wer ich bin, kann sie mir dann auch sagen, was ich tun soll, was ich verantworten kann? Wenn wir die Natur immer weiter erforschen können, kennen wir auch ihre Regeln besser. Wir wissen von der Evolutionstheorie, dass es Entstehungsbedingungen gibt, die uns Menschen mit den Tieren verbinden. Unser Wesen erfassen wir dagegen nur durch dass Verstehen von uns. Dadurch erkennen wir unsere Spezies. Wenn es keine stabile Spezies des Menschen gäbe, wären wir dann verpflichtet, unsere überkommenen Vorstellungen von einer vorgegebenen Natur, die uns angeblich bestimmte unbedingte Regeln auferlegt, zu revidieren und die Genetik unserer Natur zu verbessern? Aber Darwinisten wie Steven Jay Gould versichern uns gerade, dass es eine stabile Spezies des Menschen gebe. Insgeheim greift Gould auf die philosophische Einsicht von der Allgemeinheit und Erkennbarkeit der Spezies zurück. Die Philosophie hat es insbesondere mit der Frage der gegebenen Existenz des Leibes, des Bewusstseins und der Subjektivität zu tun. Ich habe am Anfang angedeutet, dass wir unsere natürliche Erfahrung höher einschätzen, dass das Verstehen uns mehr erfüllt als die wissenschaftliche Erklärung, sodass wir eine natürliche Tendenz haben, das Erklären auf unser Verstehen zu beziehen und durch dieses begrenzen zu lassen. Es gibt jedoch eine aus der globalen Marktdynamik herkommende Tendenz, das für die Produktion wichtige wissenschaftliche Erklären für wichtiger zu halten und höher einzuschätzen. Diese wird vor allem durch die Feuilletons der Zeitungen und durch die sonstigen Medien verbreitet, sodass wir oft Informationen über wissen51

Natur, Mensch, Philosophie und Wissenschaft

schaftliche Experimente für bare Münze nehmen und höher einschätzen als all das, was wir bisher davon schon gewusst haben. Dass wissenschaftliche Experimente für den modernen Menschen überzeugendere Ergebnisse als die natürliche Erfahrung zu liefern scheinen, zeigt ein Artikel aus der Washington Post vom März 1992. 63 Amerikanische Bundesbehörden schätzen, dass 70 % der Jugendlichen, die in den USA straffällig werden, aus Haushalten mit Alleinerziehenden stammen. Es ist ein allgemein bekanntes gesellschaftliches Problem. Besondere Aufmerksamkeit bekommt es aber erst, wenn ein Experiment mit Affen, deren genetischer Code zu 98 % mit dem des Menschen identisch ist, diese bekannten Tendenzen bestätigt. Alleingelassene Affenbabies zeigten einen Persönlichkeitsschaden, fügten sich nicht in die Affengesellschaft ein und neigten zur Gewalt. Sie hatten ein niedriges Niveau von körpereigenem Serotonin, dem sogenannten Glückshormon, was mit ihrer früheren, gering betreuten Kindheit zusammenhing. Experimentelle Konstellationen zeigten, dass die Betreuung durch eine Affenmutter den Serotoninspiegel steigen ließ. Das spektakuläre Herausstellen dieses Beispiels zeigt, dass die bereits vorhandenen gesellschaftlichen Defiziterfahrungen aus Betreuungssituationen mit nur einem Elternteil kaum besondere Aufmerksamkeit finden, im Gegensatz zu Experimenten mit Affen. Glaubhaft, so lässt sich diese gesellschaftliche Tendenz umschreiben, wird etwas nicht aus der natürlichen Erfahrung, sondern nur durch Experimente. Der normale und natürliche Mensch, so lässt sich dieses Beispiel resümieren, wird in seinem Selbsterleben entwertet. Ähnliche Erfahrungen liefert der Gesundheitsbereich. Hier versucht der Mensch, seine Selbstsorge und Selbsterfahrung durch Ergebnisse aus medizinischen Experimenten zu stützen. Dabei ist aber immer wieder zu erfahren, dass diese Ergebnisse höchst unsicher sind. Ein aktuelles Beispiel ist die wissenschaftliche Einschätzung der Oxidantien, der freien Radikalen. Während man bisher der Meinung war, dass ein Übermaß an freien Radikalen zur Schädigung von eigentlich gesunden Zellmembranen führe, man diese also durch Vitaminpräparate und Nahrungszusätze bekämpfen müsse, zeigen neuere Untersuchungen, wie die SZ am 16. 10. 15 berichtet, gerade die George F. Will, The Tragedy of Illegitimacy, in: The Washington Post 31. October 1993 und 2. January 1994, A 19; zitiert bei Richard Hassing, Intelligibility of Human Experience, in: Hassing (Hg.), Final Causality in Nature and Human Affairs, The Catholic University of America Press 1997. 63

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Verstehen, Erklären und der Begriff der Natur

Schädlichkeit von Vitamin- und Ergänzungspräparaten. Lungen- und Prostatakrebs seien dann häufiger, auch das Leben könne durch die regelmäßige Einnahme von antioxidativen Vitaminpräparaten verkürzt werden. 64 Mit dem Aufbruch der Naturwissenschaften seit dem 17. Jahrhundert in Europa steigen die Erwartungen an die Entdeckungen und deren lebenserleichternde Techniken enorm. Gewiss haben sich viele Programmpunkte auch erfüllt, gleichzeitig hat sich die Situation aber auch geändert, weil alle Forschung und Entdeckung in entweder militärisch anwendbaren oder auch gewinnbringenden Produkten resultieren muss. Die vorhandenen Technikprodukte, denken wir nur an die modernen digitalen Kommunikationsmittel, stehen in einem beständigen Wettkampf um Marktanteile, die man durch Verbesserung der Produkte erreichen will. Eine der Folgen davon ist, dass neue Produkte oft schon deswegen gekauft werden müssen, weil die Firmen die Onlinedienste für frühere Computerprogramme nicht mehr bedienen. Der globale Wettkampf des Marktes, der formal frei ist und von den entscheidenden Großmächten geschützt wird, läuft über den technologischen Wettbewerb, damit neue und bessere Produkte verkauft werden können. Die Freiheit ist insofern formal, als dass jeder frei ist, ein neues Produkt auf den Markt zu bringen, und auch dann, wenn er dieses in seinen Wirkungen nicht für gut hält, muss er es bringen, wenn es den Umsatz mehrt. Die in weiten Teilen der Welt lebensbeherrschende Stellung der Computer färbt auf das Selbstverständnis der Menschen ab. Ist unser Gehirn nicht auch bloß so etwas wie ein Speicher, den Computer haben? Wenn das Konsumverhalten des Menschen über den Computer steuerbar ist, sodass dieser weiß, was man noch im Eisschrank hat und was man nachkaufen muss, dann scheint die Freiheit und Spontaneität der Person schlicht eine falsche Einbildung zu sein. Können wir nicht versuchsweise den Menschen als eine komplizierte Maschine denken, wie es La Mettrie in der französischen Aufklärung bereits vorgeschlagen hat? Der Forscher kann immer sagen, er erforsche das Gehirn und gehe dabei methodisch davon aus, dass dort die natürlichen Gesetze der Physik herrschen. Mit diesen Gesetzen könne er zwar das Bewusstsein und das »Ich« noch nicht herleiten, aber das sei, so versichern uns manche Gehirnforscher, ja auch nicht nötig; denn schließlich habe die Wissenschaft immer ihre Zeit für Erfindungen 64

Werner Bartens, Was dem Krebs hilft, in: SZ vom 16. 10. 2015.

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Natur, Mensch, Philosophie und Wissenschaft

gebraucht und es gebe tatsächlich noch viel zu tun, bis man es endgültig wisse. Man nennt diese Haltung der Wissenschaft und der Philosophie einen Naturalismus. Darunter wird gemeinhin die Annahme verstanden, dass alles in der Welt materiell ist und von physikalischen Gesetzen, die man nur auffinden muss, beherrscht wird. Mit Hilfe dieses Begriffs können wir auch die Situation des Neurowissenschaftlers anders formulieren: Ist der gegenwärtige methodologische Naturalismus, der das Denken und Wollen des Menschen als Produkt der Materie des Gehirns versteht, nicht auch ein realer und ontologischer? Und ist nicht unser Denken Resultat molekularer Prozesse und weitgehend oder ganz determiniert durch diese? Oder geschieht umgekehrt jede Erfassung eines naturhaften Zusammenhangs unter den Voraussetzungen menschlicher Auffassungsweisen und menschlicher Kategorien? Gibt es Naturerfahrung ohne den Einfluss und das Mitwirken des Menschen? Umgekehrt gefragt: Gibt es Denken, ohne dass im Innersten Natur beteiligt ist? Das Mitwirken des Menschen für die Erfassung der Wirklichkeit zeigt sich am deutlichsten, wenn er den natürlichen Standpunkt einnimmt. Jeder weiß, er kann, wenn er will, den Arm heben, seinen Körper bewegen, über den Unterschied von Sein und Nichtsein, Haben und Nichthaben von etwas nachdenken. Jeder ist als Subjekt mit einem Bereich der Objekte verbunden und erlebt sein Handeln als Wirklichkeit. Seit der frühen Neuzeit bis zu den aktuellen Neurowissenschaften gibt es aber neben dieser Ganzheitserfahrung der Wirklichkeit die experimentelle Erforschung der Körper der Solarsysteme im Großen und Kleinen. Der Prozess verläuft über heuristische Phasen der Hypothesen und der kleinen sich akkumulierenden Ergebnisse der Forschung und ihrer technologischen Umsetzung. Dieser Prozess ist jedoch nicht in sich reflexiv, er verläuft indefinit und konstituiert sich nicht als Ganzheit. Gleichwohl gibt es einflussreiche Wissenschaftsentwicklungen, die die Materie für sich als Basis jeder Art von Theorie annehmen, um mit Hilfe der Mathematik Ganzheitsmodelle der Wirklichkeit zu entwickeln. Die Probleme dieser Theorien kann und muss die Philosophie mit ihrem wirksamsten Instrument, dem Test der Selbstbezüglichkeit, aufzeigen. Diesem wenden wir uns jetzt zu.

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Der Test der Selbstprüfung nach Hans Jonas

1.2 Der Test der Selbstprüfung nach Hans Jonas Dieser Test gehört zu den klassischen Werkzeugen der Philosophie. Er wurde zuerst von Platon in seinem Dialog Gorgias benutzt, dann von Aristoteles im IV. Buch der Metaphysik, 4. Kapitel niedergeschrieben. Für die Naturwissenschaften hat ihn Hans Jonas entwickelt. Jonas hat sich intensiv mit den klassischen Anfängen der Philosophie beschäftigt, hat bei dem Theologen Bultmann in Marburg und bei Heidegger in Freiburg studiert und konnte als Jude rechtzeitig emigrieren, während seine Mutter später von den Nazis umgebracht wurde. Jonas hielt Heideggers Seinsverständnis für nihilistisch und hat sich deshalb davon gelöst, um sich dem Nachdenken über die Natur und deren Gefährdung durch die moderne Naturwissenschaft zuzuwenden. Insbesondere konzentriert er sich auf die Verantwortung des Menschen für die Natur und mahnt, Experimente mit gefährlichen Folgelasten für den Kosmos und den Menschen selbst zu unterlassen. So weit der kurze Exkurs zu Hans Jonas. Wie ist es mit den Beweisen in der Philosophie? Es gibt in der Philosophie nicht für alles einen direkten Beweis; denn es müssen Bedingungen gegeben sein. Bei Platon gibt es im Dialog Gorgias die Widerlegung des Skeptikers Kallikles durch Sokrates. Kallikles gibt diese nicht zu und schweigt einfach. Von Aristoteles wird die Theorie eines indirekten Beweises entwickelt, der dann gelingt, wenn eine partikulare Behauptung vorliegt, deren Implikationen aber in kontradiktorischem Widerspruch zu ihrer Begründung stehen. Jemand, der das Prinzip des Nichtwiderspruchs verneint, verneint den Sinn der Bedeutung seiner Aussagen, auch wenn er fortfährt zu argumentieren. Er spricht dann zwar, aber sagt inhaltlich nichts Verstehbares mehr, er gleicht einem Stein. Jonas benutzt dieses Werkzeug, um wissenschaftliche Theorien, die Subjektivität und Wollen leugnen, zu widerlegen. Dies hängt mit seinem Ziel zusammen, die Verantwortung des Menschen für die Natur aufzuweisen. Die Durchführung des philosophischen Testes ist für Jonas die Voraussetzung dafür, ein Prinzip der Verantwortung des Menschen entwickeln zu können. Welche Bedeutung haben Subjektivität und Bewusstsein, all das, was als aktuelles Wissen zum Menschen gehört, wenn er von sich »Ich« sagt, also das persönliche Fürwort in der ersten Person Singular gebraucht? Wie ist die kausale Verbindung des »Ich« zu den Sprechwerkzeugen, zu den Muskeln und Sehnen? Steht das »Ich« in einem 55

Natur, Mensch, Philosophie und Wissenschaft

seelisch-körperlichen Zusammenhang? Wenn wir »Ich« sagen und handeln, haben wir ein Vorwissen um Wahrheit und Wirklichkeit dieses Zusammenhanges, ohne dass wir die Möglichkeit des seelischen Übergangs ins Materielle nachvollziehen oder nachprüfen könnten. Wir haben ein natürliches Verständnis, dass wir handeln können, zum Beispiel sprechen, mit dem Finger zeigen, den Arm heben, gehen oder sitzen können. Wir bewegen dabei die Knochen, Glieder, Muskeln, Stimmbänder usw. Jemand der fragt, ob diese Handlungen wirklich in unserer Macht seien, würde vielleicht nicht ernst genommen. Aber jemand, der an die Newton’sche Theorie der Schwerkraft denkt, kann sich doch ernsthaft fragen, ob nicht die Bewegungen seines Organismus auch der Schwerkraft unterliegen und wie sich das »Ich« denn zur Schwerkraft verhalten könne, wenn es, wie wir einmal annehmen, geistig ist. Zeigt nicht die Physik, dass bei jeder Veränderung ein materieller Impuls, sei er körperlich oder elektromagnetisch, vorliegen müsse? Widerlegt nicht die Physik die Möglichkeit mentalen Verursachens in unseren Körpern von vornherein? Und hat nicht gerade deshalb der Philosoph René Descartes die geistigen von den körperlichen Substanzen getrennt? Da der Körper nach Descartes ohne Geist und der Geist ein nicht ausgedehntes Denken ist, haben beide Bereiche nichts gemeinsam, sodass Descartes das wahrheitsfähige Ausgreifen unserer Wahrnehmung auf etwas von uns Verschiedenes nur mit der Wahrhaftigkeit Gottes garantieren konnte. Die damit bewiesene aus sich bestehende geistige Substanz des Ich wird von Descartes in Beziehung zum physiologischen Leib gesetzt, dessen Handlungen beobachtbar sind und vom Gehirn verursacht werden. Die moderne Philosophie des Geistes leugnet das Einwirken dieser außerweltlichen Ursache und versteht das »Ich« und das Gehirn rein als materielle Vorgänge. Sie ist tendenziell reduktionistisch. Der Test der Selbstprüfung bei Jonas richtet sich speziell gegen reduktionistische Tendenzen in der Wissenschaft. Bei Newton sind nicht nur die Körper in ihrem Verhältnis zueinander durch ein Verhältnis von Masse und Entfernung der Schwerkraft unterworfen. Auch die inneren atomaren Bewegungen der Körper könnten davon bestimmt sein. Newton erklärt auf der Basis seiner Gesetze über die Schwerkraft: »Was immer von der Vernunft für größere Bewegungen erkannt wird, sollte auch für kleinere gelten.« 65 Zwar wissen wir von 65

Hassing, a. a. O., S. 232.

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Der Test der Selbstprüfung nach Hans Jonas

der Quantenphysik, dass dieses Newton’sche Teilchenmodell nicht richtig ist. Und eine gründliche Kenntnis der Physik zeigt, dass ein universaler physikalischer Determinismus physikalisch nicht bewiesen werden kann, sondern falschen philosophischen Annahmen entstammt. Eine klare Widerlegung des physikalischen Determinismus findet sich bei Brigitte Falkenburg, Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung? 66 In der Neuroscience wird aber nach wie vor, z. B. von Wolf Singer und Gerhardt Roth, ein Erklärungsmodell vertreten, das vom Gehirn als einer letzten Ursache ausgeht, die über kausale Kräfte Denk- und Bewusstseinsprozesse verursacht. Jonas will ein im Folgenden zu entwickelndes Argument plausibel machen, dass es psychische und nicht nur materielle Ursachen von Körperbewegungen gibt. Und wenn diese psychisch sind, dann lassen sie sich auch auf die Bereiche des Lebendigen ausweiten. Das Argument richtet sich auch gegen die alte reduktionistische Denkweise von Demokrit, dass ein Ganzes nur aus seinen Teilen bestehe und bloß zusammengesetzt werden müsse. Auch in der modernen Neuroscience findet es sich. Welche Probleme hat nun Jonas zu lösen? Es gibt Körper ohne Geist, aber Geist nicht ohne Körper. Es müssen immer irgendwelche Organe, also Nerven, Synapsen, Muskeln, Sehnen, Knochen etc. vorhanden sein, wenn wir handeln. Diese für das Handeln notwendigen Kräfte sind nicht geistig. Hat das Bewusstsein, hat unser »Ich« nun die Macht, unseren Körper zu bewegen, oder ist es unfähig dazu? Die eben aufgezeigten Argumente für die Physik und unser moderner Glaube an exakte Ergebnisse des Experiments beeinflussen unser Selbstverständnis. Haben wir wirklich keine Beobachtungsdaten wissenschaftlicher Art dafür, dass wir es sind, die den Arm bewegen? Nein, wir haben zwar keine Daten, aber wir tun es einfach. Und diese Bewegung ist eine Tatsache. Was bleibt, ist die natürliche Beobachtung, die wir als Menschen haben, ohne schon Wissenschaftler zu sein. Es bleibt der natürliche Standpunkt, über den wir verfügen. Wenn festgestellt wird, »x hat den Arm gehoben«, dann ist dies auf alle Fälle eine Tatsache. Jeder kann den Arm heben und der eine wissenschaftliche Reduktion verfechtende Wissenschaftler kann es auch, insofern er nicht von außen oder durch schwere Krankheit gehindert ist. Natur zeigt sich in unserer Erfahrung dahingehend, dass wir natürlich bleiben können, obwohl wir als Sub-

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Heidelberg 2012.

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jekte aus ihr heraustreten und die Natur so verändern, wie wir es eben in bestimmten Grenzen wollen können. Und all das, weil wir handeln, weil wir unser »Ich« zur Geltung bringen. Der natürliche Standpunkt steht nun möglichen neurophysikalischen Theorien gegenüber, die den Anspruch haben, die den intentionalen Beobachtungen zugrundeliegenden kausalen Gesetze – wenn auch vielleicht noch nicht derzeit, so doch in der Zukunft – finden zu können. Durch den Test der Selbstprüfung, der die Existenz von subjektivem Wollen als Tatsache in den Vordergrund stellt, kann jedoch gezeigt werden, dass diese Behauptung sich widerspricht und letzten Endes diese Theorie selbst und die Theoriefähigkeit des Menschen überhaupt aufheben würde. Sehen wir zu, was wir hierzu bei Jonas finden. Er schickt seiner Analyse eine Anekdote voraus, die zu einem Streit in der Physiologie gehört. Es geht um den Anspruch des von Hans Driesch entwickelten Vitalismus, mit einer seelischen Lebenskraft die körperlichen Prozesse im Menschen und im Lebewesen erklären zu können. Der Widerlegung eines solches Anspruchs galt ein Schwur, den sich im Jahr 1845 drei junge Wissenschaftler gaben: Emil du Bois-Reymond, Ernst Brücke und Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz. Sie schworen dabei, »die Wahrheit geltend zu machen, dass im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemein physikalisch-chemischen«. 67 Später wurde der Vitalismus unabhängig von diesen drei bekannten Forschern widerlegt. Das Problem der Umwandlung von organischen Substanzen konnte ohne die vom Vitalismus angenommenen Lebenskräfte gelöst werden. Dieselben Umwandlungsprozesse ließen sich auch in Röhren außerhalb des Darms von Lebewesen erzeugen, rein auf chemischer Basis. Alle drei Forscher blieben ihrem Schwur ihr Leben lang treu. Zumindest versuchten sie, dieses zu zeigen. Jonas weist nun darauf hin, dass das Eingehen des Versprechens im Gegensatz zum besonderen Inhalt steht; denn das Versprechen setzt voraus, dass die drei Forscher nicht auf den Kausalverlauf der Moleküle und auf die Dynamik der Synapsen in ihren Gehirnen gebaut haben, um ihr Denken und Verhalten bestimmen zu lassen, sondern dass sie treu an dem für wahr gehaltenen Inhalt des Versprechens festhalten wollten. Sie erklärten also, wie Jonas sagt, »für sich wenigstens ihre Subjektivität zum Herrn über ihr Verhalten«. 68 Der Schwur der drei jungen Forscher ging über 67 68

Hans Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität, Frankfurt a. M. 1981, S. 13. Hans Jonas, ebenda, S. 13.

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Der Test der Selbstprüfung nach Hans Jonas

den Anspruch, den Vitalismus zu widerlegen, weit hinaus, er lief auf die Annahme hinaus, die physische Basis rein materiell erklären zu können. Für das wissenschaftliche Arbeiten der Physiologen ist es völlig korrekt, die Seele nicht in der Methode der physiologischen Beobachtung zu suchen; daraus ergeben sich jedoch keine berechtigten ontologischen Schlüsse auf das Nichtsein der Seele; denn der Gang der Wissenschaft setzt die Spontaneität und Bewusstheit der Forscher immer noch voraus. Jonas verfolgt nun keineswegs das Ziel, die Einwirkung der Subjektivität auf die Materie theoretisch, d. h. im Sinne eines exakten Gesetzes, aufzuweisen. Er setzt sich vielmehr mit der Behauptung auseinander, dass das »Ich«, der Wille, die Subjektivität bei der Beschreibung einer Handlung bloßer Schein sei, der von den darunterliegenden eigentlichen Ursachen, den neuronalen Prozessen, ablenke. Die unmittelbare Gewissheit oder der natürliche Standpunkt, dass ich es bin, der den Arm hebt, ist eine Tatsache. Der Naturalist leugnet dies, weil er es nicht mit seiner kausalen Theorie aus dem Gehirn erklären kann. Das Leugnen der Tatsache, dass eine subjektive Quelle für das Armheben vorhanden ist, kann in einem weiteren Schritt dahingehend verallgemeinert werden, dass behauptet wird, das Geistige sei unfähig, auf das Materielle einzuwirken. Das »Ich«, der Wille, etwas zu tun, so wird behauptet, sei eine Illusion. Es sind den kausalen Ablauf begleitende Projektionen, oder m. a. W., es sind Epiphänomene. Der Epiphänomenalismus hat zunächst einen ganz plausiblen Ausgangspunkt, verstrickt sich dann aber in Widersprüche, die zu seiner Selbstaufhebung führen. Die Materie hat gegenüber dem Geist Primat, der Geist kann nicht ohne Materie vorkommen. Es müssen eben Organismen, Nerven und Gehirne existieren, wenn vom Vorhandensein des Geistes, von Subjektivität überhaupt erst einmal die Rede sein soll. Beim Arm-Heben zeigt sich ja, dass der Geist, das »Ich« real ist und auf Nerven und Muskeln eingewirkt hat. Die Materie hat eine augenfällige Seinsweise, der Geist ist real, aber nicht empirisch als äußerliches Objekt beobachtbar. Der Epiphänomenalismus leugnet jedoch diese Ausgangslage, er leugnet die Subjektivität. Aus der Sicht des Epiphänomenalismus muss das Arm-Heben allein mit neuro-muskulären mechanischen Vorgängen beschrieben werden, während Subjektivität und Wille täuschende Bilder darstellen. Nach dem Epiphänomenalismus sind physikalische Prozesse im Gehirn für unsere Handlungen verantwortlich und erzeugen den Schein eines Ichs und des Bewusstseins. Der Neurologe wird, insofern er ein reduktionistischer Wissenschaft59

Natur, Mensch, Philosophie und Wissenschaft

ler ist, behaupten, dass die Untersuchung der Reize, Reaktionen und Schaltungen immer vorangetrieben werden wird, um schließlich die Einheit und die Funktionen des »Ichs« zu erklären und diesen Begriff überflüssig zu machen. Ohne ein physikalistisch-deterministisches Vorurteil meinen wir, über ein geistiges und spontan sich zeigendes Ich und ein Handeln nach selbstgesetzten Interessen zu verfügen. Funktionale und neurologische Theorien sehen darin eine Täuschung und versuchen, diese zu erklären. Nach der Interpretation, die die epiphänomenologische Theorie vom »Ich« gibt, schauen wir bei unseren Handlungen einem Geschehen zu, das als Schein, wie die Abläufe auf einer Theaterbühne, für uns aufgeführt wird. Das handelnde »Ich« ist nicht real und unsere Handlungen sind es auch nicht, weil sie sich nicht wissenschaftlich erklären lassen. Die ablaufenden Handlungserlebnisse sind »aus dem kausalen Nichts« geschaffen, weil es ja das präsupponierte Selbst gar nicht gibt. Der physikalischen Autonomie mit der Monokausalität der Materie entspricht die Ohnmacht des Geistes. 69 Die Ohnmacht ist insofern »ein Wahn an sich«, als der nicht-reale Handlungsablauf, der für uns erscheint, der Wirklichkeit täuschend ähnlich ist: Wir meinen ja tatsächlich selbst ursächlich für das Heben des Armes zu sein. Um den Begriff des Epiphänomenalismus zu erläutern, benutzt Jonas die ablaufenden Bewegungen eines Films auf der Leinwand. Beim Film resultieren die jeweils nächsten Bewegungen der Handelnden nicht aus den vorigen, sondern aus der Geschwindigkeit, mit der der Projektor die Bildfolgen ablaufen lässt. Es bewegen sich überhaupt keine Personen oder Gegenstände, sondern Bilder, die schnell aufeinanderfolgen. Auf der Leinwand bewegt sich tatsächlich gar nichts. Ebenso stammt unser Jetzt-Empfinden mit seinen nachfolgenden Zuständen nicht aus einem Ich, das in einer Zeitfolge verschiedene, seinem Handeln entsprechende Zustände erfährt, sondern sie stammen aus einem Substrat, von dem sie, wenn auch nicht jetzt, so vielleicht später hergeleitet werden können. Dass Denken und Handeln des »Ichs« des Naturalisten nicht möglich ist, weil physikalische Prozesse alles erklären, muss gleichwohl von einem Theoretiker, einem Subjekt, behauptet werden. Wenn der Naturalist den Epiphänomenalismus ernst nimmt, kann er nicht einmal behaupten, dass er derjenige ist, welcher diese Zusammenhänge erkannt hat. Der Kreter, der erklärt, dass alle Kreter lügen, macht sinnvollerweise wenigstens dann eine Ausnahme, wenn er sich selbst für 69

Hans Jonas, ebenda, S. 48.

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Der Test der Selbstprüfung nach Hans Jonas

den Augenblick der Aussage ausnimmt. 70 Diese Ausnahme ist dem Theoretiker des Epiphänomenalismus nicht gestattet. Nachdem es seiner Behauptung nach keine Wirklichkeit des Subjekts gibt, hat er auch kein Recht, zu sprechen; genauer gesagt, derjenige, der spricht, kann nicht er sein. Eine Theorie, die den Geist-Gehirn-Zusammenhang behauptet, ist eine Theorie des Geistes in seiner Verflechtung mit der Welt. Eine Theorie, die die Wirklichkeit des menschlichen Geistes leugnet, zerstört sich selbst ihre Grundlage. Eine ähnliche Diskussion hätte Jonas in der Gegenwart mit John Searle führen können. Dessen Philosophie des Geistes nimmt hinter der zunächst erfahrenen menschlichen Freiheit auch gesetzlich-kausale Zusammenhänge an, die noch unentdeckt im Gehirn schlummern und alles bewirken. Die Haltung, das menschliche Bewusstsein für überflüssig zu erklären, entspricht der modernen Evolutionstheorie. Der bekannte Evolutionstheoretiker Steven Jay Gould behauptet in einem Gespräch, dass das Bewusstsein dem Menschen in der Evolution keinen Vorteil gebracht habe, dass er dadurch keine höhere Seinsweise erlangt habe. Was den Gesichtspunkt des Überlebens betreffe, so habe das Bakterium eine robustere Überlebenstauglichkeit als der Mensch. 71 Wendeten wir den Test der Selbstprüfung auf Goulds Theorie an, würden wir allerdings auf die Frage nach dem Subjekt seiner Erklärung keine Antwort bekommen; denn er selbst kann es ja wohl nicht sein, der spricht und argumentiert, wenn es nach seiner Theorie kein Bewusstsein und keine Subjektivität gibt. Wenn wir seine Theorie nicht auf den Menschen anwenden und bei dem natürlichen Standpunkt, auf dem sich das Argument der Philosophie aufbaut, verbleiben, dann können wir ohne Probleme behaupten, dass er und nicht die Überlebensdynamik der Evolution diese Behauptungen vorgebracht hat. Anders gesagt: Es gehört zum normalen Geschäft des Evolutionstheoretikers zu forschen, wann Ameisen entstanden sind und wie sie zusammenleben, oder warum Dinosaurier verschwunden sind. Der Mensch aber passt nicht bruchlos in dieselbe Forschungsperspektive. Er ist zwar auch ein Lebewesen, aber die Frage des Entstehens von Subjektivität und deren Begründung liegt außerhalb der Reichweite des Ameisenforschers. Warum der Mensch Hans Jonas, ebenda, S. 63. Interview mit Steven Jay Gould, https://www.youtube.com/watch?v=m1l-Nawx 1sU; heruntergeladen am 25. 9. 2015.

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auf dem Planeten Erde existiert und welche Bestimmung er hat, lässt sich nicht an seiner äußeren Erscheinung und seinen beobachtbaren Lebensäußerungen ablesen, sondern nur derart ermitteln, dass man ihn fragt, warum er auf Ziele hin handelt und versucht, das Gute und Nützliche zu erkennen. Es scheint so sein zu müssen, dass die Wissenschaft notwendig mit dem natürlichen Standpunkt brechen muss, um Bedingungsforschung treiben zu können. Die Frage ist nur, wieweit der Mensch sich in seiner individuellen und gesellschaftlichen Existenz dadurch verformen lässt. Wenn das Wahrheitskriterium, der Test des Sich-selbst-erhalten-Könnens auf naturwissenschaftliche Ganzheitstheorien angewendet wird, führt eine dabei vorhandene Wissenschaftsgläubigkeit notwendig zu einem Selbstwiderspruch. Darunter kann das eigene Leben leiden; denn Wahrheit, Wissen und Übereinstimmung mit sich selbst sind untrennbar mit der eigenen Lebensqualität verbunden.

1.3 Die Grenzen der Physik bei der Thematisierung menschlicher Intentionalität und menschlichen Bewusstseins und das daraus folgende Recht der Anthropomorphisierung der Natur Begonnen habe ich mit Bemerkungen zum Naturverhältnis des Menschen und den gesellschaftlichen Phänomenen der Verwissenschaftlichung. Ich habe in einigen Schlaglichtern auf aktuelle Entwicklungen hingewiesen, die u. a. darin bestehen, dass eine Entwertung der Normalsprache und des Alltagswissens von der Natur zugunsten wissenschaftlicher Erklärungen vor allem aus den Bereichen der Biowissenschaften, aber auch aus dem Bereich der Philosophie, z. B. beim Empiristen Wilfried Sellars, stattfindet. Die Physik selbst versteht sich, obwohl sie methodisch auf die Beobachtung der Materie eingeschränkt ist, als universelle Grundlagenreflexion der Wissenschaften. Weiter ist zu beobachten, dass die ökonomische Globalisierung mit ihrer Dynamik die Wissenschaft in ihren Dienst nimmt, der Staat die Forschungsnutzenerwartungen mit Exzellenzprämien anreizt. Die Kontrollregeln, die für die Eingriffe ins Genom gelten, sollen, so drängen die Forschungsinstitute mit der angeschlossenen Industrie, heruntergesetzt werden. In der Einleitung habe ich die auf dem Darwinismus beruhende These erwähnt, nach der behauptet wird, dass die Natur auch ohne Gentechnik schon Zellfusion und Mutation vor62

Die Grenzen der Physik

nehme, sodass die Gentechniker, ohne maßlos zu werden, sich auch dieser Mittel bedienen dürften. 72 Die politische Öffentlichkeit behandelt diese Tendenzen so, als seien dies Gefahren, die sich leicht mit parlamentarischen Mehrheiten bewältigen ließen. Es kommen aufklärende Berichte in den Feuilletons, aber es erfolgt kein Aufschrei – bis auf den oben erwähnten Zeit-Artikel von Thea Dorn – wegen des naheliegenden möglichen Missbrauchs der neuen Schneidetechnik. In Wirklichkeit ist die Gefahr größer, als sie damals bei der Erfindung der Atombombe war. Auch wenn Deutschland sich zunächst zurückhält, kommt es über das Vorpreschen anderer Nationen zu einem Nachholeffekt, weil man dann wirtschaftliche Nachteile vermeiden möchte. Wie der Abschnitt »Test der Selbstprüfung naturwissenschaftlicher Theorien« gezeigt hat, ist die Gewissheit der Person, die den Arm hebt, die einfachste und elementarste Art der Selbsterfahrung und der Erfahrung von Natur. So wie wir selbst sind, gehört die Möglichkeit des Armhebens zu unserer Natur und wir erfahren über unsere Natur auch die Natur außer uns, die Natur, die uns umgibt. Der Naturbegriff ist eine Verstehensleistung, die auf die Erfahrung des Mensch-Natur-Verhältnisses zurückgeht. Als grundlegende Einsicht der Philosophie liegt diese außerhalb des unmittelbaren Fachwissens der Physik und Biologie und kann nicht mit den objektiven Aussagen physikalischer oder biologischer Theorien angezielt werden. Das Grundproblem der Erklärung des Lebens und der menschlichen Intentionen durch die Physik ist für die moderne Physik genauso wenig lösbar wie für die Physik des 17. Jahrhunderts. Die Physikerin Brigitte Falkenburg erklärt: »Das psychophysische Problem ist heute von seiner Lösung so weit entfernt wie im 17. Jahrhundert. Es kann jetzt nur wesentlich präziser formuliert werden. Dies betrifft erstens philosophische, also begriffliche Präzisierungen einer langen Mind-body-Debatte, die von Descartes und Hobbes bis zur heutigen analytischen Philosophie reicht. Zweitens werden neue Präzisierungen fällig, wenn man Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung beachtet, wie sie in der Physik des 20. Jahrhunderts sichtbar wurden. Diese Grenzen hängen eng damit zusammen, dass der Determinismus der klassischen Physik aufgegeben werden musste.« 73 Nicole Karafyllis, Grüne Gentechnik: Pflanzen im Kontext von Biotechnologie und Bioökonomie, in: Thomas Kirchhoff, Nicole C. Karafyllis u. a. (Hg.), Naturphilosophie, Tübingen 2017, S. 290. 73 B. Falkenburg, Was heißt es, determiniert zu sein? Grenzen der naturwissenschaft72

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Natur, Mensch, Philosophie und Wissenschaft

Die Frage nach der Natur menschlicher Intentionen, nach der Natur menschlichen Bewusstseins kann von der Physik her nicht beantwortet werden, weil sie die im Sinne der Physik vorwissenschaftlichen Erfahrungen, die einer teleologischen Erklärung bedürfen, nicht beantworten kann. Umgekehrt können philosophische Begründungen, die vom Gesamten der intentionalen Erfahrung des Menschen ausgehen, kausale Erklärungen als Bedingungen einbauen. Wer mit der Behauptung beginnt, dass die Physik die Erkenntnisgrundlage von allem ist, kann nicht nur diesen generellen Satz nicht physikalisch, d. h. durch empirische Beobachtung, einlösen. Er kann auch die weiteren psychophysischen Grundfragen, die mit der Leib-Seele-Einheit und mit der Einheit von Gehirn und Bewusstsein gegeben sind, nicht physikalisch aufzeigen. Das ist die bedeutende Leistung der Physikerin Brigitte Falkenburg, die in ihren Arbeiten Was heißt es, determiniert zu sein? Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung 74 und Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung? 75 auf die Grenzen der Physik hinweist und zeigt, dass die Physik von einigen Vertretern der Hirnforschung mit den Behauptungen, dass das Bewusstsein und sein Denken kausal auf neuronale Ursachen zurückgehen, unberechtigt in Anspruch genommen wird. Menschliche Intentionen entziehen sich den naturwissenschaftlichen Erklärungen der Neurobiologie, und das Projekt einer Entanthropomorphisierung der Natur in den Naturwissenschaften scheitert an der nicht gelingenden Erklärung der psycho-physikalischen Grundfragen. In der Physik geht es im vorliegenden Falle nicht um deduktiv-nomologische Erklärungen, die – nur im Idealfall gegebene – deterministische Gesetze fordern, sondern um die Erklärung komplexer Vorgänge, 76 wie »Lawinenabgänge, Erdbeben, Flutwellen, globaler Temperaturanstieg, Reduplikation der DNA, Wachstum des Organismus oder die Signalübertragung durch Neurotransmitter«. Naturwissenschaftliche Erklärungen sind ein »Patchwork von deterministischen und indeterministischen Gesetzen«. 77 Die Vereinheitlichung unserer Erklärungen des psychophysischen Grundproblems gelingt nach Fallichen Erklärung, in: Dieter Sturma (Hg.), Philosophie und Neurowissenschaften, Frankfurt a. Main 2006, S. 44. 74 Philosophie und Neurowissenschaften, ebenda. 75 Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung?, Berlin, Heidelberg 2012. 76 Philosophie und Neurowissenschaften, a. a. O., S. 48. 77 Ebenda, S. 50 f.

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kenburg in zwei Hinsichten nicht: »Der Bruch zwischen teleologischen Erklärungen und allen anderen [z. B. kausalen] Erklärungen bleibt bestehen. Teleologische Erklärungen unterstellen Intentionen und diese sind vom Standpunkt der wissenschaftlichen Erklärung aus irreduzibel.« 78 Wenn es keine kausale Geschlossenheit naturwissenschaftlicher Erklärungen gibt, muss die Reflexion notwendigerweise auf eine explizit metaphysische Ebene wechseln und sich nicht in einer Metaphysik der Physik, wie es häufig der Fall ist, verstecken. Auch scheidet eine deterministisch-kausale Erklärung organischer Prozesse aus, weil diese nur teleologisch erklärt werden können. Diese zentrale These dieses Buches wird im Abschnitt über Aristoteles, Kapitel 5, ausführlich erörtert werden. Falkenburg zieht für ihr Thema ganz richtig diesen Schluss und bemerkt: »Für unsere Intentionen und unser subjektives Erleben ist höchstens noch in einem metaphysisch-dualistischen Modell Platz.« 79 Ein wichtiger Schritt auf einer notwendig philosophischen Ebene, auf der man sich dann zu bewegen hat, wäre die philosophische Reflexion auf das intentionale Handeln, das auf Schritt und Tritt die Einheit des Handelns mit den Bedingungen der Natur aufzeigt, um von da aus in die philosophische Selbstvergewisserung die physikalischen Ergebnisse als Bedingungsforschungsergebnisse einzuordnen. Die nach Falkenburg »vorwissenschaftliche Begriffsbildung« kann ihrer Auffassung nach nur unvollständig in naturwissenschaftliche Konzepte eingebettet werden. Nun, das ist nicht verwunderlich, handelt es sich doch um menschliche Erfahrungen von der Natur, die eine philosophische Reflexion verlangen. Das durch die Physik nicht gelingende weitere Problem der »ontologischen Reduktion«, das Falkenburg ebenfalls anspricht, 80 behandle ich in Kapitel 9.2. Die Unmöglichkeit einer physikalischen Thematisierung »vorwissenschaftlicher Erkenntnisse« und die Notwendigkeit der Erklärung solcher menschlichen Grunderfahrungen legitimieren den anthropomorphen Zugang zur Natur, der in diesem Buch verfolgt wird. Dieser Zugang beruht auf der Erkenntnis, dass die Natur dem Menschen nicht völlig fremd gegenübersteht. In der Begrenzung der Thematisierung des vorwissenschaftlichen Bereichs folgt Falkenburg dem Ansatz von Kant, der Erkenntnis auf empirische physikalische Erfahrung begrenzt hat. 78 79 80

Ebenda, S. 52. Ebenda, S. 53. Ebenda, S. 61–68.

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Dass der vorwissenschaftliche Bereich mit der intentionalen Erfahrung des Menschen auch einen erkenntnistheoretischen Gehalt impliziert, dass Metaphysik sehr wohl Falsifizierungskriterien enthält und zur Erkenntnis beiträgt, wird von Falkenburg übersehen. Auch der Mensch, sein Denken und seine Intentionen gehören zur Wirklichkeit. Die Beachtung seiner Natur mit ihren Einsichten lehrt, dass eine physikalische Reduktion seiner Intentionen auf ein materielles Gehirn nicht nur faktisch, im Moment, physikalisch nicht gelingen kann, wie Falkenburg meint, sondern im Prinzip physikalisch nicht möglich ist, weil sie nur mit einer Metaphysik thematisiert werden kann. Falkenburg bleibt mit ihrer Kritik am Reduktionismus mancher gegenwärtigen Argumente, die sich auf die Physik berufen, auf halbem Wege stehen. Sie verteidigt das »Vorwissenschaftliche« nur in der Hinsicht, dass zurzeit die Physik nicht in der Lage ist, es zu reduzieren. Aber sie selbst bleibt im Lager der Reduktionisten, insofern sie nicht erkennt, dass das Vorwissenschaftliche einen erkenntnistheoretischen Gehalt hat, der nach einer metaphysischen Begründung verlangt. Es gibt Handlungen des Menschen, die die Naturabhängigkeit seiner Erfahrung ausdrücken. Wir freuen uns an Naturgedichten, am Verhalten von Tieren, haben selbst Hunger und Durst. Die andere Art von Handlungen wie Durchführung von Experimenten mit Messungen verschiedener Art von Druck und Stoß, von Geschwindigkeiten, von Dichte usw., von denen viele im Labor künstlich vorgenommen werden, sollen die Natur, wie dies Descartes, der Klassiker der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft, gesagt hat, »zum Gehorchen zwingen«. Diese Erfahrungen im Labor sind menschenabhängige Setzungen. Zum Naturbegriff gehört nach Aristoteles das Element des Wachsens eines Wesens aus sich selbst, das Anzielen von eigenen Zielen. Natur ist – wie Robert Spaemann sie immer charakterisiert hat – das nicht vom Menschen Gemachte, das von selbst so ist, wie es ist. Ein vom Menschen gemachtes Produkt ist nach aristotelischem Verständnis zunächst künstlich, aber letzten Endes natürlich, weil Aristoteles die Technik noch von der Natur her begreift. Im Aristoteles-Teil (Kapitel 5) wird dieses Verhältnis näher erläutert. Die Technik, so viel soll schon hier gesagt werden, wirkt mittels der Formen, die der Mensch zwar in seinem Schaffen umsetzt, die ihm aber aus der Wirklichkeit zufließen. Ein Bildhauer schafft die Büste aus seiner Erfahrung der Wirklichkeit heraus. Auch ein technisches Produkt, das Bett aus Holz, das der Mensch herstellt, geht auf seine Idee zu66

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rück, sich etwas zum Ausruhen zu schaffen. Nähme man einen solchen Pfosten, aus dem man das Bett macht, und steckte ihn in die Erde, so würde daraus kein Bett wachsen. Insofern ist es künstlich. Es hat ein Ziel innerhalb natürlicher Zielsetzungen des Menschen. Ein in die Erde gesteckter frischer Ast einer Weide könnte dagegen zu wachsen anfangen. Mit dem Verhältnis Kunst und Natur werden wir uns im Aristoteles-Teil ausführlich beschäftigen. Natur geht nach Aristoteles der Wissenschaft ontologisch voraus. Das heißt, dass die Wissenschaft bei Aristoteles über das Seiende und das Wirkliche geht. Sein Begriff der episteme, der so viel wie Wissenschaft bedeutet, impliziert wie der moderne, dass Erfahrung und wiederholte Wahrnehmung zu Wissen führen, schließt aber vor allem die Lehre ein, dass Wissenschaft, d. h. die Philosophie, das Wesen der Dinge erkennt. Die moderne Wissenschaft dagegen konzentriert sich auf Hypothesen, die bestätigt werden sollen. Sie konstituiert sich durch das vom Menschen Gemachte. Sie ist Technik und bestimmt durch ihren Nutzen das Selbstverständnis der Zivilisation und Kultur des Menschen. Es ist eine Kultur, die nicht wie bei Aristoteles die Natur nachahmt, sondern eben Kunstprodukte wie z. B. die Atombombe schafft. Im Wissen, das der Mensch von der Natur hat, bestehen sinnliche und geistige Erfahrungen zusammen mit Denken, Vergleichen und Schlussfolgern, wobei Körper und Tiere vom Menschen verschiedene natürliche Dinge sind. Auch Erfahrungen von Begegnungen mit anderen Personen, Handlungen, die der Selbsterfahrung dienen, gehören zur Naturerfahrung. Der Mensch erfährt dabei sich selbst als Natur. Davon ist das Forscherhandeln zu unterscheiden. Dieses besteht im Beobachten, Experimentieren, in einer universellen kritischen Haltung gegenüber möglichen endgültigen Erklärungen usw. Natur wird erkenntnistheoretisch ein Kulturprodukt. Es sind Erkenntnisse, die anhand empirischer Experimente mit der Materie gewonnen werden. Mit einem veränderten Verständnis von Form und Materie bezieht sich die Physik auf die aristotelischen Unterscheidungen von Material-, Formal- und Kausalursachen. Die teleologischen Ursachen scheidet sie, wie wir schon gesehen haben, ganz aus. Die Physik ist seit dem Umbruch von der aristotelischen zur klassischen Physik im 17. Jahrhundert eine reine Technikwissenschaft. Unser modernes Wort Technik gibt es zwar auch bei Aristoteles, aber der moderne Sinn von Technik ist nicht mehr an der von Aristoteles gedachten natürlichen Zielstrebigkeit orientiert. Seit Des67

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cartes und Galilei gibt es den neuen Technikbegriff und seitdem kennt der Natur-Begriff keine Zielursachen mehr; die Resultate der Wissenschaften sind künstliche Gesetze, künstliche Natur. Die Gegenstände der klassischen Mechanik: Länge, Zeitdauer, träge und schwere Masse, Kraft, Impuls und Energie sind keine Naturgegenstände, sondern Kunstbegriffe. Der Wirklichkeitsbezug ist durch Mess- und Experimentiergeräte reduziert. Es gibt, wie die Physikerin Brigitte Falkenburg hervorhebt, eine Einheit experimenteller Methoden und Messverfahren in allen Bereichen der Wirklichkeit, was dazu führt, dass allein aus diesem Blickpunkt gesehen, Sterne und menschliches Gehirn gleichermaßen als aus Elementarteilchen bestehend behauptet werden. 81 In Wirklichkeit kann jedoch in keiner Weise gezeigt werden, wie im Bereich des Lebendigen das »Ganze im Prinzip aus den Teilen entstehen könnte«. 82 Wie unsere Bewusstseinsinhalte, unsere Intentionen und Wünsche aus der physischen Basis erklärt werden könnten, ist in keiner Weise gezeigt worden. Das Fürwahrhalten solcher Verursachungen kennzeichnet lediglich den dogmatischen Naturalismus. Darüber mehr im Kapitel 9.2 über Bottom-up- und Top-down-Analysen. Mit den Messinstrumenten der Physik und Chemie misst man ausschließlich chemische und physikalische Größen. Die Einheitsdynamik, die durch die Seelen der Lebewesen wirkt, wird dadurch nicht erfasst. Sie ist nicht empirisch beobachtbar. Das Gravitationsgesetz von Newton, das über Trägheitsbewegungen im Schwerefeld der Sonne geht, verlässt nicht den Rahmen des naturwissenschaftlichen Wissens und ist durch technische Mittel überprüfbar. Planetenbewegungen werden erkannt, weil Labormechanik technische Simulationen zu technisch gewonnenen Beobachtungsdaten liefert. Die Naturgegenstände des Planetensystems werden in physikalischer Erklärung zu Gegenständen menschlicher Technik und Mathematik. Die experimentelle und messende Methode der Physik ist mit den Disziplinen der Mechanik, der Elektrodynamik, der Thermodynamik und der Atom- und Elementarteilchenphysik speziesneutral, d. h. sie ist nicht in der Lage, die Einheit der vorgefundenen Lebewesen eigens zu erfassen, und nimmt diese nur als materielles Ganzes wahr. Durch die Relativitätstheorie und Quantenphysik wurde das frühere deterministische Methodenverständnis der klassischen 81 82

Ebenda, S. 64. Ebenda, S. 65.

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Physik aufgehoben. Die Zuordnung von Raum, Zeit und Kausalität durch den Beobachter erzeugt den künstlichen Charakter der Physik. Bei Carl Friedrich von Weizsäcker und bei Whitehead kam die Quantenphysik zu philosophischen Ehren, indem sie diese ontologisch interpretierten. Hans Jonas hat in seinem Buch Organismus und Freiheit die Einengung des Lebens auf die Quantität und damit auf die Mathematik abgelehnt. Er konnte der Mathematisierung des Kosmos nicht zustimmen. 83 Die grundlegenden quantitativen Erkenntnisse von Maß und Zahl werden bei der Mathematisierung auf die Natur bezogen und als Totalitätsaussagen über diese verstanden. Wenn Descartes dann – was von Richard Hassing aufgezeigt wurde 84 – in seinem Werk Die Leidenschaften der Seele von der Natur des Menschen spricht, übernimmt er einfach die klassische aristotelische Sprechweise, ohne dass dies mit seinem universellen, auch den Menschen umfassenden Materiebegriff kompatibel wäre. 85 Das »Natürliche« des Urknalls, der physikalisch gedachte Anfang des Universums wird nur in seinen Bedingungen, nicht seiner Natur nach erkennbar. Es wird nach Maßgabe der Laborphysik erkannt. Das von den Sternen zu uns kommende Licht wird im Labor einer speziellen Messung unterworfen und dabei stellt man die Rotlichtverschiebung fest. Atome oder Elementarteilchen werden häufig als das Wirkliche, von der Natur Gegebene und damit als menschenunabhängig betrachtet. Es gibt einen Reduktionismus, der makroskopische Phänomene auf den Mikrobereich zurückführt. Dabei sind die elementaren Bausteine, die alles Existierende erklären sollen, auch bereits physikalische Arbeitsbegriffe und können über die belebte Welt nichts sagen. Es gibt keinen gesetzmäßig errechenbaren Übergang von meinem Leib zu seinen molekularen »Bausteinen« oder von diesen »Bausteinen« zu meinem Leib. Gerade dies hat die oben angeführte Untersuchung von Brigitte Falkenburg gezeigt. Die der Physik zugängliche Natur ist die durch Geräte manipulierte, künstlich veränderte Natur. Es handelt sich also um Technik, die gerade keinen Rückschluss, wie noch bei Aristoteles, auf die Natur selbst erlaubt. Die griechische Urbedeutung von Physik heißt eigentlich: »wach-

Hans Jonas, vor allem »Ist Gott ein Mathematiker?«, in: Das Prinzip Leben, Frankfurt 1997, S. 127–178. 84 Richard F. Hassing, Cartesian Psychophysics and the Whole Nature of Man. On Descartes’s Passions of the Soul, Lanham 2015. 85 Hassing, a. a. O. 83

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sen«, das »Gewachsene«. Dies trifft auf die moderne Physik nicht mehr zu. Das Verständnis der modernen Biologie hat viele Wurzeln. Es existiert kein einheitliches Paradigma, z. B. keines der Zoologie oder der Botanik, oder der Lehre von der lebendigen Natur, oder der modernen Biowissenschaft, die aber genauso mit Instrumenten betrieben wird wie die Physik. Es gibt das biologische Experimentierwissen in Medizin, Tier- und Pflanzenzucht und Ökologie. Es gibt die biologischen Ingenieure, die sich heute daranmachen, die genetischen Grundlagen aller Lebewesen unter Berufung auf Verfahren der Natur, die selbst Zellfusionen und Mutationen vornehmen, zu verändern. Gerechtfertigt wird dies mit der natürlichen Selektion des Darwinismus, der jedoch keineswegs eine einheitliche Theorie ist und aus der Perspektive der Philosophie unbewiesene reduktionistische Tendenzen hat.

1.4 Zusammenfassung Das Verstehen der Natur muss philosophisch eingeführt werden. Das moderne physikalische materielle Weltbild blendet das Verstehen des Lebendigen aus. Das naturwissenschaftliche Wissen dient nicht dem Verstehen, sondern über die Technik der Erleichterung der Naturbeherrschung unseren ins Unbegrenzte gehenden Interessen. Anders ist das Naturgrenzen beachtende Verstehen. Wir verstehen dann Organismen analog zu uns, weil auch wir uns als Lebewesen und darüber hinaus als Personen verstehen. Der Test der Selbstprüfung bei Hans Jonas widerlegt das naturalistische Dogma von der allzuständigen Erklärungskraft der naturwissenschaftlichen Gesetze. Es gibt eine Selbsterfahrung des Menschen im Denken und Handeln. Der argumentierende Naturwissenschaftler muss sich bei seinem Argumentieren als genauso real ansehen wie derjenige, der durch das Heben seiner Hand eine eigene, nicht durch das Gehirn verursachte, mentale Eigenkausalität beansprucht, die er als nicht durch naturwissenschaftliche Gesetze erklärbar zugibt. Das Lebendige ist keine konstruierbare, aus materiellen Prozessen bestehende Einheit. Die exakten Wissenschaften können zwar einen menschlichen Embryo rein deskriptiv auf einen Zellhaufen reduzieren, aber der Embryo ist in Wirklichkeit ein ganz bestimmter Mensch mit Personenwürde, wenn man zulässt, dass er sich zu einem solchen entwickelt und ihn nicht vorher tötet. 70

2. Natur und Mensch als Komplementarität. Das Leibfundament des Bewusstseins bei Augustinus und der Irrtum des Descartes

Eine für die moderne Naturwissenschaft charakteristische Art und Weise, von Natur zu sprechen, ist zu sagen, dass sie »alles Beobachtbare« umfasst. Aristoteles spricht davon, dass »die Natur« Grund einer Veränderung ist, so wenn z. B. jemand krank war und mit Hilfe des auf die Natur zurückgreifenden Arztes wieder gesund wird, dann sagen wir schon mehr von der Natur aus. Wir sagen nämlich, dass sie wirken kann, dass sie der Grund für etwas sein kann. Wenn Spaemann Natur als etwas bezeichnet, das »ursprünglich ein dem Zusammenhang menschlicher Praxis zugehöriger Begriff ist«, 86 dann deutet er an, dass Natur irgendwie komplementär zum Menschen ist, dass sie dem Menschen nicht völlig fremd gegenübersteht. In dem Buch Die Frage Wozu? formuliert Spaemann dann eine Gegensatzeinheit von Natur und menschlicher Freiheit. Es gelte, so heißt es dort, »die Natur als Vertraute so anzueignen, dass wir unsere Zugehörigkeit zu ihr realisieren können, ohne zugleich unser Selbstverständnis als handelnde Wesen aufzugeben«. 87 Die Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit der Menschen zur Natur ist das Grundproblem der Naturphilosophie. Natur ist deshalb für den Naturphilosophen nicht mehr nur ein Gegenstand des Wissens, weil in ihr der Mensch auch seine Beziehung zu sich selbst bestimmen muss. Der Mensch ist auch Leib. Für die Ethik, die Lebenskunst und die Politik bedeutet das, dass die Natur auch einen Raum vorgibt, der aktiv wahrzunehmen ist, sodass nicht nur eine Orientierung an dem, was die Gesellschaft macht, erfolgen darf. Meditation kann dazu verhelfen, auf das, was die Natur sagt, aufmerksam zu werden. In diesem Kapitel wollen wir das Verständnis dieser Zusammenhänge weiter vertiefen.

Spaemann, Natur, in: Krings, Baumgartner, Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Band IV, München 1973, S. 957. 87 Spaemann, Die Frage Wozu?, München 1981, S. 23. 86

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Ich bin im ersten Kapitel davon ausgegangen, dass das Verstehen, das der Philosophie, und das Erklären, das den Naturwissenschaften zukommt, komplementäre Aufgaben sind, dass aber die Philosophie die Aufgabe hat, zu sagen, was das Erklären ist und welche Grenzen die Naturwissenschaften haben. Georg Picht hat in seinem Buch Der Begriff der Natur und seine Geschichte 88 geklagt, dass die Naturwissenschaft »genau deshalb, weil sie nach dem Wesen von Natur nicht fragt, die Natur zerstört«. Die Folgen dieses Fehlers hängen damit zusammen, dass die neuzeitliche Physik den sie beherrschenden Begriff der Natur als Gegensatz zum griechischen Begriff der Physis entwickelt hat, dadurch sei es »zu einer Zerstörung der Natur« gekommen. 89 Man muss in der Tat die riesigen ökologischen Probleme, die Klimaerwärmung und die Existenz von Massenvernichtungswaffen dieser entgrenzenden naturwissenschaftlich-technischen Naturbeherrschung zuschreiben. Man muss aber gleichzeitig sehen, dass sie nur durch die menschliche den Griechen schon bekannte Pleonexie, das dauernde Mehr-haben-Wollen, möglich ist. Dass unser Selbstverständnis als Menschen, dass die westliche Aufklärung nur als positive Folge der Wissenschafts- und Technikentwicklung gesehen wird, dass der natürliche Standpunkt nur von der Pleonexie her interpretiert wird, zeigt das verlorene Gleichgewicht, das im griechischen Technikbegriff noch vorhanden war. Aristoteles war ganz selbstverständlich der Auffassung, dass die Technik nur das macht, was von der Form und den natürlichen Bedürfnissen her nötig ist. So macht der Sattlermeister nur diejenigen Sattel, die die Reiter brauchen. Die bloße Fortschrittsperspektive reicht heutzutage nicht mehr, und die Philosophie muss, wie es schon Jonas und Spaemann getan haben, auf die Grenzen unserer Natur und auf die Gefahren der Grenzüberschreitung aufmerksam machen. Der bereits erläuterte natürliche Standpunkt, den wir reflektieren, wenn wir unsere Hand heben und feststellen, dass wir es sind, die verursachen, dass die Hand sich hebt, und die dabei offensichtlich materielle Prozesse in Gang gesetzt haben, dieser natürliche Standpunkt muss in seinen Konsequenzen in Bezug auf das Verhältnis menschlicher Natur und Materie entwickelt werden. Jede naturwissenschaftliche Theorie, die das reflektierende Subjekt und die darin

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Georg Picht, Der Begriff der Natur, Stuttgart 1989, S. 5. Picht, ebenda, S. 8.

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enthaltene Natur des Fühlens, Denkens und Wollens nicht als gegeben annimmt und in ihrer Theorie mit einem Gesetz materieller Teilchen erklären will, muss geprüft und kritisiert werden. Anders gesagt, geht es darum, zu prüfen, ob eine wissenschaftliche Theorie auf sich selbst anwendbar ist bzw. ob sie sich selbst enthalten kann. Beim Test der Selbstprüfung ist das der Fall. Ich will die Hand heben und ich selbst sehe, dass sie oben ist. Wenn der Evolutionstheoretiker wirklich eine universelle Theorie entwickelt, dann muss er als Subjekt auch enthalten sein. Hierzu gilt es auch als ein spektakuläres Ereignis, die Stimme des analytischen Philosophen Thomas Nagel zu hören, der seinem Buch Geist und Kosmos den Untertitel gegeben hat: »Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist«. 90 Nagel spielt auf den Evolutionismus an, der auf der Einheit der Physik aufbaut und die vorhandene Vielheit der Arten durch Selektion und Mutation erklärt. Dabei wird insbesondere der originäre menschliche Erfahrungsbereich der Natur, der sich in der menschlichen Natur zeigt, aufgelöst, indem die physikalische Reduktion ungeprüft übernommen wird. Trotzdem stellt sich Nagel und meinen Überlegungen ein Einwand entgegen, der aus unserem Wissen um die Naturgeschichte resultiert. Zeitlich gesehen ist das Leben und der Mensch später als die materiellen Prozesse der Weltentstehung. Reflexionen auf das Leben und dessen Zielstrebigkeit haben den Einwand gegen sich, dass das später Entstandene vielleicht völlig neue Bestandteile aufweise. Dieser Einwand ist ernst zu nehmen, er kann aber wieder mit dem Test der Selbstprüfung neutralisiert werden, der auch für die physikalische Theorie gilt, weil vorgängige Vernunfteinwirkungen für jede menschliche Physik in den physischen Prozessen anzunehmen sind. Mit diesen vorgängigen Vernunfteinwirkungen, die der metaphysischen Reflexion entstammen, wird nicht auf eine abgetrennte geistige Substanz nach Art von Descartes’ »res cogitans« verwiesen, sondern es wird behauptet, dass es im Begriff einer Prozesstotalität für die Evolutionsphysik notwendig zu akzeptierende Erklärungslücken gibt, d. h., dass sie den Begriff einer Prozesstotalität zwar konstruieren, aber nicht erklären kann. Die Trennung von Geist und Materie hilft dort nicht weiter, wo die Frage nach ihrem Einheitsgrund beantwortet werden soll. Ich frage deshalb, wie vor und nach

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Englische Erstauflage, Oxford 2012; deutsche Erstauflage, Berlin 2013.

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Descartes das Bewusstsein gedacht wird. Die erste vollständige Entwicklung des Bewusstseins findet sich bei Augustinus. Eine frühe Form entwickelt Platon im Sophistes, wo er erklärt, dass Sein, Leben und Geist immer zusammengehören. 91 Bei Augustinus wird eine Selbstbewusstseinstheorie entwickelt, in der Sich-Wissen, Sein und Vernunft zusammengedacht werden. Sein wird seit Platon und Aristoteles nicht als univoker, sondern als analoger Begriff verstanden. Es wird auf vielfältige Weise ausgesagt. Denken und bewusstes Leben gehören zum Seinsbegriff dazu und Aristoteles lehrt in De anima, dass »Leben das Sein der Lebewesen« ist. 92 Augustinus fragt, was am Anfang des Denkens steht. Wenn man ein Haus bauen will, muss erst der Grund vom Geröll freigemacht werden. Wenn es um die Grundlegung des Wissens geht, müssen die Zweifel auf vernünftige Weise beseitigt sein, ehe man sich an den Aufbau des Wissens machen kann. Es ist sinnvoll, mit den Skeptikern zu sagen: Alles ist ungewiss. Bei den Skeptikern ist vor allem an Arkesilaos (etwa 315–240 v. Chr.) und Karneades (etwa 215–129 v. Chr.) zu denken. Bei der Begründung dieser These pflegten sie von einer Definition des Wahren von Zenon von Elea (490–430 v. Chr.) auszugehen. 93 Nach dessen Lehre gibt es etwas, was er eine Vorstellung nannte, die das Gefühl der ihr innewohnenden Wahrheit mit Notwendigkeit in unserem Geist erzeugt. Die zenonische Definition lautet folgendermaßen: All das kann als wahr erfasst werden, was dem Geist von seinem Gegenstand so eingeprägt wird, dass es gar nicht von einem anderen Gegenstand herrühren könnte. Das Wahre ist an Merkmalen zu erkennen, die am Falschen überhaupt nicht auftreten können. Die Skeptiker übernehmen diese Behauptung und argumentieren, dass es solche Merkmale, die das Wahre unzweifelhaft als wahr kennzeichnen, überhaupt nicht gebe. Folglich gibt es keine Gewissheit und keine Erkenntnis. Das ist eine negative Position, die zunächst beiseitegeschafft werden muss, damit der Bau des Wissens neu errichtet werden kann. Descartes ist darin verwandt mit Augustinus, auch wenn er es nicht wahrhaben will. Wie tragfähig ist diese Definition des Zenon? Es ist um diese Definition schlecht bestellt; denn ein Satz, der die Kriterien der Platon, Sophistes, 248a-254a. Aristoteles, De anima II,4, 415 b 13. 93 Zur skeptischen Argumentation und deren Grenzen Friedo Ricken, Antike Skeptiker, München 1994. 91 92

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Wahrheit angeben will, der also das Wahre als solches zu definieren unternimmt, ein solcher Satz muss selbst wahr sein. Er müsste sich also auf sich selbst anwenden lassen. Das ist offenbar unmöglich; denn wir können nicht erkennen, was seinerseits das Merkmal für diesen Satz ist, dass das Wahre ein Merkmal ist. Dem Gedanken der Auffindung eines Wahrheitskriteriums liegt eine unvermeidliche petitio principii, eine unerlaubte Voraussetzung des zu Beweisenden, zugrunde. Aber die Skeptiker nahmen den Satz an, um damit jeden Gewissheitsanspruch aufzuheben. Sie stützen sich dabei auf Sinnestäuschungen, denen der Mensch unterliege, und auf die Tatsache der Widersprüche der philosophischen Schulen. Sie behaupten, dass nirgends der Anspruch des zenonischen Wahrheitskriteriums erfüllt sei. Dagegen macht Augustinus Folgendes geltend: Es gibt eine unausweichliche Alternative. Entweder gilt der Satz des Zenon; dann haben wir wenigstens eine Gewissheit, auch wenn die Anwendung des Satzes im Einzelnen problematisch bleiben mag. Oder der Satz des Zenon ist falsch. Und auch in diesem Fall muss doch ein Satz wahr sein, nämlich der Satz, der die Falschheit dieser Behauptung feststellt. Dieser Argumentation liegt der Satz des ausgeschlossenen Dritten zugrunde, ein Prinzip, dessen Wahrheit unmittelbar einleuchtet und unmittelbar vom erkennenden Geist erfasst wird. Die Widerlegung des Arguments gegen das Wahrheitskriterium eröffnet den Weg für die Behauptung der Möglichkeit zunächst einmal der Erkenntnis von durch sich selbst einleuchtenden Prinzipien. In dieser Denkweise folgt Augustinus zunächst den Platonikern, die ja auch behaupten, die Formen seien unmittelbar einsichtig. Aber Augustinus geht noch über diese platonische Voraussetzung hinaus, indem er sagt, dass die Skeptiker sich selbst widersprechen; denn einmal bestehen sie auf dem zenonischen Wahrheitsmerkmal und darauf, dass diesem Wahrheitsmerkmal faktisch nichts entspricht. Und dann gehen sie weiter dazu über, ihre eigene Methode anzuwenden und die Enthaltung vom Urteil zu empfehlen: Es ist wahr oder es ist falsch, der Schwebezustand, den die Skeptiker in dem denkenden Geist herzustellen versuchen. Und diese Enthaltung wird nun von ihnen als der Weg zur Weisheit empfohlen. Aber das ist absurd. Denn es wird uns hier ein Weiser vorgestellt, der nichts weiß, der nicht weiß, warum er lebt, wie er lebt, oder auch nicht behauptet, das zu wissen. Der also soll ein Weiser sein, der nichts weiß? »Keine zweite Behauptung«, so Augus-

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tinus in contra academicos, »kann so verkehrt und irrig und verrückt sein wie diese.« 94 Zu wissen, dass man selbst lebt, dies wird hier von Augustinus angenommen als das Gewisseste unter allen möglichen Gewissheiten. Und diese Gewissheit zu leugnen, ist absurd. Denn »wer zu nichts seine Zustimmung gibt, kann auch nicht handeln«. Fraglos ist das Handeln für den lebenden Menschen unausweichlich. Davon hatten auch die Skeptiker eine Vorstellung. Sie versuchen, dem hier von Augustinus formulierten Argument dadurch auszuweichen, dass sie zum Probabilismus wechseln: Es ist also nur wahrscheinlich (verisimile), dass man lebt, oder es ist nur wahrscheinlich, dass etwas gut ist. Aber dieser Ausweg aus der Verlegenheit zerstört doch tatsächlich die Maßstäbe für die Unterscheidung von gut und schlecht und erweist sich auch faktisch als unbrauchbar. Die Akademiker haben ihren Wahrscheinlichkeitsbegriff auf die sophistische Praxis bezogen. Nach diesen lasse sich jede beliebige Position mit Argumenten verteidigen, weil jede Sache grundsätzlich gut und schlecht und so keine rationale Entscheidung möglich sei. Eine Meinung lasse sich nur mittels der Rhetorik oder anderer außerrationaler Machtmittel durchsetzen. 95 Aber genau auch gegen diese sophistische Praxis mit ihrer Behauptung, dass jede Sache grundsätzlich gut und schlecht sei, richtet sich die augustinische Kritik. Bei Descartes lautet die Formel der Selbstgewissheit, die sich vor allem in den Meditationes de prima Philosophia findet: »Ich denke, also bin ich.« Diese wörtliche Formulierung findet sich zwar nicht bei Augustinus. Aber der Sinn der augustinischen Formulierung ist doch derjenigen von Descartes so nahe, dass sich natürlicherweise die Frage der Abhängigkeit des Descartes von Augustinus aufdrängt. Das geschah schon zu seinen Lebzeiten. Christof Kann führt aus: »So bemerkt Antoine Arnauld (1612–1694) in den vierten Einwänden gegen die Meditationes, man müsse sich zunächst, hier über eines wundern, dass nämlich der hochverehrte Mann [d. h. Descartes] genau dasselbe als Grundlage seiner Philosophie aufgestellt hat wie der heilige Augustinus […] (AT VII, 197). Augustinus’ Feststellung in De libero arbitrio II 3, 7, wonach die Tatsache der Täuschung die Existenz des Getäuschten voraussetzt, findet sich, so Arnauld, in eben derselben Weise in Descartes’ hypo94 Augustinus, Contra Academicos, Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Buch 1, Kap. 9,1, Wien 1877 ff. 95 Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen (IV, 28 ff.), Stuttgart 1998, S. 201 ff.

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thetischer Annahme eines Betrügergottes in der Zweiten Meditation, wo es heißt: ›Nun, wenn er [d. h. der Betrügergott] mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, dass ich bin (AT VII, 25).‹ Arnauld weist keinesfalls beiläufig auf Descartes’ Affinität zu Augustinus hin. Anlass der Verwunderung ist zweifellos die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Voraussetzungslosigkeit, die Descartes in den Meditationes beansprucht, und der offensichtlichen Augustinus-Anleihe, die ja Descartes’ Originalität sehr deutlich in Frage stellt.« 96

Descartes hat sich auf diesen Vorwurf etwas zweideutig geäußert. Zum einen hat er sich über die Übereinstimmung gefreut, zum anderen besteht er darauf, dass bei der Ähnlichkeit des Ausdrucks doch seine Verwendung der Formel ihr eine durchaus andere Bedeutung gibt. Sie steht bei Descartes allein, ohne Seele und Leib als Grund. Insofern hat Descartes recht, weder kann die cartesianische Formel als Spielart der augustinischen erkannt werden, noch kann man bei Augustinus von einem Cartesianismus sprechen. Die Übereinstimmung zwischen Descartes und Augustinus ist nur äußerlich. Es gibt deutliche Unterschiede. Bei Augustinus hatten wir gesehen, dass jedes noch so skeptische Argument gegenüber der lebensnotwendigen Einsicht des Handeln-Müssens zurückweichen muss. Die Vernunft ist mit dem Bewusstsein und dem Leben durch den Lebenstrieb und die Notwendigkeit von dessen vernünftiger Umsetzung verbunden. Das Bewusstsein ist nicht nur reine Identität des Sich-Wissens eines denkenden Ichs, sondern das Sich-Erscheinen eines vernünftigen Lebewesens. Dieses cartesianische »cogito ergo sum« ist nicht nur der Angelpunkt seiner Gedankenführung, sondern ist zugleich der Beginn der modernen Philosophie, der Konstruktion aus dem Subjekt heraus, der Subjektivität der modernen Transzendentalphilosophie. Der Ansatz ist radikal und trennt die antike, mittelalterliche Philosophie fast unüberwindbar von der modernen. Wenn wir heute von Idealismus und Realismus sprechen, so kann man sagen, dass das idealistische Problem in diesem modernen Sinn, die Möglichkeit dieser Alternative, erst von Descartes geschaffen worden ist. Ein deutscher Philosoph, Husserl, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat ausdrücklich mit seiner Schrift Die cartesianischen Meditationen an Descartes angeknüpft. Auch er spricht von dem »ego der reinen cogitationes«. Descartes geht in seinen Meditationes von der Fiktion der Ge96

Christof Kann, Grenzen des Zweifels, in: Philosophisches Jahrbuch 2003, S. 230.

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trenntheit des reflektierenden Subjekts von seiner Natur und der Natur überhaupt aus. Mit ihm startet der Versuch, materielle Prozesse vollständig naturwissenschaftlich-mathematisch zu erklären. Materielle und geistige Prozesse werden völlig voneinander getrennt und in der Folge jeweils unterschiedlich zum Mittelpunkt der Wirklichkeit gemacht: Entweder besteht alles aus Materiellem, oder es besteht alles aus Geistigem. Die Beachtung des reflektierenden Subjekts und seine Mittelpunktstellung wird durch neue optische Messmethoden motiviert. Wenn man mit Linsen entferntere Gegenstände besser erkennen kann, dann ist offenbar das menschliche Sehen mangelhaft und nicht ganz zuverlässig. Die Sinne taugen dann offenbar nicht mehr, wie die Meditationes behaupten, um ein unerschütterliches Fundament für die Erkenntnis zu legen, etwas ganz Sicheres, mit dem man zuerst anfangen könnte. Descartes beschließt, um absolute Gewissheit zu erlangen, an allem, was die Sinne liefern, absolut zu zweifeln und jedem nur geringsten Zweifel zu folgen. So behauptet er, die sinnliche Erkenntnis täusche sich über die Qualität des Wachses, und man könne niemals durch sichere Anzeichen Wachen vom Schlafen unterscheiden. Beim Wachs behauptet Descartes, dass der Klumpen zuerst hart sei, wenn man ihn dann an das Feuer halte, wäre er weich. Dagegen ist einzuwenden, dass die Sinne tatsächlich nicht täuschen; denn das Wachs reagiert nur auf äußere Einflüsse, die die Sinne richtig wiedergeben. Was das Traumargument anbetrifft, so kann man im Traum sehr wohl kurzfristig träumen, dass man wach sei. Im wachen Zustand aber sind wir sicher, dass die Dinge unabhängig von uns da sind. Wir können andere Menschen fragen und unsere Wirklichkeitserkenntnis im wachen Zustand überprüfen. Ein weiterer Zweifelsgrund ist, dass »irgend ein böser Dämon, der höchst und mächtig ist«, uns täuschen könne. Die Gewissheit der Erkenntnis und Existenz des erkennenden Ichs rückt in den Mittelpunkt der Welt, wird aber dann erst vollkommen als Welterkenntnis etabliert, wenn die Erkenntnis der äußeren Welt durch die Hilfsannahme der Wahrhaftigkeit Gottes sichergestellt ist. Descartes behauptet, zuerst durch den Zweifel des zweifelnden Ichs eine sichere und wahre Erkenntnis zu haben. Wie das Ich dann sicher sein kann, dass den Erscheinungen, die es von außen von der getrennten Welt hat, tatsächlich das entsprechende Ding entspricht, das kann Descartes nur mit Hilfe des Beweises der Existenz eines wahrhaften Gottes einlösen; denn ein wahrhafter Gott wird uns nicht täuschen. Dieser Rückgriff auf die Wahrhaftigkeit Gottes zeigt, 78

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dass bereits das »ich denke« kein rein subjektives Tätigsein war, sondern in Ermöglichung durch ein objektives Sein erfolgte, weil das Wissen um den wahrhaften Gott schon von Anfang an vorhanden war. Das Misstrauen beschränkt sich bei Descartes aber nicht nur auf die menschlichen Sinne. Es gilt der ganzen Stellung des Menschen im Kosmos und der Natur. Bei Descartes steht nun der Kosmos dem Menschen und seinen Zielen indifferent gegenüber. Die Ganzheit der Natur, die bei Platon und Aristoteles auf das Beste zielt und im Christentum einen liebenden und sorgenden Gott impliziert, wird bei Descartes aufgegeben. Nicht nur die Bestheit der Sinne und damit die Verbindung zur außermenschlichen Natur stehen in Frage, auch der menschliche Leib, der von Descartes als lebloser Apparat betrachtet wird, verliert seine Beseelung und damit seine Würde. Statt des platonisch-augustinischen Aufstiegs über die Schöpfung zu Gott, wird bei Descartes die Schöpfung ausgeblendet, um über die Ich-Gewissheit, die durch einen Gottesbeweis mit einer Art Prothese versehen wird, zu einem Feld reiner Reflexion und reinen Bewusstseinslebens zu gelangen. Die fehlende Einbettung in das Leben und den Kosmos schafft das reflektierende Ich durch die Erzeugung seiner Einsicht in sich selbst. Von der Gewissheit, die das Ich in den Meditationes erlangt, sagt Descartes: »Aber es kann ganz und gar nicht sein, dass wenn ich sehe oder wenn ich denke, dass ich sehe, ich selbst, der ich denke nicht irgendetwas bin.« Dieser Selbstgewissheit wird der Charakter eines Archimedischen Punktes zugeschrieben, mittels dessen Hebelwirkung die subjektive und die objektive Welt über die Einsicht des »ich denke« erst einmal zusammengebracht werden. 97 Es ist klar, warum der Versuch, die Natur zu verstehen, auf Augustinus und nicht auf Descartes zurückgreifen muss. Es geht um das Vernunftfundament, das irgendwie die Natur umgreift und das über den Menschen zugänglich wird. Die Selbstvergewisserung durch das »Ich denke, ich bin« leistet bei Descartes nur eine zweideutige Grundlegung eines Sich-Wissens der Vernunft. Es enthält die falsche Auffassung, die Fichte dann zu seiner Philosophie inspiriert hat, dass das Ich sich ursprünglich erst selbst generiert. Bereits bei Descartes geht die Herkunft der Ich-Gewissheit aus dem Sein und Leben, wie sie noch Augustinus gedacht hat, verloren. Das Resultat 97

Descartes, Meditationen, übersetzt von Andreas Schmidt, Göttingen 2004, S. 95.

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von Descartes, die denkende Substanz, ist als »Geist in der Maschine« falsche Metaphysik. Es bildet keine Voraussetzung für das Gespräch mit der modernen Kosmologie, vielmehr ist es eine Quelle von Missverständnissen und Kritik. Auf der einen Seite übernimmt Newton von Descartes und Galilei die unbegrenzte räumliche Ausdehnung des nur noch materiellen und nicht mehr lebendigen Kosmos. Auf der anderen Seite schwebt die ohne Leben konzipierte geistige Substanz von Descartes in der Luft. Der empirischen Erfahrung ist sie nicht zugänglich, sodass sie von den Naturwissenschaften fallen gelassen wird. Das philosophische Konstrukt einer Art logischen Implikation des Wissens vom Ich, wenn immer »ich denke«, wird von Kant als Paralogismus, als Fehlschluss abgelehnt. Das Ich erkennt sich nach Kant nicht als Substanz. Die Selbstgewissheit, die sich aus dem Zweifel ergibt, ist ein Wissen, dass ich bin. Gegen die Behauptung von Descartes gilt, dass ich zuallererst einmal sein muss, damit ich zweifeln und denken kann. Die Begründung der Gewissheit liegt nicht im Wissen, sondern in der natürlichen Erfahrung, die wir von uns als reale Leibwesen haben. In den Prinzipien der Philosophie (1644) erläutert Descartes die Trennung unseres Denkens von unserem Körper. Vorausgeht, was wir schon kennen, die Forderung, dass man, um die Wahrheit zu finden, einmal im Leben an allem zweifeln müsse. Schon hier wäre gegen Descartes zu fragen, ob nicht schon das Wissen über den möglichen Gebrauch des Zweifels eine grundlegende Gewissheit vor der Operation des Bewusstseins sei, sodass man in Wirklichkeit gar nicht an allem zweifeln könne. Dass man zweifeln kann, daran kann ja nicht gezweifelt werden, wenn man den Zweifel als Methode einsetzen will. Nach Descartes soll erst die Ebene des Denkens und des Bewusstseins in der Lage sein, eine grundlegende Gewissheit zu schaffen. Jeder, der lebt, weiß ja, dass der Zweifel und die Vergewisserung ein selbstverständliches Element der Lebensführung sind, und dies schon vor der Reflexionsleistung, der angeblichen Leistung des Bewusstseins. In den Prinzipien fährt dann Descartes wie in den Meditationes mit den Behauptungen fort, dass die Erkenntnisse der Sinne und der Mathematik nicht sicher seien, und er kommt dann zu der seiner Theorie nach absolut unbezweifelbaren Einsicht: »Ich denke, daher bin ich, die überhaupt erste und sicherste [Einsicht] auf die jeder regelgeleitete Philosophierende stößt.« 98 Die Reduzierung un98

Descartes, Prinzipien, übersetzt von Christian Wohlers, Hamburg 2005, S. 15.

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serer Natur auf das Denken sollen wir uns folgendermaßen klarmachen: »Wenn wir nämlich untersuchen, was wir, die wir unterstellen, dass alles, was von uns verschieden ist, falsch ist, denn nun sein mögen, dann sehen wir ganz zuverlässig, dass keine Ausdehnung, weder Gestalt, noch Ortsbewegung, wie überhaupt nichts dergleichen, das dem Körper zugesprochen wird, zu unserer Natur gehört, wie allein das Denken.« 99 Wenn wir überlegen, ob wir diese Behauptung von Descartes zugeben können, dass wir, ohne einen Zirkel zu begehen, annehmen können, dass alles, was von uns verschieden ist, falsch sei, sehen wir, dass, wenn wir logisch negieren, dass etwas überhaupt existiert, wir auch unsere Existenz negieren müssen. Wenn wir jedoch negieren, dass alles außer uns nichts ist, bringen wir uns in eine privilegierte Position und zeichnen das Ich durch die alleinige Existenz aus. Es ist eine tautologische Argumentation: Immer, wenn ich annehme, dass nur ich existiere, stelle ich fest, dass ich dann nur mich denke. Descartes kann den Unterschied zwischen dem Denken und dem körperlichen Ding mit diesem Argument nicht deutlich machen. Es gibt nun ein weiteres Argument, durch das deutlich wird, dass Descartes mit seiner Sicht des Denkens und Bewusstseins die Phänomene nicht sieht. Er will erklären, was Denken ist, und sagt: »Unter der Bezeichnung ›Denken‹ verstehe ich alles, was auf bewusste Weise in uns geschieht, das wir also erkennen, insofern es zu unserem Bewusstsein gehört. Deshalb ist nicht nur Einsehen, Wollen, Vorstellen, sondern sogar Empfinden hier dasselbe wie Denken.« Diese Gleichsetzung von Wollen, Vorstellen und Empfinden mit Denken ist nicht einsichtig; denn von diesen Tätigkeiten haben wir zwar jeweils ein Bewusstsein, ohne dass sie aber nur Bewusstseinsleistungen sind. Diese umfassende und zentrale Rolle des Bewusstseins wird von Descartes mit folgendem Argument, dass die Tätigkeiten des Sehens und Spazierengehens nicht so gewiss sind, wie wenn sie als bewusste Tätigkeiten ausgesagt werden, untermauert. Descartes argumentiert: »Denn wenn ich etwa sage ›ich erblicke etwas‹ oder: ›ich gehe spazieren, daher bin ich‹ und gewinne diese Einsicht im Ausgang von der Tätigkeit des Erblickens oder Spazierengehens, insofern sie sich im Körper vollziehen, dann ist die Folgerung keineswegs absolut sicher, denn ich kann ja, wie es im Traum oft geschieht, bloß vermeinen, dass ich etwas erblickte oder dass ich spazieren ginge, obgleich ich die 99

Descartes, ebenda, S. 16 f.

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Augen gar nicht geöffnet habe und mich von meinem Ort gar nicht fortbewege.« 100 Wenn diese Einsichten im Ausgang vom »Bewusstsein des Erblickens oder Spazierengehens« gewonnen werden, dann sei, sagt Descartes, die Schlussfolgerung unabweisbar, »weil in diesem Fall beides auf den Geist bezogen wird, der allein sich als sehend wahrnimmt oder als spazierengehend denkt«. 101 Die genannte Voraussetzung von Descartes, dass der körperliche Vollzug nicht unmittelbar gewusst werden könne, ist nur dann einleuchtend, wenn eine Trennung des Körpers vom Bewusstsein vorausgesetzt wird, was aber gerade nicht richtig ist. Wir bewegen unseren Körper, weil wir der Meinung sind, dass wir etwas tun wollen bzw. tun sollten. Dabei geht untrennbar unser Wollen und Intendieren der Körperbewegung voraus. Im Normalfall erreichen wir eine angestrebte Bewegung, die wir uns vorher als realistisch und möglich überlegt haben. Damit meine ich, dass wir etwas tun, das uns leichtfällt, und wir uns nicht z. B. vornehmen, ohne besonders geübt zu sein, eine riskante Überquerung auf einem Seil zu machen. Andere Erkenntnisse im Bewusstsein, die wir von unserem Körper bekommen, z. B. dass wir Hunger haben, bauen auf der körperlichen Empfindung auf und folgen dieser. Die Ebene des Bewusstseins ist keine Ebene, die der Empfindung eine größere Sicherheit gibt. Auch das Traum-Argument von Descartes ist keine Stütze für die Einsicht in die Getrenntheit von Bewusstsein und Körper. Zwar kann man träumen, dass man, obwohl man aktuell schläft und damit ruht, spazieren geht, sodass dabei eine Täuschung über die Tätigkeit erfolgt. Aber man kann ebenso von einem philosophischen Gespräch träumen, in dem man jemandem das Descartes’sche Argument vordemonstriert, und im Traum überzeugt sein, dass es richtig ist, obwohl man im wachen Zustand eingesehen hat, dass es falsch ist. Jede wirkliche Wahrheit kann im Traum als falsch, jede geträumte Wahrheit in Wirklichkeit falsch sein, eben ein Traum. Der nach Descartes sicherste Satz »Ich denke, daher bin ich« ist nicht wahr, weil das menschliche Denken nicht allein durch die Einheit des aktuellen Denkakts besteht, sondern in Einheit mit dem eigenen Leib. Wir haben Gewissheit, die Descartes vergeblich in den Akt des Denkens verlegt, dann, wenn wir sagen: »Ich handle, also bin ich«, oder »Ich hebe

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Descartes, ebenda, S. 17. Descartes, ebenda, S. 17.

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den Arm, also bin ich«, oder »Ich gehe spazieren, also bin ich« oder »Ich spreche, also bin ich.« Wir haben ein unmittelbares Bewusstsein davon, dass wir lebendig sind. Wenn wir krank sind, bekommen wir von unserem Körper Signale. Das alles erfolgt auf der Basis der Zielgerichtetheit unserer Naturbeschaffenheit und lässt sich nicht mechanistisch über eine Körperbewegung kleinster Teilchen wegerklären. Wir werden im Aristoteles-Kapitel dies ausführlich behandeln. Die Leugnung von Descartes, dass wir eine Erfahrung von Leben haben, dass unser Handeln auf einer seelischen Einheit von Körper und Geist beruht, ohne dass Descartes empirisch aufzeigen kann, wie Geist und Körper kausal interagieren, ist in Wahrheit ein philosophisches Skandalon. Das Sein des Bewusstseins ist nicht die klare, helle und durchsichtige Idee des »ich denke«, sondern die lebendige Substanz, die ein Wissen von sich hat, ohne dass ihr ihr Sein ganz gegenwärtig wäre. Die Seele als Form des Körpers, der Lebens- und Seinsbezug des Denkens, wie er von Aristoteles gedacht wurde, ist bei der augustinischen Interpretation der Selbstgewissheit noch lebendig. Mit der vermeintlichen Klarheit als Kriterium für die Gewissheit des »ich denke« missbraucht Descartes die Ideenlehre Platons, in der keine Idee einfach nur für sich steht, sondern in zwei Richtungen auf die Realität bezogen ist: Sie ist begründet im Guten und ist bezogen auf die Materie. Der Rückgriff auf die Widerlegung der Skeptiker bei Augustinus, dass die Leugnung der Wahrheit nicht ohne Widerspruch möglich ist, gleicht der von mir verwendeten philosophischen Grundfigur, dem Test der Selbstprüfung. Mit diesem Test habe ich als Lebensselbstvergewisserung die Handlung des Armhebens verbunden. Die Handlung des Armhebens ist besser geeignet für die Vergewisserung des Subjekts als die vorgebliche Denkgewissheit, die aus dem »ich denke« das »ich bin« folgern will. Der Zusammenhang zwischen Denken und Sein muss vom Reflektierenden anhand von Erlebnissen erinnert werden, während die Probe, dass ich selbst es bin, der den Arm hebt, immer unmittelbar erfahren wird. Es gibt in der modernen kosmologischen Physik ein großes Staunen darüber, dass der menschliche Geist dergestalt mit der Materie verbunden ist, dass die subtilsten Berechnungen in den atomaren und subatomaren Prozessen immer wieder stimmen. Nicht minder staunenswert ist jedoch dieses Phänomen, mit dem wir es hier zu 83

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tun haben, die Selbsterfahrung des Menschen. Der menschliche Geist wirkt in ebenso treffsicherer Weise auf die materiellen Prozesse im Menschen ein. Die Sinne des Menschen, sein sinnliches Fühlen, das sich selbst fühlt, ist ein zwar uns allseits bekannter, aber doch bemerkenswerter Fall unseres Zusammenhangs mit der Natur. Zur Erfahrung experimenteller Bestätigung der Mathematik in der physischen Realität tritt die Erfahrung der menschlichen Handlungsmächtigkeit, die Ermöglichung der Subjektivität durch das Zusammenklingen von menschlichem Geist und Willen mit den körperlichen Prozessen. Wenn ich davon spreche, dass Natur nicht ohne den Menschen gewusst werden kann, dann heißt das in der konkreten Erfahrung, dass die natürliche Bewegung des Armhebens nicht ohne Einschluss und die Tätigkeit aktueller Vernunft möglich ist. Meine Methode der reflexiven Prüfung durch den Test der Selbstprüfung veranlasst mich, die Naturerfahrung der gegenwärtigen phänomenologischen Methode aufzugreifen. Angeregt durch Hermann Schmitz und in Modifikation der Husserl’schen transzendentalen Methode durch Aristoteles erklärt Gernot Böhme: »Von Natur soll geredet werden, wo einem Subjekt etwas in seinem Dasein als unverfügbar gegenüber tritt. Das kann auch die eigene Natur qua Leib sein. Auch die eigene Natur tritt dem Subjekt als unverfügbar gegenüber. Sie ist aber gleichwohl die meine, insofern ich von ihr unausweichlich betroffen bin und sogar mich selbst in meinem Dasein hier und jetzt als von ihr abhängig erfahre. Die Natur ist das, ›was mich ausmacht‹.« 102 Das selbstverständliche Zugehören des Menschen zur Natur und zu den Lebewesen zeigt sich an seinen Tätigkeiten wie Essen, Trinken, Schlafen, an seiner Reproduktionsweise, aber auch an seiner Sterblichkeit. Ein Eingebettetsein in die Natur, ein Aufgehen in ihrer landschaftlichen Schönheit, suchen viele Menschen, um sich zu erholen. Es geht dabei um ein ästhetisches Erleben, bei dem Natur ins Bewusstsein des Menschen als sinnvermittelnde und beruhigende tritt. Gernot Böhme unterscheidet von Husserls transzendentaler Phänomenologie eine Phänomenologie der Natur, »die ein Wissen von Natur durch Entfaltung und Wahrnehmung ihrer sinnlichen Gegebenheit gewinnt« und sie gegenüber der Naturwissenschaft charakteristisch unterscheidet«. 103 Während bei Husserl 102 Gernot Böhme, Phänomenologie der Natur – ein Projekt, in: Böhme, Schiemann, Phänomenologie der Natur, Frankfurt a. M. 1997, S. 13. 103 Böhme, Schiemann, Vorwort, ebenda, S. 8.

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die bewusste Vergegenständlichung der Natur in einem bruchlosen Übergang von lebensweltlicher Erkenntnis zu wissenschaftlicher besteht, beziehen die Vertreter einer Phänomenologie der Natur diese auf den Menschen mit seinem Leib, seinen Gefühlen und seinen Tätigkeiten. Natur wird relativ zur leiblichen Existenz des Menschen erfasst und nicht wie bei Husserl als Gegebenheit des Bewusstseins auf ein transzendentales Subjekt hin entworfen. Es kommt bei der realistischen Phänomenologie darauf an, den Leib des Menschen als das Korrelat der Leiberfahrung und als Glied der Natur aufzufassen. Der Leib des Menschen wird dabei analog zum Leib anderer Lebewesen gedacht. Leib- und lebensweltliche Vollzüge sind nicht auf das Bewusstsein als transzendentalen Ursprungs- und Einheitspunkt zurückbezogen, sondern auf die von ihnen verschiedene Objektwelt. Die dem Bewusstsein äußere Natur und die innere Natur, die Kant als inneren Sinn thematisiert, 104 sind miteinander verbunden. Der Hunger, den ich im Bewusstsein spüre und sinnlich empfinde, resultiert aus dem realen Zustand meines Körpers. Zu dessen Feststellung genügt meine Empfindung, die ich als Meinung und nicht als wissenschaftliche Gewissheit ausdrücke. Wenn ich sage: »Ich habe Hunger« oder »Ich habe Schmerzen«, dann sind das Aussagen, deren Wahrheit sich primär mir erschließen, die nicht durch äußere Bobachtung und intersubjektive Übereinstimmung erst objektiv werden. Sie bringen die Wichtigkeit des geistigen Subjektpols als Zugang zur Wirklichkeit zum Ausdruck. Der Subjektpol der Erfahrung wird klassischerweise bei Aristoteles, bei Goethe, in der Gegenwart bei Jonas und Spaemann ausgearbeitet. Es ist der Leib und der ganze Mensch. Unsere sinnlichen Empfindungen von der Luft oder Gegenständen, die Empfindungen von warm-kalt, von feucht-trocken, kommen beim Kontakt mit der Wirklichkeit, beim Fühlen zustande. Sie gehen auf die Qualität der äußeren Materie, die durch unser Empfinden aufgenommen wird, zurück. Empfinden, Wahrnehmen sind Wirklichkeitszugänge auf der Basis eines leiblichen Vollzugs, der vom Denken begleitet wird. Das Gegenprogramm zum sinnlichen Wirklichkeitsempfinden hat, wie wir gesehen haben, Descartes mit der denkenden Erfassung des Ichs, das eine reine geistige Substanz sein soll, entwickelt. Sein »cogito, sum«, ich denke, ich bin, koppelt Bewusstsein und Sein, lässt aber das Sein im Bewusstsein aufgehen. Verloren geht das bewusste 104 Kant, (1786) Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Kant, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Berlin 1903.

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Leben als »das fundamentale Paradigma des Seienden«. 105 Descartes macht nicht klar, dass das Bewusstsein immer auch Leben ist, Leben, das sich fühlt, empfindet und sich in Lauten und Sprache artikuliert. Wir erfahren unser Selbstsein durch unser Handeln und unsere Erlebnisse, die wir als unsere erfahren. Es ist keine spontane Produktivität, die als logische Funktion im Bewusstsein gegeben ist und dann, wie Kant meint, alle Inhalte begleitet. Wir erfahren unser Leben als Selbstsein und schreiben dieses Selbstsein auch anderen Lebewesen zu. Die menschliche Natur ist eine Art Medium für den Naturzugang. Im leiblichen Spüren, im Wahrnehmen nehmen wir das real Körperliche wahr. Das Spüren ist auch ein Sich-Spüren, das Berühren ist ein unmittelbarer Kontakt ohne ein dazwischenliegendes Medium. Hunger, Durst erleben wir als Phänomene unserer Natur. Wir haben Hunger oder Durst, ohne dass es schon ein reflexes Wissen wäre, aber durch Hunger und Durst grenzen wir auch ein, was eine mögliche Nahrung für uns ist. Gernot Böhme hat in einer eindringenden Analyse die aristotelische Elementenlehre in Bezug auf die menschliche Wahrnehmung und die menschlichen Bedürfnisse gesetzt. Mit der aristotelischen Elementenlehre verschafft Böhme seiner Phänomenologie realistische Grundlagen. Elemente sind bei Aristoteles primäre Bestandteile der Natur, die sich in Verschiedenartiges zerlegen lassen. Aristoteles’ Theorie der vier Elemente oder der von ihm so genannten ersten oder einfachen Körper: Feuer, Wasser, Erde, Luft, »werden nach sinnlichen Qualitäten bestimmt, d. h. so, wie sie in sinnlicher Wahrnehmung präsent sind«. 106 Unsere Empfindungen von warm und kalt, von feucht und trocken, werden zu den Elementen in Beziehung gesetzt. Böhme führt aus: »Das Feuer ist warm und trocken, die Luft ist warm und feucht, das Wasser kalt und feucht und die Erde ist kalt und trocken.« 107 Die Elemente tendieren zu ihren einheimischen Orten. 108 Sie haben damit eine Bewegungsrichtung, wie sie alle Körper nach der Auffassung des Aristoteles haben. Diese Annahme des Aristoteles ist heute überholt. Die Verbindung von menschlicher Sinnlichkeit mit den Elementen, die sich aufgrund einer teleologischen Ordnung der Natur ergibt, ist ein anschauliches Beispiel für

105 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum, in: Spaemann, Schritte über uns hinaus, Band I, Stuttgart 2010, S. 137. 106 Gernot Böhme, Phänomenologie der Natur – ein Projekt, in: ebenda, S. 14. 107 Gernot Böhme, ebenda, S. 18. 108 Aristoteles, Coel 268 b14–16.

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das, was Natur und Physis bei Aristoteles darstellt, »eine Naturbeschaffenheit, die Anfang und Ursache von Bewegung an dem Ding ist, dem sie im eigentlichen Sinne zukommt«. 109 Die Vier-ElementenLehre erklärt die Konstitution der untersten Ebene der Naturdinge. Neben den vier Grundkörpern nimmt Aristoteles einen fünften Grundkörper, den Äther an. 110 In der Wahrnehmungslehre des Menschen, die in der Schrift Über die Seele entwickelt wird, führt Aristoteles aus, dass unsere Sinne verlässliche Verbindungen mit der körperlichen Welt darstellen. Dass unsere Augen und Ohren uns gelegentlich täuschen, war Aristoteles wohlbekannt. Das zielstrebige Handeln prüft die Sinneserkenntnis und stellt fest, wann Irrtümer vorliegen und wie sie vermieden werden können. Das Wachs hat eben nicht – wie ich schon erwähnt habe –, um ein Beispiel von Descartes aufzugreifen, zwei völlig verschiedene Naturen, einmal hart und einmal weich. Wir merken, dass es, obwohl zuerst hart, dann unter der Einwirkung der Wärme weich wird. Auch können sich die Sinneserkenntnisse ergänzen. So wird nachts ein Einbrecher vielleicht von den Bewohnern nicht gesehen, wohl aber der Lärm, den er beim gewaltsamen Öffnen der Türe oder des Fensters verursacht, gehört. Die Zielsicherheit der menschlichen Sinne hilft dem Menschen beim Verfolgen seiner Interessen. Die Erfahrung, dass sie dem Menschen helfen, die von ihm gesetzten Ziele zu erreichen, ist ein zentraler Bereich der teleologischen Erfahrung, zu der ebenso das Wissen von den organischen Körperfunktionen, die ebenfalls zielstrebig sind, gehört. Herz, Magen, Leber, Hand, kurz alle Organe haben Aufgaben, die der naturgegebenen Zielsetzung des Lebewesens Mensch, sein Leben zu führen, sich zu erhalten und sich dabei gut zu befinden, dienen. Und wie alle Organe einem bestimmten Zweck dienen, haben auch die Sinnesorgane ihre Ziele, die sie anstreben und realisieren. So bietet die Wahrnehmung des Menschen ein Beispiel für die zielstrebigen Strukturen, die Natur und Mensch bei Aristoteles verbinden. Nicht ein transzendentales Bewusstsein im Sinne Husserls, sondern eine im Sein verwurzelte Selbsterfahrung des Menschen, wie Augustinus sie konzipiert, ist es, die die aristotelische Konzeption fortsetzt. In der Wahrnehmung zeigen sich Natur und Mensch nicht als Gegensatz, sondern als Komplementarität, wie Spaemann es in seinem Artikel

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Aristoteles, Phys 192 b20 – 22. Aristoteles, Coel 298 b 6.

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»Natur« im Handbuch philosophischer Grundbegriffe 111 ausführt. Ermöglicht und gesteuert wird die Wahrnehmung durch die Lebensaktivität der Seele. Was die Seele jedoch ist, wissen wir durch das Vorherrschen der naturwissenschaftlichen Denkweise nicht mehr. Zum Leben als Funktion gehört Ernährung, Wachstum, Reproduktion und Schwinden. Damit diese Funktionen in ihren vielfältigen materiellen Elementen und Bestandteilen überhaupt stattfinden, müssen diese vielen Teile eine Einheit bilden, eine Einheit, die durch die Seele bewirkt wird. Die Materie unseres Sehens besteht in bestimmten körperlichen Organen, wie z. B. einer Netzhaut, neben Nervenbahnen und Großhirnbereichen mit ihren Neuronen. All das ist für die Sehfähigkeit notwendig, aber nicht ausreichend. Das Sehen als Prozess wurzelt in der Tätigkeit des Sehens, die vom Menschen gewollt wird und von der Seele als Lebenstätigkeit vollzogen wird. Die Tätigkeit des Organismus eines Lebewesens geht von der Einheit und Dynamik der Seele aus. Aristoteles verdeutlicht die Seele mit der Sehkraft: »Wenn nämlich das Auge ein Lebewesen wäre, so wäre seine Seele die Sehkraft«. Das Auge, sagt Aristoteles, ist die Materie der Sehkraft. Wenn die Sehkraft entfernt würde, wäre das Auge kein Auge mehr, so wie Organismus ohne Lebendig-Sein und Beseelung auch kein Lebewesen mehr wäre, sondern ein Leichnam: Aristoteles sagt: »Nicht der Körper, der die Seele verloren hat, sondern der sie besitzende ist der in Möglichkeit seiende Körper, sodass er leben kann.« 112 Das Auge ist erst durch die Sehkraft ein Auge, erst dadurch hat das Auge seine bestimmte Lebendigkeit. Die Materie ist nicht, wie in physikalistischen Positionen angenommen wird, hinreichend dafür, dass unsere Lebensäußerungen stattfinden können. In einer Phase der Neuentdeckung der menschlichen Organe durch Sezieren von Leichnamen – auch Descartes hat sich darin geübt – ist der Kurzschluss, dass der Leichnam dasselbe wie der lebende Mensch, nur eben einer ohne Blutzirkulation sei, verständlich. Man brauche zum Leichnam nur die Pumpaktivität des Herzens zu ergänzen, dann habe man wieder einen lebendigen Menschen. Wenn die experimentierende Entdeckerfreude verflogen ist, werden jedoch Fragen nach dem Zusammenwirken der Teile des Organismus dringlich, die durch den Blutfluss allein nicht zu erklären sind, sondern zu dem führen, was alte Naturforscher wie Aristoteles schon Seele genannt haben. 111 112

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Hg. Krings, Baumgartner, Wild, Band 4, München 1973, S. 957. Aristoteles, de an. II,1 412, b 18 f.

Zusammenfassung und Überleitung zum nächsten Abschnitt

2.1 Zusammenfassung und Überleitung zum nächsten Abschnitt Der besondere Lebenszusammenhang, in dem der Mensch steht und in dem sein Naturverstehen verwurzelt ist, läuft über das angemessene Verständnis seines Bewusstseins, das aus der substantiellen Verbindung von Leben und Erkennen hervorgeht. Descartes’ Unterscheidung des Seins in denkende und ausgedehnte Substanzen und seine Aufhebung des Lebens sind einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Wir haben gesehen, dass die Selbsterkenntnis des Menschen auf der Basis seiner innigen Verwobenheit mit seinem Leib und der Natur erfolgt. Der Geist ist nicht eine vom Körper getrennte Substanz, wie Descartes meint, sondern die zielstrebige Wesenserfassung, in der Sein und Leben des Menschen aktuell werden. Selbstbezügliche Operationen des erkennenden Subjekts sind kein unmittelbares Beisichsein des denkenden Ichs im Denken, sondern ein Zusich-Kommen des Leibes und der Natur in der Selbsterfahrung des Menschen. Mit der Bedeutung des Lebensbegriffs ist auch der Zugang zum Verständnis der unableitbaren Würde des Menschen geschaffen. Davon und von der Erklärung der stammesgeschichtlichen Herkunft des Menschen handelt der nächste Abschnitt.

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3. Die Menschenrechte als Manifestation des unverzichtbaren Anthropomorphismus und die Hypothesen des stammesgeschichtlichen Gewordenseins

3.1 Menschenwürde und Menschenrechte Haben Wölfe dasselbe Lebensrecht wie Menschen? Soll es Menschenrechte für Menschenaffen geben? Solche Forderungen werden von manchen Biologen und Tierethikern erhoben. Während Descartes, Kant und die europäische Aufklärung das Leben und die Seele der Tiere entweder ganz oder teilweise geleugnet haben, gibt es heute eine Tendenz der Wiedergutmachung, die angesichts des rücksichtslosen Umgangs mit den Nutztieren wie Hühnern, Schweinen oder Kühen verständlich ist. Das ethische Fehlverhalten des Menschen kann jedoch nicht dadurch korrigiert werden, dass den Tieren derselbe Seinsrang wie dem Menschen zugesprochen wird; denn der Mensch ist es ja, dem Verantwortung für die Tiere und damit eine Überordnung zugesprochen werden muss. Tiere kennen nur auf der Basis des Triebes eine Selbstbegrenzung. Sie hören auf zu fressen, wenn sie satt sind. Der Mensch muss im Vorausblick mit seinen Ressourcen so umgehen, dass auch die Nachkommen, auch ferne Generationen noch eine Lebensgrundlage haben. Und er muss die Vielfalt der Arten schonen. Eine Ordnung der Lebensressourcen, durch die die Menschen langfristig überleben können, muss auf der von der Natur vorgegebenen Ordnung basieren. Das bedeutet, dass Organismen innerhalb einer vorgegebenen Nahrungskette einander zugeordnet, Pflanzen und Tiere Nahrungsgrundlage des Menschen sind. Eine besondere Begründung ist notwendig, wenn der Mensch Nutztiere schlachtet und isst. Tiere sind nicht als grenzenlose Nahrungsquellen des Menschen anzusehen. Die maßlose Zunahme des menschlichen Fleischverzehrs und die damit einhergehende Massenschlachtung ist seit längerem in der Kritik. Auch ist die Jagd wilder Tiere nur in wenigen Fällen und in begrenzten Erdregionen erlaubt. Die ethische Pflicht des Menschen ergibt sich nicht aus dem Mensch-Tier-Kontinuum, wie es manche Vertreter des evolutionistischen Darwinismus 90

Menschenwürde und Menschenrechte

sehen. Vielmehr ist die dem Tier übergeordnete Stellung des Menschen das, woraus sich die Pflicht der Rechtfertigung seines Verhaltens gegenüber den Tieren und der Umwelt ergibt. Für das MenschTier-Verhältnis ist der Mensch mit seinem Wissen von seiner Verantwortung der Ausgangspunkt. Es kann nicht gelingen, einen Tierbegriff zu finden, in dessen Definition nicht schon heimlich eine Abgrenzung vom Menschen eingegangen wäre. Das Tier wird eben nur über die Lebendigkeit des Menschen verstanden. Wenn wir über den Menschen nachdenken und fragen, was er ist und zu was er verpflichtet ist, müssen wir von seiner Vollentwickeltheit, von seinem gesamten Sein, zu dem die Vernunftbegabtheit gehört, ausgehen und nicht etwa bloß von seinen historischen Tierabstammungsbedingungen. Mithin müssen wir zwischen seiner Stammesgeschichte und seiner Entwicklung im Mutterleib bis zum Erwachsensein unterscheiden. Beide Geschichten werden oberflächlicherweise gern gleichgesetzt. Die Stammesgeschichte ist dem Menschen nicht mehr in einer direkten oder einer indirekt bewusstmachenden Erfahrung gegenwärtig. Folgt man der modernen Evolutionstheorie, dann ist die Hypothese einer langen Entwicklung des menschlichen genetischen Codes von den einfachen Formen des Lebens bis hin zum Menschen eine nicht durch Experimente einlösbare Behauptung. Sie beruht auf erschlossenen Annahmen. Eine wirkliche Erfahrung aber liegt beim Menschen vor, dem sein eigenes Sein und Werden gegenständlich wird. Hier erkennt die Epigenese bereits sehr frühe fördernde oder schädigende Einflüsse der Lebensführung der Mutter auf das Austragen des Fötus. Die Bedingungen der Geburt und das Heranwachsen bis einschließlich der Pubertät unterliegen humanitären Bedingungen, die nicht ohne großen Schaden für das Werden der Person verletzt werden können. Werden diese jedoch verletzt, so gibt es mannigfache psychologische und psychoanalytische Bemühungen, heilende Prozesse in Gang zu bringen. Die Entwicklung des Menschen, die nicht nur durch Beobachtung, sondern auch aus seiner Selbsterfahrung gewusst wird, macht dann mit der Pubertät einen entscheidenden Sprung, der mit der besonderen Dynamik, die er auslöst, zum verantwortlichen jungen Menschen führt. Die Erfahrung des Geistigen und der Seele, die mit dem Leib eine Einheit bilden, gehören zur Selbsterfahrung des Menschen. Die Messlatte, die ich für die Tierethik verwende, die zur Kritik von einseitigen Formen des modernen Evolutionismus führt, entstammt den Forderungen der Humanität. Die Unzertrennlichkeit, 91

Menschenrechte als Manifestation des unverzichtbaren Anthropomorphismus

mit der der einzelne Mensch mit seiner Würde eins ist, fordert ihre unbedingte Achtung. Die Sittlichkeit enthält Aufforderungen an den Menschen mit einem unbedingten Charakter. Mit der christlichen Tradition gesprochen, ist er »Ebenbild Gottes«. Mit dem Begriff »Würde« verbinden wir etwas Sakrales. Es handelt sich um einen religiös-metaphysischen Begriff, einen mit christlicher Tradition. Ich möchte gleich den naheliegenden Einwand erwähnen, dass ja dann die Menschenrechte nicht universal sind. Sie sind es nicht so, wie das Gesetz der Schwerkraft für die Physik universal ist, weil sie besondere Entstehungsbedingungen haben. Die Menschenwürde ist wahrhaft universal, die Menschenrechte sind Forderungen, deren rechtlich-politische Form von sittlich-religiösen, rechtlichen und historischen Voraussetzungen abhängt. Die Menschenrechte sind in dem Sinne westlich, dass sie sich als Korrektur und revolutionäre Verbesserung mannigfachen staatlichen Missbrauchs im Westen entwickelt haben. Sie setzen das westliche Verständnis der Einmaligkeit des Individuums, ein solidarisches Verhältnis der Menschen und die Marktrationalität voraus. Die Marktrationalität und die moderne Wissenschaft sind leicht, z. B. auf asiatische oder chinesische Kulturen, übertragbar. Hans Joas stellt in seinem Buch Sind die Menschenrechte westlich? 113 den westlichen Charakter der Menschenrechte in Frage und behauptet, sie seien schlicht universal, aber gewichtige Einwände sprechen dagegen. Es gibt keine originäre asiatische, indische oder afrikanische Magna Charta oder Bill of Rights. Zu prüfen wäre deshalb nur, ob und inwieweit menschenrechtliche Grundgedanken auch z. B. in Asien gedacht wurden oder sogar zur Geltung kamen. Die Menschenrechte wurden, wie der indische Philosoph Pankaj Mishra 114 gezeigt hat, z. B. in Indien aufgenommen, weil man geglaubt hatte, dass sie die Hintergrundursache für die Prosperität des Westens seien. Mit den Menschenrechten würde man ebenso reich wie der Westen werden. Als sich dann die wirtschaftliche Lage nach ihrer Akzeptanz in Indien nicht merklich gebessert hatte, sei hauptsächlich der Nationalismus übrig geblieben. Die europäischen und amerikanischen Revolutionen erfolgten gegen die etablierten Kirchen bzw. Monarchien mit religiös-ethischen Prinzipien. Sie geschahen gegen eine Fehlentwicklung des Zusammenschlusses von Thron und Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, München 2015. Pankaj Mishra, From the Ruins of Empire: The Revolt Against the West and the Remaking of Asia, London 2013. 113 114

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Menschenwürde und Menschenrechte

Altar, wobei sie einem Grundsatz des Gründers der christlichen Religion folgten, demzufolge die Ansprüche des Königs und Gottes verschiedene sind. Naturwissenschaftliche Weltbilder müssen im Westen so entwickelt werden, dass sie sich u. a. in der Respektierung der Menschenwürde eine Grenze setzen. Genetiker und Hirnforscher müssen die Anwendung von Forschungsresultaten daraufhin prüfen, ob sie für die Erde und das Leben auf ihr gefährlich werden können. Die wirklich-mögliche Gefahr sollte höher als mögliche Vorteile gewichtet werden und zu einer Unterlassung der praktischen Umsetzung von Forschungsergebnissen führen. Hans Jonas hat dieses Prinzip »Heuristik der Furcht« genannt, womit er meinte, dass die Furcht vor Gefahren dem Menschen helfen kann, Handlungen, die seine Weiterexistenz unmittelbar oder langfristig bedrohen, zu unterlassen. Dies ist das Hauptziel seines Buches Das Prinzip Verantwortung. 115 Das Absehen von einem höchsten Vernunft- und Geistprinzip ist als Trend in unserer Zeit wirksam. Es gefährdet die Menschenwürde und den Menschen. Carl Friedrich von Weizsäcker formuliert folgende Schrumpfform der modernen Religion: »Der Glaube an die Wissenschaft spielt die Rolle der herrschenden Religion unserer Zeit.« 116 Dieser Trend der Wissenschaft schwächt die naturrechtlichen Grenzen, die das deutsche Grundgesetz impliziert. Zum Verständnis der Menschenrechte in Deutschland sind vier wesentliche Punkte im Auge zu behalten. 1. Grundlage der Menschenrechte ist die Existenz einer nichtrelativierbaren Menschenwürde, wie sie im deutschen Grundgesetz (Artikel 1 Absatz 1) verkündet wird. Was sich philosophisch am frühesten bei Platon und Aristoteles als Naturrecht findet, wird nach der Katastrophe des Holocaust in den Mittelpunkt des staatlichen rechtlichen Schutzes gestellt. Zur Menschenwürde, dieser Grundlage der Menschenrechte, gehört eine transzendente Ursache, durch die sie dem Willkürwillen der Menschen entzogen wird. Dies kommt in der Präambel des Grundgesetzes zum Ausdruck, die sich auf die Verantwortung »vor Gott und den Menschen« beruft. Damit wird gesagt, dass nicht der Mensch allein mit seinen Konsensmechanismen derjenige ist, der seinem Recht Grenzen setzen kann. Sehr schön illusHans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M. 1979. Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, Stuttgart 2006, S. 5. 115 116

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triert wird die Menschenunabhängigkeit des Rechts durch die Tragödie »Antigone« des Aischylos. Es ist die Darstellung einer tyrannischen Grenzüberschreitung, die willkürliches Recht setzt und dadurch die menschlichen Bindungen zerstört. Der Aufstand gegen den tyrannischen König war gescheitert und der Bruder der Antigone sollte als bereits getöteter Staatsverbrecher ohne Beerdigung den Vögeln und Hunden zum Fraß hingeworfen werden. Antigone verlangt vom Tyrannen die Anerkennung des Rechts einer Bestattung als ein über den Menschen stehendes Recht, das nicht verletzt werden dürfe. Sie beerdigt den Bruder und wird daraufhin eingemauert. Der tyrannische König setzt zwar sein Recht durch, aber sein Sohn, der Antigone geliebt hat, bringt sich um, was wiederum den Selbstmord seiner Frau zur Folge hat. Die Durchsetzung des Unrechts hat für den König auch die wirkliche Auflösung seiner menschlichen Bindungen zur Folge. Auch in der Geschichte gibt es die skrupellosen Rechtsverletzungen mit ihren oftmals schlimmen Folgen. Ein Beispiel dafür ist der Dialog der athenischen Gesandten mit den Bewohnern der Insel Melos, wie ihn Thukydides in der Geschichte des Peloponnesischen Krieges berichtet. 2. Innerhalb der deutschen Geistesgeschichte ist Kant derjenige Philosoph, der in seiner Ethik, nämlich der Metaphysik der Sitten, mit seinen Formulierungen vom Menschen als Selbstzweck die Einsicht in die Unbedingtheit der Menschenwürde eindrucksvoll ausgearbeitet hat. Die Lehre von der Würde und Beschaffenheit jedes natürlichen Menschen erleidet jedoch durch die Art der Darwin-Rezeption von Nietzsche einen Einbruch. 3. Eine dem Menschen mögliche Einsicht in eine absolute Moral wird durch Nietzsche geleugnet. Der Mensch ist ein mehr oder weniger zufälliges Produkt im Kosmos. Er ist metaphysisch ortlos und kann nirgendwo andocken. In so ähnlicher Haltung hat Ulrich Steinvorth ein heroisches Buch geschrieben: Docklosigkeit oder zur Metaphysik der Moderne: wie Fundamentalisten und Philosophen auf die menschliche Fehlbarkeit reagieren. 117 Der Mensch muss sich nach Nietzsche eine eigene Moral, die Moral der »freien Geister« schaffen. Das moralische Ideal von Nietzsche, der »Übermensch«, der die edlen Eigenschaften in sich vereinigen soll, ist jedoch ambivalent und unter dem Begriff der »blonden Bestie« vom Nationalsozialismus missbraucht worden. Nietzsches 117

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einseitig biologisch interpretiertes Anliegen ist jedoch vor allem in den USA weiterhin aktuell. Es wird z. B. von denen bemüht, die im Übermenschen die Vorahnung einer neuen evolutionären Phase des Menschen erkennen, oder von denen, die in unserer Gegenwart das menschliche Genom verbessern, oder mit Hilfe von superschnellen Computern, die die Herrschaft des Menschen beenden sollen, eine »transhumane« Ära einleiten wollen. Der bereits erwähnte Nick Bostrom warnt davor, dass die von uns gebauten künstlichen Gehirne uns eines Tages in eine Abhängigkeit versetzten, wenn wir unser Genom nicht rechtzeitig verbesserten. 118 Schon Nietzsche meinte, beeinflusst durch den damaligen Darwinismus, keine vorgegebene Menschennatur mehr annehmen zu können, und entwarf einen idealen Übermenschen als Ersatz. Das Leben, das in uns zu sich kommt und das z. B. auch Mitleid für Notleidende fordert, wird von Nietzsche abgelehnt. Für Bostrom besteht dann das Leben der Organismen nur noch aus einem Komplex materieller Teile, der durch Forschung dringend verbessert werden muss. 4. Der naturalistische Evolutionismus, der von gegenwärtigen Evolutionstheoretikern wie Gerhard Vollmer und Ulrich Kutschera vertreten wird, hebt in seiner Konsequenz die Menschenwürde auf. Worauf beruhen die Lehren des Naturalismus und Evolutionismus? Die zentrale These des Naturalismus besteht in der Behauptung, dass jede Erkenntnis der Natur durch naturwissenschaftliche Forschung erfolgen muss. Damit wird die oben kritisierte These von der Einheit der historischen Stammesgeschichte mit der erlebbaren Individualgeschichte behauptet. Eine strenge Einheit von Phylo- und Ontogenese (= Stammes- und Individualgeschichte) ist aber nicht nachgewiesen. Wie die Physikerin Brigitte Falkenburg erklärt: »Der Genotyp legt den Phänotyp nicht fest, der genetische Code determiniert die äußere Erscheinung eines Organismus nicht vollständig. Am nachdrücklichsten haben dies die Fotos der geklonten Katzenbabys gezeigt, die vor einiger Zeit durch die Presse gingen. Klone sind genetisch identisch; doch jedes Katzenbaby hatte ein andersartig bunt geschecktes Fell.« 119 Weitere Probleme werden aus philosophischer Sicht in den Kapiteln 9–10 diskutiert. Nick Bostrom, Superintelligenz, Frankfurt 2014. Brigitte Falkenburg, Was heißt es, determiniert zu sein? Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung, in: Dieter Sturma (Hg.), Philosophie und Neurowissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, S. 71. 118 119

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Ich spreche vom »Evolutionismus« und verstehe darunter eine Theorie, die die Entwicklung allen Lebens aus der Materie herleitet. Davon ist die Theorie von Darwin – nicht der Darwinismus – zu unterscheiden, die als Evolutionstheorie nicht die Entstehung des Lebens überhaupt, sondern nur dessen Artenvielfalt erklären will. Mit Darwin werde ich mich in den Kapiteln 6–7 befassen. Auch der Naturalismus spielt hier eine Rolle; denn der Evolutionismus bekommt durch den Naturalismus sozusagen »freie Fahrt«, weil dieser als angebliche philosophische Theorie behauptet, dass jede Erkenntnis aus den Wissenschaften komme. Auch auf den Naturalismus lässt sich der bereits erörterte »Test der Selbstprüfung« anwenden. Wenn wir fragen, aus welcher Wissenschaft wir denn diese These selbst entnehmen, dass jede Erkenntnis aus den Wissenschaften kommt, sehen wir, dass es dafür gar keine Wissenschaft gibt, sodass diese These sich selbst widerspricht. Durch den modernen Naturalismus und Evolutionismus werden die Bewahrung der Moral, die Würde des Menschen und die Geltung des Grundgesetzes zur Disposition gestellt. Die Grundlagen unserer Demokratie werden dadurch aufgehoben.

3.2 Die argumentative Einsicht in die Menschenwürde Der ethische Kern der Menschenwürde zeigt sich relativ früh in der europäischen Geschichte bei Platon durch die Unterscheidung von gerechter und ungerechter Herrschaft. 120 Das Recht verdankt sich weder der Macht des Stärkeren noch der Tradition. Es ist ein Wert, der in sich selbst gilt, sodass ein unschuldiger Mensch nicht bestraft oder getötet werden darf, wie Platon im Dialog Gorgias, der nach dem Sophisten Gorgias benannt ist, erläutert. Das Recht gilt durch sich selbst, es gibt keine anderen Gründe, die das Recht ersetzen könnten. Platon spricht zwar nicht von der Würde des Menschen, aber von einem Recht, das die Vernunft erfassen kann, sodass es schlecht und ungerecht ist, wenn ein unschuldiger Mensch verhaftet, gefoltert oder getötet wird. Dem Recht haftet der Charakter des unbedingt Guten an. Weil dieses Recht durch sich selbst gültig ist, muss der Gesetzgeber es mit seinen Gesetzen zur Geltung bringen, also sich 120 Vgl. dazu ausführlich Nusser, Menschenrechte und Leistungsgerechtigkeit, Hamburg 2007.

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selbst an es halten. Neben dem Leben schützt das Recht das Eigentum der Personen und Familien. Dieses Recht kann durch eine allgemeine Regel ausgedrückt werden: Jeder, der niemand anderen beeinträchtigt, verletzt oder tötet, hat das Recht auf die Verfolgung seiner Lebensinteressen. Die von Sokrates im Dialog Gorgias entwickelte These, dass »das Unrecht tun das größte Übel ist« 121, ist in ihren Konsequenzen für die Menschen- und Freiheitsrechte zu entwickeln. Wenn die These positiv formuliert wird, bedeutet sie, dass das höchste Gut, das beim Handeln des Menschen verfolgt wird, das Tun des Rechten implizieren muss. Folgen die Regierenden diesem Gebot, dann müssen sie in ihrem Handeln die Rechte der Regierten achten. Solche Rechte aber sind in nuce Menschen- bzw. Freiheitsrechte. Diese Achtung des Wohls der Regierten gehört zu dem bereits bei Platon vorhandenen Gemeinwohlbegriff. Die extreme Negation des Freiheitsrechts ist der Tyrann. Die Macht des Tyrannen wird von Sokrates in ihrer Faszination dem Polos gegenüber folgendermaßen vorgestellt: »Polos, ich habe gerade eine wunderbare tyrannische Macht bekommen. Wenn es mir nämlich gut scheint, dass einer von den Menschen, die du da siehst, gleich auf der Stelle tot sein soll, wird der, den ich tot haben möchte, tot sein. […] So große Macht habe ich in dieser Polis.« 122 In der dann folgenden Diskussion gerät die These von Polos, der zuvor das Recht der Macht des Stärkeren vertreten hatte, ins Wanken. Er gibt zu, dass Unrecht tun hässlicher ist als Unrecht leiden. 123 In der Politeia nennt Platon den Tyrannen einen Wolf. 124 Mit seiner Machtergreifung erlischt bei allen Bürgern, die infolge ihres Reichtums im Verdacht stehen, Volksfeinde zu sein, ihr Recht auf Leben. 125 Ihnen bleibt nichts anderes übrig als zu fliehen. »Wenn er gegen einige den Verdacht hat, sie seien freiheitlich gesinnt«, dann ersinnt er einen Vorwand, »um sie aus dem Wege zu schaffen.« 126 Über die Zeiten hinweg ist das Übel des Tyrannen und die Einsicht in sein abscheuliches Tun unverändert geblieben. Das unverbildet objektive Gewissen sagt dem Menschen, dass Unrecht geschieht, wenn ein unschul121 122 123 124 125 126

Platon, Gorgias, 469 b. Platon, Gorgias, 469 d. Platon, Gorgias 474 c. Platon, Politeia, 565 e. Platon, Politeia, 566 c. Platon, Politeia, 567 a.

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diger Mensch körperlich oder seelisch verletzt wird. Und dieser Satz des objektiven Gewissens ist der Kern der Freiheitsrechte in der heutigen westlichen Staatenwelt.

3.3 Zur Differenz von antiker griechischer und moderner Gesellschaft Es gibt eine Reihe von Gründen, die verständlich machen, dass es in der Antike und der nachfolgenden europäischen Geschichte lange nicht zu einer Institutionalisierung der Menschenrechte kam. Im antiken Athen zur Zeit von Platon und Aristoteles ist nicht jeder Mensch Bürger. Es gibt Menschen, die eine Art Aufenthaltsgenehmigung haben, ohne dass sie Bürger sind, und es gibt Sklaven. Auch hatten die Frauen keinen politischen Status. Insofern muss man feststellen, dass die volle Gestalt der individuellen Menschenrechte in der Antike noch nicht entwickelt war. Auch band die Wirtschaftsform des Hausverbandes die verschiedenen Mitglieder nicht auf der Basis gleichberechtigter Mitgliedschaft, sondern nur auf der Basis der Wirtschaftsform des Hausverbandes, der die Subsistenz sicherte und vom Mann geleitet wurde. Römisches Kaisertum und germanische Stammestraditionen boten keine Bedingungen zur Weiterentwicklung der Menschenrechte. Die griechische Polisstruktur wurde durch die Herrschaft des Reichs ersetzt, das nur noch Untertanen und keine Bürger mehr kannte. Die auf die konfessionellen Bürgerkriege erfolgende Ablösung der staatlichen Autorität von religiösen Glaubensinhalten resultierte jedoch in der Folge in einem staatlichen Absolutismus. Angesichts der christlichen Glaubenskriege war die Betonung des neutralen Staats und dessen Überordnung über jede Form von Religion die rettende Problemlösung der westlichen Staatenwelt. Es entstand der europäische Absolutismus, in dem die staatliche Gewalt der kirchlichen vorstand. Machtmissbrauch und Misswirtschaft des europäischen Absolutismus führten jedoch zu den französischen und amerikanischen Revolutionen. Gegen die unbegrenzten Rechte des absoluten Staates wurden die Rechte des Individuums durchgesetzt. Die Entwicklung der Menschenrechte stützte sich besonders auf die Einsicht in die menschliche Würde und führte zu Schutz- und Freiheitsrechten der Bürger. Die gesellschaftliche und ökonomische Umstrukturierung von der feudalen zur modernen Gesellschaft wäre ein eigenes Thema. Ich 98

Die Menschenwürde, das unmittelbare Wissen um den Personkern

bringe dazu nur einen Hinweis: Im Feudalismus ist das Prinzip des Rechts die persönliche Gefolgschaft und die Geschlechterfolge. Es herrscht ein hierarchisches vertikales Koordinationsprinzip auf der Basis der Geburt. Bestimmte Geschlechter herrschen, die anderen sind durch personale Abhängigkeitsverhältnisse diesen zugeordnet. Die modernen Revolutionen in Nordamerika und Europa schaffen jedem Individuum ein Recht, das nicht mehr an eine besondere Geburt gebunden ist. Es entsteht die Sphäre der formal freien Arbeit und des Privateigentums als Grundlage der Freiheit der Person. Der Kapitalismus ist ein hierarchisches vertikales Koordinationsprinzip auf der Basis des Geldes.

3.4 Die Menschenwürde, das unmittelbare Wissen um den Personkern und die Seele Die rechtliche Interpretation der Menschenwürde erfolgt in Deutschland über das im Jahr 1949 verabschiedete Grundgesetz. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Alliierten gab es 1945 in Westdeutschland eine Besinnung auf die Würde des Menschen und die mit ihr gegebenen vorstaatlichen Natur- und Menschenrechte. Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid sagte bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat: »Der Mensch ist nicht um des Staates willen da, sondern der Staat ist dazu da, dem Menschen zu dienen und nicht um ihn um seiner selbst willen zu beherrschen.« 127 Solche Meinungen sind im Parlamentarischen Rat, dem Gründungsinstitut der Bundesrepublik Deutschland, von christlichen wie liberalen und sozialistischen Politikern vertreten worden. Die Verwurzelung des positiven Rechtes in der Natur des Menschen kommt sehr deutlich in dem Satz des Grundgesetzes zum Ausdruck: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Im deutschen Grundgesetz ist die Menschenwürde die Quelle der Menschenrechte. Sowohl das Christentum als auch Philosophen der deutschen Aufklärung haben diese Entwicklung zu einem Rechtsanspruch vorbereitet. »Moderne Freiheit ist nicht denkbar ohne das lange und beständige Werk christlicher Erziehung in Europa und in der westlichen Welt. Sie konnte sich nur entfalten in einer Gesellschaft, die geprägt war vom Gedanken des unendlichen Wertes der 127

Hans Maier, Wie universal sind die Menschenrechte?, Freiburg 1997.

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einzelnen Seele […]« 128 Warum kommt dem Menschen in einem spezifischen Sinn Würde zu? Es ist ja nicht so, dass der Mensch ein Recht auf Würde hätte und ihm deshalb diese zukäme. Vielmehr ist umgekehrt seine Würde die Grundlage für die Forderung nach einem Recht auf Würde. Aber was ist Würde? Tieren, z. B. Löwen, oder Bäumen, z. B. Eichen, mag man in einem übertragenen Sinn Würde zusprechen. Das Daherschreiten eines Löwen erscheint uns als würdevoll. Ein weiterer Sinn von Würde liegt ebenfalls vor, wenn Menschen eine Würde verliehen wird, z. B. der Friedensnobelpreis. Menschen können aber auch ihre Würde mit Füßen treten. Ein schändliches Verhalten eines Menschen kommt zu seinem Wesen dazu, ebenso wie es bei der verliehenen Würde der Fall ist. Was jedoch nicht dazukommt ist das, was in der Person selbst schon vorhanden ist und zum Wesen des Menschen gehört, und dies ist die Würde, die mit ihm untrennbar verbunden ist. Auch dann, wenn versucht wird, dem Menschen die Würde zu nehmen, sie anzutasten, hört die Person nicht auf, ihre innere Würde zu besitzen. Diese innere unverlierbare Würde des Menschen ist der Grund dafür, dass ihm Menschenrechte zukommen. Geltung erlangen die Menschenrechte nicht primär deshalb, weil sie von demokratischen Mehrheiten beschlossen werden, sondern weil sie in der Vernunft- und Geistnatur des Menschen, in seinem Personencharakter verwurzelt sind. Ein solches Recht verbietet es, dass unschuldiges menschliches Leben gequält, verletzt oder getötet wird. Diese innere unverlierbare Würde hat etwas von einem Absoluten, das von außen nicht tangiert werden kann und deshalb auch nicht tangiert werden darf. Sogar bei einem Mörder, also bei einem Menschen, der gegen seine eigene Würde verstoßen hat, wahrt das menschliche Gericht dessen äußere Würde aus Achtung vor seiner inneren unverlierbaren. Es liegt in der Konsequenz der Achtung dieser inneren Würde, dass das Mittel der Folter, wodurch die innere Freiheit um eines Geständnisses willen gebrochen werden soll, nicht eingesetzt werden darf. In einer ersten Annäherung an die Menschenwürde kann diese mit Kant als Selbstzweck aufgefasst werden. Das bedeutet, dass sie ihren Sinn nicht durch die Hinordnung auf etwas anderes gewinnt. Sie hat keinen funktionalen Charakter. Robert Spaemann macht darauf aufmerksam, dass dieser Anspruch des Selbstzweckcharakters sich nicht von menschlichen Interessen her ergibt. Er ist keine Strategie der Spezies »homo sapiens gegenüber 128

Hans Maier, ebenda.

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Die Menschenwürde, das unmittelbare Wissen um den Personkern

dem Rest der Welt«, 129 sondern ein Wert an sich, der absolut gilt. Wir können uns das verdeutlichen, wenn wir das Verbot der Ermordung eines Menschen aus dem Gedanken einer bloß relativen Bedeutung des Selbstzweckcharakters zu begründen versuchen. Unter der Voraussetzung einer am Evolutionismus – nicht an der Lehre Darwins – orientierten Ethik besteht der Wert des menschlichen Lebens nur noch im Hinblick auf den Träger dieses Lebens. 130 Die moralischen Dimensionen des Neo-Darwinismus, die auf eine völlige Aufhebung der Ethik hinauslaufen, werden von James Rachels, Created from Animals, entwickelt. So wie jedes Tier instinktiv seine Selbsterhaltung will und dafür kämpft, tut dies der Mensch auch, aber mit den Mitteln einer bloß triebhaften Vernunft. Jeder einzelne Mensch wäre für sich selbst ein relativer Selbstzweck, der auf seine Selbsterhaltung aus ist, so wie Tiere auch für sich jeweils nur Selbstzwecke sind. Wenn wir den schmerzlosen und geheimen Tod eines Menschen ohne Angehörige denken, dann wäre der Selbstzweckcharakter, den diese Person vorher für sich hatte, nicht mehr gegeben. Dies wäre dann kein Widerspruch, weil ja auch der Träger dieses Selbstzwecks nicht mehr da wäre. Der perfekte Mord lässt sich dann als unbedenklich rechtfertigen, wenn der Wert des Lebens nur jeweils relativ auf seinen Träger ist. Wir können uns unter dieser Voraussetzung auch die Ermordung der ganzen Menschheit durch Atombomben vorstellen. Wenn der Wert der Menschen nur jeweils relativ auf sie selbst ist, ergibt sich kein ethisches Verbot, weil ja der Wert des Menschen nur relativ auf wertende Subjekte ist. Es ist dann kein Verbrechen mehr, weil es ja keine wertenden Subjekte mehr gibt. Der ethische Selbstwertcharakter des Menschen ist aber nur dann unumstößlich, wenn er in einem absoluten Sittengesetz gründet und deshalb absolut gilt. Die Menschenwürde darf nicht angetastet werden, weil sie ein absoluter Wert ist. Wenn sie jedoch angetastet würde, besteht sie trotzdem fort. Der frühere russische Oligarch Chodorkowski berichtet, dass er gerade durch sein Festhalten an seiner Würde und seinen Rechten als Mensch die Zeit in russischen Gefängnissen überstehen konnte. Nur durch einen solchen Rückhalt konnte er zu den Mitteln der Hungerstreikproteste greifen. Atheismus und Evolutionismus Robert Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde, in: Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, S. 114. 130 James Rachels, Created from Animals. The moral Implications of Darwinism, Oxford 1990, S. 198. 129

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entziehen dem Gedanken der Menschenwürde definitiv seine Begründung. Die Einsicht in die menschliche Würde ist religiös-metaphysisch. Nur darum, weil der Mensch als sittliches Wesen Repräsentation des Absoluten ist, kommt ihm das zu, was wir menschliche Würde nennen. 131 Die Absolutheit des ethischen Wertes der Menschenwürde ergibt sich somit nicht relativ zum Dasein des Menschen, sondern relativ zum Dasein des Absoluten im Menschen, was die Menschenwürde und den personalen Charakter des Menschen ausmacht. Verneint man die Beziehung des Menschen auf das Absolute und damit die menschliche Würde, dann verliert der Mensch seine Stellung als höchste Spezies des Tierreichs. Die Folge davon ist, dass Tierrechte gegen Menschenrechte stehen und diese relativieren. Die Verantwortung des Menschen über die Tiere wird dadurch aufgehoben. Diesem Zusammenhang gelten die nächsten Überlegungen.

3.5 Die exzessive Tierethik als Entanthropomorphisierung durch entdifferenzierende Wissenschaft – das Mensch-Tier-Kontinuum Der Personcharakter des Menschen wird geleugnet, wenn der Mensch auf der Basis der allgemeinen Lebenskriterien von Wahrnehmung, Stoffwechsel und Reproduktion auf eine Stufe mit allen anderen Lebewesen gestellt wird und die Vernunft, durch die der Mensch nicht den Tieren untergeordnet ist, die vielmehr eine eigene Gattung darstellt, in ihrer Bedeutung eingeschränkt wird. Wir können, so Spaemann, »den Menschen dem Tier so gegenüberstellen wie das Tier der Pflanze«. 132 Im Gefolge einer falsch verstandenen Lehre Darwins und eines Utilitarismus entwickeln sich Tierethiken, die den Menschen mehr oder weniger mit bloßen Säugetieren gleichsetzen. Bedingt durch den Utilitarismus, hat sich die Tierethik zunächst im angelsächsischen Bereich entwickelt. Eine gute Zusammenstellung der wichtigsten Artikel findet man in: Cora Diamond, Menschen, Tiere und Begriffe 133. Zu den neben Peter Singer bekannteren Tierethikern gehört Tom Regan. In dem Buch The Case for animal R. Spaemann, a. a. O., S. 115. R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, Suttgart 1989, S. 110. 133 Berlin 2012; zu anderen Tierethiken: Peter Heuer, Moral der Entdifferenzierung. Neues zur Tierethik, in: Philosophische Rundschau Band 61, 2014, S. 228–236. 131 132

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Rights 134 entwickelt er eine Tierethik, indem er als gemeinsames Merkmal von moralisch handelnden und leidenden Wesen das »Subjekt-eines-Lebens-Kriterium« (subject-of-a-life-criterion«) entwickelt. Wenn ein solches vorliegt, verfügen diese Wesen über folgende Eigenschaften: Überzeugungen und Wünsche; Wahrnehmung; Erinnerung und einen Sinn für die Zukunft; ein Gefühlsleben, mit dem Gefühl von Lust und Schmerz; Präferenzinteressen und die Fähigkeit, Handlungen zur Verfolgung ihrer Interessen zu unternehmen; das Gefühl der psychophysischen Identität; ein individuelles Wohlergehen wird angestrebt. 135 Bei Wesen, für die solche Lebenskriterien zutreffen, muss das Respekt-Prinzip angewendet werden. Nur bei solchen Wesen, auf die das Subjekt-eines-Lebens-Kriterium angewendet werden kann, trifft es zu, dass sie einen inhärenten Wert haben. Auf einen menschlichen Fötus oder auch einen Säugling trifft dies nicht zu. Beiden widerfährt eine Wertschätzung von außen, nämlich durch die Haltung der Mutter, der Eltern bzw. der Gesellschaft. 136 Ein weiteres, ebenso haarsträubendes Resultat dieser Tierethik ist die Gleichsetzung von (über einjährigen) Säugetieren mit erwachsenen Menschen bei der Beurteilung der Lust- und Leidensfähigkeit. 137 Diese Reduktion des Menschen auf die Summe bloßer Lust- und Schmerzregungen ist ungeheuerlich. Die ethische Verantwortung, die die Menschen für die nichtmenschlichen Lebewesen haben, ist in einer akzeptablen Ethik grundsätzlich von der Verantwortung, die sie gegenüber Menschen haben, verschieden. Die Pflichten von moralisch urteils- und handlungsfähigen Menschen untereinander sind nicht – wie Regan annimmt – gleichgewichtig gegenüber einer Gruppe von Lebewesen, die nicht zu dieser Kategorie gerechnet werden dürfen. 138 Menschliche Intuitionen, die nur auf der Basis der menschlichen Selbsterkenntnis erlangt werden können und dann gelten, werden von Regan zugunsten eines reduzierten radikaldarwinistischen Lebensbegriffs mit seinen Äußerungen von Lust und Schmerz aufgehoben. Dasselbe die Komplexität des Menschen vereinfachende und reduzierende Lebensverständnis hat bei Peter Singer eine mindestens

134 135 136 137 138

Berkeley 1983. Zit. bei Andreas Flury, Der moralische Status der Tiere, Freiburg 1999, S. 186. Flury, ebenda, S. 214. Flury, ebenda, S. 207. Flury, ebenda, S. 208.

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ebenso skandalöse Anwendung bekommen. Er hat in seiner Ethik eine Reihe von provokanten Thesen aufgestellt. Wie Regan hebt er den Unterschied von Mensch und Tier auf und behauptet: »Manche Angehörigen anderer Gattungen sind Personen: manche Angehörigen unserer eigenen Spezies sind es nicht. Keine objektive Beurteilung kann den Standpunkt unterstützen, dass es immer schlimmer ist, Mitglieder unserer eigenen Spezies, die keine Personen – z. B. behinderte Säuglinge, Zusatz Nusser – sind, zu töten, als Mitglieder anderer Spezies, die es sind.« Er fährt dann fort: »So scheint es, dass etwa die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines menschlichen Wesens, welches aufgrund einer angeborenen geistigen Behinderung keine Person ist und nie sein kann.« 139 Die Zugehörigkeit zur Spezies homo sapiens ist für die Unrechtmäßigkeit seiner Tötung ohne Bedeutung. Entscheidend, sagt Singer, »sind vielmehr Eigenschaften wie Rationalität, Autonomie und Selbstbewusstsein. Säuglinge haben diese Eigenschaften nicht. Sie zu töten kann daher nicht gleichgesetzt werden mit der Tötung normaler menschlicher Wesen oder anderer selbstbewusster Wesen.« 140 Da Säuglinge nicht in gleichem Maße Anspruch auf Leben haben, wie »Wesen, die fähig sind, sich selbst als distinkte in der Zeit existierende Entitäten zu sehen«, gibt es kein Lebensrecht eines behinderten Säuglings gegen die Auffassung der Eltern, einem behinderten Kind wegen seines zu erwartenden elenden Lebens »zum Sterben zu verhelfen«. 141 Wenn sich die Eltern im Falle eines hämophilen Säuglings entscheiden, diesen zu töten, und die Mutter in der Lage ist, ein weiteres gesundes Kind zu gebären, ist der resultierende Gesamtnutzen größer. Singer erklärt: »Sofern der Tod eines behinderten Säuglings zur Geburt eines anderen Säuglings mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird.« 142 Singer urteilt ökonomisch: Es ist derjenige Handlungsverlauf zu wählen, der, wie er sagt: »per Saldo für alle Betroffenen die besten Konsequenzen hat«. 143 Es geht in dieser Ethik um die Vermehrung der Gesamtsumme der Lust und um die Verminderung der Gesamtsumme an Schmerz. Dass Lust und 139 Peter Singer, Praktische Ethik, Suttgart 1984, S. 156; englische Originaltexte von Singer: Animal Liberation, New York 1975; Practical Ethics, Cambridge 1979. 140 Peter Singer, Praktische Ethik, S. 253. 141 Peter Singer, ebenda, S. 236. 142 Peter Singer, ebenda, S. 238. 143 Peter Singer, Praktische Ethik, 2. Auflage, Stuttgart 1994, S. 30.

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Schmerz bei allen Lebewesen gleichermaßen erstrebens- bzw. vermeidenswert sind, ist eine Annahme, in der Singer und Regan übereinstimmen. Entwickelten Säugetieren werden dieselben Rechte auf Leben und Handlungsfreiheit zugesprochen wie Menschen. Dass der homo sapiens nach Singer keine Sonderstellung mehr einnehmen darf, steht im Widerspruch zu seinem eigenen urteilenden Verhalten und zum Verhalten jedes Ethikers. Ich fasse die Positionen Singers kurz zusammen. Singer nimmt für sich als Ethiker die Freiheit und Vernunft in Anspruch, eine Theorie des richtigen Lebens der Lebewesen zu entwickeln. Damit tappt er in die von ihm selbst aufgestellte Falle des, wie er ihn nennt, »Speziesismus«, denn Tiere entwickeln keine Ethik. Zur Ablehnung des Speziesismus kommt bei Singer der eigentümliche Begriff der Person hinzu, der durch die Kriterien des Selbstbewusstseins, des Verstands und des Gedächtnisses charakterisiert ist. Für ihn sind nicht alle Menschen Personen. Embryonen und Neugeborene, die schwere Krankheiten aufweisen, oder senile demente Menschen sind es nicht. Auf der anderen Seite sind Tiere, die ihren Interessen nachgehen können, wie z. B. Schweine, durchaus Personen. Singer bricht mit den selbstverständlichen Ansichten von der einzigartigen Würde der menschlichen Person. Er steht in der Tradition Lockes, der das Selbstbewusstsein im Sinne eines »Ich«, das denkt, versteht, dessen Wesen aber nicht erfasst werden kann. 144 Das »Ich« ist bei Locke auf unerklärliche Weise in den materiellen Teilchen, aus denen der Mensch besteht, verwurzelt. Eine seelisch-substanzielle Einheit von Leben und Geist wurde vom Empiristen Locke aufgegeben. Mit dem Hintergrund des Evolutionismus kann Singer die exzentrische Stellung des Menschen, die dieser aufgrund seiner Vernunftbegabtheit hat, nicht konsequent denken. Während der Utilitarismus von John St. Mill versucht hat, den Lustbegriff noch qualitativ gegenüber der Theorie von Jeremy Bentham zu korrigieren, wird Lust und Schmerz des Menschen in der entgrenzten Tierethik mit den Empfindungen der Tiere gleichgesetzt. Wenn es der Tierethik nur darum ginge, die moderne im industriellen Stil ablaufende Massentierhaltung abzuschaffen, dann wäre dies ein vernünftiges Ziel. Damit begnügt sich die Tierethik aber nicht. Sie will ein vollkommenes Verbot des Verzehrs von Tieren erJohn Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Band 2, Hamburg 1981, S. 190.

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reichen und dazu den Mensch-Tier-Unterschied abschaffen. Ist dieser aber beseitigt, dann ist der Mensch versucht, auch nur als Tier zu agieren, das instinktmäßig für keine Verpflichtung gegenüber seiner Umwelt ausgelegt ist. Die übertriebene These, die den Tieren denselben moralischen Status wie den Menschen zuteilen will, hebt die Wurzel des moralischen Status des Menschen, seine geistige Natur, aufgrund derer er allgemeine und geordnete Strukturen schaffen kann, auf. Nebenbei bemerkt: Der berechtigte Kern der Tierethik besteht in dem, was sich die meisten Bürger wünschen: eine artgerechte Tierhaltung. Eine Änderung der Massentierhaltung ist indes nicht auf die Schnelle zu erreichen. Wer die Massentierhaltung in Deutschland abschaffen will, muss dies mit der globalen Marktdynamik abstimmen, sonst treiben billige Importe die heimischen Bauern in den Konkurs. Wer die Massentierhaltung abschaffen will, muss auch bereit sein, mehr für Fleisch, Milch und Eier zu zahlen. Eine mögliche Lösung, die auf breiter Basis verwirklichbar wäre, müsste über die Reduzierung des Fleischkonsums laufen. Dies ist jedoch ein anderes Thema. Werden nach den Vorschlägen der Tierethik den Tieren gleiche Rechte gegeben, dann muss es Betreuer geben, die die Rechte der Tiere vertreten. Die Tierschützer sind die Mittel und sozusagen die Instrumente der Tiere. Mit zunehmender Dauer, »vor allem bei erfolgreicher Betreuung, die die Betreuer eigentlich überflüssig macht, gehen diese immer phantasievoller und erfindungsreicher auf Entdeckungssuche nach Rechtsverletzungen. Denn überflüssig wollen die Betreuer ja nicht sein. Die Tiere dienen somit zunehmend der Statussicherung der Betreuer.« 145 Das Motto und die Strategie der Befreiung der Tiere ist kontraproduktiv. Es führt zu mehr Bürokratie, ohne dass man erkennen könnte, dass die Tiere glücklicher sind. Mit einer die Menschenwürde auflösenden Tierethik gelangt eine Denkweise ans Ziel, die höchst paradox ist. Der in seiner Seinsweise an die Tiere angeglichene Mensch soll gleichwohl für die Tiere eine exzessive Verantwortung übernehmen. Der Tierschutz ist ja gerade der Testfall der Menschenwürde. Fällt diese hinweg, dann fällt der Grund der besonderen Verantwortung des Menschen weg, auch wenn noch so viel extreme Normen zur Aufstellung von Tierrechten behauptet werden.

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Michael Schlitt, Umweltethik, Paderborn 1992, S. 96.

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Die exzessive Tierethik als Entanthropomorphisierung

Wie kommt es zu solch merkwürdigen Resultaten? Dafür gibt es vor allem zwei Gründe. Einmal werden die Grundlagen dafür durch die Annahme eines Mensch-Tier-Kontinuums gelegt, das sich aus einer falsch verstandenen Evolutionstheorie ergibt. Der Mensch ist zwar in materieller Hinsicht aus dem Tierreich hervorgegangen, aber er ist mit den Tieren nicht qualitativ gleich, sondern überragt diese durch seine Geistigkeit. Der andere Grund für die Fehlentwicklung der exzessiven Tierethik wird durch die Fehlentwicklung der westlichen Tradition provoziert, die u. a. auf Descartes und die Aufklärung zurückgeht. Durch die Gleichsetzung von Mensch und Tier erreicht die Tierethik das andere Extrem zur Philosophie von Descartes, der die Tiere als Automaten angesehen hatte, weil er keinen Begriff einer fühlenden und wahrnehmenden Seele entwickeln konnte. Daran hat ihn seine Unterscheidung der Seinsbereiche in geistige Seelen der Menschen (res cogitans) und ausgedehnte materielle Dinge (res extensa) gehindert. Tiere, die nichtfühlende Automaten waren, konnten ohne Rücksicht zu Experimenten herangezogen werden. Die stoische und christliche Idee, dass Pflanzen und Tiere um des Menschen willen da sind, erfährt dadurch eine dramatische Perversion, die sich schließlich unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft und des massenhaften und billigen Konsums in den aktuellen Massentierhaltungen und den fabrikmäßig betriebenen Massenschlachtungen zeigt. Nach christlicher Tradition soll der Mensch mit den Tieren schonend umgehen und ihnen Namen geben, aber dieses Gebot christlicher Tradition wurde nicht nur bei Descartes, sondern auch durch die Aufklärung aufgegeben. So ist Tierquälerei bei Kant nur deshalb verboten, weil die verrohenden Rückwirkungen auf den Menschen moralisch schlecht sind. 146 Kant erblickt in der menschlichen Vernunft den Gesetzgeber der moralischen Normen für den Menschen. Die Natur wird damit nicht umfassend thematisiert im Unterschied zur platonisch-christlichen Tradition, die in Gott den Gesetzgeber für alle Lebewesen erblickt. Mensch und Natur unterstehen dieser Gesetzgebung, die Tiere, indem sie durch Instinkt auf ein bestimmtes Verhalten natural festgelegt sind, und der Mensch, der durch Vernunft und Freiheit den Gesetzen des göttlichen Vernunft- und Freiheitswesens folgen soll. Indem bei Kant durch den Kategorischen Imperativ die Mittelpunktstellung des Menschen etabliert wird, rückt 146

Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, S. 442.

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Menschenrechte als Manifestation des unverzichtbaren Anthropomorphismus

die Würde der Tiere aus dem Blickfeld. Die Interessen Kants gelten dem Fortschritt der menschlichen Gattung in der Geschichte. Der Selbstzweckcharakter des Menschen könnte sehr wohl zu einer besonderen Verantwortung des Menschen für die Tiere und die Umwelt führen, aber das war damals am Ursprung steiler Fortschrittserwartungen durch Wissenschaft und Technik nicht Thema. Erst die Gefahren der Umwelt und die der Manipulation des Menschen durch Wissenschaft und Technik haben auf das gemeinsame Schicksal von Mensch und Tier aufmerksam gemacht. Die Auseinandersetzung mit der Tierethik zeigt, dass Biologie und bloßes Nutzendenken nicht dafür ausreichen, den Menschen, der eine Person ist, angemessen zu erkennen. Die Menschenwürde ist nur universell und metaphysisch zu schützen, d. h. nur von einem Gesichtspunkt der Unbedingtheit her. Wie wir im Folgenden sehen werden, ist ein diffuser Rekurs auf Intelligenz oder Bewusstsein, wodurch sich der Mensch von den Tieren herkömmlicherweise unterscheiden sollte, nicht möglich. Nur kraft des personalen Geistes hat der Mensch die Möglichkeit, von sich selbst abzusehen und aus der Perspektive seiner Geistigkeit und einer Identität von Körper und Geist seine allgemeine ethische Verantwortung für die Umwelt und die nichtmenschlichen Lebewesen wahrzunehmen. Mit der Sonderstellung des Menschen im Tierreich ist seine universale Verantwortung für die Umwelt und die Tiere verbunden. Als bloßes Tier wäre er ein Zentrum seiner Umwelt, weil das Tier seine Umgebung deterministisch auf sich zuordnet. Es handelt als Zentrum seiner Umwelt. Nur der Mensch ist in der Lage, sich nicht nur als Zentrum zu sehen und deswegen alles andere, soweit er es durch seine Macht kann, auf sich hinzuordnen, sondern auch von sich abzusehen und das moralische Recht von Tieren anzuerkennen. Der Mensch übersteigt seine Umwelt und Selbstzentriertheit und nimmt, wie es Helmut Plessner beschrieben hat, eine exzentrische Position ein. 147 Die bisherige Erörterung ging davon aus, dass Mensch und Person eine Einheit sind. Jeder Mensch ist eine Person. Wenn Säuglinge und Kinder noch keine Personen in dem engeren Sinne sind, dass sie in der Welt bereits selbstverantwortlich handeln können, dann sind sie jedenfalls später hierzu in der Lage. Immerhin vermag der Säugling im Falle von Schmerzen durch Schreien sehr deutlich kundzutun, was er will oder nicht will. Es ist nur eine Frage der 147

Helmut Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1965.

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Die exzessive Tierethik als Entanthropomorphisierung

Zeit, bis er die volle personale Verantwortung ausübt; denn als Mensch ist er von Natur aus Person. Menschen mit einer geistigen Behinderung, die vielleicht ihr ganzes Leben lang nicht selbständig handeln können, sind eine Ausnahme. Es liegt ein Defekt vor, der sie daran hindert, das ganze Potential, das der Mensch von Natur aus hat, zu entwickeln. Nicht der faktische Zustand ist entscheidend, sondern der Endzustand, auf den das Werden und Wachstum des betreffenden Wesens zielt. Niemand, kein Mensch, der aufgrund irgendwelcher Umstände einen Defekt hat, würde damit einverstanden sein, dass er deshalb nicht als ganzer Mensch behandelt werden dürfe. Noch ein Blick auf Darwin: Für ihn als Biologen kann es nur um die Entstehungsbedingungen unserer moralischen Fähigkeiten in der Naturgeschichte gehen. Aber daraus lassen sich nicht »alle notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Entstehung, Manifestation und Realisation von Moral« erklären, die »für ihn das Spezifische des Menschen im Unterschied zu den übrigen Tieren« sind. 148 Zwar ist das instinktive Erbe eine notwendige Bedingung für die Herausbildung des moralischen Sinns, aber die sozialen Instinkte sind durch Zunahme seines Reflexionsvermögens abgeschwächt. Das spezifisch menschliche Vermögen der Moral lässt sich mit einer biologisch-naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise und dem Mechanismus der natürlichen Selektion nicht erschöpfend erklären. Eve-Marie Engels spricht von einem anderen kategorialen Rahmen, der vorliege, von ethischen Prinzipien und einem »sich daran orientierenden Gewissen«. 149 Moralisches Handeln ist für Darwin nicht gleichzusetzen mit instinktivem Verhalten. In der Geschichte des Darwinismus hat Th. H. Huxley in seinem Essay »Evolution and Ethics« (1893) auf den Fehlschluss einer Evolutionsethik hingewiesen, die die Moral einem »struggle for existence« und einem »survival of the fittest« unterwerfe. Die evolutionäre Selektion ist nach Darwin nicht als rücksichtsloser Kampf aller gegen alle, als egoistische Durchsetzung der eigenen individuellen Interessen, oder im Sinne utilitaristischer Abwägungen des größten Nutzens aller zu verstehen. Der Sozialdarwinismus geht nicht auf Darwin, sondern auf Biologen wie Herbert Spencer, Ernst Haeckel u. a. zurück. Der Sozialdarwinismus war die Ideologie des Nationalismus, aber zum Teil auch des Liberalismus. Wie in der Einleitung ausgeführt wurde, ist der Sozialdarwinismus in der Gegen148 149

Eve-Marie Engels, Charles Darwin, München 2007, S. 198. Engels, ebenda, S. 198.

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wart nicht als Rassismus wirksam, sehr wohl aber als globaler Kampf um das Überleben und als grenzenloser Fortschrittsoptimismus. Durch beide Trends gefährdet er das Humanum. 150 Darwin spricht, trotz seiner ambivalenten Ableitung des Menschen vom Tier, ganz selbstverständlich von der Würde und dem Rang des Menschentums, er spricht von »dignity«, vom »rank of manhood«. 151

3.6 Zusammenfassung Die Natur und das Lebendige müssen über das Verstehen des Menschen erkannt werden. Die Menschenwürde, die jeder zunächst durch sich selbst mit der Verfolgung seiner Lebensinteressen in Anspruch nimmt, drückt sich in einem universalisierbaren Recht aus, das jeder Mensch, der niemand anderen beeinträchtigt, verletzt oder tötet, hat. Jeder, der dieses leugnet, gibt selbst sein Recht auf die Verfolgung seiner Lebensinteressen auf. Diese dem Menschen zugängliche Grundlage der natürlichen Ordnung des Zusammenlebens macht den Menschen zur obersten, das Gute erkennenden Instanz. Das Mensch-Tier-Kontinuum ist kein Einwand dagegen, weil es falsch ist. Gegen dieses spricht, dass die Bestimmung des Menschen nicht durch eine zur Natur der Tiere logisch-additive Definition erfolgt. Im Unterschied zu Behauptungen darwinistisch beeinflusster Philosophen ist unser Unterschied als Menschen zu den Tieren größer als der Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren. Der Mensch ist eine eigene Gattung (Robert Spaemann, Christian Steiner). Der Mensch erlebt sein Leben nicht nur vital, sondern auch geistig. Die moderne Tierethik, die zu Recht die Leugnung von Empfindungsfähigkeit, von Lust und Schmerz in der cartesianischen Tradition kritisiert, verfällt indes in das andere Extrem, dass sie Lust und Schmerz als solche zum Maßstab nehmen will und nicht deren beurteilende Erkenntnis, die nur der Mensch hat. Tierrechte müssen analog zu den Menschenrechten diskutiert werden. Es gibt gute

150 Zum Sozialdarwinismus in Deutschland: Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayerts, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992. Gunter Mann, Rassenhygiene – Sozialdarwinismus, in: Gunter Mann, Biologismus im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973, S. 73–93. 151 Darwin, The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex, Princeton 1981, I, 50; II, 633; zitiert bei Engels, ebenda, S. 205.

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Zusammenfassung

Gründe, nichtmenschlichen Lebewesen keine prinzipielle Gleichheit mit Menschen und keinen prinzipiellen Subjektstatus zuzuerkennen, andererseits aber ihre Empfindungsfähigkeit moralisch zu gewichten (Nikolaus Knoepffler).

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4. Ist die Materie alles? Stephen Hawkings Lob der Ionier. Gibt es einen Beitrag der Vorsokratiker zum modernen evolutionistischen Prozessverständnis?

Die ersten Schritte der abendländischen Philosophie könnte man als Bewegung vom Chaos zum Kosmos bezeichnen. Die Anfänge der Philosophie bei den Vorsokratikern legen auch für unser Thema die Wege des Denkens frei. Die Vorsokratiker, besonders die Ionier, sind die Ersten, die jene umfassende Prozessualität der Materie, die Stephen Hawking so lobt, behauptet haben. Thales von Milet ist ein Beispiel für den gegenüber allen Wissenschaften erhobenen Grundlagenanspruch der modernen Physik, die sich auf eine vermeintlich umfassende Materie stützt. Bevor es zu den differenzierteren philosophischen Überlegungen von Platon und Aristoteles kam, gab es überaus einfache Welterklärungen, wie jene des Thales, die die ganze Weltentstehung aus dem Wasser aufzeigen wollte. Aber schon ein anderer Ionier, Anaximander, führte als »das Prinzip und Element des Seienden« das Unbegrenzte (apeiron) ein, 152 das nicht nur mit der Materie identifiziert werden kann. Für Demokrit wiederum bestand alles aus atomaren Bausteinen. Solche Erklärungen, dass alles aus dem Wasser, der Luft oder dem Feuer entstanden sei, werden von gegenwärtigen Naturphilosophen wie Hawking als erste Einsichten, denen gegenüber spätere Philosophien, wie die des Platon und Aristoteles, Rückschritte darstellten, gelobt. 153 Dem Lob von Hawking könnten sich auch manche Hirnforscher und Biowissenschaftler anschließen. Die Vorsokratiker nahmen, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, kein Eingreifen eines Gottes oder einer Göttin zur Erklärung der Phänomene mehr an. Sie versuchten, alle Phänomene auf ein zugrundeliegendes Wirkprinzip

Parmenides, Diels Kranz (Hg.), Fragmente der Vorsokratiker, 3 Bde., Berlin 1961, 12, A 9; Jaap Mansfeld, Die Vorsokratiker, Band I, Stuttgart 1973, S. 73. 153 Stephen Hawking, Leonhard Mlodinow, Der große Entwurf. Die neue Erklärung des Universums, Reinbek 2010. 152

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hin zu erklären, 154 was der typischen Haltung der Reduktionisten entspricht. Generell suchen die Wissenschaften nach einem einfachen Prinzip, das alle Phänomene umfasst und ihre Veränderungen erklärt. Die Leistung des Erklärers besteht darin, dass die Veränderungen in den Erscheinungen durch die Angabe eines Gesetzes bzw. Prinzips voraussagbar werden, ohne dass auf göttliche Kräfte, die von außerhalb wirken, zurückgegriffen werden muss. Wenn die Geologie ein Erdbeben erklärt, dann vermag sie Regeln zugrunde zu legen, die auch in anderen Fällen Erdbeben erklären. Eine gelingende Erklärung zeigt indes auch, dass es einen inneren Zusammenhang von Einfachheit und Allgemeinheit bzw. Vielheit gibt. Diesen inneren Zusammenhang gibt es jedoch nicht ohne das Wissen vom bleibenden Sein der Ideen bei Platon oder dem Wissen vom Wesen und der Substanz bei Aristoteles. Die Naturphilosophie der Vorsokratiker benötigt eine ontologische Grundlage. Platon und Aristoteles gewinnen in der Rezeption und Auseinandersetzung mit den kosmologischen Entwürfen der Ionier eine Reihe von Einsichten, die für die spätere Philosophie Weichenstellungen darstellen. Bei den Ioniern sind die Weltprozesse nicht intelligent gesteuert. Es gibt keinen bewussten Zweck, der dem Ganzen unterlegt ist. Parmenides denkt das Sein, vermittelt durch die Erkenntnis, als vollkommen und auf sich bezogen. Dass die Erkenntnis auf das Sein bezogen ist, entspricht dem philosophischen Realismus und ist Grundlage für eine angemessene Erkenntnistheorie, die die Erkenntnis nicht auf die empirische Anschauung, wie es z. B. der Physikalismus tut, begrenzt. 155 Demokrit und die Atomisten argumentieren rein materialistisch. Anaxagoras hat eine Art Mischsystem. Es gibt den Geist in einer lenkenden Funktion. Aber sobald es um die Einzelheiten der Bewegung geht, fällt Anaxagoras in mechanische Erklärungen zurück. Bereits Platon hat grundlegende Kritik an den mechanistischen Erklärungen der Vorsokratiker entwickelt. Aristoteles jedoch ist derjenige, der Informationen aus den noch vorhandenen Schriftresten und aus der mündlichen Überlieferung gesammelt und aufgezeichnet hat. Er entwickelt, durch die Entwürfe der Vorsokratiker angeregt, Instrumente und Unterscheidungen, die vorher nicht da waren. 154 R. J.Hankinson, Cause and Explanation in Ancient Greek Thought, Oxford 1998, S. 2 f. 155 Vgl. dazu: Hans Jürgen Wendel, Die Grenzen des Naturalismus, Tübingen 1997.

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In der naturphilosophischen Schrift Über die Glieder der Tiere führt Aristoteles zur alten Naturphilosophie aus: »Die Alten und die ersten Naturforscher dachten nur nach über die stoffliche Grundlage und die entsprechende Ursache, ihr Wesen und ihre Beschaffenheit und über die Art, wie das Ganze sich daraus entwickele, wer den Bewegungsanstoß gebe, z. B. Zwietracht oder Eintracht (Empedokles) oder Vernunft (Anaxagoras) oder Ungefähr (Thales?), während der gegebene Stoff notwendig das und das Wesen haben müsse, Feuer z. B. warm, Erde kalt und jenes leicht, diese schwer sein müsse, so lassen sie auch die Welt entstehen, und ähnlich lehren sie über die Entwicklung der Tiere und Pflanzen.« 156 Eine ähnliche allgemeine Charakteristik finden wir im 1. Buch der Metaphysik. Dort schreibt Aristoteles, dass die vorsokratischen Naturphilosophen nur eine Form der Erklärung gekannt haben, und zwar die Frage nach dem, was allem als Substrat zugrunde liegt. Die Welt bestand nur aus den jeweils verschiedenartigen Aggregatszuständen, aus Verdichtung und Verdünnung der einen zugrundeliegenden Wirklichkeit. Diese wurde bei Thales als das Wasser, bei Anaximander als das Unbegrenzte und bei Anaximenes als die Luft aufgefasst. Im Vergleich zur späteren Philosophie des Platon oder Aristoteles sehen diese Anfänge einfach und naiv aus. Man muss sich jedoch vor Augen halten, dass vor diesen Anfängen religiös-mythische Weltvorstellungen bestanden haben. Deren Aufgabe bestand nicht in einer rationalen Erklärungsleistung, sondern in der Festigung der gemeinsamen politischen Überzeugung der Menschen durch religiöse Haltungen. Die Entstehung der Welt wurde als Geschichte der Götter gedacht. In dieser verfahren die Götter durchaus grausam gegeneinander; z. B. schlachtet Zeus seinen Vater Kronos ab. Die Götter haben die Macht und herrschen auf eine Art, die mehr den Naturgewalten als einer Intelligenz ähnelt. Die bekannteste Göttergeschichte hat mit der Theogonie Hesiod geschrieben. Vor den ersten philosophischen Kosmologien in Griechenland gab es bereits religiös-mythische Weltvorstellungen. Die Philosophie fand im Volk verbreitete Vorstellungen von der Entstehung des Kosmos vor, die sie korrigierte oder völlig destruierte. Es waren Vorstellungen, die es in der griechischen Welt seit langem gab. Neben Hesiod haben die wichtigsten populären Konzeptionen Eingang in die Dichtung Homers (8. Jh. v. Chr.) gefunden. Bei Homer wird die Welt aufgefasst als eine flache Erde, die vom Ozean (Okeanos) umgeben ist 156

Aristoteles, P an I,1 640 b4.

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und überwölbt wird durch einen halbkugelförmigen Himmel mit Sonne, Mond und Sternen. Traditionell hielt man solche Teile des Kosmos wie die Erde, die Sonne und den Mond für Götter und verehrte sie als solche, selbst wenn deren Kult in Griechenland nicht den Status des Kults der Olympier erreicht hat, die aus Mythos und Dichtung gut bekannt sind. Aber sogar bei Homer kommen, wenn Zeus ein Treffen der Götter anberaumt, 157 die Flüsse (außer Okeanos) und die Nymphen ebenfalls herbei. Sonne, Erde, Himmel, Flüsse und Winde konnten in Gebeten angesprochen, und sie konnten angerufen werden, um einen Eid zu bezeugen. Auch einige Götter des griechischen Olymps wurden mit bestimmten kosmischen Phänomenen verknüpft und in manchen Zusammenhängen sogar damit identifiziert: Wir kennen Zeus, den Wolkensammler und Regenmacher, als Gott des Himmels, Poseidon als Gott des Meeres usw. Darüber hinaus gab es in der griechischen Welt ebenso wie in den Kulturen ihrer östlichen Nachbarn mythische Geschichten über den Ursprung der Welt, den man sich als die sukzessive Geburt kosmischer Gottheiten dachte. Über den Kosmos zu sprechen, bedeutete, über die Götter zu sprechen; und Theorien über den Ursprung des Kosmos (Kosmogonien) waren in Wirklichkeit Geschichten, die sich auf die Entstehung der Götter bezogen (Theogonien). In der Metaphysik und in der Physik, also seiner Naturphilosophie, berichtet Aristoteles von den Vorsokratikern und setzt sich mit ihnen auseinander. Er kommentiert vorgefundene Widersprüche aus seiner philosophisch entwickelteren Position. Wir beobachten im späteren Kapitel Aristoteles dabei, wie er aus dem Material, das die Theorien der Vorsokratiker für ihn darstellen, Herausforderungen für seine eigene Naturphilosophie erhält. Bei Thales von Milet (624–546 v. Chr.) ist das Wasser Urstoff und Grundlage aller Dinge. In der Schrift Über den Himmel berichtet Aristoteles von der Theorie von Thales, dass die Erde auf dem Wasser liege. Die Erde ruhe, »weil sie schwimmfähig sei, wie ein Stück Holz oder ähnliches«, auf dem Wasser. 158 Dass das Wasser das Woraus ist, aus dem alle Dinge sind, befriedigt Aristoteles nicht. Woher kommen die festen Körper? Er fragt nach weiteren Ursachen. Wenn das Wasser eine Stoffursache sein soll, dann bleibt die Herkunft der festen Körper unerklärt. Ähnliche 157 158

Homer, Ilias XX,1–18. Aristoteles, De caelo II,13 294 a 28 f.

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Fragen werfen moderne physikalistische Theorien auf. Wir kennen Thales’ Auffassungen nur über die Berichte des Aristoteles, der seinerseits auch keine Schriften von Thales zur Verfügung hatte, sondern nur Äußerungen von anderen Denkern, die etwas über Thales wussten. Diese eine Ursache des Thales reicht Aristoteles nicht aus. Er entwickelt im Anschluss an Platon eine Lehre von den vier Ursachen zur Erklärung der Ereignisse. Die Material-, die Formal-, die Wirk- und die Zielursache. Es gibt diese vier Ursachen sowohl bei der Erklärung der Natur, als auch beim menschlichen, auf Überlegung basierenden Handeln. Aristoteles sieht richtig, dass Thales nur eine Ursache konzipiert hat, nämlich die Materialursache, und dieser auch all das zugeschrieben hat, was zu erklären Aufgabe der anderen Ursachen gewesen wäre. Wenn z. B. ein Bett aus Holz oder eine Statue aus Bronze hergestellt werde, dann sei das Holz oder die Bronze die materiale Grundlage der Herstellung, aber die Materien allein reichten nicht aus dafür, dass ein Bett oder eine Statue gelingt. Es brauche eben den Handwerker bzw. den Künstler. 159 Aristoteles will mit seinen vier Ursachen, die ebenso reale wie ontologische Prinzipien sind, die Ereignisse erklären. Der Materialismus von Thales hat die Konsequenz, dass Erkenntnis als materieller Prozess gedacht werden muss. Auch das hat Stephen Hawking gesehen. Jede Lebensregung, jede Erkenntnis müsste Wasser sein. Einen wirklichen Erkenntnisfortschritt gibt es dann, wie gleich zu zeigen ist, bei Parmenides aus dem norditalischen Elea (540–483 v. Chr.). Dieser korrigiert die Annahme von Thales mit seiner Lehre, dass das Erkennen auf das Sein bezogen ist. Der Seinsbegriff von Parmenides ist eine Korrektur des Materialismus der Ionier. Der Mensch ist kein bewusstloses Teilelement in einem übergreifenden Geschehenszusammenhang, wie es das Wasser des Thales wäre. Differenzierter als Thales denkt Anaximander von Milet (610– 547 v. Chr.). Er spricht zum ersten Mal vom »Kosmos« und entwickelt eine Theorie des Unbegrenzten (apeiron), das nicht mit Elementen identifiziert wird. Auch hat er eine modern anmutende Theorie von der Entstehung der Lebewesen aus dem Feuchten entwickelt. Doch davon gleich. Aristoteles berichtet: Das Unbegrenzte dürfe auch nicht Wasser oder Luft sein. Wenn das eine dann unendlich wäre, würde das andere zugrunde gehen. Er sagt: »Die Elemente haben nämlich unter sich eine Beziehung der Gegnerschaft, die Luft z. B. ist kalt, 159

Aristoteles, Met. 984 a 24–25.

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das Wasser feucht, das Feuer heiß.« 160 Eine Weiterentwicklung der Elementenlehre finden wir bei Empedokles. Aristoteles, der ja selbst keinen Anfang der Welt angenommen hat, diskutiert folgendermaßen dann die Frage, ob das Unbegrenzte ein Anfang sein könne: »Aus gutem Grund setzen alle es (das Unbegrenzte) auch als Anfangsgrund: Weder könne es ja sinnloserweise vorhanden sein, noch könne ihm eine andere Bedeutung zukommen außer der als Grund; nun sei alles entweder (selbst) ursprünglicher Anfang oder Folge eines solchen Anfangs, von Unbegrenztem aber kann es keinen Anfang geben; denn der wäre ja schon eine Grenze an ihm. Außerdem sei es auch ungeworden und unvergänglich, da es eben doch ein Anfangsgrund sei; denn ein Gewordenes müsse notwendig ein Ende nehmen und ein Ende gibt es auch bei jedem Verfall. Deshalb – wie wir ja sagen – gibt es offenbar von diesem Anfang keinen Anfang, sondern es scheint Anfang alles übrigen zu sein und alles zu umfassen und sämtliches zu lenken – so sagen es die, welche neben »unbegrenzt« keine anderen Ursachen stellen, etwas wie Weltvernunft (Anaxagoras) oder Liebe (Empedokles). Und es soll dann auch das Göttliche sein; denn es sei unsterblich und dem Verderben nicht unterworfen, wie Anaximander sagt und die meisten der alten NaturDenker.« 161 Aristoteles führt einige Gründe dafür an, dass man das Unbegrenzte denken könne. Sowohl die Zeit als auch Quantitäten könnten geteilt werden. Auch gibt es beim Denken scheinbar keine Grenze, weshalb die Zahlenreihe unendlich sei. Schließlich meint er, man könne sich dann verleiten lassen und auf einen »unbegrenzt großen Weltkörper« und »unendlich viele Welten« 162 schließen. All das erinnert an Diskussionen in der modernen Physik mit den Hypothesen von unendlich vielen Welten. Auch der Einwand dagegen, damals wie heute, lautet ähnlich. Nach Aristoteles kann der Naturforscher keine Größe von »unbegrenzter Ausdehnung« 163 wahrnehmen. Heute wird ebenso dagegen argumentiert, dass für die Hypothese von unendlich vielen Welten keine Messdaten vorliegen. Es gibt als Grundlage für den Big Bang die Rotlichtverschiebung. Aber diese ist bisher nur auf unserer Erde gemessen. Alle Theorien, die das unbegrenzte materielle Sein behaupten, sind nach Aristoteles falsch; denn 160 161 162 163

Aristoteles, Phys. III, 5 204 b 23 f. Aristoteles, Phys. 203 b 2–15. Aristoteles, Phys. 203 b 25–27. Aristoteles, Phys. 204 a 1–2.

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das Unbegrenzte ist unerkennbar. Über die Entstehung der Lebewesen und des Menschen hat Anaximander auch Theorien entwickelt. Im Bericht von Aetios, den dieser um das Jahr 100 n. Chr. niedergeschrieben hat, heißt es: »Die ersten Lebewesen seien im Feuchten entstanden und von stacheligen Ringen umgeben gewesen. Im weiteren Verlauf ihrer Lebenszeit seien sie auf das Trockene gewandert.« 164 Plutarch erzählt von Anaximander dessen Annahme, dass die Menschen ursprünglich in Fischen zur Entwicklung gekommen seien und dort ernährt wurden – wie es bei »dem glatten Hai« der Fall ist; und erst nachdem sie sich die Fähigkeit erworben hätten, sich selber zu helfen, »seien sie aus den Fischen herausgestiegen und an Land gegangen«. 165 Theorien über die Entstehung der Lebewesen, die an Darwin erinnern, hat auch Empedokles entwickelt, mit dem sich Aristoteles eingehend beschäftigt hat. Bevor wir aber zu Empedokles kommen, müssen wir einen Blick auf Heraklit und auf Parmenides werfen. Empedokles ist entscheidend von Parmenides beeinflusst, dieser aber stellt sich in seinen wichtigsten Thesen Heraklit entgegen. Heraklit von Ephesos (535–475 v. Chr.): Wie Anaximander nimmt Heraklit vier grundlegende Elemente an: Feuer, Luft, Wasser und Erde. Das Feuer betrachtet er als das eigentliche, bestimmende Element. Aristoteles wendet gegen die These Heraklits, dass alles einmal zu Feuer werde, ein, dass es, ebenso wie andere Grundstoffe, nicht unbegrenzt sein könne. Kein wahrnehmbarer Körper kann unbegrenzt sein. 166 Nach Heraklit bewegen sich die genannten vier Elemente in einem endlosen Kreis. Es gibt keinen Anfang des Universums und kein Ende. Die Zeit gibt es nur in der Gegenwart, ansonsten ist sie unendlich. Heraklit ist besonders durch zwei Aussagen bekannt, die wörtlich genommen gar nicht von ihm stammen, sondern von späteren Autoren hinzugefügt sein sollen: »Alles fließt« (panta rhei) und »Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen«. 167 Wir lernen diese Sätze kennen, weil sie das von Heraklit Bekannteste sind, weitaus sicherer sind jene beiden anderen Sätze: »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht.« Und: »Wir sind und wir sind nicht.« 168

164 165 166 167 168

Aetios V, 19.4; zit. bei J. Mansfeld, Vorsokratiker I, Stuttgart 1983, S. 79. Plutarch, Symp. 730 E, zit. bei J. Mansfeld, ebenda, S. 81. Aristoteles, Phys. III, 5; 205 a 1. Diels/Kranz (Hg.), a. a. O., Berlin 1961, B91. Diels/Kranz, a. a. O., B 49a; B 91.

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Der nächstliegende Sinn ist, dass zwar der Fluss derselbe bleibt, aber das Wasser dauernd ein anderes ist und insofern der Fluss doch nicht derselbe bleibt. Es gibt Erfahrungsbereiche, die diese dauernde Veränderung für den Menschen aufzeigen. Ein typisches Beispiel ist die Beurteilung einer Raumtemperatur, ob es zu kalt oder zu warm für die Menschen im Raum ist. Dem einen mag es zu kalt sein, ein anderer wiederum findet die Temperatur angenehm. Die Grenze der Relativität dieser Erkenntnis zeigt sich allerdings sehr schnell; die sich über die Temperatur austauschenden Personen erkennen ohne weiteres ihre Verschiedenheit und sind sich dessen gewiss. Wenn man einen allgemeinen Schluss aus der Lehre vom dialektischen Werden zieht, dann negieren zwar die Gegensatzglieder von ihrem Inhalt her eine Identität, aber als Gegensatz müssen sie etwas Verbindendes enthalten. Es werden Heraklit denn auch folgende Meinungen zugeschrieben: »Dem Gott ist alles schön und gut und gerecht; die Menschen haben das eine als ungerecht, das andere als gerecht angesetzt.« Oder: »Daher hat man sich dem Allgemeinen anzuschließen – d. h. dem Gemeinschaftlichen, denn der gemeinschaftliche (Logos) ist allgemein; ungeachtet der Tatsache aber, dass die Auslegung eine allgemeine ist, leben die Leute, als ob sie über eine private Einsicht verfügten.« 169 Wenn wir bei Heraklit Ansätze für die moderne monistische Theorie eines ablaufenden, sich aus sich selbst entwickelnden Prozesses suchen, so werden wir nicht fündig. Dass seine Dialektik komplex ist, verweist zu ihrer Verdeutlichung auf die Ergänzung durch die Seinslehre von Parmenides. Parmenides aus dem norditalischen Elea (540–483 v. Chr.): Seine Anhänger werden auch die Eleaten genannt. Parmenides stellt sich mit seiner Lehre schroff den Auffassungen Heraklits entgegen. Er lehrt, dass das Werden irrational, unlogisch und eine Illusion ist. Nur das Sein ist, und das Nichtsein ist nicht. Gegen Heraklit behauptet er, dass es kein Werden und Vergehen gibt. Es gibt keine Vielheit und nur die Sinne täuschen uns diese vor. Die Vorgänger von Parmenides, Thales, Anaximander und Heraklit, orientierten sich alle an den Sinnen und der empirischen Methode. Das erkennt Parmenides nicht als vernünftig an. Die Vernunft darf nach Parmenides nur ihrer Logik folgen und die ist dem Denken innerlich. Der durch Parmenides eingeführte Seinsbegriff, dass es nur das Seiende gibt und das Nicht169 Diels/Kranz, a. a. O., 22, B102; B2. Jaap Mansfeld (Hg.), Die Vorsokratiker, Stuttgart 1983, S. 245; 275.

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sein nicht, stellt eine strenge Korrelation von Sein und Erkennen auf. Es geht dabei um eine Art Urerfahrung, dass wir mit der Wirklichkeit eins sind, dass es eine Gemeinsamkeit mit den von uns verschiedenen Dingen gibt, die wichtiger ist als die empirische genaue Beobachtung der Verschiedenheit und Getrenntheit. Die Gemeinsamkeit besteht eben darin, dass die von uns verschiedenen Dinge mit uns im Sein übereinkommen. Dass es kein Nichtsein gibt, heißt, dass es insofern keinen Unterschied gibt zwischen mir und den anderen Dingen. Dies widerspricht natürlich der empirischen Erfahrung; denn diese ist nur durch den Unterschied möglich. Das weiß freilich auch Parmenides. Aber er sagt, dass die empirische Erfahrung nicht der Bezugspunkt ist, den man haben muss, um Weisheit zu haben. Empirische Erfahrung muss man zurücklassen, wenn man in die Wirklichkeit tiefer eindringen will. Nicht umsonst erklärt er, dass die Göttin ihn erst auf diese Sicht gebracht habe. Seine Sicht hat einen besonderen Ursprung, der sich nicht der bloßen empirischen Erfahrung der Materie verdankt. Parmenides’ Seinsbegriff ist eine Korrektur des Materialismus der Ionier. Das Sein des Parmenides lässt sich heute auch mit meditativen und mystischen Praktiken in Verbindung bringen. Das menschliche Handeln geht auf ein Sinnganzes. Dieses Sinnganze sucht der Mensch und findet dabei einen Anknüpfungspunkt am parmenideischen Begriff des Seienden. Der Mensch ist kein bewusstloses Teilelement in einem übergreifenden Geschehenszusammenhang, wie ihn die Ionier gesehen haben. Mit der Theorie von Parmenides ist bereits bei den Vorsokratikern eine erste Form wenn auch unterkomplexen metaphysischen Begreifens entwickelt worden. Die Mängel der Theorie von Parmenides sollen nur kurz gestreift werden. Parmenides kann das Nichtsein nicht denken, was ein großer Mangel seiner Theorie ist. Wer die Einsicht in das Sein hat, lässt sich nicht vom äußeren Wechsel der Dinge beeindrucken. Etwas kann nicht von Nichts kommen. Es muss schon immer da sein. Das Sein muss schon immer da sein. Das Nichtsein kann nicht sein. Es kann dann auch keinen leeren Raum geben, sodass es auch keine Bewegung in einen von einem vom Seienden verschiedenen Raum geben kann. Seine deduktive Vernunftmethode gleicht der Mathematik. Auch diese benötigt keine äußere Welt. Wenn man Elemente der Theorie des modernen Evolutionismus bei den Vorsokratikern sucht, wird man bei Empedokles, Leukipp und Demokrit fündig. Empedokles (495–435 v. Chr.) hat fast zur selben Zeit wie Anaxagoras (499–428 v. Chr.) gelebt. Er war vier Jahre jünger als dieser, 120

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ist aber 7 Jahre früher gestorben. Geboren in Akragas, heute Agrigent, auf Sizilien, entstammt er einer aristokratischen Familie. Beide, er und Anaxagoras, haben eine entwickeltere philosophische Position, die das Philosophieren von Aristoteles herausforderte. Empedokles wird oft als Vorläufer der modernen Evolutionstheorie gesehen. Von ihm gibt es zwei Schriften, Über die Natur und Reinigungen. Sein Werk Über die Natur ist kühn und anspruchsvoll. Empedokles ringt mit dem Problem, das ihm Parmenides hinterlassen hat. Es gibt nur das Sein, das Nichts gibt es nicht. Dabei entsteht dann sofort die Frage: »Wie kann dann etwas werden?« Wenn etwas Neues entsteht, kommt es dann aus dem Nichts? Kommen Babys aus dem Nichts? Es war eben schon etwas da, nämlich nach Empedokles die Elemente. Die Welt setzt sich aus vier Elementen zusammen, die die Wurzel von allem, was ist, sind. Alles setzt sich aus diesen vier Elementen, aus Feuer, Luft, Erde und Wasser zusammen und bildet sich im Weltwirbel und durch Kräfte von Liebe und Streit. Die Liebe wirkt als Anziehung, sie fügt die Elemente zu neuen Einheiten zusammen. Der Streit treibt diese Einheiten wieder auseinander. Die vier Elemente sind ewig. Sie können nicht entstanden sein. Empedokles ist von Parmenides beeinflusst und schließt aus dessen Seinsbegriff, dass nichts aus dem Nichts entstehen kann. Nach Parmenides gibt es nur ein einziges unveränderliches Prinzip, nämlich das Sein, das Empedokles als fortwährende Mischung von Elementen und von Teilen der Lebewesen interpretiert. Aetios berichtet: »Die Arten des Fleisches entstehen aus den vier Elementen in gleicher Mischung; die Sehnen aus einer Mischung mit einer doppelten Portion von Feuer und Erde; die Nägel der Lebewesen entstehen aus den Sehnen, sofern diese mit der Luft zusammentreffen und sich dabei abkühlen, die Knochen aus zwei Teilen Wasser und der gleichen Quantität Erde, und in dieser Mischung seien vier Teile Feuer. Der Schweiß und die körperlichen Tränen entstehen wie folgt: das Blut schmilzt und zerfließt, indem es fein wird.« 170 Neben dieser Entstehung der Bestandteile des Körpers erläutert Empedokles im Buch Über die Natur Stadien der Entwicklung von Lebewesen. Empedokles denkt sich einen wirbelnden Brei mit zufälligen Kombinationen von Gliedmaßen der Lebewesen. Aelianus berichtet Folgendes aus dem Buch Natur: »Vieles bildete sich mit doppeltem Antlitz und doppelter Brust: Kuhgeschlechtliches mit menschlicher Galionsfigur; umgekehrt tauchten wieder andere auf 170

Aetios, V,22,1; zit. bei J. Mansfeld, ebenda, S. 109.

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wie Menschen gewachsen, mit Kuhköpfen, Mischlinge, mit schattenhaften Gliedern versehen: hier eine Art von Männchen, dort wie Frauen gewachsen.« 171 Empedokles kennt, wie Darwin, keine Zielstrebigkeit der Natur. Alles ist zufällig so geworden. Das ist für die Naturphilosophie von Aristoteles die größte Herausforderung. Kann alles zufällig entstanden sein? Kann der Zufall für sich stehen? Wirft Empedokles damit nicht die große Einsicht von Parmenides, dass das Sein auf sich selbst ziele und darin der Sinn liege, nicht über Bord? Aristoteles bietet eine Alternative mit seiner Theorie der naturgemäßen Bewegung. In der Schrift Über den Himmel sagt er: »Wenn es nämlich keine naturgemäße Bewegung der Körper gibt, so wird es auch keine gewaltsame geben. Wenn es aber weder eine naturgemäße noch eine gewaltsame gibt, so wird es überhaupt keine Bewegung geben.« 172 Aber damit kommen wir direkt in Widerspruch zu den Phänomenen, weil es ja Bewegung offensichtlich gibt. In derselben Schrift erklärt er, dass es unter der Voraussetzung des Zufalls keine naturgemäßen Bewegungen geben könne: »Überhaupt geht der Streit um eine solche Theorie der Bewegung nicht um Einzelheiten, sondern um ein Ganzes und Alles. Denn man muss von Anfang an feststellen, ob der Körper eine naturgemäße Bewegung habe oder nicht oder ob es eine solche zwar nicht von Natur, aber doch mit Gewalt gebe.« 173 Aristoteles’ Kritik trifft den modernen Evolutionismus ebenfalls. Wenn der Zufall keine Erklärung sein kann, dann kann die zufällige Zusammenfügung von Teilen des Organismus nicht der Grund für die Existenz von Organismen sein. Im späteren Aristoteles-Teil werden wir fragen, von welcher Basis her Aristoteles darauf eine Antwort geben kann. Sicher hat Aristoteles seine Theorie der Naturfinalität dagegengesetzt. Wenn die vier Elemente am Anfang des Weltprozesses stünden, dann müssten sie in einem unbegrenzten Wirbel ineinander übergehen. Kann das Unbegrenzte sowohl Ursprung als auch Element des Prozesses sein? So hat später Kant in der Dialektik der Kritik der reinen Vernunft gefragt. Und so hat Aristoteles bereits gefragt, wenn das Unbegrenzte eine unbegrenzte Ausdehnung hat, kann es dann für den Naturforscher sinnlich wahrnehmbar und erforschbar sein, was ja offensichtlich behauptet wurde? 174 171 172 173 174

Aelianus, Nat. an. XVI 29; zit. bei J. Mansfeld, ebenda, S. 113. Aristoteles, Über den Himmel 295 a. Aristoteles, ebenda, 294 b 30. Aristoteles, Phys. 204 a.

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Wegen seines Geist-Begriffes, der die modernen evolutionistischen Ansätze grundsätzlich übersteigt, befassen wir uns mit Anaxagoras von Klazomenai in Kleinasien (ca. 499–428 v. Chr.). Er wurde von demselben Problem geplagt, mit dem sich schon Empedokles herumgeschlagen hatte. Wie kann etwas aus dem Nichts entstehen? Aus dem Nichts kann doch nichts kommen. Parmenides hatte ja behauptet, dass nur das Sein ist, und dass Veränderungen, die zu etwas anderem führen, eine Täuschung unserer Sinne sind. Parmenides lehrt einen Monismus des Seins. Diesem ähnlich lehren moderne szientistische Neurowissenschaftler einen Monismus der Kausalgesetze: Die physiologischen Veränderungen sind mechanisch bewirkt, lassen sich durch viele Gesetze beschreiben und gehen ihrer Meinung nach auf eines zurück. Diese vielen Gesetze muss man herausfinden, dann findet man auch das eine; wenn man so weit ist, kann man über den sinnlichen Bereich des Bewusstseins und des Erlebens aufklären. Dieser ist nur eine Welt des Epiphänomenalismus, eine Welt des Erscheinens, der, wie wir im Kapitel 1 gesehen haben, aber kein Ansich-Sein entsprechen soll. Doch zurück zu Anaxagoras. Er wollte eine Alternative zum geschlossenen Seinsbegriff des Parmenides entwickeln und behauptete, die Vielheit sei die Grundlage von allem. Seine These, dass am Anfang dieser Vielheit alles zusammen war, war sehr bekannt. Auch Platon erwähnt sie. In der Vielheit ist alles enthalten, und diese Elemente sind selbst wiederum in Elemente aufteilbar. Die Teile der Lebewesen und der Körper sind alle durchmischt. In ihnen finden sich die Samen von Holz, Gold, Pferden, menschlichen Gliedern usw., kurzum: alle Bestandteile der Welt. Die kleinsten Samen sind aber nicht nur Atome, sondern sie sind wieder unendlich teilbar. Alles ist sowohl unendlich groß als auch unendlich klein. Der Aristoteles-Kommentator Simplikios beschreibt die Theorie von Anaxagoras: »Wenn das sich so verhält, muss man zur Annahme gelangen, dass in der Gesamtheit der Stoffe, die sich vereinigen, viele und vielgeartete (Stoffe) vorhanden sind, und Keime (Samen) aller jener Dinge, die mannigfache Gestaltungen, Farben und Sinnesempfindungen enthalten.« 175 Alle Elemente oder Samen sind unendlich der Zahl nach, unendlich der Größe nach und unendlich teilbar. Der Wirbel, in dem sich alles bewegt, wird nun vom Nous, vom Geist, englisch »mind«, in bestimmte Richtungen zur Formung bestimmter Gestalten gelenkt. Der Geist ist selbst unendlich, un175

Simplikios = DK 59 B 4.

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abhängig und rein. Er leitet den Prozess des Gestaltwerdens der Samen ein. Er ist so etwas wie ein erster Beweger. Die Nous-Lehre, die Lehre vom Geist, von der Vernunft, hat auf die späteren Philosophen, besonders auf Platon und Aristoteles, einen besonderen Eindruck gemacht. Neben dem vermischten Stoff gibt es noch ein zweites Prinzip und das ist eben der Geist. Aristoteles berichtet von der Theorie des Anaxagoras: »Während für unendliche Zeit alles zusammen und in Ruhe war, habe es der Geist in Bewegung gesetzt und auseinander treten lassen.« 176 Der Geist ist wie ein Bewegungsprinzip, das es bei Thales, Anaximander und Empedokles nicht gegeben hat. Platon äußert sich zur Lösung des Anaxagoras im Phaidon durch den Mund des Sokrates: »Eines Tages aber hörte ich jemandem zu, der las aus einem Büchlein des Anaxagoras vor, wie er sagte, und behauptete, es sei die Vernunft, der Geist, der alles ordne und die Ursache aller Dinge sei. Da freute ich mich über diese Ursache, und es dünkte mich gewissermaßen auch richtig, dass die Vernunft die Ursache aller Dinge sei; und ich war überzeugt, dass in diesem Falle die ordnende Vernunft alles so ordne und jegliches so aufstelle, wie es am besten sei. Wenn nun jemand die Ursache finden wolle, weshalb jedes Ding entsteht oder vergeht oder besteht, so müsse er nur herausfinden, welches Sein, welches Leiden und welches Tun für dasselbe am besten sind. Nach diesem Verfahren brauche also der Mensch, sowohl was ihn selbst als auch was die übrigen Dinge betrifft, nach nichts anderem zu forschen als nach dem Trefflichsten und dem Besten; er müsste dann notwendigerweise auch das Schlechtere erkennen, da dasselbe Wissen für beide gelte.« 177 Im Unterschied zu Platon kritisiert Aristoteles, Anaxagoras lasse den Geist inmitten naturphilosophischer Ursachen auftreten und weiche somit methodisch in etwas Unkontrollierbares aus. Diesen Unterschied zwischen Aristoteles und Platon werden wir später bei der Herausarbeitung der aristotelischen Finalitätsauffassung bestätigt sehen. Platon lobt gerade das, was Aristoteles tadelt, und tadelt das, was Aristoteles lobt. Aus dem Munde von Sokrates erfahren wir die Hoffnung, die Platon auf Anaxagoras’ Nous-Theorie gesetzt hatte: »Ich glaubte er werde mir vor allem auch sagen, ob die Erde platt oder rund sei, und mir dann auch den Grund und die Notwendigkeit dafür erklären, indem er als Ursache das ›Bessere‹ anführen und sagen werde, dass sie eben besser 176 177

Aristoteles, Phys. 250 b 24 f. Platon, Phaidon 97 b.

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so beschaffen sei, wie sie ist. Und die Behauptung, die Erde befinde sich in der Mitte des Weltalls, werde er mit der Erklärung verbinden, es sei eben besser für sie, in der Mitte zu sein.« Sokrates will dann auch über die Sonne, den Mond und die anderen Gestirne und deren Bewegungen Auskunft bekommen, um dadurch zu wissen, »was das ›Beste‹ für jedes einzelne Ding und was das ›Gute‹ sei, das allen gemeinsam ist«. Es kommt jedoch ganz anders. Sokrates erzählt: »Von dieser wunderschönen Hoffnung, mein Freund, wurde ich indes jäh herabgestürzt, als ich im Weiterlesen sah, dass dieser Mann selbst keine Vernunft anwendet und dass er für die Anordnung der Dinge keine anderen Ursachen angibt als die Luft und den Äther und das Wasser und manches Ungereimte mehr.« 178 Sokrates ist maßlos enttäuscht und bringt das Problem in seinem Sinne einer Lösung nahe, indem er die Frage erörtert, wie man denn erklären könne, dass er, Sokrates, immer noch im Gefängnis sitze, nachdem ihn doch seine Muskeln, Sehnen und Gelenke längst nach Boethien hätten tragen können, um ihn vor der Athener Gerichtsbarkeit in Sicherheit zu bringen. Wir werden später sehen, dass Aristoteles ein das Materielle leitendes Naturstreben für die Zielrichtung des Materiellen verantwortlich macht, müssen dabei aber auch seine Theorie bedenken, dass die Natur die Kunst von Haus aus präge, sodass die Sinnrichtung der Natur auch der Kunst zur Verfügung stehe. Das Problem ist deshalb so virulent, weil die menschliche Kunst als frei und beliebig schöpferisch gedacht werden könnte, was offensichtlich Aristoteles nicht tut. Man könnte ihn von Platon her fragen, ob er nicht doch die Inspirationen der Kunst als auf die Idee, d. h. das eidos ausgerichtet interpretiert, sodass er die Trennung von bewusster Idee und materiellen zielstrebigen Prozessen nicht durchhalten könne. Die hier angerissene Differenz der Interpretation des Geistes zwischen Platon und Aristoteles ist äußerst herausfordernd für das Denken. Die Fragmente über den Geist werfen die allerschwierigsten Fragen auf und es ist kein Wunder, dass Anaxagoras erst einen Schritt in die richtige Richtung tun konnte. In der Entwicklung der Philosophie gelangte man zur Einsicht, dass der Geist nur als letzter Grund gedacht und nicht empirisch beobachtet werden konnte. Darin stimmen Platon und Aristoteles offenbar überein. Sie haben diese Erkenntnis errungen, später ging sie aber wieder verloren, und im gegenwärtigen physikalischen Weltbild kann sie ebenfalls nicht gedacht werden. 178

Platon, Phaidon 98 c.

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Große Bekanntheit, auch wenn der moderne Begriff des Atoms ein anderer ist, genießt heute die Atomtheorie von Demokrit von Abdera (460–370 v. Chr.). Als eigentlicher Urheber der Theorie muss Leukipp, der ca. 450 v. Chr. gelebt hat, gelten. Leukipp hat jedoch wenig von seiner Theorie veröffentlicht, während Demokrit viel geschrieben hat und dadurch als Vertreter der Theorie bekannter geworden ist. Auch wenn sich im Einzelnen die Beschaffenheit des Atoms, wie beide es gedacht haben, erheblich von unserem modernen Atom unterscheidet, so ist ihre Atomtheorie von der Denkhaltung her uns nahe, weil die moderne Physik ausschließlich von einem materiellen Sein, das sich aus kleinsten Teilen zusammensetzt, ausgeht. Auch ist die Methode des Zerlegens und Zusammensetzens seit der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart eine zentrale Denkhaltung der Physik geworden. Das Wort des antiken Atombegriffs wird, im Sinne einer diskreten Einheit, sowohl von der modernen Physik als auch beim Begriff des Gens von der modernen Genetik gebraucht. Davon wird, was die Genetik betrifft, in den Kapiteln 9.4. bis 10.2. die Rede sein. Das Atom ist auch bei Demokrit unsichtbar und unteilbar. Demokrit vermeidet den Fehler von unendlich teilbaren Elementen, wie Anaxagoras sie gedacht hatte. Die Annahme einer unendlichen Teilbarkeit des Materiellen führt immer, wie Aristoteles bemerkt hat, zu Widersprüchen. Wird das Materielle als ausgedehnt gedacht, dann führt eine Teilung wiederum zu materiellen Teilen, sodass nichts geleistet worden ist. Ist das Materielle nicht ausgedehnt, wie kann es dann geteilt werden? In Wirklichkeit gibt es nur »Atome und Leeres«, so eine berühmte Formel Demokrits. Atome sind unteilbare Körperchen, unveränderlich, nicht entstanden und unzerstörbar. Diese Eigenschaften haben sie mit den Elementen des Empedokles und den Qualitäten des Anaxagoras gemein, sie sind aber im Gegensatz zu diesen nicht teilbar. Im Gegensatz zur Einheit des Seienden bei Parmenides besteht das Seiende der Atomisten in einer unendlichen Menge einzelner Wesen. Auch ist der leere Raum nicht das Nichtseiende, sondern der Bewegungsraum der Atome. Die Atome haben individuelle Gestalt, Härte, beschränkte Ausdehnung und Bewegung. Die Atome haben nicht die Gestalt regelmäßiger mathematischer Figuren, sondern sind völlig unregelmäßig. Eisen besteht aus verhakten Atomen, manche Atome sind schief, konkav oder konvex. Durch die Bewegung des kosmischen Wirbels werden die größeren und schwereren Atome allmählich in das Zentrum und die kleineren und leichteren allmählich 126

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an den Rand gedrängt. Im leeren Raum entstehen Welten, die je nach Art der sie bildenden Atome ganz unter sich verschieden sein können. Jedes Ding oder jede Substanz in unserer Welt ist eine Zusammensetzung von Atomen und Leerem. Der reine Mechanismus der Bewegung der Atome bei Demokrit schließt, wie bei der modernen Physik, jede Art von teleologischen Prinzipien und jede Seele aus. Es gibt keine Art von Intelligenz, die Intentionen hat und Zwecke verfolgt. Demokrit ist, was die Atomtheorie anbetrifft, konsequenter Determinist. Seine Ethik, die ihm durchaus wichtig ist, geht von der Verantwortung der Menschen aus. Dafür sei eine strenge Erziehung nötig. Der Mensch müsse Selbstkontrolle üben und in der Lage sein, sich mit einer kargen Lebensform zufriedenzugeben. Die richtige Begrenzung ermöglicht, wie dann später Epikur und die Stoiker lehren, eine Zufriedenheit. Die Gesundheit der Seele – in der Ethik gibt es sie – wird höher als die des Körpers eingeschätzt, wobei die Seele ebenfalls aus bestimmten kleinen Körpern besteht und nicht geistig ist. Man kann diskutieren, ob mit atomistischen Grundlagen eine wirkliche Ethik möglich ist. Wenn die zukünftigen Ereignisse nicht kontingent sind, wie soll dann, so fragt man sich, eine freie Handlung möglich sein? Es ist aber anzuerkennen, dass diese Seite des Denkens dem Demokrit ein Anliegen war, so wie er auch mehrere Bücher über medizinische Themen geschrieben hat. Wenn ich die Atomisten in ihrer Bedeutung und Aktualität einschätzen soll, dann ist nicht nur ihr Atomismus eine im Trend der modernen Geisteshaltung liegende Lehre, auch die damit einhergehende dialektische Lehre eines deterministischen Ablaufs aller Ereignisse, die aber ebenso zufällig sein sollen, entspricht dem Evolutionismus, auch wenn es bei den Atomisten nur um den normalen Ablauf der Natur ohne »survival of the fittest« geht. Wenn manche moderne Gehirnforschung das Denken des Menschen auf kausale Gesetze im Gehirn, die hinter der vordergründigen Erfahrung von Freiheit und eigenem Denken liegen, reduzieren will, macht sie Annahmen, die dem Atomismus nicht unähnlich sind. Neben dem Seinsbegriff des Parmenides und dem Werdensbegriff Heraklits hat die Elementenlehre Anaximanders und die Dialektik von Determinismus und Zufall am meisten Aristoteles herausgefordert und angeregt. Die Lehre der Atomisten führt er in der Physik an, nicht ohne gleich substantielle Gründe zu deren Widerlegung beizubringen. Im II. Buch der Physik sagt er über die Atomisten: »Es 127

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gibt auch Leute, die für diesen unseren Himmel und für alle Welt als Ursache den Zufall ansetzen. Infolge von Zufall sei nämlich der Urwirbel entstanden und die Bewegung, die die Stoffe entmischt und das Weltganze in diese Anordnung gebracht hat.« 179 Im Buch Über die Zeugung der Tiere führt Aristoteles aus: »Demokrit aber hat die Zweckursache außer Acht gelassen und führt alles, was die Natur gebraucht, auf die Notwendigkeit zurück.« 180

4.1 Zusammenfassung Das Weltmodell der Ionier ruht auf einem durchgehenden Materialismus auf und verleugnet damit die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis. Mit dem Wasser des Thales kann man ebenso wenig erklären, dass der Mensch Bewusstsein hat wie mit den Molekülen mancher heutzutage Schlagzeilen machender Naturwissenschaftler. Parmenides’ Seinsbegriff ist dann eine Korrektur des Materialismus der Ionier. Das Sein des Parmenides lässt sich heute auch von meditativen und mystischen Praktiken her erläutern. Das menschliche Handeln geht auf ein Sinnganzes. Dieses Sinnganze sucht der Mensch und findet dabei einen Anknüpfungspunkt am parmenideischen Begriff des Seienden. Der Mensch ist kein bewusstloses Teilelement in einem übergreifenden Geschehenszusammenhang, wie ihn die Ionier gesehen haben. Der durch Parmenides eingeführte Seinsbegriff, dass es nur das Seiende gibt und das Nichtsein nicht, stellt eine strenge Korrelation von Sein und Erkennen auf. Es geht dabei um eine Art Urerfahrung, dass wir mit der Wirklichkeit eins sind, dass es eine Gemeinsamkeit mit den von uns verschiedenen Dingen gibt, die wichtiger ist als die empirische genaue Beobachtung der Verschiedenheit und Getrenntheit. Die Gemeinsamkeit besteht eben darin, dass die von uns verschiedenen Dinge mit uns im Sein übereinkommen. Auch Aristoteles kritisiert den Materiebegriff der Ionier und Atomisten. Wenn etwas wird und schon Materie vorhanden ist, bedeutet das nicht, dass die Materie der Grund des Werdens ist, vielmehr muss die Form bzw. das Wesen als der Grund des Zieles des Werdeprozesses gedacht werden. Die Materie ist eine notwendige 179 180

Aristoteles, Phys. II, 5 196 a 25–35. Aristoteles, Gen. An. V, 8 89 b 3–6.

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Zusammenfassung

Ursache, so wie ein Auge nur mit durchsichtigem Gewebe möglich sein wird, oder eine Axt nur mit einem entsprechend geformten Eisen etwas taugt. Die differenzierende Beschreibung des Werdeprozesses mit Hilfe der Unterscheidung von vier Ursachen wird erst von Aristoteles geleistet. Dieser ist es auch, der erkennt, dass eine Form nicht werden kann, weil sie nicht materiell ist. Die aristotelische Naturphilosophie ist deshalb für das moderne Verständnis wichtig, weil Natur ein dem Menschen vorausliegendes und übergeordnetes Prinzip ist. Eine grenzenlose Veränderung des Organismus, wozu sich die moderne Genetik anschickt, ist nach Aristoteles allein schon deshalb nicht möglich, weil seiner Sicht nach die Technik immer die Natur nachahmen sollte. Durch die Bedeutung der Form und des Zieles für den Werdeprozess der Substanzen steht die aristotelische Erklärung in Spannung zur Darwin’schen Theorie, die vom rein materiellen Werden der Organismen ausgeht. Eine Diskussion der Nähe und Unterschiede der Theorien von Aristoteles und Darwin ist somit erforderlich. In den nächsten Abschnitten frage ich nach dem Wesen der Natur und dem Wesen des Werdeprozesses bei Aristoteles, um dann die Theorie von Darwin zu untersuchen.

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5. Aristoteles’ naturphilosophische Aspekte heute: die Zielstrebigkeit der Lebewesen; ökologisches und aristotelisches Kreislaufdenken von Verdunstung und Niederschlag

Die moderne Verwendung der Worte Universum und Kosmos versteht darunter ihre physikalische Bedeutung. Dabei werden die Erkenntnisse der nachantiken Physik bedeutsam, dass die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, wie von der antiken Physik angenommen, die Sonne um die Erde, dass das Universum – im Gegensatz zur Annahme der antiken Physik – ausgedehnt ist, dass der Anfang der Entwicklung des Universums mit dem Urknall geschah. Aber, so ist einschränkend anzumerken, trotz des großen Unterschieds von antiker und moderner Physik fragen beide nach dem All. Viele moderne Fragen, wie z. B. die nach dem Entstehen und Vergehen von Sternen, stehen im Mittelpunkt der Forschung der modernen Astronomie, wobei man von den entsprechenden Veränderungsprozessen wenig weiß. Wir versuchen uns diese Gasaggregate nahezubringen, indem wir Kategorien des Lebendigen wie Geburt und Tod auf diese Veränderungen der Sterne übertragen und von Geburt und Tod eines Sternes sprechen. Auch gibt es eine stattliche Anzahl von Perspektiven, die von unseren Interessen an Stoffen der Erde ausgehen, wobei wir versuchen, diese im Weltall zu finden. Denken wir an das Wasser, auf dessen Suche die amerikanische NASA ist, um Anzeichen von Leben im All zu finden. Es gibt sachliche Zusammenhänge, durch die uns heute Vorgänge im Universum mit dem Phänomen des Lebens und den mit diesem zusammenhängenden Elementen verbunden erscheinen. Und dies ist durchaus eine Ebene, auf der die Naturphilosophie des Aristoteles und deren Methode mit den modernen Naturwissenschaften in Verbindung gebracht werden kann. Aber es gibt weit mehr aktuelle Zusammenhänge. Unsere Erfahrungen vom Treibhauseffekt und der Klimaerwärmung nötigen dazu, die physikalische Perspektive auf das Universum auf Fragen der Bedingungen der Beeinflussung atmosphärischer Kreisläufe durch die Sonne und den Menschen zu erweitern. Obwohl Aristoteles dem antiken physikalischen Weltbild anhängt, hat er mit seiner 130

Aristoteles’ naturphilosophische Aspekte heute

Theorie des Einflusses der Sonne auf den atmosphärischen Kreislauf der Erde wichtige Fragen gestellt. Sein Wandlungskreislauf von Verdunstung und Niederschlag wird durch die moderne Ökologie, die die Prozesse der Erwärmung der Erde durch vom Menschen verursachte Abgase erforscht, ergänzt. Was bedeutet Physis/Natur bei Aristoteles? Explizit auf die biologische Methode begrenzt, bezieht sich Physis immer auf einen bestimmten Träger, dessen Bewegungsprinzip sie ist, und nicht auf die Gesamtnatur. Aristoteles sagt im Buch Physik: »Denn Naturbeschaffenheit ist doch eine Art Anfang und Ursache von Bewegung und Ruhe an dem Ding, dem sie im eigentlichen Sinne, an und für sich, nicht nur nebenbei zukommt.« 181 Der Gegensatz zur Naturbeschaffenheit sind künstliche, vom Menschen hergestellte Dinge, wie z. B. das Haus und alles, was vom Menschen gemacht wird. Künstliche Dinge haben ihren Anfangsgrund der Bewegung nicht in sich selbst (tén archén en heauto tés poiéseos), sondern in einem Anderen. 182 Physis kann ganz generell als Inbegriff dessen, was ohne Zutun des Menschen vorhanden ist, aufgefasst werden. Physis ist das vom Menschen Verschiedene, das mit Entstehen, Wachsen und Vergehen zu tun hat. Prozesse in der Natur, die das Entstehen und Vergehen von Substanzen beschreiben, werden von Aristoteles mit metaphysischen Unterscheidungen wie Möglichkeit/Wirklichkeit, Form/Materie und den vier Typen von Ursachen untersucht. Jörn Müller hebt beim natürlich Seienden dessen »autopoietischen Charakter« heraus: »Es hat den Ursprung von Ruhe und Bewegung in sich und besitzt somit einen autokinetischen Charakter.« 183 Jörn Müller ist der Auffassung, dass der Physis-Begriff von Aristoteles keine umfassende Allnatur beinhalte. 184 Diese Annahme ist zu untersuchen. Sie ist sicher richtig, wenn es um die Interpretation und Beobachtung der Prozesse von einzelnen Lebewesen geht. Das beobachtete Lebewesen wächst aus eigenen Kräften und Prinzipien, sodass die Annahme eines von außen wirkenden und ein Ziel vorgebenden platonischen Demiurgen falsch und überflüssig ist. In einer zweiten Reflexion auf das Naturstreben ist es jedoch sehr wohl richtig, die Leistungen der konkreten mit der Aristoteles, Phys. 192 b 21–23. Aristoteles, Phys. 192 b 28–29. 183 Jörn Müller, Funktion und Moral. Die Verschränkung von Deskriptivität und Normativität im physis-Begriff bei Aristoteles, in: Marko Fuchs und Annett Wienmeister (Hg.), Funktion und Normativität bei Darwin und Aristoteles, Bamberg 2016, S. 26. 184 Jörn Müller, ebenda., S. 24–30. 181 182

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Materie verbundenen Form zu beurteilen. Was bedeutet das, wenn Aristoteles erklärt: »Schließlich (sind die Dinge ursächlich) als das Ziel und Gute der anderen. Das Weswegen will doch ein Bestes und Ziel der anderen Dinge sein.« 185 Offensichtlich nimmt er dabei eine Verflechtung vieler Ziele an und impliziert eine Gesamtnatur. Ganz allgemein gilt doch, dass dann, wenn alle Individuen von Arten in der Regel das Beste erstreben, auch etwas über eine Strebetendenz der Gesamtnatur ausgesagt wird. Dass der Physis-Begriff sich auf den einzelnen Träger und die Gesamtnatur bezieht, kann man auch durch weitere Stellen im Werk des Aristoteles belegen. In der Schrift Über Werden und Vergehen sagt Aristoteles: »Da nach unserer Behauptung die Natur immer nach dem Besseren strebt, besser aber das Sein als das Nichtsein ist […] dieses aber unmöglich in allem gegeben sein kann, weil es in weiterem Bestand zum Prinzip steht, füllte der Gott in der noch übrigbleibenden Weise das Ganze auf, indem er das Werden unablässig machte.« 186 Thomas Buchheim weist darauf hin, dass Natur nicht als eine Reihe von Episoden wie eine schlechte Tragödie zu verstehen sei. 187 Vielmehr müsse in ihr »eine jede Substanz durch ihr Sein oder Nichtsein für die andere einen Beitrag leisten«, sonst gäbe es keine gemeinsame Organisation und keine Möglichkeit zur Verwirklichung von Gütern für die Beteiligten. 188 Buchheim weist ferner darauf hin, dass das teleologische Prinzip des Strebens nach dem Besseren für jede Naturtendenz gelte und einen fundamentalen Rang in der Philosophie des Aristoteles aufweise. 189 Ein kurzer Blick auf das Naturverständnis von Aristoteles zeigt die Unterschiede zum modernen Naturverständnis des Evolutionismus. Nach Ernst Mayr, dem bekannten Evolutionsforscher, entspricht die aristotelische Form und das Streben nach dem Besseren in der modernen Genetik dem genetischen Programm, und der Gott oder der unbewegte Beweger entspricht der Funktion der DNA. 190 Die moderne Genetik fasst Natur nur als gestaltbares Material auf. Wenn ein Schaf erfolgreich geklont werden kann, dann wird es gemacht. Aristoteles, Phys. 195 a 23–25. Aristoteles, Über Werden und Vergehen, zitiert nach der Ausgabe von Thomas Buchheim, Berlin 2010. 187 So Aristoteles, Met. 1090 b 19 f. 188 Buchheim, Aristoteles Über Werden und Vergehen, a. a. O., S. 98. 189 Buchheim, a. a. O., S. 543. Belege bei Aristoteles: Phys. 259 a 10–12; Cael. 288 a 2 f.; Met. 983 a 31–32. 190 Ernst Mayr, Die Evolution und die Vielfalt des Lebens, Berlin 1979, S. 223–255. 185 186

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Wenn es, wie das Schaf Dolly, 154 Krankheiten hat, wird man versuchen, die genetischen Konstruktionen zu verbessern. Von Aristoteles ist die Achtung vor der Würde von Pflanzen und Tieren zu lernen. Verbreitet ist die Vorstellung, Aristoteles habe ein kosmologisches Weltbild, das aber durch die moderne Wissenschaft überholt sei. Dies ist richtig, was die Erkenntnis der modernen physikalischbeschreibbaren Strukturen der Materie betrifft. Aristoteles lehrte, dass alle Körper nach einem natürlichen Ort streben. Er kennt noch keine Gesetze der Gravitation, der Elektrodynamik und der Thermodynamik. Bereits mit der Physik Newtons meinte man, einen völligen Bruch mit der aristotelischen Physik vollziehen zu müssen. In der Gegenwart ist man von der Physik her vorsichtiger geworden. Mit dem anthropischen Prinzip wird die Entwicklung des Kosmos so gesehen, dass sie das Auftreten des Menschen ermöglicht hat. 191 Von Aristoteles her ist auf die Biosphäre, die zum kosmologischen Weltbild gehört, zu verweisen. Aristoteles hat eine Biosphäre angenommen, die durch die materiellen Voraussetzungen zwar ermöglicht, aber nicht bestimmt wird. Eine für die Lebewesen verträgliche und bekömmliche Qualität von Erde, Wasser und Luft verdankt sich nicht der Schwerkraft. Mit Aristoteles lässt sich die Biosphäre dadurch von den Gesetzen der Materie abgrenzen, dass sie zielgerichtet ist, während die Physik bei der Materie eine umfassende Allgemeinheit dadurch anstrebt, dass sie die Zielgerichtetheit ausblendet. Wir kennen finale Ursachen aus unserer Erfahrung. Wir beabsichtigen etwas, z. B. einen Einkauf, und führen diesen dann aus, wobei wir in verschiedener Weise unseren Körper bewegen. Innerhalb unserer täglichen Erfahrung kennen wir auch den glücklichen Zufall. Wenn uns unerwartet etwas Gutes passiert, nennen wir das einen glücklichen Zufall. Nur weil wir intendierte Wirkungen kennen, weil wir wissen, was es bedeutet, etwas absichtlich zu tun, wissen wir, wenn etwas passiert, das nicht intendiert war. Weil es diese Regelmäßigkeit der Abläufe gibt, können wir uns in der Welt orientieren. Auch das Lebendige in Genaueres dazu bei Christian Weidemann, Zufall, Gott oder Multiversum? Die Feinabstimmung der Naturkonstanten und die Erklärungsbedürftigkeit des Lebens in der modernen Kosmologie, in: Hans-Gregor Nissing (Hg.), Natur, Darmstadt 2010, S. 182–196. Zentral dazu: John Barrow/Frank Tipler, The Anthropic Cosmological Principle, Oxford 1986. M. Rees, Just six numbers. The Deep Forces that shape the Universe, London 1999; ferner: A. Vilenkin, Kosmische Doppelgänger, Berlin, Heidelberg 2008; R. Collins, Evidence for fine-tuning, in: N. A. Manson (Hg.), God and Design, London 2003, S. 178–199. 191

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der Natur kennt eine Regelmäßigkeit der Abläufe. An verschiedenen Beispielen sehen wir, wie unabdingbar aber auch selbstverständlich teleologische Erklärungen bei den Lebewesen sind. In vielen Fällen können wir aus unserer Kenntnis des Lebens heraus das zweckgerichtete Verhalten eines Tieres deuten, so etwa, wenn wir sagen, dass der Hund zum Fressnapf geht, weil er Hunger hat, oder dass Vögel im Herbst kalte Gegenden verlassen, weil ihnen die Zeit des Winters eine zu geringe Nahrungsgrundlage bietet. Aus der Sicht der klassischen Tradition der Teleologie, wie sie Platon und Aristoteles entwickelt haben, ist die Ausrichtung auf die Naturzwecke etwas Ursprüngliches und Erstes, das mit den Lebewesen gegeben ist. Auch der Mensch, insofern er sich mit seinen Bedürfnissen vorfindet, insofern er sich schon immer wollend und triebempfindend vorfindet, ist ein solches Naturwesen. Bei allen Lebewesen, Pflanzen, Tieren und Menschen, strebt die Natur die jeweilige Bestform an, indem deren Materie durch ihre Form bestimmt wird. Auf ihrer über die Materie wirkenden Form beruht, dass die Lebewesen wachsen und schwinden, dass sie sich verändern. Von der Form wird im Zusammenhang der Erklärung von Lebewesen öfter die Rede sein. Der Baum wird ein Baum aufgrund seiner Form, die die Dynamik und Entwicklung der Materie mit der Orientierung durch die Zielursache leitet. Die Wahrnehmung kommt über die Form und Materie des Dinges und die Aufnahme der Form im wahrnehmenden Menschen zustande. Ohne die Formen, die wir den Dingen entnehmen und in ihrer Geistigkeit erfassen, würden wir keine realen Bedeutungen von den Dingen erkennen.

5.1 Die Würde der Pflanzen und Tiere. Das Lebewesen und sein Streben Zusammenfassende Merkmale von Lebewesen lassen sich über ihre Zustände angeben. Die verschiedenen Zustände des sinnlichen Lebewesens, Schlafen, Atmen, Wachsen, Altern, dienen seinem jeweiligen Wirklich-Sein in der Zeit, 192 sie sind teleologisch gerichtet und sollen in einer dem Lebewesen entsprechenden Zielsetzung gestaltet werden. Die Fortbewegung wird von allen sinnlichen Lebewesen ausgesagt. Sie ist nicht einheitlich und je nach der Art des Tieres handelt 192

Aristoteles, P. an. 639 b.

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Die Würde der Pflanzen und Tiere. Das Lebewesen und sein Streben

es sich um Fliegen, Schwimmen, Gehen und Kriechen. 193 Damit Fortbewegung stattfindet, bedarf es einer Kraft, also einer Wirkursache, aber vor allem einer Zweckursache, die die höchste Ursache ist: »Als ranghöchste erscheint die sogenannte Zweckursache, da sie den Begriff hergibt, der für künstliche wie für natürliche Dinge in gleicher Weise den Ausschlag gibt.« 194 Die Gesundheit des Lebewesens Mensch unterliegt primär nicht der Wirkursache als einer einzelnen Ursache, sondern ergibt sich formal durch das Zusammenwirken der Teile. Für Aristoteles und Kant ist der Organismus dadurch ausgezeichnet, dass die Teile voneinander Mittel und Ziele sind. Das Machen und Gestalten des Menschen wird, weil er ein Naturwesen ist, durch die Natur ermöglicht. Wenn die Veränderung des Stoffes mit einer Tätigkeit des Menschen, also einem Herstellen, zusammenhängt, gibt es zweierlei Perspektiven: derjenige, der das Produkt gebraucht (der Steuermann des Schiffes), und derjenige, der es herstellt, der Schiffsbauer. Das Fahren auf dem Meer ist die zielstrebige Tätigkeit, die für die andere normativ ist. 195 Sie ist auch für die Materie, aus der der Rumpf und das Ruder hergestellt werden, normativ. Die erfahrenen Schiffsbauer wissen, welches Holz eine entsprechende Stabilität und Langlebigkeit bei nicht allzu hohem Eigengewicht hat. Insofern ist die Wahl dieses bestimmten Holzes selbst eine Notwendigkeit. Aristoteles bringt das Beispiel der Säge. Mit einer Säge will man ein Stück Holz durchsägen, dies ist das Ziel, das »Weswegen«. Damit die Säge das Gewünschte leisten kann, muss sie aus Eisen sein, und dies ist eine Notwendigkeit, die der Zielsetzung des Sägens unterliegt. 196 Analog dazu könnte man die Evolution von Aristoteles her denken. Die Natur, die das Beste der Lebewesen anstrebt, bedarf dazu der Evolution mit den notwendigen Mitteln der Mutation und Selektion. In diesem Sinne wäre der Evolutionstheorie von Darwin aus der Sicht des Aristoteles ein Naturstreben nach dem Guten bzw. Besten hinzuzufügen. Wie wir im Abschnitt über Darwin sehen werden, ordnet Darwin das Streben nach einer bestmöglichen Ausstattung aber dem Mechanismus der Selektion unter.

193 194 195 196

Aristoteles, P. an. 639 b. Aristoteles, P. an. 639 b 21–25. Aristoteles, Phys. 194 b. Aristoteles, Phys. 200 a 10–15.

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Aristoteles’ naturphilosophische Aspekte heute

Wir beobachten, wie die Schwalbe ihr Nest baut, die Spinne ihr Netz, die Bienen die Waben. Der Regelmäßigkeit, mit der wir dieses Verhalten beobachten, liegt eine Naturtendenz zugrunde. Eine solche nimmt Aristoteles in der Natur an. In der Schrift Über die Teile der Tiere sagt er, dass die Natur »wie ein vernünftiger Mensch« die einzelnen Organe nach der Nützlichkeit unter den Lebewesen verteilt, ferner, dass die Natur (oder Gott und die Natur) nichts Überflüssiges bzw. nichts umsonst tut. 197 Wie im vorigen Abschnitt schon angesprochen wurde, spricht Aristoteles des Öfteren davon, dass die Wachstumsprozesse der Natur auf ein Bestes gehen. Lässt sich diese Aussage noch weiter klären? Ist sie nur bildlich oder metaphorisch gemeint, oder gibt es bei Aristoteles einen mehrschichtigen Begriff, der die Natur als Gesamtheit meint? Die verschiedenen Beispiele für die Teleologie, dass der Tannensamen wieder eine Tanne, das Amselei wieder eine Amsel, das Ameisenei wieder eine Ameise ergibt, werden zwar jeweils vom einzelnen Vorgang des zielstrebigen Vorgangs ausgesagt, aber bei der Reproduktion des einzelnen Vorgangs ist durchaus eine allgemeine Artform im Spiel. Der Vater gibt bei der Zeugung des Kindes seine Artform weiter. Ontologisch betrachtet, individuiert sich diese Form zusammen mit der Materie zur individuellen Artform des Kindes. Dass dies so verläuft, lässt sich für alle Zeugungen sagen. »Zum Naturzweck des Vaters gehört es zweifellos, dieses sein Kind zu zeugen. Der Naturzweck wird dem Kind mit dem Art-Programm – was eben die Natur beinhaltet – mitgegeben. Das Kind soll aber nicht sich selbst zeugen, sondern ein weiteres Kind.« 198 Regelmäßige Naturabläufe sind in sich zweckhaft. Wenn aus einer Zeugung eine Missgeburt resultiert, etwa ein Kalb mit zwei Köpfen, dann ist dies ein Zufall. Aristoteles bringt den Zufall als Ausnahme von der Regel, dass der Naturprozess sicher sein Ziel erreicht, und nimmt zunächst Handlungen des Menschen als Beispiele. Aus Zufall geschehen immer Ereignisse, die keinen Zweck haben. Der Zufall bringt zwei Abläufe zusammen, die sonst nicht zusammengehören, aber durch einen bestimmten Umstand, eben den Zufall, zueinander in Beziehung gesetzt werden. Auf zwei sich kreuzenden Fahrradwegen stoßen zwei Fahrradfahrer zusammen, die gerade am Punkt der Kreuzung der beiden Wege unaufmerksam waren. Aristoteles, De part. an. 687 a 10 ff. Ingrid Craemer-Ruegenberg, Der Begriff des Naturzwecks bei Aristoteles, in: Hans Poser (Hg.), Formen teleologischen Denkens, Berlin 1981, S. 21. 197 198

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Die Würde der Pflanzen und Tiere. Das Lebewesen und sein Streben

Ansonsten würde jeder auf seinem Weg völlig ohne Berührung mit dem anderen bleiben. Aristoteles bringt das Beispiel eines Bürgers, der auf den Markt geht, um eine politische Rede zu hören. Dabei trifft er auf einen Schuldner, der ihm seine Schulden bezahlt. Sein Zweck war es nicht, auf den Markt zu gehen, um einen ausstehenden Betrag zu erhalten. Dies ergab sich nebenbei zu seinem Zweck. 199 Diese Art von Zufall hat einen angenehmen Zweck, der gleichwohl nicht intendiert war, zur Folge. Es gibt andere Arten von Zufällen, die negative Folgen haben, so, wenn einem Dachdecker ein Ziegel auskommt und dieser einen vorbeigehenden Passanten erschlägt. Auch Tiere können in diesem Sinne von Zufällen begünstigt oder betroffen werden. So z. B. kam ein Pferd zufällig aus dem Stall heraus, entging aber dadurch einem später einsetzenden Brand im Stall, obgleich es nicht in der Absicht herausging, dem Brand zu entgehen. 200 Von bestimmten Zufällen wird auch als von Fügungen gesprochen. Hier liegt immer der Bezug auf einen handeln-könnenden Menschen vor. Jemand handelt und meint, dass etwas, was ihm zustoße, Fügung sei. Bei Unbelebtem, bei Tieren und bei kleinen Kindern gibt es keine Möglichkeit, etwas als Fügung zu interpretieren. 201 Voraussetzung für das Zutreffen von Fügung ist, dass jemand schon eine Vernunftperspektive einnehmen kann, aus der heraus er einen normalen Ablauf planen würde, der unter nicht geänderten Umständen zu einem Unheil geführt hätte: »Aufgrund von Fügung sagen wir von solchen Ereignissen, die im Bereich sinnvoll gewollter Handlungen bei Wesen, die die Fähigkeit zu planendem Vorsatz haben, zufällig eintreten.« 202 Durch einen Zufall ändert jemand seinen ursprünglichen Plan. So hat jemand einen Flug gebucht, den er danach wieder absagt. Aber dadurch ist er nicht in der Maschine, die abstürzt. Bei der Diskussion des Zufalls bezieht Aristoteles die Weltentwürfe von Empedokles und der Atomisten ein: »Es gibt auch Leute, die für diesen unseren Himmel und für alle Welten als Ursache den Zufall ansetzen. Infolge von Zufall sei nämlich der (Ur-)Wirbel entstanden und die Bewegung, die (die Stoffe) entmischt und das Welt-

199 200 201 202

Aristoteles, Phys. 197 b 30–a 5. Aristoteles, Phys. 197 b 15. Aristoteles, Phys. 197 b 15. Aristoteles, Phys. 197 b 23–25.

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Aristoteles’ naturphilosophische Aspekte heute

ganze in diese Anordnung gebracht hat.« 203 Nach Aristoteles liegt hier ein innerer Widerspruch vor. Auf der einen Seite lehren die Vertreter dieser Auffassung, dass Tiere und Pflanzen nicht zufällig entstanden sein könnten, auf der andern »soll aber der Himmel mit seinen göttlichsten unter den Erscheinungen nur so von ganz allein geworden sein und eine derartige Ursache wie für die Tiere und Pflanzen soll es für ihn nicht geben«. 204

5.2 Natur und Kunst als Ursachen Wie verhält es sich nun mit der Naturfinalität? Ist die Finalität nur die des einzelnen Wesens oder ist dieses über die Finalität mit allen anderen verbunden? Der einzelne Vorgang wird zwar vom einzelnen Lebewesen verursacht und nicht etwa von der blinden Allmutter »Natur«, aber die dabei ins Spiel kommende Formursache ist die Formursache der Art und insofern allgemein. Der bekannte Aristoteles-Interpret Hans Wagner fasst in seinem Kommentar zur Physikvorlesung des Aristoteles den Sachverhalt folgendermaßen zusammen: »Natur [Herv. d. Verf.] heißt bei Aristoteles einmal der Inbegriff der Naturprodukte; Natur besitzt aber auch der einzelne Gegenstand bzw. das einzelne Naturprodukt. Das einzelne Naturprodukt ist eben einerseits vom Naturinbegriff hervorgebracht, gebildet und bestimmt, andererseits dank der ihm eigenen Natur zu spezifischen Leistungen und Wirkungen befähigt – an ihm selbst und an anderen Gegenständen.« 205 Die Teleologie ist jedoch auch für Aristoteles ein universales Prinzip. In der Politik erklärt er: »dass die Pflanzen wegen der Tiere, und dass diese des Menschen wegen da sind, die zahmen zu Dienstleistung und Nahrung, die wilden, wenn nicht alle, doch die meisten zur Nahrung und sonstiger Hilfe, um Kleidung und Gerätschaften von ihnen zu gewinnen.« 206 Damit spricht Aristoteles eine äußere Zweckmäßigkeit an, dass ein Lebewesen auf die Zwecke eines anderen hingeordnet ist und diesen dient. Die vorrangige Zweckmäßigkeit ist jedoch die innere, die der eigenen Selbsterhaltung dient. 203 204 205 206

Aristoteles, Phys. 196 b 24–28. Aristoteles, Phys. 196 b 33–35. Hans Wagner, Aristoteles, Physikvorlesung, Kommentar, Darmstadt 1972, S. 445. Aristoteles, Pol. 1256 b.

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Natur und Kunst als Ursachen

In der Natur gibt es Zwecke, die mit dem Wesen des natürlich Seienden angestrebt werden, die nicht auf die Zieleingabe eines von außen kommenden zwecksetzenden Verstandes zurückgehen. Gerade diese falsche Annahme wird aber in der Geschichte der Teleologie gemacht. William Paley, der Lehrer von Darwin, hat 1809 in seiner Natürlichen Gotteslehre die vom Menschen konstruierte Uhr als das Paradigma natürlicher Zwecke eingeführt. Die Uhr mit ihrem geregelten Ablauf muss von einem Menschen kunstvoll konstruiert und geschaffen worden sein. Ihre gerichtete Bewegung ergibt sich gerade nicht aus der Natur. Die Uhr soll nun für Paley für alle zielgerichteten Bewegungen in der Natur stehen und diese illustrieren. So wie die Uhr auf den Uhrmacher verweist, sollen alle lebendigen Wesen auf Gottes Ratschluss verweisen. Mit dem Beispiel der Uhr wird die zielstrebige Bewegung, die für Aristoteles im Lebewesen und in der Natur liegt, gerade aus der Natur herausinterpretiert. In ganz anderer Weise gibt es bei Aristoteles eine Ähnlichkeit der Kunst zur Natur, während Darwin umgekehrt die Wirkweise der Natur aus der künstlichen Zucht der Natur durch den Menschen ablesen will. Darwins berühmtes Hauptwerk heißt ja Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Auf den philosophischen Zusammenhang, der Darwin mit Aristoteles verbindet, werde ich im nächsten Kapitel eingehen. »Auch die Kunstfertigkeit plant nicht«, sagt Aristoteles. Was heißt das? Wir müssen dabei nicht an das bloße Machen oder an die Klugheit denken. Die Klugheit z. B. hat immer Alternativen zu überlegen. Sie muss planen. Wenn die Kunst nicht plant, heißt das zunächst, dass das durch Kunst Gemachte eine genaue Regel haben muss, ohne dass wirkliche Alternativen vorhanden sind, nach denen es produziert werden könnte. Wenn jemand den Eindruck einer Landschaft auf einem Aquarell festhalten will, dann muss er versuchen, die Idee, die ihm vorschwebt, auf das Papier zu bringen. Es geht dann um die Übersetzung des geistigen Bildes in das reale auf dem Papier. Oder nehmen wir eine Komposition. Wenn Mozart eine Sonate komponiert, dann geht es auch darum, dass die Idee von dieser bestimmten musikalischen Gestalt von ihm umgesetzt wird. Dabei ist kein Planen vonnöten. Bestimmte Voraussetzungen wie Papier, Schreibfeder und Tinte müssen vorhanden sein. Das muss geplant werden. Dass die Kunst nicht plant, hat somit die Bedeutung, dass eine Mozart-Sonate genau so vom Komponisten niedergeschrieben wurde, wie sie ihm im Entwurf vorgeschwebt ist. Und freilich würde eine 139

Aristoteles’ naturphilosophische Aspekte heute

Mozart-Sonate wegen ihrer Vollkommenheit ausschließen, dass an bestimmten Stellen in ihr andere musikalische Ausdrücke besser gewesen wären. Können wir den Satz der Aristoteles, »dass die Kunstfertigkeit nicht plant«, noch anders interpretieren? Eine andere Deutungsmöglichkeit bestünde, wenn wir an den Ablauf einer Vorführung oder Demonstration denken und das durch Gewohnheit eingeübte Können des Künstlers. Jemand, der eine akrobatische Kunst beherrscht, muss nicht überlegen, wie er das, was er zeigen will, etwa ein Kartenkunststück, ausführen soll. Jeder Handwerker, etwa ein Maurer oder ein Schreiner, der sein Handwerk beherrscht, muss bei seinen Verrichtungen nicht lange überlegen. Der Maurer wird beim Hochziehen einer Wand ohne langes Überlegen die richtigen Steine und die richtige Menge Mörtel auswählen. Vielleicht gilt dies auch vom Klaviervirtuosen? Kommt es Aristoteles darauf an, zu zeigen, dass der Ablauf der Handlung, weil er eingeübt ist, deshalb ohne Überlegung geschieht, weil er mechanisch abläuft? Die Eingeübtheit einer Handlung gäbe es aber nur im Fall ihrer Perfektion. Am Anfang der Kunst stünde hier sehr wohl die Überlegung, wie die Handlung am besten durchzuführen ist. Auch wenn die akrobatische Kunst beherrscht würde, gäbe es immer wieder Momente, in denen überlegt werden müsste. Es gäbe dann sehr wohl die Überlegung, sodass diese Deutung nicht stimmen kann. Wie ist es also zu verstehen, dass die menschliche Kunst dem Ablauf der Natur gleicht und die Natur nichts ohne Zweck tut? Mit Aristoteles ist zwischen der Erfahrung, die Kenntnis des Einzelnen ist, und der Kunst, die auf das Allgemeine geht, zu unterscheiden. Die Erfahrenen, sagt er in der Metaphysik, treffen mehr das Richtige als diejenigen, die ohne Erfahrung nur den allgemeinen Begriff besitzen. 207 »Die Erfahrenen kennen nur das Dass, aber nicht das Warum.« Die Künstler aber »kennen das Warum und die Ursache«. Deshalb, so sagt er, »stehen auch die leitenden Künstler in jedem einzelnen Gebiete bei uns in höherer Achtung, und wir meinen, dass sie mehr wissen und weiser sind als die Handwerker, weil sie die Ursachen dessen, was hervorgebracht wird, wissen«. 208 Mit dem Satz des Aristoteles, »die Kunst überlegt nicht«, ist nicht der Künstler gemeint, sondern die Form des Produkts, die in der Seele des Künstlers ist. Die Strategie von Aristoteles ist nicht, zu verneinen, dass die Überlegung in der Kunst gegenwärtig 207 208

Aristoteles, Met. 981 a 16 ff. Aristoteles, Met. 981 a 30-b 1.

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ist und auf der anderen Seite in der Natur fehlt. Es geht Aristoteles darum, die eigentlichen Ursachen herauszuarbeiten, und das sind die Formursachen. In der Kunst und in der Natur sind die eigentlichen Ursachen die Formen. Die Form der Sonate in der Seele Mozarts schafft die Komposition, die wir vorliegen haben. Die Form des Hauses in der Seele des Erbauers ist verantwortlich für das fertige mit Steinen und Zement gebaute Haus. Mit der These: »die Kunst überlegt nicht«, sieht Aristoteles von der Bewegungsursache ab und rückt die Formursache in den Vordergrund. Der vorschnelle Einwand gegen Aristoteles, dass das Ziel in der Kunst wegen der Kunst des menschlichen Handwerkers da sei, verliert durch die Erkenntnis, die die Bedeutung der Form hervorhebt, an Gewicht. In der Natur gibt es eben auch die Bedeutung der Form, die hinter dem Werden steht. In der Physik sagt Aristoteles: »Unverständlich ist der Einwand, man könne doch nicht meinen, sie (die Naturabläufe) erfolgten wegen etwas, wenn man ja nicht sehe, dass das Anstoßgebende planend mit sich zu Rate gegangen sei.« 209 Die Form jedes Naturwesens sorgt für ein Wachstum, das dasselbe Naturwesen wiederum zum Ziel hat. Aristoteles erklärt: »Naturgemäß nämlich (verhält sich) alles, was von einem ursprünglichen Antrieb in sich selbst aus in fortlaufender Veränderung zu einem bestimmten Ziel gelangt.« 210 Wenn im menschlichen Handeln aufgrund der Ermöglichung durch die Form Finalität vorliegt, dann auch in der Produktion der Natur, die ebenfalls auf der Dynamik der Form aufruht. Am aufschlussreichsten aber ist dann der Fall, dass ein Arzt sich selbst behandelt; denn der Arzt wendet dabei aufgrund seiner Kenntnis der Medizin die Formursachen der Gesundheit auf sich selbst an. Aristoteles bemerkt dazu: »denn genauso liegen die Dinge auch bei der Natur.« 211 Aristoteles lehrt hier dasselbe wie Platon. Die Dinge sind von Natur aus gut, und Platons Idee des Guten sagt geradezu, dass die lebendigen Dinge ein Streben nach dem Guten haben. Die Zielstrebigkeit der Natur kann unterbrochen bzw. gestört werden, wenn Krankheiten oder Fehlbildungen vorkommen. Wenn wir Tiere kennen, z. B. eine Amsel, ein Pferd oder eine bestimmte Hunderasse, dann verstehen wir darunter immer ein gesundes Exemplar, weil das das normale ist. Wer weiß, was ein Schäferhund ist, kann anhand des 209 210 211

Aristoteles, Phys. 199 b 26–28. Aristoteles, Phys. 199 b 15–17. Aristoteles, Phys. 199 b 27–32.

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Aristoteles’ naturphilosophische Aspekte heute

Fells oder des Gebisses auch einen gesunden von einem kranken unterscheiden. Auch die Kunst der menschlichen Zucht von Tieren bleibt innerhalb der Artgrenzen. Darwin hat zwar 1859 ein Buch mit dem Titel Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl veröffentlicht, aber der Titel ist etwas paradox, weil gerade die menschliche Nachzucht von Tieren immer gezeigt hat, dass durch die Zucht nur Varianten innerhalb von Arten, aber keine Artüberschreitungen vorkommen. Es gibt dann Hunde, Pferde und Kühe mit verschiedenen Eigenschaften, aber aus einem Hund wird kein schwimmendes oder fliegendes Tier. Die Überschreitung von Artgrenzen in Millionen Jahren ist jedoch gerade das Thema der neuen Theorie von Darwin. Dieser ergänzt dabei, wie ich im sechsten Kapitel zeigen werde, die Zielstrebigkeit der Form durch die natürliche Selektion, die auf dem Variantenreichtum, das die Zielstrebigkeit des Lebewesens zu bieten vermag, aufbaut und eine Auslese trifft. Dass dabei die Natur ohne jede Angleichung und Zielstrebigkeit verfährt, ist die These des Neodarwinismus, die z. B. bei Dawkins ganz einseitig an der unberechenbaren Dynamik des Gens festgemacht wird. 212 Die Auffassung von Dawkins wird in der Gegenwart auch durch neue empirische Forschungen 213 widerlegt. Eine Beschreibung der Forschungsdifferenzierungen findet sich bei Müller-Wille und Rheinberger. Dort wird festgestellt: »Das um das Gen zentrierte genetische Wissen und die um das Genom zentrierte genetische Forschung wird gegenwärtig in einem dreifachen Sinne rekontextualisiert: unter den Gesichtspunkten der Evolution, der Entwicklung und schließlich des Stoffwechsels.« 214 Der Organismus reproduziert sich nach der Auffassung des Aristoteles gerade deshalb, weil er einer Regelmäßigkeit entspricht. Das gesunde Naturwesen stellt so etwas wie Normalität dar, die in der Zielstrebigkeit der Natur begründet ist und nicht in einer besonders großen, aber zufälligen statistischen Häufigkeit. Wenn eine Mehrheit Richard Dawkins, Das egoistische Gen, Heidelberg 1976. Evolutionstheoretiker wie David Sloan Wilson und Stephen Jay Gould haben diese Position kritisiert. 213 Denis Noble, The Music of Life, Oxford 2006. 214 Staffan Müller-Wille, Hans-Jörg Rheinberger, Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme, Frankfurt 2009, S. 126. Hinter diesen Forschungsbeschreibungen verbirgt sich die Feststellung, dass die ganzen weltanschaulichen Ideologien vom »egoistischen Genom«, wie sie von Dawkins entwickelt wurden, ad acta gelegt werden können. 212

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von Bienenvölkern bei warmem und trockenem Wetter nicht mehr zu blühenden Pflanzen ausfliegen würde, würden wir nicht sagen, dass es eben bei einer Mehrheit der Bienen so sei und bei den anderen nicht, sondern wir würden auf eine Krankheit der Bienen schließen. Wenn plötzlich 60 % der Menschen, die berufsmäßig am Computer arbeiten, Kopfweh hätten, würden wir nicht sagen, dass deshalb Kopfschmerzen normal seien, sondern wir würden die Computer untersuchen. Das naturhafte Streben nach dem Guten, das in der Natur ohne beobachtbare geistige Intention stattfindet, wurde in der christlichen Philosophie im Mittelalter, etwa bei Thomas von Aquin, modifiziert. So lehrt Thomas, dass ein Ziel nur Ursache sein kann, insofern es antizipiert wird; antizipiert aber werden könne es nur durch ein Bewusstsein. 215 Nach Thomas von Aquin handeln die körperlichen Naturdinge, die selber keine Erkenntnis haben, trotzdem zielorientiert, nämlich absichtlich. Sie erreichen dieses Ziel nicht aus ihrer eigenen Absicht; denn sie haben ja keine Erkenntnis. Der Pfeil des Bogenschützen fliegt ins Ziel, weil ihn die Absicht des Schützen lenkt. Bei den Naturdingen, die selbst keine Absicht haben, nennen wir die lenkende Kraft »Gott«. 216 Thomas begreift wie Aristoteles die Technik bzw. die Kunst in Analogie zur Natur. Die Natur mit ihrer Zielgerichtetheit stellt das grundlegende Prinzip dar, während die Kunst gewissermaßen wie die Natur handelt. Die Technik handelt nicht völlig von der Natur losgelöst; denn z. B. der Schiffsbauer folgt in seinem Herstellen den Eigenschaften und Eigenheiten des Holzes. Thomas dreht jedoch das Verhältnis von Natur und Kunst um und hebt die empirische beobachtbare Verwurzelung der Naturfinalität auf. Die Natur, so sagt Thomas, »ist nichts anderes als eine gewisse Kunst, nämlich die Kunst Gottes, die den Dingen eingegeben ist und durch die die Dinge selber auf ihr bestimmtes Ziel hin ausgerichtet werden«. 217 Wie verhalten sich hier die Erklärungen von Thomas und Aristoteles? Aristoteles begrenzt seine Theorie auf die Annahme eines Zielstrebens der Natur und nimmt keine planende intentionale Ursache an, eine planende Ursache, die dann, weil sie intelligent ist, 215 Robert Spaemann, Teleologie, in: Handlexikon der Wissenschaftstheorie, hg. von Helmut Seiffert u. Gerald Radnitzky, München 1992, S. 366. 216 Thomas von Aquin, Summa Theologica I, q.2, a.3. 217 Thomas von Aquin, Physicorum libris 2, 1.14, n.8.

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von der Natur verschieden sein muss. Erst über metaphysische Überlegungen, dass der Artbegriff, wie oben festgestellt wurde, in eine Gesamtnatur eingebettet ist und dass die Formen durch Liebe zum unbewegten Beweger 218 bewegt werden und dieser geistig ist, erreicht Aristoteles dasselbe Endresultat. Die die biologische Ebene verkürzende theologische Begründung bei Thomas von Aquin hat, nach der Auffassung von Robert Spaemann, weitreichende Folgen durch problematische Entwicklungen innerhalb der Theologie gehabt. Im 15. Jahrhundert, also in der Zeit, in der die Philosophie von Thomas nicht mehr einflussreich war, hat man das teleologische Handeln Gottes rein der Theologie, also der Lehre von Gott, zugeschlagen. Die Naturphilosophie sollte sich nur mit Kausalprozessen befassen. Hinter diesen mag zwar der göttliche Maschinenbauer stehen, aber dessen Annahme trage zum Verständnis der Naturdinge nichts bei. Die Naturphilosophie interpretiert das Lebendige mechanistisch, die Theologie will dieses aufheben und bezieht die Zielstrebigkeit unmittelbar auf das Wirken Gottes. 219 Eine solche theologische Interpretation hat Darwin schließlich in der Lehre der natürlichen Theologie von William Paley angetroffen. Die Zweckmäßigkeit ist dann nur noch eine äußere. Aristoteles diskutiert diese in der Physik. Wenn gesagt wird, dass es regnet, damit der Weizen wächst, dann ist damit keine innere Zweckmäßigkeit erkannt; denn es kann auch so viel regnen, dass das Getreide verfault. Zunächst ist der Regen eine Phase des Wasserkreislaufs: Der aufsteigende Regen, der sich in Wolken sammelt, muss irgendwann einmal wieder auf die Erde fallen. Nicht ausgeschlossen wird durch dieses Argument freilich, dass Regen und Feuchtigkeit durch den vom Menschen zu erkennenden Normalfall sehr wohl zum Wachstum beitragen. Ohne eine Regel und deren in ihr formulierbare positive Wirkung gäbe es kein Wachstum. Es regnet nicht deshalb, damit das Getreide auf dem Feld verdirbt, sondern dies hat sich als beiläufige Folge ergeben. Ebenso ist es bei organischen Teilen der Natur. Aristoteles bemerkt ferner, die Zähne wüchsen »mit Notwendigkeit aus dem Kiefer heraus, und zwar die vorderen scharf, geeignet zum Abbeißen, die Backenzähne aber breit und daher brauchbar zum Zerkleinern der Nahrung«, 220 und so könne nicht damit argumentiert werden, dass dies einfach so passiere. Die 218 219 220

Aristoteles, Met. 1072 »hos eromenon«. Robert Spaemann, Die Frage Wozu?, Stuttgart 1981, S. 83–96. Aristoteles, Phys. 198 b 23–26.

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Natur und Kunst als Ursachen

kausalen Abläufe, die zu den Formationen der Schneidezähne und der Backenzähne führen, ergeben eine Ausstattung, die für das Lebewesen am besten ist. Die Regelmäßigkeit, mit der die Wachstumsprozesse in den Schneide- und Backenzähnen resultieren, verlangt nach einer Erklärung durch die Zielursache. Aristoteles sagt: »Die Naturbeschaffenheit aber ist Ziel und Weswegen: Welche Gegenstände bei fortlaufend erfolgender Veränderung ein Ziel haben, bei denen ist eben dieser letzte Punkt auch das Weswegen.« 221 Doch zurück zu den konkurrierenden Erklärungen der Zielstrebigkeit von Aristoteles und Thomas. Die Lösung von Aristoteles hat den Vorzug, dass die normative Ausrichtung der Natur der Biologie eine Arbeitsgrundlage gibt und bei der Naturphilosophie als Disziplin verbleibt, während die Erklärung der natürlichen Zielstrebigkeit durch göttliches Handeln bei Thomas die Naturphilosophie ihrer impliziten normativen Voraussetzungen beraubt. Dass die Zielstrebigkeit der Natur, nachdem sie göttliches Thema geworden war, zur Verwissenschaftlichung der Natur beitrug, war von Thomas zwar nicht intendiert, war aber doch eine entfernte Folge, eine Art Nebenwirkung davon. Auch in gegenwärtigen Diskussionen lässt sich beobachten, dass die Kritik an der Evolutionstheorie gleich auf die radikale Alternative von Gott oder Materie gebracht wird. Nächstliegende Alternativen wie die Kritik der materialistischen Evolutionstheorie vom geistigen Wirken des Menschen her werden nicht thematisiert. Um die Zweckmäßigkeit in der Natur zu illustrieren, gibt es zwei schöne Bilder, eines von Aristoteles und das andere von Platon. Für Aristoteles ist der Mensch ja auch ein Naturwesen. Dass die Natur auf das Beste geht, zeigt sich dann, wenn der Arzt, der durch die Medizin heilen kann, sich selbst heilt. Er tut dies über gerichtete Naturkräfte, die er in seinen Dienst stellt. Der Arzt, der sich selbst heilt, verdeutlicht durch sein Handeln das Naturstreben. Platon führt seine Theorie über das Gespräch mit Anaxagoras ein. Nach dessen Naturerklärung sei anzunehmen, dass alles in der Natur durch die Vernunft angeordnet sei. Bei der Anwendung seiner Theorie bringt Anaxagoras jedoch wieder materielle Ursachen ins Spiel wie »die Luft, den Äther und das Wasser und manches Ungereimte mehr«. 222 Dies widerspricht jedoch einer Einsicht, die Platon durch Sokrates ausspricht. Die erste Annahme von Anaxagoras, der Sokrates zustimmt, heißt, 221 222

Aristoteles, Phys. 194 a 28–30. Platon, Phaidon 98 a-d.

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Aristoteles’ naturphilosophische Aspekte heute

dass alle Naturursachen mit Vernunft wirken. Wenn es dann aber um die Ursachen gehen würde, wegen denen Sokrates noch im Gefängnis sitzt, wären es keine materiellen, wie Anaxagoras argumentiert hätte. Sokrates sagt nämlich: »Ich sitze deswegen hier, weil mein Leib aus Knochen und Sehnen bestehe und weil die Knochen fest und durch Gelenke voneinander getrennt seien, während die Sehnen gespannt und wieder gelockert werden können, wobei sie die Knochen samt dem Fleisch und der Haut, die das zusammenhält, rings umgeben. Während nun die Knochen in ihren Gelenken hangen, würden die Sehnen bald gelockert, bald wieder angespannt und setzten mich dadurch instand meine Glieder zu biegen und das sei der Grund, weshalb ich so zusammengekauert hier sitze.« 223 Der wahre Grund dagegen sei, dass Sokrates es für besser befunden habe, die Strafe der Athener auf sich zu nehmen und der Polis zu gehorchen. »Denn beim Hunde«, so sagt er, »ich glaube, diese Sehnen und Knochen wären schon längst in Megara oder bei den Boiotiern, fortgetragen von der Vorstellung des Besten, hätte ich nicht geglaubt, es sei gerechter und schöner, statt zu fliehen und wegzulaufen, das Gericht der Stadt über mich ergehen zu lassen, mag es ausfallen, wie es will.« 224 Das Beispiel des Sokrates lehrt uns, dass der Mensch nach der Erkenntnis des Besten handeln kann und handeln soll. Nicht der mechanische Apparat des Körpers ist das eigentlich Bewegende, sondern die vernünftige Einsicht, die das für den Menschen Gute erstreben kann. Aristoteles stimmt mit Platon darin überein, dass die jeweilige Naturform das Gute ist, auch wenn er der platonischen Idee des Guten kritisch gegenübersteht. Gerade in unserem Zusammenhang wird nun der Gesichtspunkt des Guten triftig. Bei der Weitergabe der Naturform sind Form und Zweck identisch. Wenn der Vater nun ein Kind zeugt, dann gibt er als individueller Mensch die Form des Menschen weiter an das Kind, das ebenfalls ein individueller Mensch ist mit der Möglichkeit, ebenfalls die Form des Menschen weiterzugeben. Die Form ist dasjenige, was dem Träger zukommt, was aber auch überindividuell ist. Wenn Aristoteles in biologischer Weise davon spricht, dann meint er einfach den empirischen Zeugungsvorgang, der darin besteht, dass ein Mensch einen Menschen zeugt. Damit wird das teleologische Prinzip auf eine leicht verständliche, aber nicht ganz richtige Weise illustriert, weil es nämlich durch den Träger und d. h. auch durch die 223 224

Platon, Phaidon 98 d. Platon, Phaidon 99 a.

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Die Biosphäre als Element des Kosmos. Der Kosmos als Lebensraum

Materie geschieht. Diese leicht eingängige Formulierung der aristotelischen Biologie, »Der Mensch zeugt einen Menschen«, ist in Bezug auf das philosophische Verständnis der Teleologie irreführend, weil hier die Einheit von Form und Ziel als Ursache vorrangig ist und nicht der Träger. Vater und Mutter wirken als Bewegungsursache. Die Einheit von Form und Ziel ist der eigentliche ermöglichende Grund und die Ursache. Insofern beide, Platon und Aristoteles, diesen Formbegriff haben, ist dieser geistig und wurzelt in metaphysischen Überlegungen, die sich bei Aristoteles zum unbewegten Beweger und bei Platon zur Idee des Guten bzw. zum Demiurgen verlängern lassen. Während Aristoteles eine Ewigkeit der Arten und damit der Formen annahm, hat Platon im Timaios den göttlichen Künstler, den Demiurgen, auch auf die Voraussetzung der Formen bezogen.

5.3. Die Biosphäre als Element des Kosmos. Der Kosmos als Lebensraum Aristoteles ist derjenige Naturphilosoph, der in Ergänzung zum modernen physikalischen Weltbild uns auf die ursprüngliche Gegebenheit einer Biosphäre hinweisen kann. Es geht dabei nicht um die spezifisch zeitgebundenen Bewegungen der Himmelssphären, wohl aber um den Einfluss, den die Sonne auf die Erde und deren Atmosphäre hat. In der Schrift Über Werden und Vergehen hat Aristoteles auf den Wandlungskreislauf von Wasser, Feuer und Luft hingewiesen und auch darauf, dass diese immer wieder in sich selbst zurückmünden. 225 Thomas Buchheim weist darauf hin, »das Kreislaufsystem […] muss also ein strikt in sich geschlossenes sein, das einen Gesamtbestand wandelbarer Materie auf alle relevanten Stationen des Kreislaufs verteilt«. 226 Aristoteles denkt dabei, ähnlich wie die moderne Gaia-Theorie von James Lovelocke, 227 die Erde und die Atmosphäre als kybernetisches System, 228 wohl aber konzipiert er die Regulation eines Systems, das Temperatur, Verdunstung und Niederschlag auf der Erde mit ihrem Wasserhaushalt und ihrer Atmosphäre im Gleich-

Aristoteles, Über Werden und Vergehen, a. a. O., 338 b 6–8. Thomas Buchheim in: Aristoteles, Über Werden und Vergehen, a. a. O., S. 571. 227 James Lovelocke, Das Gaia-Prinzip, Zürich, München 1991. 228 Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Band 1, Stuttgart 2011, S. 300. 225 226

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Aristoteles’ naturphilosophische Aspekte heute

gewicht hält. Thomas Buchheim spricht deshalb zu Recht von systemischen Implikationen der aristotelischen Werdenskonzeption. 229 Die von uns vorgefundenen Gleichgewichtsverhältnisse mit ihren Qualitäten von Wasser, Erde und Luft dienen uns als ökologische Nische, die wir erhalten bzw. wieder in ihren ursprünglichen Zustand herstellen müssen, weil es eine Bestform ist, in die sie von der Natur gebracht worden sind. Eine Bestform haben bei Aristoteles die Arten und auch der Mensch. Es ist ein Maximum, das sie von der Natur aus haben. Vom Begriff der Biosphäre her wäre die Zielgerichtetheit der Natur eine erste Voraussetzung für wie auch immer zu denkende Evolutionen. Nach Aristoteles resultieren Evolutionen nicht in beliebigen Resultaten, sondern in lebendigen Wesen, die uns Achtung und Respekt abverlangen. Durch die Ergebnisse der modernen Physik ist es möglich, wenn auch bei den Physikern umstritten, die aristotelische Zielgerichtetheit der Biosphäre von physikalischen Voraussetzungen her zu bestätigen. Das Universum ist so beschaffen, dass Leben entstehen kann. Die Feinabstimmung (fine tuning) zwischen Gravitations- und elektromagnetischer Kraft ist so ungeheuer genau justiert, dass eine geringfügige Änderung die materiellen Strukturen fundamental verändern und Leben verunmöglichen würde. 230 Die Biosphäre wird durch die materiellen Voraussetzungen, deren Feinabstimmung die moderne Physik misst, zwar ermöglicht, aber nicht bestimmt. Dieser Rückschluss auf die Ermöglichung des Lebens durch physikalische Eigenschaften der Materie ist streng zu unterscheiden von grenzüberschreitenden problematischen evolutionistischen Theorien, wie sie von mir in den Kapiteln 9 und 10 diskutiert werden. Nach diesem Blick auf moderne Argumente für die Biosphäre des Kosmos, wende ich mich wieder Aristoteles zu, dessen Theorie über die Biosphäre auf den mit physikalischen Gesetzen nicht ableitbaren Eigenschaften des Lebendigen beruht. Das letzte Fundament, das die Erklärungsversuche der Physik abwehrt, ist die Einsicht, dass die Formen der Dinge notwendig geistig und nicht mateThomas Buchheim in: Aristoteles, Über Werden und Vergehen, a. a. O., S. 96. Genaueres dazu bei Christian Weidemann, Zufall, Gott oder Multiversum? Die Feinabstimmung der Naturkonstanten und die Erklärungsbedürftigkeit des Lebens in der modernen Kosmologie, in: Hans-Gregor Nissing (Hg.), Natur, Darmstadt 2010, S. 182–196. Zentral dazu: M. Rees, Just six numbers. The Deep Forces that shape the Universe, London 1999; ferner: A. Vilenkin, Kosmische Doppelgänger, Berlin, Heidelberg 2008; R. Collins, Evidence for fine-tuning, in: N. A. Manson (Hg.), God and Design, London 2003, S. 178–199. 229 230

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Die Biosphäre als Element des Kosmos. Der Kosmos als Lebensraum

riell sind. Auch verdankt sich eine für die Lebewesen verträgliche und bekömmliche Qualität von Erde, Wasser und Luft nicht der Schwerkraft. Stützen lässt sich diese These mit dem Ergebnis der aktuellen Untersuchungen von Michael Denton. Der strikte Kreislauf von Verdunstung und Niederschlag verdankt sich sicherlich nicht allein der Gravitation, sondern auch den besonderen chemischen Eigenschaften des Wassers und der anderen beteiligen Elemente. Denton bestätigt die teleologische Betrachtungsweise des Aristoteles. 231 Die Biosphäre ist nach Aristoteles zielgerichtet, während die Gesetze der modernen Physik von jeder Zielgerichtetheit absehen. Es gibt gerade im Zusammenhang mit der Steuerung von biologischen Prozessen immer wieder Hinweise, dass zielstrebige Verhaltensweisen des Wassers (der Feuchtigkeit) maßgeblich materielle Zusammenhänge weiterbestimmen. Die Aktualität von Aristoteles ist in diesen Zusammenhängen erst noch zu entdecken. Das zweite Buch der Physik beginnt Aristoteles mit einer leicht einsehbaren Unterteilung: Die vorhandenen Dinge können in zwei Gruppen eingeteilt werden: Die einen sind von Natur aus (physei), die anderen sind aufgrund anderer Ursachen da. Und was ist alles von Natur aus da? Es sind, wie Aristoteles aufzählt, »die Tiere, die Pflanzen und die einfachen unter den Körpern, wie Erde, Feuer, Luft und Wasser«. Das von Natur Vorhandene unterscheidet sich dadurch vom kunstmäßig Hergestellten, dass es einen Anfang in sich selbst hat. Kleider oder Möbelstücke haben keinen Anfang in sich selbst. Das Naturhafte hat »in sich selbst einen Anfang von Veränderung und Bestand«. 232 Es verändert seine Lage, es wächst oder schwindet und verändert seine Eigenschaften. Die künstlichen Dinge haben im Gegensatz zu den natürlichen kein inneres Vermögen der Veränderung. Die Materien von natürlichen Dingen wie Holz oder Erde verändern sich zwar auch, aber nur, weil sie der Natur und damit deren Formprinzipien unterliegen. Aristoteles sagt: »Die Naturbeschaffenheit ist eine Art Anfang und Ursache von Bewegung und Ruhe an dem Ding, dem sie im eigentlichen Sinne, an und für sich, nicht nur nebenbei zukommt.« 233 Das »An-und-für-sich-Zukommen« ent-

231 Michael Denton, Nature’s Destiny. How the Laws of Biology reveal Purpose in the Universe, New York 1998. Für diesen Hinweis danke ich Herrn Dr. Christian Weidemann. 232 Aristoteles, Phys. 192 a 8 ff. 233 Aristoteles, Phys. 193 a 12 ff.

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Aristoteles’ naturphilosophische Aspekte heute

spricht dem »Per-se-Zukommen«, das »Nebenbei-Zukommen« entspricht dem »Per-Akzidens-Zukommen«. Die eigentliche Ursache ist die Per-se-Perspektive. Die damit angesprochene Realität entspricht der eigentlichen Ursache, während das akzidentelle Zukommen darauf aufruht. Diese Unterscheidung ist für Aristoteles zentral; denn es gibt zufällige Ereignisse, die scheinbar von Akzidentien verursacht werden. So wenn jemand auf den Markt geht, um eine Rede zu hören, aber dort zufällig einen Gläubiger trifft, der ihm seine Schulden bezahlt. Schulden-bezahlen ist nicht intendiert, aber trotzdem durch die allgemeine Intention, sich an einen Versammlungsort zu begeben, ermöglicht. Der Zufall ist kein reiner Zufall, sondern setzt eine Perse-Ursache voraus, eine Finalursache, die zusammen mit den anderen Ursachen unweigerlich zu ihrer Wirkung führt. Ein anderes Beispiel von Aristoteles ist der Baumeister, der mit seinem Können ein Haus baut. Die Beschaffenheit der Kunst des Hausbaus führt per se zum richtig gebauten Haus. Per-Akzidens mag es sein, dass der Baumeister musikalisch begabt ist. Freilich kann er auch Per-Akzidens einen Fehler machen. Aber das ist jetzt nicht Thema. Die musikalische Begabung führt nicht zur Herstellung des Hauses. Ein anderes Beispiel ist die Wirkung einer gesundmachenden Arznei, die die Kunst der Medizin zur Herstellung der Gesundheit einsetzt. Wenn nun der verschreibende Arzt und die gesundende Person ein- und dieselbe ist, dann kommen Per-se- und Per-Akzidens-Ursachen in einer Person zusammen. Für Aristoteles ist die gesundmachende Ursache der richtige Rückgriff auf heilende Kräfte der Physis. Dass es der Arzt ist, der die Medizin anwendet, ist für die heilende Wirkung der Medizin nebensächlich. Die Vorgänge der Biosphäre zeichnen sich alle dadurch aus, dass sie einer Per-se-Ursächlichkeit folgen, d. h. jedes Lebewesen, Pflanzen, Tiere und Menschen, haben ein mit ihrer Natur gegebenes Ziel, das sie anstreben. Es gibt dazu eine aktuelle höchst brisante Diskussion darüber, welche normativen Konsequenzen aus der Würde nicht nur des Menschen, sondern auch der Pflanzen und Tiere zu ziehen sind. Die teleologische Per-se-Betrachtung eröffnet den Raum der Biosphäre. Die Physik kann diesem nichts Spezifisches hinzufügen, weil die Schwerkraft, mit der sie sich zentral befasst, speziesneutral ist.

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Zusammenfassung

5.4 Zusammenfassung Die Zielverfolgung des Menschen wird durch Eingriffe in die Natur möglich. Auf die Sicherheit und Zielführung seines Handelns muss sich der Mensch zu seiner Selbsterhaltung verlassen. Über sein Handeln in der Natur hat der Mensch Zugang zu dieser. Er kann diese auf sich beziehen, weil er zuvor sich auf die Natur und das Seiende bezogen und deren Vorgegebenheit akzeptiert hat. Dieser Begriff des Anthropomorphismus, der für die Naturphilosophie von Aristoteles einen wichtigen Zugang darstellt, ist nicht mit dem Begriff der neuzeitlichen Anthropozentrik zu verwechseln, bei der allein der Mensch im Mittelpunkt steht und die Natur nur Material für ihn ist. Aristoteles hat die lebendige Natur umfassend analysiert und durch ihr Zielstreben beschrieben. Dieses ist eine der Natur immanente Tendenz, die sich in den regelmäßigen Vorgängen, die die Lebewesen durchlaufen, zeigt. Bei allen Lebewesen, bei den Pflanzen, Tieren und Menschen, strebt die Natur nach ihrer Bestform. Zufälle und Unregelmäßigkeiten in der Natur sind nicht in sich erklärbar, aber sie beruhen auf nächstliegenden Ursachen der Natur, die wiederum einer Erklärung zugänglich sind. Es ist für die Beurteilung der gegenwärtigen Tendenzen der Gen-Industrie wichtig zu sehen, dass die Bestform der Lebewesen ein Resultat der Natur und unübertreffbar ist. Darwins Theorie der Entstehung der Arten nimmt, ganz aristotelisch, ihren Ausgang von dem Streben jedes Exemplars einer Art nach einer bestmöglichen Ausstattung, um in der Konkurrenz mit anderen Exemplaren bestehen zu können. Diese Nähe zu Aristoteles ist in der herkömmlichen Darwinforschung zugunsten des alles beherrschenden Prinzips der natürlichen Selektion unterdrückt worden. Trotzdem ist richtig: Alle natürlichen Prozesse haben ein bestimmtes Ziel. Auch die menschliche Natur weist ein solches Streben auf natürliche Ziele auf. Die Vorgegebenheit einer zielgerichteten Natur, wie sie von Platon und Aristoteles gelehrt wurde, ist nicht widerlegt. Sie wurde durch die Interessen der Naturbeherrschung in der frühen Neuzeit durch die Theorien von Descartes, Galilei und Newton zurückgedrängt und ist teilweise in Vergessenheit geraten. Im vorliegenden Kapitel wird ferner eine aristotelische Perspektive auf die Biosphäre des Kosmos angesprochen. Von den Messergebnisssen der modernen Physik her können wir die Feinabstimmung der Struktur der Materie ergänzen. Wenn die Größenverhältnisse zwischen Schwerkraft und elektromagnetischer Kraft in 151

Aristoteles’ naturphilosophische Aspekte heute

ganz minimaler Weise verändert wären, so hätte es kein Leben im Kosmos geben können. Der Versuch der Ablösung der Naturfinalität durch die Teleonomie, wie sie von modernen Evolutionstheoretikern vorgeschlagen wird, ist Thema des Kapitels 12.1. Die bedenkenswerte These von Robert Spaemann und Hans Jonas vom in der Moderne selbstverständlichen, aber trotzdem nicht legitimen Recht einer unbegrenzten Naturbeherrschung können wir nur zu unserem Schaden missachten. Die ökologischen Folgeschäden der modernen Naturausbeutung haben deutlich gemacht, dass es nicht nur die Kausalursachen zu beachten gilt, sondern auch die natürlichen Zielursachen und die damit gegebenen Grenzen.

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6. Darwins erste naturhistorische These über die Entstehung der Arten (1859)

6.1 Evolution und Erkenntnis der Spezies Wir haben die Finalität bei Aristoteles kennengelernt und schauen von da aus auf die Theorie von Darwin (1809–1882). Gibt es eine Ähnlichkeit, an die wir anknüpfen können, oder sieht Darwin alles anders? Beide verwenden die Analogie von menschlicher Schaffenskunst und deren Verhältnis zur Natur. Aristoteles hatte gelehrt, dass die menschliche Kunst ebenso wenig überlegt wie die Natur, und dies war bei ihm dadurch begründet, dass der Mensch beim Schaffen auf die gleichbleibenden natürlichen Formen zurückgreift und dabei dasselbe tut wie die Natur, die sich beim Werden der Organismen ebenfalls von der Vorgabe der Formen der Lebewesen leiten lässt. Die Materie des wachsenden Lebewesens nimmt in der Regel und mit Notwendigkeit die Form an, die die Identität des Lebewesens ausmacht. Darwin legt nun auch für die Entwicklung seiner Abstammungstheorie das analoge Verhältnis menschlichen Machens und der Natur zugrunde. Sein Paradigma ist die menschliche Zuchtwahl, mittels der der Mensch häusliche Pflanzen und Tiere für seine Zwecke durch Zucht verändert. Es gibt aber einen wichtigen Unterschied bei Darwin. Der Mensch muss bei seiner Züchtung zwar auf natürliche Formen zurückgreifen, aber er verändert dabei die Art, sei es geringfügig, sei es markant. Von den modernen Züchtungen wissen wir, dass sie, wie z. B. bei Schweinen und Kühen, nicht das Wohl der Tiere, sondern vorrangig den menschlichen Nutzen im Auge haben. Aristoteles und Darwin beziehen sich zwar beide auf die Analogie von Kunst und Natur, aber die durch die Natur vorgegebenen Formen treten bei Darwin zugunsten des menschlichen Nutzens in den Hintergrund. Die dabei eingeklammerte Vorgabe der Natur für die Form führt bei Darwin dazu, dass sich die Form an der Funktion orientieren muss, und das wäre im Falle der Züchtung nicht nur das Überleben, sondern der Nutzen. Im Falle des Naturprozesses ist es das Überleben 153

Darwins erste naturhistorische These über die Entstehung der Arten (1859)

des Exemplars der Art. Dieses Überleben wird jedoch nicht mehr als Streben einer Wesensbeschaffenheit interpretiert, sondern als kausales Durchsetzen der größeren Kraft. In der Konsequenz wird die Finalität als steuernde Ursache zugunsten der Kausalursache, die wie in der Physik als einzige Ursache angesehen wird, aufgehoben. Die Aufhebung des Begriffs der Form und eine damit entstehende Zweideutigkeit von Angepasstheit und Überlebenstüchtigkeit wird uns im Weiteren ebenso noch beschäftigen wie sie die Darwin-Forschung bis in die Gegenwart mit Mehrdeutigkeiten versorgt. Schließlich gibt es noch einen weiteren Unterschied im Vergleich von Aristoteles und Darwin. Dieser wusste von erdgeschichtlichen Veränderungen, die Aristoteles unbekannt waren. Die erdgeschichtlichen Veränderungen, von denen Aristoteles noch nichts wusste, wohl aber Darwin, erschwerten dessen Kausalinterpretation des Werdens. Für Darwins Auffassung der Entwicklung war wichtig, dass evolutionäres Werden in kontinuierlichen kleinen Schritten vor sich ging. Das von Darwin gern zitierte finale Naturprinzip, dass die Natur keine Sprünge macht, prägt seine Auffassung des stammesgeschichtlichen Kausalverlaufs. Da die Paläontologie in vielen Fällen keine Funde, die eine kontinuierliche Entwicklung bestätigen, aufweist, muss Darwin immer wieder Hypothesen in seine Theorie einbauen. 234 Durch erdgeschichtliche Katastrophen, die eine veränderte Umwelt schaffen, werden die Arten in einen Überlebenskampf gestürzt, der einen Teil der Arten vernichtet und einen Teil überleben und neue Arten schaffen lässt. Damit würde die Erdgeschichte auf die Art von Sprüngen, die mit der stammesgeschichtlichen kausalen Kontinuität nicht vereinbar sind, auf unbekannt–evolutive Art neue Arten schaffen. Diese Möglichkeit wird von Darwin und dem ganzen Neodarwinismus dem eignen Entwicklungsprinzip, der natürlichen Selektion, untergeordnet. Trotzdem ist klar, dass die Erdgeschichte mit ihrer Biosphäre auch auf Zufällen beruht, die sich nicht durch Darwins natürliche Selektion erklären lassen. Bei der näheren Betrachtung der Darwin’schen Theorie werden wir sehen, dass Darwin ebenso wie Aristoteles von einem Zielstreben der einzelnen Lebewesen ausgeht, dass er aber für die Gesamtentwicklung aller Lebewesen keine übergreifende Zielstrebigkeit, sondern die Dynamik der Kausalität, die durch den allgemeinen Konkurrenzdruck bzw. das Überlebens234 Mortimer Adler, The Difference of Man and the Difference It Makes, New York 1967, S. 73 ff.

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Evolution und Erkenntnis der Spezies

streben wirkt, annimmt. Dies ist die eigentliche Revolution von Darwin, die eine Ausweitung des Paradigmas des menschlichen Machens und der natürlichen Zielstrebigkeit darstellt. Während Aristoteles die Gesamttendenz der Natur metaphysisch auf die Zieldynamik, die der unbewegte Beweger auslöst, zurückgeführt hat und damit trotz seiner Distanz zu Platon in einer gewissen Nähe zu diesem verblieb, löste sich Darwin von alteuropäischen theologischen Voraussetzungen und interpretierte die Selbsterhaltung jedes Wesens in Spannung mit der Begrenztheit des Raumes durch die jeweilige Nische, in der sich die Lebewesen befinden. Die Natur schafft für die Lebewesen nicht nur günstige Bedingungen. Sie fordert sie auch heraus und setzt sie unter Druck. Hatte Newton als allgemein bewegende Kraft der Körper die Schwerkraft entdeckt, nahm Darwin nun an, dass eine ähnliche Kraft der Natur wie die Schwerkraft Newtons bei der Entwicklung der Lebewesen wirksam sei. Newtons Theorie wirkte als eine Art Rahmen für die Darwin’sche Theorie, obwohl keineswegs bewiesen war, dass die materiellen Gesetze ausreichen, das Lebendige zu erklären. So kam es, dass die Übernahme der physikalischen Theorie Newtons durch Darwin in einer Evolutionstheorie des Lebendigen und in deren zentralem Konzept, der Selektion, resultierte. Die »Schwerkraft« Newtons war somit zum Darwin’schen Selbsterhaltungsstreben jedes Lebewesens und zu dem durch die Natur in Form der Selektion ausgelösten Selbsterhaltungsdruck unter der Voraussetzung der beschränkten Naturressourcen geworden. Die Verbindung zwischen der physikalischen Schwerkraft Newtons und der lebendigen Wirkkraft der Natur leistete für Darwin die Bevölkerungstheorie von Thomas Robert Malthus (1766–1834), der in seinem Werk Essay on the Principle of Population, 1798, die menschliche Überbevölkerung als Problem einer sich entwickelnden Ökonomie und Gesellschaft herausgestellt hatte. Durch die Tatsache der damaligen noch ungesteuerten menschlichen Vermehrung schien eine Knappheit der vorhandenen Lebensmittelproduktion die notwendige Folge. Während die Anzahl der Menschen sich im Quadrat vermehre, ließen sich die Erträge der Felder durch Bewässerung höchstens geringfügig steigern, sodass das Überleben einer sich ständig vergrößernden Anzahl von Menschen bedroht war. Auch wenn die Gültigkeit dieser Theorie durch verschiedene Umstände heute nicht mehr gegeben ist, hat diese Theorie damals die Köpfe beherrscht. Und es gab Beispiele dafür, wie man an den Wanderungsbewegungen von armen und hungernden Menschen aus Europa in 155

Darwins erste naturhistorische These über die Entstehung der Arten (1859)

die neue Welt ersehen konnte. Heute gibt es Geburtenregelungen zumindest in einigen Teilen der Erde und eine gesteigerte Ausnutzung der Felder und Wiesen. Für Darwin übersetzt die Theorie von Malthus die physikalische Schwerkraft Newtons in den Überlebensdruck der Exemplare einer Art. Sie erklärt, dass die Selektion in erster Linie ein grausamer Kampf ums Überleben wird, der symbiotische Verhältnisse, die an sich auch denkbar wären, von vornherein ausschließt. Die besser angepassten Lebewesen überleben, was eben bedeutet, dass die Form nur durch die Funktion interpretierbar ist. Die Hypothese, dass sich Selektion aus einem harten Wettkampf im Markt ums Überleben ergeben könnte, lag auch durch den neuen Geist der klassischen englischen Nationalökonomie von Adam Smith in der Luft. Die Entsprechung zwischen der »unsichtbaren Hand« der Nationalökonomie von Adam Smith und der Evolution von Anpassungen durch die natürliche Auslese ist offensichtlich. Der unerbittliche Verdrängungswettbewerb zwischen den Marktteilnehmern wurde lange Zeit als Folge von durch die Politik nicht änderbaren Naturgesetzen gedacht und erst durch die Wirkungen der Sozialgesetze, die den Status der ökonomischen Gesetze als Naturgesetze falsifizierten, revidiert. Durch die Rezeption von Malthus’ Theorie änderte Darwin seine vorige Annahme über die Fortpflanzung. Die Organismen streben nicht nur nach der Erhaltung der Bevölkerungszahl, sondern sie enthalten eine Dynamik der Fortpflanzung, die die Tragfähigkeit der Umwelt übersteigt. Damit ergeben sich fünf Regeln: • Kleine Abänderungen sind erblich. • Lebewesen produzieren mehr Nachwuchs, als die Umwelt tragen kann. • Daraus folgt ein unvermeidlicher Kampf ums Überleben. • In diesem Kampf werden die gut angepassten Varianten erhalten, die schlecht angepassten sterben, ohne Nachwuchs zu hinterlassen. • Die Folge der Auslese ist, dass Lebewesen sich an wandelnde Umstände anpassen. 235 Form und Funktion oder Finalität und Selektion sind somit die zentralen Zusammenhänge, deren Thematisierung wir bei Darwin untersuchen müssen. Es hat allen Anschein, als würde der Gesamtzusammenhang der Natur, insofern es um die Naturgeschichte und die 235

Thomas P. Weber, Darwin und die Anstifter, Köln 2000, S. 157.

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Evolution und Erkenntnis der Spezies

Dynamik des Lebendigen geht, durch eine quasi kausal-organische Schwerkraft, die das »survival of the fittest« zur Folge hat, ersetzt. Ergibt sich aus der Art der Beziehung von Finalität und Selektion eine konsistente Theorie? Nachdem Darwin als studierender Theologe in der rationalistischen Theologie seines Lehrers William Paley (1753–1805) über dessen »Natural Theology« (1804) seine Prüfung abgelegt hatte, war er zunächst Geistlicher und naturwissenschaftlicher Privatgelehrter. Durch die Theologie Paleys wird Darwin mit der Lehre einer direkten Zielsteuerung jedes Lebewesens durch Gott konfrontiert, eine These, die sich so bei Aristoteles nicht findet; denn bei diesem war das Zielstreben die jedem Lebewesen eigene Sache. Nach seinem Entschluss, Naturforscher zu werden, hatte Darwin mit dieser Art theologischer Voraussetzungen Probleme. Was waren die nächsten Schritte Darwins nach der bestandenen Abschlussprüfung? Nach einigen Widerständen seines Vaters konnte er auf dessen Kosten auf dem Schiff »Beagle« mitreisen, das die Aufgabe hatte, Südamerika genauer zu kartographieren. Darwin stach im Dezember 1831 in See, erforschte Koralleninseln im Stillen Ozean und bemerkte auf den Galapagos-Inseln eine auf Isolation zurückgehende Artenbildung. Hilfreich für Darwin war, dass er neben anderen naturwissenschaftlichen Büchern den ersten Band von Charles Lyells Principles of Geology (3 Bände, 1830–1833) dabei hatte und die darin aufgestellten Prinzipien bei seiner ersten geologischen Untersuchung auf den Kapverdischen Inseln schlagend bestätigen konnte. 236 Auf der Beagle-Reise macht Darwin drei Entdeckungen, die ihn besonders beeindrucken: 1) Er findet in Argentinien in der Pampaformation riesige Tierfossilien, die die gleichen Panzer wie die noch heute dort lebenden kleineren Gürteltiere tragen. 2) Nahe verwandte Tiere lösen einander im Laufe des Vorrückens über den Kontinent nach Süden hin ab. Dies entdeckte er in Argentinien und Uruguay. 3) Die meisten auf dem Galapagos-Archipel vorkommenden Tierund Pflanzenarten haben einen spezifisch südamerikanischen Charakter, zu dem sie kleine Varianten aufweisen. Darwin entdeckt z. B. kleine Veränderungen bei den Schnäbeln der Finken. Für Darwin lag es auf der Hand, dass sich derartige Tatsachen wie viele andere durch die Annahme erklären lassen mussten, dass Arten sich allmählich verändern. Dass die einen Arten in andere Arten übergehen, z. B. 236

Vittorio Hösle, Christian Illies, Darwin, Freiburg 1999, S. 21.

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Fische in Vögel, war jedoch nicht beobachtbar. Besonders die Thesen von Lyell beeinflussten Darwin. Geologische Funde ließen auf eine Hebung und Senkung der Erdoberfläche schließen, für die Vulkanismus und Erdbeben verantwortlich sein konnten. Besonders der 1832 erschienene zweite Band von Lyells Werk beeinflusste Darwins frühes biologisches Denken. Lyell fordert darin, »dass die Geschichte des Lebens auf der Ebene der Arten verstanden werden müsse«. 237 Waren Arten wirkliche Begriffe oder willkürliche Festlegungen von Systematikern? Niemand konnte die Verwandlung einer Art beobachten, aber Veränderungen innerhalb von Artgrenzen, wenn es um Fälle von Domestizierungen ginge, räumte Lyell ein. »Lyell nannte Umstände der Artentstehung, aber nicht deren Ursache.« Geologischer Wandel konnte immer wieder zum Aussterben von Arten durch überlegene Konkurrenten oder neue Umweltbedingungen führen. 238 Darwin ist zwar durch Lyell stark beeindruckt, wandelt sich aber nach seiner Rückkehr im Jahr 1837 mit der Annahme der Veränderlichkeit der Arten zum Transformisten. Naturgeschichtliche Einflüsse auf die Bildung von Lebewesen waren mit der Teleologie seines Lehrers Paley nicht vereinbar, und eine teleologische Interpretation, die ein inneres Zielprinzip annehmen würde, hatte Darwin nicht kennengelernt. Die Aufklärungstheologen, zu denen Paley gehörte, hielten die Welt für eine höchst kunstvoll konstruierte Maschine. Die Zielordnung der Natur bestand in der unmittelbaren Nützlichkeit der Naturprodukte und Naturvorgänge für den Menschen. 239 Im Zentrum von Paleys Ethik stand ein Denken, das auf gesellschaftliche Nützlichkeit und Glücksmehrung des Menschen setzte. Die Zielstrebigkeit der Natur, bei der Gott unmittelbar die Zielerreichung bewirkte, sollte beweisen, dass Gott unser Glück beabsichtige. 240 Paleys Beispiel war die Uhr, die als Kunstwerk ohne den planenden Erfinder, der ihre Teile auf ein Ziel hingeordnet hat, unverständlich bleibt. Paleys Beispiel hat jedoch einen Haken. Bei der Uhr sind sich die materiellen Teile der Uhr und die Planung des Erbauers der Uhr äußerlich. Die ZahnThomas P. Weber, Darwin und die Anstifter, Köln 2000, S. 125. Thomas P. Weber, ebenda, S. 126. 239 James Collins, God in modern Philosophy, Chicago 1959. 240 William Paley, Natural Theology, or Evidence of the Existence and Attribute of the Deity, collected from the appearances of nature (1802), hg. von M. Eddy und D. Knight, Oxford 2006. Informativ zu Paley: Charles Coulsten Gillispie, Genesis and Geology, Harvard 1951, S. 35–40. 237 238

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räder und andere Teile der Uhr funktionieren nur, weil sie durch ein planendes Wesen, durch den Menschen, in einen Funktionszusammenhang gebracht worden sind. Paley denkt somit die Lebewesen als Mechanismen, und das bedeutet, dass Gott unmittelbar deren Teile lenkt und deren Funktionieren verursacht. Paley bemerkte nicht die Eigentätigkeit des Organismus, die diesem innerlich war. Für ihn gab es nur die künstliche Verursachung durch Gott, die von außen erfolgte. Paleys teleologisches Denken ist ein Beispiel für den Verfall teleologischen Denkens innerhalb der Theologie des Spätmittelalters. In der Naturphilosophie herrschte das kausale Denken vor, während nach den Erklärungen der Theologie Gottes Wirken direkt kausal erfolgen sollte. Für Darwin als Biologen waren die Beobachtungen und der Vergleich der Lebewesen für seine Wissenschaft konstitutiv. Er beobachtete wie Aristoteles das Werden und die Reproduktion der Lebewesen, wie sie sich auf der Basis ihrer materiellen Grundlage verändern. Der von Darwin erschlossene Wandel der Arten aufgrund natürlicher Umstände musste seine von Paley abhängige Theologie und damit seine theologische Interpretation des Kosmos erschüttern. Darwin hat Aristoteles’ Teleologie und dessen biologische Schriften nicht gekannt. Trotzdem, so lässt sich zeigen, ist er auf der teleologischen Betrachtungsweise von Aristoteles ähnlichen Pfaden gegangen. Von Darwins fehlender Kenntnis des Aristoteles wissen wir durch einen Brief, den er am 22. Feb. 1882 an Dr. Ogle geschrieben hat. Dr. Ogle hatte ihm seine Übersetzung und Kommentierung von Aristoteles’ Schrift Über die Teile der Tiere gesandt und Darwin bedankte sich in einem Brief dafür. In diesem Brief schreibt er: »Durch Zitate, die ich gesehen hatte, hatte ich eine hohe Auffassung von den Verdiensten von Aristoteles, aber ich hatte nicht die geringste Vorstellung darüber, was für ein großartiger Mann er war. Linnaeus und Cuvier waren meine beiden Götter, wenn auch in unterschiedlicher Weise, aber es sind bloße Schulknaben im Vergleich mit dem alten Aristoteles.« 241 In einem anderen an einen Herrn J. A. Crawley gerichteten Brief vom 12. 2. 1879, der ihn nach einer Erklärung zu einer griechischen Originalausgabe einer biologischen Schrift von Aristoteles fragt, antwortet Darwin: »Es tut mir leid, sagen zu müssen, dass ich Ihnen keine Information geben kann. Das wenige Griechisch, das ich einst 241 Zitiert in Alan Gotthelf, Darwin on Aristotle, in: Journal of the History of Biology Vol. 32, 1999, S. 4.

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konnte, habe ich vergessen. Durch Auszüge, die ich gesehen habe, habe ich einen unbegrenzten Respekt für ihn als einen der größten Beobachter, wenn nicht der größte Beobachter, der jemals gelebt hat.« 242 Dass Darwin nicht auf die Theorie des Aristoteles gestoßen ist, hängt mit Sicherheit mit den Schwerpunkten seines TheologieStudiums zusammen. Mit dem Aristoteles-Forscher Alan Gotthelf mag man das bedauern, zumal Gotthelf einen Gleichklang zwischen Darwins biologischer Idee und der von Aristoteles feststellt und der Meinung ist, dass Aristoteles einige Bestandteile von Darwin mit Nutzen hätte integrieren können. Gotthelf stellt aus der Sicht von Aristoteles heraus, was dann auch – wie wir bei James Lennox sehen werden 243 – in Darwins Auffassung des Lebendigen eine Entsprechung hat, nämlich eine beiden, Aristoteles und Darwin, gemeinsame teleologische Interpretation des Lebendigen. Es ist die Sicht von Aristoteles, so stellt Gotthelf fest, dass Lebensprozesse nicht rückführbare Verwirklichungen von Fähigkeiten der Selbstentwicklung und Selbsterhaltung und Verwirklichungen von Zielen sind, die Verläufe in Gang setzen, die für die Erreichung dieser Ziele notwendig sind. Zwischenzustände kommen vor, weil sie in Beziehung auf dieses Ziel stehen, also nicht etwa nur durch die Materie allein verursacht sind. Was die natürliche Selektion bei den Teilen der Tiere nach der Theorie Darwins bewirke, denke Aristoteles mit der Annahme, dass es so besser für einen bestimmten Organismustyp ist, als wenn es anders wäre. Die Anwesenheit ganz bestimmter Teile mache ja das Überleben möglich, verschaffe den Lebewesen einen Überlebensvorteil. 244 Eine weitere Bestätigung dieser Nähe zwischen Aristoteles und Darwin liefert ein Brief von Darwin an den amerikanischen Biologen Asa Gray, der Darwins Lehre unterstützte. Gray hatte vorher in einer kurzen Würdigung von Darwin in der Zeitschrift Nature bemerkt, dass Darwin nicht die Teleologie zerstört habe, wie manche Freunde von ihm, aber auch viele Gegner geglaubt hätten, sondern sie vielmehr auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt habe. Darwin habe darauf am 5. 6. 1874 mit folgenden Worten reagiert: »Was Sie über die Teleologie sagen gefällt mir besonders und ich denke nicht, dass irgend jemand sonst das gesehen hat.« 245 Gestützt auf diese Aussagen 242 243 244 245

Ebenda, S. 16. Vgl. Anmerkung 248. Gotthelf, ebenda, S. 23. Gotthelf, ebenda, S. 23.

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Evolution und Erkenntnis der Spezies

Darwins können wir mit dem Konzept der Finalität eine gemeinsame Wurzel des Denkens von Aristoteles und Darwin annehmen. Mit Gotthelf, dem großen amerikanischen Aristoteliker, interpretiere ich die Nähe der beiden großen Biologen: Das Auftauchen einer neuen Spezies ist das Resultat von vielen verschiedenen individuellen Fällen der natürlichen Selektion und kein von einem Prozess angestrebtes Ziel. Trotzdem bewirkt die Selektion, dass die ausgewählte Konstellation anwesend ist, weil sie zum Leben des Organismus, dessen Teil sie ist, beiträgt, was der Kernanspruch jeder teleologischen Theorie ist. 246 Obwohl die äußeren Anlässe der Selektion zufällig sein können, wirkt diese innerhalb der Tendenzen der vorliegenden oder vorausgegangen Spezies. Die Selektion trägt zum Leben des lebendigen Organismus bei. Der Prozess des Hervorbringens ist also nicht völlig zufällig. Hier gibt es, wie wir sehen werden, markante Unterschiede von Darwin zum Neodarwinismus, der die Theorie von Malthus fallen lässt und sich dafür auf die moderne Genetik stützt. Der Unterschied zwischen Aristoteles und Darwin ist, dass Aristoteles die Angepasstheit der Lebewesen und ihre Reproduktionsfähigkeit als grundlegende Tatsache der Natur auffasst, während Darwin die natürliche Selektion als einen Mechanismus anbietet, durch den die Anpassung bewirkt und aufrechterhalten wird. Sicher hat die aristotelische Teleologie eine größere Tragweite als die von Darwin. Aristoteles denkt eine grundlegende Gerichtetheit auf ein Ziel, die unzurückführbar und gleichwohl unbewusst ist, ein ontologisches Werden, das nicht noch einmal durch die Beziehung auf etwas Einfacheres erklärt werden kann. Aristoteles denkt mit der Bezugnahme auf die Natur eine reale Macht mit einem eigenen Wirken, während bei Darwin die Zielrichtung der Natur nicht mehr auf das Gute und Beste geht, sondern nur noch faktisch an dem, was geschieht, festzustellen ist. Durch die Textarbeit von James Lennox wird die von Darwin selbst nicht gewusste Nähe zu Aristoteles deutlich. Lennox gibt eine Zuordnung verschiedener Interpreten zu der gerade entwickelten Form der Darwin’schen Teleologie. Neben Gray zitiert er eine Äußerung von Thomas Huxley, der Darwin ebenfalls eine Teleologie zuschreibt, aber auch eine Bemerkung des bekannten Darwin-Forschers Ernst Mayr, der in seinem Buch The Growth of Biological

246

Ebenda, S. 23.

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Thought, 247 behauptet, dies sei ein Missverständnis von Darwin. Es darf eben bei Darwin keine finalen Ursachen geben. Im Falle von Mayr ist dies bemerkenswert; denn schließlich wird sein Buch oft als Einführung in die Entwicklung der Biologie verwendet. Lennox zählt eine Reihe von Stellen auf, an denen Darwin positiv von Finalursachen spricht, während Mayr den Gebrauch dieser Ursachen nicht erwähnt. Er interessiert sich nur dafür, ob Darwin zur Zeit, als er sein Buch über den Ursprung der Arten schrieb, auf den Begriff der vollkommenen Anpassung festgelegt war. Für Mayr ist mit einer finalen Denkweise immer die Annahme von entweder geheimen Lebenskräften – denken wir an den Schwur der drei jungen Gelehrten! – oder die Position einer natürlichen Theologie verbunden. Damit verbleibt er in den Alternativen des 19. Jahrhunderts, von denen her sich Darwins Teleologie, die auf dem Selektionsgedanken aufbaut, nicht denken lässt. Die Behauptung, dass sich eine teleologische Erklärung nur durch eine innere Vitalkraft oder ein göttliches Design denken lässt, ist falsch. Durch die Untersuchung von Darwins Gebrauch der teleologischen Erklärung und ihrer Struktur zeigt sich eine markante Form von Teleologie, die für Darwins Zeitgenossen unverständlich war, ebenso unverständlich wie für spätere Biologen und Philosophen neodarwinistischer Ideologie. In den Tagebüchern, Species Notebooks genannt, gebraucht Darwin immer wieder konsistent den Begriff »finale Ursache«. Dabei geht es um die Frage, wie Lennox berichtet: »Für was ist S vorhanden? Wozu dient es?« Darwin antwortet auf diese Frage in der Weise, dass ersichtlich damit die Finalursache angegeben wird. Lennox bezieht sich auf einen Vortrag von Darwin vor der Botanischen Abteilung der Linneischen Gesellschaft, in dem Darwin von seinen Experimenten mit gleichgeschlechtlichen und heterosexuellen Befruchtungen der Schlüsselblume und der Himmelsschlüsselblume berichtet. Die Anordnung der Pollen bei den Primeln sei so, dass sie die Kreuzung von verschiedenen Individuen begünstige. Bei den Pflanzen gebe es unzählige Verrichtungen, die dieses Ziel erstrebten, und dann heißt es im englischen Original: »and no one will understand the final cause [Herv. d. Verf.] of the structure of many flowers without attending to this point.« 248 Ich zitiere diesen Satz als ein Beispiel für die begriffliche und argumentative Verwendung der Finalursache. 247 248

Ernst Mayr, The Growth of Biological Thought, Cambridge 1982, S. 241. Paul Barrett (Hg.), The Collected Papers of Charles Darwin, Chicago 1977, Vol. 2,

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»Finalursache« steht hier gleichbedeutend mit dem Ausdruck: »Das Ziel, für das eine Anpassung – in diesem Fall geschlechtliche Gleichpoligkeit – existiert, ist die Förderung von gekreuzter Befruchtung.« Neben dieser finalen Ursache gibt es ein tieferes teleologisches Rätsel, weil das Ziel der gekreuzten Befruchtung durch eine Vielfalt von Maßnahmen erreicht wird. Warum die Primel diese besondere Strategie mittels dieser besonderen Strukturen einsetzt, ist für Darwin eine offene Frage. Wir wissen nicht, so meint er, warum die Spezies der Primel dieses merkwürdige Mittel für die Kontrolle fortgesetzter Selbstbefruchtung durch die Aufteilung des Individuums in zwei hermaphrodite Körper mit verschiedenen geschlechtlichen Wirkweisen vornimmt, statt die mehr übliche Trennung der Geschlechter, oder die Reifung der männlichen und weiblichen Elemente zu verschiedenen Zeiten vorzunehmen. Er schließt dann diese Bemerkung mit dem Hinweis, dass wir nicht einmal die Finalursache der Sexualität wüssten, im englischen Original, »we do not even know the final cause [Herv. d. Verf.] of sexuality«. 249 Der Text zeige klar, so Lennox, dass die teleologischen Überlegungen Darwins im Zusammenhang evolutionärer Vermutungen über die langsame Modifikation der Form und die langsame Erwerbung bestimmter Merkmale stattfinden. Bei der behandelten Primel geht es um die Bestimmung der Konsequenzen der Zweipoligkeit, die ihr Vorhandensein erklären. Der erste Schritt ist hier, das Gute zu identifizieren, das damit erreicht wird. Und dies ist Darwin klar. Eine andauernde Selbstbefruchtung vermindert die Fruchtbarkeit einer Pflanzenvielfalt, während regelmäßige Kreuzbefruchtung mit anderen Pflanzen die Fruchtbarkeit und die Kraft des Nachwuchses erhöht. Dieselbe Beobachtung findet sich auch im bekannten Klassiker von Darwin, in Der Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Darwin sucht nach einem Mechanismus, durch den der fragliche Aspekt selektiv begünstigt wurde. Auf solche Mechanismen kann er zurückgreifen. Wenn eine Art geringe Variationen beim Stempel und beim Staubgefäß hervorbringt und wenn diese Varianten, wenn auch geringfügig, die Kreuzbefruchtung fördern, was eine größere Häufigkeit von fruchtbaren Samen zur Folge hat, dann ist der Träger dieser Variationen im metaphorischen Kampf um die Existenz bevorzugt. Wenn gezeigt S. 59. Zit. in: James Lennox, Darwin was a Teleologist, in: Biology and Philosophy, 8, 1993, S. 412. 249 Barrett, ebenda, S. 61; bei Lennox, S. 412.

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werden kann, wie eine solche Zweipoligkeit die Selbstbefruchtung fördert und die Kreuzung verschiedener Formen ermöglicht, ist sie klarerweise ein Kandidat für eine Erklärung durch Selektion. Folgendes Schema fasst den Zusammenhang von Finalität und Selektion zusammen. • Die Himmelsschlüsselblume hat eine Zweipoligkeit. (P hat Z.) • Die Zweipoligkeit hat die Wirkung, Kreuzungen mit anderen Varianten zu befördern und Selbstbefruchtungen zu vermindern. (Z hat die Wirkung A.) • Anderskreuzungen sind fruchtbarer und produzieren kräftigeren Nachwuchs als Selbstbefruchtungen. (A ist vorteilhafter für P.) • Die natürliche Auswahl würde deshalb eine vermehrte Zweipoligkeit in der Himmelsschlüsselblume fördern. (Z wird bei P selektiv begünstigt.) • Die Zweipoligkeit ist in der Himmelsschlüsselblume vorhanden, weil sie das Zwischenkreuzen fördert. (Deshalb ist A die Ursache für die Anwesenheit von Z in P.) Darwin bezieht sich mit großer Sicherheit auf die Förderung des Fremdkreuzens als finale Ursache für die Zweipoligkeit der Himmelsschlüsselblume. Es handelt sich nicht um eine bloße Redensart. Tatsächlich hat Darwin die Meinung, dass die reproduktiven Folgen der Zweipoligkeit die Ursache ihrer Anwesenheit in der Himmelsschlüsselblume sind. Wenn eine Variation in einer besonderen Umgebung funktioniert, sodass ihre relative Häufigkeit in folgenden Generationen vermehrt wird, dann ist diese Variation wegen dieser Funktion selektiv begünstigt. Die relativ vorteilhaften Folgen dieser Variation sind Teil der kausalen Basis, die mit ihrer Anwesenheit in der Population zu tun hat. Lennox weist auf neuere Arbeiten von Neodarwinisten hin, die dieser selektiven Finalität von Darwin positiv gegenüberstünden: Ayala, Binswanger, Brandon, Williams, Wimsatt, Wrigth Ruse, Wesley Salmon. 250 Die moderne Theorie von Darwin gebraucht an Stelle des Begriffs der Finalität die Begriffe der Mutation und Rekombination. 250 Zu anderen Ergebnissen kommt Eve-Marie Engels, Darwin, München 2007. Sie bezieht sich dabei auf Eintragungen Darwins, durch die »die Verwendung des Begriffs ›Zweckursache‹ zur Anomalie« werde (S. 73). Andere Texte, die Lennox interpretiert hat, nimmt sie nicht in den Blick.

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Evolution und Erkenntnis der Spezies

Die Finalität ist also nicht verschwunden, aber sie hat einen anderen Stellenwert und findet sich bei den Begriffen Mutation und Rekombination. Unter dem Begriff der Mutation werden Leistungen der Variation der Lebewesen und unter dem Begriff der Rekombination werden deren Erhaltung und Kreuzungen beschrieben. Diese Begriffe ergänzen das Prinzip der natürlichen Auslese und werden diesem untergeordnet, sodass der Gesamtvorgang der natürlichen Auslese nicht mehr der eindeutigen aristotelischen finalen Naturtendenz folgt. Diese löst sich – wie man, worauf ich schon hingewiesen habe, auch an den Büchern der Darwinisten sehen kann – in der Dialektik von Form und Funktion auf, wobei Form für die Vorstrukturierung steht, die sich in der Anpassung auswirkt, Funktion aber für das tatsächliche Zur-Existenz-Kommen. Mit den Begriffen der natürlichen Selektion, der Mutation und der Rekombination werden dann auch im Neodarwinismus die Kräfte und Wirkungen der Evolution beschrieben. Was ist der Unterschied zwischen der Theorie von Darwin und dem Neodarwinismus, der sich zwar immer von Darwin her legitimiert, aber dessen Prinzipien um Erklärungsansprüche erweitert, sowohl vom Inhalt der Theorie als auch von deren Begründung her? Bei Darwin geht es um den einzelnen Organismus als hauptsächlichen Gegenstand, dessen Abstammung erklärt werden soll. Dazu spielen die Inspiration durch die Theorie von Malthus mit der durch Darwin geprägten Formel des Kampfes ums Dasein (struggle for existence) und die von Herbert Spencer stammende Idee vom Überleben der Angepasstesten (survival of the fittest) eine zentrale Rolle. Der zum westlichen Imperialismus und zu den beiden Weltkriegen führende Sozialdarwinismus wurde durch die geschichtlichen Ereignisse als problematisch erkannt. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg setzte eine partielle Revision der Darwin’schen Theorie ein, die von der Konzentration auf das einzelne Individuum zur Erklärung der Evolution durch die Gene überging. Der in der Darwin’schen Theorie vorhandene Überlebensdruck auf das einzelne Individuum wurde jedoch in veränderter Form beibehalten. In der aggressiven Ausbreitung des Darwinismus auf andere Gebiete, wie die Interpretation der menschlichen Natur oder die Ökonomie (Anwendung von Spieltheorien), ist dies feststellbar. Wie kam diese Änderung zustande? A. Weismann hatte 1883 (Über die Vererbung) die Vererbung erworbener Eigenschaften, die nach der Lamarck’schen Theorie für die Evolution verantwortlich war, durch die Theorie der Gene überflüssig gemacht. 165

Darwins erste naturhistorische These über die Entstehung der Arten (1859)

Lamarck (Philosophie zoologique, 1809) hatte die Evolution als Höherentwicklung nach dem Modell der Individualentwicklung interpretiert. Mit der genetischen Evolutionstheorie ändern sich diese Verhältnisse grundlegend. Die Änderungen der Lebewesen kommen nicht mehr durch Umwelteinflüsse auf die Organismen und durch deren Reaktionen, die alle Teile einbeziehen, zustande, sondern allein über die Änderung der Gene. Die Evolutionstheorie wurde mit der Vererbungstheorie kombiniert und die Evolution dann als Änderung der Genfrequenz interpretiert. Die Gene sind der einzige Träger und die Ursache aller weiteren Entwicklung des gesamten Organismus der Pflanze und des Tieres. Der genetische Atomismus knüpft an das Modell des frühen griechischen Atomismus von Leukipp und Demokrit an. Statt der materiellen Atome sind es die Gene, wobei diese dann als Makrogebilde im Sinne Mendels, aber auch als atomare Einheiten im Sinne der modernen Physik interpretierbar sind. Die genetische Evolutionstheorie ist vom Prinzip her reduktionistisch. Dass deshalb die entsprechenden Wissenschaftsvertreter alle materialistisch sind, lässt sich jedoch nicht sagen. Einige sind sicher in irgendeiner Form religiös. Ich werde später am Beispiel des bekannten Evolutionstheoretikers Ernst Mayr die Abwehr eines Biologen gegen die reduktionistische Denkform illustrieren. Für die Entwicklung der genetischen Evolutionstheorie sind folgende Biologen wichtig: G. Y. Yule, R. C. Punnett, R. A. Fisher, S. Wright. Mit der dann folgenden synthetischen Theorie, die alles Organische aus materiellen Teilen zusammengesetzt denkt, werden Forscher wie T. Dobzhansky, E. Mayr, J. Huxley, B. Rensch, G. I. Stebbins und G. G. Simpson verbunden. Georg Toepfer erklärt: »Mit der Fokussierung auf Gene, ihrer Variation und der Verschiebung ihrer Häufigkeit in einer Population als Grundlage der Evolution wird der Begriff der Genfrequenz zu einem zentralen theoretischen Konzept.« 251 Nach Theodosius Dobzhansky geht die Evolution auf eine Änderung in der genetischen Zusammensetzung von Populationen zurück. Die Gene der Lebewesen oder auch der Populationen werden die Einheiten der Selektion, die die Evolution erklären sollen. Die restriktiven Erklärungsprinzipien Darwins werden zugunsten einer Gesamterklärung der Arten und des Lebens fallen gelassen. Der Neodarwinismus beansprucht, eine gegenüber Darwin vollständigere Theorie der Evolution vorzu251 Georg Toepfer, Artikel Evolution, in: Historisches Wörterbuch der Biologie, Band I, Stuttgart 2011, S. 497.

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legen. Es gibt für manche Formen des Neodarwinismus jedoch gewisse Hemmungen, die auf die gewohnten Denkweisen der Biologen zurückgehen. Zum festen Bestand der biologischen Erfahrung gehört das Wissen, dass der ganze Organismus mehr ist als seine Teile und dass der Organismus in seinen Veränderungen immer zielstrebig, also final vorgehen wird. Eine physikalische Erklärung der organischen Abläufe kann jedoch keine qualitative Verschiedenheit der Ganzheit des Organismus von seinen Teilen und sie kann auch, von ihrer Methode her, kein zielgerichtetes Streben des Organismus denken. Es ist also zu erwarten, dass ein solches Denken auf den Einspruch des Biologen treffen wird. Dies ist auch im Fall der Auseinandersetzung des bekannten Biologen Ernst Mayr mit dem Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg geschehen. Diese werde ich hier anführen und dann auf den evolutiven Physikalismus zu sprechen kommen, der der genetischen Evolutionstheorie zugrunde liegt. Der Physik wird von Weinberg die Rolle einer letzterklärenden Wissenschaft zugewiesen. Wie der Wissenschaftsphilosoph Alex Rosenberg hätte Weinberg sagen können: »Physics is the science of everything.« Die Physik – so der Anspruch – erfasst nicht nur Bedingungen, die für das betreffende Seiende notwendig sind, sondern eben auch dessen Natur. Die Erfassung von chemischen Abläufen oder die Evolutionshypothese von Darwin werden von Weinberg als »Entmystifizierung des Lebens« beschrieben. 252 Die Eigenschaften des Lebens lassen sich ohne die Annahme einer höheren Ebene, die die Organisation einer Seele erforderte, auf kausal mechanische Gesetze bzw. Funktionen zurückführen. Der Begriff für dieses Vorgehen ist eben die Reduktion, die physikalische Einstellung ist die Lehre des Reduktionismus. Für Weinberg ist der Reduktionismus eine Einstellung zur Natur selbst. Der Reduktionismus ist für ihn »nicht mehr und nicht weniger als die Erkenntnis, dass wissenschaftliche Prinzipien mit tieferen wissenschaftlichen Prinzipien (und gelegentlich mit historischen Umständen) zu erklären sind und dass alle diese Prinzipien sich auf einen einzigen, einfachen und in sich zusammenhängenden Korpus von Gesetzen zurückführen lassen«, 253 und, wie wir ergänzen können, es handelt sich selbstverständlich um physikalische Gesetze. Weinberg erwähnt, dass der Evolutionstheoretiker Ernst Mayr, vom Fach her einer der bekanntesten Biologen, sich gegen die252 253

Weinberg, Der Traum von der Einheit des Universums, a. a. O., S. 255. Weinberg, ebenda, S. 60.

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ses reduktive Verständnis des Lebens gewandt habe. In der dann folgenden Korrespondenz habe Mayr verschiedene Begriffe von Reduktionismus unterschieden, um den Anspruch der Physik, das Leben selbst erklären zu können, zurückweisen zu können. Weinberg lehnt solche Abschwächungen des Erklärungsanspruches der Physik vor allem mit der These ab, dass die Prinzipien der Physik sich »auf die Natur selbst« beziehen. 254 Neben Ernst Mayr hat sich auch der Biologe Harry Rubin gegen eine Rückführung des Geheimnisses des Lebens auf die Molekülstrukturen der DNA und RNA gewandt. Weinberg referiert Rubins Argumente, die DNA-Revolution verleite eine Generation von Biologen zu der Ansicht, das Geheimnis des Lebens liege ganz und gar in der Struktur und Funktion der DNA; doch diese Ansicht sei irrig; und das reduktionistische Programm müsse deshalb durch ein neues Gesamtkonzept ergänzt werden. 255 Wie wir später sehen werden, führen Denis Noble und James Shapiro ein solches Gesamtkonzept aus. Ernst Mayr befürchtet, dass die reduktionistische Tendenz in der Biologie dazu führe, »alles, was wir wissen, auf Erkenntnisse über die DNA zu reduzieren«, er meint, dass »die klassische genetische Theorie eine Reihe von Unbekannten enthielt, deren chemische Natur durch die Entdeckung der DNA, der RNA und anderer Stoffe zwar geklärt wurde, doch hat dies den Charakter der Theorie der Transmissionsgenetik in keiner Weise berührt«. Nach Mayr ist die molekulargenetische Erklärung der Vererbung nicht in der Lage, die evolutiven Mechanismen von Mutation und Selektion zu ersetzen. 256 Wenn Weinberg davon spricht, dass die DNA als kausal mechanische Funktion »fundamental für das gesamte Leben« ist, 257 dann sind weitere Lebensbedingungen wie die Existenz einer Seele und die Steuerung der Lebewesen durch die Seele ausgeschlossen. Der Disput zwischen Ernst Mayr und Steven Weinberg wird, ebenso wie der Begriff der Reduktion, in dem bedeutenden Lehrbuch der Evolutionsbiologie von Ulrich Kutschera einfach übergangen. 258 Von der Philosophie her wurden diese Voraussetzungen der reduktiven Evolutionsbiologie oder auch, anders genannt, der synthetischen Theorie am auffallendsten von Thomas Nagel angegriffen. Nagel ist

254 255 256 257 258

Weinberg, ebenda, S. 62, Anmerkung. Weinberg, ebenda, S. 64. Weinberg, ebenda. Weinberg, ebenda. Ulrich Kutschera, Evolutionsbiologie, Stuttgart 2006.

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Homologe Beobachtungen und analoge Seinsaussagen

als analytischer Philosoph durchaus auf die tragende Rolle der Wissenschaften eingeschworen. Ohne dass er nähere Kenntnisse von der Wissenschaftsentwicklung des Darwinismus hat, kritisiert er mit einem guten Urteil die völlig unstimmigen Voraussetzungen der synthetischen Theorie. Auf die philosophische Kritik Nagels am Reduktionismus werde ich nach der Beobachtung der weiteren Entwicklung Darwins in Abschnitt 10.3 eingehen.

6.2 Homologe Beobachtungen und analoge Seinsaussagen – die Hypothesen des stammesgeschichtlichen Gewordenseins Im letzten Kapitel habe ich gezeigt, dass Darwins berühmtes Werk Über den Ursprung der Arten die Varianten der Tier- und Pflanzenwelt beschreibt und diese Varianten nach dem Muster der menschlichen Zucht auf einen kausalen Auswahlmechanismus der Natur zurückführt. Darwin nimmt verschiedene Entwicklungslinien von Pflanzen und Tieren an, die er nach seinem evolutionären Prinzip der stammesgeschichtlichen Kontinuität der Naturwesen interpretiert. Wenn auch in der Schrift Über den Ursprung der Arten die Lebewesen im Vordergrund stehen, ist der Begriff der Kontinuität, wie schon Aristoteles wusste, unendlich teilbar. Somit impliziert der Begriff der Kontinuität, wenn er überhaupt gedacht werden soll, nicht nur den Rückschluss auf den Anfang des Lebens, sondern auch einen Rückschluss auf den Anfang des Seins. Er impliziert die Aufhebung des Begriffs der Schöpfung. Der einzige Urerzeuger des Lebens kann aus der wissenschaftlichen Perspektive einer Reihe, die ein immer weiter besagt, sowohl Gott als auch die Materie sein. Philosophisch kennen wir diese Alternative aus Kants dritter Antinomie der Kritik der reinen Vernunft. Damit sind die beiden theoretischen Möglichkeiten, die bis in die Gegenwart zu heftigen Diskussionen Anlass geben, genannt. Die natürliche Selektion »als eine schöpferische Kraft zweiter Ordnung« 259 zwingt die Lebewesen zur Veränderung und verlegt diese als kausale Bewegung in das Lebewesen selbst. Es fehlt aber eine klare Aussage über das Leben selbst, ob dieses etwa in sich selbst eine Evolution sei, sodass auch der Mensch davon betroffen sei, oder ob das Leben als 259

Gerald Hartung, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2016, S. 50.

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Darwins erste naturhistorische These über die Entstehung der Arten (1859)

Form und Wesensbeschaffenheit zu denken sei, die als Basis jeglichen Werdens gedacht werden müssten. Durch das Konzept der relativen Anpassung und kausalen kontinuierlichen Veränderung wird die Teleologie aufgehoben. Es gibt nur eine stetige Verbesserung, aber keinen wirklichen Endzustand, der das Beste des Lebewesens darstellt. Damit wird eine in der Moderne durch die stetige Ausweitung des biokapitalistischen Einflusses schrankenlos werdende Gentechnik möglich. Als Darwin dann 1871 sein zweites Hauptwerk Die Abstammung des Menschen veröffentlicht, gibt es in der Biologie mit Thomas Henry Huxley (1825–1895), Ernst Haeckel (1834–1919) und August Schleicher (1821–1919) 260 bereits weitergehende Positionen, die eine Abstammung aus dem Tierreich annehmen. Eine Weiterentwicklung der Darwin’schen Theorie findet schon zu Darwins Zeiten durch Ernst Haeckel statt. In der Einleitung des Werks Die Abstammung des Menschen würdigt Darwin die Leistungen Haeckels. Auch ein Kompliment über dessen exemplarische Arbeiten findet sich da: »Der letztgenannte Naturforscher hat außer seinem großen Werke: Generelle Morphologie (1866) 261 noch neuerdings (1868 und in achter Auflage 1889) seine ›Natürliche Schöpfungsgeschichte‹ herausgegeben, in welcher er die Genealogie des Menschen eingehend erörtert. Wäre dieses Buch erschienen, ehe meine Arbeit niedergeschrieben war, würde ich sie wahrscheinlich nie zu Ende geführt haben: fast alle die Folgerungen, zu denen ich gekommen bin, finde ich durch diesen Forscher bestätigt, dessen Kenntnisse in vielen Punkten viel reicher sind als meine.« 262 In Darwins »natürlichem« historischem Realismus bleibt die Funktion der Materie für die Entwicklung von Leben und Geist eher verborgen. Haeckel dagegen, ein Vorantreiber späterer Vereinfachungen des Darwinismus, geht von einer materiellen Ursubstanz aus, die allen geschichtlichen Entwürfen zugrunde liegt. In seinen Schriften Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen vom Jahr 1874 und Die Welträtsel aus dem Jahr 1899 entwickelt Haeckel das Konzept eines »universalen Substanzgesetzes«. Er unterstellt dem Darwin’schen Entwicklungsgedanken ein universales Prinzip, eine 260 August Schleicher, Die Darwin’sche Theorie und die Sprachwissenschaft, Weimar 1863. 261 Darwins Werk Die Abstammung des Menschen erschien 1871. 262 Darwin, Die Abstammung des Menschen, a. a. O., S 3.

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Der Mensch als Tier unter Tieren

materielle Substanz, die sich als Leben entwickelt. In Die Welträtsel heißt es: »Die Substanz desselben mit ihren beiden Attributen (Materie und Energie) erfüllt den unendlichen Raum und befindet sich in ewiger Bewegung.« 263 Nach Haeckel stammt alles Leben von einigen Urformen ab. Er konzipiert einen einheitlichen zielgerichteten Prozess der Entwicklung und stützt sich, wie Darwin, auf die vergleichende Anatomie und die Paläontologie. Aber bei Haeckel ist eine gesetzliche Dynamik untergelegt. Die Substanz bewirkt notwendig mit ihrer Kraft die Hervorbringung des Menschen. Der christliche Schöpfer wird, was bei Darwin offengehalten ist, bei Haeckel durch einen natürlichen Prozess einer materiellen Substanz abgelöst. Der Mensch ist eine Art fortgeschrittener Affe. Darwin unterscheidet sich von Haeckel darin, dass er seine materialistischen Voraussetzungen nicht als metaphysische Prinzipien artikuliert, sondern sie in vergleichende empirische Beobachtungen von Tier und Mensch einfließen lässt. Darwin wertet dabei seine früheren Notizbücher aus. 264

6.3 Der Mensch als Tier unter Tieren Die Lehre der bloß graduellen Unterschiede zwischen Mensch und Tier ist in der Gegenwart populär geworden. Schon aus bloßer Tierliebe sind viele Menschen gern bereit, Haustiere und andere Wirbeltiere als dem Menschen naturverwandt anzusehen. Nur gelegentlich gibt es dazu Einspruch von Seiten der Sprachforscher und Verhaltenstheoretiker. Die moderne synthetische Theorie, nach der sich alles Leben aus der Materie und bestimmten Zufallskonstellationen entwickelt hat, folgt hier den Fährten, die Darwin gelegt hat. Die Erkenntnis der tierhaften Natur des Menschen ist für Darwin von vornherein durch das, was für ihn ein Seinsprinzip ist, die Evolution der stammesgeschichtlichen Kontinuität festgelegt. Erkennen und aufzeigen will er dies durch Belege der Formenähnlichkeit der Glieder des Menschen zu denen der Tiere. Ähnlichkeiten des Skeletts und der Knochen sollen die Entstehung des Menschen aus dem Bereich der Tiere beweisen. Des Weiteren gibt es Ähnlichkeiten der EmbryoErnst Haeckel, Die Welträtsel, 1899, S. 15. Einzelheiten dazu bei: Philipp Sloan, Questionning the Zoological Gaze, in: Sloan, McKenny, Eggleson (Hg.), Darwin in the Twenty-first Century, Notre Dame, Indiana 2015, S. 232–266. 263 264

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nalentwicklung z. B. zwischen dem Embryo des Menschen und dem des Hundes. Auch gemeinsam bei Tieren und Menschen vorhandene Rückbildungen sind für Darwin und die Zoologen ein Beleg für die Zugehörigkeit zu gemeinsamen Tierfamilien. Entscheidend ist dabei, dass Darwin die Ähnlichkeit der Formen nicht analog, sondern univok interpretiert. Moderne Sprach- und Verhaltensforscher bestreiten die Kontinuität von Mensch und Tier und nennen diese einen Mythos. Bei höheren Tieren gibt es zwar eine Raumerkenntnis und einen dressierbaren Werkzeuggebrauch, aber nur der Mensch erkennt höhere und strukturierte Beziehungen. »Viele Arten entwickeln die Fähigkeit mit symbolischen Beziehungen der 1. Ordnung umzugehen, aber nur der Mensch die Fähigkeit, sich Vermögen höherer Ordnung von einem körperlichen Symbolsystem her anzunähern.« 265 Wie Philipp Sloan gezeigt hat, schließt Darwin aus homologen Gleichheiten, die der zoologischen Beobachtung von Gliedmaßen zwischen Tieren und Menschen entstammen, auch auf die Gleichheit innerer Eigenschaften des Menschen, seines Willens und Erkennens. 266 In der modernen Evolutionsgenetik wird aus einer relativ großen Anzahl gleicher Gene zwischen Tier und Mensch auf eine Identität des Wesens geschlossen. Dabei spielt auch die Bewertung einzelner Gene eine Rolle. 267 Nach Darwin ist »ein gemeinsamer Urerzeuger und gleichzeitig ihre spätere Anpassung an verschieden gewordene Bedingungen« anzunehmen. Nur dann kann man »die Ähnlichkeit der Form zwischen der Hand eines Menschen oder eines Affen und einem Fuße eines Pferdes, der Flosse einer Robbe, dem Flügel einer Fledermaus u. s. w.« erklären. 268 Darwins Rede von einem »gemeinsamen Urerzeuger« ist eine die monistische Annahme der Materie als Ursache verdeckende Formulierung. Das Zitat zeigt deutlich, dass Darwin, statt einen empirischen zoologischen Klassenbegriff, der sich auf partikulare beobachtbare 265 Derek Penn, Keith Holyoak and Daniel J. Povinelli, Unversal grammar and mental continuity: Two modern myths, in: Behavioral and Brain Sciences 2009, S. 462–464. 266 Philipp Sloan, Questionning the Zooligical Gaze, a. a. O. 267 V. Lynch, G. P. Wagner, Revisiting a Classic Example of Transscription Factor Functional Equivalence: Are Eyeless and Pax Functionally Equivalent or Divergent, in: Journal of Experimental Zoology 2010, S. 93–98. 268 Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen (1871), Wiesbaden 1986, S. 27.

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Eigenschaften bezieht, zu thematisieren, den Begriff der Spezies benutzt und damit einen implizit metaphysischen Begriff, einen Begriff der Spezies, der jedenfalls philosophische Voraussetzungen hat, in Anspruch nimmt. Weiter sagt Darwin an der zitierten Stelle: »Wir können hiernach verstehen, woher es gekommen ist, dass der Mensch und alle übrigen Wirbelthiere nach demselben allgemeinen Plane gebaut sind, warum sie die gleichen Stufen früherer Entwicklung durchlaufen und warum sie gewisse Rudimente gemeinsam beibehalten haben. Folgerecht sollten wir offen die Gemeinsamkeit ihrer Abstammung zugeben. … Es ist nur unser natürliches Vorurtheil und jene Anmaßung, die unsere Vorfahren erklären hieß, dass sie von Halbgöttern abstammten, welche uns gegen diese Schlussfolgerungen einnehmen.« 269 Diese Polemik gegen die christliche Tradition macht verständlich, dass Darwin den Unterschied bei der Intelligenz des Menschen im Vergleich zum Tier als nur graduell ansieht. Angesichts seiner Abstammungsgeschichte von 1859 hätte man erwarten können, dass Darwin die Entwicklung der Arten nicht nur in körperlichen Unterschieden, sondern auch in geistigen stattfinden sieht. Dies ruft bei Sprach- und Verhaltensforschern Verwunderung hervor. 270

6.4 Der Mensch als moralisches Wesen Wenn Darwin als Zoologe den Menschen als Tier unter Tieren betrachtet, hebt er immer wieder hervor, dass zwischen dem Menschen und den anderen Tieren nur ein gradueller Unterschied ist. 271 Dies schuldet er seinem Prinzip, der Evolution der stammesgeschichtlichen Kontinuität und dem quasi-finalen Prinzip, dass die Natur keine Sprünge macht. Ganz anders setzt er jedoch an, wenn er den Menschen als moralisches Wesen beschreiben will. Hier stützt er sich auf ethische Traktate der Philosophie. Die Ebene, auf die er sich damit begibt, ist jedoch eine ganz andere. Jede Ethik muss ein Wissen um die menschliche Natur, um Willensfreiheit und um das menschliche Erkennen voraussetzen. Indem Darwin auf philosophische BüDarwin, ebenda., S. 28. Derek Penn, Keith Holyoak and Daniel J Povinelli, Universal grammar and mental continuity, a. a. O., S. 462–464. 271 Darwin, Die Abstammung des Menschen, a. a. O., S. 690. 269 270

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cher der Ethik, z. B. auf Immanuel Kants Ethik zurückgreift, nimmt er mit Kant ein Wissen um eine integrale menschliche Natur an, leugnet dieses aber, wenn er die phylogenetische Kontinuität von Mensch und Tier zum Seinsprinzip seiner Erklärung des Menschen macht. Der unerlaubte Sprung, die Erkenntnis der Vollkommenheit mit dem Prinzip des Kontinuums erklären zu wollen, findet sich auch in anderer Weise bei Darwin. Er greift ganz unbefangen auf seine eigenen ethischen Gefühle zurück, die gleichwohl auf tierische Ursprünge zurückgeführt werden müssen. Am Anfang des 4. Kapitels erklärt er: »Ich unterschreibe vollständig die Meinung derjenigen Schriftsteller, welche behaupten, dass von allen Unterschieden zwischen dem Menschen und den niederen Thieren das moralische Gefühl oder das Gewissen weitaus der bedeutungsvollste ist. Dieses Gefühl, wie Mackintosh bemerkt, ›beherrscht rechtmäßiger Weise jedes andere Prinzip menschlicher Thätigkeit‹. Diese Gewalt wird in jenem kurzen aber gebieterischen und so äußerst bezeichnenden Worte ›soll‹ zusammengefasst.« 272 In fast hymnischer Weise fährt er fort: »Es ist das edelste aller Attribute des Menschen, welches ihn, ohne dass er sich einen Augenblick zu besinnen braucht, dazu führt, sein Leben für das eines Mitgeschöpfes zu wagen, oder ihn nach sorgfältiger Überlegung einfach durch das tiefe Gefühl des Rechts oder der Pflicht dazu treibt, sein Leben irgend einer großen Sache zu opfern.« 273 Schließlich zitiert er noch die berühmte Stelle von Kant aus der Kritik der praktischen Vernunft: »Pflicht! Du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, […].« Darwin bringt dieses Zitat durchaus mit Zustimmung. Er sieht es als seine Aufgabe an, diesem moralischen Phänomen, das nach Kant allen Neigungen widerspricht, durch seine naturhistorischen Untersuchungen Rechnung zu tragen. Der Schlüsselbegriff sind die »socialen Instincte«, die sich bei vielen Tieren und dann auch beim Menschen nachweisen lassen. »Sociale Instincte« führen bei Tieren dazu, den Artgenossen zu helfen. Diese Haltung ist auf die Menschen vererbt worden, wobei aber beim Menschen die Höherentwicklung der geistigen Fähigkeiten dazukommt. Auch können durch die Sprache die Wünsche einer Gemeinschaft besser ausgedrückt werden. Durch das Gewicht der öffentlichen Meinung werden wir veranlasst, »auf die Billigung oder Missbilligung 272 273

Darwin, ebenda, S. 106 f. Darwin, ebenda, S 107.

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unserer Genossen Rücksicht zu nehmen«. 274 Darwin weist damit auf das Faktum der Hemmung der unmittelbaren Begierde beim Menschen hin, aber er erklärt es nicht. Bei Kant ist unsere Fähigkeit, die Begierde zu hemmen, ein Anlass, uns empirische Menschen auch zu Mitgliedern einer geistigen – sein Ausdruck ist: noumenalen – Welt zu machen. Für Platon und Aristoteles war das Phänomen, dass wir unsere Begierde hemmen können, Anlass für die Annahme eines Geistprinzips in uns. Der Hinweis auf die soziale Natur des Menschen zeigt nur eine Seite des Fundaments der Moral, die ausnahmslose Verpflichtung, allgemeine Pflichten, wie z. B. das Steuerzahlen, zu beachten, aber damit ist nicht das Vorhandensein des individuellen Gewissens erklärt; denn Steuern werden aus Furcht vor Strafe gezahlt. Was ist das Gewissen? Es ist ein objektiver Maßstab im Menschen, im Subjekt. Es ist ein Beleg für unsere Fähigkeit, praktische Wahrheit zu erkennen, so wie wir auch theoretische Wahrheiten, wie dass ›zwei mal zwei vier ist‹, zu erkennen in der Lage sind. Natürlich gibt es das Phänomen, dass ein Mörder vor Gericht nicht seinem Gewissen folgen will und die Tat ableugnet. Dann wird z. B. argumentiert, dass der Tod des anderen nicht beabsichtigt gewesen sei, sondern zufällig erfolgt ist, obwohl genau das, eben ein Mord, intendiert war. Ein Richter wird dies, wenn die Indizienlage eindeutig ist, nicht anerkennen. Oder ein noch drastischeres Beispiel: Niemand wird einen KZ-Lagerkommandanten, der die Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen organisiert hat, deshalb von Schuld freisprechen, weil die Tötungsmaschinerie bei seiner Weigerung, mitzuwirken, durch einen anderen Befehlshaber ebenso weitergegangen wäre. Unbestreitbar gibt es das schuldhaft irrende Gewissen. Bei einem schwer schuldhaften Gewissen, wie im obigen Fall des KZ-Lagerkommandanten, wird der Richter die Berufung auf das Nichtwissen des Verbots nicht als Entschuldigung anerkennen. Man kann das Vorhandensein eines objektiven Gewissens beim Menschen nicht mit einer gegenüber Tieren höheren Intelligenz, mit Erziehung oder anderen kollektiven Einflüssen erklären. Es ist eben nicht ein Fall der bloß formalen Intelligenz. In der Menschheitsgeschichte sind Menschen wie Sokrates, Luther oder Gandhi leuchtende Beispiele eines objektiven Gewissens, das im Widerspruch zur Mehrheit stand und seine Unbeugsamkeit behauptet hat. Auch kann man das Vorhandensein des objektiven Gewissens 274

Darwin, ebenda, S. 108.

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des Menschen nicht mit den Überlebensvorteilen einer Gesellschaft erklären. Indem Darwin selbst Hilfsbereitschaft und Fürsorge zu Bestandteilen der Moral erklärt, ist ihr Gehalt nicht funktionalistisch auf die bessere Überlebenstauglichkeit der Gesellschaft reduziert. Bei Darwin findet sich eine humanistisch geprägte praktische Ethik als persönliche Haltung. Seine Theorie, die das Verhalten des Menschen von den Tieren und der biologischen Evolution her erklärt, hat, angefangen von Herbert Spencer und Haeckel, über viele Evolutionstheoretiker bis zu den deutschen Nationalsozialisten zu einem Sozialdarwinismus geführt, der erst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs aus dem Vordergrund der gesellschaftspolitischen Argumentation verdrängt wurde. Darwin selbst hat bei seinem Versuch, den Menschen als Tier von den Tieren abzuleiten, problematische Verkürzungen der Geistigkeit des Menschen vorgenommen. Dies haben mit ähnlichen Einwänden bereits seine der Evolutionstheorie freundlich gesonnenen Zeitgenossen Charles Lyell (1797–1875) und Alfred Russel Wallace (1823–1913) bemerkt. Überlebensvorteile gleich welcher Art sind spezifisch für die Evolutionstheorie, aber nicht für die Moral. Darwins anfänglicher Mitstreiter bei der Vertretung der Theorie der Entstehung der Arten, Alfred Russel Wallace, weist auf den Unterschied von Evolutionstheorie und Moral hin. Seiner Auffassung nach ist die biologische Selektion bei der Entstehung einzelner Merkmale, die in der Kulturentwicklung des Menschen wirksam sind, nicht ausschlaggebend: Denn er stellt fest, so referiert Georg Toepfer, dass Moralität und auch Intelligenz nicht unbedingt diejenigen Menschen auszeichnen, die im Leben am besten fortkommen und sich am schnellsten fortpflanzen – und doch sei die Kulturentwicklung auf eine Erhöhung der Moralität und Intelligenz gerichtet: »it is indisputably the mediocre, if not the low, both as regards morality and intelligence, who succeed best in life and multiply fastest. Yet there is undoubtedly an advance – on the whole a steady and a permanent one – both in the influence on public opinion of a high morality, and in the general desire for intellectual elevation.« 275 Wenn wir uns an die obige Entwicklung des objektiven Gewissens erinnern, das eine Art Befähigung des Menschen zur praktischen Wahrheit ist, dann wird uns klar, dass Gewissen nicht nur eine feste Haltung und schon gar nicht eine Dressur des Gewissenstäters ist. Es ist vielmehr die Kraft des Menschen, an einer erkannten praktischen 275

Zitiert bei Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Band 2, S. 542.

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Der Mensch als moralisches Wesen

Wahrheit festzuhalten. Wenn Darwin in seinem Werk Die Abstammung des Menschen erklärt: »Ich stimme mit Agassiz überein, dass Hunde etwas dem Gewissen sehr Ähnliches besitzen« 276, dann verunklart er sein Verständnis von Geistigkeit, von deren Zunahme er bei den Menschen im Vergleich zu den Tieren gesprochen hatte. Darwins Erklärung der Moral des Menschen durch die Entwicklung aus dem Tierreich geht mit deren Abflachung und Vulgarisierung einher. Darwin erkennt nicht klar, dass Tiere nur ursächliche notwendige Bedingungen in der Evolution des Menschen sind, aber keine hinreichenden. Seine Messlatte für die Moral entnimmt er ja dem moralischen Selbstverständnis des Menschen und ethischen Traktaten der englischen moral sense-Philosophie und Kants. Robert Richards erläutert Darwins Verfahren in dessen Werk Die Abstammung des Menschen und weist darauf hin, dass Darwin Mackintoshs ethische Theorie in biologischen Begriffen erklärt. 277 Für die Ethik ist das Verfahren von Darwin das ideale Beispiel für den von George Edward Moore formulierten naturalistischen Fehlschluss. Eine adäquate realistische naturhistorische Theorie, wie sie Darwin vorschwebt, müsste die Anerkennung der Eigenständigkeit und Unbedingtheit moralischen Seins enthalten, auf die erst der Mensch und nicht die Tiere, mit seiner Erkenntnis unbedingten Seins hinzuweisen in der Lage ist. Er kann zumindest sprachlich auf das Phänomen des Unbedingten hinweisen, auch wenn er dieses inhaltlich nicht erfassen kann. Die Erklärung der höheren Qualität der Moral der Menschen durch ähnliche Verhaltensweisen der Tiere ist notwendig falsch, weil sie das höher Entwickelte aus dem Niedrigen zu erklären versucht. Jede Art von Wesenserkenntnis, die das Vollkommene aus dem weniger Vollkommenen, das Gesunde aus dem Kranken erklären will, scheitert an dieser Aufgabe. Wenn wir von Gold sprechen, dann sprechen wir vom reinen Gold, obwohl wir wissen, dass es auch unreines, gepanschtes Gold gibt. Das reine Gold entsteht nicht von selbst aus dem unreinen. Wenn wir von Wasser, von der Luft oder von der Erde sprechen, dann ist es das reine Wasser, die reine Luft, die wir hier auf der Erde vorgefunden haben, die wir nicht reiner machen können, sondern höchstens verunreinigen. Zur Erklärung der Art der VollDarwin, Die Abstammung, a. a. O., S. 113. Robert Richards, Darwin and the Emergence of Evolutionary Theories of Mind and Behavior, Chicago 1987. 276 277

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Darwins erste naturhistorische These über die Entstehung der Arten (1859)

kommenheit des Wassers hilft es nichts, dass wir vielleicht aus der Naturgeschichte frühere Zustände des Wassers kennen. Diese sind naturgeschichtlich interessant, dispensieren uns aber nicht von der Pflicht, an der Qualität und Reinheit des Wassers mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln festzuhalten, weil daran unsere Gesundheit und unser Weiterleben geknüpft ist. Das Wasser kann früher mit anderen Zusätzen vorgekommen sein. Für die Erkenntnis des Wesens des Wassers ist dies nicht entscheidend. Ebenso ist es auch mit dem Wesen des Menschen. Wir kennen die menschliche Natur aus unserer leib-geistigen Selbsterfahrung. Wir müssen das Wesen des Mensch von uns her, also von oben und nicht von unten, von den Tieren her interpretieren, auch wenn wir in den Lebensvollzügen viele Ähnlichkeiten mit den Tieren haben, wenn wir von uns zu den Tieren schauen. Darwin macht den Fehler, den Menschen von unten nach oben zu erklären, obwohl er zunächst von oben seinen Ausgang nimmt, wenn er sein Prinzip der phylogenetischen Kontinuität beim Menschen ansetzt. Wenn ich den Erklärungszusammenhang an dem Prinzip des von-oben-nach-unten-verlaufend auf die Evolutionstheorie anwende, dann heißt dies, dass die richtige Erklärung des Menschen immer von seiner Ganzheit ausgehen muss. Wenn die genetischen Theorien physiologische und atomare Mechanismen erklären, dann gehen sie ebenfalls von seienden Lebewesen aus und untersuchen nachträglich Teile, aus denen sich der fertige Körper zusammensetzt. Diese genetische Methode kann jedoch nicht im Sinne von synthetischen Evolutionstheorien auf die Genese des Lebens aus der Materie, oder auf die Genese des Menschen aus tierischen Genkombinationen übertragen werden, weil die Vollkommenheit nicht mit der phylogenetischen Kontinuität erklärt werden kann. Diese Erklärungen von unten nach oben sind nicht möglich, weil die Ausgangsbedingungen nicht getrennt für sich wahrnehmbar sind, sondern z. B. nur in Spuren von Gesteinsabdrücken. Jede Art von Naturgeschichte, die die frühen Phasen erklären will, bleibt notwendig im Bereich der Gedankenspekulation und dringt nicht zur wirklichen Erkenntnis durch. Wirkliche Erkenntnis muss immer von einer Wahrnehmung ausgehen, sei es der Wahrnehmung der äußeren Sinne oder des inneren Sinnes.

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Zusammenfassung:

6.5 Zusammenfassung: Darwin greift zur Entwicklung seiner Selektionstheorie wie Aristoteles auf das Handeln des Menschen gegenüber der Natur zurück. Durch Züchtung verändert der Mensch Tiere zu seinem Vorteil. Ähnlich wie der Züchter verändert nach Darwin die Natur die Lebensbedingungen der Arten, wodurch nur solche, die stärker sind als andere, überleben. War für Newton die Schwerkraft die allgemein bewegende Kraft der Natur, so sind es für Darwin deren begrenzte Lebensbedingungen, die die Lebewesen unter Druck setzen. Durch die Einflüsse der Theorie von Malthus, die von einer Verschärfung des menschlichen Konkurrenzkampfes durch Überbevölkerung ausgeht, und der Theorie der klassischen Nationalökonomie von Adam Smith, dass das Überleben im Konkurrenzkampf des Marktes auf naturgesetzliche Umstände zurückgeht, ist das Verhältnis der Lebewesen zueinander allein das des Konkurrenzkampfs, wobei die symbiotische Ergänzung, die es ja auch in der Natur gibt, völlig bedeutungslos wird. James Lennox stellt die bei Darwin durchaus vorhandene, wenn auch durch den Selektionsgedanken überlagerte Perspektive der Finalbetrachtung heraus. Die Finalität wird aber durch die Begriffe Mutation und Rekombination abgelöst. Während es bei Darwin in der Schrift Über die Entstehung der Arten 1859 zunächst nur um die Entwicklung der Arten und nicht um die innere Dynamik des Lebens geht, findet letztere im zweiten Hauptwerk Darwins über Die Abstammung des Menschen 1871 ihren Platz. Die evolutionäre Dynamik, die den Menschen aus den Tieren hervorgehen ließ, fügte nach Darwin Mensch und Tier so nahe zusammen, dass zwischen ihnen nur eine quantitative Differenz sein sollte. Durch die Übertragung der Kriterien von homologen anatomischen Unterschieden von Tieren und Menschen auf innere Ähnlichkeiten des Empfindens, Erkennens und Strebens des Menschen, schuf Darwin das Missverständnis eines Tier-Mensch-Kontinuums, das durch eine Verkürzung der menschlichen Moral auf einen Überlebenskampf in der Menschheitsgeschichte zu verheerenden Missverständnissen geführt hat.

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7. Der Zufall und das Tier-MenschKontinuum 278

Die Ähnlichkeit der genetischen Bausteine des Menschen und des Affen ist für manchen populären Wissenschaftler Anlass, darauf hinzuweisen, dass uns wenig vom Affen trennt. 279 Dabei müsste jeder wissen, dass Gene Bausteine sind, die viele weitere Voraussetzungen der Organismen und einen Plan benötigen, damit sie ihrer Aufgabe genügen können. Emsig sind Forscher dabei, möglichst viele Ähnlichkeiten der Affen mit den Menschen herauszufinden. So wird bei Vergleichen menschlicher Intelligenz mit Leistungen von Affen immer wieder darauf hingewiesen, dass Affen einen Werkzeuggebrauch haben, der demjenigen von vierjährigen Kindern überlegen ist. 280 Nicht berücksichtigt wird dabei, das sei am Rande bemerkt, dass ein vierjähriges Kind in weiteren drei Jahren Lesen und Schreiben kann, was der Affe nie können wird, was aber beim vierjährigen Kind schon angelegt sein muss, damit es später aktiv umgesetzt werden kann. Auch Darwin greift bei seinen Tier-Mensch-Vergleichen auf die höheren Leistungen des Menschen zurück. Darwin entnimmt der Philosophie, genauer der englischen Moralphilosophie seiner Zeit, den Begriff des moralischen Sinnes und des moralischen Gefühls. Dieses leitet er sowohl aus der Kooperation als auch aus der Konkurrenz von menschlichen Gemeinschaften her. Als soziales Tier hat der Mensch eine mehr oder weniger enge Bezugsgruppe. Eine solche Gruppenmoral kann sich aus der Einsicht der Nützlichkeit reziproker Unterstützung ergeben, aber reicht das, um universelle Zusammenschlüsse in einem Ausführungen zu diesem Thema finden sich in meinem Artikel: Tier und Mensch bei Darwin und im Neodarwinismus, in: Perspektiven der Philosophie, Neues Jahrbuch, hg. von Georges Goedert und Martina Scherbel, Band 43, Leiden 2017, S. 26– 43. 279 John und Mary Gribbin, Ein Prozent Vorteil. Wie wenig uns vom Affen trennt, Basel 1993. Die amerikanische Originalausgabe erschien 1988 unter dem Titel The one percent advantage – The sociobiology of being human, Oxford 1988. 280 Z. B. Spiegel online vom 10. 06. 2011: Wassertrick verschafft Schimpansen Nüsse. 278

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Der Zufall und das Tier-Mensch-Kontinuum

Staat, der auf der Einsicht in Recht und Unrecht beruht, zu erklären? Wie wir gesehen haben, zitiert Darwin den Ethiker James Mackintosh (1837), ferner Kant und dessen Frage nach dem Ursprung der Pflicht. Das von diesen entwickelte hohe Niveau der Moral möchte er auf Eigenschaften von Stämmen zurückführen, die durch Zusammenhalt, Gehorsam, Mut und Sympathie über andere Stämme gesiegt haben. Können Kriege erklären, warum die Selbsterhaltung von z. B. Affen zur Entwicklung des Menschen geführt hat? Kriege sind ein typisch menschliches Verhalten. Sie machen nicht verständlich, warum z. B. die natürliche Selektion der Affen zum Menschen führt. Überdies ist fraglich, ob durch Kriege eine bessere Moral des Menschen entwickelt werden kann. Wie erwähnt, waren zeitgenössische Evolutionsdenker und Kollegen Darwins, wie Lyell und Wallace, gegenüber Darwins Versuch, die höhere Moral des Menschen aus einer tierischen Basis zu entwickeln, skeptisch. Auch für uns heute ist eine Skepsis gegenüber dem Versuch, den Menschen als Tier unter Tieren zu entwickeln, angebracht. Die menschliche Natur, die als freie und gleiche zu begreifen ist, ist nur unter einer Norm begreifbar. Dieser Zustand findet sich nur beim Menschen vor und ist nur von dieser Ebene her erkennbar. Die Frage, warum manche Affen sich in ihrer Selbsterhaltung zum Menschen entwickelt haben und andere, die Affen geblieben sind, nicht, ist aus dieser Perspektive nicht beantwortbar. Eine Lösung bieten allgemeine physikalische Gesetze, die dem Leben angeblich zugrunde liegen, sodass materielle Elemente jeden Übergang erklären. Die ursprüngliche Theorie Darwins wird seit längerem vom herrschenden Neodarwinismus her interpretiert. Der Neodarwinismus besteht vor allem in einer Zusammenführung von Evolutionslehre und Genetik. Die neue Synthese kam durch die Streichung der offensichtlich falschen naturalistischen Ökonomievorstellungen, vor allem der Theorie von Malthus, zugunsten der Aufnahme der Mendel’schen Vererbungsgesetze zustande. Bestimmte Inhalte des Naturalismus wurden aufgegeben, andere naturalistische Inhalte wie die des alten Atomismus, der materiellen Determination aller Elemente, wurden dafür eingefügt. Die Grundlage der Wirklichkeit sind dann nicht mehr die Atome, sondern die Gene. Während im 19. Jahrhundert die Evolutionstheorie von Ernst Haeckel, nicht unbeeinflusst vom europäischen Imperialismus und Kolonialismus, aufgrund ihrer sich auf Darwin berufenden Prämissen zu rassistischen Aussagen über den Menschen kam, geht die moderne Evolutionstheorie mit 181

Der Zufall und das Tier-Mensch-Kontinuum

der zentralen Stellung der Gene des Lebewesens, aus denen alles abzuleiten sei, ganz demokratisch von der Gleichheit der Rassen und Menschen aus, spricht aber dem Gen und den Zufälligkeiten der Gen-Drift eine Rolle zu, die das Gen, wie ich in den Abschnitten 9.1 und 11.4 ausführen werde, nicht leisten kann. Bestimmte nicht ins Konzept passende quantenphysikalische Schwierigkeiten für die Erklärung der Entstehung des Lebens aus der Materie werden dann von Winkler und Eigen ausgelassen. 281 Eine mechanische physikalische über lange Zeitreihen laufende Entwicklung der Materie soll mit Hilfe des Zufalls als Erklärung der Höherentwicklung zu den Formen der Lebewesen führen. Praktisch können alle zur jeweiligen Entwicklung des einen Lebewesens zum anderen nötigen Entwicklungsschritte als auf zufälligen Randbedingungen beruhend angesehen werden. Der Zufall fungiert als deus ex machina, als eine Verlegenheitslösung, wie von Paul Erbrich in Der Zufall 282 herausgearbeitet wurde. Bei Darwin steht der Zufall für ein Naturereignis, das zwar eingetreten sein muss, dessen genauen Hergang man jedoch nicht bzw. noch nicht kennt. In dem Buch Die Entstehung der Arten sagt Darwin: »Ich habe bis jetzt das Wort ›Zufall‹ gebraucht, wenn von Veränderungen die Rede war, die bei organischen Wesen im Zustand der Domestikation häufiger und bei solchen im Naturzustand seltener auftreten. Das Wort ›Zufall‹ ist natürlich keine richtige Bezeichnung, aber sie lässt wenigstens unsere Unkenntnis der Ursachen besonderer Veränderungen durchblicken.« 283 Der Zufall ist auch bei renommierten Vertretern des Darwinismus und Neodarwinismus kein Zeichen der Sinnlosigkeit der Biosphäre und des Menschen. Er ist nicht absolut irrational und unerklärlich, sodass man mit Jacques Monod vom Menschen als »Zigeuner am Rande des Universums« sprechen müsste. Steven Jay Gould bemerkt, dass der Begriff randomness, Ungerichtetheit, in der Evolutionstheorie ein unglücklicher Begriff sei. Er sagt: »Wir meinen nicht die mathematische Bedeutung von gleichwertigen Möglichkeiten. Wir meinen einfach, dass eine Variation mit keiner gewichteten Ausrichtung zur Anpassung vorkommt.« 284 Ernst Mayr präzisiert diese Ungerichtetheit weiter: »Damit ist überEigen und Winkler, Das Spiel, München und Zürich 1975. Stuttgart 1988. 283 Darwin, Die Entstehung der Arten, S. 188. 284 Stephen Jay Gould, The Panda’s Thumb: More Reflexions in Natur History, New York 1982, S. 79; zitiert bei Fran O’Rourke, Aristotle and the metaphysics of evolution, in: The Review of Metaphysics 58, 2004, S. 33. 281 282

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haupt nicht gemeint, dass irgendeine Variation irgendwo zu irgendeiner Zeit vorkommen kann. Im Gegenteil sind Mutationen einer Spezies hoch eingeengt. […] Wenn gesagt wird, dass eine Mutation oder Variation ungerichtet (random) ist, meint diese Feststellung einfach nur, dass es keine Korrelation zwischen der Produktion neuer Genotypen und den Anpassungsbedürfnissen eines Organismus an die gegebene Umgebung gibt. Bedingt durch zahlreiche Festlegungen, meint diese Feststellung nicht, dass jede denkbare Variation möglich ist.« 285 In der modernen Evolutionsgenetik bedeutet Zufall jedoch wieder völlige Ungerichtetheit. Kimura, ein Vertreter der molekularen Evolution, erklärt diese Position folgendermaßen: »Die große Mehrheit der evolutionären Veränderung auf der molekularen DNA Ebene ergibt sich nicht aus der Darwin’schen natürlichen Selektion, die durch vorteilhafte Mutanten wirkt, sondern durch zufällige Fixierung von selektiv neutralen oder fast neutralen Mutanten durch zufällige genetische Drift, die durch zufällige Gameten (= molekulare Teile) und endliche Populationen ausgelöst wird.« 286 Ernst Mayr führt in dem Buch Eine neue Philosophie der Biologie 287 eine intensive Auseinandersetzung mit der Mikroevolution mit dem Ziel zu zeigen, dass die Makroevolution, die von den Arten und ihrer natürlichen Umgebung ausgeht, nicht durch die Mikroevolution ersetzt werden kann. Nach Ernst Mayr könnte die molekulare Evolution eine eigenständige Evolutionsbiologie sein, ohne das Recht, sich noch auf Darwin berufen zu dürfen. Andreas Wagner erledigt diese Möglichkeit damit, dass er erklärt, dass Darwin noch nichts von der Genetik gewusst habe. Er erwähnt in seinem Buch Arrival of the Fittest zwar Ernst Mayr, aber übergeht dessen Kritik. Dabei gibt es durchaus verschiedene Schulen des Neodarwinismus, wie die von Dawkins, Gould und anderen. Die Theorie von Dawkins und seines Schülers George Williams wird von einem anderen Darwinisten, nämlich Thomas Weber, als »radikaler Genchauvinismus« 288 bezeichnet. Denis Noble argumentiert sachlicher, wenn er in seinem oben erwähnten Buch erklärt, dass Dawkins Behauptung über das Genom, das manchmal

Ernst Mayr, Toward a New Philosophy, S. 98–99. Zit. Bei O’Rourke, ebenda, S. 34. Zitiert von James Lennox, Artikel Darwinism, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy; Zugriff am 6. 1. 2016. 287 München 1991, S. 319–346. 288 Thomas P. Weber, Darwin und die Anstifter, Köln 2000, S. 216. 285 286

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als ein Programm beschrieben wird, das alle anderen Prozesse eines Organismus lenke, falsch sei. 289 Die vorhandenen internen Widersprüche von Evolutionisten werden nicht ausgetragen. Nach außen stellen sich die Lehre Darwins und die des Neodarwinismus als eine auch in der Gegenwart uneinnehmbare Festung dar. Auch Goulds Theorie ist ein Beispiel dafür, dass die über Darwin hinausgehenden Theorien nicht diejenigen neuen Einsichten hervorheben, die nach ihren Voraussetzungen Darwins Theorie falsifizieren und sich infolgedessen nicht mehr zum Darwinismus zählen sollten, sondern dass sie sich vielmehr alle als Erben und Vollstrecker der Theorie Darwins betrachten. Die gemeinsame Klammer um den Neodarwinismus ist, dass dieser, insofern er wissenschaftlich vorgeht, zwar die alte Erklärung von Paley mit der göttlichen Lenkung der Lebewesen zu Recht ablehnt, dass er aber nicht zur aristotelischen Klammer um das Lebendige, dass jedes Lebewesen zielgerichtet ist, zurückfindet. Für den Neodarwinismus ist charakteristisch, dass er Darwins Frage nach der Abstammung und Veränderung der Art als Auflösung und Zusammensetzung der Natur einer Art begreift. Darwins Theorie impliziert, wie wir in Abschnitt 6.1 gesehen haben, eine Zielstrebigkeit der Lebewesen zur Erzeugung der ihnen eigenen nützlichen Variabilität. Darwin stellt keine philosophische Frage nach der Natur des Lebens, was das Leben in sich ist, während dies bei den neodarwinistischen Theorien der Fall ist, weil diese das Leben selbst aus verborgenen Kräften der Materie deuten und damit eine »metaphysische« Dimension implizieren. Nach dem Anspruch von Gould ist die neue Evolutionstheorie weder eine Ausdehnung noch eine Zerstörung oder Ersetzung, sondern eine Vollendung der früheren Theorie von Darwin. Die hier entwickelten unterschiedlichen Begriffe des Zufalls machen deutlich, das dies nicht der Fall ist. Es lässt sich ferner mit Jean Gayon 290 zeigen, dass die neuen als darwinistisch auftretenden Theorien einen umfassenderen Gegenstandsbereich erschließen wollen und dass sie Prinzipien von der Art einer Letztbegründung enthalten. Darwin denkt das Leben als durch Gott geschaffen. Sein Diagramm, das er in der Schrift Über die Entstehung der Arten mitDenis Noble, The Music of Life, Oxford 2007, S. 51. Jean Gayon, What Future for Darwinism, in: Sloan, McKenny, Eggleson (Hg.), Darwin in the Twenty-First Century, Notre Dame, Indiana 2015, S. 404–422. 289 290

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teilt, geht von verschiedenen Stammbäumen der Lebewesen aus. Darwin charakterisiert seine Theorie damit, dass er sagt, dass sie Veränderungen der Lebewesen durch allgemeine Zuchtwahl erfasse. 291 Die Formel von Darwin impliziert zwei Aspekte: »die Abstammung mit einer Veränderung« und die »natürliche Auslese«. Wie Darwin in einem Brief an Asa Gray, einen amerikanischen Biologen, der seine Auffassung in den USA populär machte, im Jahr 1863 schreibt: »Persönlich, natürlich, schätze ich die natürliche Auslese hoch ein, aber dies scheint gänzlich im Vergleich zur Schöpfung oder Veränderung unwichtig zu sein.« 292 In dieser Äußerung geht Darwin ganz selbstverständlich von der Schöpfung als dem Ursprung des Lebens aus. Schöpfung und natürliche Zuchtwahl bleiben bei Darwin in einem Schwebeverhältnis, ohne dass deren widersprüchliche Konsequenzen zur Auflösung einer der beiden Seiten führen wird. Die moderne theoretische Ausdehnung und Radikalisierung der Darwin’schen Theorie besteht darin, dass die Abstammungslinien rein innerhalb der Gene und ihrer materiellen Voraussetzungen laufen. Ein horizontaler Gen-Transfer bewirkt neue Formen der Variierung. Es ergibt sich folgendes Bild: Die moderne Evolutionsgenetik konzipiert genetische Folgen als physikalische Gesetze ohne Rückgriff auf Finalität und ohne Unterordnung auf das Zielstreben der Organismen. Sie erhebt den Anspruch, die Natur in sich als Ursache-Wirkungsverhältnis und als Evolution zu begreifen, wobei das Lebendige in Evolution begriffen ist und in sich selbst schöpferische Kräfte hat. 293 Da in dieser Konzeption die Naturwesen nur Gen-Kombinationen sind, gibt es von diesen her kein Hindernis, wünschbare Eigenschaften im Phänotyp durch Eingriffe in diesen zu schaffen. Die Entdeckungsdynamik der Menschen strebt in prometheischer Manier zur Korrektur und Verbesserung des Genoms des Menschen, wobei niemand genau um die langfristigen Folgen wissen kann. Hat man die menschliche Keimbahn einmal aufgehoben, vielleicht synthetische Gene eingesetzt, breitet sich das neue Produkt sehr schnell und unkontrollierbar aus. Die katastrophalen Wirkungen erfordern dann erst recht den Einsatz von noch mehr Gen-Technik, sodass sich das Ausmaß der Manipulationen beständig erhöht. Der Naturbeherr291 C. Darwin, On the Origin of Species and Preservation of the Favoured Races in the Struggle for Life, Cambridge 1859, Harvard 1964. 292 Jean Gayon, a. a. O., S. 406. 293 Wagner Andreas, Arrival of the Fittest, a. a. O., S. 16.

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schungsversuch wird in immer größeren Fehlprodukten resultieren, auf die dann mit immer weiter gehenden technischen Eingriffen geantwortet werden muss. Die Naturbeherrschung mit der willkürlichen Veränderung der Pflanzen und Tiere gelangt mit der Keimbahnmanipulation an ihr Ende, indem die Herrschaft des Menschen nicht in die der Roboter und Cyborgs, sondern in die von pervertierten und fehlgezüchteten Menschen übergeht.

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8. Die Natur als das Gute und Beste

8.1 Philosophischer und biologischer Artbegriff Das bisherige Gespräch zwischen Darwin und der klassischen Naturphilosophie soll in diesem Kapitel fortgesetzt werden. Wir haben im vorausgehenden sechsten Kapitel gesehen, dass Darwin teleologische Elemente des Aristoteles aufnimmt, diese aber durch die Rezeption von Newtons naturmechanistischem Denken eingrenzt und schließlich verdrängt. Durch den Einfluss der modernen Genetik und die Übertragung ihres monistischen Konstruktivismus auf die Evolutionstheorie wird aus der Mutation von Organismen die Zufallskombinatorik von Genen, die die Evolution bewirken sollen. Während die Genetik erst im Nachhinein die Gene als geschichtliche und bereits gewordene Produkte aufnehmen kann, argumentiert sie als Evolutionstheorie in der angemaßten Rolle des Wissens aus dem Ursprung. Aus der Selbstreplikation von komplexen Zellen soll die ganze Vielfalt des Lebens hervorgehen. Vorbereitet wird diese Entwicklung freilich durch Darwin selbst. Wie wir im sechsten und siebten Kapitel gesehen haben, verfehlt Darwin mit seinem univoken den Menschen und das Tier umfassenden Begriff das analoge Begreifen von Mensch und Tier. Die moderne genetische Evolutionstheorie (z. B. Theodosius Dobzhansky, Ernst Mayr, Julian Huxley, Maynard Smith, E. Szathmáry, Francis Heylighen, Marcel Weber) hat sich von zielgerichteten Vorgaben der Natur losgelöst und beschreibt das Ergebnis des evolutionären Werdens als sich selbst erzeugende funktionale Komplexität. 294 Sie versteht dessen Struktur im Kontext des modernen physikalistischen Weltbildes, ohne dass sie zeigen kann, woher die »Aufschwünge der Materie zu 294 Francis Heylighen, The Growth of Structural and Functional Complexity during Evolution, in: F. Heylighen, J. Bollen und A. Riegler (Hg). The Evolution of Complexitiy, Dordrecht 1999, S. 1–18.

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Die Natur als das Gute und Beste

Höherem« kommen. 295 Diese moderne Ersatzmetaphysik hat weitreichende ethische Konsequenzen. Das Leben und seine Bestandteile, die Gene, haben in dieser Sicht keine ursprüngliche Würde mehr. Sie sind nur noch Material und Ressourcen für die Gewinninteressen des Menschen. Die Natur liefert keine Argumentationsbasis mehr für die Bestimmung moralischer Normen. Alles ist nur noch ein gesellschaftlicher Interessenprozess. Es ist diese Haltung des industriezeitalterlichen Menschen, die zur Umweltkrise geführt hat und eine Besinnung auf das Eigenstreben der Natur fordert. Die Natur enthält ein eigenes ethisches Begründungspotential und setzt dem Menschen Grenzen. 296 Während manche Denker fest davon überzeugt sind, »dass die Evolution der lebendigen Arten als wissenschaftlich gesichert gelten kann«, 297 gibt es Einwände von Biologen dagegen, die für eine weitere Klärung sprechen. Einige Forscher, die diese Auffassung vertreten, sollen im Folgenden angeführt werden. Nach Rolf Sattler wurde von den Vertretern der Evolutionstheorie nicht gezeigt, dass die natürliche Selektion die einzige oder wenigstens hauptsächliche Bewegungskraft ist. Nach Auffassung von Sattler ist es immer noch diskutierbar, in welchem Ausmaß die natürliche Selektion in der Evolution eine Rolle gespielt hat. Andere Bedenken kommen von Kimura, der auf der Basis einer Neutralitätstheorie der molekularen Evolution die Evolution des Proteins nicht der natürlichen Selektion zurechnet. 298 Auch auf der Basis der Makroebene wurden von Ho und Saunders Einwände vorgebracht. Diese erklären, dass die »Rolle der natürlichen Selektion in sich selbst begrenzt ist und sie die Verschiedenheit der Populationen oder der Spezies nicht angemessen erklären könne. Ebenso wenig könne sie den Ursprung einer neuen Spezies oder eines größeren evolutionären Wandels erklären. Ein relatives Ausbleiben der natürThomas Buchheim, Einleitung zu Aristoteles, Über Werden und Vergehen. De generatione et corruptione, Hamburg 2011, S. XXV. Ein Beispiel für einen »metaphysischen« Darwinismus liefert die Theorie von Marcel Weber, Die Architektur der Synthese. Entstehung und Philosophie der modernen Evolutionstheorie, Berlin 1998. 296 Zur Begründung bei Hans Jonas: Gerald Hartung, Kristian Köchy, Jan C. Schmidt, Georg Hofmeister (Hg.), Naturphilosophie als Grundlage der Naturethik, Freiburg 2013. 297 Johannes Hübner, Aristoteles über Getrenntheit und Ursächlichkeit, Hamburg 2000, S. 250. 298 M. Kimura, The neutral theory of molekular evolution, in: Scientific American, 241, 1979, S. 98–130. 295

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Philosophischer und biologischer Artbegriff

lichen Selektion könnte eine Voraussetzung für einen größeren evolutiven Fortschritt sein.« 299 Diese Reihe der Kritiker ließe sich leicht fortsetzen. Ich möchte jedoch zur Theorie von Darwin zurückkehren. Darwin selbst haben die Konsequenzen seiner Idee, die Verflüssigung des klassischen biologischen Artbegriffs, in Verlegenheit gebracht, weil er die naturphilosophischen Zusammenhänge des substantiellen Werdens und das Gattungs-Art-Verhältnis des Seins bei Aristoteles nicht gekannt bzw. mit seinem Begriff der stammesgeschichtlichen Kontinuität einen anderen Begriff des Werdens an dessen Stelle gesetzt hat. Die biologische Aufteilung der Lebewesen und ihrer Vielheit ermöglicht nur Klassifizierungen wie in der Biologie bei Linné, womit keine Spezies im streng philosophischen Sinne eingeteilt werden können. Darwin geht vom Klassifikationsbegriff von Linné aus. Klassifikationen setzten aber die ontologischen Unterscheidungen voraus. Philosophisch betrachtet, abstrahieren wir den Begriff der Spezies aus der Form der Substanz. Nur weil es Substanzen real gibt, haben wir Begriffe davon. Etwas wird als Art erkannt, wenn es real möglich oder wirklich ist. Biologische Klassifikationen erfolgen aufgrund der realen Gegebenheit nach akzidentellen bzw. wissenschaftlichen Unterteilungsgesichtspunkten. Lebendiges findet sich in Gattungen im weiteren Sinne vor, in denen, wie Aristoteles in der Metaphysik sagt, das Seiende und das Eine vorliegt. 300 Das Sein des Lebens ist dann, wenn etwas Lebendiges existiert, analog in diesem vorhanden, sodass keine Klassifikation im Sinne des biologischen Lebensbegriffs vorliegt. Das Wesen des Lebewesens ist das Sein, wie es in der Seelenlehre des Aristoteles heißt. 301 Philosophisch gesehen, kann man wegen der ausschlaggebenden substantiellen Formen nur drei seinsmäßig unterschiedene Speziesgruppen aufstellen: die Körper, die Lebewesen und den Menschen. Unter dem Begriff »Lebewesen« sind Pflanzen und Tiere zu verstehen, während Menschen zu den Lebewesen gehören, aber nicht so, dass sie mit diesen als Art unter einer Gattung »Lebewesen« stünden. Vielmehr bilden die Menschen selbst eine Gattung. Da der Mensch Vernunft hat, kann er sein Lebendigsein nicht nur vital, sondern auch geistig erleben. Das Leben 299 M. W. Ho und P. T. Saunders, Beyond neo-Darwinism – an epigenetic approach to evolution, in: Jornal of Theoretical Biology, 78, 1979, S. 573–591. 300 Aristoteles, Met. 1004 a 4. 301 Aristoteles, De An. 415 b 14.

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ist somit zum Geist hin offen. Auch begründet die Hautfarbe keine Menschenrassen, wie z. B. die Evolutionsforscher Herbert Spencer und Ernst Haeckel gemeint haben. Aristoteles hat hier richtig gesehen. Wenn z. B. zwischen Menschen mit weißer und Menschen mit schwarzer Hautfarbe unterschieden wird, beruht diese Unterscheidung, wie Aristoteles in der Metaphysik bemerkt, auf dem Stoff und nicht auf dem Begriff. Beim Menschen ist die Spezies einfach und lässt keine Unterschiede zu, während dies in anderen Fällen der Fall ist. 302 Aristoteles sieht klar, dass nur die auf dem Begriff – hier des Menschen – beruhenden Merkmale Artunterschiede hervorbringen können, was aber bei der Hautfarbe nicht der Fall ist. 303 Die Schwierigkeit, die Darwin’sche Entdeckung des evolutionären Wandels der Lebewesen philosophisch zu begreifen, beruht darauf, dass Darwin von empirischen naturwissenschaftlichen Begriffen ausgeht, diesen Wandel aber als substantiellen Wandel der Arten – deren Begriff er gleichzeitig aufhebt – interpretiert. Er führt den Begriff der Art im Titel seines Hauptwerks Die Entstehung der Arten von 1859 an, hält den Begriff aber für undefinierbar. 304 Es ist leicht zu sehen, warum er so argumentiert. Er möchte seine widersprüchliche Annahme einer völligen Wandelbarkeit der realen natürlichen Dinge und der gleichzeitigen Behauptung ihrer strengen Identität vermeiden. Bei Darwins wissenschaftlicher Arbeit stehen empirische Varietäten der Dinge im Vordergrund, sodass er geneigt ist, die begriffliche Seite völlig in beliebigen Konventionen aufzulösen. Seine Beschreibung der Abweichung von Finkenschnäbeln setzt zunächst einmal voraus, dass Finken von Amseln zu unterscheiden sind. Eine solche begriffliche Grenze ist denkbar, wenn, dem Klassifikationsbegriff der Art vorausliegend, ein philosophischer Substanzbegriff konzipiert wird. Durch den Verzicht auf einen substantiellen Artbegriff wird unklar, was er mit einer Entwicklung der Arten meinen kann. Darwins Schwierigkeit ist schon bald nach dem Erscheinen seines Hauptwerks bemerkt worden. L. Agassiz erläutert die bestehende Grundschwierigkeit: »Wenn Spezies überhaupt nicht existieren, wie die Vertreter der Veränderungstheorie behaupten, wie können sie sich dann verschieden ausprägen? Wenn Individuen für sich existieren, wie könAristoteles, Hist. An. I,6 618–19. Aristoteles, Metaphysik, 1058 b 26 – 1059 a 14. 304 Darwin in einem Brief an I. D. Hooker vom 11. Januar 1844, zitiert bei Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie I, a. a. O., S. 118. 302 303

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Philosophischer und biologischer Artbegriff

nen dann die Unterschiede, die zwischen ihnen beobachtet werden, die Veränderlichkeit der Spezies bewirken?« 305 Darwin hat dieses philosophische Grundproblem nur pragmatisch, indem er einfach seinen Ideen folgte, aber nicht begrifflich gelöst; denn es fehlt die Annahme eines identischen Subjekts, auf das sich der theoretische Begriff der Art beziehen kann. Als Biologe beschäftigte sich Darwin mit vielen Arten, z. B. mit Finken und Schildkröten. Vergleichende Beobachtungen, die zu Varianten von Arten führen, setzen immer zuerst den Bezug eines identischen Wesens, das als Art erkannt wird, voraus. Nach Darwin sind die einzelnen Lebewesen keiner Art zuzuordnen. 306 Die Annahme, dass alle Lebewesen miteinander verwandt sind und insgesamt einen Artbegriff bilden, in dem alle ihre Stammbäume zusammenfließen, entspricht in der Konsequenz dem bereits von Herbert Spencer formulierten Evolutionismus. Der Artbegriff der Lebewesen wird zu einem metaphysischen Quasi-Subjekt, das die Vielheit der Lebewesen enthält und aus sich entspringen lässt. Die Konzeption dieses Artbegriffs, der ein materielles und lebendiges Ganzes ist und doch nur aus Teilen besteht, die er aber gleichwohl dirigiert, ist die Grundaporie der modernen reduktionistischen Modelle. 307 Die Veränderung der Arten muss auf der Basis der Annahme eines festen Kerns der Dinge, ihrer substanziellen Form, erfolgen. Wenn auch das zugrundeliegende Wesen der Dinge sich ebenso wandelt wie bestimmte Eigenschaften von ihm, wie z. B. Schnabelform oder Farbe der Vögel, dann lässt sich eine Evolution nur noch als Zufallsprodukt erkennen. Ein Werden, das selbst noch einmal wird, verliert den Zusammenhang mit den Beobachtungen der Naturgeschichte. Es ist völlig richtungslos und zeigt keine Merkmale der Höherentwicklung des Lebens. Jacques Monod hat von einem solchen Werden gesprochen. Darwin vermag nicht begreiflich zu machen, wie eine solche Einheit von sich selbst her existieren kann, wenn sie gleichwohl nur in ihren einzelnen Exemplaren besteht. Bezieht man sich auf die andere Seite dieses Erklärungsmodells, die der einzig realen, in einem VerL. Agassiz, Contributions to the Natural History of the United States of America (1860); zitiert bei Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, Bd. I, a. a. O., S. 72; Übersetzung vom Verfasser. 306 So auch Peter Heuer, Art, Gattung, System. Logisch-systematische Analyse einiger Grundbegriffe der Biologie, Leipzig 2006. 307 F. J. Ayala, T. Dobzhansky (Hg.), Studies in the Philosophy of Biology. Reduction and Related Problems, Berkeley 1974; E. Agazzi (Hg.), The Problem of Reductionism in Science, Dordrecht 1980. 305

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Die Natur als das Gute und Beste

lauf bestehenden einzelnen Lebewesen, dann ist dieser erst in einer Naturgeschichte sich äußernde Verlauf ohne Zusammenhang mit seinem Ursprung. Er hat keine erkennbare Richtung und ist zufällig. Wird Art als Prinzip gedacht, dann sind keine einzelnen Lebewesen als real denkbar. Werden die einzelnen Lebewesen gedacht, dann bleibt eine Vielheit von Teilen, die nicht erklären kann, wie es zu einer Klassifikation und Ordnung durch die Biologie kommen kann. Es ist die Aufgabe einer Naturphilosophie zu zeigen, dass Darwin für die Biologie, die ohne einen Artbegriff gar nicht arbeiten kann, gerade keinen bereitstellt.

8.2 Art und Population Das philosophische Gespräch mit der Darwin’schen Evolutionstheorie leidet unter der Unklarheit und Vieldeutigkeit des Artbegriffs, wie er von Seiten der Philosophie und der Biologie verwendet wird. Philosophen, die die Verwendung des Artbegriffs bei Darwin kritisieren, wird vorgeworfen, dass sie den Artbegriff benutzen, statt zum eigentlich richtigen Begriff, dem der Population überzugehen. Der bekannte Vertreter der Darwin’schen Lehre, Ernst Mayr, hat deshalb zu zeigen versucht, wie und warum der Begriff der Art durch den der Population zu ersetzen sei. Mayr führt den Begriff der »Population« über das Vorkommen der Spezies ein: »Wenn eine Spezies irgendwo vorkommt, ist sie dort stets durch eine lokale Population repräsentiert.« 308 Evolutionsprozesse finden in einer vorhandenen Population statt. Über und mittels von Populationen und besonderen Umständen entstehen neue Arten: »Danach kann sich eine neue Art entwickeln, wenn eine Population von ihrer Ausgangspopulation getrennt wird und dann neue Isolationsmechanismen erwirbt.« 309 Mayr stellt die Typenlehre, die er auch Essentialismus nennt, dem Populationsdenken gegenüber. Populationen seien variabel und bestünden aus »zahlreichen lokalen Gruppen.« 310 Mayr hat sicher damit recht, dass die Biologen für die Erfassung der empirischen Vielheit Klassifikationsbegriffe brauchen. Population ist ein Mengenbegriff und solche Begriffe sind konventionell beliebig einführbar. Andererseits ist die An308 309 310

Ernst Mayr, Das ist Evolution, München 2003, S. 149. Ernst Mayr, ebenda, S. 216 f. Ernst Mayr, ebenda, S. 100.

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wendung des Begriffs Population darauf angewiesen, dass eine bestimmte Anzahl von Lebewesen aufgrund zusammengehöriger Merkmale als Gruppe aufgefasst werden kann. Dabei ist die Einteilung in Pflanzen, Tiere und Menschen auch für den Begriff der Population grundlegend. Pflanzen passen nicht in eine Tierpopulation und Menschen ebenso nicht. Philosophisch, d. h. ontologisch gesehen, sind Pflanzen, Tiere und Menschen seinsmäßig unterscheidbaren Gattungen zuzuordnen. Dabei handelt es sich nicht um vom Biologen vorgenommene pragmatische Klassifikationen, sondern um Unterschiede, die auf ontologisch begreifbaren Seinsunterschieden beruhen. Während graduelle Unterschiede innerhalb von Pflanzenoder Tierklassen sehr wohl mit Darwin erfasst werden können, ist die Möglichkeit eines Übergangs zwischen den Seinsgattungen durch die Darwin’sche Theorie bisher noch nicht aufgezeigt worden. Mit der klassischen Naturphilosophie, mit Platon und mit Aristoteles gilt die Einsicht, dass das Seiende von vornherein in verschiedenen Gattungen vorliegt. Von Platon wird dies im Dialog Sophistes gelehrt, von Aristoteles in der Metaphysik. Aristoteles erklärt: »Und es gibt so viele Teile der Philosophie, wie es Substanzen (Substanzarten) gibt; sodass es unter ihnen eine erste und eine daran anschließende Philosophie geben muss. Denn das Seiende ist unmittelbar in verschiedenen Gattungen da, weswegen sich auch die Wissenschaften nach diesen Gattungen richten müssen.« 311 Insofern Darwin die Unterschiede zwischen Tier und Mensch nur als graduell ansieht und Evolution als stammesgeschichtliches Kontinuum begreift, haben die Begriffe von »Art« oder »Gattung« für ihn gar kein reales Fundament; denn er kann den Werdensfluss nicht kategorial differenzieren. Zunächst muss Darwin von einem realen Sein ausgehen, er muss einen realen Träger einer Population ansetzen, z. B. einen Finken, also ein real Seiendes und eine reale Gattung, nämlich Vögel, bevor er dazu übergehen kann, Finken mit variierenden Schnabelformen zu klassifizieren. Dass Darwin innerhalb dieser Klassifikationsstammbäume Varianten beschreibbar gemacht hat, ist sicherlich sein Verdienst. Die Variationsbreite der Lebewesen ermöglicht deren Anpassung. Dass er mit Mutation und Selektion einen Mechanismus aufgezeigt hat, um den Übergang zwischen Lebensformen aufzuzeigen, 311 Aristoteles, Met. III,2 1004 a 3–6; Übersetzung von Alexander Szlezak, Berlin 2003.

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ist zu bestreiten. 312 Darwins Begriff des Lebewesens muss ontologisch gesehen als Substanz begriffen werden. Substanz besagt, dass das Seiende als solches in seinem Selbstsein, seinem Artsein, seinem Werden und Vergehen erkannt werden kann. Um zu verstehen, was eine Qualität oder Quantität, was Wirken oder Erleiden ist, muss man immer auf eine Substanz Bezug nehmen. Selbstsein, Vielfalt und Veränderlichkeit über Werden und Schwinden der Dinge machen das Zentrum der Seinsverweise aus. Das Denken der Natur, zu dem Aristoteles gelangt, ist in einen metaphysischen Rahmen eingebunden. Der für die Biologie zentrale komplexe Entstehungsprozess der Lebewesen ist an die Vollkommenheit einer Spezies, durch die die Materie Sein hat, gebunden. Nur eine Substanz, die in sich, mit den Akzidentien zusammen, Sein hat, kann schlechthin werden. Das über die Bestimmtheit der Substanz und Art laufende Sein ist die Grundlage der Naturerkenntnis. Die wahre Natur der Dinge ist nicht die Materie, aus der sie bestehen. Nach der materialistischen Auffassung ist, wie das aristotelische Beispiel lautet, die wahre Natur eines Bettes das in diesem enthaltene unstrukturierte Holzmaterial. Mit einem modernen Beispiel illustriert, wären, materialistisch gesehen, die Grundlage aller Dinge ihre Moleküle. In dem richtigen philosophischen Verständnis ist die formale Struktur des Holzes und ihr Prinzip, die substantielle Form, die Grundlage für unsere Erkenntnis des Bettes als Bett. Für das moderne Beispiel gilt Entsprechendes. Die Form und Ganzheit eines Lebewesens verhilft der Materie, d. h. hier den Molekülen, zum Sein. Das Bett, materialistisch interpretiert, wäre nur eine vorübergehende Einheit, in die die Zustände des Holzes eingehen, und genauso wären unser Erkennen, Wollen und Fühlen nur Ausprägungen der Moleküle. 313 Aus der materialistischen Fehlinterpretation wird die zentrale Bedeutung der Substanz und des Wesens deutlich. Auch der Populationsbegriff mit seinem Mengendenken, auf das sich Ernst Mayr beruft, hängt von diesen Voraussetzungen ab. Das umfassende und die Substanz als Form enthaltende Verständnis der Wirklichkeit steht nicht im Gegensatz zur modernen Biologie, sondern muss von dieser vorausgesetzt werden. Dabei kennt Aristoteles sehr wohl die empirische und klassifizierende Methode der Biologie, auf die sich der Evolutionstheoretiker 312 Peter Heuer, Art, Gattung, System. Logisch-systematische Analyse einiger Grundbegriffe der Biologie, Leipzig 2006, S. 217. 313 Das Beispiel des Aristoteles in: Phys. II,1 193 a 9–28.

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Ernst Mayr bezieht. In seinen naturphilosophischen Schriften, besonders in den Schriften Die Geschichte der Tiere, Die Glieder der Tiere und Die Zeugung der Tiere, führt Aristoteles eine genaue Sammlung der Ähnlichkeiten der Tiere ohne eine im Sinne der heutigen Biologie abschließende Systematik durch. Er beschreibt 500 Tierarten und klassifiziert diese sowohl nach ihrem Aussehen als auch nach ihrer Lebensweise. Er beobachtet die Tiere auf die Ähnlichkeiten ihres Aussehens und auf differenzierende Merkmale hin. Georg Toepfer bemerkt: »Nach strukturellen Kriterien unterscheidet Aristoteles Gruppen wie Bluttiere und blutlose Tiere, lebendgebärende und eierlegende Tiere, Weichtiere und Schalentiere.« 314 Aristoteles entwickelt in seinen biologischen Schriften, wie Pierre Pellegrin gezeigt hat, 315 keine streng systematische Klassifikation. Gleichwohl ist die biologische Beobachtungsmethode auch bei ihm wissenschaftlich eigenständig. Gattung (genos) und Form (eidos) werden nicht in der Biologie, sondern in der ersten Philosophie eingeführt. Sie werden in der Biologie des Aristoteles angewandt, um Tierfamilien und Rassen zu bezeichnen. 316 Gattung und Art können bloße logische Betrachtungshinsichten sein. So, wenn »Pferd, Mensch und Hund« einer Gattung zugezählt werden, insofern sie Lebewesen sind. 317 Aus der logischen Subsumtion unter den Begriff des Lebewesens folgt nicht, dass die Lebewesen Mensch, Pferd und Hund sich ontologisch, d. h. in ihrem Wesensbegriff aus der Gattung Leben und der Hinzufügung einer spezifischen Differenz, etwa Vernünftigkeit beim Menschen, ergeben würden. Konstitutiv ist die substanzielle Form des Lebewesens, sodass Mensch, Pferd und Hund in ihrem Lebewesen-Sein unterschieden sind. Die Lebendigkeit von Mensch, Pferd und Hund ist nicht in ihnen dieselbe. Lebendigkeit bedeutet für die verschiedenen Arten Unterschiedliches. 318 314 G. Toepfer, Artikel Taxonomie, in: Historisches Wörterbuch der Biologie, Stuttgart 2011, Bd. 3, S. 471. 315 Pierre Pellegrin, Logical Difference and Biological Difference: the Unity of Aristotle’s Thought, in: A. Gotthelf und J. Lennox, Philosophical Issues in Aristotle’s Biology, Cambridge 1987, S. 313–338. 316 Bei Aristoteles in: Hist. An. II, 15, 506 a 9; Hist. An. IV, 1, 523 b 28; P. An. III, 4, 666 b 19. 317 Aristoteles, Met. 1016 a 25–27. 318 Dazu Christian Martin, Zur Logik des Lebensbegriffs, in: Dabrock/Bölker/Braun/ Ried (Hg.), Was ist Leben – im Zeitalter seiner technischen Machbarkeit, Freiburg 2011, S. 118 ff.

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Mensch, Pferd und Hund werden deshalb auch der Gattung oder Art nach unterschieden. Die Form des Menschen wiederum ist zwar gleich, insofern sie Menschen sind, sie existiert jedoch in den einzelnen Individuen und ist insofern verschieden. Die Form des Menschen für sich genommen ist die Grundlage, von allen Menschen die humanitas auszusagen. Die Hautfarbe des Menschen ist gegenüber seiner Form akzidentiell. Die traditionelle darwinistische Klassifizierung von Menschen bei Herbert Spencer oder Ernst Haeckel, aufgrund der weißen, schwarzen oder gelben Hautfarbe der Menschen von Menschenrassen zu sprechen, zeigt die verfehlte stammesgeschichtliche Gleichstellung von Mensch und Tier in der Geschichte des Darwinismus. Die Form (eidos) kann auf verschiedenen Ebenen der Allgemeinheit gebraucht werden. Sie kann empirisch beobachtet werden und dann zur Klassifikation dienen, oder sie kann als substanzielle Form das Wesen des Lebewesens ausmachen. Diese können unterschieden werden, sie können dann auch in einem bestimmten Kontext vielfältig verstehbar sein. Wenn Aristoteles davon spricht, dass der Mensch einen Menschen erzeugt, 319 dann impliziert dies sowohl die zoologische als auch die philosophische Perspektive. Die Eltern sind biologisch gesehen die Erzeuger und geben ihre Gene an das Kind weiter. Von der ersten Philosophie her ist zu erkennen, dass die Form eines Menschen, die schon den Eltern als den Trägern zugrunde liegt, von diesen an das Kind weitergegeben wird. Die Gene sind, von der ersten Philosophie her gesehen, nur eine Materialursache. Die Form stellt das Maß der Vollkommenheit dar, das von der Natur im Zeugungsvorgang angelegt wird. Wenn das Kind geistige oder körperliche Behinderungen aufweist, dann existiert die Form nur in einer beschädigten, d. h. privativen Weise. Auch die Privation der Form kann in dieser doppelten Weise, als Krankheit (genetisch) oder als durch die Materie bedingte, mangelhafte Form verstanden werden. Was ist der Vorzug der aristotelischen Betrachtung? Wenn Aristoteles sich in der Biologie auf der empirischen Klassifikationsebene bewegt, hat er doch die Einsicht, dass die Form gegenüber der Materie das Konstitutive ist. Die geistige Form, zusammen mit der Materie, stellt eine unverzichtbare Struktur dar und ermöglicht das Werden der Lebewesen. Die Form des Lebewesens ist, wie Paul Erbrich bemerkt, »nicht das getreue Abbild der Form ihrer 319

Aristoteles, Met. VII, 7; 1032 a 25; VIII, 8; 1049 b 25–27.

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Teile wie im Kristall oder ein bloßes Fluktuationsmuster im Strom von Materie und Energie«. 320 Darwin und die Evolutionstheoretiker, wie oben Ernst Mayr, erliegen durch die Konzeption einer »natürlichen Selektion« einem ziellosen Mechanismus und impliziten Materialismus. Sie verfallen dem Irrtum eines vorwärtslaufenden Prozesses, der nur über den Druck, der auf die Teile ausgeübt wird, sich fortbewegt, ohne ein Ganzes, eine Seele des Lebewesens in Betracht zu ziehen. Sie konzipieren einen Prozess, der keinen Träger hat und als stammesgeschichtliche Kontinuität zwar ziellos ist, aber nichtsdestotrotz in sich selbst stehen soll. Die hier vorgeschlagene Unterscheidung ermöglicht ein für die Biologie mögliches Verständnis der aristotelischen Auffassung der Ewigkeit der Arten, die den Biologen und Darwinisten nicht verständlich und geradezu provokativ falsch ist. Philosophisch begriffen, kann der Biologe Aristoteles sehr wohl eine Veränderung der Lebewesen durch die Änderung von Eigenschaften konzipieren. Die Arten können sich wandeln, indem die Finken z. B. mit den Schnäbeln ihr Fressverhalten optimieren. Alle, empirisch auch von Darwin feststellbaren, möglichen Änderungen können erkannt werden, wenn sie denn vorliegen. Dazu können bei Aristoteles auch durch Sedimente erkennbare Änderungen gehören. Von der ersten Philosophie, von der Betrachtung des Werdens und der Zielstrebigkeit der Form her, kommt die aristotelische Einsicht ins Spiel, dass das Werden in der Natur, das immer wieder Neues hervorbringt, in seiner Ursachenkette ein Letztes braucht, das unentstanden ist. Und dieses ist ewig. Bei Aristoteles heißt es in der Metaphysik: »Indes, wenn es nichts Ewiges gibt, kann es auch keine Entstehung geben. Denn notwendig ist das Entstehende etwas und aus etwas, und hiervon ist das jeweils Letzte unentstanden, wenn die [die Ursachenkette] zu einem Stillstand kommt und Entstehung aus dem Nichtseienden unmöglich ist.« 321 Wenn eine Art besteht, dann besteht sie, metaphysisch gesehen, durch Materie und Form und den Impuls des unbewegten Bewegers. Das ergibt sich durch die Schlussfolgerung der ersten Philosophie und nicht durch empirische Beobachtung. Damit wird aber überhaupt nicht ausgesagt, dass Aristoteles als Biologe der Meinung war, dass deshalb alle Arten ewig unverändert existierten. Grundsätzlich ist zwar durch die aristotelische Bewegungserklärung auch 320 321

Paul Erbrich, Zufall, a. a. O., S. 84. Aristoteles, Met. 999 b 6–9.

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eine Hervorbringung von geänderten Arten möglich, aber das kann Aristoteles nicht behaupten, weil er keine Sedimente gekannt und von erdgeschichtlichen Katastrophen, im Gegensatz zu Darwin, nichts gewusst hat. Was Aristoteles jedoch aufgrund seiner philosophischen Einsicht streng abgelehnt hätte, wäre ein substanzloser Wandel der Dinge, der die Arten auseinander entstehen ließe, ohne die Grundlagen von in die Materie eingelassenen Formen. Dies hat dann Darwin, der empirische Beobachtung und vernünftige Begründung nicht hinreichend unterschieden hat, getan.

8.3 Teleologie und Biologie Teleologie ist in der Biologie ein Weg, um kausale Prozesse zu analysieren und zu definieren, indem man auf die Endzustände dieser Prozesse sieht. Toepfers biologische Stellungnahme bekräftigt das, was Robert Spaemann aus philosophischer Perspektive feststellt: »Biologen kommen nicht ohne funktionale Betrachtungen aus, nicht ohne Verwendung des Wortes ›gut‹ im Sinne von ›gut für‹.« 322 Die Biologie geht in guter naturphilosophischer Tradition vom jeweiligen Endzustand des Lebewesens aus und fragt nach bestimmten Kausalprozessen, die diesen bewirkt haben. Die nach Aristoteles konstitutive Zusammengehörigkeit von finaler und kausaler Ursache bewährt sich hier. Wenn gefragt wird, welcher Bestandteil einer Pflanze, welches Gen welche Wirkung hat, dann muss eben vom fertigen Lebewesen ausgegangen werden. Ein Weg, der zur modernen Theorie der molekularen Evolution führt, ist die heuristische Auffassung der funktionalen Betrachtung. Robert Spaemann nennt den Philosophen C. Sigwart, der 1881 den Zweck als heuristisches Prinzip für die Kausalforschung bezeichnet hat. 323 Wenn allerdings die Teleologie, wie bei Toepfer, nur heuristisch verstanden wird, trägt sie zur Etablierung der kausalen Erklärung vom Boden der Physik aus und damit zur Auflösung des eigentlichen Lebensverständnisses, das auf der im Vergleich zur Physik höheren Ebene liegt, bei. Und das letztere ist das 322 Robert Spaemann, Natürliche Ziele, Stuttgart 2005, S. 250. Zu einem solchen Resultat kommt auch die wissenschaftstheoretische Arbeit von Peter McLaughlin, What Functions Explain Functional Explanation and Selfreproducing Systems, Cambridge 2004. 323 C. Sigwart, Der Kampf gegen den Zweck, in: Kleinere Schriften, Band 2, Freiburg 1881; zitiert bei Spaemann, ebenda, S. 298.

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eigentliche Lebensverständnis, auf dem die Biologie aufbaut. Wenn dieser Übergang in die Physik vermieden werden soll, dann muss die biologische Betrachtung in eine philosophische mit einer metaphysischen Erkenntnis der letzten Quelle des natürlichen Werdens und der Kette der Lebewesen übergehen. Davon werde ich später handeln. Die gegenwärtige Situation der Molekulargenetik ist, wie Spaemann schreibt, »gekennzeichnet durch allgemeinere physikalische und systemtheoretische Einsichten in die Unumkehrbarkeit bestimmter Prozesse und der aus ihnen resultierenden Strukturen. Solche Strukturen folgen höheren Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht als Funktionen derjenigen ableiten lassen, aus denen sie entstanden sind. So lassen sich organische Prozesse tatsächlich nur final beschreiben, und diese Beschreibung lässt sich nicht in eine physikalische Sprache zurückübersetzen, obwohl das Zustandekommen solcher Systeme als Resultat der Wechselwirkung physikalischer Prozesse gedacht werden kann.« 324 Die »höheren Gesetzmäßigkeiten«, von denen Spaemann spricht, lassen sich in der Tat nicht mit physikalischen Methoden gewinnen. Ein vorherrschender Trend in der evolutionären Genetik beansprucht jedoch, das Leben und die Entstehung des Lebens erklären zu können. Auf der einen Seite räumt man ein, dass eine solche Erklärungsaufgabe nur »spekulativ« und d. h. empirisch nicht überprüfbar angegangen werden könne, auf der anderen Seite ist die Methode durch die fraglose Akzeptanz der natürlichen Selektion festgelegt. 325 Stellt sich auf der einen Seite die evolutionäre Forschung so dar, als habe sie die Lösung zur Entstehung des Lebens gefunden, so gibt es durch die sich beständig wandelnde Forschung genügend Anhaltspunkte, dass viele gefundene Ergebnisse auch bald wieder zur Disposition gestellt werden könnten. Ohne diese Bemerkung hier zu vertiefen, sei nur auf das später zu behandelnde Buch der namhaften Forscher Staffan Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger: Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme 326 verwiesen. Während noch Richard Dawkins alles um die Gene zentriert sah, ist diese Ansicht inzwischen deutlich zugunsten einer Vielfalt von weiteren Faktoren, die auch zur Erklärung Spaemann, ebenda, S. 250 f. Ein Beispiel dafür ist das Buch von John Maynard Smith & Eörs Szathmáry, The Major Transitions in Evolution, Oxford 1995. 326 Frankfurt a. Main 2009. 324 325

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des Lebens in Frage kommen, aufgegeben worden. Scott Gilbert und Sahotra Sarkar kommentieren die Theorie von Dawkins unter Anspielung auf die metaphysische Rolle des unbewegten Bewegers von Aristoteles, indem sie feststellen: »Das Gen ist nicht der unbewegte Beweger des Aristoteles.« 327 Richard Dawkins ist ein Beispiel für die Freiheit, aber auch die Willkür, mit der Evolutionsgenetiker auf der Basis des Darwinismus Weltzusammenhänge selbst spekulativ konstruieren, auch dort, wo keine eindeutigen empirischen Bestätigungen vorliegen.

8.4 Zusammenfassung der Kapitel sieben und acht Das Bedeutungsspektrum des Zufalls reicht von seiner begrenzten Rolle in noch nicht bekannten Umständen, die als Zufall eine Entwicklung ausgelöst haben, zur umfassenden Erklärung von neuen Lebewesen aufgrund der Kombination von Genen durch Zufall. Die umfassende Rolle, die Eigen und Winkler in ihrem Buch Das Spiel dem Zufall für die Entwicklung der Ordnung des Lebendigen zugedacht haben, umgeht in ihren Grundlagen die Probleme der Quantenphysik. Die von ihnen beanspruchte extreme Unwahrscheinlichkeit des Zufalls, die vielen universalen Evolutionsgeschichten als Grundlage gedient hat, kann indes keine Ordnung herstellen, wie Paul Erbrich gezeigt hat. Den empirischen Klassifikationsbegriffen der Biologie liegt aus philosophischer Perspektive das ontologische Verständnis des Seienden in Substanzen und deren Eigenschaften zugrunde. Philosophisch ist das Seiende in Gattungen und Arten, in die sich Materie, Lebewesen und Menschen aufgliedern, zu begreifen. Eine gänzliche Umwandlung von am Anfang stehenden Arten in völlig verschiedene andere aufgrund der Darwin’schen natürlichen Selektion hebt die philosophischen Begriffe der Arten und der Substanz auf. Der von Ernst Mayr eingeführte Begriff von Populationen löst das Problem von Darwin nicht, weil Populationen aus Mengen von Individuen einer oder mehrerer Arten bestehen.

327 Scott Gilbert und Sahotra Sarkar, Embracing Complexity, in: Developmental Dynamics 219, 2000, S. 6. Ein solcher ernstgemeinter Vergleich findet sich als moderne Anwendung aristotelischer Metaphysik auf die Genetik bei Ernst Mayr.

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9.1 Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen der Interpretation des Gens D. Walsh: »The explanation of adaptive evolution is a 21st century job that calls for classical Aristotelian concepts.« 328 Im Buch Die natürliche Zuchtwahl gibt Darwin in einem Diagramm Beispiele von Entwicklungen von Arten, die sich durch Anpassung an veränderte Gegebenheiten verändern, oder auch, wie in manchen Fällen, über die Zeiten unverändert bleiben. Die Evolution wird dabei nicht als übergreifendes erklärendes Gesetz begriffen, sondern als mögliche Erklärung für konkrete beobachtete Veränderungen an Arten. Eine erfolgreiche Art wird eine größere Zahl von Varianten für unterschiedliche Situationen der Umwelt bieten. Im Text von Darwin heißt es: »Nach dem Vorhergehenden können wir wohl annehmen, dass die abgeänderten Nachkommen irgendeiner Art umso erfolgreicher sein werden, je unterschiedlicher sie gebaut sind; im selben Maße werden sie natürlich auch befähigter sein, sich in die bereits von andern Wesen eingenommenen Stellen einzudrängen.« 329 Dieses Streben der Art haben wir bereits mit James Lennox im Abschnitt 6.1 als ein finales herausgestellt. Bei der Erklärung seines Diagramms im 4., 13. und 14. Kapitel kommt Darwin immer wieder auf einzelne Arten und die durch sie gebildeten Stammbäume zu sprechen. Je größer die sich erhaltende Variationsbreite einer Pflanze ist, umso breiter kann sich diese in den Gegebenheiten der Natur ausbreiten. Darwin

328 D. Walsh, Evolutionary Essentialism, British Journal of Philosophy of Science, Vol 57, 2006, S. 425–448; zitiert von Kristian Köchy, in: Gottfried Heinemann, Rainer Timme (Hg.), Aristoteles und die heutige Biologie, Freiburg 2016, S. 122. 329 Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Stuttgart 1963, S. 164.

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erläutert teils an Beispielen, teils intuitiv, warum sich Arten verzweigen oder auch völlig verschwinden: »Da auf jedem stark bewohnten Gebiet die natürliche Zuchtwahl durch Auslese jener Formen wirkt, die im Kampf ums Dasein einen Vorteil vor anderen Formen voraushaben, so wird in den verbesserten Nachkommen jeder Art die Tendenz wohnen, auf jeder Abstammungsstufe ihre Vorgänger und Stammesvorfahren zu ersetzen und auszurotten. Denn man darf nicht vergessen, dass der Wettbewerb in der Regel am heftigsten zwischen jenen Formen stattfindet, die in Lebensweise, Konstitution und Körperbau am nächsten verwandt sind.« 330 Die im Diagramm skizzierten Vorgänge lassen sich auf fünf Regeln bringen: • Die erfolgreichere Spezies wird differierende Vielfalten bilden und unterschiedliche Plätze in der Natur einnehmen. Diesen Gesichtspunkt kennen wir als finalen. • Die extremsten Formen der Vielfalt sollen erhalten werden. • Die besser entwickelten Zweige werden die anderen ersetzen. • Nur einige wenige der ursprünglichen Formen werden eine längere Zeit leben. • Es gibt aber auch ursprüngliche Spezies, die erhalten bleiben. Die Stammbäume von Darwin zeigen im Vergleich zur modernen Genetik nur einen Teil der phylogenetischen Geschichte des Lebens. Die moderne Genetik kennt nicht nur eine vertikale Richtung der Entwicklung des Lebens wie bei Darwin, sondern auch eine horizontale. Der von unten nach oben laufende Baum wird ergänzt durch seitwärts laufende Linien, sodass von einem Netzwerk gesprochen werden kann. Gegenläufig zu dieser Fixierung der evolutionstheoretischen Molekulargenetik an die Gene gibt es aktuell Entdeckungen, die die zentrale Stellung der Gene bestreiten und neben den Organismen mit ihren Strukturen vererbbare Umwelteinflüsse auf diese in den Vordergrund der Forschungsarbeiten rücken. Diese Arbeiten wurden vor allem von den Physiologen Denis Noble und James Shapiro durchgeführt. Im Vordergrund stehen die Arbeiten The Music of Life 331 von Denis Noble und Evolution. A View from the 21st Century von James Shapiro. 332 330 331 332

Darwin, ebenda, S. 170. Oxford 2006. Upper Saddle River 2011.

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Zur Geschichte des Darwinismus gehört die Lehre, die jeder von der Gymnasialzeit noch in Erinnerung hat, dass die Lehre von Lamarck falsch und durch Darwin widerlegt worden sei. Der noch zu Zeiten Darwins lebende Jean Baptiste Lamarck fasst in seinem Buch Zoologie Philosophique (1809) damals verbreitete Lehren zusammen, nach denen erworbene Eigenschaften der Lebewesen vererbbar seien. Diese Auffassung galt schon durch den Darwinismus als widerlegt, ist aber heute in einer verfeinerten Form durch oben genannte Forscher und Theoretiker der Epigenetik wieder aktuell. Im Zuge der Rezeption des Darwinismus hatte der Genetiker Friedrich Waismann jeden äußeren Einfluss auf die Keimbahnen der Lebewesen für unmöglich erklärt. Dies wurde durch die moderne Synthesis seit 1940 zur festen Lehre des sich entwickelnden molekularen Evolutionismus. Renommierte Autoren sind: Julian Huxley, R. A. Fischer, J. B. S. Haldane, Sewell Wright und schließlich, der in unserer Gegenwart bekannteste, Richard Dawkins mit seinem Buch Das egoistische Gen von 1976 (engl. Erstveröffentlichung). Diese Form des Neodarwinismus verlagert die natürliche Selektion allein auf die Gene. Die einzelnen Organismen der Lebewesen sind lediglich Träger, haben also keinen Einfluss auf die Evolution. Die Mutationen akkumulieren sich, erfolgen zufällig und schaffen die Voraussetzung für die natürliche Selektion. Der Streit geht schon immer darüber, welcher Art diese Zufälligkeit ist. Bei Vorliegen einer absoluten Zufälligkeit könnten wir, so Denis Noble, über diesen Prozess überhaupt nichts sagen. Das zweite Charakteristikum des Darwinismus ist die These, dass erworbene Eigenschaften nicht vererbbar sind. Ab 1900 rezipierte der Darwinismus auch die Mendel’sche Vererbungstheorie. Immer gilt dabei die Voraussetzung, dass die Keimbahnzellen und das genetische Material vom Organismus oder der Umwelt nicht beeinflusst werden. Mit der einseitig interpretierten Zufälligkeit entsteht das Dogma über die Schlüsselstellung des Genoms, das auch durch die Arbeiten von Crick und Watson verfestigt wurde. Viel verändert demgegenüber die weiterentwickelte Sicht auf das Lebendige, die stichpunktartig mit »Postgenomik« angebbar ist. 333 Eine kundige Bestandsaufnahme stammt

333 Staffan Müller-Wille, Hans-Jörg Rheinberger, Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme, Frankfurt 2009. Parallele Analysen enthält der Band von Gottfried Heinemann, Rainer Timme (Hg.), Aristoteles und die heutige Biologie Vergleichende Studien, Freiburg 2016, mit Hinweisen auf Arbeiten von D. Walsh, E. F. Keller, T. Vinci und J. S. Robert.

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von Staffan Müller-Wille und Hans-Jörg Rheinberger. Sie zeigt, dass diese frühere Sicht jedoch nicht mehr länger haltbar ist. Neben dem Genom spielen die Funktionen der Zellen und der Organismen, die ihre Umgebung wahrnehmen und ihre Informationen an ihre Genome entwickeln, eine Rolle. Das Genom wird ein Lese-Schreib-Speicher-System (read-write-storage system, so Denis Noble) und hört auf, zentrale Ursache für die Vererbung zu sein. James Shapiro erklärt in seinem Buch Evolution. A View from the 21st Century, 334 »it is difficult (if not impossible) to find a genome change operator that is truly random in its action within the DNA of the cell where it works«. In deutscher Übersetzung: »Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, einen wirksamen Faktor für die Genom-Veränderung zu finden, der in seinem Wirken innerhalb der Zelle, wo er wirkt, wirklich zufällig ist.« Die Selektion arbeitet nach Shapiro als eine reinigende, aber nicht schöpferische Kraft. »Selection operates as a purifying but not creative force.« Tausend Jahre von häuslicher Züchtung würden Varianten vorhandener Haustiere, aber keine neuen Arten ergeben. Shapiro geht davon aus, dass lebendige Organismen auf vielen Wegen sich selbst aktiv verändern: »the many ways, that living organisms actively change themselves«. Shapiro beschreibt die momentane Ansicht von der Evolution damit, dass er erklärt, dass die Interpretation der akzidentellen, wahrscheinlichkeitstheoretischen Interpretation der Natur der Mutationen, d. h. der synthetischen Theorie, immer noch weithin akzeptiert werde. Dies überrasche zwar nicht, weil es sich aus dem Erbe des 19. und 20. Jahrhunderts ergebe. Biologen hatten die Rolle eines übernatürlichen Hervorbringens des Ursprungs der verschiedenen lebenden Organismen zurückzuweisen. Das stimmt zwar mit den naturalistischen Begrenzungen der Wissenschaften überein, aber das andauernde Insistieren von Biologen auf der zufälligen Natur des genetischen Wechsels sollte doch aus einem einfachen Grund überraschen: Empirische Studien über die Mutationsprozesse haben unübersehbar Muster entdeckt, Umwelteinflüsse und spezifische biologische Aktivitäten in der Wurzel neuer genetischer Strukturen und geänderter DNA-Sequenzen. Das vermeintliche Bedürfnis, übernatürliche Eingriffe zurückzuweisen, führte die Pioniere der evolutionären Theorie dazu, eine a priori philosophische Unterscheidung zwischen den »blinden« Prozessen der erblichen Variation und allen anderen Anpassungsfunktionen zu 334

James Shapiro, Evolution. A View from the 21st Century, Upper Saddle River 2011.

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vollziehen. »Aber die Fähigkeit, sich zu verändern, ist selbst anpassungsbedingt. […] Die Fähigkeit von lebendigen Organismen, ihr eigenes Erbe zu verändern, ist unleugbar. Unsere laufenden Ideen über die Evolution haben diese grundlegende Tatsache des Lebens aufzunehmen.« 335 Diese Erkenntnisse von Shapiro, dass eine Evolution empirisch nicht noch einmal auf einer Evolution beruhen kann, stimmen mit der finalen Theorie des Aristoteles und den Beispielen der Anwendung der teleologischen Methode bei Darwin durch Lennox zusammen. Der Unterschied zu Aristoteles ergibt sich durch die erdgeschichtlichen Katastrophen, von denen Aristoteles noch nichts wusste, die aber zu Voraussetzungen für die Theorien von Shapiro und Noble werden; denn schließlich müssen die Organismen der Lebewesen auf völlig veränderte Umwelteinflüsse durch Variation und Anpassung reagieren. Shapiro kommt zu seiner finalen biologischen Theorie durch die unvoreingenommene Betrachtung empirischer Prozesse, ohne dass er etwas von Aristoteles weiß bzw. dessen Theorie jedenfalls nicht hinzuzieht. Es geht in der Evolution um einen geänderten Vererbungsprozess, der durch den Organismus selbst hervorgerufen wird. Natürliches Wachstum besteht in der Fähigkeit lebendiger Zellen, DNAMoleküle, aus denen ihr Genom gebildet wird, zu manipulieren und zu restrukturieren. Die zentrale Stellung der Gene, wie sie paradigmatisch in dem Buch von Richard Dawkins Das egoistische Gen in eleganten Formulierungen zum Ausdruck kommt, wird u. a. von Lenny Moss, What Genes Can’t Do 336 und Denis Noble, The Music of Life, kritisiert. Mit den Analysen von Denis Noble werden wir uns im Folgenden ausführlicher beschäftigen. Noble kritisiert, dass Dawkins die ursprüngliche Bedeutung u. a. bei Johannsen, als die Gene entdeckt wurden, beibehält. Die Gene wurden dabei für den konkreten Organismus, den Phänotyp, als konstitutiv betrachtet, der Organismus und seine Zellen als bloße Vehikel der Gene außer Acht gelassen. Als kritische Stimmen auf das Unhaltbare eines allumfassenden Prinzips, das das »egoistische Gen« darstellen sollte, hinwiesen, berief sich Dawkins darauf, dass der Ausdruck nur eine Metapher sei. Noble weist darauf hin, dass eine Metapher eine übertragene Bedeutung habe, während die Rolle des 335 336

James Shapiro, ebenda, S. 82, 144, 1, 2. Massachusetts Institute of Technology 2003.

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Evolutionäre Genetik und evolutionäre Kosmogonie

egoistischen Gens eindeutig als zentrale Wurzel allen organismischen Geschehens gemeint gewesen sei. Dawkins argumentiere dergestalt, dass Gene uns, insofern wir Körper und Geist sind, erschafften. Ähnlich urteilt Georg Toepfer im Artikel »Gen« des Historischen Wörterbuchs der Biologie: »In einer metaphernreichen Sprache werden die Gene vielfach als die materiellen Einheiten konzipiert, in denen der Organismus als ›Entwurf‹ enthalten sei oder die ihn ›konstruieren‹ oder ›bauen‹. Die Gene werden als der zentrale Faktor verstanden, der das ›Wesen‹ des Organismus bestimmt.« 337 Noble gibt dann einsichtige Gründe an, die klarmachen, dass das Genom diese Rolle nicht spielen kann. Die DNA allein ist inaktiv. Würde man eine DNA unter entsprechend kühlen Erhaltungsbedingungen aufheben, wäre sie völlig unverändert, während die Zelle eines lebendigen Organismus sich weiterentwickeln würde. Es gibt keine unmittelbare und alleinige Verursachung des Phänotyps durch die DNA. Auf den Phänotyp wirken biologische Netzwerke, Pfade, Filter u. a. ein, die auf die Umwelt reagieren und die Variationen ermöglichen und begrenzen. Jedes Lebewesen enthält von den Genen angefangen bis zum ganzen Organismus eine Reihe von Teilen und Funktionsebenen. Der Aufbau verläuft angefangen von den kleinsten Teilen zu den Ganzheiten: nach den Genen die Proteine, die Pfade, die unterzellhaften Teile, die Zellen, die Gewebe, dann die Organe und schließlich der Organismus als abschließende Einheit. Auf jeder Ebene gibt es systemrelevante Steuerungen und epigenetische Reaktionen auf die Umwelt. 338 Es gibt den Lebensprozess von unten, von den Genen nach oben zum Organismus und von diesem über die vorher genannten Ebenen nach unten. Eine weitere wichtige Neuheit, die Denis Noble lehrt, ist die Erkenntnis, dass die Gene nicht die einzigen Übermittler des Erbmaterials sind. Wir vererben eine vollständige Eizelle, die DNA und die epigenetischen Einflüsse. Experimente haben ergeben, dass Streicheln von Ratten Veränderungen am Hippocampus (dieser ist ein kleiner Teil des Gehirns zur Einspeicherung von Gedächtnisinhalten) hervorruft und von der entsprechenden Ratte vererbt werden kann. Nach der These von der Vorherrschaft und alleinigen determinieren-

Georg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band II, Stuttgart 2011, S. 34. 338 Zur Epigenetik: D. Noble, Conrad Waddington and the origin of epigenetics, in: J. Exp. Biology 218, 2015, S. 816–818. Den Hinweis verdanke ich Herrn Dr. Christian Matek. 337

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Wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen der Interpretation des Gens

den Kraft des Genoms müsste sich bei einer Kreuzung verschiedener Arten durch ein Genom mit einer Eizelle immer das Genom durchsetzen. Das ist aber nicht der Fall. Noble zeigt ein Experiment mit Fischen auf, wo sich die Eizelle des anderen Fisches stärker bemerkbar macht als das Genom des anderen Fisches. Denis Noble betont die Rolle der Zelle für die Steuerung genomischer Aktivitäten und führt Pflanzenexperimente und deren Auswertung der Nobelpreisträgerin Barbara McClintock als weiteren Beleg dafür an. Ein wichtiges Ergebnis von Noble und Shapiro ist, dass es eine Vererbung erworbener Eigenschaften gibt. Während der frühere Neodarwinismus im Gegensatz zu Darwin von nur einem Lebensbaum ausging, ist diese Vorstellung von den neuesten Theorien fallen gelassen worden. Statt eines Baumes geht man von Vernetzungen aus. Es gibt Querverbindungen, wobei u. a. Enzyme von Zellen aktiv auf die DNA einwirken können. Das wesentliche Neue ist, ▷ dass erworbene Merkmale vererbt werden können; ▷ dass die Häufigkeit der Mutation sowohl von der Umwelt als auch vom Organismus abhängt; ▷ dass das Immunsystem auf die Anforderungen der Umgebung durch die Steigerung der Häufigkeit des genetischen Austausches reagiert. Zusammengefasst zeigt sich eben, dass die Selektion auf vielen Ebenen stattfindet und dass das Genom ein Organ der Zelle ist und nicht ihr Diktator. Das Genom ist, so Paul Erbrich in einem anschaulichen Vergleich, wie die Ziegelsteine eines Hauses für dasselbe, das mit ihnen erbaut wird. Sie sind unersetzlich, d. h. notwendig für das Haus, aber nicht hinreichend; denn es braucht andere Stoffe wie den Mörtel und vor allem den Plan das Hauses. 339 Genome sind nicht vom Organismus und dessen Umgebung isoliert. Die Widerlegung des genetischen Determinismus hat große Auswirkungen auf das Umgehen mit Krankheiten, die früher als untherapierbar und unbeeinflussbar angesehen wurden. Was lehrt uns dieses Kapitel? Die geschilderten wechselvollen und ungesicherten Wege der Genetik zeigen deren einzelwissenschaftliche Autonomie. Gegenläufig dazu relativieren sie deren An-

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Paul Erbrich, Der Zufall, Stuttgart 1988, S. 169.

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sprüche, das Leben in einer endgültigen Weise in seinem Wesen zu erfassen bzw. aus der Materie ableiten zu können.

9.2 Die reduktiven Analyseebenen der Genetik: Bottom up und Top down John Maynard Smith und Eörs Szathmáry geben mit ihrer Geschichte der großen evolutionären Übergänge in der Evolution 340 ein Beispiel für evolutionäre Kosmogonien, die die gegenwärtige Gestalt der Welt einschließlich des Lebens durch die neodarwinistische natürliche Selektion erklären wollen. Die Zielsetzung dieser wissenschaftlichen Bemühungen lässt sich nicht mit dem herkömmlichen Begriff des methodischen Naturalismus rechtfertigen, weil dessen Selbstverständnis die Begrenzung auf bloße empirische Forschung ist, Totalitätssetzungen ausschließt und eine bloß methodische Ausgrenzung des Schöpfers zur Folge haben soll. In der evolutionären Kosmogonie wird jedoch das Leben als durch materielle Prozesse entstanden begriffen – es ist die Behauptung einer Selbstbewegung der Welt im Ganzen. 341 Bei der Erklärung der synthetischen Theorie durch materielle Prozesse wird an bestimmten Stellen auf den Zufall zurückgegriffen, der das Zusammenwirken bestimmter physikalischer Ursachen ermöglicht. 342 Die ganze physikalisch-spekulativ erschlossene Geschichte der Erde steht als Erklärung für die Entstehung des Lebens aus der Materie. So wenig wie der Zufall eine Erklärung sein kann, so wenig ist die Tatsache des später in der Erdgeschichte auftretenden Lebens schon der Beleg für die Erklärung des Auftretens des Lebens durch physikalische Gesetze. Die moderne Biologie greift auf funktionale Erfahrungen, die die Lebewesen zeigen, zurück und kombiniert diese mit einem physikalistischen Reduktionismus. Anhand der Arbeiten der Evolutionsbiologen Scott Gilbert und Sahotra Sarkar lässt sich zeigen, dass diese ihre empirischen Daten nicht eindeutig im Sinne eines reduktionistischen Physikalismus inJohn M. Smith und Eörs Szathmáry, The major transitions in evolution, Cambridge 1995. 341 Karl-Heinz Nusser, Fortschritt: Der Glaube an die Selbstbewegung der Welt im Ganzen, in: Hettlage, Bellebaum (Hg.), Religion. Spurensuche im Alltag, Wiesbaden 2016, S. 95–112. 342 Eine überzeugende Widerlegung der Leistungsfähigkeit des Zufalls bei der Erklärung der Entstehung der Lebewesen hat Paul Erbrich, Zufall, a. a. O., vorgelegt. 340

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Die reduktiven Analyseebenen der Genetik: Bottom up und Top down

terpretieren, trotzdem aber einen materialistischen Holismus, den sie Organizismus nennen, konzipieren. Das große Rätsel ist dann, was ein »materialistischer Holismus« sein soll. Bevor ich dazu komme, ist darauf hinzuweisen, dass die moderne molekulare Genetik nicht ohne tiefgehenden Bruch an die klassische Mendel’sche Genetik anschließen kann. Damit bin ich bei einem unüberbrückbaren Unterschied zwischen der klassischen Mendel’schen Genetik und der modernen molekularen Genetik. In der Auffassung des Biologie-Lexikons von Georg Toepfer lassen sich die Termini der klassischen Genetik nicht einfach in molekulare Termini übersetzen. Das Verhältnis zwischen beiden ist nicht das einer erfolgreichen wissenschaftlichen Reduktion, sondern eher das einer Ersetzung der Mendel’schen Genetik durch die moderne molekulare. Begründet wird dies damit, dass »sich die beiden Theorien in ihren Begriffen und in ihrer Struktur stark unterscheiden«. 343 Nach Gilbert und Sarkar bestünde bei der ihrer Meinung nach abzulehnenden Lehre des Physikalismus das ganze physikalische Universum nur aus Interaktionen von Materie und Energie. Alle Lebenskräfte und Lebensphänomene wären nichts weiter als chemische und physikalische Prozesse. Komplexe Wesen wie Proteine, Zellen, Organismen und Ökosysteme könnten dann durch die Eigenschaften ihrer zusammengesetzten Teile erklärt werden. 344 Durch die Kenntnis der Teile, die das Ganze konstituieren, wüssten wir alles vom Ganzen, auch seine Funktionen. »Die biologischen Funktionen eines Systems werden nur in Begriffen der chemischen Eigenschaften ihrer Teile und diese chemischen Eigenschaften werden ihrerseits durch die physikalischen Eigenschaften auch noch kleinerer Teile erklärt.« 345 Als Biologen sind jedoch Scott Gilbert und Sahotra Sarkar mit Ernst Mayr 346 der Auffassung, dass die Merkmale von »lebendigen Ganzheiten nicht vom vollständigsten Wissen seiner Komponenten abgeleitet werden können. Die neuen Eigenschaften des Ganzen entstehen, ohne dass sie durch ein Wissen der Bestandteile erzeugt werden konnten.« 347 Dies entspricht einer Einsicht der aristotelischen NaturGeorg Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, a. a. O., Band 2, S. 55. Sahotra Sarkar, Genetics and Reductionisms, Cambridge 1998. 345 Ebenda, S. 1. 346 Ernst Mayr, Towards a new Philosophy of Biology, Cambridge Mass. 1988. 347 Scott Gilbert und Sahotra Sarkar, Embracing Complexity, in: Developmental Dynamics 219, 2000, S. 3. 343 344

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philosophie, der ich in diesem Buch folge. Danach ist es nicht möglich, die Merkmale der höheren Ebene durch Entstehung aus den Eigenschaften der niedrigeren Ebenen zu erklären. Das Lebewesen ist ein ursprüngliches Ganzes und der Natur nach früher als seine Teile. Dazu muss nach Aristoteles die Seele von Lebewesen als »Ursache und Prinzip des lebendigen Körpers« angenommen werden. 348 Reduktive Naturtheorien, die heute weithin verbreitet sind, unterstellen der höheren Ebene die seinsmäßige Abhängigkeit von einer niedrigeren. Die biologische Verständnisebene beruhte dann auf dem Wirken chemischer Gesetze und diese wiederum auf physikalischen. 349 Die Bemerkungen von Scott Gilbert und Sahotra Sarkar sind deshalb interessant, weil sie aufgrund von beobachteten empirischen Eigenschaften einem Holismus nahekommen und damit einen Reduktionismus auszuschließen scheinen. Das Ganze, so meinen beide Denker, ist nicht von unten aufzubauen; deshalb muss auch die Bedeutung des Ganzen für die Teile gewürdigt werden. Die Eigenschaften der Teile hängen von den Kontexten der Teile, innerhalb derer sie sich bewegen, ab. Nach Gilbert und Sarkar entspricht dieser Aspekt dem Holismus oder, wie sie es formulieren möchten, dem Organizismus. Den Organizismus verstehen sie aber materialistisch und schließen Lebenskräfte wie einen »elan vital«, aber auch eine »Entelechie« aus. Es ist die alte Schwierigkeit, die schon das 19. Jahrhundert beherrscht hat, dass die empirische Wissenschaft keinen selbstreflexiven Zugang impliziert, sondern nur eine Totalität materieller Objekte. Eine Wissenschaft, die den Organismus sich zum Thema macht, kann nicht völlig von der Tatsache absehen, dass auch der Mensch einen Organismus hat, dass der untersuchende Wissenschaftler sich selbst als Organismus erkennt und sich im intentionalen Innenverhältnis dessen bewusst ist. Wenn die genetische Evolutionstheorie etwas uneingeschränkt über den Organismus der Lebewesen und der Tiere sagen will, insofern es um dessen Entwicklung gehen soll, dann muss sie das weitere Beobachtungsfeld, zu dem der Mensch gehört, miteinbeziehen. Sonst schaffte sie in der Konsequenz den Menschen ab bzw. verleugnete seine Natur. Der entsprechende Begriff des Organismus hat dann sowohl extensionale (auf welche Objekte trifft er zu?) als auch intensioAristoteles, De an. II,4, 415 b 8. Überwiegend im Sinne des Naturalismus werden diese Zusammenhänge von Hoyningen-Hüne, Reduktion und Emergenz, in: Bartels und Stöckler, Wissenschaftstheorie, Paderborn 2007, S. 177–198, dargestellt. 348 349

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nale (welche Inhalte sind gemeint?) Implikationen. Die damit geschehende Einbeziehung einer seienden und natürlichen Vernunftausstattung des Menschen vermeidet die widersprüchliche Situation, dass die gefundenen Wahrheiten des Naturwissenschaftlers nicht Ergebnisse seines Denkens, sondern kausale Schaltungen seines Gehirns wären. Die Frage ist, was mit »materialistischer Holismus« gemeint ist. Hält dessen Bedeutung sich in den Grenzen eines methodischen Naturalismus oder geht sie in einen ontologischen Materialismus über? In seinem zwei Jahre früher erscheinenden Buch Genetics and Reductionism 350 führt Sarkar aus, dass sich epistemische Fragen von ontologischen trennen lassen. Ein zunächst naheliegender Gedanke, wenn man bedenkt, dass der Genetiker beliebig viele Hypothesen ausprobiert, ohne dass die bestätigt werden würden. Auch ist es für den Genetiker naheliegend, sich von offensichtlich überzogenen Thesen wie der von Francis Crick, nach der die ganze Biologie in Begriffen der Physik und Biologie erklärbar sein soll, zu trennen. 351 Wohl aber ist die formale kausale Reduktion, die vom Ganzen zu den Teilen eines Lebewesens vorwärtsschreitet, ganz selbstverständlich ohne weitere Voraussetzungen als Arbeitsprogramm der Genetiker gültig. Im oben genannten Buch entwickelt er drei Vorschläge für die Reduktion: 1. Die klassische Biologie könne auf die molekulare reduziert werden, 2. die Biologie auf die Chemie, 3. die Biologie auf die Physik. Den ersten Vorschlag bezeichnet er als weitgehend richtig. 352 Mit der ersten These wird jedoch eine schöpferische Macht der Genetik impliziert, denn das genetische Verfahren ist nicht daran gekoppelt, ob die Reduktion zu einer Erklärung führt: »Rather a deliberate attempt will be made to keep the issues of reduction and explanation distinct.« 353 Die Reduktion wird als ein rein technisches Verfahren behandelt, das ohne Rücksicht auf einen möglichen wahren oder falschen Gehalt abläuft.

Sahotra Sarkar, Genetics and Reductionism, Cambridge 1998. Francis Crick in: Man and his Future. A Ciba Foundation, ed. by G. Wolstenholme, London 1963. 352 Sahotra Sarkar, ebenda, S. 147. 353 Sahotra Sarkar, ebenda, S. 9. 350 351

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Ist es hier berechtigt, die Frage einer reduktiven Untersuchung menschlicher Gene zu Zwecken des Enhancement oder der Manipulation ins Spiel zu bringen? Überdies sagt diese Theorie der genetischen Reduktion nichts über den Zusammenhang ihres Unternehmens mit den Funktionen sowohl innerhalb eines Lebewesens als auch für dessen Verhältnis zu anderen Lebewesen und der sonstigen Umwelt aus. Die Frage liegt nahe, wie sich das Unternehmen der genetischen Reduktion zu normativen Zielen des Lebewesens verhält. Wenn normative Ziele durch einen formalen kausalen Reduktionismus ganz ausgeschaltet werden, dann kippt dieser in einen ontologischen Materialismus um. Ein erkenntnistheoretischer Physikalismus lässt sich ohne einen Objektbereich rein materieller Natur nicht denken. Die moderne Genetik impliziert insofern einen ontologischen Materialismus. Bei einem ontologischen Verständnis des Materialismus würde die Kritik von Hans Jonas zutreffen, die wir oben im Kapitel 1.2 diskutiert haben. Jonas greift einen Schwur von drei jungen Wissenschaftlern, nämlich Emil du Bois-Reymond, Ernst Brücke und Hermann Ludwig Ferdinand von Helmholtz auf. Alle drei Forscher blieben ihrem Schwur, dass es im Organismus keine anderen Kräfte geben könne als die »gemein physikalisch-chemischen«, in ihrem wissenschaftlichen Wirken ihr Leben lang treu. Die Diskrepanz ist nun offensichtlich. Der durchaus von ihnen ein Leben lang eingehaltene Schwur beruhte gerade nicht auf kausal-mechanischen Ursachen, sondern auf ihren intentional-geistigen Zwecksetzungen, auf ihrer Begeisterung für die Forschung. Gilbert und Sarkar benötigen den Begriff des Organizismus als Ergänzung bzw. als Gegenbegriff zum Reduktionismus. Das müsste sie zur Einsicht führen, dass ihr Konzept des Organizismus mit einer das kausale Konzept übersteigenden Sonderrolle der Organismen zusammenhängen müsse. Organizismus und Reduktionismus sind nicht vereinbar. Das Verhältnis der Begriffe Organizismus und Reduktionismus zueinander ist ein rein negatives, sodass der eine den anderen ausschließt und sich an dessen Stelle setzt. Der Reduktionismus besteht darin, dass die Erklärung von unten, z. B. von den Atomen zu den Molekülen, zu den Organellen, zu den Zellen und zu den Geweben allein hinreichend ist, alle Phänomene zu erklären. Der Organizismus bestreitet dies und behauptet, dass eine Erklärung von oben nach unten genauso zur Erklärung des Ganzen notwendig sei. Nach der reduktionistischen Ontologie ist das Gewebe eine mengenhafte Anhäufung von Zellen und die Zellen eine Menge von Orga212

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nellen usw. Der Organizismus würde dies nicht leugnen, aber ebenso das Zusammenspiel des Gewebes mit dem Organismus und das SichEinstellen des Organismus auf seine Umgebung behaupten. Ein wichtiges Merkmal des Organizismus ergibt sich daraus, dass die Reduktion auf bloße Teile nicht das gewünschte Ergebnis liefert. Die Teile als Teile genügen nicht, sondern müssen in ihrer Interaktion mit anderen Teilen aufgefasst werden. Man kann keinem isolierten Molekül eine Temperatur zuschreiben, wohl aber einer Ansammlung von Molekülen. Ähnliches gilt für die Halbdurchlässigkeit von Molekülen. Searle wies 1992 auf emergente Eigenschaften des Nervensystems hin. Nach ihm kann man nicht in ein Wasserglas hineinlangen, um ein Molekül zu greifen und um dann zu sagen, dies sei nass. Und ebenso könne man nicht auf eine einzelne Synapse oder ein Neuron zeigen und sagen, dieses denke an die Großmutter. 354 Es muss jeweils, damit etwas erkannt werden kann, eine komplexe Einheit von Elementen vorliegen. Gilbert und Sarkar verweisen auf den neuen Stand der Genforschung, nach dem die Gene nicht, wie Richard Dawkins behauptet hatte, im Mittelpunkt stehen und das Verhältnis der Organismen zur Umwelt bestimmen. Das Gen ist, wie sie mit einer Anspielung auf die aristotelische Metaphysik sagen, nicht der »unbewegte Beweger des Organismus«, was sie auch »Genzentrismus« nennen. 355 Sie geben eine Reihe von Belegen aus der Genetik, die die Abhängigkeit der Teile vom Ganzen aufzeigen. Die Struktur und die Funktion der Hepatozyten 356 hängen nicht nur an den Eigenschaften der Organellen, die sie enthalten, sondern auch an den Eigenschaften der Organe, in denen sie sich befinden. Es handelt sich dabei um mechanische Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften der unteren Ebene mit denen des Ganzen, in das sie eingebunden sind. 357 Die Verfasser verweisen auf Kants Kritik der Urteilskraft und auf Beispiele der menschlichen Sprache. Buchstaben formen Wörter und Wörter Sätze. In den Worten haben die miteinander verbundenen Buchstaben Eigenschaften, die sie für sich genommen nicht haben. Erst wenn sie John Searle, The Rediscovery of the mind, Cambridge 1992; deutsche Übersetzung, Die Wiederentdeckung des Geistes, München 1993. 355 Scott Gilbert und Sahotra Sarkar, Embracing Complexity, in: Developmental Dynamics 219, 2000, S. 5. 356 https://de.wikipedia.org/wiki/Hepatozyten-Wachstumsfaktor. Dieser spielt eine wichtige Rolle in der Embryonalentwicklung, Zellgeneration und Wundheilung. 357 Gilbert, Sarkar, a. a. O., S. 2. 354

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richtig gruppiert werden, haben sie diese Bedeutung. Dasselbe wiederholt sich im Verhältnis der Wörter zu den Sätzen. Die Bedeutung der Wörter ergibt sich erst aus dem ganzen Satz. Die aus der Sprache genommenen Beispiele illustrieren aber nicht nur das Verhältnis der Teile-Ganzes-Beziehung in den Lebewesen, sondern sie werfen auch auf die Interpretation des menschlichen Handlungsverständnisses ein Licht. Die Bewegungen der Finger eines Pianisten, durch die auf dem Klavier eine Fuge von Bach erklingt, können kausal idealerweise bis auf die kausalen und funktionalen Abläufe im Gehirn des Klavierspielers als zurückverfolgbar gedacht werden. Die Hirnforschung weiß heute zwar nicht, welche Neuronen und Synapsen dabei zusammenwirken, aber auch dann, wenn sie es wüsste, wären wir mit einer solchen Auskunft über die kausalen Abläufe nicht zufrieden. Sie würde unser Erlebnis nicht verständlich machen. Unser Erlebnis der gehörten Bachfuge hängt von der musikalischen Kunstform ab, die Bach komponiert hat. Die Komposition hat ein eigenes Sein, eine Ganzheit, die auf den von Bach gesetzten Noten beruht. Und wenn das Werk nicht zerstört werden soll, darf keine verändert werden. Das Kunstwerk hat ein eigenes Selbst, wie es die Pflanzen, Tiere und Menschen auch haben. Die kausalen Abläufe lassen sich mit gewissen richtigen Annäherungen eingrenzen, sie bleiben aber dem menschlichen Ganzheitserfassen untergeordnet. Vom Sein des Kunstwerks, der Bachfuge her gesehen, gibt es keinen weiteren Grund, die vorliegenden Kausalverhältnisse zu erforschen. Diese zu kennen ist hier uninteressant, es sei denn, man zielt als Gehirnforscher auf die Erkenntnis der Ursache von Gehirnstörungen und Gehirnkrankheiten. Aufgrund von Krankheiten ist es eben immer erlaubt und geboten, das Lebendige in seinen Bestandteilen zu erforschen, was aber deutlich von dessen Manipulation und Neukonstruktion unterschieden werden muss. Wie ist es aber mit der Genetik, die das Lebendige erforscht und die Zellen erkennen und verändern will? Hat das Lebendige, zumal das menschliche Genom, weniger Achtung verdient als ein musikalisches Kunstwerk, bei dem keine Note verändert werden darf? Als Genetiker haben Gilbert und Sarkar zwei ineinander verschränkte Kausalreihen der Teile zum Ganzen und des Ganzen zu den Teilen festgestellt. Die Kausalreihen brauchen als gegenläufige Bewegung eine Einheit, von der her sie reguliert werden. Als gegenläufige Kausalreihen mit jeweils entgegengesetzter Wirkungsrichtung würden sie nicht in einem Wechselverhältnis existieren können. Wenn sie trotzdem existieren, dann durch die einheitssetzende Wirkung des 214

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Ganzen, das sie zusammenhält. Kant hat in seiner Kritik der Urteilskraft, auf die sich die Verfasser ja auch beziehen, auf das teleologische Prinzip der Einheit hingewiesen. Die Teile des Organismus tragen zu dessen Erhaltung und Entwicklung bei und sind füreinander Mittel und Zweck. Diese bekannte Lehre von Kant, die sogar von diesen empirisch eingestellten Genetikern aufgegriffen wird, verdient hier Aufmerksamkeit. Das wissenschaftliche Studium der Natur, das unserer Beobachtung und den Experimenten folgt, zielt auf mechanische Gesetze, hat aber seine Grenze in der Organisation als »innerer Zweck der Natur«. Die Organisation von Lebewesen übersteigt »unendlich alles Vermögen einer ähnlichen Darstellung«. Bei Natureinrichtungen, die mit einer äußeren Zweckmäßigkeit betrachtet werden können, z. B. bei Winden und Regen, »betrachtet die Physik wohl den Mechanism derselben; aber ihre Beziehung auf Zwecke, so fern diese eine zur Ursache notwendige gehörige Bedingung sein soll, kann sie gar nicht darstellen, weil diese Notwendigkeit der Verknüpfung gänzlich die Verbindung unserer Begriffe, und nicht die Beschaffenheit der Dinge angeht.« Kant formuliert hier eine Grenze der Physik, die vom modernen Neodarwinismus übergangen wird. Organisierte Wesen haben eine Ausnahmestellung in der Natur, weil sie die einzigen sind, »die für sich und ohne ein Verhältnis auf andere Dinge betrachtet, doch nur als Zwecke derselben möglich gedacht werden müssen«. Das Prinzip der Beurteilung der inneren Zweckmäßigkeit in organisierten Wesen heißt dann: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts in ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.« 358 Die Verfasser führen zwar die Analysen Kants an, aber sie kommen zu keiner finalen Naturbetrachtung, wie sie das Lebendige doch nahelegen würde. Die fortlaufende Kausalreihe, die in naturalistischen Theorien durchgehend mit den Theorien des Physikalismus und Reduktionismus verbunden wird, verbietet es den Verfassern, die Bewegung des Lebendigen einer Zielbetrachtung zu unterstellen und mit Aristoteles nach einem letzten »Wofür« der Bewegung des vergänglichen einzelnen Lebewesens zu fragen. Auch der Blick auf die Darwin’sche Evolutionstheorie, die eine rein teleologische Betrachtung der Natur aufhebt, hindert sie daran. Aristoteles hatte die Bewegung der Lebewesen neben ihrer 358 Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Kant Werke Band V, hg. von Weischedel, Wiesbaden und Darmstadt 1957 und 1966, S. 498 und S. 488.

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Eigenbewegung noch einmal an einen unbewegten Beweger zurückgebunden. Der unbewegte Beweger bewegt die Lebewesen, die, weil sie ihren Anfang nicht aus sich selbst haben, bewegt werden müssen. Er stiftet insofern ihren systemischen Zusammenhang. Dieser unbewegte Beweger kann jedoch von der neuzeitlichen Physik, die methodisch nur kausale Ursachen, d. h. immer wieder ablaufende Veränderungen, berücksichtigen kann, nicht als Erklärungsgrund eines finalen Angestrebtwerdens durch das Lebendige zugelassen werden. Kant folgt in seiner Kritik der reinen Vernunft, die eine kritische Metaphysik sein soll, ein solche, die nach dem Vorbild der Wissenschaften einen Fortschritt bringen soll, dem Vorbild der autonomen Physik Newtons, die nur Hypothesen über materielle Kräfte von Körpern thematisiert. Newton selbst hat in einer Andeutung im Scholion seiner Principia Mathematica von einer Ausweitung der Kausalforschung auf die kleinen Teile der Körper gesprochen. In den Körpern sollte es winzige Schwerkraft-Bewegungen nach dem Vorbild der Planetenbewegung geben. Das kann man als Vorausahnung moderner subatomarer Strukturen verstehen. Damit ist jedoch nicht die gegenläufige Verklammerung der Kausalitäten im Organismus erklärt. Die modernen Genetiker, die diesen inneren Kräften auf der Spur sind, hätten also allen Anlass, über die mechanischen, durch Newton und Kant gesetzten Grenzen hinauszugehen. Dies tun sie aber nicht, weil die auf die Materie restringierte Betrachtungsweise der Physik die für diese typische Methode ist. Die Leerstelle der ökologischen Abläufe, die die Physik nicht thematisiert, beschäftigt zwar als Klimaerwärmung die Öffentlichkeit, ohne dass aber zusätzliche physikalische Erklärungsperspektiven entwickelt würden. Gilbert und Sarkar implizieren in einer doppelten Weise einen Bezug auf Kant. Sie nehmen die Einsichten von Kants Kritik der Urteilskraft zur Kenntnis, folgen dann aber dem Hauptstrang von dessen theoretischer Vernunft, der in der Zugrundelegung der physikalischen Methode Newtons und deren philosophischer Rechtfertigung besteht. Der andere Bezug auf Kant, der dessen wesentliches Verdienst, die Einsicht in die unaufhebbare Zielstrebigkeit der Natur, aufgreift, bleibt jedoch durch den modernen reduktionistischen Einfluss der neodarwinistischen Evolutionstheorie außer Betracht. Kant hat gezeigt, dass eine empirische Methode nicht in der Lage ist, einen ersten Anfang zu erkennen. Genau dieser Anspruch wird jedoch fälschlicherweise vom reduktionistischen Neodarwinismus erhoben. Hier geht es darum, den ersten Anfang des Lebens und dessen weitere 216

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Entwicklung zu begreifen. Die Restriktion der theoretischen Erkenntnis bei Kant in dessen Antinomien der Vernunft, dass nur Erscheinungen der Körperwelt erkannt werden können, dass keine Erkenntnis des Ursprungs der Kausalbewegung der Seienden der menschlichen Erkenntnis möglich ist, wird durch die physikalistische Grundhaltung der Genetiker, die in deren Übernahme des Neodarwinismus enthalten ist, verhindert. Zwar müssen die Genetiker immer nach einer kausalen Ursache fragen, aber ihr Ausgangspunkt vom vorausgesetzten Ganzen des Lebewesens, der Ausgangspunkt von dessen Seele, müsste sie daran hindern, für das Lebendige ausschließlich eine Kausalreihe als ermöglichenden Grund anzunehmen. Eine bloße Kausalreihe von Gliedern, die sich sämtlich nicht selbst verursachen können, kann nicht wirken, wenn keine Ursache von anderer Art irgendwo hineinwirkt. Ebenso wenig kann eine Kette von Mittel-Ziel-Verhältnissen, die kein endgültiges Ziel enthält, das in sich erstrebenswert und nicht wieder nur Mittel ist, existieren. Die Einsicht in die Wechselseitigkeit des Ganze-Teile-Verhältnisses führt zur Erkenntnis der Bedeutung von Funktionen im Organismus und über diese, wie Peter McLaughlin gezeigt hat, zu dessen intentionalem Ziel, seinem Wohl der eigenen Selbsterhaltung. 359 Gilbert und Sarkar gehen diesen Schritt, den sie durch ihre Überlegungen nahelegen, nicht mit. Indem sie einen Verweis auf die andere Ebene, auf der der Organizismus weiter zu reflektieren wäre, auslassen, fallen sie in den physikalischen Reduktionismus, dass alles nur aus kausal verursachten Gliedern bestünde, zurück. Während das praktische Forschen und dessen Autonomie auf der Ebene des Organismus mit der Annahme einer Kausalität von unten nach oben und von oben nach unten unabdingbar ist, ist die Festlegung auf eine einzige dahinterliegende Kausalreihe willkürlich und dem Newton’schen Vorbild geschuldet. Nach diesem wirkt die Schwerkraft überall, ob beim Planeten oder beim Apfel. Beim berühmten physikalischen Experiment des Galileo Galilei wird jedoch nicht thematisiert, dass die Wachstumsprozesse des Apfels nicht durch die Schwerkraft gesteuert werden, sondern sich im Gegensatz zu ihr aufgrund eigener Gesetze durchsetzen. Die Säfte des Baumes, die für das Wachstum der Blätter, Blüten und Früchte sorgen, müssen sich gegen die Schwerkraft den Stamm hi359 Peter McLaughlin, What Functions Explain. Functional Explanation and SelfReproducing Systems, Cambridge 2004.

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nauf bewegen. Leben, so muss man mit Paul Erbrich sagen, geht nicht mit der Materie konform und beachtet nicht ausnahmslos deren Gesetze. 360 Der physikalische und genetische Determinismus der synthetischen Theorie führt, wie ich im Folgenden zeigen werde, zu einem genetischen Evolutionismus auf der Basis der natürlichen Selektion. Die Alternative dazu ist die Erkenntnis, dass die Wechselwirkung der gegenläufigen Kausalitäten nur einem Dritten, einem realen Einheitsgrund möglich ist. Die entsprechende Schlussfolgerung führt zu einer Seele und zu einem Denken, das nicht nur von der Wahrnehmung ausgeht.

9.3 Das Recht der Lebewesen als Eigensein Die neben der empirischen Betrachtung nötige ontologische der Lebewesen, die zur Annahme einer Seele führt, ist vor allem von Aristoteles exemplarisch entwickelt worden. Lebewesen sind dadurch charakterisiert, dass sie das Prinzip der Bewegung in sich selbst haben. Die Herkunft der Lebewesen verdankt sich nicht einem materiellen Prozess, sondern der Zeugung durch ein vorausgehendes, derselben Art angehöriges Lebewesen. Da alle Lebewesen anfangen und aufhören, ist danach zu fragen, warum sie sich überhaupt bewegen. Im vorigen Abschnitt wurde bereits auf die Rolle des unbewegten Bewegers hingewiesen. Alle Lebewesen werden zwar auf der Basis ihrer Materie und ihrer Form bewegt, aber die Zielrichtung haben sie, insofern sie einem systemischen Gesamtprozess angehören, vom unbewegten Beweger. Jede Evolution eines Lebewesens muss aufgrund dieser Voraussetzung interpretiert werden. Diese philosophische Voraussetzung ist von Darwin nicht genügend beachtet worden. Bekannt ist der Satz des Aristoteles, dass »der Mensch einen Menschen zeugt«. 361 Einmal ist damit gesagt, dass die Natur des Menschen das spätere Lebewesen wirkt. Zum anderen wird eine Form des Lebewesens weitergegeben. Die zugrundeliegende Materie ist dadurch charakterisiert, dass sie sich auf die natürliche Form des Wesens, das ein anderes erzeugt, als Ziel hin entwickelt. Die existierende Form unterscheidet sich der Form nach nicht von der zukünftigen; deshalb sind die zeitlichen Phasen der Bewegung nicht alleine mit einer linea360 361

Paul Erbrich, Zufall, a. a. O., S. 84. Aristoteles, Met. VII, 7; 1032 a 25; VIII, 8, 1049 b 25–27.

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Kausal-genetisches evolutives Weltbild und geistige Verursachung

ren Bewegung des früher und später zu erklären. Das Dilemma der bekannten Frage, was früher war, die Henne oder das Ei, erläutert das Unzureichende der bloß empirischen Erklärung; denn es ist nicht der zeitliche Ablauf das Entscheidende, sondern dass überhaupt die Form der Henne da ist. Ein Mensch, der die Form des Menschseins schon besitzt, gibt sie in der Zeugung mit Hilfe der Materie weiter. Die Materie allein, also in unserem Zusammenhang die durch die Reduktion thematisierten Teile, sind nicht in der Lage, den Prozess zu gestalten. Was sich bei der inneren synchronen Konstitution des Lebewesens zeigt, dass die Teile ihre Hinordnung auf das Ganze, d. h. die Form benötigen, und es zeigt sich auch im diachronen Verhältnis des Ganzen und der Teile, in ihrem Werden. Die Substanzen entstehen aus dem Nichts, dies aber so, dass eine weitere formgebende Substanz vorausgeht. Die herangezogenen beiden Genetiker, die uns bei der Analyse geführt haben, betonen, dass das Konzept des Organizismus nicht aufgrund einer Theorie, die von unten nach oben verläuft, also mit reduktionistischer Methode, gewonnen wurde. Vielmehr entstammt es der Beobachtung, die vom fertigen Lebewesen von oben nach unten vorgegangen ist. Dieser mit Aristoteles’ Theorie übereinstimmende Gesichtspunkt des Eigenseins der Lebewesen ist gegenüber dem unhaltbaren materialistischen Holismus der Genetiker, wie ihn Scott Gilbert und Sahotra Sarkar behaupten, festzuhalten.

9.4 Kausal-genetisches evolutives Weltbild und geistige Verursachung durch Verursachung der Ziele Die vorangegangenen Überlegungen von Gilbert und Sarkar 362 bleiben mit ihrem Begriff des »materiellen Holismus« der evolutionären Genetik und ihrem Reduktionismus verhaftet. Ein wechselseitiges Ganzes-Teile-Verhältnis würde von vornherein ausschließen, dass am Anfang der Gesamtentwicklung der Lebewesen nur Teile stehen, aus denen sich die Ganzheiten erst entwickelten. Die Teile müssten zumindest ein geistiges Formprinzip und eine Zielgerichtetheit enthalten. Eine bloße Materie könnte dies nicht leisten. Der moderne reduktive Neodarwinismus knüpft ausschließlich an den molekular362 Scott Gilbert, Sahotra Sarkar, Embracing Complexity: Organicism for the 21st Century, in: Development Dynamics 219, 2000, S. 1–7.

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genetischen Teilebegriff an, um dann mit seinem letzten vorherrschenden Prinzip eine evolutive Seinsebene der sich selbst replizierenden DNA zu behaupten. 363 Wie diese sich selbst replizierende DNA entstanden ist, wird nicht erklärt. Wenn angenommen wird, dass sich mehrere Moleküle zusammenschließen, um sich selbst replizierende Moleküle zu schaffen, wird nicht erklärt, warum sie dies tun. Auch eine Hypothese, die eine Emergenz durch aus dem Weltraum dazukommende organische Moleküle annimmt, löst das Problem nicht; denn wir haben die ungelöste Frage, warum es diese Moleküle gibt und woher sie kommen. Die Basis dieser molekularen Evolutionstheorie ist eine Interpretation des physikalischen Universums nicht nur auf der Basis der Gesetze der physikalisch gesicherten Grundbestandteile von Materie und Energie, sondern auch auf der Basis von chemischen und physikalischen Prozessen, eingewoben in eine Geschichte der Entwicklung der Materie, die zur Entstehung des Lebens führen soll. Es ist ein zielgerichteter Prozess, dessen in der Materie vorhandene Zielgerichtetheit aber nicht erklärt werden kann. Über die neodarwinistische Evolutionstheorie wird ein ganz anderer, durch die empirische Physik nicht rechtfertigbarer Begriff von Physik eingeführt. Alle wissenschaftlichen Erklärungen – auch die der Lebewesen – sind, so muss vorausgesetzt werden, auf die der Physik zurückführbar. In der Konsequenz können alle komplexen Wesen durch die mechanische Zusammenfügung ihrer Teile erklärt werden. Dagegen steht jedoch die zur Regel führende Beobachtung finaler Regelmäßigkeit, dass die befruchtete Blüte eines Apfelbaums einen Apfel hervorbringt. Die Existenz und das Wachstum eines Apfels am Baum unterliegen zwar der Schwerkraft, aber diese ist nicht für die Existenz und das Wachstum des Apfels verantwortlich. Wenn sich jedoch aus den Molekülen als Molekülen, wie die genetische Evolutionstheorie behauptet, ein Ganzes von selbst ergibt, dann gibt es eine »wunderbare Vermehrung« der physikalischen Gesetze. Die biologischen Funktionen eines Systems werden nun durch ihre kontinuierlich wachsenden physikalisch-chemischen Eigenschaften erklärt und das Ganze des Lebewesens bereits vor seiner Existenz durch die Teile aus den gegebenen physikalischen Bedingungen abgeleitet. Etwas, was erst im Nachhinein festgestellt werden kann, weil es gewachsen und entstanden ist, wird im Darwinismus als vorher vorhanden, weil aus einem Ge363

John Maynard Smith, Evolutionary Genetics, Oxford 1998, S. 3.

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Kausal-genetisches evolutives Weltbild und geistige Verursachung

setz der Teile ableitbar, festgestellt. Dies geschieht ganz in Entsprechung zum Gesetz der physikalischen Schwerkraft, die mit der Gegebenheit der Körper existiert. Schon die Physik handelt sich bei der Frage nach einem ersten Anfang der Existenz von Körpern mit ihrer Antwort, der Urknall-Theorie, Schwierigkeiten ein; denn die Frage nach einer Begründung einer wirklich ersten Ursache ist damit nicht gelöst und könnte nur metaphysisch beantwortet werden und nicht empirisch. Kants dritte Antinomie aus der Kritik der reinen Vernunft ist in Erinnerung zu rufen. Kant zeigt, dass die Behauptung eines empirischen Anfangs einer Kausalreihe, sei es, dass dieser außerhalb oder innerhalb der Reihe liegt, zu Widersprüchen führt und nicht beantwortet werden kann. Anders ausgedrückt, wir können nicht erwarten, wenn es um die letzten Ursprünge des Universums und der Menschheit geht, mit dem gewohnten Verfahren der empirischen Wissenschaften ein Verständnis zu erlangen. Auch konkurrierende Hypothesen, wie sie bei der Erklärung des physikalischen Ursprungs der Erde haufenweise gebildet werden, helfen auf dieser Ebene, die keine wissenschaftliche Evidenz bietet, nicht weiter. Statt mit den Methoden des evolutionären Reduktionismus einfach irgendwelche Möglichkeiten zu behaupten, ist es sinnvoller, auf eine geistige Möglichkeit zu rekurrieren, nämlich einen schöpferischen Geist. 364 Die Frage nach dem historischen Auftauchen des Geistes ist völlig falsch gestellt, da der Geist nicht wie die Materie beobachtet werden kann, sondern nur aus unserer geistigen Selbsterfahrung heraus bekannt ist. Wie ich an anderer Stelle (Abschnitt 1.3) mit der Physikerin Brigitte Falkenburg argumentiert habe, lässt sich das geistige Bewusstsein nicht aus den materiellen Prozessen des Gehirns erklären. Die spontane geistige Erfahrung der geistigen Person lässt sich ebenso wenig empirisch beobachten wie das Auftauchen des Geistes in der Geschichte. Es handelt sich in beiden Fällen um dasselbe Problem. Im Falle der Frage nach dem historischen Auftreten des Geistes liegt eine diachronisch-horizontale Perspektive vor. Beim Wissen des geistigen Bewusstseins, das nicht aus den Strukturen des Gehirns zu erklären ist, ist es eine synchron-vertikale Perspektive. 365 Eine empirische Erklärung der Entstehung des Lebens und damit 364 Hier stimme ich John Haldane, Atheism and Theism, Second Edition, Oxford 2003, zu. 365 Treffend ist dieser Zusammenhang bei John Haldane, Scientism and its Challenge to Humanism, in: New Blackfriars, Oxford 2012, S. 671–686 herausgearbeitet.

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Evolutionäre Genetik und evolutionäre Kosmogonie

zusammenhängend eine empirische Erklärung des Lebens selbst sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Freilich werden, wegen ökonomischer Nutzenerwartungen eine große Zahl von Forschungsteams immer diesen Fragen nachgehen und sich irrigerweise kurz davor glauben, die Lösung in der Hand zu halten. Aber diese Erwartungen werden enttäuscht werden. Wie ich im Folgenden zeigen werde, fußt der vergebliche Versuch der Erklärung der Existenz des Lebens und des Wesens der Lebewesen auf dem behaupteten Prinzip der natürlichen Selektion der Evolutionstheorie. Aber diese leistet das von ihr Beanspruchte nicht, sondern gibt nur vor, eine Beschreibung für eine konstitutive Erklärung der Evolution aus den kleinsten Bestandteilen des Prozesses zu geben. Anhand der geschichtlichen Spuren der Erde und der sedimentierten Lebewesen lässt sich eine Entwicklung beschreiben, die darauf hinweist, dass eine Evolution wirklich stattgefunden hat, was aber, wie gleich betont werden muss, nicht bedeutet, dass die neodarwinistische Erklärung dieser Evolution richtig ist. Die Entwicklungslinie der Evolution fängt mit den Pflanzen- und Tierformen des Kambriums an (540–450 Mio. v. Chr.), geht über das Auftreten der Vierbeiner und Fischarten zu dem Auftreten von Landtieren, den Vögeln über. Es treten zweifüßige Reptilien, Dinosaurier und Theropoden auf. Die Entwicklung der Säugetiere findet einen Abschluss mit dem Menschen. 366 Auch wenn, was die Funde von Gliedern aus dieser Abfolge betrifft, keine lückenlose Kette aufgezeigt werden kann, so wird doch eine Aufeinanderfolge von Entwicklungsphasen behauptet in dem Sinne, dass etwa A vor B, B vor C und C schließlich vor D usw. kommt. Wie bei jeder geschichtlichen Erklärung müsste das jeweils spätere Glied aus den vorausliegenden erklärt werden. Die Darwin’sche Evolutionstheorie hat aber die vorausliegenden Lebewesen und Elemente nur zum Teil und da wieder nur in Sedimenten vorliegen. Sie schließt aus den lebendigen Exemplaren auf deren frühere Existenz im Sinne der Annahme, dass der Wirkung eine gleichmächtige Ursache entsprechen muss. Wenn jedoch das Selektionsprinzip gelten soll, dann können die ursprünglichen Lebewesen nicht als Teil der späteren, jeweils neuen Lebewesen angesehen werden. Der Darwinismus dürfte dazu aufgrund seines Prinzips der Selektion nur die Situation der Populationen mit ihren Umweltbedingungen heranzie366 Diese knappe Skizze folgt dem Lehrbuch von Reinhard Junker und Siegfried Scherer, Evolution. Ein kritisches Lehrbuch, Gießen 2006.

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Kausal-genetisches evolutives Weltbild und geistige Verursachung

hen. Tatsächlich aber nimmt er in seine biologische Erklärung erdgeschichtliche Katastrophen hinein, über die es vage Hypothesen gibt, die aber auf alle Fälle keine Beweise für das »survival of the fittest« darstellen müssen. Lebewesen können in einer Naturkatastrophe gerade deshalb überlebt haben, weil sie von deren Zentrum weit entfernt waren. Was hat dies dann mit dem Selektionsmerkmal der Lebewesen, mit der »biologischen Fitness« zu tun? Dass dies ein grundsätzliches Problem für den Darwinismus ist, wurde bereits früher angemerkt. Die dem Darwinismus mögliche Methode ist die der Beschreibung, aber nicht die der nomologischen Erklärung mit den Standards physikalischer Gesetze. Tatsächlich aber wird, um die Finalität der Natur als Prinzip auszuschalten, die Kausalität mit der Möglichkeit, dass sie auch umgekehrt wirkt, als einzig relevante Ursache angenommen. Die Darwin’sche natürliche Selektion ist das konstitutive Erklärungsprinzip der gesamten Evolution. Weil das Auftreten der Lebewesen auf der Erde in der Entwicklung des Universums ein späteres Ereignis ist, müssten Implikationen der natürlichen Selektion bereits im Urknall (Big Bang) als dem einmal vermuteten Anfang des Universums angenommen werden, sodass zu den von den Physikern errechneten Gesetzen auch die biologischen der natürlichen Selektion hinzukämen. Damit könnte aber nichts anderes formuliert werden, als was der Physikalismus und Reduktionismus immer behaupten, dass die Physik die grundlegende wissenschaftliche Theorie aller Dinge ist, dass alle Dinge von der Form der physikalischen Gesetze her bestimmbar sind. Mit der behaupteten Universalität der physikalischen Gesetze als Basis, geht die implizite Annahme des Objektbereichs der Physik einher, dass die alleinige Grundlage von allem die Materie ist. Während die historische Erklärung in den Geschichtswissenschaften immer vom Wissen ihrer Unvollständigkeit begleitet wird, entwickelt sich das neodarwinistische Erklärungsmodell zu einem Begriff »physikalistischer Dialektik«. Während im Physikalismus nur Objekte zugelassen werden, die zeitlosen statischen Gesetzen entsprechen, muss der statische Physikalismus negiert werden, um das zeitliche Selektionsprinzip der natürlichen Selektion aufzunehmen. Wie hier Gesetze der Zeitlosigkeit mit Gesetzen der Zeit zusammenwirken können, ohne sich wechselseitig auszuschließen, bleibt unerfindlich. Für beide Gesetzesarten steht als Klammer ein Materie-Begriff, der beliebig gedacht werden kann. Damit ist die pseudometaphysische Struktur des modernen Naturalismus beschrieben. Ähnlich unhaltbar ist das Konzept der behaupteten Einheit 223

Evolutionäre Genetik und evolutionäre Kosmogonie

der Wissenschaften, weil es ein philosophisches Reflexionsprodukt ist. Es verlässt die für jede Wissenschaft gezogenen Grenzen und hat für die Behauptung seiner Einheit keine Beobachtungsinstanz. Es ist ganz einfach schlechte Metaphysik. Evandro Agazzi hat diese Haltung als fundamentale Verletzung des wissenschaftlichen Ethos kritisiert. 367 Die von der Evolutionstheorie her vorgenommene Übertragung der natürlichen Selektion auf die Entwicklung des Kosmos und des Lebens ist ohne Grundlage in physikalischen Gesetzen und deshalb spekulativ im schlechten Sinne. Die Darwin’sche These, dass der Verlauf der Evolution nicht final gerichtet oder gelenkt ist, er somit blind und unvorhersehbar ist, wird von seiner zweiten These, dass sich in der Entwicklung das Überleben der Besten (survival of the fittest) zeige, überlagert. Die Aufhebung des Art- und Substanzbegriffes durch die naturalistische These von der Entwicklung der Arten liefert die Darwin’sche Theorie einem bloßen Dynamismus aus, der keine Substrate mehr denken kann. Mit der mechanisch-naturgesetzlichen Erklärung der Entstehung der Arten kann Darwin kein Sein und Streben von Substanzen mehr erklären. »Normativität lässt sich«, wie Marko J. Fuchs und Annett Wienmeister bemerken, »höchstens an den Aspekt des Überlebens und des Angepasstseins binden und ist immer rückwärtsgewandt.« 368 Sie beruht auf einer naturalistischen Erklärung des funktionalen Strebens der Organismen und möchte kausale Entwicklungen der Evolution nach vorne projizieren als eine Art rückwärtsgewandte Kausalität. Peter McLaughlin ist diesem Versuch nachgegangen mit dem Ergebnis, dass dies nicht gelingt und die Funktion des Organismus ohne ein Streben auf ein Wohl nicht zu begreifen ist. 369 Eine von Darwin zu wenig ausgeführte Anpassung der Strukturen der Lebewesen an die Umwelt wird von Michael Wheeler durch eine stärkere Gewichtung des aristotelischen Strebens innerhalb der Darwin’schen Synthese aufgebessert. 370 Die Frage dabei ist, ob die in Darwins Theorie fehlende positive Umwelt367 Evandro Agazzi, Reductionisms as Negation of the Scientific Spirit, in: E. Agazzi, The Problem of Reductionism in Science, Dordrecht 1991, S. 1–29. 368 Einleitung zu Funktion und Normativität bei Darwin und Aristoteles, hg. von Marko J. Fuchs und Annett Wienmeister., Bamberg 2016. 369 Peter McLaughlin, What Functions Explain. Functional Explanation and SelfReproducing Systems, Cambridge 2001. 370 Michael Wheeler, Under Darwin’s Cosh? Neo-Aristotelian Thinking in Environmental Ethics, in: Anthony O’Hear (Hg.), Philosophy, Biology and Life, Cambridge 2010, S. 259–289.

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Zusammenfassung

beziehung der Organismen in das Theoriegebäude Darwins eingebaut werden kann, ohne dieses zu zerstören. Die von Darwin de facto vertretene eigene »vollkommen neue Variante einer auf Selektion aufbauenden teleologischen Erklärung« 371 ist in sich widersprüchlich und uneinsichtig. Eine auf Selektion aufbauende teleologische Erklärung ist eine ziellose Bewegung und muss für das zu erzielende Resultat den Zufall hinzunehmen. Wenn die Selektion selbst erst auswählen soll, dann müsste ihr Ergebnis sich selbst schon vorausgehen. Da dies nicht möglich ist, müssen ihre Resultate als zufällig oder aus dem Druck des Überlebens entstanden begriffen werden. Die angenommene vorausgehende Anpassung des Organismus an die Umwelt wird erst im Nachhinein durch das tatsächliche Überleben aufgezeigt, die Angepasstheit der Form zeigt sich erst im Nachhinein im »survival of the fittest«.

9.5 Zusammenfassung Die moderne reduktionistische Evolutionsgenetik konzipiert die genetische Folge als physikalisches Gesetz, ohne Rückgriff auf Finalität. Sie erhebt den Anspruch, die Natur in sich als aus der Materie stammend und mit schöpferischen Kräften begabt zu begreifen. Für diesen Materialismus ist das menschliche Genom keine Endgestalt, sondern durch Natur und Mensch der Verbesserung anheimgegeben. Namhafte Physiologen und Genetiker wie James Shapiro und Denis Noble haben inzwischen die bei Richard Dawkins behauptete zentrale Rolle des Gens widerlegt. Wie bereits bei der Gehirnforschung (vgl. Kapitel 1.3), stößt die physikalische Methode des Zerlegens und Zusammensetzens ihrer Forschungsobjekte auch bei der genetischen Zerlegung der Lebewesen an ihre Grenzen. So lehnen die Genetiker Scott Gilbert und Sahotra Sarkar einen Physikalismus, nach dem das ganze Universum nur aus Interaktionen von Materie und Energie besteht, ab. Sie sind mit dem Biologen Ernst Mayr der Auffassung, dass lebendige Ganzheiten nicht aus den Eigenschaften von deren Komponenten abgeleitet werden können. Dies entspricht der in diesem Buch verfolgten Einsicht der aristotelischen Naturphilosophie. Kristian Köchy, Aristoteles und Darwin, in: G. Hartung (Hg.), Eduard Zeller, Philosophie und Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert, Berlin 2010, S. 189–208; zitiert bei Marko J. Fuchs und Annett Wienmeister, a. a. O., S. 12.

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Evolutionäre Genetik und evolutionäre Kosmogonie

Danach ist das Lebewesen ein ursprüngliches Ganzes und der Natur nach früher als seine Teile. Dass das Ganze des Lebewesens über die Seele die Teile regiert, wird von den genannten Genetikern übergangen, obwohl sie, durch ihre Beobachtungen gezwungen, zugeben, dass der besondere Kontext, in dem sich die Teile eines Ganzen bewegen, durch die Zugehörigkeit zu diesem geschaffen wird. Die partikulare Form eines Reduktionismus reklamieren Scott Gilbert und Sahotra Sarkar dennoch für sich und prägen dafür den Begriff eines »materiellen Holismus«. In den praktischen Konsequenzen bedeutet dies, dass es von der Natur des Lebens her für die Genetiker keine Grenze ihrer Verfahren gibt. Eine Grenze kann allenfalls beim menschlichen Genom über die Respektierung der Menschenwürde erfolgen, falls das deutsche Grundgesetz weiterhin respektiert wird und parlamentarische Mehrheiten die Menschenwürde des Embryos entsprechend schützen.

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10. Die philosophische Kritik am Reduktionismus

10.1 Natürliche Selektion und Intentionalität der Handlung Ein problematischer Reduktionismus liegt immer dann vor, wenn er zwar Teile eines Ganzen thematisiert, aber nicht deren Abhängigkeit vom Ganzen Rechnung trägt, sondern das Ganze allein aus den für sich genommenen Teilen aufbauen will. Die genetische Evolutionstheorie interpretiert das Verhältnis von Teilen und Ganzem einmal in einem Lebewesen, dann aber auch als Bindeglied zwischen den Lebewesen; denn sie nimmt eine Entstehung neuer Arten durch zufällige Genvarianten an, die sich über eine Drift ergeben. Das Ganze der Natur, das aus vielen lebendigen Substanzen besteht, wird in der These vom Werden der Natur als natürlicher Selektion, wie sie John Maynard Smith und Eörs Szathmáry konzipieren, beispielhaft in eine bloße Aufeinanderfolge aufgelöst: »One feature is common to many of the transitions: entities that were capable of independent replication before the transition can replicate only as part of a larger whole after it.« Für viele Übergänge gibt es demnach eine vorlaufende Nachbildung, die geschieht, bevor sie durch den Übergang sich innerhalb des Ganzen nachbilden. Die Verfasser nennen als Beispiele die Chromosomen, die Eukaryoten, den Geschlechtsursprung, den Ursprung der vielzelligen Organismen und den Ursprung der sozialen Gruppen. 372 Die behauptete Aktivität von Teilen, die ein Wirken innerhalb eines Ganzen bereits haben, bevor sie Teile eines Ganzen sind, impliziert einen Prozess, in dem alles Spätere in einer früheren Form schon vorliegt. Die früheren Formen werden als Teile der späteren Formen interpretiert, obwohl sie als unabhängig von diesen als durch ihre eigene Form existierend erkannt werden müssten, was aber nicht gelingt. Der Evolutionismus setzt einen Möglichkeitsraum voraus, indem frühere Teile, die real einem in der Zeit späteren ande372

Smith & Szathmáry, The major transitions in Evolution, a. a. O., S. 6 f.

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Die philosophische Kritik am Reduktionismus

ren Wesen angehören, trotzdem als real existente Bestandteile interpretiert werden. Gegen den Evolutionismus, der das spätere Sein in reduzierter Form als früheres in einem essentialistischen Möglichkeitsraum vorausgehen lässt, steht die aristotelische Einsicht, worauf Thomas Buchheim aufmerksam macht, dass das Werden aus dem Nichts erfolgt und kein irgendwelches Sein vorausgeht. 373 Buchheim erklärt: »Beim Werden kommt noch die Schwierigkeit hinzu, dass es sich münchhausengleich aus einem ganz und gar Nichtseienden emporzuarbeiten hat.« Der Reduktionismus ist die Grundhaltung des Naturalismus, der nicht nur einen solchen Möglichkeitsraum in der diachronen Entwicklung der Naturwesen, sondern in ihrem synchronen Selbstvollzug behauptet. Für Gehirnforscher, die das Gehirn des Menschen zum kausalen Ursprung des menschlichen Denkens erklären, ist das Hirn ein Evolutionsprodukt, das sich in der menschlichen Weltaneignung entfaltet. Dabei wird hier die bewusste Erfahrung eines Erlebnisses, einer Erinnerung oder eines Wollens auf eine schon vorher ablaufende Kausalreihe projiziert. Damit wird, rein spekulativ, ohne realen Nachweis, das Handeln, das Denken und das Bewusstsein des Menschen auf kausal-determinierte Abläufe im Gehirn reduziert und die bewusste Erfahrung des Menschen als Täuschung deklariert. Die Reduktion der Naturgeschichte auf den kausalen Prozess der natürlichen Selektion wirkt sich in dieser Interpretation in der Aufhebung des Menschen aus, der auf ein bloß äußerlich beobachtbares zusammengesetztes materielles Seiendes reduziert, und dessen Innen-, Selbst- und Ganzheitserfahrung als authentische verleugnet wird. Die vom Reduktionismus nicht beachtete Grundfigur beinhaltet immer Folgendes: Ein Ganzes besteht aus Teilen, deren Existenz und Wirken beobachtbar sind. Wenn das Ganze existiert, kann man experimentell auch die Teile beobachten bzw. greifen. Die Teile aber sind nicht nur Teile. Sie haben einen wechselseitigen Bezug und einen Zusammenhang mit dem Ganzen. Dies habe ich im Abschnitt 9.2 entwickelt. Die Chemiker haben mit dem Organismus, der das Ganze ist, und dessen physikalisch-chemischen Teilen zu tun. Die Gehirnforschung geht von einem Handlungswissen des Menschen aus, um zugrundeliegende neuronale Prozesse zu beobachten. Sie hat das Ziel, auf diese Weise Bedingungen unseres Bewusstseins, unseres Geistes und der Seele zu finden. Dass das Denken von der Materie bestimmt 373 Thomas Buchheim, Übersetzung und Erläuterung von Aristoteles, Über Werden und Vergehen, Werke Bd. 12, Berlin 2010, S. 84.

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Natürliche Selektion und Intentionalität der Handlung

ist, konnte bisher vom Materialismus nicht gezeigt werden. Der materialistische Anspruch, dass einem bestimmten gedachten Inhalt, dass ich z. B. gerade an meine verstorbene Oma denke, eine Neuronenaktivität entspreche, konnte nur im Sinne einer äußeren Entsprechung aufgezeigt werden. Es besteht eine äußere Korrelation zwischen Gedankeninhalt und Feuern von bestimmten Neuronen. Davidson hat dafür ein vieldiskutiertes Argument der Supervenienz entwickelt. 374 Wenn wir annehmen, dass der Geist lokal auf dem Gehirn superveniert, d. h. es bestimmt, dann kann niemals der Fall eintreten, dass ich in meinem Geiste von der Vorstellung A zur Vorstellung B übergehe, ohne dass sich etwas an meinem Gehirn verändert. Wenn ich statt an meine Oma an meine verstorbene Tante denke, ist sicher eine andere Neuronenmenge aktiv. Das materielle Substrat muss für den Gedanken immer in einer Art Korrespondenz vorausgesetzt werden. Das ist zwar richtig, beweist aber nicht, dass der Gedanke an meine Tante kausal primär vom Gehirn ausgegangen wäre und nicht von mir. Es gilt auch hier, dass Teile das Ganze notwendig, aber nicht hinreichend bestimmen. Es ändert sich schon etwas im Gehirn, aber es kann anhand der beobachtbaren neuronalen Erregungen im Gehirn nicht gesagt werden, was das für mich inhaltlich im Denken und als Gedachtes ist. Die andere Vorstellung, die an die Tante, denke ich und weiß ich dagegen. Was nicht beobachtbar ist, aber in genetischen Experimenten und Selbstbeobachtungen der Genetiker Scott Gilbert und Sahotra Sarkar erkennbar ist, ist, dass das Ganze zwar nur durch die Teile möglich, aber dadurch nicht hinreichend bestimmt ist. Zwischen dem Ganzen und der Summe seiner Teile gibt es eine qualitative Differenz. Diese kann nicht von den Teilen her zustande kommen. Dies gilt für alle Lebewesen, d. h. Pflanzen, Tiere und Menschen. Es gilt auch für die Verhältnisse Leib, Seele, Gehirn und Geist. Beispiele haben wir in unseren Selbst- und Handlungserfahrungen. Die Bedeutungen von Handlungen sind nicht hinreichend durch die physikalische Beobachtung, die nur die Teile erfasst, festlegbar. Die Bedeutung des Armhebens, z. B. eine Bewegung nach oben, kann nicht allein durch die Beobachtung der körperlichen Bewegung erkannt werden. Wir können den Arm heben, um zu winken oder uns in einer Diskussion zu melden. Wir hören und sehen den Pianisten, 374

Donald Davidson, Essays on Actions and Events, Oxford 1980.

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Die philosophische Kritik am Reduktionismus

der auf dem Piano eine Bachfuge spielt. Der Genuss der Musik, der die Wirkung ihrer Form und Komposition ist, wird uns zwar durch einen kausal wirkenden Schall vermittelt. Die zur Wahrnehmung nötige Kausalität ist dabei aber nur eine äußere Bedingung. Auch die Verfolgung der äußeren Hervorbringung der Melodie, die Kausalbewegungen der Finger und, falls wir ein bildgebendes Verfahren zur Hand hätten, die Neuronenspannungen im Gehirn des Pianisten, all dies würde uns dem Verständnis der Musik nicht näher bringen. Die Handlung des Spielens der Bachfuge erklärt sich nur über die Form der Musik und nicht durch die vorauszusetzenden unabdingbaren mechanischen Abläufe der Körper- und Gehirn-Bewegungen, die das Klavier als Klanginstrument zum Klingen bringen. Um als einfache Handlung die des Arm-Bewegens zu verstehen, müssen wir nicht nur die Bewegung des Arms sehen, wir müssen auch die Intention des Handelnden kennen oder zu erschließen suchen. Das Öffnen eines Fensters kann die Handlung des Lüftens sein. Es kann aber auch das Verfolgen von Geräuschen bedeuten, die der Öffnende im Garten vernommen hat und deren Ursache er kennen möchte. Noch deutlicher lässt sich die Bedeutung der Innenseite der Handlung an der moralischen Handlung ablesen. Nach außen gleich aussehende Handlungen, z. B. Almosen-Geben, können geschehen, um einer armen Person zu helfen oder um sich selbst Ansehen zu verschaffen. Das Anhalten an der roten Ampel kann eine moralisch grundsätzlich verschiedene Handlung sein. Wenn nur gehalten wird, um eine Strafe zu vermeiden, ist die Handlung nicht moralisch. Welches Motiv der Fahrer dabei gehabt hat, kann man nur wissen, wenn er es sagt. Das Ziel der Handlung wird durch die Intention des Handelnden festgelegt. Wenn Individuen A und B nach außen hin dieselbe Handlung vollziehen, dann ist das Ganze der Handlung, was diese Handlung wirklich ist, nicht von der äußerlich beobachtbaren Handlung, sondern von der Intention bestimmt. Ob es tatsächlich dieselbe Handlung ist, können wir herausfinden, wenn wir A und B fragen und sie wahrheitsgemäß antworten. Sonst bleibt uns nur die Möglichkeit, beide Personen zu beobachten und Schlüsse zu ziehen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wahr sein können. Bei der Handlung reflektieren wir auf deren Wirklichkeit, die wir mit letzter Sicherheit nur über unsere Intention, nicht über die empirische Beobachtung festlegen können. Auch die Identität und Richtigkeit einer ethischen Handlung lässt sich nicht über die äußere Gestalt, sondern nur über die moralische Intention und deren ethische Prüfung gewinnen. Das 230

Natürliche Selektion und Intentionalität der Handlung

Ethische selbst und die Handlungsintention sind immateriell, sie sind in sich nicht empirisch. Die Versuche der Hirnforscher Roth und Singer, empirisch die Willensintention als determiniert zu beweisen, sind gescheitert. Die Gründe dafür wurden im Abschnitt 1.3 unter Bezug auf Brigitte Falkenburgs physikalische Argumente dargelegt. 375 Bei der Interpretation des Problems der Evolution des Kosmos und der Lebewesen haben wir ein Wissen der äußeren Betrachtung, nach der wir nur ein Element unter unvorstellbar vielen anderen Elementen sind. Ein Element, das nicht notwendig und kontingent ist. Auf der anderen Seite wollen wir sein und leben. Wir wollen unseren Platz in der Welt. Wir wissen aber auch, dass wir aus der äußeren Perspektive der Naturgeschichte nur eine Durchgangsstation sind. Wenn wir uns als Ziele-wollende Wesen als Produkte der Natur vorfinden und uns einen Platz in der Natur geben, müssen wir aber auch wahrnehmen, dass der Naturprozess auf Ziele-wollende Wesen hinausgelaufen ist, eine Beobachtung, die eine Ziele-wollende Intention am Anfang aller Prozessualität voraussetzt. Was unser Selbstverständnis betrifft, so müssen unsere Handlungsintentionen mit einem Sinn und Ziel der Prozessualität innerlich verbunden sein. Diese Innenansicht haben wir bei der Beobachtung der Lebewesen nicht, wohl aber die Erkenntnis der Regelmäßigkeit von Vorgängen, mit der die Lebewesen ihre Ziele verfolgen, die ebenfalls zielgerichtet ist. Bei der Analyse des Wachsens und Werdens der Lebewesen sind wir immer wieder auf die ausschlaggebende Struktur, auf deren Form gestoßen. Infolgedessen ist es richtig, dass wir hinter der empirischen Regelmäßigkeit des Anstrebens der natürlichen Ziele der Lebewesen eine diese Lebewesen umgreifende geistige Intention, eine Intention, die nicht die unsere, sondern eine göttliche ist, annehmen. Bei der Widerlegung des Reduktionismus durch die Reflexion auf das Verhältnis von Teilen und dem Ganzen zeigt sich wiederum derselbe Zusammenhang. Für die Evolution der Lebewesen heißt das, dass die Beurteilung aus der Bewegung des Ganzen her, die auch immateriell, eben als Form immateriell ist, etwas über das Empirische aussagen kann, wenn die Entwicklung des Empirischen durch die Erreichung der Vollgestalt abgeschlossen ist. Und dies ist nur im Nachhinein möglich. Bei der Handlung und bei der Ethik müssen wir auf die Handlung und das Gute reflektieren. Bei der Evolution muss die Vgl. dazu Brigitte Falkenburg, Was heißt es, determiniert zu sein? Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung, in: D. Sturma, a. a. O.

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Die philosophische Kritik am Reduktionismus

Reflexion zuerst auf die Funktion des fertigen Lebewesens gehen und von da aus auf die Geschichte. Aber die Evolutionsgeschichte kann nur erzählt und nicht erklärt werden. Die uns vorliegende biologische Evolution und die Existenz der Biosphäre, die uns durch nischenhafte Bedingungen Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten bietet, ist nur durch zielgerichtete Prozesse im Einzelnen und im Ganzen möglich. Hinter dem Prozess muss eine schöpferische Ursache angenommen werden. Die Übertragung auf die Betrachtung der Evolution des Lebendigen muss von der Ebene des Ganzen und nicht von den Teilen her erfolgen. Kants Unterscheidung von Moralität und Legalität, die Prüfung der ethischen Qualität bei Aristoteles sind ebenso metaphysisch wie die Reflexion auf das Leben selbst auch. Das Leben selbst lebt nicht, wie der Evolutionismus suggeriert, sondern weiß sich als lebendig. Das Licht leuchtet aufgrund einer Quelle. Die obigen Verhältnisse, die aus der Reflexion des pragmatischen und des ethischen Handelns ableitbar sind, gelten für den Organismus in sich. Sie gelten aber auch für die Teile, aus denen sich evolutionsgenetisch Organismen zusammensetzen. Wenn eine Evolution von Organismen beobachtbar ist, dann können die historisch vorausgehenden Teile die jeweils resultierende Ganzheit nicht hinreichend erklären. Wenn Primaten unsere Vorfahren sind, dann können wir uns trotzdem nicht aus tierischen Zusammenhängen heraus erklären, sondern wir müssen uns aus dem Geist und dessen Selbstverhältnis in uns heraus erklären.

10.2 Der Physikalismus: Die Moleküle als Grund von allem Lässt man die Handlungserfahrungen des Menschen und die Unableitbarkeit lebendiger Ganzheiten ganz außer Acht und konzipiert Ganzheitstheorien vom monistischen Kausaldenken der Physik 376 Ein Beispiel für ein striktes monistisches Kausaldenken ist der Physiker Alex Rosenberg, wenn er sagt: »Physics is the Science of everything.« Eine differenzierte Beschreibung des naturalistischen Modells der Zusammensetzung von natürlichen Wesen gibt Godehard Brüntrup: »Die Natur eines jeden Bausteins ergibt sich aus seiner Einbettung in das Gesamt der Relationen aller Bausteine. Die grundlegenden Partikel haben also keine intrinsischen Eigenschaften, die sie auch unabhängig von ihrem Bezogensein auf andere Partikel ganz für sich allein hätten. Es gibt darüber hinaus keine weiteren Entitäten.« Brüntrup, Physikalismus und evolutionäre Erklärungen, 376

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Der Physikalismus: Die Moleküle als Grund von allem

aus, dann sollen Molekülkombinationen erklären, warum ein Mensch vernünftig oder gut handelt, oder warum wir bei einer Bachfuge große Freude erleben. Ein gut und vernünftig handelnder Mensch, eine Pflanze oder ein Tier, sind nicht durch Physik erklärbar. Das Verstehen von Ganzheiten muss immer vorausgesetzt werden, wie wir am Anfang des Buches am Verhältnis Verstehen und Erklären entwickelt haben. Wenn eine Störung der Ganzheiten vorliegt, müssen wir auf Details und Kausalwissen zurückgreifen. Bei Störungen der Gesundheit, beim Schaden einer Brücke, bei der Aufführung eines Tanzes isolieren wir Details aus dem Ganzen, reparieren bzw. korrigieren sie und stellen ihren Zusammenhang mit dem Ganzen wieder her. Das Ganze verschwindet dabei aber nie. Bei einem monistischen physikalischen Kausaldenken – »there is nothing in the earth but physical stuff« (Axel Rosenberg) – muss die Voraussetzung der vollständigen kausalen Vernetztheit der Welt und des Menschen gemacht werden. Daraus entsteht der Widerspruch, dass die Forschungsleistung des Physikers – im Gegensatz zu seinem Selbstverständnis – ebenfalls kausal vernetzt wäre und kausal hervorgebracht würde, sodass sein Stolz auf seine konzeptionelle Leistung ein Irrtum wäre, ein Schein, derselbe Schein, den die strengen Hirnforscher, wie wir bereits früher gesehen haben, jedem attestieren, der meint, ein selbständiges, existierendes Ich zu haben. In dem Buch Sieben kurze Lektionen über Physik von Carlo Rovelli widmet der Verfasser sich in sechs Lektionen zentralen physikalischen Theorien, wie der Allgemeinen Relativitätstheorie, der Quantenmechanik, der Architektur des Universums und der Wahrscheinlichkeit und der Wärme der Schwarzen Löcher. Der Schlussteil des Buches, so erklärt der an der Universität Marseille Physik lehrende Verfasser, »wendet sich der Frage zu, wie wir uns innerhalb der sonderbaren Welt, die diese Physik beschreibt, eine Vorstellung von uns selbst machen können«. 377 Er gibt damit ein Musterbeispiel des modernen Physikalismus. Während in den Abschnitten vorher der Verfasser solide über physikalische Theorien informiert, hat er zum Schluss den Ehrgeiz, etwas über menschliche Wesen auf dem Hintergrund der Welt, die »ein Gewimin: Knaup, Müller, Spät (Hg.), Postphysikalismus, Freiburg 2011, S. 339. Brüntrup beschreibt die physikalistischen Strukturen, die ich im selben Abschnitt mit dem Buch von Carlo Rovelli illustriere. 377 Carlo Rovelli, Sieben kurze Lektionen über Physik, ital. Originalausgabe 2014, deutsche Übersetzung Sigrid Vogt, Hamburg 2015, S. 10. Im hier vorliegenden Abschnitt wird die Stellenangabe mit der bloßen Seitenzahl genannt.

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Die philosophische Kritik am Reduktionismus

mel unbeständiger Quanten von Raum und Materie, ein unendliches Puzzlespiel aus Raum und Elementarteilchen ist« (75), zu sagen. Wie können wir von dort her unser Ich, »unsere Werte, unsere Träume, unsere Gefühle, ja auch unser Wissen« erklären? Rovelli hat sich vorgenommen zu berichten, »wie die Welt im Licht der Wissenschaft erscheint, und zur Welt gehören auch wir« (76). Unser Wissen reflektiert die Welt. Die Information, die wir als ein physisches System über ein anderes aufnehmen, hat nichts »Geistiges oder Subjektives, sie ist nur eine Verbindung« (80). Diese Verbindung findet im Gehirn statt. Über das Gehirn kann man das Erkennen von innen beobachten: »Neue Instrumentarien ermöglichen es uns heute, die Aktivität des Gehirns in Aktion zu beobachten und seine hochkomplizierte Vernetzung mit beeindruckender Genauigkeit zu kartieren« (80). Mit der »Theorie der integrierten Information« können wir »in quantitativer Form die Struktur charakterisieren, die ein System haben muss, um Bewusstsein zu besitzen: eine Methode, um zum Beispiel zu beschreiben, was sich zwischen unserem Wachzustand (Bewusstheit) und dem traumlosen Schlafzustand (Nichtbewusstheit) physikalisch tatsächlich verändert« (82). Es ist aber ein Versuch. »Wir haben noch keine überzeugende und allgemein akzeptierte Antwort auf die Frage, wie sich unser Bewusstsein von uns selbst bildet, doch allmählich, so scheint mir, lichtet sich der Nebel« (82). Unser Verhalten folgt den Naturgesetzen und »es gibt nichts in uns, was den Gesetzmäßigkeiten der Natur entgeht« (83). Dabei sind wir frei, weil unsere Verhaltensweisen durch das bestimmt werden, »was in uns, in unserem Gehirn geschieht, sie werden uns nicht von außen aufgezwungen« (83). Die Inhalte des Ichs, so können wir erklärend interpretieren, werden durch die Naturgesetze über das Gehirn erzeugt. Damit treffen wir die Aporien des physikalischen Epiphänomenalismus, die wir schon am Anfang in Kapitel 1.2 durch die Widerlegung von Hans Jonas kennengelernt haben, wieder. Das Erleben und Wissen des Ich von sich, von seinem Leib und von der Wirklichkeit, das ursprünglich und nicht ableitbar ist, wird damit aufgehoben. Gerade der Gedanke von Rovelli: »Nein, es gibt nichts in uns, was den Gesetzmäßigkeiten der Natur entgeht« (83), entgeht, insofern er Gedanke ist, den Gesetzmäßigkeiten, ebenso wie auch das Ich und das Bewusstsein diesen Gesetzmäßigkeiten entgeht. Soweit wir alle wissen, formuliert Rovelli selbst diesen Gedanken und nicht ein Naturgesetz. Wir konnten jedenfalls kein Naturgesetz beobachten. Rovelli setzt voraus, dass die 234

Der Physikalismus: Die Moleküle als Grund von allem

Welt ein durchgängiger Wirkungszusammenhang ist. Woher weiß er dies? Er behauptet ohne Nachweis die Reduktion des Lebendigen auf materielle Naturgesetze. Dass ein Gesamtzusammenhang aller Naturgesetze als Naturgesetz existiert und gewusst werden kann, ist eine frei erfundene Annahme Rovellis. Beschreibt man das Kausalgesetz auf der Basis einer durch die Stegmüller’sche Wissenschaftstheorie belehrten Art und Weise, dann ist dieses ein deterministisches, mittels nach der Zeit differenzierter mathematischer Funktionen ausgedrücktes Nahwirkungsgesetz, das sich auf »ein homogenes und isotropes Raum-Zeit-Kontinuum bezieht«. »In der Physik nehmen diese Gesetze die Gestalt der bezeichneten mathematischen Funktionen an; sie sind Nahwirkungsgesetze, weil die Ausbreitungsgeschwindigkeit der durch sie geregelten Ereignisfolgen endlich ist.« 378 Bei Rovelli wird die unbewiesene Totalität des Kausalzusammenhangs mit der Natur gleichgesetzt. Der bereits wegerklärte Mensch ist mit der Natur identisch und wird als Teil von ihr behauptet: »Wir bestehen aus dem gleichen Sternenstaub wie alle Dinge, und ob wir in Schmerz versinken oder lachen und vor Freude strahlen, wir sind immer nur das, was wir einzig und allein sein können: ein Teil unserer Welt« (90). Während Rovelli oben das Ich und sein Erleben als kausal verursacht beschrieben hat, ist jetzt das Ich in all seiner Ursprünglichkeit wieder existent. Rovellis Theorie ist ein Ansatz des ontologischen Naturalismus und des Physikalismus. Diese postulieren, dass alle Entitäten aus Teilen zusammengesetzt sind, die sich mit den Mitteln der Physik hinreichend beschreiben lassen. Nach dem Physikalismus lässt sich eine zusammengesetzte Entität, wie z. B. der Mensch, hinreichend beschreiben. Damit sind alle nicht-physikalistischen Erklärungen überflüssig. Keine wesentlichen Teile der Wirklichkeit fallen weg, wenn diese mit Hilfe physikalischer Beschreibungen erklärt wird. Quanten und Elementarteilchen können keine Haltungen, die auf einer Beherrschung und Begrenzung der naturhaften Begierde zugunsten des Gerechten und des Guten beruhen, zustande bringen. Es gilt auch hier das Prinzip, dass das Ganze nur durch die Teile möglich, aber dadurch nicht hinreichend bestimmt ist. Die Nichtbeachtung dieses Prinzips vollzieht den mereologischen Fehlschluss. Rovellis Thesen sind ein Beispiel für die Grenzüberschreitungen von etablierten Wissenschaftlern in seriösen Medien. Solche ÄußeReferiert bei Kurt Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg 2002, S. 36.

378

235

Die philosophische Kritik am Reduktionismus

rungen sind völlig unverantwortlich, werden aber im Gefolge eines allgemeinen bildungsbeflissenen Trends von den meisten Lesern willig aufgenommen.

10.3 Die inkonsequente Aufhebung des Reduktionismus durch Thomas Nagel Die Haupttendenz von Nagel besteht in der Aufforderung, zur Teleologie der Natur zurückzukehren und die physikalistischen Erweiterungen der wissenschaftlichen Revolutionen von Galilei, Newton und Darwin rückgängig zu machen. Indes entsteht bei Nagel die Frage, ob eine Rückkehr zu Aristoteles, ohne dessen metaphysische Konsequenzen zu ziehen, möglich ist. Nagel macht darauf aufmerksam, dass die Physik bei der Erklärung des Menschen unzureichend ist und es wenig hilft, wenn sich die genetische Evolutionsbiologie hinter der Physik versteckt. Dessen Buch Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie falsch ist 379 greift diesen materialistischen Reduktionismus zentral an. Nagel erklärt sehr gut die verschiedenen Ebenen des Wissenschaftsbetriebs, sodass ein längeres Zitat seiner Ausführungen informativ ist: »Zielscheibe meiner Argumentation ist ein umfassendes spekulatives Weltbild, das durch Extrapolation aus einigen Entdeckungen der Biologie, Chemie und Physik erschlossen werden kann – eine bestimmte naturalistische Weltanschauung, die eine hierarchische Beziehung unter den Gegenständen dieser Wissenschaften postuliert und durch ihre Vereinigung die grundsätzliche Vollständigkeit einer Erklärung für alles im Universum geltend macht. Eine solche Weltanschauung ist keine notwendige Bedingung für die Ausübung irgendeiner dieser Wissenschaften und ihre Akzeptanz oder Nichtakzeptanz hätte im Großen und Ganzen keine Auswirkung auf die wissenschaftliche Forschung. Nach allem, was ich weiß, haben die in der Forschung tätigen Wissenschaftler meist keine dezidierte Meinung zu den umfassenden kosmologischen Fragen, auf die dieser materialistische Reduktionismus eine Antwort gibt. Ihre detaillierte Forschung und substanziellen Ergebnisse hängen im Allgemeinen nicht von dieser oder irgend-

379 Thomas Nagel, Der amerikanische Titel ist gleichlautend: Mind and Cosmos: Why The Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature is Almost Certainly False, Oxford 2012. Die deutsche Übersetzung erschien 2013. Mittlerweile gibt es die 5. Auflage.

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Die inkonsequente Aufhebung des Reduktionismus durch Thomas Nagel

einer anderen Antwort auf solche Fragen ab oder implizieren eine derartige Antwort. Aber unter den Naturwissenschaftlern und Philosophen, die überhaupt Auffassungen zur Ordnung der Natur als Ganzes äußern, wird gemeinhin angenommen, dass der reduktive Materialismus die einzige ernsthafte Möglichkeit ist.« 380

Nagel setzt mit diesem Buch in der wissenschaftlichen Theorienlandschaft neue Akzente. Seine Betrachtungsweise macht die Anmaßung des Physikalismus, dass die Physik die Theorie von allem ist, klar. Im Gegenzug dazu ist zu fragen: Ist es denn nicht selbstverständlich, dass der Mensch, so wie er auf Erden lebt, zur Welt, zum Kosmos und zur Natur gehört? Und dass eine Astrophysik oder auch eine Evolutionsbiologie, die die Einheit der Welt und deren Entstehung erklären will, auch die Aufgabe hat, dem Menschen mit seinen wirklich vorhandenen mentalen Eigenschaften gerecht zu werden. Ist es nicht eine bizarre Verschiebung, wenn nur über unendliche Räume gehandelt wird, dabei aber die noch größere Unendlichkeit des erklärenden Geistes nicht thematisiert wird? Nicht nur Materie und Energie, auch der Geist muss in einer physikalischen Thematisierung der Welt berücksichtigt werden. Nagel erklärt: »Was mich leitet, ist die Überzeugung, dass der Geist nicht bloß ein nachträglicher Einfall oder Zufall oder eine Zusatzausstattung ist, sondern ein grundlegender Aspekt der Natur.« 381 Nagel sieht richtig, dass es eine legitime Aufgabe der Philosophie, wie ich sie am Anfang skizziert habe, ist, »die Grenzen zu untersuchen« – wie er es sagt –, »die selbst noch den am weitesten entwickelten und erfolgreichsten Formen wissenschaftlichen Wissens unserer Zeit gesetzt sind«. 382 Nagel geht zu Recht davon aus, dass Geist in der Welt vorhanden ist, dass die Welt erkennbar ist. Wenn das der Fall ist, dann kann dies nicht nur auf einer mechanischen Kausalität beruhen. Das moderne Weltbild des Evolutionismus beruht ausschließlich auf den Ergebnissen der physikalischen kausalmechanischen Methode. Die Welt wird als bestehend aus einem universalen Kausalnexus gedacht, der in keiner Weise beobachtet werden kann. Wie es dem Physiker möglich ist, Welt und Kosmos als Einheit zu betrachten, wird ausgeklammert. Schließlich ist jedes empirische Experiment und jede empirische Beobachtung begrenzt. »Das Ganze des Beobachtbaren ist eben kein System«, wie Stefan Bauberger be380 381 382

Thomas Nagel, Geist und Kosmos, Berlin 2014, S. 12 f. Thomas Nagel, ebenda, S. 30. Thomas Nagel, ebenda, S. 11.

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Die philosophische Kritik am Reduktionismus

merkt. Es kann nicht »in einem Experiment verschiedenen Bedingungen unterworfen werden, weil das Experiment selbst ein Teil des Ganzen ist« 383. Die Physik hilft sich in dieser Situation dadurch, dass sie das Programm der Vereinheitlichung, das dem Bereich der Metaphysik angehört, in den Bereich der Welt und des Kosmos überträgt, sie macht also aus ihrer Wissenschaft eine Metaphysik, die sie allerdings nicht als solche erkennt. Wenn die Physik annimmt, dass die Welt in ihrer Grundstruktur intelligibel ist, muss sie angeben, aufgrund von welchen Eigenschaften der Körper sie dies sein sollte. Das Verschweigen dieser Geist-Voraussetzung macht den strengen Naturalismus aus. Er vereinheitlicht die Welt ohne die Annahme eines wirkenden Geistes, wobei der Geist des Physikers verleugnet bleibt. Sobald erkannt wird, dass Geist als Bedingung der Möglichkeit einer solchen Ganzheitserkenntnis des Kosmos im Spiel sein muss, bewegt man sich auf Bahnen spekulativen Denkens, wie sie von den Philosophen Platon, Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin entworfen wurden. Auch hat die klassische Philosophie die Frage nach der letzten bzw. ersten Ursache gestellt und darauf mit der Annahme eines höchsten Prinzips als Einheit von Seinsmächtigkeit, Geist und Freiheit geantwortet. Der analytische Philosoph Thomas Nagel argumentiert ganz in diesem Sinne. Er bemerkt: »Solange die grundlegenden Gesetze selbst keine notwendigen Wahrheiten sind, bleibt die Frage, warum diese Gesetze gelten.« Nach Nagel liegen die Voraussetzungen dieser Denkweise bei Galilei und Descartes, die die Physik nur noch als quantitative Beschreibung einer äußeren Realität, die sich in Raum und Zeit erstreckt, verstehen. Die subjektiven Erscheinungen der Dinge, Farben, Klang, Geruch und der menschliche Geist, wurden aus der physikalischen Welt weggelassen. 384 Nagel plädiert für die Rückholung des Mentalen in die Zuständigkeit der modernen physikalischen Wissenschaften. Ganz im Sinne der klassischen Tradition erklärt er: »Wir Menschen sind Bestandteil der Welt und der Wunsch nach einem einheitlichen Weltbild lässt sich nicht unterdrücken.« 385 Am besten ließe sich dies unter Heranziehung von Beispielen illustrieren, dass wir Schmerzen oder Empfindungen von unserem Körper haben. Unsere Empfindungen sind als mentaler 383 Stefan Bauberger, Urknall und Kosmogenese, in: Matthias Koßler, Reinhard Zecher (Hg.), Von der Perspektive der Philosophie, Hamburg 2002, S. 158. 384 Thomas Nagel, a. a. O., S. 36, 55 f. 385 Thomas Nagel, ebenda, S. 56, 58.

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Die inkonsequente Aufhebung des Reduktionismus durch Thomas Nagel

Ausdruck nur möglich durch den Zugriff auf physiologische Gegebenheiten und deren Gefühlt-Werden im Bewusstsein. Die Verschränkung von mentaler Aktivität und physiologischen Prozessen widerlegt die These von den bloß materiellen Interaktionen, auf denen die Naturgeschichte beruhen soll. Wenn der Mensch zur Naturgeschichte gehören soll, dann muss es in dieser Materie-Geist-Interaktionen geben. Nagel sieht, dass eine kausalistische Erklärung der Naturgeschichte, die sich in späteren Stadien, im Bereich der Biosphäre, durch Mechanismen biologischer Evolution vollziehen soll, nicht das Bewusstsein und den Geist des Menschen erklären kann. Plantingas These, 386 dass ein Gott der Naturentwicklung Ziele setzen kann, die die Entwicklung der Arten glaubwürdiger bewirken als eine Darwin’sche Naturevolution, die auf der natürlichen Selektion und dem Zufall aufbaut, wird von Nagel nicht ernst genommen. Er fällt in eine physikalistische Sprechweise zurück, indem er diesen Vorschlag als »Intervention in die Naturordnung« bezeichnet. 387 Anstelle der mechanischen Wirkursachen sollen teleologische Gesetze helfen, die das Verhalten von Elementen beherrschen. 388 Nagel verwandelt die aristotelische Teleologie in eine Teleonomie, weil die teleologischen Ursachen nach Art der kausalen wirken sollen, ohne dass sie die typische Antizipationsfunktion hätten. 389 Eine Antizipation der Ziele ist jedoch nur durch einen, der Natur Ziele setzenden, allmächtigen Gott möglich. Da Nagel diese Annahme nicht machen will, handelt er sich den Widerspruch einer rückwärts wirkenden Kausalität ein. Eine weitere Schwierigkeit für Nagel, die ebenso unüberwindbar ist, besteht in seiner Annahme, dass teleologische Gesetze, die das Verhalten von Elementen beherrschen, rein auf der Basis von materiellen Grundlagen wirken sollen, ohne aber zu erklären, wie diese Gesetze eine Weiterentwicklung der Arten zustande bringen können. Innerhalb seiner eigenen Voraussetzungen könnte man ihn fragen, wie es denn möglich sein soll, wenn schon Bewusstsein und Geist nicht aus der Materie zu erklären sind, dass diese dann durch teleologische Steuerung aus Elementen entstehen können.

386 Alvin Plantinga, Where the Conflict really lies. Science, Religion, and Naturalism, Oxford 2011. 387 Thomas Nagel, a. a. O., S. 99. 388 Thomas Nagel, ebenda. 389 Zur Teleonomie als Ersatz für Teleologie vgl. Kapitel 12.1.

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Die philosophische Kritik am Reduktionismus

Die Auseinandersetzung mit der inkonsequenten Korrektur des Naturalismus durch Nagel zeigt, dass es keine Theorie von allem gibt, weil die letzte Ebene der Erklärung nicht beobachtbar, sondern nur aus dem Sein und dem Geist erklärbar ist. Diejenige Theorie, dass die Welt, die durch die Naturwissenschaften beschrieben wird, alles ist, was existiert, ist falsch, weil sie die Zusammenhänge, die dieser Erfahrung zugrunde liegen – die Totalität des Seins und den diese erkennenden Geist –, auslassen. Ein physikalischer Naturalismus kann Denken und Bewusstsein nicht erklären. Die menschlichen Handlungen wie Wahrnehmen, Denken und Entscheiden können, das ist auch die These von Plantinga, 390 nicht durch mechanische Interaktion ihrer materiellen Teile, aus denen sie sich zusammensetzen, entstehen.

10.4 Zusammenfassung 1.

Die Natur nach Art der Physikalisten auf eine Gesamtmenge materieller Teilchen zu reduzieren, die durch ein einziges Naturgesetz erkannt werden soll, ist physikalischer Nonsens. Dem widerspricht bereits die Tatsache, dass der Mensch ein Teil der Natur ist und die inneren Verhältnisse, die in ihm gelten, auch für die Natur gelten müssen. Somit kann nicht nur, wie der Reduktionismus will, die Physik, die mit ihren Mitteln nur die Materie erreicht, für die Natur zuständig sein. Die Evolutionstheorie Darwins ist nur eine ergänzende Bedingung zur Physik. Die Basis der gesamten Naturgeschichte mit ihren Sedimenten kann nur eine Evolutionserzählung sein und kein strenges Gefüge von Gesetzen, das im Sinne einer natürlichen Selektion ein lückenloses Ineinanderfügen von Gesetzen, die das Überleben oder das Verschwinden von Lebewesen erklären, wäre. Ein fehlerhafter Determinismus liegt der synthetischen deterministischen Evolutionstheorie zugrunde, die aus den Materieteilchen Moleküle, Leben und Geist entstehen lässt. Eine Folge des Determinismus ist die Wegerklärung der Moral, die mit innerer Freiheit zusammenhängt, durch die angeblich

2. 3.

4.

5.

390

Alvin Plantinga, a. a. O.

240

Zusammenfassung

6.

7.

8.

innerlich wirkenden Evolutionstendenzen des Überlebens durch Stärke. Es gilt die Sinnantinomie aufzulösen: Nach der äußeren Betrachtung sind wir nur ein Molekül bzw. ein Konglomerat von Molekülen, also sind wir nicht notwendig und d. h. kontingent. Nach der inneren Betrachtung, die auf dem Faktum der Intentionalität und Handlung aufruht, wollen wir mit unserem Sein einen Platz in der Welt. Indem wir selbst Natur sind, liefert uns die Naturgeschichte dazu die Voraussetzungen, dass wir uns diesen Platz durch unsere Entscheidung zuschreiben können. Unsere Entscheidung ruht auf den dienenden Kräften der Materie auf, die immer da am Werk sind, wo wir bewusstes Leben vollziehen, uns entscheiden, wollen und denken. Dem synchron-vertikalen Materie-Geist-Verhältnis in uns entspricht das diachron-horizontale Materie-Geist-Verhältnis in der Naturgeschichte.

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11. Die moderne Weichenstellung: Präbiotische und biologische Evolution als Prozess einer Ganzheit oder Erklärung von Leben und Geist aus der Metaphysik und der schöpferischen Freiheit Gottes? 11.1 Der Evolutionismus und die Hirnforschung als Erschütterungen unserer Kultur? Eine der jüngsten Ausweitungen des Evolutionismus ist die Erklärung der neuronalen Mechanismen und Verschaltungen des Gehirns durch die Evolution. Wolf Singer, der Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt am Main, scheut sich nicht, die Entdeckungen der Hirnforschung mit denen der Quantenphysik zu vergleichen. Nur dass die Entdeckungen der Hirnforschung noch viel problematischer seien als die der Quantenphysik. »Damals«, erklärt er, »bestand das Problem darin, Unvorstellbares anschaulich zu machen. Wir aber müssen etwas vermitteln, das einem Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschenwürde gleichkommt.« 391 Die Hirnforschung schließt sich eng an die Evolutionstheorie an, indem sie sich ihren Objektbegriff von dieser vorgeben lässt. Singer erklärt: »Unsere kognitiven Funktionen beruhen auf neuronalen Mechanismen und diese sind ein Produkt der Evolution.« 392 Wolf Singer schwimmt zweifellos auf der trendhaften Woge des Szientismus, die die reduktionistische Evolutionstheorie für alles und jedes zuständig sieht. Seriöse Forscher wie Raymond Tallis dagegen beklagen den Übergang von ernsthaften Fragestellungen im Geiste Darwins zu inflationären Anwendungen und Ausweitungen der Evolutionstheorie. Auch die ökonomische Dynamik der Globalisierung wird neuerdings mit Darwins Evolutionstheorie erklärt. 393

391 »Ein Frontalangriff auf unser Selbstverständnis und unsere Menschenwürde«. Ein Gespräch mit Wolf Singer und Thomas Metzinger, in: Gehirn & Geist 04, 2002, S. 33. 392 Wolf Singer, Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören von Freiheit zu sprechen, in: Christian Geyer, Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a. Main 2004, S. 30. 393 Ein Beispiel dafür ist die überaus problematische Interpretation des marktwirt-

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Der Evolutionismus und die Hirnforschung als Erschütterungen unserer Kultur?

Tallis hat dafür die Bezeichnung »Darwinitis« geprägt. Ähnlich unbegründete Behauptungen wie eine Allerklärungskraft des menschlichen Gehirns oder die Leugnung der menschlichen Freiheit und Verantwortung werden von manchen Hirnforschern, die sich dabei auch auf die Evolution stützen, vertreten. Tallis diskutiert solche Phänomene unter dem Stichwort »Neuromania«. 394 Ein Beispiel für unseriöse, aber doch auf öffentliche sympathische Resonanz hoffen könnende Äußerungen von Wissenschaftlern ist das oben in Auszügen zitierte Buch des Physikers Carlo Rovelli von der Universität Marseille. Von Rovelli erfahren wir, dass der Mensch nur aus Molekülen und Sternenstaub bestehe. 395 Die vom Evolutionismus suggerierte Annahme, dass wir uns nicht aus dem Nachdenken über unsere ethische Verantwortung, unser Fühlen und Wollen erklären können, sondern aus unbewussten biologischen Prozessen, die uns bestimmen, wird von Spaemann als ein Irrtum und eine Täuschung kritisiert. Wenn diese These einen Wahrheitsanspruch hätte, dann müsste sie diesen durch überprüfbare aktuelle Erkenntnis und Einsicht vermitteln können und nicht durch die Behauptung, dass sich Wahrheit instinktiv oder mechanisch durchgesetzt habe. Das hinter den sich bewegenden Eigenschaften des Evolutionsprozesses behauptete Prinzip ist nicht als Prinzip für sich formulierbar. Unser menschliches Selbstverständnis, von dem wir uns unter keinen Bedingungen trennen können, kann sich nicht einer solchen Prozesskette verdanken. Nochmals mit einer einfachen Formulierung gesagt: Spaemann behauptet nichts anderes, als dass der Evolutionismus in seiner vorliegenden Form begrifflich nicht gedacht werden kann. Seine am wissenschaftlichen Evolutionismus entwickelte Kritik geht von philosophischen Einsichten aus, die die innere Logik des naturwissenschaftlichen Objektbegriffs des Evolutionismus und das aus diesem folgende menschliche Selbstverständnis in Frage stellen. Wenn sich die Wissenschaft mit Entstehungsbedingungen für Leben, Trieb, Bewusstsein und für Selbstbewusstsein befasst, dann thematisiert sie nur notwendige Bedingungen, aber nicht hinreichende Ursachen. Auf diese konstrukti-

schaftlichen Konkurrenzkampfes im Sinne eines darwinistischen »survival of the fittest« durch Geoffrey A. Moore, Darwins Erben, Finanzbuchverlag 2007. 394 Raymond Tallis, Aping Mankind: Neuromania, Darwinitis and the Misrepresentation of Humanity, Durham 2012. 395 Carlo Rovelli, Sieben kurze Lektionen über Physik, deutsche Übersetzung Rowohlt Verlag Hamburg 2015, S. 10.

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Die moderne Weichenstellung: Präbiotische und biologische Evolution

vistische Weise können sehr wohl Erkenntnisse von Naturprozessen gewonnen werden, aber diese werden auf Umstände und Bedingungen begrenzt sein, die nicht die Seins- und Wesenserkenntnis organischer Wesen ersetzen, sondern höchstens ergänzen können. Auch der evolutionistische Rückschluss von einer allumfassenden natürlichen Selektion, deren evolutives Ergebnis wir Menschen angeblich sein sollen, widerspricht ganz klar der Leistungskraft eines bloß materiellen Prozesses, der in den Augen der Physik nicht zielgerichtet sein kann. Unser Selbstverständnis kann nicht nur von notwendigen Bedingungen abhängig sein. Es braucht auch hinreichende. Wir sind nicht Sternenstaub, wie der Physiker Carlo Rovelli formuliert hat, und unser Geist kann sich auch nicht irgendwelchen steuernden Prozessen unserer Gene verdanken, wie Richard Dawkins behauptet. Oft steckt hinter den naturwissenschaftlichen Formulierungen ein leichtfertig angenommener Reduktionismus, der von der Determiniertheit der Materie und der Allzuständigkeit der natürlichen Selektion ausgeht. Dabei wird aber auch, wie von Stuart Kauffman, 396 ernsthaft behauptet, dass die Evolution auf der Basis von natürlicher Selektion vollständig den Abgrund zwischen Teilchenphysik und Biologie überbrücke. Eine reduktionistische physikalistische Generalthese wie die von Steven Weinberg, 397 dass die Physik eine Wissenschaft von allem und jedem sei, muss allerdings jede menschliche Tätigkeit wie Denken, Empfinden und Wollen auf zu erforschende Kausalzusammenhänge zurückführen. Haben solche Thesen der Naturwissenschaften oder andere »Tatsachen« der Wissenschaft mit einem Widerstand, einem Befremden eines traditionellen Humanismus zu rechnen? Hermann Lübbe bezeichnete Aufklärung einmal als »Prozess der Trivialisierung« 398 wissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Über wissenschaftliche Forschungsergebnisse gebe es in der Öffentlichkeit keine Auseinandersetzungen mehr. Sicher ist dies in vielen Fällen der Fall. Aber es ist nur ein Teil des Bildes. Immer wieder versichern Genetiker – und Astrophysiker wiederholen es aus Kollegialität –, dass man zwar die Erklärung des Lebens aus der Materie in

396 Stuart Kauffman, The Origins of Order, Self-Organizaton and Selection in Evolution, Oxford 1993. 397 Steven Weinberg, Der Traum von der Einheit des Universums, München 1999. Seine oftmals zitierte These lautet: Physics is the science of everything. 398 Zitiert von Robert Spaemann, Sein und Gewordensein. Was erklärt die Evolutionstheorie, in: Spaemann, Schriften über uns hinaus, Band II, Stuttgart 2011, S. 60.

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Der Evolutionismus und die Hirnforschung als Erschütterungen unserer Kultur?

allen Einzelheiten noch nicht geschafft habe, aber man kurz davor stehe. 399 Der eifrige Verfechter von reduktionistischen Zielsetzungen der Gehirnforschung, der Philosoph Thomas Metzinger, erkennt in den Ergebnissen der Hirnforschung Erschütterungen unserer Kultur und unseres vertrauten Zusammenlebens. Menschen mit traditionellen Weltbildern will er Trost spenden: »Ich denke dann etwa an unsere Vorstellungen von Sterblichkeit – speziell an die überkommene Annahme, es könnte Bewusstsein vielleicht auch ohne neuronale Praxis geben. Die Vorstellung einer Fortexistenz des bewussten Selbst nach dem physischen Tod wird jetzt so unplausibel, dass der emotionale Druck auf Menschen, die dennoch an ihren traditionellen Weltbildern festhalten wollen, nur schwer erträglich werden könnte.« 400 Inzwischen sind die reduktionistischen Thesen von der kausalen Verursachung des Denkens und des Bewusstseins durch die Neuronen gewichtiger Kritik von Seiten der Physik ausgesetzt. Brigitte Falkenburg fragt skeptisch, wie viel uns die Hirnforschung erklären könne, und spricht im Titel ihres Buches vom »Mythos Determinismus«. 401 Zweifelsohne widerspricht die reduktionistische Tendenz der Hirnforschung den Grenzen der empirischen Wissenschaft, die von Kants 3. Antinomie der Kritik der reinen Vernunft gesetzt wurden, und sie widerspricht Kants praktisch begründetem Freiheitsbegriff, wie er in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt wurde. Wenn man die praktische Einstellung verfolgt, Kants Auffassung auf einen auch für Nicht-Philosophen verständlichen Begriff zu bringen, wird man sagen, dass Kant dafür plädiert, an der Unauflösbarkeit des Humanum und an der Selbstverständlichkeit von Jedermanns Vertrautsein mit den Voraussetzungen des eigenen Handelnkönnens festzuhalten. Wer auch immer solche Sätze des Physikers Carlo Rovelli vom Menschen als dem Sternenstaub liest, sollte sich dabei auch an das Wort der Physikerin Brigitte Falkenburg vom Mythos Determinismus erinnern.

399 So Gerhard Börner, Das neue Bild des Universums. Quantentheorie, Kosmologie und ihre Bedeutung. Das Buch erschien vorher unter dem Titel: Schöpfung ohne Schöpfer, Stuttgart 2006, S. 187. 400 Interview mit Thomas Metzinger und Wolf Singer, in: Gehirn & Geist 04, 2002. 401 Brigitte Falkenburg, Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung?, Heidelberg 2012.

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Die moderne Weichenstellung: Präbiotische und biologische Evolution

11.2 »Sein und Gewordensein«. Die Spannung zwischen dem Sein und der inneren Möglichkeit neodarwinistischer Konstruktionen Das aufgrund seiner Suggestionskraft stärkste Argument, das der Neodarwinismus für sich hat und mit dem er immer wieder die noch vorhandenen Skeptiker verblüfft, ist, dass derjenige, der überlebt, alles richtig gemacht, weil er sich gegenüber anderen, die nicht überlebt haben, durchgesetzt hat. Hinreichend bekannt ist die berühmte, aber gleichwohl höchst missverständliche Darwin’sche Formel vom »survival of the fittest«. Es ist in dieser Aussage unklar und doppeldeutig, ob ein Organismus wegen seiner Angepasstheit überlebt oder einfach durch das Faktum des Überlebens. Wir haben eine Art suggestive Argumentation vorliegen, die den Kräften des Durchsetzens und Überlebens das ganze Recht einräumt und sie gewissermaßen legitimiert. Der Affe, der ein falsches Bild von dem Ast hat, auf den er springt, überlebt nicht im Gegensatz zu demjenigen, der das richtige Bild hat. 402 Es ist die simple Behauptung, dass es schließlich auf das Resultat ankomme, egal, ob dies mit einem Instinkt oder wie im Falle von Menschen mit dem richtigen Denken, das dann bestenfalls eine Art Instinkt sein kann, erreicht wird. Sicher ist es richtig, von einer ausreichenden Instinktreaktion urzeitlicher Affen auszugehen, aber das erklärt nichts für das Handeln des Menschen. Ob eine Siedlung in einer sicheren Lage an einem Fluss oder am Fuße eines Berges errichtet wird, lässt sich nur durch vorausgehende Beobachtungen und Erfahrungen feststellen. Trotzdem bleibt die Unsicherheit über die Zukunft. Das Überlebenwollen des Menschen hebt dabei die Feststellung induktiv gewonnener objektiv wahrer Fakten nicht auf, sondern erfordert diese. In dem bereits 1984 veröffentlichten Traktat »Sein und Gewordensein« stellt Robert Spaemann der ganzen Überzeugungskraft des Gewordenseins und der evolutiv-genetischen Erklärung die philosophische Lehre vom Sein gegenüber. Während »Gewordensein« umgangssprachlich verständlich ist, bedarf das Wort »Sein« einer philosophischen Erläuterung. Wir Menschen verfügen über ein Verständnis von Unbedingtheit, wir wissen von diesem Phänomen, sowohl wenn wir menschliche Gewalt durch Verträge eindämmen als auch wenn wir theoretische Einsichten in ihrer Wichtig402 Dieses oft gebrauchte Bild wird auch von Spaemann angeführt und diskutiert: Robert Spaemann, Sein und Gewordensein, a. a. O., S. 72.

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»Sein und Gewordensein«

keit unterscheiden. Der Sinn von Sein schließt nun sowohl Unbedingtheit als auch Verstehen-Können im Sinne einer inneren Sicht auf Gewissheit mit ein. Sein ist der letzte Raum, auf den sich das Denken bezieht, in dem es festgemacht ist. Ein anderes Wort für das Sein ist die Wirklichkeit. Spaemann charakterisiert diese Art des Wissens vom Sein, das nicht eine Art Objektwissen ist, sondern in gewisser Weise auch das Subjekt, das weiß, mit umfasst, mit dem Vorgang der Negativität, einem Begriff der Hegel’schen Dialektik, der ganz allgemein, wenn man vom Hegel’schen Begriffsreduktionismus einmal absieht, auch für metaphysische Denkweisen, also auch z. B. für die Philosophien Platons und Aristoteles’, steht. Bevor ich dazu komme, diese zentrale philosophische Lehre vorzustellen, erörtere ich die ganze Wucht des Gewordenseins, das auf dem Überlebensargument beruht und durch den Sozialdarwinismus am meisten verbreitet ist. Der Philosoph Markus Gabriel erzählt Zusammenhänge aus der sozialdarwinistischen Rechtfertigung des psychopathischen Auftragsmörders Lorne Malve aus der Fernsehserie Fargo. Dieser rechtfertigt seine Morde mit dem Hinweis, dass wir von Jägern und Mördern abstammen. Sein Töten sei eine Art Rüstzeug, das ihm die Evolution mitgegeben habe. Die aktuelle Präsenz der evolutionären Geprägtheit zeige sich u. a. darin, dass wir viele Grüntöne farblich unterscheiden könnten, was wiederum durch unser Jagdverhalten in den Wäldern ausgebildet wurde. 403 Diese Geschichte des Tötens von Lorne Malve illustriert ein Recht des Stärkeren, wie wir es aus philosophischen Kontexten von Platons aristokratischer Figur des Kallikles, von den Idealen Machiavellis und Friedrich Nietzsches her kennen. Nimmt man die Tragweite der sozialdarwinistischen Rechtfertigung von Lorne Malve ernst, dann stellen die aktuellen Menschen jederzeit füreinander eine tödliche Gefahr dar. Sie sind, wie Thomas Hobbes es formuliert hat, in einer Situation, in der sie füreinander Wölfe sind. Ein solcher Zustand lässt sich, wie Thomas Hobbes gezeigt hat, allerdings nicht physikalisch, d. h. mit Rekurs auf verborgene genetische Strukturen und Befindlichkeiten entschärfen, sondern nur intentional, d. h. durch bewusste Erkenntnis der Gefahr des gewaltsamen Todes und dessen Vermeidung. Nach Hobbes ist derjenige, der für sich ein universelles Tötungsrecht beansprucht, sofort der Todfeind aller anderen, die er mit seinem Anspruch bedroht. Er wird entweder im 403 Markus Gabriel, Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 37 f.

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Die moderne Weichenstellung: Präbiotische und biologische Evolution

Naturzustand das Opfer von Präventivgewalt der anderen, oder er fällt im staatlichen Zustand unter die Sanktionsgewalt des Staates und seiner Gesetze. In jedem Fall rechtfertigt sich das Ordnung und Sicherheit schaffende Handlungswissen nicht aus dem angeblich durch den Leidensdruck des in der Evolution durch Überleben erzwungenen Erlernten, sondern aus dem der Natur Gegenüberstehen des Menschen, dass der Mensch selbst ein natürliches Wesen und in der Lage ist, Natur zu erkennen. Negativität bedeutet dann, dass das Erkennen sich nicht nur an der Frage nach der kausalen Ursache ausrichten darf, sondern das einbeziehen muss, was es von sich aus schon weiß.

11.3 Sein und Negativität Das Grundverhältnis des Erkennens im Sinne von Negativität besteht im Bezug des Denkens auf das Sein. Negativität ist nicht als unendliche Tätigkeit und Prozessualität des Begriffs, wie es Hegel verstanden hat, zu begreifen. Sie ist keine Selbstbezüglichkeit des Begreifens, wie sie Hegel missversteht, sondern Ausfluss des Seins. 404 Das Gegenteil zum Verhältnis von Seinsbewegung und Erkennen wäre die Annahme, dass das Subjekt keine innere Beziehung zum Objekt hätte, was falsch ist. Das Erkennen besteht nicht in einem völligen Nichtwissen, das wie in der Physik erst durch empirische Erfahrung eines beobachteten Objekts aufgehoben wird. Es weiß um real Mögliches, was immer auch einen Bezug auf die gesamte Wirklichkeit einschließt. Hans-Jürgen Wendel erklärt: »Es ist daher im Blick zu behalten, dass alle Erkenntnistheorie immer notwendig Metaphysik, also nicht durch Beobachtung, letztlich intersubjektiv prüfbare Annahmen impliziert.« Metaphysik wird damit »zur Klärung des Erkenntnisphänomens nicht gegenstandslos«. 405 Das Subjekt weiß sich vielmehr immer auch in begleitender Weise beim Wissen des Objekts selbst. Die Erkenntnistheorie hat es nicht nur mit der kausalen Erklärung von Erkenntnisvorgängen zu tun, wie der Evolutionismus behauptet, sondern hat auch nicht-kausale Bedingungen einzube-

Zum hegelschen Verständnis: Tobias Dangel, Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles, Berlin 2013, S. 282 ff. 405 Hans-Jürgen Wendel, Die Grenzen des Naturalismus, Tübingen 1997, S. 175, 34. 404

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Sein und Negativität

ziehen. 406 Die Eigenart des Wissens, das sich in der Negativität zeigt, ist, so beschreibt es Simon Frank, dass der Gegensatz des Wissens zwischen ihm und dem Gegenstand verschwindet. Etwas zu wissen, bedeutet nichts anderes, »als das zu sein, was man weiß, oder dessen eigenes Leben zu leben«. 407 Wie im Sein und im Wissen die einzelnen Seienden zusammenhängen, sodass Platon im Theaitet vom aktuellen Besitz eines bestimmten Wissens, das ein Haben alles anderen Wissens einschließen würde, 408 spricht, so gibt es diesen Zusammenhang auch in der Negativität. Ein bestimmtes Seiendes wird immer unter Einschluss der Erkenntnis eines anderen oder seiner selbst erkannt. Sehen wir zu, welche reichhaltigen Zusammenhänge der Philosophie sich hier auftun. Robert Spaemann beschreibt die Negativität im Sein, beginnend mit der Leiberfahrung, in drei aufeinander aufbauenden Bereichen: a) als Schmerz b) als Andersheit, als Nicht-Ich c) als der Gedanke des Absoluten. 409 a) Was ist der Schmerz? Der Schmerz ist eine Warnung unseres Körpers, dass irgendeine Unregelmäßigkeit oder Verletzung vorliegt, die untersucht und behoben werden sollte. Der organische Körper hat mit dem Leib eine gleich weite Ausdehnung, sodass meine Aussage, dass ich Schmerzen im Fuß habe, ein sich im Bewusstsein zeigendes Phänomen des Fußes ist. Der Fuß ist dann der Körperteil, der vom Arzt, wenn der Schmerz nicht nachlässt, genauer untersucht werden muss. Was als physikalischer Vorgang im Körper ist, bildet sich über das Bewusstsein ab, ohne deshalb aufzuhören, ein körperlicher Ort des Schmerzes zu sein. 410 Der naturalistische Reduktionismus auf natürliche Ursachen, auf die Tätigkeit des Gehirns als Ort der Schmerzerzeugung, verfehlt das Problem. Es ist die Negativität des Erkennens, bei der sich das Andere als das Andere zeigt. Spaemann beschreibt diese Negativität mit Vorliebe auch an der Erfahrung und Wirkung des Triebes. Wenn wir spüren, dass wir Hunger haben, dann ist aufgrund des Stoffwechsels ein Mangelzustand an Nahrung beHans-Jürgen Wendel, ebenda, S. 41. Simon Frank, Der Gegenstand des Wissens, Freiburg 2000. 408 Platon, Theaitet, 197b – 199c. 409 Robert Spaemann, Sein und Gewordensein, a. a. O., S. 73. 410 Dazu ausführlich Thomas Fuchs, Das Gehirn als Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, 2. Auflage, Stuttgart 2009. 406 407

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Die moderne Weichenstellung: Präbiotische und biologische Evolution

reits vorher eingetreten. Entsprechende Leerräume im Magen werden jedoch nicht in ihrer physiologischen Struktur abgebildet, sondern damit wiedergegeben, dass wir ein Gefühl das Hungers haben und wissen, dass wir gelegentlich etwas essen sollten. Der körperliche Mangelzustand wird im Hunger das Andere als das Andere, und indem wir veranlasst werden zu essen, sorgt diese Art der Verursachung, die keine kausale ist und nicht naturalistisch interpretiert werden darf, für unser Überleben. Freilich ist die triviale Aussage, dass wir ohne Essen nicht überleben würden, immer richtig. Sie ist eine Feststellung, die eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung des Überlebens benennt. Die Erklärung des Schmerzes und des Triebes durch die Negativität schließt immer die Erklärung durch von Natur gegebene Finalursachen, die zusammen mit Wirkursachen wirken, ein. Wenn fälschlicherweise jede Art von Bewegung einer endlosen Kausalursächlichkeit angelastet wird, gibt es keinen Bewegungsanfang aus dem Charakter und Wesen eines zielstrebigen Lebewesens. b) Die Negativität als Andersheit, als Nicht-Ich Das philosophische Thematisieren des Seienden thematisiert Unbedingtheit in der Negativität und vermeidet die missliche Lage des wissenschaftlichen Reduktionismus, dessen Theorie das zu Erklärende nicht wirklich erklärt, sondern unendlich hinausschiebt. Die unendliche Reihe einer die Evolution erklärenden Kette von kausalen Ereignissen liefe im Wissen des erklärenden Theoretikers nicht auf eine Einsicht in ein Gesetz oder in einen umgreifenden Zusammenhang hinaus, sondern schlüge in eine Realitätsannahme eines Konzeptes »Evolution« um, das als Grund und als ein »Ding an sich« fungieren würde, ohne dass es in sich erkennbar wäre. Jede Erfahrung eines in sich vollkommenen Naturwesen, wie eine schöne Rose oder ein Würde ausstrahlendes Tier wie der Löwe, wäre im evolutionistischen Werdeprozess nur eine Auflösung in eine unbegrenzte Kausalkette mit dem Schlusspunkt eines »Dings an sich«, genannt »Evolution«. Ähnlich wäre es mit unserem Erleben von Kunst. Wir können noch so viele kausale Ursachen zwischen dem Gehirn des Pianisten und seinen Bewegungen des Spielens herstellen wollen, die eigentliche Freude, die wir beim Hören der vorgetragenen Klaviersonate empfinden, wird dadurch nicht erklärt. Erst die Form eines musikalischen Kunstwerks, das wir geistig erfassen, erfüllt das, was wir als das Vollkommene und Unbedingte erfahren. 250

Sein und Negativität

c) Der Gedanke des Absoluten Nur diejenige Bewegung, die über ihre Bedingungen in sich zurückläuft, ist das Absolute. Nur über eine solche Wirklichkeit ließe sich die Totalität aller wirkenden Entwicklungsbedingungen erklären. Dass das Seiende ist, dass Wirklichkeit ist, muss philosophisch erfasst werden, ohne dass es durch die Methoden der empirisch beobachtenden Physik oder Biologie reduziert werden kann. Die Physik und die Biologie haben bereits ein eingeengtes Formalobjekt; denn sie beziehen sich zwar auf das Wirkliche unter dem Gesichtspunkt der Beobachtbar- und Messbarkeit, aber nicht auf das Wirkliche schlechthin; denn dazu gehören auch das Denken und die Subjektivität als Ermöglichung von Wissen und Wissenschaft. Das Wissen um die Wirklichkeit ist vorwissenschaftlich gegeben und damit nicht auf physikalische Gesetze reduzierbar. Das umfassende Wissen, in dem auch nicht-empirische Objekte reflektiert werden können, ist das philosophische. Die Fähigkeit des menschlichen Erkennens geht auf das Sein und die Wirklichkeit. Das Seiende, insofern es ist, hat Sein, es wird erkannt, weil es Sein hat. Eine das Sein thematisierende Metaphysik würde, wenn sie auf den Beweis partikularer Inhalte hinausliefe, ohne weiteres falsifizierbar sein. Zunächst müsste die in ihr enthaltene Behauptung konsistent sein. Dann würde für den partikularen Inhalt gelten, dass er als nicht notwendiger Ausfluss eines Grundes denkbar sein müsste, eines Grundes, der seinerseits als notwendiger gedacht werden müsste. Eine universelle Behauptung, z. B. dass es kein nichtverursachtes Ereignis gebe, ist, wenn sie für sich selbst keine Ursache angeben kann, nicht konsistent. In einer sich als metaphysisch darstellenden Evolutionstheorie wäre der Grund aller Prozesse ebenso das in der Zukunft zu erwartende Nicht-Seiende als das offene Ergebnis der Evolution. Der Grund, einen laufenden Prozess mit seinem noch-nicht-seienden Ziel zu erklären, soll wiederum durch das nichtseiende Ziel erklärt werden. Das ist ein schlechter Zirkel. Der Evolutionsbegriff wird als eine Bewegung gedacht, die in der Zeit immer weiter geht, ohne dass sie ein in sich bestimmtes Ziel hat, weil die Weiterbewegung von den zufälligen Umständen der Natur bestimmt wird. Die Evolution selbst oder die Natur bzw. die Materie soll als der letzte Grund der Bewegung gedacht werden, ein Grund, in dem sich kein Ziel erkennen lässt, weil die Evolution kein Ziel hat. Insofern müsste dann das Ziel rein in der Bewegung liegen, sodass der Grund gar kein Grund wäre. Wenn das Ziel aber in der Bewegung läge, ohne dass sie zu einem erkennbaren Ergebnis führte, wäre die Bewegung 251

Die moderne Weichenstellung: Präbiotische und biologische Evolution

gar keine Bewegung. Sie wäre also nichts und der sie denkende Gedanke ein Widerspruch. Eine Erklärung der Realität eines Seienden muss sich auf das Sein als Grund beziehen. Die Gesamterklärung, was der Grund von allem Werden ist, ist notwendig transzendental. Denn die Wirklichkeit, die in der Erkenntnis des Werdens erfasst wird, ist nicht nur eine werdende, es muss auch eine seiende sein. Sie muss Sein und Werden umgreifen. Sein ist ein transzendentaler und analoger Begriff. Es gibt keinen allgemeineren Begriff als das Sein. Er ist die umfassendste »Gattung« und als solche zu verstehen. Mit welchem Begriff sollen wir die Wirklichkeit des Seins beschreiben? Ein Erklären des Seins ist nur wiederum mit der Form des Seins, und das heißt der Negativität, möglich. Der Mensch hat Sein, die Pflanze, die Tiere und die Körper haben Sein. Der Grund des Seins muss ein absolutes Sein sein. Der Unterschied des erkannten Seins zum vor der Erkenntnis liegenden Sein kann nur über die Erfassung des Seins erkannt werden. Zu den höchsten Gattungen gehören, wie Platon im Sophistes entwickelt hat und wie sie seitdem zum klassischen Kern der Metaphysik gehört haben, Sein, Leben und Erkennen. Die Erfassung dieser höchsten Gattungen ist nur möglich, weil das Sein in ihnen analog gegenwärtig ist. Die hier beschriebene Erkenntnishaltung ist die Negativität der philosophischen Erkenntnis. Der heute übliche Reduktionismus ist physikalistisch und behauptet, dass das Materielle und die es beschreibende Physik die Grundlage von allem sei. Leben, Seele und Geist seien nur Materie. Aber die Physik bräuchte dafür ein materielles Objekt, an dem sie diese Merkmale beobachten könnte. Der Weg, den sie aus dieser unlösbaren Schwierigkeit in der Regel wählt, besteht darin, dass sie die Realität von Sein, Leben und Geist leugnet. Die hiermit vorgenommene Gegenüberstellung eines universellen philosophischen Begreifens und einer evolutionistischen Theorie bezieht sich auf empirische Erläuterungsversuche der gesamten Naturevolution und nicht auf die beim historischen Darwin vorliegende begrenzte Gestalt einer Evolution. Der Reduktionismus ist in seinen Ursprüngen bei Darwin nur in Ansätzen vorhanden. Darwin vertritt keine Lehre der Entstehung des Lebens aus der Materie, vielmehr einen diffusen Schöpfungsbegriff. Im 6. Kapitel über Darwin habe ich dargelegt, dass Darwin zunächst gar nicht zu einer synthetischen Methode der Selektion kommt, und Peter Heuer verweist darauf, dass die Arten bei Darwin Ergebnisse einer Klassifikationspraxis und die Lebewesen insgesamt eine Art sind, sodass sie alle miteinander ver252

Die neue Perspektive der Genetik

wandt sind und keine die Individuen überdauernde Formstabilität aufweisen. Heuer verweist ebenfalls darauf, dass Darwin Arten selbst nicht für existent hielt. Dadurch, dass Darwin den Anspruch philosophischer Grundlegungsnegativität gar nicht erkannt 411 und sich nicht explizit mit ihm auseinandergesetzt hat, sind die bei ihm fehlenden reduktionistischen Konsequenzen von anderen, wie von Ernst Haeckel, T. Dobzhansky, J. Huxley und in der Gegenwart z. B. von John Maynard Smith und Eörs Szathmáry, gezogen worden. Inzwischen wird die Evolutionstheorie als Erklärung für alles und jedes herangezogen. Nicht nur die außermenschliche Natur, auch der Mensch selbst soll sich ihr verdanken. Im Handeln, Fühlen und Wollen soll der Mensch von Strukturen bestimmt sein, die durch die Evolution geprägt sind. Spaemann spricht von der Gefahr, dass der Mensch sich selbst nur noch als Täuschung der Natur, als »Anthropomorphismus« wahrnimmt. Mary Midgley verteidigt das natürliche Handeln, Fühlen und Wollen des Menschen mit ihrem Buch Are You an Illusion? 412

11.4 Die neue Perspektive der Genetik: Von der Erklärung zur Forschung. Die Evolution als heuristische Idee Die philosophischen Konzepte des Seins und der Negativität bringen einen komplexeren Wirklichkeitsbegriff ins Spiel als die evolutionistischen Modelle von Darwin und Ernst Haeckel. Die Konzeption der Naturgeschichte wie sie sich bei Haeckel findet als eine Folge von Zustandsveränderungen an einem identischen Substrat, schließt nicht mehr die Möglichkeit des Erkanntwerdens durch die Theorie selbst ein. Gleichwohl werden deren Theorien zum öffentlichen Glaubensgut. Der Zoologe August Weismann schreibt dazu im Jahre 1904: »Der Kampf (um die Darwin’sche Entwicklungstheorie) […] ist heute als beendet anzusehen, […] d. h. auf wissenschaftlichem Gebiet; die Deszendenzlehre hat gesiegt und wir dürfen getrost sagen: für immer […] Sie bildet die Grundlage unserer Anschauungen von der organischen Welt und jeder weitere Fortschritt geht von diesem Boden aus. Sie werden im Laufe dieser Vorlesungen auf Schritt und Tritt Beweise für die Wahrheit dieses Satzes kennenlernen […] Das 411 Peter Heuer, Art, Gattung, System. Eine logisch-systematische Analyse biologischer Grundbegriffe, Dissertationsexemplar, S. 225, 227, 237. 412 Abingdon Oxon und New York 2014.

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Die moderne Weichenstellung: Präbiotische und biologische Evolution

Wie der Umwandlungen der Arten ist noch zweifelhaft, nicht aber das Dass, und dies ist der sichere Boden, auf dem wir heute stehen.« 413 Während beim Übergang der Fische zu den Vögeln die Umwandlung der Schuppen zu Federn nicht ganz geklärt ist, behauptet man, bei den Augen der Lebewesen Entwicklungskontinuitäten gefunden zu haben. Die genetische Evolutionstheorie geht ganz selbstverständlich von einer einzigen Entwicklungslinie aus, sodass sich alle Arten über die Gene auseinanderentwickelt haben. Exemplarisch wurde dies von John Maynard Smith und Eörs Szathmáry in ihrem Buch The major Transitions of Evolution 414 durchgeführt. Irgendein Anlass, dass sich das menschliche Selbstbewusstsein durch die Evolutionstheorie – wie Sigmund Freud gemeint hat – gekränkt fühlen müsste, ist nur dann gegeben, wenn man unsere homologe Ähnlichkeit zur Tierwelt nicht auf Bedingungsverhältnisse, sondern fälschlicherweise auf die Erklärung des substantiellen Seins und inneren Wesens des Menschen bezieht. Der Selbstzweckcharakter des Menschen ist als vom Menschen erfahrener Naturzweck wirklich und reduziert empirische Abstammungsverhältnisse auf Möglichkeiten der Selbstwahl eines jeden Individuums. Eine christlich verstandene Evolution ist, sofern wir den Zufall als Hand Gottes begreifen, das Gegenmodell zum Neodarwinismus. 415 Da der Evolutionismus die Eigenschaften als Zustandsänderungen eines identischen Substrats, einer alle Merkmale umfassenden Substanz, interpretiert, steht er auch in Widerspruch zu unserer Erfahrung. Wir können unseren komplexen Zustand nicht als Wirkung und Veränderung eines früheren komplexen Zustands verstehen, so als wäre mein Vater jene Komplexion, die sich zu mir entwickelt hat. Dadurch, dass die Evolutionstheorie das Seiende nicht als Andersheit, nicht als Negativität, denken kann, hat die Evolutionstheorie nicht einmal eine letzte diskrete Einheit zur Verfügung. »Der Evolutionismus versteht Dinge, substantielle Einheiten immer nur als Zustände an etwas anderem.« 416 Das Andere des Anderen als Realität zu behaupten, führt zu einem doppelten Regressus. Es gibt für diesen kein Ende, aber auch keinen Anfang, weil die Reflexion in beide Rich-

Zitiert bei U. Kutschera, Tatsache Evolution, München 2010, S. 291. Cambridge 1995. Ferner auch John Maynard Smith, Evolutionary Genetics, Oxford 1998. 415 Thomas V. Morris, Divine & Human Action, New York 1988. 416 Robert Spaemann, Sein und Gewordensein, a. a. O., S. 78. 413 414

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Die neue Perspektive der Genetik

tungen immer weiterläuft. Also kann es das Andere des Anderen für sich nicht geben. Im vorausgehenden 10. Kapitel, in dem ich die fundamentale Wendung der genetischen Evolutionstheorie weg von der Mittelpunktstellung des Gens in der Theorie von Richard Dawkins zu einer offenen und unbestimmten Relation zwischen Organismus und Umwelt 417 beschrieben habe, steht dieses Dilemma im Hintergrund der genetischen Theorie, ohne dass es von den Fachvertretern als Dilemma thematisiert wird. Man könnte ja wegen des Buchtitels stutzig werden und sich fragen, was unter einem Gen im Zeitalter der Postgenomik, also im Zeitalter seines nicht mehr zu verstehenden Begriffsgehaltes zu verstehen sei. Ernst Mayr hat in seinem Buch Eine neue Philosophie der Biologie 418 eine intensive Auseinandersetzung mit der Mikroevolution mit dem Ziel geführt, zu zeigen, dass die Makroevolution, die von den Arten und ihrer natürlichen Umgebung ausgeht, nicht durch die Mikroevolution ersetzt werden kann. Inzwischen ist der Begriff des Gens innerhalb der Genetik zu einem äußerst vielschichtigen, aber auch offenen geworden. 419 Müller-Wille und Rheinberger erwähnen, dass Sahotra Sarkar fünf verschiedene Reduktionskonzepte unterscheide, von denen drei »für die Genetik besonders interessant seien: eine ›schwache Reduktion‹, wie sie der Begriff der Erblichkeit verkörpere; eine ›abstrakt-hierarchische Reduktion‹, wie sie der klassischen Genetik zugrunde liege; und eine ›annähernd starke Reduktion‹, wie sie die Verwendung informations-basierter Erklärungen in der molekularen Genetik darstelle«. Die Vielfalt der in der Geschichte der Genetik vorhandenen empirischen Konzepte lasse sich nicht einer einzigen konsistenten Methode zuordnen, sondern werde, wie Jean Gayon gezeigt habe, über Ansätze des »Phänomenalismus, Instrumentalismus und Realismus« interpretierbar. Im Gegensatz zu Müller-Wille und Rheinberger würde ich darauf hinweisen, dass aus philosophischer Perspektive die genannten drei Ansätze widersprüchlich sind, weil deren Begründungen zu Widersprüchen führen. Dabei gibt es sehr wohl eine gemeinsame, von Gayon aber übersehene, weil für ihn selbstverständliche, Methode, nämlich die auf Newton zurückgehende physikalische. 417 Staffan Müller-Wille, Hans-Jörg Rheinberger, Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme, Frankfurt a. Main 2009. 418 München 1991, S. 319–346. 419 Helen Pearson, What is a Gene, in: Nature, Vol. 441, 2006, S. 399–401, bes. S. 401.

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Die moderne Weichenstellung: Präbiotische und biologische Evolution

Newton hat in seiner Physik von der Biosphäre des Kosmos, also vom Menschen, von Pflanzen und Tieren, abstrahiert, um mit seinen physikalischen Gesetzen die Bewegungen der Erde und der Planeten im Weltraum hinreichend erklären zu können. Die Erhaltungsgesetze der Pflanzen und Tiere musste er – er konnte auch gar nicht anders – außer Acht lassen; denn die physikalischen Gesetze stoßen bei den Organismen und Tieren nicht auf eine rein symmetrische Anordnung von Ganzen in Teile und Teilen in Ganzes. Die Top-Down-Betrachtung des Ganzen führt durch die physikalische Methode zu den Teilen. Die Bottom-Up-Betrachtung hat es jedoch nicht mit beliebig weiter aufteil- oder kombinierbaren Teilen zu tun. Im Gegensatz zu den materiellen Körpern haben die Teile der Pflanzen und Tiere nach wie vor die Ausrichtung auf das Ganze des Organismus und stehen in dessen Dienst. Die methodische Konstruktion der Physik müsste die Seins- und Strebenstendenz der Teile aus der Realität als gegeben aufnehmen, ohne diese methodisch rekonstruieren zu können, weil sie für die Finalität keinen Raum hat. Die physikalische geschlossene Thematisierung von Teilen der Materie, die zum Gesamt aller Teile in Relationen stehen würde, wäre als reines Netz aus Teilen nicht möglich. Sie müsste ebenso geschlossene Ganzheiten aufweisen, die ihrer Natur nach früher sind als ihre Teile. Deren Strebetendenzen könnten nur durch Verstehen erfasst werden. Ich komme zurück auf die Ausführungen von Müller-Wille und Rheinberger. Ihnen zufolge müsste auch von Wissenschaftsphilosophen und Wissenschaftshistorikern die inflationäre Verwendung von Begriffen wie »genetische Information« oder »genetisches Programm« kritisiert werden. 420 Sie ziehen dann zwei Schlussfolgerungen: »Erstens, die wissenschaftliche Karriere des Genbegriffs wurde nicht etwa durch sein Erklärungspotential, sondern durch die Struktur und Dynamik seines Forschungspotentials ermöglicht. Und zweitens, die wesentliche Unvollständigkeit genetischer Erklärungen ruft, wann immer diese auf einer ontologischen Ebene angesiedelt werden, einen wissenschaftlichen Pluralismus auf den Plan.« 421 Der Verzicht der Genetiker auf ontologische Schlussfolgerungen bestätigt die philosophische Analyse, die zeigt, dass es im Evolutionismus nur den Prozess des Werdens, nur das Kontinuum des Prozesses und keine diskreten Einheiten, die mit sich identisch und von anderen different sind, geben kann. Und hier 420 421

Müller-Wille, Rheinberger, a. a. O., S. 129 f. Ebenda, S. 135; Hervorhebungen durch K.-H. Nusser.

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Die neue Perspektive der Genetik

ist der Ort, an die evolutionistische Evolutionstheorie von John Maynard Smith und Eörs Szathmáry, die oben behandelt wurde, zu erinnern. 422 In diesen Theorien wird der Versuch unternommen, die gesamte Naturgeschichte mit dem darwinistischen materialistischen Prinzip der natürlichen Selektion zu erklären. Zumindest ist bei den Genetikern selbst jeder reduktionistische Versuch, das Leben aus seinen Teilen zu erklären, gescheitert. Und dies hat Konsequenzen für den reduktionistischen Ansatz von Smith und Szathmáry. Sie können nicht ausschließlich auf den Begriff des Teils eines Lebewesens, das ein »etwas« sein soll, rekurrieren, weil man den Teil ja nicht kennt. Auch hängt der Begriff einer unendlichen Teilbarkeit entsprechend dem Prozesskontinuum, das sie beanspruchen und das den Prozess ermöglichen soll, in der Luft. Er ist eine bloße Konstruktion der Evolutionstheoretiker. Man könnte auch sagen, ihr Evolutionismus habe nur einen von den Evolutionstheoretikern konstruierten abstrakten Möglichkeitsraum, der eine Totalität von möglichen Bestimmungen enthält, die alle gleichermaßen möglich sind. Es wird eine Reihe z. B.: A,B,C,D usw. konstruiert, deren Elemente nur auf die Konstruktion des Forschers zurückgehen und nicht in der Realität ausgewiesen werden können. Eine Orientierung an der Realität gibt es nicht durch das eben fehlende Forschungsergebnis, sondern nur durch die vorhandene Realität in ihrer tatsächlichen Geschichte, sofern eben unterschiedliche Lebensformen historisch festgestellt werden können. Damit springt man aus der Evolutionsgeschichte heraus, ohne die unterschiedlichen Phasen des Lebens streng aus den Genen erklärt zu haben. Wenn die Ansprüche der exakten Erklärung der evolutionstheoretischen Genetik gescheitert sind, ist es plausibel, die Aufmerksamkeit auf das, was ist und das heißt auch auf die pragmatische Arbeit der Genetik zu lenken. Die unterschiedlichen Lebensformen in der Naturgeschichte gibt es. Sie müssen ontologisch als gegebene akzeptiert und nicht als aus den Teilen rekonstruierbare Ganzheiten begriffen werden. Der in der reduktionistischen pseudometaphysischen Evolutionstheorie konstruierte Anfang der Evolution und ihr indefinites Ende mit einem in sich widersprüchlichen Charakter, der als ein Ziel dienen muss, das keine Bestimmtheit hat, also auch nicht wirklich sein kann, ist in eine argumentativ konsistente Metaphysik zu überführen. Der forschende Genetiker ist in seinen Voraussetzungen nicht zwingend der Evolutionstheorie verpflichtet. Er könnte z. B. 422

Vgl. Kapitel 9.2.

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Die moderne Weichenstellung: Präbiotische und biologische Evolution

dem ontologischen Prinzip, dass das Sein besser als das Nichtsein ist, zustimmen; denn das Forschen ist nur dadurch möglich, dass sich in den Experimenten jeweils etwas Existierendes als ein neues Seiendes zeigt und das Experiment nicht plötzlich in einem Nichts resultiert. Jedes neue Glied des Werdensprozesses verdankt sich einer Kraft der Fülle, die in sich unbegrenzt ist und die Unerschöpflichkeit dieses Prozesses ermöglicht. Der empirisch arbeitende Genetiker baut ganz selbstverständlich auf diesem ontologischen Prinzip auf, auch wenn er, wie wir oben gesehen haben, mit Sahotra Sarkar meint, zumindest drei Formen der Reduktion annehmen zu können. Die Annahme von Reduktionsmöglichkeiten führt formal unabweisbar zum Naturalismus und leugnet damit die formalen Voraussetzungen der selbständigen Würde der Lebewesen, auf die immer auch und gerade unter der Voraussetzung genetischer Analyse zurückzugehen ist. Die Lebensfunktion der Lebewesen und ihr natürliches Ziel, ihr Wohl, müssen für die Arbeit der Genetik Vorbild sein. Ein Lebewesen, das wie das Schaf Dolly 154 Krankheiten hat, zu konstruieren, ist kein sinnvolles Ziel der Genetik. Bleibt der Genetiker naturalistischen Voraussetzungen verhaftet, dann ist sein letzter Bezugspunkt die orientierungslose Materie. Die ontologische und damit philosophische Erklärung dagegen ergibt sich aus dem Zielcharakter des Prozesses. Sie beansprucht, keine empirische Ableitung zu sein, sondern nimmt jedes neue Glied als Ausdruck eines zu Beginn eingegebenen Impulses dank eines unbewegten Bewegers, eines gütigen Gottes an.

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12. Die Fülle des teleologischen Werdensprozesses: Woher stammt das Gute der Natur?

12.1 Die Schwundstufe der Teleologie: die Teleonomie. Leben als heuristischer Begriff der neuzeitlichen Wissenschaft: Teleologie und Teleonomie Weil der Artbegriff bei Aristoteles sowohl empirisch, zur äußeren Vergleichung der Eigenschaften von Lebewesen, als auch philosophisch, als das Verstehen des Lebens selbst, gebraucht wird, gibt es in den biologischen Wissenschaften, die »lebendig« als reales Prädikat zur Bezeichnung von physikalischen und chemischen Eigenschaften der Gene von Lebewesen verwenden, überwiegend Kritik am philosophischen Gehalt des Formbegriffs, gelegentlich aber auch dessen Verteidigung. Besonders der Evolutionstheoretiker Ernst Mayr hat aus Darwin’scher Perspektive an der Verwendung des Artbegriffs (eidos) Kritik geübt. Paul Thompson hat diese Kritik am, wie Ernst Mayr es nennt, »Essentialismus« zurückgewiesen und darauf bestanden, dass der Platon und Aristoteles zugeschriebene Essentialismus sehr wohl mit der modernen Biologie vereinbar sei. 423 Thompson bestreitet, dass der Essentialismus, wie Mayr behaupte, ein Entfaltungshindernis für die moderne Biologie mit ihrer fortgeschrittenen genetischen Forschung sei. Mayr sieht seine These durch die Interpretationsergebnisse von D. M. Balme, 424 nach denen die aristotelische Biologie nicht essentialistisch sei, bestätigt. Wie schon erwähnt, will Ernst Mayr die Schwierigkeiten, die sich aufgrund von Darwins Evolutionismus für den Artbegriff ergeben haben, ausräumen, indem er die essentialistische Seite des Artbegriffs für überflüssig und falsch erklärt. Wie die

423 Paul Thompson, »Organization«, »Population« and Mayr’s Rejection of Essentialism in Biology, in: D. Sfendoni-Menzou, J. Hattiangadi u. D. Johnson (Hg.), Aristotle and Contemporary Science, Vol. II, New York 2001, S. 173–186. 424 D. M. Balme, Aristotle’s Biology Was not Essentialist, in: A. Gotthelf, James Lennox (Ed.), Philosophical Issues in Aristotle’s Biology, Cambridge 1987, S. 293–312.

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Die Fülle des teleologischen Werdensprozesses

oben, im anderen Zusammenhang erwähnte Arbeit von Pierre Pellegrin gezeigt hat, ist der These von Balme nicht zuzustimmen. Ernst Mayr rezipiert die aristotelische Zielstrebigkeit der Natur in der Weise, dass er diese in einem durchgängigen kausalen Denken der Biologie aufhebt. »Die Form (eidos) des Aristoteles«, so erklärt Mayr, »ist ein teleonomes Prinzip, das im Denken des Aristoteles dem entspricht, was das genetische Programm in der modernen Biologie leistet.« 425 Mayr beginnt die Begründung seines Konzeptes der Teleonomie mit einer ganz im Sinne des Aristoteles gehaltenen Beschreibung des zielgerichteten Verhaltens der Organismen. Die meisten Handlungen der Lebewesen sind »im Zusammenhang mit Wanderung, Nahrungsbeschaffung, Balz, Ontogenese sowie allen Phasen der Fortpflanzung durch ein solches Ausgerichtetsein auf ein Ziel gekennzeichnet.« 426 Mayr folgt dann aber C. S. Pittendrigh bei der Einführung des Ausdrucks teleonomisch für teleologisch. Und Pittendrigh will die aristotelische Auffassung, nach der die Form das Ziel mittels der Wirkursache anstrebt, ersetzen. Diese Bedeutung einer übergeordneten natürlichen Zielsetzung sei »in einer Welt, die immer mehr mechanistisch sei, unannehmbar«. 427 Mayr entwickelt diese Konzeption von Pittendrigh weiter und definiert teleonomisches Verhalten folgendermaßen: »Ein teleonomischer Vorgang oder ein teleonomisches Verhalten ist ein Vorgang oder Verhalten, das sein Zielgerichtetsein dem Wirken eines Programms verdankt.« 428 »Programm« versteht Mayr als durch »die DNA des Genotyps vollständig codiert« oder als »offenes Programm«. Wegen der zentralen Bedeutung sei auch der englische Originaltext, der von Toepfer zitiert wird, gebracht: »A teleonomic process or behavior is one which owes its goal-directedness to the operation of a program. The term teleonomic implies goal-directon.« 429 Toepfer stellt dazu fest, dass mit dieser Bestimmung die Definition auf den Begriff des Programms verschoben 425 Ernst Mayr, The Growth of Biological Thought: Diversity, Evolution and Inheritance, Cambridge Mass. 1982, S. 47, übersetzt vom Verfasser. Zit. bei Paul Thompson, »Organization«, »Population« and Mayr’s Rejection of Essentialism in Biology, S. 182. 426 Ernst Mayr, Teleologisch und teleonomisch: eine neue Analyse, in: Ernst Mayr, Eine neue Philosophie der Biologie, München 1998, S. 60. 427 Mayr referiert diese Äußerungen aus einem Brief an Pittendrigh; in: Mayr, ebenda, S. 85. 428 Mayr, ebenda, S. 61. 429 Georg Toepfer, Zweckmäßigkeit, in: Historisches Wörterbuch der Biologie, Band III, Stuttgart 2011, S. 824.

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Die Schwundstufe der Teleologie

werde. »Ein Programm definiert Mayr umgekehrt als kodierte Information, die einen zielgerichteten Prozess steuert (»coded or prearranged information that controls a process (or behavior) leading it toward a given end«). Toepfer bemerkt dazu, dass es sich dabei um eine zirkuläre Begriffsbestimmung handle: »Die Zielverfolgung wird über den Begriff des Programms definiert und der Begriff des Programms über die Zielverfolgung.« 430 Dieser offensichtliche Zirkel zeigt, dass die Einführung des Begriffs Teleonomie nicht überzeugen kann. Das mechanistische Konzept der Teleonomie kennzeichnet bei Mayr die Natur der Gene und deren evolutive Dynamik. Das schließt selbstverständlich die Darwin’sche Evolutionstheorie ein und dies wäre, wenn es wahr wäre, ein weiterer Beleg für die Aussage von Dobzhansky: »Nichts macht in der Biologie Sinn, es sei denn im Lichte der Evolutionstheorie.« 431 Gerade dieses Selbstverständnis der Evolutionstheorie ist dogmatisch und in Bezug auf die Biologie nicht richtig. Gerade die Teleologie ist für die Arbeitsweise der Biologie unverzichtbar. Toepfer zeigt, dass das Zusammenwirken der Teile der Kern der Erhaltung des Lebewesens ist und dass dieses Erhaltungsstreben nur durch das teleologische Naturstreben der Organismen erklärbar ist. In ihm ist »der Anfangs- und Endpunkt der Existenz des Organismus nicht die Kohärenz eines bestimmten Umfangs an Materie oder die Aufrechterhaltung einer bestimmten Form, sondern der zyklische kausale Strukturcharakter des Systems, d. h. die Dauer der Interaktion seiner Bestandteile und deren Aktivitäten«. 432 Ohne diese funktionale Perspektive, die dessen Teile und deren Rolle im Ganzen festlege, so führt Toepfer weiter aus, könne der Organismus als eine bestimmte Entität gar nicht existieren. Wie der Begriff des Organismus, so spiele auch der der Teleologie eine tragende Rolle in der Wissenschaft der Biologie, sodass der Spruch von Dobzhansky umzuwandeln sei und heißen müsse: »Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Lichte der Teleologie.« 433 Ein nach Art einer schlechten Metaphysik die Biologie umklammernder Neodarwinismus wird damit von Toepfer zurückgewiesen. Biologie als Wissenschaft hat es schließlich schon Jahrhunderte vor Darwin gegeben. Teleologie, die G. Toepfer, ebenda, S. 824. Theodosius Dobzhansky, American Biology Teacher, 35, 1973, S. 125–129. 432 Georg Toepfer, Teleology and its constitutive role for biology as the science of organized systems in nature, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 43, 2012, S. 115. 433 Georg Toepfer, ebenda, S. 115. 430 431

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Die Fülle des teleologischen Werdensprozesses

Wahrnehmung der Endzustände von Organismen, hat eine zentrale Bedeutung für die Beschreibungssprache der Biologie. Zusammen mit funktionalen Gesichtspunkten macht sie auch Wasserkreisläufe und andere sich aus den Ökosystemen ergebenden Kreisläufe beschreibbar. Ernst Mayr erkennt nicht, dass den kausalen Zusammenhängen eine finale oberste Ursache vorausliegen muss, dass die Naturordnung vom Menschen aus seiner final geleiteten Handlungsstruktur ebenfalls gleichursprünglich final verstanden werden muss. So wie sich der Mensch seine Ziele zu seiner Erhaltung in der Natur setzt, ermöglicht die Natur diese Zielsetzung und erleichtert diese, indem sie selbst durch die Arten und Pflanzen regelmäßige Abläufe erkennen lässt. Das Anbauen von Pflanzen in Gärten und in der Landwirtschaft durch Menschen kann völlig naturverträglich erfolgen. Das Halten von Nutztieren wie Hühnern, Gänsen, Schweinen und Kühen ist, gesehen von der Natur her, dem Menschen ebenso artgerecht möglich. Der finale Gesichtspunkt ist als funktionaler auch in der modernen Biologie unerlässlich. »Man hat erst verstanden«, so Robert Spaemann, ähnlich wie später Georg Toepfer, »was eine Lunge ist, wenn man weiß wozu sie gut ist.« 434 Die dem Evolutionismus anhängenden Biologen kommen nun zwar im Einzelfall der Forschung nicht ohne den Beginn mit einer funktionalen Betrachtung aus, lösen aber die Gesamtheit aller realen und konstituierten Funktionen in einer evolutionistischen Möglichkeitskonstruktion auf. Charles Darwin und Ernst Haeckel haben im Programm des »survival of the fittest« das finale Naturstreben in die nichtfinalen physikalischen Gesetze Newtons eingefügt. Nicht die auf die Übereinstimmung mit der Umwelt zielgerichtete Form ist entscheidend, sondern das Endresultat, das durch irgendeinen Kräftevorteil kausal bewirkt wird. Mit der darwinistischen Theorie der natürlichen Selektion entsteht der Anspruch, Leben über die Ebene der wissenschaftlichen Konstruktion zu einem geschlossenen Wissensgebilde zu bringen. Eine Ontologie als Lehre vom Seienden wird damit ausgeschlossen. Mit der Konstruktionsebene wird ein geschlossenes System angezielt, das keinen Raum mehr für ein Verstehen der Natur lässt. Von »Teleonomie« zu sprechen ist ein verbales Zugeständnis, zu dem sich die evolutionistische Theorie veranlasst sieht, um die Nähe zur Bio-

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Robert Spaemann, Reinhard Löw, Natürliche Ziele, Stuttgart 2005, S. 249.

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Die metaphysische Grundlage des Ziel- und Bewegungscharakters der Natur

logie, die ihre Gegenstände, die Lebewesen beobachtet, versteht und nicht konstruiert, nicht ganz aufgeben zu müssen.

12.2 Die metaphysische Grundlage des Ziel- und Bewegungscharakters der Natur Im Kapitel 9 habe ich vom philosophisch denkbaren Möglichkeitsraum der Evolutionstheorie gesprochen, den sie in Anspruch nimmt, um ihre Konstruktionen durchzuführen. Der Möglichkeitsraum ist neben seinen Eigenschaften, eine Totalität von Möglichkeiten bereitzustellen, dadurch konstruiert, dass die Evolution von einem einfachsten materiellen Bestandteil ihren Ausgang nimmt, um schließlich beim Menschen zu enden. Er besteht wesentlich darin, dass der Übergang zum neuen Lebewesen durch die Wirkungen des früheren, die das aktuell existierende Lebewesen anzielen, bestimmt sein soll. Meine Existenz wird, um ein reales Beispiel auf die Evolutionstheorie hin zu interpretieren, damit erklärt, dass meine Eigenschaften als Auswirkungen der Elemente meiner Eltern gedacht werden müssen. Eine durchgehend als real möglich gedachte Kausalkette schafft die Verbindung zwischen den von den Eltern kommenden und meinen Eigenschaften. Insofern meine Existenz aus der durch den Vater stattfindenden Evolutionsperspektive als das Noch-nicht-Seiende aufgefasst werden muss, wird trotzdem meine Existenz als schon seiende in den Eltern wirkende Vorgabe angenommen. Ganz anders ist von Aristoteles her gesehen zwischen Wirk- und Formursache zu unterscheiden. Die Zeugungsaktivität der Eltern ist zwar eine Bewegungsursache, aber die Weitergabe des Wesens hängt von der Form des Menschen, die im Samen weitergegeben wird, ab. Die Identität der Form wird bei Aristoteles durch die Strebenstendenz der Natur, die die Lebewesen haben, erklärt. Anders sieht es für die Evolutionstheorie aus. Für ihren Möglichkeitsraum gelten die Alternativen A und B: A) Die Konstruktionen sind völlig falsch; dann hat der Möglichkeitsraum keinerlei Realität enthalten und ein Werdensbegriff, der auf andere Weise auf Realität bezogen sein muss als das Werden durch eine materielle Teilchenevolution, muss gedacht werden. Oder: B) Die Konstruktionen der Evolutionstheorie enthalten richtige Zusammenhänge; dann darf die Evolution nicht als ein Möglichkeitsraum verstanden werden, der keinerlei Zielstruktur hat. Die ablaufende Kausalstruktur muss durch eine Zielrichtung bestimmt sein. 263

Die Fülle des teleologischen Werdensprozesses

Im vorausgehenden Abschnitt über die Teleonomie wurde auf das Ungenügen bloßer Kausalreihen aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass die formenleitende Struktur der Naturfinalität die Genese des Lebendigen bestimmt. Das damit Gemeinte lässt sich leicht aufzeigen. Die Art einer Pflanze bestimmt über ihre Form das Wachstum ihrer materiellen Kräfte. Eine in die Erde gesteckte Bohne wird unter entsprechenden Wachstumsbedingungen wieder eine Bohnenpflanze mit einem vielfachen Ertrag von Bohnen ergeben. Entsprechendes gilt auch von allen anderen Pflanzen. Das Lebendige ist in sich, wenn es unter den Gesichtspunkten von Zeugung, Wachstum, Ernährung und Fortpflanzung betrachtet wird, nur vorläufig als ein Holismus der Natur auffassbar; denn dieser hat auch eine transzendente Seite. Aus dem Übergang von der einzelnen naturphilosophischen Betrachtung des Lebewesens zum gesamten Zusammenhang, der als Natur betrachtet werden muss, ergibt sich die metaphysische Perspektive. Eine erste Feststellung zeigt sich durch die Strebetendenz der Arten. Die gesamte Art, die das unvergängliche Sein des ersten Bewegers nachahmt, erhält sich, obwohl die einzelnen Exemplare in der Zeit jeweils vergehen, als Art. Sie ahmen auf diese Weise, wie es Aristoteles richtig sieht, das göttliche ewige Sein nach. Die immanente und die transzendente Seite der Finalität werden aus der Unterscheidung des Zielcharakters entwickelt. Mancher Naturwissenschaftler könnte angesichts des Rückgriffs auf eine so weit zurückliegende Philosophie, die bei Aristoteles mit einem längst überholten physikalischen Weltbild verbunden ist, ärgerlich werden. Eine solche spontane Reaktion bedarf jedoch einer Überprüfung. Fragen über den Ursprung des Kosmos und der Erde sind keiner empirischen wissenschaftlichen Beobachtung zugänglich. Es kann somit über diesen Bereich keine Wissenschaft geben. Ohne eine empirische Instantiierung bleibt jede Aussage über die Materie eine reine Hypothese, ein bloßer Gedanke. Da solche wissenschaftlichen Hypothesen inzwischen eine Weltbildfunktion haben, d. h., dass sie als Aussagen über den Grund und den Anfang des Kosmos genommen werden, wird die Materie als eine absolute Substanz unterstellt und damit sowohl der göttliche Ursprung als auch die menschliche Geistbegabtheit geleugnet. Damit wird die volle Realität des Menschen geleugnet. In einem Bereich, in dem es keinen wissenschaftlichen Fortschritt geben kann, sollten die in Religionen und in der Philosophie der Menschheit vorhandenen Erfahrungen und Schlüsse sehr wohl ernsthaft erwogen werden. Für die Selbsterfah264

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rungen des Geistigen im Menschen gibt es keinen von der Zeit abhängigen wissenschaftlichen Fortschritt. Es geht somit darum, die Argumente des Aristoteles vorbehaltlos zur Kenntnis zu nehmen. In der umfassenden Betrachtung des Seienden, in der Metaphysik, unterscheidet Aristoteles zwischen der allgemeinen Aktualisierung der Wirklichkeit und der spezifischen biologischen Zweckbetrachtung. Ich erläutere zuerst die allgemeine und komme dann zur biologischen. 1) In der schlechthin allgemeinen Sicht der Wirklichkeit übt der unbewegte Beweger eine direkte teleologische Kausalität in der sublunaren Welt aus. Alle Formen in der Natur werden zur Wirklichkeit bewegt. Im Physik-Buch heißt es dazu bei Aristoteles: »Wenn es doch etwas Göttliches und Gutes und Erstrebenswertes (ephetou) gibt, so sagen wir, dass das eine [die Materie] das Gegenteil dazu ist, ein anderes aber das, welches von der Art ist, nach diesem zu streben und zu greifen, soweit es dazu von sich aus in der Lage ist.« 435 Charles Kahn stellt dazu fest, dass das Prinzip der Form als »göttlich, gut und erstrebenswert« beschrieben werde, während die Materie in Übereinstimmung mit ihrer Natur auf die Form ziele und diese begehre. 436 Die umfassende Sicht der Teleologie ist an der beobachtbaren Potentialität des Seienden erkennbar; denn dem Wesen nach ist die wirkliche Tätigkeit (energeia) früher »und wie gesagt, der Zeit nach geht immer eine wirkliche Tätigkeit vor der anderen voraus bis zur Wirklichkeit des immerfort ursprünglich Bewegenden (aei kinountos protos)«. 437 Die Bewegungsdynamik ist demnach nicht auf die mechanischen Anstöße durch die Kreisbewegung der Sonne oder des Fixsternhimmels auf die sublunare Welt begrenzt. Im Buch Lambda der Metaphysik erklärt Aristoteles, dass »das Gute und Beste (agaton kai to ariston) sowohl in der Natur ordnend wirkt (e tän taxin) als auch in einer von ihr getrennten selbständigen Weise (poteron kechorismenon)«. 438 Er verdeutlicht das Wirken des ersten Bewegers durch die Beispiele der Armee und des Hauses. Im Haushalt und in der Wirtschaft des Hauses sind die Freien als für die Ordnung Verantwortliche durch diese gebunden. Sie sind als Freie zwar außerhalb

Aristoteles, Physik 1072 b 1–3. Charles Kahn, The Prime Mover and Teleology, in: Allan Gotthelf (Hg.), Aristotle on Natur and Living Things, Pittsburgh 1985, S. 184. 437 Aristoteles, Metaphysik 1050 b 3–6. 438 Aristoteles, Metaphysik 1075 a 11. 435 436

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der Ordnung, aber als diese gestaltend sind sie auch ein Teil. Die Sklaven und Tiere dagegen haben keine direkte Aufgabe zur Bewahrung der Ordnung. 439 Auch der Feldherr des Heeres ist ein Beispiel für die ordnende Wirkung des ersten Bewegers; denn für das Heer »liegt das Gute sowohl in der Ordnung als auch im Feldherrn, und in diesem in höherem Maße. Er ist nämlich nicht durch die Ordnung, sondern jene durch ihn.« 440 Neben diesen Passagen gibt es im Werk des Aristoteles zahlreiche Texte, die dem Ersten Beweger die Lenkung einer umfassenden Ordnung zuschreiben, was eben doch eine Ähnlichkeit mit Platons Demiurgen hat. Wegen der Konzentration auf die Naturphilosophie und Biologie wenden wir uns im Folgenden der Strebenstendenz der Arten zu. 2) Hier unterscheidet Aristoteles zwischen dem Zweck von etwas (telos hou heneka tinos) und dem Zweck für etwas (telos hou heneka tini). Der Zweck von einem Organismus ist die Entwicklung seiner selbst, z. B. durch Nahrungsaufnahme, was der Selbsterhaltung dient. Der Zweck für etwas ist der Zweck, wofür das aktuelle Lebewesen dienlich ist, und das ist für Aristoteles in naturphilosophischer Perspektive die Erhaltung der Art. In der Metaphysik erklärt Aristoteles den unterschiedlichen Bewegungscharakter der beiden Unterscheidungen des Zwecks: »Jener« [= der Zweck, wofür das aktuelle Lebewesen dienlich ist (K.-H. N.)], so sagt er, »ist unbeweglich, dieser [= die Entwicklung der aktuellen Form des Lebewesens (K.-H. N.)] nicht. Jenes bewegt wie ein Geliebtes und durch das von ihm Bewegte bewegt es das übrige.« 441 Die absolute Notwendigkeit des Zielcharakters ergibt sich für Aristoteles aus dem Wirklichkeitscharakter des Werdens der Natur im Falle des einzelnen Lebewesens. Das Werden der Natur ist unabhängig vom menschlichen Forschungskonsens und den diesem Konsens zugrundeliegenden Ansichten der Menschen. Auch ein einstimmiger Konsens der Forschergemeinschaft kann falsch sein. Entscheidend ist, dass dem Werden ein Ziel auf eine Realität hin eingegeben wurde und es somit nicht in der bloßen Möglichkeit verbleibt. Die Unbeweglichkeit des Naturzwecks bezieht sich auf die Unveränderlichkeit der die Materie bestimmenden Form, nicht auf das Lebewesen als Ganzes. Als solches ist es sehr wohl in Bewegung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Werden und Vergehen 439 440 441

Aristoteles, Metaphysik 1075 a 16–22. Aristoteles, Metaphysik 1075 a 13–16. Aristoteles, Metaphysik 1072 b 1–3.

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bilden, wie wir weiter unten sehen werden, den pulsierenden Seinsbereich der Natur. Der entscheidende Unterschied zur Darwin’schen Evolutionstheorie ist, dass diese die Unveränderlichkeit und Geistigkeit der Formen als Naturzweck aufgibt und nur das faktische Resultat von Prozessen als survival of the fittest interpretiert. Wirklichkeit enthält in darwinistischen Evolutionstheorien keine Strebetendenz zum Besten, sondern ist primär Bedrohung für das eigene Überleben. Diese neuzeitliche Akzentverschiebung im Naturverständnis begünstigt Entwicklungen zum Sozialdarwinismus. Es macht einen Unterschied, ob man die Natur mit dem unverfänglichen Blick, der sich bei Aristoteles findet, betrachtet oder mit dem Blick Darwins, der die Natur vom Konkurrenzkampf der neuzeitlichen Ökonomie her interpretiert. Bei Aristoteles heißt es in der Schrift Über Werden und Vergehen: »Da nach unserer Behauptung in allen Dingen die Natur immer nach dem Besseren strebt, besser aber das Sein als das Nichtsein ist […] dieses aber unmöglich in allem gegeben sein kann, weil es in weiterem Abstand zum Prinzip steht, füllte der Gott in der noch übrigbleibenden Weise das Ganze auf, indem er das Werden unablässig machte.« 442 Für den Menschen kann man diese Aussage so lesen, dass die Natur für alle genügend Lebensmöglichkeiten bereitstellt, was freilich auch impliziert, dass sich die Menschen einer Zeit dieser Natur, an der sie alle teilhaben möchten, verbunden fühlen und ihre unbegrenzten Begierden begrenzen. Eine solche moralische Forderung ist, so ist einzuräumen, leicht aufgestellt, aber schwer zu befolgen. Trotzdem macht es einen Unterschied, ob man bei der Einübung von ökologisch-vernünftigen Verhaltensroutinen eine geordnete Gesamtnatur als zu bewahrende vor Augen hat oder eine Gesamtmenge möglicher Wirkungen, für die es jedoch keine langfristig erkennbare Zukunftsperspektive gibt. Darwin stellt keine lebendige Gesamtnatur in den Mittelpunkt, sondern das Überleben des einen Exemplars im Verhältnis zum anderen und zu den begrenzten Ressourcen. Erfolgreiche moderne ökologische Strategien zur Erhaltung der Umwelt, wie die von Michael Kopatz, 443 werden sich zu Recht an Aristoteles ausrichten. Aristoteles hat die Aspekte des Überlebens durch Kampf auch 442 Aristoteles, Über Werden und Vergehen, hg. von Thomas Buchheim, Berlin 2010, S. 337 b 27–32. Thomas Buchheim ist für die Herausgabe dieser Schrift und die Hinweise auf ihre Bedeutung zu danken. 443 Michael Kopatz, Ökoroutine, München 2016.

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gesehen, aber hintangestellt, sowie andererseits Darwin auch das »heitere Erstrahlen der Natur« gesehen, aber als etwas »Auszublendendes« beiseitegestellt. Bei Darwin heißt es in seinem klassischen Werk Die Entstehung der Arten: »Nichts ist leichter, als ganz allgemein die Existenz des Kampfs ums Dasein zuzugeben; nichts aber ist schwerer (wie ich wenigstens herausgefunden habe), als die Existenz des Kampfes ums Dasein beständig im Auge zu behalten. […] Wir sehen das Antlitz der Natur heiter erstrahlen; wir sehen überall nur Überfluss an Nahrung. Aber wir sehen nicht oder übersehen, dass die Vögel, die sorglos rings um uns singen, von Insekten oder Samen leben und damit ständig Leben vernichten. Oder wir vergessen, dass viele dieser Sänger oder ihre Eier und Nestlinge von Raubvögeln und anderen Feinden vernichtet werden.« 444 Darwin betrachtet nicht das natürliche Gleichgewicht als Ganzes, das wir als selbstverständlich annehmen und auch dann nicht in Frage stellen, wenn wir wissen, dass aus Gründen, die nichts mit dem Wirken des Menschen zu tun haben, etwa die Dinosaurier ausgestorben sind. Wir verstehen den Amazonasurwald als ein riesiges Reich von sich ausgleichenden Bestrebungen von Pflanzen und Tieren, die alle untereinander eine Nahrungskette bilden und dabei durchaus in einem Konkurrenzkampf stehen. Aber wir unterscheiden von dieser sich aus sich selbst erhaltenden Ordnung sehr wohl die Eingriffe des Menschen, der durch Ölförderung und Abholzen von Bäumen das natürliche Gleichgewicht stört. Für das Aussterben von vielen Arten ist in der Gegenwart der Mensch schuld, und zwar deshalb, weil er durch den Einsatz von Insektiziden und Pflanzenschutzmitteln oder durch eine kurzsichtige Orientierung am eigenen Nutzen bestimmte Arten ausrottet, was aber wieder eine Störung des gesamten Naturkreislaufs zur Folge hat. Dass die Ökonomisierung der Landwirtschaft aber mit den modernen ökonomischen sozialdarwinistischen Einstellungen zusammenhängt, ist keine Frage. Der Mensch fühlt sich, im Falle seines Betreibens der Landwirtschaft, der Natur zu wenig verpflichtet und schädigt diese nachhaltig und permanent. Es ist das Darwin’sche Bestreben, die Finalität der Natur, die Achtung verlangt, zu vermeiden, das die unübersehbare Verarmung und Zerstörung der Umwelt durch die Einstellungsänderung des Menschen zur Folge hat. Eine weitere Auswirkung des Darwin’schen Überlebensdeterminismus

444

Darwin, Die Entstehung der Arten, a. a. O., S. 100 f.

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zeigt sich in der Ökonomie selbst. Seit dem Untergang der staatssozialistischen Konkurrenz zur sozialen Marktwirtschaft wird der ökonomische Manchesterliberalismus mit seiner darwinistischen Rechtfertigung der reinen Marktkonkurrenz wiederbelebt. In dem bereits zitierten Buch von Geoffrey A. Moore, Darwins Erben, 445 ist jeder marktwirtschaftliche Konkurrent für den anderen eine bloße Umwelt, auf Kosten derer er überlebt. Symbiotische und emergente Effekte der Marktteilnehmer untereinander werden ausgeblendet. Die in der gebildeten Öffentlichkeit fast dogmatisch herrschende Geltung der einseitigen Naturinterpretation Darwins zeigt sich in folgender Aussage des Sozialphilosophen Michael Kopatz: »Seit Darwin wissen wir, in der Natur herrscht das Recht des Stärkeren.« 446 Eine solche Naturinterpretation wird heute von radikalen Marktliberalen dazu verwendet, um jeden politischen Einfluss auf ein völlig autonom verstandenes Marktgeschehen zu unterbinden und um den Menschen weiszumachen, dass die Solidarsysteme der gesellschaftspolitischen Entwicklung nicht mehr im Zeitalter des Individualismus tragen würden. So kann man in den USA eine Begrenzung der Tabakindustrie im Namen natürlicher schrankenloser ökonomischer Herrschaft des Menschen ablehnen. Naomi Oreskes berichtet von dieser Haltung in einem Zeit-Interview vom 3. 11. 2014: »Jede Intervention in den Markt bringe das Land auf eine Rutschbahn zur kommunistischen Diktatur.« 447 Schließlich schlägt die verkürzende Interpretation der Natur durch Darwin auch auf den Menschen zurück. Der Mensch versteht sich nur noch als Konkurrent, der mit anderen ums Überleben kämpft. Es gibt keinen Gesamtzusammenhang, in dem die Menschen von Natur aus stehen, keine Naturrecht, sondern nur die individuellen Interessen. Jeder muss selbst schauen, wo er bleibt. Der ganze Lernprozess, der seit dem Manchesterliberalismus mit dessen radikaler Ausbeutung der Arbeitenden gelaufen ist und eben diese Ausbeutung durch politische und soziale Maßnahmen eingeschränkt hat, wird durch die Rückübertragung des »survival of the fittest« im Zeitalter der Globalisierung rückgängig gemacht.

Finanzbuch Verlag 2007. Michael Kopatz, a. a. O., S. 376. 447 Zitiert von M. Kopatz, a. a. O., S. 377. Zum weiteren Hintergrund dieses Marktfundamentalismus vgl. Naomi Oreskes und Erik M. Conway, Die Machiavellis der Wissenschaft. Das Netzwerk des Leugnens, Weinheim 2014; ferner: George Soros, The Capitalist Thread, in: Atlantic Monthly 279, Febr. 1997, S. 45–58. 445 446

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Für die Entsolidarisierung der Sozialsysteme ist u. a. die Riesterrente ein Beispiel. Michael Kopatz stellt fest: »Ganze Gesellschaftsverträge wie die auf Umlage basierte Rentenversicherung wurden ausgehöhlt. Selbst sozialdemokratische Politiker sahen sich getrieben und konzipierten die Riester-Versicherung. Sie war der erste Schritt zum ›jeder für sich selbst‹ und lenkt jährlich zig Milliarden in den Kapitalmarkt und damit in die Wachstumsspirale.« 448 Es ist also durchaus aufgeklärt, mit Aristoteles an einen anderen Prozesscharakter zu erinnern. 449 Denn der Prozesscharakter der Natur lässt sich mit Aristoteles in seinen strukturellen nicht-ideologischen Grundlagen denken, wobei auf das durch die Form untrennbare Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit mit dem in der Erfahrung beobachtbaren Wechsel zurückgegriffen werden kann. Die miteinander im konkreten Fall der Existenz eines Seienden durch die Form verbundenen Verhältnisse von Möglichkeit und Wirklichkeit liegen als allgemeine Struktur der Wirklichkeit der Naturgeschichte zugrunde. Die Natur ist kein unbewegtes Sein, wie Parmenides dachte, sondern sie ist in Bewegung. Der Bewegungsvorgang ist jedoch, sofern er ohne Form und Ziel begriffen wird, beim naturhaft Seienden ohne den Bezug auf ein entsprechendes Ziel, und das ist die entsprechende Wirklichkeit, die zur Möglichkeit gehört, als völlig offen. Er ist ein bloßer Denkraum. Mit diesem Absehen von den aristotelischen Seinsbestimmungen erreichen die Abstraktionen des evolutionären Möglichkeitsraums eine völlige Leerheit, mit der nichts mehr begriffen werden kann. Aristoteles gibt folgende Definition der Bewegung: Sie ist »die Wirklichkeit des der Möglichkeit nach Seienden, insofern es ein solches ist«. 450 Als illustrierendes Beispiel für den Bewegungsvorgang nennt Aristoteles das Abmagern, das erst mit dem Erreichen des vom Arzt gewünschten Zustandes ein in sich bestimmter Vorgang wird. Das Ziel des Vorgangs liegt außerhalb seiner selbst 451 und wird vernünftigerweise von außen, nämlich vom Arzt vorgegeben. Die Wirklichkeit eines im Werden befindlichen Seienden wird durch die Form, die ein InsWerk-Setzen bedeutet, zusammen mit der Materie erreicht. Kopatz, ebenda. Ein Buch, das zu einem gründlicheren Nachdenken über die Aufgeklärtheit von Aristoteles auffordert, hat aktuell Arbogast Schmitt, Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung?, Heidelberg 2016. 450 Aristoteles, Phys. III, 1; 201 a 9–11. 451 Aristoteles, Met. 1048 b 18–35. 448 449

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Wirklichkeit heißt, dass das Lebewesen seiner geistigen Form und seinem Ziel nach real ist. Wenn Bewegung aktuell ist, dann durch das sich gerade Bewegende selbst. Wenn dieses aufhört, sich zu bewegen, dann hat es offensichtlich den Anfang nicht aus sich selbst. Es muss ein aktueller Wirkzustand vorausgegangen sein. Jedes einzelne Lebewesen kann nur werden, indem eine das Ganze der Art antizipierende Form über ihr Streben nach dem Göttlichen bewegt. Die Gesamtheit aller Glieder dieser Reihe, die nur bewegen, wenn sie selbst bewegt werden, kann in ihrer Bewegung nur existieren und dauern, wenn am Anfang eine Bewegungsursache steht, die immer und ewig existiert. Die ganze Natur kann als bewegte nur existieren und wirken, wenn es einen einzigen unbewegten Beweger gibt, der alle Formen über deren Strebedynamik angestoßen hat. Aristoteles erklärt: »Da aber dasjenige, was bewegt wird und bewegt, ein Mittleres ist, so muss es auch etwas geben, das, ohne bewegt zu werden, selbst bewegt, das ewig, eine Substanz (ousia) und Wirklichkeit ist.« 452 Das erste substantielle Seinsprinzip, der unbewegte Beweger ist nun für Aristoteles die letzte Bewegungs- und Zielursache im Universum. Im XII. Buch der Metaphysik erklärt Aristoteles, dass von einem solchen Prinzip Himmel und Natur abhängen, 453 dass das erste substantielle Seinsprinzip (die ousia) die Himmelssphäre und alle anderen Dinge bewegt. 454 Ein solcher Zustand muss aber immerwährend bewegen; sonst hätten wir keinen aktuellen Wirkzustand, der letztlich verursacht. Er muss in die Reihe der möglichen und wirklichen Zustände hineinwirken, muss aber selbst in sich immer wirklich sein. Das gesuchte Prinzip kann nicht als die Verwirklichung einer ursprünglicheren Möglichkeit verstanden werden. Wenn ein Seiendes keine Wirklichkeit aufweist, dann hat es auch keine Möglichkeit. Die theoretische Selbstüberforderung der Evolutionstheorie wird von Andreas Weber, wenngleich mit einem anderen Lösungsvorschlag, folgendermaßen beschrieben: »Doch die Frage blieb: Was gibt den Milliarden von hochreaktiven Substanzen in einer einzigen Zelle ihre Form? Was bringt sie dazu sich sinnvoll zu verhalten? Was ordnet die Maschinerie des Lebendigen, die doch auf unvorstellbar engem Raum

452 Aristoteles, Met. XII,7 1072 a 24–25; nach der Übersetzung von Michael Bordt, Aristoteles’ Metaphysik XII, Darmstadt 2006, S. 99. Meine Interpretation des 12. Buches der Metaphysik ist Michael Bordt zu Dank verpflichtet. 453 Aristoteles, Met. XII, 7; 1072 b 13. 454 Aristoteles, ebenda, 1072 b 3.

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eine unbegreifliche Vielfalt an Prozessen und Stoffen vorhält? Welche Kraft der Materie verband ihre Elemente zur ersten lebenden Zelle?« 455 Wenn die reduktionistische Evolutionstheorie mit der materiellen Wirklichkeit in Wahrheit nur Möglichkeiten voraussetzt, wie kann sie dann die wirklich stattfindende Bewegung erklären? Oder sie geht davon aus, dass alles schon da war und sich bewegt. Woher kommt dann der Anfang der Bewegung? Die Evolutionstheorie braucht einen realen Anfang, der den Anstoß der evolutionären Bewegung bildet und gleichzeitig das Ziel enthält. Wenn die Evolution an sich Materie sein soll und in sich die Bedingungen des Anfangs und Ziels aktuell enthielte, dann wäre sie das, was die Philosophie schon immer unter Gott verstanden hat, nur mit der Behauptung, dass sie sowohl ursprüngliche Wirklichkeit als auch reine Möglichkeit wäre. Dies aber ist ein eklatanter Widerspruch. Wenn die Evolutionstheorie das Werden und Vergehen zu einem Ganzen erklärt und damit einen unbestimmten Begriff der Natur auszeichnet, dann verlegt sie den Bewegungsgrund in diese selbst und übersieht, dass ein Prinzip außerhalb der Natur des Ganzen für die Ordnung der Teile innerhalb verantwortlich ist. Wie wir im obigen Abschnitt 1) gesehen haben, vergleicht Aristoteles in der Metaphysik die Weise, wie die Natur »das Gute und das Beste hat« mit den Ordnungsverhältnissen von Heer und Feldherrn, von Hauswirtschaft und Freien. Der erste Beweger ist für die Ordnung und deren Einheit verantwortlich. In der Natur ist alles, so heißt es im Buch Lambda der Metaphysik, »in gewisser, doch nicht in gleicher Weise zusammengeordnet, sogar das, was schwimmt und fliegt und Pflanzen; und es ist nicht so, dass das eine zum anderen in keiner Beziehung steht, sondern es besteht eine. Denn alles ist auf Eines hin zusammengeordnet.« 456 Die Zielsetzung des unbewegten Bewegers, das Gute und Beste für die Natur zu wollen, zeigt deutlich, dass dieser mehr sein muss als ein unveränderlicher Himmelsbeweger, der den in Kreisläufen bewegten Fixsternhimmel antreibt. 457 Auch sehen wir daran, dass das Wirken des unbewegten Bewegers nicht vor die Alternative, eine kausale Abfolge oder ein in sich vollkommenes Ganzes zu

455 Andreas Weber, Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften, Berlin 2007, S. 51. 456 Aristoteles, ebenda, 1075 a 15–19. 457 M. Bordt, Why Aristotles’s God is not the Unmoved Mover, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy Vol. 40, Oxford 2011, S. 91–109.

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wollen, gestellt wird. Sein Wirken gilt dem Gutsein des Einzelnen als auch dem Prozess im Ganzen. Das Werden gehört damit von vornherein auch zur Metaphysik und nicht etwa nur zur Physik. Wie Platon hat Aristoteles ein monotheistisches Gottesbild. Die Wirkung des ersten Bewegers zeigt sich nicht nur im Anstoß der Rotation des Fixsternhimmels, sondern als die Wirkaktualität (energeia) der ersten Substanz als solcher. Um diese Wirkaktualität ganz ermessen zu können, ist auf das Sein der ersten alles bewirkenden Substanz einzugehen. Bei dieser ist jede Art von Möglichkeit ausgeschlossen. Die lustvollen menschlichen Tätigkeiten wie Wahrnehmen und Denken werden von der Art zu leben der ersten Substanz bei weitem übertroffen, die über eine immerwährende Vernunfttätigkeit verfügt. Für die Vernunft aber gilt immer: »Die Vernunfttätigkeit an sich geht auf das an sich Beste, die höchste auf das Höchste.« 458 Um die Natur des ersten unbewegten Bewegers weiter zu bestimmen, greift Aristoteles auf menschliche Erkenntnisstrukturen zurück; denn innerhalb der der menschlichen Seele möglichen Tätigkeiten ist das Erkennen das Beste. Hier gilt: »Die Vernunft wird von dem Objekt der Vernunft bewegt; in ihr nimmt die Substanz die erste Stelle ein.« 459 Sie ist dasjenige, was als Erstes ausgesagt werden muss, wenn Wirklichkeit ausgesagt wird. Beim praktischen Streben gibt es eine ähnliche Vorordnung. Es geht, wie es Aristoteles in der Nikomachischen Ethik ausführt, auf das Gute. Die Substanz und das Gute als Ziele der Vernunft gehören zu den unbewegten Dingen (en tois akinetois), 460 wie sich immer wieder zeigt, wenn wir etwas anstreben. Das Göttliche unserer Vernunft liegt im Erkennen: »denn sie wird ein Objekt der Vernunft, indem sie es berührt und denkt, sodass Vernunft und Objekt der Vernunft dasselbe werden.« 461 Während wir uns nur einen kurzen Moment der Vernunftidentität erfreuen können, verhält sich der Gott immer so. Aristoteles sagt: »Und Leben wohnt in ihm; denn der Vernunft Wirklichkeit (wirkliche Tätigkeit) ist Leben, jener aber ist die Wirklichkeit (Tätigkeit), seine Wirklichkeit (Tätigkeit) an sich ist bestes und ewiges Lebens. Der Gott sagen wir, ist das ewige und beste Lebewesen, sodass dem Gott beständige Ewigkeit zukommt;

458 459 460 461

Aristoteles, ebenda, 1072 b 18–20. Aristoteles, ebenda, 1072 a 30. Aristoteles, ebenda, 1072 b 1. Aristoteles, ebenda, 1072 b 19–22.

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denn dies ist der Gott.« 462 Das erste Prinzip, sein Unbewegt-bewegend-Sein, wird damit durch das dauernde Erkennen und das beste Leben ergänzt. Aristoteles setzt das erschlossene metaphysische Seinsprinzip mit dem religiös verehrten Gott gleich, wie er bereits vorher in der Philosophie Platons in den Dialogen Eutyphron und Politeia als einzigartig und gut erkannt wurde. So sehr der Hinweis auf die metaphysischen und religiösen Grundlagen in der griechisch humanistischen Tradition und im Christentum von einem aktuellen Wissenschaftsverständnis her, das eher zu einer von menschlicher Allmacht konstruierten Natur neigt, befremden mag, so sehr muss neben der modernen genetisch-kausalen Betrachtung die aus ihrem Grund folgende, aber von ihr übersehene Ausrichtung der Natur auf das Gute und Beste betont werden. Die heute durch den Neodarwinismus populär gewordene Einsicht, dass die Natur ein sowohl nach dem Guten als auch nach dem Schlechten hin offenes Möglichkeitsfeld ist, ermöglicht der Wissenschaft mit gesellschaftlicher Zustimmung deren grenzenlose Manipulationsmöglichkeiten. Die in der aktuellen Genetik herrschende offene Forschungssituation, auf die oben in Abschnitt 11.4 hingewiesen wurde, darf nicht von naturalistischen »Metaphysikern« missbraucht werden. Dass die Natur dadurch, dass sie das Gute und Beste verfolgt, dem Menschen Grenzen setzt, daran ist zu erinnern. Aristoteles hat diese Einsicht, die Naturphilosophie und Metaphysik vereint, in einem Text seiner Schrift Über Werden und Vergehen formuliert, den wir nochmals uns vor Augen halten wollen: »Da nach unserer Behauptung in allen Dingen die Natur immer nach dem Besseren strebt, besser aber das Sein als das Nichtsein ist […] dieses aber unmöglich in allem gegeben sein kann, weil es in weiterem Abstand zum Prinzip steht, füllte der Gott in der noch übrigbleibenden Weise das Ganze auf, indem er das Werden unablässig machte.« 463

462 Aristoteles, Metaphysik 1072 b 26–30; hier in der Übersetzung von Hermann Bonitz und Horst Seidl, in: Aristoteles, Metaphysik, hg. von Horst Seidl, zweiter Halbband, Hamburg 1980, S. 257. 463 Aristoteles, Über Werden und Vergehen, hg. von Thomas Buchheim, Berlin 2010, S. 337 b 27–32.

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13. Schlussbetrachtung

Aus der Geschichte der Menschen zu lernen, ist nicht die Aufgabe der Naturwissenschaften, wohl aber die der Gesellschaften, zumindest sollten sie es tun. Das aufgeklärte 19. Jahrhundert mit seinen großen naturwissenschaftlichen Erfolgen und seinen Fortschrittserwartungen gebiert neben dem imperialistischen Nationalismus auch den Sozialdarwinismus und endet in den beiden Weltkriegen mit 70 Millionen Toten. Ein politisch einflussreicher wissenschaftlicher Aufklärer war August Comte (1798–1857). Sein wissenschaftliches Fortschrittsdenken wurde durch das Drei-Stadien-Gesetz bekannt. Diese der Aufklärung entstammende Fortschrittstheorie interpretiert die Geschichte der Menschheit in drei Stadien: dem ersten, dem theologischen, folgt das metaphysische, das wiederum vom dritten Stadium, dem positiven abgelöst wird. Dieses dritte Stadium beruht auf der Lehre, dass nur Beobachtungen und Tatsachen die Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnis sein können. Nach Florence Braunstein und Jean-Francois Pépin versteht Comte unter seiner »positiven Philosophie« »die Gesamtheit der wissenschaftlichen Erkenntnisse des Universums«. 464 Alle wissenschaftlichen Gesetze sind auf soziologische zurückführbar. Bei Karl Marx finden wir die ebenso einseitige Rückführung der Einsichten des Bewusstseins auf ökonomische Prozesse. Über die ökologische Rücksichtnahme und Schonung der Natur findet sich weder bei Comte noch bei Karl Marx noch bei der gesamten wissenschaftlichen Aufklärung des 19. Jahrhunderts auch nur ein Gedanke. Während der Marx’sche Geschichtsdeterminismus von Verelendung und universeller sozialer Revolution inzwischen obsolet geworden ist, bestimmt die nicht minder problematische Fortschrittstheorie von Comte den herrschenden Geist. Aus dem Zusammenwirken von Wissenschaft, Technik und Markt resultiert, so meint 1 Kilo Kultur, deutsche Übersetzung der französischen Ausgabe von 2014, München 2017, S. 887.

464

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Schlussbetrachtung

man, die Mehrung des universellen Wohlstands der Menschheit. Indem die Wissenschaften auf der Basis ihrer uneingeschränkten Autonomie stets neue nützliche Erfindungen in den Kreislauf von Technik und Markt einspeisen, gilt das Fortschrittsgesetz von Comte unangefochten. Geändert haben sich gegenüber dem Drei-Stadien-Gesetz von Comte nur der Stellenwert und die Rangfolge der Wissenschaften. Die Einsichten von Comte sind auch heute in ihrer konsequenzenreichen Stoßrichtung, der Autonomie der Wissenschaften die Wahrheitsfindung zu überlassen, aktuell. An die Stelle der bei Comte höchsten Wissenschaft, der Soziologie, sind die Wissenschaften der Biologie, der Physik und der Künstlichen Intelligenzforschung getreten. In diesen begibt sich eine durch die ökonomische Dynamik befeuerte Wissenschaft daran, »den Begriff der Natur neu zu definieren«. So heißt es in dem Zukunftsbuch Bang: Die Zukunft der Evolution. Wie die Konvergenz der Spitzentechnologien den Menschen zum allmächtigen Schöpfer macht: »Die Evolution hat weder zum Ziel, Individuen zu schützen, noch den Menschen als Krone der Schöpfung zu präsentieren. Sie hat überhaupt kein Ziel.« Und: »Der Mensch wird von Gen an aufgebessert und mit Sinneserweiterungen und Schnittstellen fit für die Zukunft gemacht.« 465 Es ist nicht zu übersehen, dass auch diese brillant-moderne Fortschrittstheorie auf der unbegrenzten Ausbeutung der Materie der Natur beruht und deren Würde und Eigensein missachtet. Die in dem vorliegenden Buch unternommene Betrachtung der Natur und des Menschen soll helfen, utopische Selbsttäuschungen zu vermeiden und Phantasien des größten erreichbaren Fortschritts zugunsten des Guten und Besten, das die Natur schon ist, zu unterlassen. Es sollte in der Gegenwart nicht nur darum gehen, festzustellen, welche Natur wir brauchen, sondern auch darum, welche Achtung und Unterordnung die Natur von uns verlangt.

465 Bang: Die Zukunft der Evolution. Wie die Konvergenz der Spitzentechnologien den Menschen zum allmächtigen Schöpfer macht, verfasst von Norbert Bolz, David Bosshart, Gerd Folkers, Peter Wippermann und Stefan Kaiser, Gottlieb Duttweiler Indstitut 2007, S. 4, 39, 5.

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Literaturverzeichnis

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