Der 'Apostel der Rache': Nietzsches Paulusdeutung [Reprint 2012 ed.] 9783110891362, 3110175231, 9783110175233

Friedrich Nietzsche understood himself to be the great adversary of Christianity. In The Antichrist he escalated his cri

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Der 'Apostel der Rache': Nietzsches Paulusdeutung [Reprint 2012 ed.]
 9783110891362, 3110175231, 9783110175233

Table of contents :
Einleitung
Erster Teil. Paulusforschung und Paulusbild im 19. Jahrhundert
1. Die „Entwicklung des paulinischen Lehrbegriffs“. Die Erforschung der paulinischen Theologie und ihre Einordnung in die Geschichte des frühen Christentums
1.1. Die Anfänge der Erforschung der paulinischen Theologie
1.2. Paulus, der Anti-Apostel. Baurs Entwicklung der paulinischen Theologie als Gegensatz zur Lehre der Urapostel
1.3. Die Korrektur des Baurschen Geschichtsbildes in der Ritschl-Schule und ihrem Umfeld (Reuß, Ritschl, Renan, Weizsäcker, Harnack)
1.4. Die Entdeckung der hellenistischen Einflüsse in der paulinischen Theologie
1.5. Paulus, der Jude. Die paulinische Theologie nach Franz Overbeck
1.6. Paulus als Synkretist. Ein Ausblick in das Paulusbild der Religionsgeschichtlichen Schule
2. Die Entdeckung des „Menschen“ Paulus und die psychologische Erforschung seines Damaskuserlebnisses
2.1. Einleitung
2.2. Die Anfänge der Erforschung der „Individualität“ des Apostels
2.3. Die erste Kritik am Offenbarungscharakter des Damaskuserlebnisses durch David Friedrich Strauß
2.4. Die psychologische Erklärung des Damaskuserlebnisses durch Holsten und seine Darstellung des paulinischen Charakters
2.5. Die Debatte um das paulinische Damaskuserlebnis (Beyschlag, Holsten, Lüdemann)
2.6. Die weitere Entwicklung des Charakterbildes des Paulus (Renan, Overbeck, Lüdemann)
3. Das Thema „Paulus und Jesus“ in der Theologie des 19. Jahrhunderts
3.1. Einleitung
3.2. Paulus, der Apostel Jesu Christi. „Paulus und Jesus“ bei Ferdinand Christian Baur
3.3. Die Debatte um den wahren „Stifter des Christentums“ in der Theologie nach Baur
3.4. Paulus als Vater der grausamen Theologie. „Paulus und Jesus“ bei Ernest Renan
3.5. Paulus, der „Unberufene“. Das Paulusbild Paul de Lagardes
3.6. „Paulus und Jesus“ bei Franz Overbeck
3.7. „Paulus und Jesus“ in der Religionsgeschichtlichen Schule
Zweiter Teil. Die frühen Paulusdeutungen Nietzsches
1. Der „Verfolger Gottes“ Paulus in „Der Wanderer und sein Schatten“
2. Die Überwindung des Gesetzes aus dem Geist des Ressentiments. Paulus im 68. Aphonsmus der „Morgenröthe“
2.1. Entstehung und Anliegen der „Morgenröthe“
2.2. Die Vernichtung des Gesetzes aus dem Geist des Ressentiments
2.3. Nietzsches Rezeption Lüdemanns und seine Aufzeichnungen im Nachlaß
2.4. Nietzsches Deutung des paulinischen Charakters
2.5. Paulus als Schöpfer eines neuen Machtgefühls
2.6. Das Damaskuserlebnis des Paulus
Dritter Teil Paulus im „Antichrist“
1. Philosophische Polemik. Entstehung, Anliegen und Stil des „Antichrist“
2. Das Evangelium der Liebe. Der „Typus Jesus“ im „Antichrist“ als Antitypus zu Paulus
2.1. Der Fluch der Liebe. Die frühen Jesusdeutungen Nietzsches
2.2. Liebe ohne Ressentiment. Nietzsches Jesusdeutung im „Antichrist“
2.3. Impulse für Nietzsches neues Jesusbild im „Antichrist“
3. Das „Dysangelium“. Die Paulusdeutung Nietzsches im „Antichrist“
3.1. Die Erwählung der Schwachen im Symbol „Gott am Kreuz“
3.2. Paulus als Typus des „Priesters“
Vierter Teil – „Einer trage die Last des Anderen“. „Einer trage die Last des Anderen“. Perspektiven für ein nicht-moralisches Christentum aus der paulinischen Rechtfertigungslehre
Verzeichnis der zitierten Literatur
Quellen
Forschungsliteratur zu Friedrich Nietzsche
Exegetische Forschungsliteratur
Sonstige Forschungsliteratur
Personenregister
Begriffsregister

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Daniel Havemann Der ,Apostel der Rache'

w DE

G

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von

Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von

Günter Abel (Berlin) Josef Simon (Bonn) · Werner Stegmaier (Greifswald)

Band 46

2002 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Der ,Apostel der Rache' Nietzsches Paulusdeutung von

Daniel Havemann

2002 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Günter Abel Institut für Philosophie TU Berlin, Sekr. TEL 12/1 Ernst-Reuter-Platz 7, D-10587 Berlin Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar A der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Prof. Dr. Werner Stegmaier Ernst-Moritz-Arndt-Universität Institut für Philosophie Baderstr. 6-7, D-17487 Greifswald Redaktion Johannes Neininger, Aschaffenburger Str. 20, D-10779 Berlin

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017523-1 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2002 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort Diese Abhandlung wurde im Frühjahr 2001 von der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald als Dissertation angenommen. Sie wurde im Sommer 2000 abgeschlossen. Für den Druck wurde sie geringfügig geändert. Danken möchte ich Prof. Bernd Hildebrandt, der mit viel Geduld und einem offenen Herzen für diesen theologisch-philosophischen Grenzgang die Arbeit aus systematisch-theologischer Perspektive begleitet hat. Ebenso danke ich Prof. Werner Stegmaier, der mich schon früh für die Philosophie begeistert und mein Interesse für Friedrich Nietzsche geweckt hat. Er hat den Fortgang der Arbeit über die Jahre verfolgt und viele Anregungen zu ihr beigetragen. Dank verbindet mich auch mit Prof. Günter Haufe, mit dem ich schon als Student und später als sein Assistent im Neuen Testament gemeinsam an Paulustexten arbeiten durfte. Den Professoren Günter Abel, Josef Simon und Werner Stegmaier danke ich für die Aufnahme in die von ihnen herausgegebene Reihe „Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung". In die Zeit der Fertigstellung des Buches für die Drucklegung fiel das Erscheinen des umfangreichen Werkes „Friedrich Nietzsches ,Der Antichrist'. Ein philosophisch-historischer Kommentar" von Andreas Urs Sommer mit wertvollen Hinweisen im einzelnen. Es konnte nicht mehr umfassend eingearbeitet werden und hat den Haupttext nicht verändert, wird aber in den Fußnoten mehrfach diskutiert. Jördenstorf, im September 2002

Daniel Havemann

Inhaltsverzeichnis Einleitung

1 Erster Teil Paulus fors chung und Paulusbild im 19. Jahrhundert

1. Die „Entwicklung des paulinischen hehrbegriffs ". Die Erforschung derpaulinischen Theologie und ihre Einordnung in die Geschichte desfrühen Christentums 1.1. Die Anfange der Erforschung der paulinischen Theologie 1.2. Paulus, der Anti-Apostel. Baurs Entwicklung der paulinischen Theologie als Gegensatz zur Lehre der Urapostel 1.3. Die Korrektur des Baurschen Geschichtsbildes in der Ritschl-Schule und ihrem Umfeld (Reuß, Ritsehl, Renan, Weizsäcker, Harnack) 1.4. Die Entdeckung der hellenistischen Einflüsse in der paulinischen Theologie 1.4.1. Adelbert Lipsius 1.4.2. Carl Holsten 1.4.3. Hermann Lüdemann 1.4.4. Otto Pfleiderer 1.5. Paulus, der Jude. Die paulinische Theologie nach Franz Overbeck 1.6. Paulus als Synkretist. Ein Ausblick in das Paulusbild der Religionsgeschichtlichen Schule 2. Die Entdeckung des, Renschen" Paulus und die psychologische Erforschung seines Damaskuserlebnisses 2.1. Einleitung 2.2. Die Anfange der Erforschung der „Individualität" des Apostels 2.3. Die erste Kritik am Offenbarungscharakter des Damaskuserlebnisses durch David Friedrich Strauß 2.4. Die psychologische Erklärung des Damaskuserlebnisses durch Holsten und seine Darstellung des paulinischen Charakters 2.5. Die Debatte um das paulinische Damaskuserlebnis (Beyschlag, Holsten, Lüdemann) 2.6. Die weitere Entwicklung des Charakterbildes des Paulus (Renan, Overbeck, Lüdemann)

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Vili

Inhaltsverzeichnis

3. Das Thema,¡Paulus und Jesus" in der Theologe des 19. Jahrhunderts 3.1. Einleitung 3.2. Paulus, der Apostel Jesu Christi. „Paulus und Jesus" bei Ferdinand Christian Baur 3.3. Die Debatte um den wahren „Stifter des Christentums" in der Theologie nach Baur 3.4. Paulus als Vater der grausamen Theologie. „Paulus und Jesus" bei Ernest Renan 3.5. Paulus, der „Unberufene". Das Paulusbild Paul de Lagardes 3.6. „Paulus und Jesus" bei Franz Overbeck 3.7. „Paulus und Jesus" in der Religionsgeschichtlichen Schule

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Zweiter Teil Die frühen Paulusdeutungen Nietzsches 1. Oer „ Verfolger Gottes ". Paulus in „Oer Wanderer und sein Schatten ". 2. Die Überwindung des Gesetzes aus dem Geist des Assentiments. Paulus im 68. Aphorismus der ¡JÁorgenrothe" 2.1. Entstehung und Anliegen der „Morgenröthe" 2.2. Die Vernichtung des Gesetzes aus dem Geist des Ressentiments 2.3. Nietzsches Rezeption Lüdemanns und seine Aufzeichnungen im Nachlaß 2.4. Nietzsches Deutung des paulinischen Charakters 2.5. Paulus als Schöpfer eines neuen Machtgefühls 2.6. Das Damaskuserlebnis des Paulus 2.6.1. Wahrheit durch Offenbarung. Die Bedeutung des Offenbarungscharakters des Damaskuserlebnisses 2.6.2. Inspiration und Offenbarung. Paulus und Nietzsche

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Inhaltsverzeichnis

IX

Dritter Teil Paulus im,Antichrist" 1. Philosophische Polemik. Entstehung, Anliegen und Stil des „Antichrist" 2. Das Evangelium der Liebe. Der „Typus Jesus" im „Antichrist" als Antitypus Paulus 2.1. Der Fluch der Liebe. Die frühen Jesusdeutungen Nietzsches 2.2. Liebe ohne Ressentiment. Nietzsches Jesusdeutung im „Antichrist" 2.2.1. Jesus als „Typus" und die Möglichkeit seiner Darstellung 2.2.2. Der „Typus Jesus" und sein Evangelium der Liebe 2.3. Impulse für Nietzsches neues Jesusbild im „Antichrist" 2.3.1. Die Bedeutung Dostojewskijs für das Jesusbild Nietzsches 2.3.2. Nietzsches Lektüre Tolstois und seine neue Sicht auf Jesus und das Christentum 2.3.3. „Held" und „Genie". Nietzsches Lektüre des „Leben Jesu" von Renan 3. Das „Dysangelium". Die Paulusdeutung Nietzsches im )rAntichrist". 3.1. Die Erwählung der Schwachen im Symbol „Gott am Kreuz" 3.1.1. Nietzsches Deutung des paulinischen Christentums als Moral der Schwachen 3.1.2. Schwachheit und Kreuz bei Paulus 3.2. Paulus als Typus des „Priesters" 3.2.1. Der „Antichrist": Eine Streitschrift gegen den „Priester" Paulus 3.2.2. Nietzsches Interpretation des „Priesters" 3.2.3. Die Dogmatisierung und Moralisierung des Evangeliums durch Paulus 3.2.4. ^Anti-priesterliche' Formen des Schreibens 3.2.5. Die Rolle des „Priesters" Paulus im Nachlaß im Verhältnis zum Text des „Antichrist" 3.2.6. Die Bedeutung Wellhausens für Nietzsches Deutung des „Priesters" 3.2.7. Judentum und Christentum: Die Aufhebung des „Priesters" im „priesterlichen Volk"

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X

Inhaltsverzeichnis



Vierter Teil „Einer trage die Last des Anderen"

„Einer trage die Last des Anderen". Perspektiven fiirein nicht-moralisches Christentum aus derpaulinischen Rechtfertigungslehre

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Verzeichnis der zitierten Literatur Quellen Forschungsliteratur zu Friedrich Nietzsche Exegetische Forschungsliteratur Sonstige Forschungsliteratur Personenregister Begriffsregister

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Einleitung Nietzsche hat sich als der große Widersacher des Christentums verstanden. Besonders in seinem Spätwerk hat er die Gegnerschaft zum Christentum gesucht und provoziert. Es ist verständlich, daß die Theologie Nietzsche zunächst als eine Bedrohung empfand. Die ,Schlagworte', in die er seine Moralkritik zusammengefaßt hatte, wurden populär. Seine „Umwertung aller Werte" erschien als ausdrücklicher Versuch, das christliche Wertesystem durch ein neues zu ersetzen. In Nietzsche, der den ,Tod Gottes' proklamiert hatte, sah man den Atheismus der Moderne gewissermaßen personifiziert'.1 Nietzsches Moralkritik machte es schwer, ihr zu begegnen, weil sie die bisherigen Möglichkeiten der Auseinandersetzung selbst in Frage stellte. Sie bestritt die Basis einer gemeinsamen ,Wahrheit', von der aus man über ,Recht' und .Unrecht' seiner Kritik hätte entscheiden können. Nietzsches Angriff zwang die Theologie in die Rolle der Verteidigung, seine Polemik provozierte auch moralische Gegenreaktionen oder christliche Vereinnahmung.2 Nach dem 2. Weltkrieg ist die theologische Auseinandersetzung mit Nietzsche nicht wieder nachhaltig in Gang gekommen. Wegen seiner Okkupation durch die nationalsozialistische Ideologie galt Nietzsche nun (nicht nur in der Theologie) als moralisch .überfuhrt'. Doch während die Philosophie Nietzsche langsam für sich (wieder)entdeckte, gab es in der Theologie dafür kaum neue Impulse.3 Es ist auffallend, daß die maßgebliche Auseinan1 „Im allgemeinen galt Nietzsche der Theologie als das, was er sein wollte: als der radikalste Feind des Christentums. Er fungierte damit als Repräsentant der suggestiven und polemischen Grundtendenz der Moderne [...]." Zur theologischen Auseinandersetzung mit Nietzsche vgl. Köster, Nietzsche-Kritik und Nietzsche-Rezeption in der Theologie des 20. Jahrhunderts, Zit. 671. 2 Zu denen, die in jener Zeit die theologische Herausforderung durch Nietzsche ernst nahmen und auf sie zu reagieren versuchten, gehört Dietrich Bonhoeffer. Nach Köster kann Bonhoeffers „Ethik", auch wenn sie sich kaum ausdrücklich mit Nietzsche auseinandersetzt, als christliche „Antwort" auf Nietzsche verstanden werden. (Vgl. Köster, Nietzsche als verborgener Antipode in Bonhoeffers „Ethik".) 3 Die „Gott-ist-tot-Theologie" hat Nietzsches Kritik des Christentums — in ihrer Reduktion auf die Parole vom „Tod Gottes" - selbst zur Grundlage der Theologie gemacht. Sie hat sich

2

Einleitung

dersetzung mit Nietzsches Christentumskritik fast ausschließlich von Philosophen geführt wurde.4 In den letzten Jahrzehnten hat sich in der Nietzscheforschung viel bewegt.5 Nicht zuletzt durch die neuen Möglichkeiten der „Kritischen Gesamtausgabe" wurde sein Werk unter vielen Aspekten wissenschaftlich erforscht und in vielfältige Beziehungen gestellt. Auch wenn die Ergebnisse kein homogenes Gesamtbild ergeben (was bei einem nicht-systematischen Denker wie Nietzsche auch nicht zu erwarten ist), so haben sie doch das .Nietzschebild' entscheidend verändert. Die neuere Nietzscheforschung hat sich dem Nietzsche hinter den Schlagworten zugewandt. Sie hat sich auch von dem u.a. durch Heidegger bestimmten Nietzschebild freigemacht, das Nietzsche als .letzten Metaphysiker' begriffen hatte. Der nicht-systematische Stil seiner Schriften wurde nun selbst als Teil seines Denkens interpretiert. Man begriff, daß Nietzsche nicht als .Lehrer' einer neuen .Wahrheit' begriffen werden wollte, sondern einen allgemein begriffenen Wahrheitsbegriff selbst kritisierte. Besonders in den Blick gekommen sind Nietzsches neue Wege, das .Verstehen' auf eine nicht allgemeine Weise zu verstehen und damit dem Verstehen des einzelnen selbst gerecht zu werden.6 Seine .Lehren', die als Schlagworte berühmt wurden, werden nun immer mehr nicht als neue .Lehren' und .Wahrheiten', sondern als .Lehren' für den Umgang mit .Lehren' und .Wahrheiten' verstanden.7 In diesem Zusammenhang spielt Nietzsches Moralkritik eine wesentliche Rolle. Diese Bewegungen in der neueren Nietzscheforschung sind in der Theologie nur wenig aufgenommen und diskutiert worden. Insofern ist auch die Herausforderung durch die Christentumskritik Nietzsches für die Theologie eine andere als früher. Dieser neuen Herausforderung durch Nietzsche muß sich die Theologie neu stellen. damit Nietzsches aber mehr bemächtigt, als daß sie sich wirklich mit ihm auseinandergesetzt hätte. 4 Hier wären u.a. Kaufmann, Jaspers und Grau zu nennen. 5 Vgl. dazu bes. Simon, Das neue Nietzsche-Bild. Zu den neuen Wegen der französischen Nietzsche-Interpretation vgl. Künzli, Nietzsche und die Semiologie; zur Interpretation Nietzsches in der Derrida-Schule am Beispiel von Kofmann und Pautrat vgl. auch Eifler, Zur jüngeren französischen Nietzsche-Rezeption. Einen kurzen Überblick über die Rezeptions- und Interpretationsgeschichte Nietzsches bis in die Gegenwart bietet Gerhardt, Hundert Jahre nach Zarathustra, 188ff. 6 Dies geschieht besonders unter den Stichworten „Zeichen" und „Interpretation". Vgl. dazu u.a. Simon, Verstehen ohne Interpretation? 7 Vgl. Stegmaier, Philosophie als Vermeiden einer Lehre, 215f., 226ff. Es gibt besonders in der französischen Nietzscheforschung auch Tendenzen, die Bedeutung der Philosophie Nietzsches ganz auf deren .Form* zu reduzieren. Vgl. dazu Stegmaier, Genealogie der Moral, 55, 214.

Einleitung

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Die vorliegende Abhandlung soll hierzu einen Beitrag leisten. Ihr Gegenstand ist Nietzsches Deutung des Apostels Paulus als Teil und Ausdruck seiner Kritik des Christentums. Nietzsches Paulusdeutung steht im Zentrum seiner Kritik der christlichen Moral, und deshalb läßt sich von ihr her diese Kritik am besten erschließen. Nietzsche macht eine Annäherung an sein Paulusbild nicht leicht. Gerade gegenüber Paulus macht er die Moral nicht nur zum Thema, sondern wird selbst moralisch. „Gegen keinen anderen Christen verrät Nietzsche eine solche Animosität, einen solchen explosiven und maßlosen Haß wie gegen Paulus. Bei keinem anderen häufen sich die abfalligsten Bezeichnungen, die schärfsten Anschuldigungen in dem Maße wie bei Paulus, keiner ist auch in derselben Weise Gegenstand des persönlichen Hohnes, Abscheus, Ekels und Widerwillens Nietzsches wie eben dieser Apostel."8 Doch Nietzsche greift Paulus nicht als Person an, sondern er fokussiert in seiner Interpretation des Apostels seine Kritik des Christentums. In „Paulus" macht Nietzsche die ,Wahrheit' als Teil der Moral und damit als Ausdruck von Macht zum Thema. Dazu stellt er Wahrheit, Moral und Macht zueinander in immer neue Beziehungen und Perspektiven. Das übliche Verständnis von „Wahrheit" als eine dem Einzelnen entzogene und gegenüberliegende Größe ist für Nietzsche Ausdruck des Ressentiments, ein Begriff, der Ohnmächtigen Macht geben soll. Nietzsche attackiert dieses Verständnis von „Wahrheit" in der Person des Paulus, weil Paulus seiner Meinung nach die entscheidenden Weichen für dieses Verständnis von Wahrheit gestellt hat. Nietzsches Christentumskritik läßt sich als eine heilsame Verunsicherung der Theologie verstehen. Aus der Auseinandersetzung mit Nietzsche kann die Chance erwachsen, neue Perspektiven für Theologie und Glauben zu entdecken. Dazu ist es jedoch notwendig, sich intensiv auf Nietzsches Kritik einzulassen. Barth hat es Nietzsche zur Ehre angerechnet, daß er das Christentum in der Botschaft vom „Kreuz" nicht an seiner schwachen, sondern an seiner stärksten Seite angegriffen habe.9 Die Theologie ist es ihrerseits auch Nietzsche schuldig, sich an seiner starken Seite mit ihm auseinanderzusetzen und das Starke seiner Kritik an Theologie und Christentum zu sehen und herauszustellen. Je ernster die Theologie ihre Infragestellung durch Nietzsche nimmt, desto mehr kann sie aus der Auseinandersetzung mit ihm für sich selbst gewinnen. Ein Anliegen der Moralkritik Nietzsches ist es, moralische Sicherheiten aufzustören und in Bewegung zu bringen. Die christli8 9

Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, 35. Vgl. Barth, Die kirchliche Dogmatik III/2, 289f.

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Einleitung

che Theologie ist in Bewegung, und diese Bewegung kann in der Auseinandersetzung mit Nietzsche neue Dynamik erhalten. Für Nietzsches Moralkritik gibt es manche Anknüpfungspunkte in der Theologie selbst, die aus diesem Horizont neu bedacht und weiterinterpretiert werden können.10 Es soll deshalb nicht Aufgabe dieser Abhandlung sein, Nietzsches Vorwürfe gegen Paulus zu ,widerlegen' oder über die Berechtigung seines Angriffs auf das Christentum zu urteilen. Wichtiger ist mir zu klären, was Nietzsche in seiner Pauluskritik eigentlich angreift und warum er sich dazu veranlaßt sieht. Es geht zunächst darum, Nietzsches Kritik zu verstehen — oder, vorsichtiger formuliert, sie sich interpretierend zu erschließen. Daß Nietzsche in seinem Angriff auf Paulus polemisch überzeichnet, hat die Nietzscheforschung bereits herausgestellt. Ich möchte in meiner Arbeit versuchen, die polemische Form der Paulusdeutung Nietzsches selbst als Teil seiner Kritik der christlichen Moral zu interpretieren. Das Paulusbild Nietzsches ist bisher kaum Gegenstand spezieller Untersuchungen geworden. Eine umfassendere Abhandlung, die das Paulusbild Nietzsches im Zusammenhang seiner Philosophie und der benutzten Quellen darstellen würde, gibt es nicht. Wo sich Nietzscheforscher mit der Paulusdeutung Nietzsches beschäftigen, tun sie dies meist im Kontext anderer Themen. Auch in der Diskussion der Christentumskritik Nietzsches nimmt das Paulusbild Nietzsches im ganzen nur eine Randstellung ein. Durch die Härte, Polemik und Einseitigkeit, mit der Nietzsche besonders im „Antichrist" über Paulus urteilt, schien er sich selbst zu widerlegen und eine differenziertere Auseinandersetzung mit seiner Pauluskritik unnötig zu machen.11 Im folgenden gebe ich einen Abriß der bisherigen Forschung.

10 Tillichs Moralkritik z.B. berührt sich (bei aller Unterschiedlichkeit im einzelnen) mit der Nietzsches: Ähnlich wie Nietzsche protestiert Tillich „gegen den protestantischen Moralismus", d.h. „gegen jeden moralischen Inhalt, der einen unbedingten Charakter beansprucht". Von der „Moral" her kritisiert er alle „Systeme ethischer Regeln" als „Moralismen", die „den Massen von den Autoritäten aufedegt" werden. (Vgl. Tillich, Moralismen und Moral, Zit. 132f.) Ebenso hat Ebeling auf die „Evidenz des Ethischen" hingewiesen und die „Prärogative des Nächstliegenden" und „Konkreten" vor der Lehre der Ethik herausgestellt. (Vgl. Ebeling, Evidenz des Ethischen, Zit. 10.) " Als typisches Beispiel sei Hermann Wein genannt, der nach seiner differenzierten Darstellung des Jesusbildes Nietzsches sein Kapitel „Die Paulus-Hypothese" mit den Sätzen beginnt: „Nietzsches Auffassung vom Christentum fallt gegen das Bild des Menschen Christus ab. Fragwürdig genug ist die These, von Paulus, dem JDysangelisten', her komme in den geschichtlichen Aufbau des Christentums wieder der altjüdische Gedanke des .Schuldopfers' hinein [...]." (Wein, Positives Antichristentum (1962), 90.)

Einleitung

5

EBERHARD ARNOLD ist einer der ersten, die sich mit dem Paulusbild Nietzsches im Kontext von dessen Christentumskritik auseinandersetzen.12 Sein Umgang mit Nietzsche ist in mancher Hinsicht ein typisches Beispiel der Nietzschekritik seiner Zeit. Arnold stellt die Paulusdeutung Nietzsches nicht im Zusammenhang dar, sondern widmet sich vor allem ihrer Widerlegung, indem er Paulus vehement gegen die „historisch-psychologischen Einwände"13 in Schutz nimmt. Er verteidigt Paulus vor allem gegen den Vorwurf der Dekadenz und gegen den Bruch zwischen ihm und Jesus bzw. dessen Jüngern: Paulus gehöre in den Kreis der Apostel, weil er „in gleicher Weise wie die Urapostel den historischen Jesus und ganzen Christus mit allen seinen Worten und Taten in sich gewußt und verkündet hat." Seine Mission und seine Standfestigkeit würden Paulus als „energievollen Mann" beweisen, nicht als einen „heruntergekommenen, nervenkranken Schwächling", wie Nietzsche ihn verzeichnend dargestellt habe. Kurz: „Nietzsches Verdächtigungen und Verleumdungen, die er diesem Manne angedeihen ließ, halten in keinem Punkte der Untersuchung Stich."14 WALTER JESINGHAUS15 mag für viele stehen, die in jener Zeit im Zusammenhang von Nietzsches Christentums- und Moralkritik seine Paulusdeutung kurz skizzieren, ohne intensiver auf sie einzugehen. Er widmet sich Nietzsches Paulusbild im Kapitel „Sein Kampf gegen Priester aller Art"16, rechnet aber auch Jesus zu diesen von Nietzsche bekämpften Priestern. Allerdings sieht Jesinghaus Jesus durch Nietzsche insofern anders beurteilt, als „daß er wenigstens seiner Perso» eine gewisse Anerkennung, ja Hochschätzung nicht versagt hat".17 ERNST BERTRAM geht in seinem Nietzschebuch18 am Rande auch auf Nietzsches Paulusbild ein. Trotz seiner völkischen Mythologie hält Bertram, anders als später die nationalsozialistische Propaganda, an Paulus fest. Dazu spannt er allerdings Paulus ebenso wie Luther in die Mythologie einer 12 Arnold, Unchristliches und Antichristliches (1910), 84ff. Benz fuhrt sein Buch an als die „einzige Arbeit, die etwas ausfuhrlicher auf die Geschichtskritik Nietzsches eingeht". (Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, 148.) 13 So die Überschrift des Kapitels, Arnold, Unchristliches und Antichristliches, 73. 14 Arnold, Unchristliches und Antichristliches, 85. In die Kritik der Kirche als Verfälschung der Botschaft Jesu allerdings stimmt Arnold vorbehaltlos ein. (ebd., 87ff.) Hier sieht er in Nietzsche, der in seinem Inneren trotz allem ein tief religiöser Geist gewesen sei, einen Verbündeten gegen die Kirche als Institution, (passim, vgl. ebd., 64f.) 15 Jesinghaus, Nietzsche und Christus (1913), bes. 34. 16 Jesinghaus, Nietzsche und Christus, 29ff. 17 Jesinghaus, Nietzsche und Christus, 31 (Hervorhebung vom Vf.). 18 Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1. Aufig. 1918).

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Einleitung

„nordischen Christlichkeit" ein. Sein Paulus ist der Paulus Dürers, wie Bertram ihn von der Münchener Aposteltafel herabblicken sieht, der „Sankt Paulus wie ein Ritter derb". Auf die Pauluskritik Nietzsches geht Bertram gar nicht weiter ein: Der .„Dysangelist"' ist für ihn „nur die morbide Seite in Nietzsches Wesen" selbst. Für die Erforschung des Paulusbildes Nietzsches wäre deshalb Bertram kaum zu nennen. Allerdings ist er der erste, der zwischen Paulus und Nietzsche eine Verbindung sieht: Beide sind „Überwinder des Gesetzes"19, die alte Werte zu ihrem Ende gebracht hätten. Für Nietzsche sieht Bertram dies allerdings auf dessen nordisch-reformatorische, heldische Seite beschränkt. Der Titel einer 1937 verteidigten Dissertation von FRITZ WENZEL scheint in dieselbe Richtung zu deuten: „Das Paulusbild bei Lagarde, Nietzsche und Rosenberg. Ein Beitrag zum Jesus-Paulus-Problem".20 Der Verdacht einer „völkisch" bzw. „nationalsozialistisch" geprägten Nietzsche-Sicht liegt unweigerlich nahe, und vielleicht aus diesem Grunde ist diese Arbeit in der weiteren Forschung nahezu unbeachtet geblieben. Doch trotz dem Bekenntnis des Verfassers zum „völkischen" Geist wie zur „Mythologie" Bertrams stellt der gedruckte Teil seiner Dissertation eine gründliche und solide Arbeit zu Nietzsche dar. Wenzel ist (wenn auch mit manchen Einschränkungen) der erste, der das Paulusbild Nietzsches wissenschaftlich erforscht, die in Frage kommenden Texte gesichtet, zusammengestellt und je für sich interpretiert hat. Allerdings hat Wenzel ganz darauf verzichtet, nach Quellen für Nietzsches Paulusbild zu forschen. Wenzels Interesse ist, gegen die Bestrebungen, Paulus aus der Theologie zugunsten einer alleinigen Berufung auf Jesus zu streichen, an Paulus festzuhalten.21 Sein Stil ist dabei nüchtern und nicht apologetisch. Er versucht, Nietzsche auch in seiner Kritik zu verstehen und ihn zunächst für sich darzustellen - ein in dieser Zeit und zumal bei dem Anliegen seiner Arbeit ungewöhnlich wissenschaftlicher Umgang mit Nietzsche. Man spürt beim Lesen die Spannungen der Zeit, die sich an diesem Thema festmachten und denen sich Wenzel mit manchen Rücksichtnahmen stellt.22

Zitate Bertram, Nietzsche, 54f. Als Druck erschien aus nicht näher benannten „wissenschaftlichen Gründen" im selben Jahr lediglich ein Auszug, der das Kapitel zu Nietzsche enthält. ( Vgl. Wenzel, Paulusbild, 7.) 21 „Das Problem Jesus oder Paulus, wie es die Kritiker stellen, beantwortet sich für uns in der Forderung: Jesus und Paulus, Jesus der Herr, Paulus sein Knecht." (Wenzel, Paulusbild, 8.) 22 Möglicherweise ist dies ein Grund dafür, daß nur dieser Auszug seiner Dissertation erscheinen konnte, doch dies muß Spekulation bleiben. 19

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Einleitung

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Wenzel gliedert die Texte, die er zur Untersuchung heranzieht, in die „Morgenröthe", den „Antichrist" und den „Willen zur Macht". Was letzteren angeht, so hat Wenzel das Problem aller Ausleger jener Zeit, daß der Nachlaß nur in dieser Form editiert vorlag. Als Kritikpunkte im 68. Aphorismus der „Morgenröthe" arbeitet er die „menschlich-charakterliche Minderwertigkeit"23 des Apostels, seine körperliche und geistige Dekadenz sowie seine daraus resultierende Rachsucht und seinen Hochmut heraus. Wenzel plädiert dafür, auch im „Antichrist" „nicht nur eine polemische oder gar oberflächliche Kampfschrift" zu sehen und es sich „mit ihrer Ablehnung nicht zu leicht [zu] machen": „Es ist wahrhaftig sehr nötig, daß auch Theologen durch ihren Inhalt sich hindurcharbeiten."24 Als Hintergrund füir die Paulusdeutung Nietzsches im ,.Antichrist" stellt er zunächst dessen Jesusbild dar.25 Wenzel erkennt als erster, daß Nietzsche Paulus und Jesus als Antitypen dargestellt und grundsätzlich unterschiedlich beurteilt hat. Man müsse sein Paulusbild „in dem vollen Gegensatze zu Jesus sehen, in den Nietzsche es hineingezeichnet hat".26 „Paulus ist und bleibt für den Philosophen der für alle Zutaten, Entstellungen und Verfälschungen der Jesusbotschaft allein Verantwortliche."27 Ebenso verkennt Wenzel aber auch nicht, daß Nietzsche Jesus zwar in intensiver Weise zu verstehen versucht, aber auch dessen Botschaft schließlich abgelehnt habe. Wenzel sieht im „Antichrist" wie im Nachlaß gegenüber dem Paulusbild der „Morgenröthe" keine wesentlich neuen Aspekte. Doch sei seine Paulusdarstellung im „Antichrist", anders noch als in der „Morgenröthe", ganz vom Haß auf Paulus geprägt. Auch Wenzel verzichtet nicht darauf, diesen Haß als eine „im Tiefsten verhaltene Liebe" und „Verehrung"28 zu interpretieren. Die Ursache dieses Hasses sieht er in einfühlsamer Weise darin, daß Nietzsche in besonderer Weise an den ihn umgebenden Dingen, und damit auch am Christentum, gelitten hätte. Die Pauluskritik Nietzsches im „Antichrist", die er ausführlich referiert, faßt Wenzel am Schluß in sieben Vorwürfen zusammen.29 Er stellt sie jedoch schließlich nur nebeneinander, ohne sie in Bezug

Wenzel, Paulusbild, 15f. Wenzel, Paulusbild, 17. " Wenzel, Paulusbild, 19ff., bes.21f. 26 Wenzel, Paulusbild, 24f. 2 ' Wenzel, Paulusbild, 32. 28 Wenzel, Paulusbild, 12. 29 Diese Vorwürfe Nietzsches gegen Paulus sind: Die Verfälschung des Evangeliums in ein Dysangelium, die Lehre von der Personal-Unsterblichkeit als Glaubensgrundsatz, die Motivierung durch den Haß, die Erfindung einer Geschichte des Christentums, seine Priester-Art und 23 24

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Einleitung

zueinander zu setzen oder als Ausdruck von Nietzsches Kritik am Christentum zu interpretieren. So ergibt sich fur ihn aus diesen „wenig oder gar nicht zusammenhängenden sieben Punkten"30 kein Gesamtbild; es bleiben einzelne Vorwürfe, die Wenzel mit einem gewissen Unverständnis zur Kenntnis nimmt und letztlich (ähnlich wie Bertram, wenngleich vorsichtiger) auf das bewegte Innenleben Nietzsches selbst zurückfuhrt.31 Wenzel weist dabei am Rande auch auf die politische Dimension des Priesterbegriffs Nietzsches hin.32 Ausfuhrlich versucht Wenzel schließlich, die Verwandtschaft von Paulus und Nietzsche darzustellen.33 Dabei geht er allerdings lediglich die durch Bertram gebahnten Wege weiter. Ausdrücklich bekennt er sich als Maßstab des wahrhaft Paulinischen zum ,,Dürersche[n] Paulus, mit Buch und Ritterschwert"34, der jedoch nur der Bertramsche ist. Wie Bertram sieht Wenzel in Paulus und Nietzsche „Überwinder des Gesetzes"; er interpretiert diese Gemeinsamkeit ausführlicher als Bertram, jedoch in dessem Sinne und ohne neue Ideen. Zu denen, die in nüchternem Stil Nietzsches Aussagen zu Paulus zusammengetragen haben, gehört auch ERNST BENZ.35 Allerdings beschränkt sich Benz im ersten Teil seiner Abhandlung über „Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums" zu Paulus im wesentlichen eben auf eine Zusammentragung der Gedanken und Urteile Nietzsches, ohne sie zu interpretieren oder auch nur zeitlich zu ordnen. Im zweiten Teil stellt er „Nietzsches Geschichtsideen" dann wiederum in die Geschichte, indem er als einer der ersten36 mögliche ,^Anreger" für Nietzsches Ideen über das Christentum, speziell zu dessen Geschichte als Verfallsgeschichte, benennt und diskutiert. Doch auf die Pauluskritik Nietzsches geht Benz auch in seiner zusammenfassenden Würdigung sein Jude-Sein, in dem er die Niederen im Symbol „Gott am Kreuz" zum Aufstand gerufen habe. (Vgl. Wenzel, Paulusbild, 31.) 3° Wenzel, Paulusbild, 31. 31 Wenzel, Paulusbild, 9. Wenzel bezieht sich hier ausdrücklich auf Bertram. 32 Vgl. Wenzel, Paulusbild, 35, 33 Vgl. Wenzel, Paulusbild, l l f f . , 35ff. m Wenzel, Paulusbild, 11. 35 Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums (1938), 35ff. Benz erwähnt in seinem kommentierten Literaturverzeichnis weder Wenzel noch Bertram. Den erst im Jahr zuvor erschienenen Druck Wenzels wird er wohl nicht gekannt haben, doch daß er bei seiner Kenntnis der Literatur Bertram nicht erwähnt, muß wohl als Akt der Mißachtung gedeutet werden. (Vgl. Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, 148f.) 36 Hirsch hatte dies zuvor schon in Bezug auf Nietzsches Lutherbild versucht. Vgl. Hirsch, Nietzsche und Luther; vgl. dazu auch das folgende Nachwort von Salaquarda, ebd., 431 ff.

Einleitung

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Nietzsches nicht ein.37 Das Interesse an Nietzsche ist für ihn wie fur Arnold geleitet durch die Kritik an der existierenden Kirche, für die er in Nietzsche einen Verbündeten sieht. Benz vollzieht, wenngleich nur in einer Andeutung38, die Kritik Nietzsches an Paulus mit. Paulus gehört auch für Benz in die Verfallsgeschichte des Christentums — das Christentum selbst dagegen ist für ihn die „Verwirklichung der jesuanischen Lebenshaltung".39 Dies herausgestellt zu haben, mache aus Nietzsche, dem „Feinde der Kirche", den „Propheten einer neuen Möglichkeit des Christentums".40 Einer der wenigen, die sich direkt nach dem 2. Weltkrieg theologisch intensiver mit Nietzsche auseinandersetzten, war KARL BARTH.41 Sein Thema war nicht das Paulusbild Nietzsches, aber er entdeckte in der „christlichefn] Moral", wie sie sich im paulinischen „Christentum von I. Kor. I"42 und im Symbol des „Gekreuzigten" zusammenfaßt, den eigentlichen Gegner Nietzsches: Das Christentum stellt ja dem Übermenschen den Gekreuzigten vor Augen: Jesus als den Nächsten und in der Person Jesu sofort ein ganzes Heer von Anderen, lauter .Unedle und Verachtete vor der Welt'[...]" „Es konfrontiert ihn nämlich mit der Gestalt des elenden, des leidenden Menschen. 43

Barth versteht Nietzsches Philosophie als Ausdruck einer abendländischen Tradition, die er als „Humanität ohne den Mitmenschen"44 zusammenfaßt. Der einsame „Übermensch" Nietzsches sei der Endpunkt einer Entwicklung, für die Nietzsche „auf letztem, verlornem Posten gefochten" habe.45 Das Christentum stelle dieser Philosophie jedoch den konkreten, leidenden Mitmenschen vor Augen und überführe sie damit ihrer Selbstsucht.46 Barth sieht im Angriff Nietzsches auf das Christentum dennoch eine Leistung, die das Christentum der Gegenwart an seine Quellen verweist:

Vgl. Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, 144ff. Vgl. Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, 146. 39 Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, 146. 40 Vgl. Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, 147. 41 Vgl. Barths Auseinandersetzung mit Nietzsche in „Die kirchliche Dogmatik", Bd. III/2, bes. 276-290. 42 Barth, Die kirchliche Dogmatik III/2,289. 43 Barth, Die kirchliche Dogmatik III/2,288. 44 Barth, Die kirchliche Dogmatik III/2, 277 u.ö. « Vgl. Barth, Die kirchliche Dogmatik III/2,289f. 46 Barth wird Nietzsche aber nicht gerecht, wenn er dessen Ethik als eine „Humanität ohne den Mitmenschen" versteht. Auch Nietzsches Moralkritik eröffnet Perspektiven für den Umgang mit dem Mitmenschen und seiner Moral. 37

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Einleitung Er hat mit seiner Entdeckung des Gekreuzigten und seines Heeres das Evangelium selbst in einer Gestalt entdeckt, wie es dessen Vertretern — um von seinen Gegnern nicht zu reden — jedenfalls im 19. Jahrhundert so nicht gelungen ist.47

Es folgt nun eine recht lange Zeit, in der die Erforschung des Paulusbildes Nietzsches kaum weitergeführt wurde. Jene, die Nietzsche nach dem Ende des Nationalsozialismus wieder zu Ehren brachten, brachten ihn zu philosophischen Ehren und hatten aus ihrer Perspektive am Thema des Paulus bildes Nietzsches wenig Interesse. So spielt z.B. in KARL JASPERS' Werk „Nietzsche und das Christentum" Paulus keine wesentliche Rolle. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum ist für Jaspers eine Auseinandersetzung mit Jesus, nicht mit Paulus.48 Wohl deutet Jaspers darauf hin, daß Jesus durch seine Jünger und insbesondere durch Paulus mißverstanden wurde49, doch eben das macht für ihn die Deutung Jesu durch Paulus ebenso wie die Paulusdeutung Nietzsches letztlich unwichtig. Für WALTER KAUFMANN ist Paulus aus der Sicht Nietzsches wesentlich derjenige, der aus der Lehre Jesu den Glauben an Christus gemacht und damit den Christus des Glaubens erst geschaffen habe.50 Deutlich differenziert Kaufmann zwischen Nietzsches „Zurückweisung Jesu" und seiner „Zurückweisung des Christus", die im Gegensatz zur ersteren „nicht durch Verehrung oder Zurückhaltung gemildert"51 wird. Paulus ist für Nietzsche „der erste Christ" (M 68): er hat entdeckt, daß der Glaube ein Heilmittel für solche ist, die unfähig sind, das zu tun, was sie für richtig halten. Paulus hat es den Heiden in der ganzen Welt ermöglicht, an ihrer Lebensweise festzuhalten und sich trotzdem Christen zu nennen. Ohne Paulus „gäbe es keine Christenheit".52

Dennoch kommt auch in Kaufmanns Beschäftigung mit der Christentumskritik Nietzsches der Auseinandersetzung mit Paulus keine besondere Bedeutung zu. Paulus ist zwar zeitlich „der erste Christ", tritt aber damit in die Reihe der Christen zurück; er ist Anfang und gleichzeitig Teil dessen, was Nietzsche in „Christus" zurückweist.

Barth, Die kirchliche Dogmatik III/2,290. Vgl· Jaspers, Nietzsche und das Christentum, 59ff. Vgl. dazu kritisch auch Salaquarda, Nietzsches Kritik am Christentum, 15. 49 Vgl. Jaspers, Nietzsche und das Christentum, 23ff., zu seiner Jesusdeutung vgl. ebd., 17ff. 50 Vgl. Kaufmann, Nietzsche, bes. 400ff. 51 Kaufmann, Nietzsche, 399. 52 Kaufmann, Nietzsche, 401. 47

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JÖRG SALAQUARDA ist derjenige, der die Bedeutung des Paulus f ü r Nietzsche als dessen entscheidendem Kontrahenten herausgearbeitet hat. 53 Sein Aufsatz „Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Verständnis des Apostels Paulus" (1974) kann als die wichtigste und beste Arbeit zum Paulusbild Nietzsches gelten. Salaquardas Thema ist nicht nur allgemein Nietzsches Paulusbild, sondern auf dessen Hintergrund speziell die Frage nach einer möglichen Verwandtschaft, die sich in Nietzsches Polemik gegenüber Paulus ausdrücken könnte. Er knüpft dabei an die Überlegungen Bertrams zu einer Verwandtschaft zwischen Paulus und Nietzsche an, die er aber mit Recht als unzureichend ansieht. Die Nähe Nietzsches zu Paulus bestimmt er selbst so: Wenn Nietzsche in der Spätphase mit der Formel .Dionysos gegen den Gekreuzigten' als .dionysischer Umwerter' dem .Umwerter' Paulus entgegentritt, dann bedeutet das, daß er seine Beziehung zu dem Apostel wesentlich weder als bloße Bestreitung noch als geheimnisvolle Verwandtschaft faßt, sondern als ein diakktisches Außeben^ Schon lange wurde hinter der Polemik Nietzsches gegen Paulus auch eine F o r m v o n Verehrung vermutet. Salaquarda versucht, diese genauer zu bestimmen. E r sieht sie in der Genialität und der ,„überragende[n] Größe"', die Nietzsche Paulus zuerkennt und die er als Auszeichnung und Unterscheidung v o n der Masse versteht. 5 5 Dies wird durch Nietzsches A n g r i f f auf Paulus nicht negiert, sondern im Gegenteil unterstrichen. Nietzsche sieht nach

53 Jüngel verweist in seinem Aufsatz „DEUS QUALEM PAULUS CREAVIT, DEI NEGATIO" (1972) in eine ähnliche Richtung, ohne sie jedoch weiter auszufuhren. Jüngel beabsichtigt in dieser Arbeit keine Darstellung des Paulusbildes Nietzsches, sondern, wie der Untertitel deutlich macht, eine Studie ,,[z]ur Denkbarkeit Gottes bei Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche". Jüngel sieht in Nietzsches Kritik des christlichen Gottesbegriffs einen wesentlich nicht-christlichen, metaphysischen Gottesbegriff angegriffen, der Gott als „eine schlechte Mutmaßung des Unendlichen" versteht. Erst zum Schluß sagt Jüngel, daß Nietzsche darum gewußt habe, mit dieser Kritik das Christentum nicht getroffen zu haben, weil dieses — und hier verweist Jüngel auf Paulus — im Symbol „Gott am Kreuze" den Gottesbegriff neu konstituiert habe. Dieses Verständnis von Gott habe Nietzsche aber ebenso und um so heftiger abgelehnt. Nicht ganz klar wird von hier aus, warum Jüngel Nietzsche überhaupt ein metaphysisches Gottesverständis zuschreibt. Auf Nietzsches Polemik gegen den .gekreuzigten Gott' weist Jüngel in Zitaten hin, geht aber nicht weiter darauf ein. Nietzsches Folgerung, daß damit das Leiden vergöttlicht sei, weist er ab. In der von Nietzsche erkannten und angegriffenen paulinischen Prämisse des .Gottes am Kreuz' sieht er ein metaphysisches Gottesverständnis umgewertet — dessen Kritik aber, m.E. Nietzsches eigentliche Kritik des christlichen Gottesbegriffs, wird von Jüngel nicht diskutiert. (Zitate ebd., 295f.; zu Paulus vgl. ebd., 296.) 54 Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 300. 55 Vgl. Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, z.B. 292ff., 303.

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Salaquarda in Paulus wie in sich selbst einen „Umwerter": Er sieht Paulus als Urheber am Beginn einer Epoche stehen, die er selbst wiederum umwerten und damit aufheben will. „Wie Paulus zum .Lehrer der Vernichtung des Gesetzes' geworden sei, so er selbst zum ^Lehrer der ewigen Wiederkunft'."56 Salaquarda arbeitet heraus, daß Nietzsche erst im Spätwerk in Paulus seinen entscheidenden Antipoden entdeckte.57 Während Paulus für Nietzsche zunächst nur ein Christ unter anderen war, wird er für ihn schließlich noch vor Sokrates „der entscheidende Promotor der décadence-Moral".58 Ausfuhrlich belegt Salaquarda die besondere Bedeutung, die Paulus als „.Erfinder' des Christentums" für Nietzsche bekam, der in ihm „einen seiner großen Gegenspieler, zuletzt sogar den Gegenspieler erblickt hat".59 Auch das Verhältnis von Jesus und Paulus bestimmt Salaquarda genauer: Nietzsche habe zunächst nicht grundsätzlich zwischen Jesus und Paulus unterschieden, sondern in beiden „Stifter des Christentums" gesehen. Erst im „Antichrist" habe Nietzsche die Rollen beider in der Entstehungsgeschichte des Christentums klar getrennt, Paulus die alleinige Verantwortung für das Christentum zugeschrieben und ihn zu seinem entscheidenden Gegner erklärt. Salaquarda vermutet (zu Recht, wie ich zeigen möchte60) in Tolstoi den „letzten Anstoß zur prinzipiellen Unterscheidung von Jesus und Paulus".61 Um Nietzsches Sicht auf die Entwicklungsgeschichte der Moral darzustellen, greift er auf Hegeische Terminologie zurück: Er versteht sie als einen Vorgang, der sich entsprechend „Thesis", „ A n t i t h e s i s " u n ( j „Synthesis" in drei Epochen gliedern läßt.62 Sie lassen sich in etwa als eine ,Urzeit' (der „Herrenmoral"), eine Zeit der Zivilisation und eine im wesentlichen zukünftige Epoche, für die Nietzsche die „Umwertung aller Werte" erwartet, verstehen.63 Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 312. Vgl. Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 292f. 58 Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 294, zu seiner schließlichen Vorordnung vor Sokrates vgl. ebd., 300. 59 Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 297. 6 0 Vgl. in dieser Arbeit das Kapitel III.2.3.2.: „Nietzsches Lektüre Tolstois und seine neue Sicht auf Jesus und das Christentum" 61 Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 292. 6 2 Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 304ff. 63 „Überblicken wir die vielfaltigen Äußerungen, in denen er seine .Umwertung' kennzeichnet, dann zeigt sich, daß er sie in formaler Hinsicht als eine Art Synthesis beschreibt, die der Hegelschen Synthesis verwandt ist. Nietzsches Synthesis ist erstens Rückkehr zur Thesis: der Typus der .Herren-Moral' soll wieder zur Geltung gebracht werden; sie ist zweitens Negierung der Antithesis: sie bekämpft die décadence-Werte und will deren (alleinige) Geltung überwinden; sie ist drittens Bewahrung: Nietzsche will keine bloße Rückkehr zur JHerren-Moral', es geht ihm 56

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Die Nähe Nietzsches zu Paulus sieht Salaquarda auch in einem ähnlichen zentralen Erlebnis gegeben: Beide verdankten ihren entscheidenden Gedanken einer Vision.M Nietzsche habe sein Erlebnis von Sils-Maria, in dem ihm der Gedanke der „Ewigen Wiederkunft des Gleichen" bewußt geworden war, selbst als Vision verstanden und darin dem Damaskuserlebnis des Paulus parallel gesetzt.65 Beide hätte ihr Erlebnis zu Lehrern ihrer zentralen Gedanken gemacht. Salaquarda hat in seinem Aufsatz eindrucksvoll die Bedeutung herausgearbeitet, die Paulus gerade in Nietzsches Spätwerk innehat. Er hat aufgezeigt, wie Paulus für Nietzsche der Urheber und der bedeutendste Repräsentant der abendländisch-christlichen Moral wurde, und beleuchtet die wachsende Differenzierung zwischen seinem Jesus- und Paulusbild. Einleuchtender als alle Nietzscheforscher vor ihm hat Salaquarda die Nähe Nietzsches zu Paulus in dessen Polemik herausgestellt und interpretiert. Dabei hat Salaquarda auch auf mögliche Quellen für Nietzsches Paulusbild hingewiesen66 und insbesondere hat er als erster auf die Bedeutung Lüdemanns aufmerksam gemacht.67 Allerdings hat Salaquarda die „Moral" — also das, was Nietzsche in der Person des „Paulus" kritisiert und angreift - m.E. nicht angemessen interpretiert. Von der Kritik dieser Moral aber bestimmt sich Nietzsches Bild des Apostels und damit auch seine Beziehung zu ihm. Neben der von Salaquarda herausgearbeiteten und nicht zu bestreitenden „Verwandtschaft hinsichtlich der ,Größe' im Sinne von Herausgehobensein gegenüber der Masse"68 ist auch das Trennende aus der Sicht Nietzsches deutlicher zu bestimmen.69 Deshalb ist um ein Voranschreiten, bei dem die Erfahrung, die die Menschheit auf dem bisherigen Weg gemacht hat, aufhebend bewahrt werden soll." (Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 308.) 64 Vgl. zum folgenden Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 311 f.; vgl. auch ders., Der ungeheure Augenblick, bes. 330ff. 65 Salaquarda fuhrt hier einen Gedanken Bernoullis weiter, der als erster auf die Nähe der .Vision' von Sils-Maria und dem Damaskuserlebnis des Paulus hinweist. (Vgl. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche 1,316; vgl. Salaquarda, Dionysos, 290.) 66 Salaquarda nennt als Lektüren Nietzsches, „die für die Thematik Jesus und Paulus' direkt oder indirekt relevant sind", „Mein Glaube" von Tolstoi, Dostojewskijs „Dämonen" sowie Arbeiten von Wellhausen und Renan. Dem Charakter eines Aufsatzes entsprechend kann er auf diese Quellen nicht näher eingehen. (Vgl. Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 292.) 67 Salaquarda geht auf die „Anthropologie des Apostels Paulus" von Lüdemann nur sehr kurz ein. Die von Nietzsche aufgenommene These Lüdemanns gibt er jedoch nicht richtig wieder. (Vgl. Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 291 f.) 68 Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 293. 69 Dies gilt z.B. auch für Salaquardas Parallelisierung der zentralen .Erlebnisse' beider als .Visionen': Wenn man nicht auch das Trennende und wesentlich Unterscheidende benennt,

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auch zu bezweifeln, daß Hegeische Begriffe zur Beschreibung der von Paulus zu Nietzsche führenden Entwicklung Nietzsches eigener Sicht dieser Beziehung gerecht werden können — das ihnen zugrunde liegende Verständnis von „Wahrheit" könnte selbst zu der Moral gehören, die Nietzsche in seiner Pauluskritik überwinden will. Seit Salaquardas Arbeit ist das Paulusbild Nietzsches m.W. nicht mehr Thema einer eigenen Abhandlung gewesen. Unter denen, die sich in anderem Zusammenhang mit ihm auseinandergesetzt haben, ist KURT BRAATZ70 hervorzuheben. Zwar beschäftigt sich Braatz in seiner sozialwissenschaftlich orientierten Arbeit mit Paulus nur am Rande, aber er ist durch seine Interpretation des „Priestertypus" bei Nietzsche für das Verständnis von Nietzsches Paulusbild bedeutsam. Er untersucht die Bedeutung des „Priesters" aus sozialwissenschaftlicher Perspektive und interpretiert sie in einem weiten Sinne als ,Meinungsmacher"71, denen es gelingt, mit ihren Deutungen die „Öffentliche Meinung" zu bestimmen — und hierfür ist ihm Paulus ein besonderes Beispiel: In seinen [i.e. Nietzsches; Vf.] Augen kann der Sieg des Christentums und damit des Ressentiments in der abendländischen Kulturgeschichte nicht auf die immanente Überzeugungskraft oder gar den Wahrheitsgehalt dieser Religion zurückgeführt werden, sondern er gründet vielmehr in der massenpsychologischen Begabung und dem übersteigerten Wirkungswillen ihrer ersten irdischen Vertreter, als dessen Prototyp er den Apostel Paulus heraushebt.72 Der „Priester" ist für Braatz deshalb eine zeitübergreifende Erscheinung, die nicht an Religion gebunden ist. „Priester" in diesem Sinn ist jeder „MassenKommunikator"73, der über Einflußnahme auf die öffentliche Meinung Macht ausüben will. „Paulus wird damit zum Sinnbild all derer, die über ein Ideal oder eine Ideologie die geistige Vereinnahmung ihrer Umwelt anstreben."7'· Eine der neuesten theologischen Veröffentlichungen zu Nietzsche75 ist der Aufsatz „Nietzsche, theologisch" (1997) von MICHAEL TROWITZSCH. wird man Nietzsches Sicht nicht gerecht. (Vgl. in dieser Arbeit bes. das Kapitel: II 2.7.3. Offenbarung und Inspiration — Paulus und Nietzsche). 70 Braatz, Friedlich Nietzsche — Eine Studie zur Theorie der Öffentlichen Meinung (1988) 71 Vgl. Braatz, Friedrich Nietzsche, 239. 72 Braatz, Friedlich Nietzsche, 236. 73 Braatz, Friedrich Nietzsche, 235. 74 Braatz, Friedlich Nietzsche, 236. 75 An dieser Stelle soll auch das jüngst erschienene Buch des Neutestamenders Hans Hübner „Nietzsche und das Neue Testament" genannt werden. Hübner fragt nach einer Verwandt-

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Trowitzschs Anliegen ist nicht die Auseinandersetzung mit dem Paulusbild Nietzsches, sondern er will Nietzsche seinerseits in den Horizont der paulinischen Theologie stellen. Dabei will er Nietzsche als eine ,unfreiwillige Auslegung des Paulus' interpretieren. Wir setzen Nietzsche in die Bibel. Die bestimmende Figur seines Denkens soll einen Ort im Neuen Testament finden, ausgerechnet bei dem von ihm gehaßten Paulus: sie kann nämlich, so ist zu erweisen, als Auslegung verstanden werden, als Auslegung wider Willen und unter der Hand, als ganz und gar unwillkürliche, Richtiges und Grundfalsches durcheinander werfende, aber gleichwohl auf ihre Weise authentische Auslegung der Heiligen Schrift. 76

Trowitzsch setzt dabei die paulinische Theologie als Kriterium, das er von Nietzsche her nicht in Frage stellt, sondern durch das er Nietzsche „relativieren"77 will.78 Nietzsche repräsentiert für Trowitzsch die Sinnlosigkeit als Problem der Moderne. Nietzsche sei es maßgeblich gewesen, der den Nihilismus habe heraufkommen sehen und der sich verzweifelt und letztlich erfolglos gegen ihn zu wehren versucht habe. Trowitzsch stellt Nietzsche in den Kontext anderer Denker besonders aus diesem Jahrhundert, die er „die leere, fröhliche Fahrt" der „Postmoderne"79 fahren und ihrem Trugbild von Freiheit folgen sieht. Nietzsches Philosophie ist für Trowitzsch eine „Auslegung" der paulinischen Theologie, weil sie einen „Einblick in das Dunkel des abendländischen Nihilismus"80 gewährt. Sie sei damit eine Konkretion des Fluchs, den die Abwendung von Gott bedeute und den Paulus als

schaft zwischen der Botschaft Nietzsches und der des Neuen Testaments und findet sie insbesondere in beider „hermeneutischen Intention", worunter er den Willen zur Überzeugung versteht (ebd., 17f.). Die besondere Gegnerschaft Nietzsches gegen Paulus thematisiert Hübner nicht — auch, weil er sich für Paulus lediglich auf den 68. Aphorismus der „Morgenröthe" bezieht. Nietzsches Antipathie gegen Paulus fuhrt Hübner wesentlich auf das falsche Paulusbild der Theologie seiner Zeit zurück (ebd., 83). Eine Nähe zwischen Paulus und Nietzsche sieht er in der „Entlarvung der Selbstgerechtigkeit" und „Selbstrechtfertigung", wobei er hier Paulus in das Gesamtzeugnis des Neuen Testaments zurücknimmt (ebd., 168f.). 76 Trowitzsch, Nietzsche, theologisch, 114. 71 Trowitzsch, Nietzsche, theologisch, 114. Vgl. ebd.: „Nietzsche? Ach nein, allzu bescheiden will ich ihm gegenüber nicht sein. Ich schneide ihm täglich die Krallen und bade sein Denken in prophetischer und apostolischer Lauge." 78 Diese Nietzsche-Deutung ist für Trowitzsch Ausdruck eines umfassenderen theologischen Programms: „Das theologische Programm, das mir vorschwebt, nämlich auch nichttheologisches Denken im Mittel biblischer Relativierung in eine spezifische Freiheit hinauszuinterpretieren, soll am Beispiel Nietzsches in aller Vorläufigkeit vorgestellt werden." (Trowitzsch, Nietzsche, theologisch, 115.) 79 Trowitzsch, Nietzsche, theologisch, 125. 80 Trowitzsch, Nietzsche, theologisch, 117.

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„Zorn Gottes" gedeutet habe. Von Paulus jedoch sei der „Zorn Gottes" unter die Perspektive des Friedens mit Gott gestellt. Paulus habe die Beliebigkeit der „Postmoderne der Antike" „vom Evangelium umfriedet und einberaumf\m Der Bezug auf Paulus würde die Möglichkeit eröffnen, so wird man verstehen dürfen, auch ,unsere ' Postmoderne theologisch einzufrieden und ihr damit erst die „wirkliche Freiheit"82 zu geben. Damit wird Trowitzsch jedoch Nietzsche, der „Postmoderne" und auch Paulus nicht gerecht. Wenn man Nietzsche mit Paulus konfrontiert, so muß man auch Nietzsches eigene Pauluskritik zu Wort kommen lassen und ernst nehmen. Die Kritik aus der Perspektive einer selbstsicheren Theologie berührt Nietzsche nicht, sie schafft keine Ebene für die Auseinandersetzung mit der Philosophie und anderen Geisteswissenschaften und wird auch für die Theologie nicht fruchtbar sein. Die „Botschaft des Kreuzes", wie sie Paulus in den Mittelpunkt des christlichen Denkens gerückt hat, läßt sich nicht in einer theologia gloriae verkünden. Eine theologia crucis, die das „Kreuz" zum Maßstab auch der Botschaft vom „Kreuz" macht, muß bereit sein, sich durch die Fremdheit des Anderen, die sich in Kritik und Angriff aus spricht, wirklich in Frage stellen zu lassen. Die theologia crurìs ist der Vergeht auf theologische Herrschaft und Macht (oder um es in Nietzsches Begriffen zu sagen: auf die Sicherheit der Moral). Sie hat ihre Botschaft nicht, sondern sie muß sie in der jeweiligen Begegnung mit dem Anderen stets neu finden. Meine Annäherung an das Paulusbild Nietzsches werde ich beginnen, indem ich im ersten Teil meiner Arbeit die Wege der exegetischen Paulus fors chung und die damit verbundenen Paulusbilder nachzeichne. Sie bilden den Hintergrund für Nietzsches eigene Paulusdeutung, und erst von diesem Horizont her kann das Verbindende wie das Besondere der Interpretationen Nietzsches herausgearbeitet werden. Von dieser Gesamtsicht aus wird auch deutlich, welche Positionen die eigentlichen Gewährsleute Nietzsches, deren Arbeiten zu Paulus er studiert hat, im Kontext der allgemeinen exegetischen Forschung einnehmen. Ihre Arbeiten werden ausführlich vorgestellt — ihrer Rezeption durch Nietzsche wird an entsprechender Stelle in den nachfolgenden Kapiteln nachgegangen. Auch zur Erforschung der Paulusforschung jener Zeit selbst kann dieses Kapitel neue Erkenntnisse beitragen. Ein Schwerpunkt liegt dabei u.a. auf der exegetischen Entdeckung des „Menschen" Paulus, die interessante Wege genommen hat und bisher kaum 81 82

Trowitzsch, Nietzsche, theologisch, 125. Trowitzsch, Nietzsche, theologisch, 129.

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erforscht ist. Sie ist auch für das Paulusbild Nietzsches von besonderer Bedeutung. Im nächsten Kapitel werde ich mich den früheren Paulusdeutungen Nietzsches zuwenden. Sie umfassen Nietzsches Auseinandersetzungen mit dem Thema „Paulus" aus seiner frühen und mittleren Schaffenszeit. Im besonderen möchte ich mich auf zwei Texte konzentrieren: auf den 85. Aphorismus der Schrift „Der Wanderer und sein Schatten", den Nietzsche „Der Verfolger Gottes" überschrieben hat, und den langen 68. Aphorismus aus der „Morgenröthe", der die Frucht einer ausführlichen Beschäftigung Nietzsches mit Paulus in dieser Zeit ist. Der folgende Hauptteil widmet sich der Deutung des Apostels Paulus im „Antichrist". Nach einigen Überlegungen zur Entstehung und zum Stil des „Antichrist" wird zunächst die Jesusdeutung Nietzsches das Thema sein. Nietzsche entwirft Jesus und Paulus im „Antichrist" als Antitypen, und deshalb ist eine Annäherung an Nietzsches Paulusinterpretation nicht möglich, ohne auch seiner Deutung des „Typus Jesus" nachzugehen. Dies soll ausführlich geschehen, weil es trotz etlicher Arbeiten zum Thema noch keine Abhandlung gibt, die das Jesusbild Nietzsches im Kontext seiner Quellen und seiner Philosophie in dieser Weise darstellt.83 Gerade Nietzsches Quellen zu seinem neuen Jesusbild im „ A n t i c h r i s t " sind zwar immer wieder genannt, aber nie wirklich aufgearbeitet worden.84 Ohne sie kann man aber Nietzsches Jesusdeutung im „Antichrist" und damit auch Nietzsches Paulusbild in dieser Schrift nicht gerecht werden. Auf diesem Hintergrund werde ich dann Nietzsches Paulusdarstellung im , Antichrist" nachgehen, indem ich die Leitbegriffe seiner Pauluskritik in dieser Schrift interpretiere. Im Schlußteil der Arbeit werde ich mich aus der Perspektive der Pauluskritik Nietzsches noch einmal Paulus selbst zuwenden. Wieder soll es nicht Vgl. auch die diesbezügliche Feststellung Kösters, Nietzsche-Kiitik und NietzscheRezeption, 679. Auch Willers, Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie, stellt Nietzsches Jesusdeutung mehr am Rande im Kontext einer Interpretation des Gesamtwerkes dar. Auf Nietzsches Quellen geht er dabei (außer auf Strauß' Leben Jesu) kaum ein. 84 Eine der ausfuhrlichsten Auseinandersetzungen mit der Frage nach Nietzsches Rezeption Tolstois ist immer noch die von Benz, der damit belegen wollte, daß Nietzsche Tolstoi nicht rezipiert hat. (Vgl. Benz, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, 70ff.) Der neue Kommentar zum „Antichrist" von Andreas Urs Sommer geht natürlich auf Quellen zu Nietzsches Jesusbild ein und gibt hier wertvolle Hinweise. Anders als in seinem als Kommentar angelegten Werk sollen hier jedoch die Quellen auch für sich dargestellt und interpretiert werden, denn nur so kann gezeigt werden, wie Nietzsche mit seinen Quellen umgeht und welche neuen Akzente Nietzsche selbst ihnen gegenüber setzt. Außerdem wird deutlich werden, daß in der vorliegenden Abhandlung des Verfassers Einfluß und Bedeutung der einzelnen Quellen z.T. wesentlich anders interpretiert wird. 83

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darum gehen, Nietzsches Paulusbild exegetisch zu ,bewerten', sondern um den Versuch, es für eine neue Sicht auf die paulinische Theologie fruchtbar zu machen. Dieser Ausblick kann selbstverständlich nur ein Experiment sein, das keine exegetischen Ansprüche erhebt. Er soll zeigen, daß aus der paulinischen Rechtfertigungslehre Perspektiven für ein nicht-moralisches Verständnis von Christentum zu gewinnen sind, die auch theologische Perspektiven für die ethische Diskussion der Gegenwart sein können.

Erster Teil Paulusforschung und Paulusbild im 19. Jahrhundert

1. Die „Entwicklung des paulinischen Lehrbegriffs". Die Erforschung der paulinischen Theologie und ihre Einordnung in die Geschichte des frühen Christentums 1.1. Die Anfänge der Erforschung derpaulinischen Theologie Die Frage nach der Eigenart der speziell paulinischen Theologie1 erwachte erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Bis dahin empfand man das Neue Testament, ja die ganze Heilige Schrift derart als eine Einheit, daß sich die Frage nach der individuellen Theologie der jeweiligen Verfasser gar nicht stellte. Erst nach 1800 entdeckten die ersten Theologen die Besonderheit der paulinischen Theologie und versuchten, ihr in einer gesonderten Darstellung gerecht zu werden.2 Die „Entwicklung des paulinischen Lehrbegriffs" wurde im 19. Jahrhundert ein gängiger Titel für Darstellungen der paulinischen Theologie. Unter der Entwicklung" wurde dabei allerdings nicht eine Entwicklung der paulinischen Theologe verstanden, sondern die Entfaltung des theologischen Systems durch den Exegeten. Die Entwürfe sind in Aufbau und Inhalt allerdings noch ganz der dogmatischen Tradition verhaftet und folgen in ihrer Gliederung deren Loci. Letztlich denken sie alle das Christentum als einheitlichen Gedanken — sei es in der Moral oder im christlichen Selbstbewußtsein - die in den jeweiligen neutestamentlichen Verfassern nur eine besondere, individuelle Ausprägung erfahren hat. Dennoch machten sie in der Durchdringung der paulinischen Theologie und in der Erforschung der urchristlichen Geschichte3 wesentliche Entdeckungen, auf die die späteren Exegeten aufbauen konnten. Durch ihre 1 Zur Geschichte der Erforschung der paulinischen Theologie vgl. bes. Schweitzer, Geschichte der Paulusforschung; Bultmann, Geschichte der Paulusforschung, 305ff.; Feine, Paulus, 11—206; die entsprechenden Beiträge bei Kümmel, Neues Testament; Merk, Bibelwissenschaft, 375ff.; ders.: Biblische Theologie, 455ff. 2 Hier sind besonders Gottlob Wilhelm Meyer (1801), Georg Lorenz Bauer (1800-02), Wilhelm de Wette (1813), Leonhard Usteri (1824), August Ferdinand Dähne (1835) und August Neander zu nennen. Vgl. Kümmel, Neues Testament, 112ff.; Schweizer, Geschichte der Paulinischen Forschung 7f., Uhlhorn, Neander, 679ff. 3 Bes. de Wette und Neander.

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I. Paulusforschung und Paulusbild im 19. Jahrhundert

Arbeit war der Weg vorgezeichnet, auf dem die weitere Paulusforschung weiterarbeiten sollte.

1.2. Paulus, der Anti-Apostel. Baurs Entwicklung derpaulinischen als Gegensatz ^ur Lehre der Urapostel

Theologe

Mit FERDINAND CHRISTIAN BAUR 4 trat die Erforschung der paulinischen Theologie in eine neue Phase ein. Eine fiir seine Theologie grundlegende Entdeckung legte Baur 1831 in seinem berühmten Aufsatz „Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde"5 dar. Ausgehend von der Schilderung der Spaltungen in der korinthischen Gemeinde durch Paulus nach 1. Kor. 1,1 Iff; 3,4ff., kommt Baur in seiner Analyse der Gemeindesituation zur Annahme von zwei gegensätzlichen Parteien nicht nur in Korinth, sondern in der ganzen frühesten Christenheit: Eine heidenchristliche Partei unter der Führung des Paulus hätte einer judenchristlichen unter Führung und Autorität des Petrus, des Jakobus und der übrigen Urapostel in diametralem Gegensatz und Kampf gegenüber gestanden. Streitpunkt war die Frage der Rechtfertigung und damit verbunden die Bedeutung und Geltung des jüdischen Gesetzes. Während die judenchristliche Partei die weitere Geltung der Thora verteidigt und auch Mission nur als Integration ins Judentum akzeptieren will, bestreitet Paulus mit Berufung auf die Rechtfertigung allein aus dem Glauben jede weitere Gültigkeit der Thora. Der Streit um die wahre christliche Verkündigung wird auch zu einem Streit um die Legitimität des Apostolats: Paulus wird von den Judenchristen vorgeworfen, gar kein wirklicher Apostel zu sein, „weil er nicht in demselben Sinne wie Petrus, Jacobus und die übrigen Apostel des Christus war, nicht wie diese in derselben unmittelbaren Verbindung mit Jesus während seines Lebens auf Erden"6 gestanden

Zu Baurs Erforschung der Geschichte des Urchristentums vgl. auch: Kümmel, Neues Testament, 156; Merk, Biblische Theologie, 460; Tetz, Baur, 935ff.; Scholder, Baur, 355ff.; Schmidt, Baur, 477ff. Zu seiner Erforschung der paulinischen Theologe vgl. Schweitzer, Geschichte der Paulinischen Forschung 12f., 16f.; Kümmel, Neues Testament, 168f.; Bultmann, Geschichte der Paulus-Forschung, 29f. [307f.]; Koch, Römer 3,21-31, lOff. Man muß sagen, daß Baurs Erforschung der paulinischen Theologe bisher kaum eine angemessene Würdigung erfahren hat. Seine Bedeutung wird zumeist auf seine Leistungen in der Literarkritik und der Geschichtsforschung reduziert. 5 Ferdinand Christian Baur: Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christenthums in der ältesten Kirche, der Apostel Petrus in Rom, Tübinger Zeitschrift für Theologie 4, 1831, 61ff. 6 Baur, Christuspartei, 83. 4

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hätte — ein Vorwurf, gegen den sich Paulus in allen seinen Briefen verteidigen muß. Diese Erkenntnis wird für Baur zum Leitfaden seiner weiteren Forschung. Die ganze frühe christliche Entwicklung ist nach Baur vom Gegensatz dieser beiden Parteien sowie von ihrer allmählichen Vermitdung geprägt. Mit der Hypothese zweier kontroverser christlicher Parteien hatte Baur als erster eine grundsätzliche theologische Differenz schon innerhalb der neutestamentlichen Schriften postuliert. Schon deshalb markiert sie einen Wendepunkt in der Paulusforschung: Mit der Möglichkeit einer grundsätzlichen Gegensätzlichkeit in der Theologie des Neuen Testamentes selbst war die Freiheit geschaffen, Paulus in seiner spezifischen unverwechselbaren Eigenheit zu begreifen. Baurs eigener Entwurf einer paulinischen Theologie, der „Lehrbegriff des Apostels", den er als dritten Teil seines Paulusbuches7 auf die Darstellung der paulinischen Biographie und die Untersuchung der einzelnen Briefe folgen läßt, ist sein großer Versuch, die Theologie des Apostels nach der Analyse der einzelnen Schriften nun „in seinem organischen Zusammenhang"8 zusammenzuschauen. Biographie und Textanalysen waren ihm nur Vorarbeit zu dem Ziel, auf dieser Basis die eigentliche Theologie des Apostels zu erarbeiten. Dabei sollte, nachdem vorher alles ,Unechte' ausgeschieden war, nun auch alles Unwesentliche und Zufallige ausgesondert werden, um so zum ,,Wesentliche[n] und Allgemeine[n]", zum „eigentümliche[n] Lehrsystem des Apostels"9 vorzustoßen. Bezeichnenderweise beginnt Baur seine Darstellung der paulinischen Theologie vor einer Darlegung der Rechtfertigungslehre mit einem Kapitel über das „Princip des christlichen Bewußtseins". Dieses Bewußtsein, in dem sich nach Baur das Christentum zusammenfaßt, ist das „Bewusstsein der Kindschaft Gottes"10, d.h. der „Identität des subjektiven Geistes mit dem Geist an sich".11 In keinem anderen Christen ist dieses Prinzip je so rein zur Geltung gekommen wie im Apostel Paulus.12 Die ganze Theologie des Apostels versteht Baiar als eine Entfaltung dieses Prinzips — zunächst subjektiv in

Baurs Paulusbuch wird im folgenden nach der 2. Auflage von 1860 — die im 3. Hauptteil, auf den hier Bezug genommen wird, mit der ersten Auflage von 1845 textgleich ist — zitiert. (Vgl. das Vorwort des Herausgebers. E. Zeller, ebd. Ulf.) 8 Baur, Paulus, 125. 9 Baur, Paulus, 125. 10 Baur, Paulus, 137. » Baur, Paulus, 137. 12 Vgl. Baur, Paulus, 133. 7

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der Rechtfertigung als dem Weg, auf dem der Einzelne zu diesem Bewußtsein kommt 13 , dann im „Leib-Christi" -Gedanken als dem Prinzip, wie die Gotteskindschaft objektiv in der Gemeinschaft der Glaubenden Gestalt gewinnen kann.14 Das christliche Bewußtsein ist für Baur das Ziel der religiösen Entwicklung überhaupt 15 - Paulus kommt daher das Verdienst zu, die religiöse Menschheitsentwicklung zu ihrem Ziel gebracht zu haben. Es ist sicher schon aus dieser kurzen Zusammenfassung deutlich geworden, daß Baurs Entwurf der paulinischen Theologie stark vom Geist der idealistischen Philosophie durchatmet ist.16 Das gilt auch für die Eschatologie. Es trifft zwar nicht zu, wie oft behauptet, Baur und seine Schule hätte die eschatologische Dimension ausgeblendet, nur ist sie in besonderer Weise in idealistischen Kategorien entworfen. Die eschatologische Perspektive der paulinischen Theologie ist nach Baur nicht die Erwartung eines plötzlich hereinbrechenden Weltendes, sondern ein Prozeß, der durch die „fortgehende Negation des entgegengesetzten Principe des Todes" 1 7 , also gewissermaßen durch eine ständige ,Negation der Negation' bestimmt ist. Die Erneuerung, die mit der Verwandlung des religiösen Bewußtseins begann, umgreift schließlich die Zukunft der ganzen Schöpfung — zunächst des Judentums, das als ganzes am Ende in das Christentum aufgenommen werden soll, aber auch der gesamten physischen Welt, für die Paulus ebenfalls die Verwandlung in den Zustand der Verherrlichung erwartet.18 13 Die Rechtfertigung versteht Baur in der Zurechnung der Gerechtigkeit, der der Glaube als das subjektive Element im Menschen entsprechen muß. Dennoch ist die Rechtfertigung bei Baur nicht beschränkt auf einen forensischen Akt, wie ihm später von Lipsius vorgeworfen wurde (vgl Lipsius, Rechtfertigungslehre, XVI). Baurs Begriff der δικαιοσύνη ist umfassend, umgreift Stellung vor Gott und menschliches Handeln und läßt in der „Liebe" Göttliches und Menschliches „in der Allgemeinheit eines geistigen Prinzips" (ebd. 181) zusammenfallen. In der Baur-Schule allerdings, wo der idealistische Hintergrund wegfiel, mußten dann auch Rechtfertigung und Heiligung auseinandertreten. 14 Thema des 4. Kap., Baur, Paulus, 184-197. 15 Thema des 5. Kap., ebd. 198-232. 16 Bisher schrieb man dies allein dem Einfluß Hegels zu, mit dem sich Baur ab 1833/34 — erst vier bis fünf Jahre nach seinen Schülern und nach seiner These über die Spannungen im Urchristentum - intensiv beschäftigte (Vgl. Kümmel, Neues Testament, 168; Schweitzer, Geschichte der Paulinischen Forschung 12f.). Berger hat dagegen (unter Aufnahme eines Hinweises von E. Zeller) wohl mit Recht auf den frühen Einfluß Schelüngs hingewiesen, dessen spekulative Geschichtsphilosophie auch für die frühen exegetischen Werke Baurs — und also auch für seine Theorie von den zwei gegensätzlichen Parteien im frühen Christentum — als Hintergrund gelten muß. (Vgl. Berger, Exegese, 33; gegen Kümmel, Neues Testament, 161.) 17 Baur, Paulus 2 1866,3.Teil, 245. 18 Thema des 6. Kap. Ein kurzes Kapitel über die drei theologischen Kardinaltugenden als die „drei Momente des christlichen Bewußtseins" (in Richtung der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft) beschließt den eigentlichen Teil des paulinischen Lehrbegriffs.

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Die idealistische Philosophie gab Baur die Freiheit, aus der Vorstellung einer in sich einheitlichen neutestamentlichen Theologie auszubrechen — sie setzte ihm aber auch neue Grenzen. So sehr Baur im Neuen Testament den Sinn für Gegensätze entwickelte, so sehr war er doch bei der paulinischen Theologie selbst als der Verwirklichung der Idee der absoluten christlichen Religion dem Gedanken der Einheitlichkeit verpflichtet. Das eigentliche Problem der Paulusdeutung Baurs besteht deshalb vor allem in dem, was er weggelassen bzw. an den Rand gedrängt hat. Baur hatte sich in der Einleitung zu seinem „Lehrbegriff' dazu verpflichtet, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen — und dieses Unwesentliche und „Zufällige", worin Paulus noch dem Zeitgeist verpflichtet sei und noch nicht zu sich selbst gefunden habe, sammelte Baur in einem eigenen Kapitel als „Spezielle Erörterung einiger dogmatischer Nebenfragen".19 Nicht nur in der Frage der Literarkritik oder in der Geschichtsforschung, auch in der Erforschung der paulinischen Theologie bestimmte Baur den Fortgang der exegetischen Paulusforschung: Baur stellte mit seinem „Lehrbegriff' neue paulinische Begriffe und Probleme in den Vordergrund, die zukünftig die Diskussion bestimmten sollten, so die Begriffe π ν ε ύ μ α (Geist) und σ ά ρ ξ (Fleisch, irdische Natur des Menschen) oder die Frage nach dem Verhältnis des paulinischen Christentums zu Heidentum und Judentum.22 In seinem Entwurf eines paulinischen „Lehrbegriffs" gelang es Baur, eine spezifisch paulinische Theologie zu entwerfen, die diese Theologie als eine im ganzen einheitliche, Heidentum wie Judentum gleichermaßen hinter sich lassende Lehre versteht. Dieser „Lehrbegriff' bildet die Grundla19 8. Kap. Im Aufbau dieses Kapitels kommt doch wieder die traditionelle Dogmatik zu Wort, denn zu diesen „Nebenfragen" gehören dann in der traditionellen dogmatischen Reihenfolge nach der Bestimmung der „Religion" die Lehre von „Gott", „Christus" u.a. bis zu den fetzten Dingen'. In diesem Kapitel findet sich auch einiges, was die Einheitlichkeit des paulinischen „Lehrbegriffs" mögjicherweise gestört hätte, wie z.B. die Lehre von den „Engeln und Dämonen" sowie weitere Themen zur Eschatologie. 20 Das π ν ε ύ μ α vermittelt dem Christen die Gotteskindschaft, seine .Gottgleichwerdung' — es ist fur Baur deshalb von allen paulinischen Begriffen der zentrale. 21 σ ά ρ ξ ist fïir Baur die Macht, die sich im Menschen der Erfüllung des Gesetzes entgegenstellt. (Vgl. Baur, Paulus 21866,3.Teil, 151.) 22 4. Kapitel, 3. Teil, 184—249. Wegen seiner Nähe zur idealistischen Philosophie wird der „Lehrbegriff des Apostels" als paulinische Theologie oft nicht wirklich ernst genommen — hier hätte, mit einem oft zitierten Wort Schweitzers, „nicht so sehr der Historiker wie der Schüler Hegels das Wort" (Schweitzer, Geschichte der Paulinischen Forschung 12). Dieses Urteil trifft jedoch sicher nicht zu: Baur vergißt in diesem dritten Hauptteil keineswegs, was er zuvor so detailliert erarbeitet hatte, im Gegenteil ist seine Paulusdarstellung in diesem Dreischritt von historisch erarbeiteter Biographie, analysierten Briefen und systematisch dargestellter Theologie in besonderer Weise exegetisch verantwortet.

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ge für die weitere exegetische Diskussion, doch diese Diskussion sollte aus der tieferen Durchdringung der von Baur aufgeworfenen Begriffe und Probleme diese Einheitlichkeit wieder in Frage stellen.23

1.3. Die Korrektur des Baurschen Geschichtsbildes in der Ritschl-Schule und ihrem Umfeld (Reuß, Ritsehl, Renan, Weizsäcker, Harnack) Baur hatte nicht nur die konsequent geschichtliche Betrachtung der paulinischen Schriften als Konsens durchgesetzt, sondern mit seinen Untersuchungen die gesamte bisherige Paulus forschung in Frage gestellt und Schülern wie Gegnern seine Fragestellungen aufgezwungen. Vor allem hatte Baur die weitere Paulusforschung vor die Aufgabe gestellt, das Verhältnis des Paulus zu den Uraposteln zu klären. Diese Auseinandersetzung verlief auf zwei Ebenen: Zum einen in mehr historischer Perspektive im Streit um das von Baur entworfene Geschichtsbild, zum anderen in exegetisch-theologischer Perspektive in der weiteren Erforschung der paulinischen Theologie. Baurs radikale Thesen zur frühchristlichen Geschichte, die durch ALBERT SCHWEGLER 24 und andere seiner Schüler noch kräftiger nachgezeichnet wurden, lösten eine Flut von Gegendarstellungen aus. Neben vielen bloß polemischen und apologetischen Schriften gab es auch etliche gründliche Untersuchungen, die unter Anerkennung und Anwendung der von Baur angewendeten historischen Methodik die These einer grundsätzlichen Divergenz zwischen Paulus und den Uraposteln zu widerlegen versuchten. Im Verlauf dieser Diskussion kam es zu einer Korrektur des Baurschen GeBaur hat die auf seine Thesen folgende Diskussion natürlich aufmerksam verfolgt und in seine eigene Darstellung zu integrieren versucht. Sein eigenes späteres Paulusbild, wie es sich aus den von Ferdinand Friedrich Baur herausgegebenen Vorlesungen über die neutestamentliche Theologie und über die Dogmengeschichte ergibt, verschiebt sich daher in Richtung der durch ihn selbst angestoßenen, ihn aber auch korrigierenden Forschung. Die Vielschichtigkeit und Differenziertheit der anthropologischen Begriffe, die sich in der folgenden Debatte ergab und die Baur in sein Werk zu integrieren versucht, zerstört in gewisser Weise die Einheit seines Entwurfs einer paulinischen Theologie. Die Theologie des Paulus ist deshalb nicht mehr, wie in seinem Paulusbuch, von einem Gedanken her entworfen, sondern zerfallt in verschiedene Loci, deren Anordnung auch nicht immer einleuchtend erscheint. Es ist die Entdeckung des Renschen" Paulus, der in seiner psychischen Vielschichtigkeit gleichzeitig wesentlicher Teil seiner Theologie ist, der die Sicht auf Paulus als Verkörperung des christlichen Bewußtseins unmöglich macht. Seine ab 1864 veröffentlichten Untersuchungen wurden von der zeitgenössischen exegetischen Diskussion zwar aufgenommen, haben aber nicht mehr in einer seinem Paulusbuch vergleichbaren Weise gewirkt. 24 Schwegler, Albert: Das nachapostolische Zeitalter in den Hauptmomenten seiner Entwicklung, 1846. 23

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schichtsbildes, das in vielem einen bis heute gültigen Konsens hervorbrachte. EDUARD R E U ß 2 5 bestritt in seiner „Geschichte der heiligen Schriften Neuen Testaments" nicht die Existenz zweier gegensätzlicher Parteien, wies aber innerhalb der judenchristlichen Partei verschiedene Strömungen nach. Die Urapostel seien danach nicht zu den radikalen Gegnern des Paulus, sondern zu den gemäßigten und vermittelnden judenchristlichen Kräften zu rechnen. Ähnlich bestritt ALBRECHT RlTSCHL 2 6 die Entstehung der Kirche aus einer Vermittlung des Gegensatzes zwischen Judenchristen und Heidenchristen. In seiner Geschichte der „Entstehung der altkatholischen Kirche"27 stellte er heraus, daß sowohl die eigentlichen „radikalen" Judenchristen als auch Paulus längst nicht die herausgehobene Stellung in der Entwicklung des Christentums innegehabt hätten, die Baur ihnen zugewiesen hatte. Die radikalen judenchristlichen Kräfte hätten auf die Ausbildung der altkatholischen Kirche kaum Einfluß gehabt, und Paulus sei keinesfalls in exklusiver Weise einziger Heidenmissionar gewesen. Außerdem hätte die altkatholische Kirche Paulus zwar anerkannt, seine Theologie in ihrer eigentlichen Intention aber weder verstanden noch übernommen, sondern sei vielmehr aus einem vulgären Heidenchristentum hervorgegangen. Obwohl Ritsehl hierin durchaus richtige Erkenntnisse herausarbeitete, rückte er Paulus doch im Gegenzug zu Baur zu stark in die homogene Gemeinschaft der Urapostel zurück. Die gemeinsame Basis für alle Strömungen des frühen Christentums erkannte Ritsehl in ihrer Verwurzelung im Alten Testament — auf dieser Grundlage meinte er, für die Theologie, Christologie und Eschatologie einen breiten Konsens nachweisen zu können. Der Gegensatz zwischen Paulus und den anderen Aposteln beschränkte sich seiner Meinung nach lediglich auf die Frage der Gültigkeit des Gesetzes bei Judenchristen. Mit diesen Thesen hat Ritsehl eine eigene Schultradition begründet, die sich bis zum Ende des Jahrhunderts fortsetzte. Einer seiner wichtigsten „Schüler" war CARL WEIZSÄCKER. 2 8 Weizsäcker unterstrich wie Ritsehl die Anerkennung des Paulus durch die Urapostel und ihre grundsätzliche theologische Gemeinsamkeit. Durch diese Anerkennung des Paulus auf dem Apostelkonzil — so seine These — habe sich der Bruch zwischen den Aposteln und Paulus einerseits und den radikalen Judenchristen andererseits vollzogen, ein Bruch, der später durch das Aposteldekret (Apg.l5,28f.) als späterer Vgl. Kümmel, Neues Testament, 191; Merk, Bibelwissenschaft, 384. Vgl. Feine, Paulus, 22ff.; Kümmel, Neues Testament, 201. 27 Ritsehl, Albrecht: Die Entstehung der altkatholischen Kirche. Eine kirchen- und dogmengeschichtliche Untersuchung, 1850, 2 1857. 28 Vgl. Kümmel, Neues Testament, 208f.; Merk, Bibelwissenschaft, 384. 25 26

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Kompromiß geglättet werden sollte. ADOLF H A R N A C K 2 9 verstand sich ebenfalls als Schüler Ritschis. Ritschis These vom Ursprung der frühkatholischen Kirche spitzte Harnack weiter zu, indem er sie ganz als eine Dogmatisierung des Evangeliums auf dem Boden des griechischen Denkens interpretierte. Den Apostel Paulus versteht er ganz aus seiner jüdischen Herkunft her und rückt ihn so in die Reihe der Urapostel zurück. Schärfer noch als Ritsehl strich Harnack heraus, daß Paulus auf die weitere christliche Entwicklung keinen wesentlichen Einfluß gehabt hätte. Auch A D O L F SCHLATTER 30 , der aus der „Greifswalder Schule" Hermann Cremers31 stammte, darf in das Umfeld Ritschis gerechnet werden. In seinem Buch „Der Glaube im Neuen Testament" (1885) versuchte er, an der gemeinsamen Vorstellung des „Glaubens" die Einheitlichkeit des neutestamentlichen Zeugnisses nachzuweisen. Diese Einheit hat für Schlatter in den jüdischen Wurzeln der frühchristlichen Gemeinde ihre Wurzeln. Nicht von ungefähr beginnt er deshalb sein Werk über den neutestamentlichen Glaubensbegriff mit einem Kapitel über den „Glaubefn] in der palästinensischen Synagoge".32 Auch Paulus wird von seiner rabbinisch-jüdischen Herkunft her in die Linie der Urapostel zurückgerückt. Bei allen zugestandenen einzelnen Unterschieden im Glaubensverständnis der Apostel ist deshalb die Leugnung aller hellenistischen Einflüsse bei Paulus für Schlatter schließlich eine theologische Notwendigkeit. Etwas außerhalb dieser Bewegung steht das große frühchristliche Geschichtswerk von ERNEST RENAN 3 3 , das eine wesentliche Quelle für Nietzsches Paulus- und Jesusbild darstellt. Renan wagte den großen Versuch, vor dem Hintergrund der Methoden und Ergebnisse der neuen historischkritischen Forschung eine Geschichte über die „Ursprünge des Christentums" von Jesus bis in die frühkatholische Zeit zu schreiben. Die siebenbändige34 „Histoire des Origines du Christianisme" (1863—83) ist ein mehr historisch als theologisch orientiertes Werk. Renan versteht sich dabei in seiner Arbeit als Historiker, trotz ausführlicher Auseinandersetzung mit den

Vgl. Kümmel, Neues Testament, 221 f.; Merk, Bibelwissenschaft, 384. Vgl. Kümmel, Neues Testament, 243£; vgl. Merk, Bibelwissenschaft, 385,387. 31 Vgl. Kümmel, Neues Testament, 243.; vgl. Merk, Bibelwissenschaft, 385. 32 Schlatter, Glaube, 21896,1.Kapitel, l l f f . 33 Vgl. Lachenmann, Renan, 649ff. 34 Der 8. Band des Werkes ist ein Index. 29

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Quellen, nicht als Forscher, sondern als Erzähler35 — dieser Ansatz gibt seinem Werk seinen unverwechselbaren Charakter, bedingt aber auch manche Schwäche. Sein Stil machte ihn (vor allem durch das „Leben Jesu") über Nacht zu einer europäischen Berühmtheit, brachte ihm aber auch gerade von der deutschen theologischen Fachwelt viel Kritik ein. Letztlich hat sein Geschichtswerk in den deutschen fachtheologischen Kreisen (und, obwohl selbst von Ritsehl beeinflußt, auch in der Ritschl-Schule) wenig Aufnahme gefunden. Renan führt in seinem Werk durch die ganze Geschichte des frühen Christentums im Wandel der ersten Jahrhunderte. Das Christentum ändert sich nach seiner Darstellung dabei durch die jeweilige Stimmung der Personen, der Situationen und Landschaften, in die es hineinkommt: Es ist bestimmt durch den (genau gezeichneten Charakter) der verschiedenen Apostel und Boten36, durch den Charakter der Landschaft37, durch die Stimmung infolge von Verfolgungen38 und auch durch den religionsgeschichtlichen Hintergrund.39 Im ganzen zeichnete Renan seine Geschichte des Christentums als eine Verfallsgeschichte, die zugleich eine (wenn auch meist unbewußte) Verfalschungsgeschichte war: Am Anfang stand Jesus, dessen Gestalt und Botschaft von keinem seiner Jünger adäquat aufgefangen und weitergetragen werden konnte. Danach kommt die Zeit seiner Jünger und Apostel, großartig durch den „glühende[n] Enthusiasmus" und die „übermenschliche Kühnheit", in welcher sie in „erhabene [r] Verachtung der Wirklichkeit" allein die Durchsetzung ihres christlichen Ideals verfolgten.40 Aber in diesem Eifer entfernten sie sich unmerklich auch vom Ideal Christi, indem sie es mit den Methoden und Belangen dieser Welt vermischten. Paulus vollzog nach Renan den entscheidenden Schritt der Trennung des Christentums von seinem jüdischen Boden, um das Christentum in der heidnischen Welt seinen eigenen

„[...] Geschichtserzählung und Forschung müssen, meinem Grundsatz nach, voneinander getrennt sein. Die Erzählung kann erst gegeben werden, wenn von der Gelehrsamkeit ganze Bibliotheken kritischer Abhandlungen und Versuche aufgehäuft worden sind; aber wenn sich die Geschichtsdarstellung davon losgemacht hat, so schuldet sie dem Leser nur die Angabe der ursprünglichen Quelle, auf die sich jede Behauptung stützt."35 (Renan, Antichrist, XXXVIIIf., vgl. ebd., VIII.) 36 Vgl. z.B. fur Jakobus: Renan, Paulus, 266; für Petrus: Renan, Paulus, 274. 37 Besonders bestimmend im „Leben Jesu". 38 Vgl. Renan, Antichrist, V. 39 Vgl. für die paulinischen Gemeinden Renan, Paulus, 258f.; für die Apk. Renan, Antichrist, 284ff., 288. 40 Renan, Antichrist, VI. 35

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Weg gehen zu lassen.41 Die Kirche des 4. Jahrhunderts schließlich war zu einer moralisch laxen, uninteressanten, dogmatisch verfestigten Durchschnittsreligion geworden. In seiner Darstellung der Differenz zwischen den Aposteln vertrat Renan wie Reuß und Ritsehl verschiedene Strömungen innerhalb des Judenchristentums. Haupt der radikalen Judenchristen war Jakobus, der wie Johannes, der Verfasser der Apokalypse, einen „furchtbaren Haß gegen Paulus"42 empfand und Paulus als den eigentlichen Gegner des Christentums, ja als den „Vorläufer des Antichrists"43 hinstellte. Petrus dagegen nahm Paulus gegenüber eine vermittelnde Stellung ein, an deren vorübergehender Störung wiederum Jakobus schuld war.44 Renan sieht keine grundsätzliche Spannung zwischen Paulus und den anderen Aposteln, aber er ordnet Paulus den Uraposteln ausdrücklich nach. Paulus ist von allen anderen Aposteln dadurch getrennt, daß er Jesus und seine Verkündigung nicht kannte und sich für sein Evangelium auf eine Offenbarung berufen mußte. Er ist es auch durch seine ungeheure Wirksamkeit, die ihn zwar gegenüber den anderen Aposteln auszeichnete, die aber auch in mehr Konflikte mit weltlichen Belangen brachte und ihn zu mehr Kompromissen zwang. Und obwohl er auch nach Renan Jude war wie die anderen, trennte er sich von ihnen durch sein Missionsamt bei den Heiden: Hier führte er Jesus in ein anderes Milieu ein, wo Jesus nicht mehr als Person interessant war, sondern als Gott verehrt wurde, von dem sie sich eine Verwandlung und Umdeutung ihrer gesamten Existenz erhofften.45 Renan zeichnet in seiner Geschichte des frühen Christentums die Ubergänge von der Botschaft Jesu bis zur christlichen Dogmatik des 2. Jahrhunderts in mehreren Stufen. Dennoch stellt er Paulus als denjenigen heraus, der den entscheidenden Schritt in die heidnische Denkwelt getan und zu verantworten hat. Renan war der erste und in der neutestamentlichen Wissenschaft über lange Zeit der einzige, der aus dem Problem des Verhältnisses des Paulus zu den Uraposteln das Problem „Paulus und Jesus" gemacht hat.46

Renan, Antichrist, VI. Renan, Antichrist, XXVII. 43 Renan, Paulus, 281. 44 Vgl. Renan, Paulus, 270ff. 274ff. 45 Vgl. Renan, Paulus, 258f. 46 Vgl. unten im Kapitel: Das Thema „Paulus und Jesus" in der Theologie des 19. Jahrhunderts. 41

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1.4. Die Entdeckung der hellenistischen Einflüsse in derpaulinischen

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1.4.1. Adelbert Lipsius In der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Paulus und den Uraposteln wurde bald deutlich, daß die Lösung dieses Problems von der Beurteilung der paulinischen Rechtfertigungslehre abhing— schließlich hatte Baur von ihr aus die theologische Selbständigkeit des Paulus postuliert. Eine Auseinandersetzung um diese innerchristlichen Spannungen um Paulus mußte deshalb auch die Frage nach dem paulinischen Verhältnis zum Judentum zu lösen versuchen. Es ergab sich deshalb die Notwendigkeit, die paulinische Rechtfertigungslehre neu zu untersuchen — zum einen in Hinblick auf die durch die „Rechtfertigung" bewirkte „Gerechtigkeit"47, zum anderen in Bezug auf die Stellung des Paulus zum Gesetz, in welcher sich sein Verhältnis zum Judentum offenbart.48 Einer der ersten Exegeten, die in der Erforschung der paulinischen Rechtfertigungslehre neue Entdeckungen machten, war der Leipziger Privatdozent Richard ADELBERT LIPSIUS. 49 In ausdrücklicher Auseinandersetzung mit Baur und der Tübinger Schule50 versuchte Lipsius in seiner Erstlingsschrift „Die paulinische Rechtfertigungslehre"51 (1853) diese reformatorische Lehre in ihrer Bedeutsamkeit für die Gegenwart zurückzugewinnen — gerade auch in ihrer ethischen Dimension. Wie Baur macht auch Lipsius die „Gerechtigkeit" (δικαιοσύνη) zum Zentralbegriff seiner Darstellung. Dabei entdeckt Lipsius aber in diesem Begriff bei Paulus eine Spannung: Sie ist an etlichen Stellen als ein bereits vorhandener, an anderen aber als ein noch ausstehender Zustand gedacht. Lipsius sieht in der Gerechtigkeit deshalb einen neuen Lebenszustand, in dem die ethische „Heiligung" keimhaft schon angelegt ist.52 Diese zwei Dimensionen

Baur verstand, wie dargestellt wurde, „Gerechtigkeit" als Einswerden des Christen mit Gott im Geist im Bewußtsein der „Gotteskindschaft" - diese war aber nur eine Tatsache des subjektiven Bewußtseins. Nach der Lösung vom idealistischen Geschichts- und Menschenbild mußte diese Interpretation der Rechtfertigungslehre als fragwürdig erscheinen. 48 Nach Baur war die Aufhebung des Gesetzes durch Paulus sein eigentlicher Schritt aus dem Judentum heraus — nach seinen Kritikern war der Streit um die Gültigkeit des Gesetzes eher pragmatischer Natur. 49 Vgl. auch Feine, Paulus, 21 f.; Schweitzer, Geschichte der Paulinischen Forschung 15f. 50 Vgl. Lipsius, Rechtfertigungslehre, XVI f. 51 Lipsius, Richard Adelbert: Die paulinische Rechtfertigungslehre unter Berücksichtigung einiger verwandten Lehrstücke nach den vier Hauptbriefen des Apostels, Leipzig 1853. 52 Vgl. Lipsius, Rechtfertigungslehre, 6. 47

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entdeckt er auch in der „Rechtfertigung" (δικαίωσις): Sie ist „ebensowol ein durch den Richterspruch Gottes erfolgendes für gerecht Erklären als ein durch die Gnade erfolgendes Gerechtmachen".53 Der forensische Akt der Gerechtsprechung und der Pro%eß der Heiligung, in dem der Mensch „innerlich umgestaltet"54 wird, gehören für Lipsius in der Rechtfertigung zusammen, sie sind gewissermaßen die beiden Seiten des durch Christus erfolgten Heilswerkes. Lipsius empfindet das Miteinander dieser beiden Aspekte, des juridischen Gedankens der Gerechtsprechung und des ethischen Gedankens der Gerechtmachung, nicht als Problem.55 Es war ihm aus der dogmatischen Tradition zu sehr vertraut und auch eigentliches Ziel seiner Arbeit. Er ahnt nicht, daß er mit dieser Entdeckung einen entscheidenden Riß in die Einheitlichkeit des paulinischen Lehrsystems gebracht hat.

1.4.2. Carl Holsten Wohl ebenfalls unbefriedigt von der Darstellung der paulinischen Rechtfertigungslehre durch seinen verehrten Meister Ferdinand Christian Baur machte es sich CARL HOLSTEN 56 zu seiner Lebensaufgabe, das Verhältnis des Paulus zum Urchristentum neu zu durchdenken. Er versuchte, die eigentliche theologische Differenz zwischen Paulus und den Uraposteln genauer zu bestimmen und ihren Ursprung zu ermitteln. Zudem wollte er die Entwicklung verständlich machen, in der sich das paulinische Christentum aus dem judenchristlichen herausbilden konnte. Den Ursprung der theologischen Differenz zwischen den Uraposteln und Paulus, die Holsten zunächst wie Baur im unterschiedlichen Verständnis der Rechtfertigung ansetzte, sah Holsten in der gedanklichen Durchdringung des Problems des Kreuzestodes durch Paulus. Das Christentum des Petrus bestand darin, Glaube an den auferstandenen Christus zu fordern und sich auf dessen Wiederkunft durch ethischen Lebenswandel vorzubereiten. „Sein gehalt war das im sinne Jesu gereinigte religiös-nationale gerechtichkeitsideal [...]". 57 Der schreckliche Tod Jesu wird aus den alttestamentlichen Schriften her gedeutet, bleibt der christlichen Lipsius, Rechtfertigungslehre, 16. Lipsius, Rechtfertigungslehre, 177. 55 Vgl. Lipsius, Rechtfertigungslehre, 177. 56 Vgl. auch Feine, Paulus, 30ff. und Mehlhorn, Holsten, 283f.; Schweitzer, Geschichte der Paulinischen Forschung 22ff. 57 Holsten, messiasvision des Petrus, 236. 53

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Verkündigung aber letztlich äußerlich. Er ist eine durch die Auferstehung glücklich überwundene Katastrophe ohne eigene Bedeutung.58 Paulus dagegen war nach Holsten ein scharfer dialektischer Denker, der mit solchen Inkonsequenzen nicht leben konnte. Er war nicht bereit, „im tode Christi nur eine überflüssige Luxustat Gottes"59 zu sehen.60 Paulus entdeckt die Alternative zwischen dem durch die Auferstehung als gottgewollt bestätigten Kreuzestod und dem Gesetz — beide können nicht gleichzeitig göttlicher Heilswille sein. Gott selbst, so folgert Paulus, hat die Rechtfertigung durch das Gesetz durch den Kreuzestod seines Sohnes abgelöst. An die Stelle der jüdischen und judenchristlichen „willensgerechtigkeit" mußte deshalb die „objektive glaubensgerechtigkeit vor Gott"61 treten. „(DJamit ward das evangelium der urapostel das der auferstehung, das evangelium des Paulus das des kreuzestodes Jesu Christi".62 Das entscheidende Datum, mit dem sich Paulus das Nachdenken über den Kreuzestod als Heilsereignis aufzwang, war das Damaskuserlebnis, in dem Paulus der Gekreuzigte als der Messias erschien. Dieses Erlebnis wird damit zum Angelpunkt des paulinischen Denkens; Holsten versucht deshalb, auch dieses Geschehen von der streng historischen Kritik her neu zu interpretieren — und beschreitet damit einen neuen Weg in der Paulusforschung.63 Paulus zieht aus der neuen christlichen Lehre die entscheidenden Konsequenzen und führt das Christentum damit zu sich selbst — und im „evangelium des anti-jüdischen apostéis"64 aus dem Judentum heraus. Diese Erkenntnis ist im Damaskuserlebnis nicht schon fertig präsent, sondern erschließt sich dem Apostel in einem Prozeß des Nachdenkens (lange vor der Niederschrift seiner Briefe).65 Wesentlich für die weitere theologische Forschung war, daß Holsten diese Reflexion entscheidend durch hellenistische Vgl. Holsten, messiasvision des Petrus, 235f.; Galater 245, bes. 256f. Anm. Holsten, messiasvision des Petrus, 141. 60 Die Durchdringung des Kreuzestodes Jesu fur die Rechtfertigung durch Paulus stellt Holsten ausfuhrlich in seiner Interpretation und Kommentierung des Galaterbriefes dar (Vgl. Holsten, Galater, 239ff., vgl. bes. 241-246.) 61 Holsten, Galater, 244. 62 Holsten, messiasvision des Petrus, 236. 63 Vgl. unten im Kapitel „Die Entdeckung des .Menschen' Paulus und die psychologische Erforschung seines Damaskuserlebnisses. 64 Holsten, christusvision, 114. 65 Holsten versteht Gal. l,15ff. so, daß sich Paulus gewissermaßen 3 Jahre nach Arabien und Damaskus in Klausur zurückzieht und hier in der Reflexion seines Erlebnisses auf der Basis seiner jüdischen Tradition zu seiner eigenen Theologie gelangt — bevor er selbst zu missionieren beginnt; seine theologische Entwicklung liegt zur Zeit seiner Briefe also schon lange zurück; (Vgl. Holsten, christusvision, 57 f.) 58

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Einflüsse geprägt sieht. Besonders deutlich wird dies in Holstens Darstellung der paulinischen Theologie, wie er sie in seinem ersten Aufsatz zu Paulus mit dem bescheidenen Titel „Die bedeutung des Wortes ΣΑΡΞ im lehrbegriffe des Paulus" (1855) entwickelt. Diese ausführliche Untersuchung hält mehr, als der Titel verspricht: Sie ist nicht nur eine Begriffsklärung, sondern will die paulinische Theologie von ihrem Menschenbild her neu interpretieren. Nach Holsten schöpft Paulus seine theologische Sprache aus der Verbindung von jüdischen und hellenistischen Denkkategorien, wie sie ihm durch das jüdischhellenistische Denken vermittelt wurde. Hellenistisches Denken ist für Holsten bestimmt durch das Bewußtsein der Transzendenz Gottes und durch einen radikalen Dualismus zwischen der göttlichen und der irdischen Welt.66 Vor diesem Hintergrund interpretiert Holsten auch Paulus' Verständnis der menschlichen σάρξ: Durch das Fleisch als der Materie seines Leibes ist der Mensch zu Endlichkeit und Vergänglichkeit verdammt — und dadurch in den Gegensatz zur Unendlichkeit Gottes gesetzt.67 Aus dieser Bestimmung des Menschen erschließt Holsten eine neue Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre: Ist der Mensch grundsätzlich von seinem Fleisch (σάρξ) als seiner Leibmaterie bestimmt und damit böse und gottfern, so kann seine Rechtfertigung nur aus einem Akt Gottes ohne menschliches Zutun geschehen. Diese Tat Gottes ist der Kreuzestod Christi, der in der Tötung seines Fleisches für alle Gläubigen die σάρξ vernichtet hat — sie alle werden durch diesen souveränen, einseitigen Akt Gottes „objektiv an sich zu gerechten gemacht [...], ganz abgesehen von ihrer subjectivität".68 Etwas unbestimmt bleibt allerdings, wie sich Holsten diese ,Gerechtmachung', die mehr sein soll als ein rein forensischer Akt, ethisch real vorstellt: A b e r freilich diese absolute einheit ist nur theorie. N u r in der theorie ist die σ ά ρ ξ tot und ist in d e m gläubigen die Sinnlichkeit abgetötet. D e n n leider in der Wirklichkeit ist das product des todes Christi nur ein prozess; immer lebt n o c h wieder auf die nur ideell tote σ ά ρ ξ , der alte A d a m , und trübt n o c h mit seinen lüsten die heilige reinheit des lebens der gläubigen. 6 9

Auf die Auflösung dieser Spannung richtet sich die eschatologische Hoffnung. Am Ende der Tage soll sich vollenden, was sich prinzipiell schon mit dem Tode Christi vollzogen hat. Paulus erwartet eine endgültige „Scheidung Vgl. Holsten, Evangelium, 367 (spätere Einleitung zur zweiten Ausgabe von 1868). „Die σ ά ρ ξ also steht in absolutem gegensatze zum πνεύμα, dem wesen Gottes. Sie ist das endliche, princip der Vergänglichkeit, des irrtums, des bösen." (Holsten, Evangelium, 399.) 68 Holsten, Evangelium, 416; Vgl. 440ff. 69 Holsten, Evangelium, 444. 66

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des unendlichen von dem endlichen" 70 — der Gläubige wird durch den in ihm wohnenden Gottesgeist (πνεϋμα) in der Auferstehung auch einen pneumatischen Leib erhalten und so endgültig von aller Schwächung durch das Sündenfleisch befreit sein. Das eschatologische Geschehen begrenzt sich aber nicht auf die Auferstehung der Christen, sondern umgreift diese in einem kosmischen Prozeß, der mit der Erscheinung Christi beginnen und mit dem Sieg über alle widergöttlichen irdischen und überirdischen Mächte und der Befreiung der gesamten Schöpfung von der Vergänglichkeit enden wird.71 Wie wenige vor ihm hat Holsten die Bedeutung der (durch das hellenistische Judentum vermittelten) griechischen Denkkategorien für Paulus erkannt. Seine Interpretation der σ ά ρ ξ in ihrer Bestimmung zur Endlichkeit und Vergänglichkeit wurde für die weitere Forschung wegweisend. 72 In der Fesdegung der σ ά ρ ξ allein auf die stoffliche Materie wird aber auch ein grundsätzliches Problem seines Ansatzes deutlich: de facto legt Holsten Paulus allein auf hellenistische Denkmuster fest, so daß eigentlich nicht von einer Verbindung von jüdischem und hellenistischem Denken gesprochen werden kann — die hellenistischen Denkkategorien erscheinen als die ,Form', welche die Gestaltung der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung als deren bloßen .Stoff* bestimmt. Holsten fixiert das Weltbild des Paulus ganz auf einen strengen Dualismus von Geist und Materie, den er für die jüdischhellenistische Weltanschauung hielt.73 Holsten verwickelt sich in seiner neuen und provokativen Anthropologie auch in einige weitere Probleme. Das gewichtigste dabei ist die ungeklärte Spannung im göttlichen Akt der Rechtfertigung: Ist sie nun eine reale Verwandlung des Menschen oder bleibt die ethische Veränderung doch dem Christen selbst überlassen? Holstens Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen „theorie" und „Wirklichkeit", d.h. für Holsten zwischen der Idee und ihrer prozeßhaften Verwirklichung atmet noch den Geist des Idealismus, macht aber mehr auf ein tieferes Problem aufmerksam, als daß es dieses wirklich zu lösen vermöchte.

Holsten, Evangelium, 444. Vgl. Holsten, Evangelium, 444ff. Das von Paulus an mehreren Stellen angedeutete Gericht versteht Holsten als ein Gericht nur über die Gläubigen, in dem über den „religiösefn] wert" der Gläubigen geurteilt werden wird, (ebd., 444.) 72 Vgl. z.B. das Votum Lüdemanns, Anthropologie, Vorwort. 73 Vgl. Holsten, Evangelium, 368, 370 (spätere Einleitung zur zweiten Ausgabe von 1868). 70 71

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1.4.3. Hermann Lüdemann Diese Probleme und Spannungen versucht nun der Kieler Neutestamentier und Kirchengeschich tier HERMANN LÜDEMANN 7 4 in seiner Schrift „Die Anthropologie des Apostels Paulus" (1872) in einer eigenen Darstellung der paulinischen Rechtfertigungslehre zu lösen. Lüdemann ist fur unsere Darstellung gewissermaßen die entscheidende Schaltstelle zwischen der exegetischen Paulusforschung und Nietzsches eigener Paulusinterpretation, denn dieses Werk Lüdemanns, das Nietzsche im Juli 1880 studierte, war seine wichtigste Quelle zur Kenntnis der paulinischen Theologie. Das Werk Lüdemanns ist tatsächlich, wie Nietzsche an Overbeck schrieb, ein „Meisterstück auf einem sehr schwierigen Felde"75, es beeindruckt neben der exakten Exegese durch den scharfen Blick für die feinen Unterschiede und Mißstimmigkeiten der paulinischen Begriffe. Lüdemann führt in seiner Schrift durch eine diffizile exegetische Kleinarbeit, die zu einer beeindruckenden Gesamtschau wird. Wie Holsten wählt Lüdemann auch die paulinische Anthropologie als Ausgangspunkt, um von hier aus die Rechtfertigungslehre zu ergründen. In diesem Durchgang durch die paulinische Theologie „von der Peripherie zum Centrum"76 gelingt es ihm mehr als allen seinen Vorgängern, sich von der traditionellen, von der Dogmatik geprägten Gliederung freizumachen. Er eröffnet sich damit auch einen freieren Blick für die Besonderheiten und Spannungen dieser Theologie. Lüdemann gliedert seine Monographie in drei Teile: zuerst will er die paulinische „Anthropologie" auf der physischen Ebene darlegen77, um dann die ethische Bedeutsamkeit der gefundenen Unterscheidungen zu erschließen.78 In einem dritten Teil schließlich will er die Entwicklung der paulinischen Anthropologie und Erlösungslehre durch die verschiedenen Briefe nachzeichnen.79

Vgl. auch Schweitzer, Geschichte der Paulinischen Forschung 22ff. und Feine, Paulus, 40ff.; sehr knapp Bultmann, Geschichte der Paulus-Forschung, 35f., 37f. [313, 315]; zu den religionsphilosophischen Arbeiten Lüdemanns vgl. Stephan/Schmidt, Geschichte, 323f. Die Darstellungen der Theologie Lüdemanns beschränken sich in der Regel im Gefolge Schweitzers auf die Feststellung zweier Anthropologien bzw. Rechtfertigungslehren. Die eigentlichen Thesen Lüdemanns und damit seine Leistung für die Erforschung der paulinischen Theologie sind bisher noch nicht herausgearbeitet worden. 75 Schreiben an Overbeck vom 19.7. 76 Lüdemann, Anthropologie, 2. 77 „Die physische Anthropologie"; Lüdemann, Anthropologie, 1—50. 78 „Die ethische Anthropologie"; Lüdemann, Anthropologie, 51—150. 79 „Die Stellung der Anthropologie innerhalb der Heilslehre"; Lüdemann, Anthropologie, 151-217. 74

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Anstoß für die Arbeit Lüdemanns war die Spannung, die er in der Darstellung der paulinischen Anthropologie durch Holsten bemerkte — und so ist seine ganze Untersuchung auch in Auseinandersetzung mit Holsten geschrieben. Nach Holsten stand der Mensch als σάρξ („Fleisch") Gott als πνεύμα („Geist") gegenüber. Nach Lüdemann aber liegt hier der entscheidende Fehler — jüdisches und griechisches Denken seien im Begriff der σάρξ nicht in Ubereinstimmung zu bringen: Die alttestamentlich-jüdische Tradition sehe den Menschen als eine geist-leibliche Einheit, die sich als ganze zu Gott in Beziehung stellen könne — nach der griechischen dagegen trage der Mensch als geist-leibliche Zweiheit σάρξ und πνεύμα als zwei entgegengesetzte Prinzipien in sich, von denen nur das letztere gottverwandt sei.80 Das christliche Menschenverständnis des einerseits erlösungsbedürftigen, andererseits erlösungsfahigen Menschen ist nach Lüdemann weder in den jüdischen noch in den griechischen anthropologischen Begriffen zu erfassen. Paulus prägt deshalb für das menschliche ,Subjekt' den Begriff des πνεύμα άνθρωπου („Geist des Menschen"), des „inneren Menschen" (έσω άνθρωπος), der gegen die Bestimmung durch das Fleisch wie durch den Geist Gottes gleichermaßen offen ist. Paulus wird damit %um Schöpfer eines christlichen Menschenbildes.81 Dieses neue Bild vom Menschen erschließt sich Paulus selbst erst nach und nach, so daß ihm noch das rein jüdische, den Menschen als Einheit sehende zur Seite geht. Die σάρξ ist nun jedoch keineswegs unbestimmt, sondern ist als Fleischesmaterie der Sitz der Sünde.82 Die Sünde liegt damit nicht mehr im Willen des Menschen, sondern objektiv in der Beschaffenheit seiner irdischen Natur.83 In diesem Zusammenhang denkt Lüdemann auch über die Bedeutung des Gesetzes nach. Das Gesetz (als νόμος πνευματικός; „Gesetz des Geistes") ist es, das den guten Keim in den Menschen legt, indem es sich der Vernunft als etwas Besseres zeigt. Der Mensch hat nun zwar ein neues Le-

Vgl. Lüdemann, Anthropologie, 27. Vgl. Lüdemann, Anthropologie, 48ff., 100 (νους und κ α ρ δ ί α sind nach Lüdemann als Funktionen dieses π ν ε ύ μ α άντρώπου zu denken). Diesem neuen christlichen Menschenbild geht nach Lüdemann das jüdische, den Menschen als Einheit fassende Verständnis noch zur Seite. (Vgl. ebd.) Lüdemann ist dabei wichtig, daß es sich bei dieser Anthropologie nicht um eine griechische, sondern tatsächlich um eine Verschmelzung von jüdischem und griechischem Denken handelt und es gerade in der Verschmelzung zu einem original christlichen Ansatz kommt. (Vgl. ebd.; gegen Schweizer, Geschichte, 24f.) 82 Lüdemann, Anthropologie, 71. 83 Lüdemann, Anthropologie, 80. Diese These, die auch schon bei Baur und Holsten anklang, stellt Lüdemann in neuer Konsequenz in das Zentrum seiner „ethischen Anthropologie". 80 81

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bensziel, ist jedoch von selbst unfähig, ihm zu folgen. Das Gesetz war also nie dazu da, um erfüllt zu werden, sondern einzig, um im Menschen überhaupt das Verlangen nach Erlösung zu wecken. Durch die Verbindung vom jüdisch-ethischen Schuldbewußtsein (das von einer unwissentlichen und dennoch echten Schuld weiß) mit dem griechischdualistischen Begriff der σ ά ρ ξ wird die Sünde unausweichlich, und der Mensch, der sich gegen sie wehrt, gerät notwendig in absolute Verzweiflung.84 Das Judentum lebt jedoch vom Gedanken der Erfüllbarkeit des Gesetzes und damit der Vermeidbarkeit der Sünde: Der paulinische Sündenbegriff ist nach Lüdemann deshalb der — von Paulus beabsichtigte! — vollständige „Bankrutt des Judenthums". 85 Dem Menschen kann aus dieser Verzweiflung nur von Gott selbst geholfen werden. Gott schickt Christus als ein Himmelswesen, das eine Nachbildung des Fleisches (ομοίωμα σαρκός) 86 annimmt. In seiner Kreuzigung wird das Fleisch verurteilt und objektiv vernichtet.87 Das Erlösungswerk Christi konzentriert sich damit ganz auf sein Sterben und Auferstehen — der Mensch Jesus -wird nach Lüdemann für Paulus unwichtig.88 In der Frage, wie nun der einzelne Christ an dieser Vernichtung des Fleisches real Anteil erhält, verweist Lüdemann nun nicht wie üblich auf den Glauben, sondern (meines Wissens als erster Exeget) auf die Taufe. In ihr identifiziert sich der Getaufte mit dem Kreuzessterben Jesu — seine σ ά ρ ξ wird getötet, und der von dieser Herrschaft befreite Mensch wird fortan vom Gottesgeist bestimmt.89 Jedoch ist der fleischliche Leib nicht einfach fort, sondern nur tot90 — besser: Er befindet sich „im Zustande des Absterbens".91 Das eigentliche Abtöten des Fleisches und das neue ethische Handeln ist— anders als bei Holsten — nicht dem einzelnen Christen überlassen, sondern wird vom Geist selbst im Menschen gewirkt. Der Mensch selbst hat keine andere Aufgabe,

Lüdemann, Anthropologie, 106f. Lüdemann, Anthropologie, 107, vgl. ebd. 101. 86 Lüdemanns Übersetzung der umstrittenen Stelle Rom. 8,3 (vgl. Lüdemann, Anthropologie, 116f.). 87 Lüdemann, Anthropologie, 121; vgl. die Rezeption Nietzsches 4[164] = KSA 9,142. 88 Lüdemann, Anthropologie, 122.121; vgl. die Rezeption Nietzsches 4[164] = KSA 9,142. 89 Wie dieser Geist in Christus die Auferstehung gewirkt hat, so wird er auch in den Gläubigen das Leben wirken, das in die Auferstehung fuhrt. (Vgl. Lüdemann, Anthropologie, 125ff; vgl. die Rezeption Nietzsches 4[164]). 90 Lüdemann, Anthropologie, 132; vgl. die Rezeption Nietzsches 4[164] = KSA 9,143. 91 Lüdemann, Anthropologie, 142; vgl. die Rezeption Nietzsches 4[164] = KSA 9,143); vgl. weiter Lüdemann, Anthropologie, 142ff. 84 85

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als sich diesem Prozeß nicht in den Weg zu stellen - nur hier hat dann auch die apostolische Ermahnung ihren Platz. Die in nächster Zukunft erwartete Auferstehung ist nur das Ende dieses Verwandlungsprozesses, in dem der irdische Leib endgültig vom Gottesgeist „aufgerieben"92 und dem „inneren Menschen" der himmlische Leib verliehen wird. Lüdemann sieht also in der paulinischen Rechtfertigungslehre einen Gegenentwurf zur judenchristlichen, die ihm absolut entgegengesetzt ist, weil sie ein unterschiedliches Menschenbild voraussetzt. Der judenchristlichen ,,religiöse[n] oder subjectiv-ideellefn]" Erlösungslehre stellt er eine „ethische oder objectiv-reale" entgegen.93 Für die judenchristliche Erlösungslehre, die auf der Freiheit des Menschen, der Erfüllbarkeit des Gesetzes und der Vermeidbarkeit und damit Zurechenbarkeit der Sünde beruht, besteht die Rechtfertigung in der Vergebung der Sünde, in der GetedaXsprechung, die vom Menschen im Glauben angenommen werden muß. Der Tod Christi ist hier das Strafleiden, das die Schuld stellvertretend für den Menschen abbezahlt. Die paulinische Erlösungslehre dagegen besteht94 auf der Naturnotwendigkeit der Sünde. Der Tod Jesu ist hier kein Strafleiden, sondern die Vernichtung der σάρζ, die der Christ in der Taufe an sich nachvollziehen läßt. Die Rechtfertigung besteht in einer realen GctedaXmachung durch die Erlösung von der σάρξ, deren Platz nun vom πνεύμα 3εοΰ („Geist Gottes") eingenommen wird.95 Von hier aus wird auch Paulus' Ablehnung des Gesetzes verständlich. Keineswegs ist nach Lüdemann die Frage nach der weiteren Gültigkeit des Gesetzes zwischen Paulus und Uraposteln ein eher pragmatisches Problem, wie es im Gefolge Ritschis immer dargestellt worden war: im Gegenteil war es deren zentraler Streitpunkt. Paulus' Neuinterpretation des Gesetzes erwuchs aus seinem Nachdenken über die Bedeutung des Kreuzestodes Christi — die Spannung zwischen Gesetz und Kreuzestod Christi ist nach Lüdemann die Triebfeder seines ganzen theologischen Nachdenkens.96 Bei Lüdemann: „Aufreibung"; vgl. Lüdemann, Anthropologie, 144. Lüdemann, Anthropologie, 171. 94 Aufgrund der Verschmelzung von alttestamentlichem Sünden- und hellenistischem σ ά ρ ξ BegrifF. 92

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95 Vgl. Lüdemann, Anthropologie, 171f. Man kann jedoch nicht sagen, daß diese Erlösungslehre im Gegensatz zur judenchiistlich-juridischen durch Reflexion „aus der Auferstehung des Herrn begründet" seien. (Gegen Schweizer, Geschichte, 23.) 96 Noch im Galaterbrief stimmte nach Lüdemann Paulus darin mit den Judenchristen überein, daß der Tod Jesu eine stellvertretende Ableistung der menschlichen Schuld war — uneinig war man sich nur um den Zweck: für Paulus war diese Abfindung definitiv, für die Judenchristen dagegen nur eine neue Ermöglichung der Gesetzeserfüllung. Doch wenn Christi Leiden eine stellvertretende Strafe war, so war dem Gesetz auch das Recht zugestanden, sie zu fordern, ihm also eine absolute Gültigkeit zugestanden — wie konnte es dann aber jemals aufgehoben

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Nachdem Lüdemann die Anthropologie und Erlösungslehre des Apostels dargestellt hat, unternimmt er es in einem dritten Teil seines Buches, ihre Entwicklung im Gesamtzusammenhang der Arier Hauptbriefe nachzuzeichnen. In ihrer reinen, original paulinischen Gestalt finden sie sich nach Lüdemann nämlich erst im Römerbrief, während Paulus sich diese Position im Galater- und in den Korintherbriefen erst im Streit mit seinen judenchristlichen Gegnern erarbeitet und seine eigene Theologie dort noch häufig mit judenchristlichen Vorstellungen parallel geht.97 Der Römerbrief selbst jedoch zerfällt für Lüdemann in zwei Briefteile (Kap 1—4 und 5ff.), die beide von gegensätzlichen Erlösungsvorstellungen geprägt seien: Während die Kapitel Rom. 5ff. ganz im paulinischen Geist geschrieben seien, wären Rom. 1—4 durchgehend von der judenchristlich-juridischen Erlösungsvorstellung geprägt. Wie ist diese Spannung zu erklären? In der Beantwortung dieser Frage liegt eine eigentümliche Pointe der Lüdemannschen Schrift, die in der bisherigen Forschung völlig unbeachtet geblieben ist: Paulus beginnt im Römerbrief den Weg beim judenchristlichen Standpunkt, um seine jüdischen und judenchristlichen Gegner nicht zu verprellen und sie gewissermaßen auf seinen Weg zu locken.98 Einmal auf diesem Weg, wird ihnen von Paulus die Unmöglichkeit ihres eigenen Gesetzesverständnisses vor Augen geführt — das ,Judenthum muß seinen Bankrutt erklären".99 Ziel und Absicht des Römerbriefs ist es, durch diese Täuschung100 das jüdische Gesetzesverständnis werden? War Christi Leiden aber nicht ein dem Gesetz Genüge tuendes Strafleiden, dann mußte es eine andere Bedeutung gehabt haben. In der Erlösungslehre des Römerbriefes hatte Paulus auf diese Frage eine endgültige Antwort gefunden. (Vgl. Lüdemann, Anthropologie, 201-209.) 97 Lüdemann, Anthropologie, 174—198. Die Entdeckung einer doppelten Erlösungslehre gilt seit Schweitzer als eigentliche Entdeckung Lüdemanns. (Vgl. Schweizer, Geschichte, 23; Kümmel, Neues Testament, 235.) Sie ist aber tatsächlich nur ein Nebenprodukt seiner „Anthropologie", insofern sich die eigentliche paulinische Erlösungslehre, die Lüdemann aus den Paulusbriefen entwickelt, nicht durch den gesamten Textbestand der Paulusbriefe decken läßt. 98 Lüdemann, Anthropologie, 206ff. 213. 99 Lüdemann, Anthropologie, 213. 100 Salaquarda versteht Lüdemann offensichtlich falsch, wenn er meint, erst Nietzsche habe die positiven Aussagen des Paulus über das Gesetz im Römerbrief als „vorübergehende Akkomodation des Apostels an die ihm unbekannte judenchristliche' Gemeinde in Rom" (Salaquarda, Dionysos, 292) interpretiert und sei darin über Lüdemann hinausgegangen. Lüdemann hätte diesen Gedanken nach Salaquarda zwar erwogen, ihn dann aber verworfen und das Gesetz lediglich als „ewige sittliche Idee" verstanden (ebd., Anm. 27, 315; Zit. nach Lüdemann, Anthropologie, 214). Lüdemann nimmt diesen Gedanken aber keinesfalls zurück, im Gegenteil liegt in dessen Zuspitzung Lüdemanns eigentliche These: „Allein weshalb hält der Apostel mit dieser Absicht hier [Rom 1—4; Vf.] so zurück, weshalb verhüllt er sie hinter einer anderen, die er offenbar selbst nicht teilen kann? Wir antworten jetzt unbedenklich: darum, weil er sich

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„auf seinem eignen Boden"101 zu überwinden und so das Judentum aus seinen eigenen Voraussetzungen zur Selbstaufhebung zu zwingen. Lüdemanns Untersuchungen zur paulinischen Anthropologie und Rechtfertigungslehre haben die Erforschung der paulinischen Theologie auf eine neue Ebene gehoben. Er war der erste Exeget, der die Spannungen innerhalb der Rechtfertigungslehre102 des Apostels in ihrer Schärfe wahrnahm und auf den Einfluß der gegensätzlichen Prinzipien von jüdischem und hellenistischem Denken zurückführte. Gleichzeitig war er der erste, der diese Spannung durch die Annahme einer Entwicklung des paulinischen Rechtfertigungsverständnisses zu erklären versuchte und postulierte, Paulus hätte sich erst allmählich durch die Verschmelzung von jüdischem und christlichem Denken von einem dem judenchristlichen nahen Standpunkt zu seiner eigenen, der ersten eigentlich christlichen Erlösungslehre hingearbeitet. Rom 1—4 mit voller Absicht [i.e. die Absicht der Täuschung; Vf.] auf den S t a n d p u n k t d e s j ü d i s c h e n B e w u ß t s e i n s stellt. [...] Dies Bewußtsein konnte nur auf seinem eigenen Boden überwunden werden." (Lüdemann, Anthropologie, 206) Nach Lüdemann konnte Paulus dies, weil er zwischen dem (an sich unverpflichtenden) Gesetz und dem „gesetzlichen Bewusstsein" unterschied, das „ r ü c k s i c h t l i c h des Gesetzes und seiner Erfüllbarkeit in einer Täuschung b e f a n g e n ist" (ebd., 207). „Diese Täuschung des menschlichen Bewußtseins hatte Gott gewollt, das Gesetz sollte δύναμις τής αμαρτίας sein, weil Gott eine reale Neuschöpfung der Menschheit beabsichtigte [...]. Diesem Bewußtsein konnte aber nur Genüge geschehen durch die juridische Erlösung und Rechtfertigung. Und erst wenn es hierdurch vollständig über sein Verhältnis zum Gesetz beruhigt und vom Gesetz bereits erlöst war, konnte es auch über den eigentlichen Charakter und Zweck des Gesetzes aufgeklärt werden." (ebd.) In gewisser Weise besteht die (juridische) Erlösung nach Lüdemann in der Aufhebung einer Täuschung mittels einer lauschung — ein Gedanke, den Nietzsche, wie wir sehen werden, in seinen Paulus-Reflexionen an wichtiger Stelle wieder aufnimmt. Bei all dem bleibt das Gesetz an sich in seiner Würde unangetastet, ja, die hinter ihm stehende „sittliche Idee" hat „einen ewigen Werth und bleibende Bedeutung" (ebd., 214), es hatte seinen Platz in Gottes Heilsplan, weil es die Sünde zur Erkenntnis bringen sollte (vgl. ebd., 207) — aber dennoch ist es „an sich betrachtet, weder verpflichtend noch verschuldend", (ebd., 207). 101 Lüdemann, Anthropologie, 206. Lüdemanns These vom zweigliedrigen Aufbau des Römerbriefs als bewußte Täuschung der ]udenchristen habe ich in keiner Darstellung berücksichtigt gefunden. 102 Ziel Lüdemanns war die Darstellung einer in sich homogenen Erlösungslehre. Der Preis, den er dafür zahlen mußte, war, daß sich diese Erlösungslehre nicht für den gesamten paulinischen Textbestand, sondern streng genommen nur für Rö. 5-8 nachweisen ließ. Lüdemanns These von zwei Erlösungslehren und einer Entwicklung innerhalb der paulinischen Theologie ist nicht das Ziel Lüdemanns, sondern nur ein Vehikel, um den überschießenden Textbestand aufzuarbeiten. (Für die Kapitel 1—4 des Römerbriefes schließlich ist auch der Gedanke der Entwicklung nicht mehr brauchbar: Hier muß Lüdemann eine bewußte Strategie des Apostels als Ursache postulieren.)

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Aber es ist noch eine weitere wegweisende, bisher unbeachtete exegetische Neuerung Lüdemanns zu nennen: Er war der erste, der dem Publikum einen fremden Paulus vor Augen führte, einen Paulus, dessen Theologie einer anderen, vergangenen Welt anzugehören schien und dessen Rechtfertigungslehre nicht in die gegenwärtige christliche Verkündigung einzupassen war. Dies war nicht Lüdemanns Absicht oder Programm, aber sein Ziel lag derart auf rein exegetischem Gebiet, daß er die dogmatische ,Nichtverwertbarkeit' seiner paulinischen Rechtfertigungslehre vielleicht gar nicht bemerkte, jedenfalls nicht thematisierte. Was Lüdemann gewissermaßen unbeabsichtigt tat, wurde bald darauf in der Religionsgeschichtlichen Schule Programm — und so kann Lüdemann wegen seiner Entdeckung des hellenistischen Einflusses auf Paulus und wegen seiner rein exegetischen, nicht theologisch-dogmatischen Fragestellung als einer der wichtigsten Wegbereiter der Religionsgeschichtlichen Schule betrachtet werden.103 Die These Lüdemanns von einer Entwicklung innerhalb der paulinischen Theologie und damit einem Nebeneinander zweier RechtfertigungsvorStellungen hat die nachfolgende Forschung stark beeinflußt. Für etliche Jahre hatte die Erkenntnis breiten Konsens, daß die divergierenden Aussagen des Paulus nicht zu systematisieren seien, es also einen für den gesamten Textbestand homogenen „paulinischen Lehrbegriff' nicht gäbe — ein Ergebnis, das auch zur Annahme der Lüdemannschen These einer „Entwicklung" nötigte. Das hatte erhebliche Folgen für die Paulusforschung— aus der „Entwicklung des paulinischen Lehrbegriffs" (die ja als Entwicklung durch den 103 Trotz Lüdemanns großer Bedeutung für die weitere paulinische Forschung hat sein Verständnis der paulinischen Anthropologie trotz der in seiner Art genialen und scharfsinnigen Durchdringung der Theologie des Apostels in dieser Form kaum Verteidiger und Schüler gefunden. Zum einen ist seine Darstellung zu konstruiert, und die zahlreichen vor- und zurückverweisenden Durchgänge mit ihrem grandiosen, alle Fäden zusammenfuhrenden Schluß können doch nicht überdecken, daß viele Widersprüche ungeklärt geblieben sind. Vor allem läßt sich die ¿eine', ,echte' paulinische Anthropologie und Erlösungslehre nach Lüdemann ohnehin nur im Römerbrief finden — und auch hier nur unter der starken Hypothese, daß dieser aus zwei radikal unterschiedenen Briefteilen (Kap. 1 - 4 und 5—16) mit zwei entgegengesetzten Menschenbildern und Edösungsvorstellungen besteht. Der erste Teil hätte dabei allein den Zweck, den Judenchristen anhand ihrer eigenen Erlösungslehre den Bankrott vorzuführen. Diese Zweiteilung des Briefes läßt sich aber schon wegen der wichtigen Rolle, die der „Glaube" im zweiten Briefteil spielt (z.B. Rom. 9,30ff.), nicht halten - damit taucht die ,echte' paulinische Anthropologie in Retnform in den Paulusbriefen überhaupt nicht auf. Die Leistung Lüdemanns liegt nicht in seinen Antworten, sondern in den Problemen, die er aufdeckte. Unter seinen exegetischen Zeitgenossen wendeten sich u.a. gegen Lüdemann: H. H. Wendt: Die Begriffe Fleisch und Geist im biblischen Sprachgebrauch, 1878; O. Pfleiderer: Das Urchristentum, 1887; aus heutiger Sicht gegen ein solches Verständnis des Verhältnisses von Edösung und Ethik vgl. z.B. Schräge, Ethik des Neuen Testaments, 134—139.

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Exegeten verstanden war) war unter der Hand eine echte Entwicklung der Lehre selbst geworden, was das Konzept eines „Lehrbegriffs" als solches in Frage stellte. (Tatsächlich wollte m.W. niemand mehr den paulinischen Lehrbegriff entwickeln, seit es eine Entwicklung des paulinischen Lehrbegriffs gab.) Wo im Gefolge Lüdemanns eine Entwicklung innerhalb der paulinischen Lehre angenommen wurde, stimmte man mit ihm auch darin überein, daß die eigentlich paulinische Erlösungslehre die (hellenistisch beeinflußte) „objektivreale", d.h. den Menschen ethisch verwandelnde Erlösung zum Inhalt habe.104

1.4.4. Otto Pfleiderer Der wirkungsvollste Vertreter dieser These zweier Erlösungslehren allerdings, OTTO PFLEIDERER105, ging hier einen eigenen Weg. Nachdem der späte Baur-Schüler schon 1873 ein Werk über den „Paulinismus" verfaßt hatte, unternahm er es 1887 in seinem großen Werk „Das Urchristentum", das frühe Christentum im Zusammenhang der Religionen seiner Zeit darzustellen. Pfleiderer hat das Christentum konsequent nach profangeschichtlichen Gesichtspunkten als Teil der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung darzustellen versucht. Durch diese tatsächlich epochale Leistung ist er zum „Vater der religionsgeschichtlichen Theologie in Deutschland"100 geworden". Pfleiderer verstand die religionsgeschichtliche Arbeit aber wiederum als kirchenförderndes Programm: Das Christentum sollte nach dieser Methode nicht als Folge eines Wunders, sondern als Endpunkt der ganzen antiken Entwicklung gelten — ein Ergebnis, das den wunderscheuen Lesern seiner Zeit weit entgegen kommen mußte.107 In Paulus sieht Pfleiderer den Angelpunkt der geschichtlichen Entwicklung vom Judenchristentum zum Heidenchristentum, weil er jüdischpharisäische und hellenistische Denkweisen gleichermaßen in sich vereint. Vom Judenchristentum übernimmt Paulus die Interpretation des Todes Jesu als eines Sühnetodes — aus hellenistischem Geist stammt die Vorstellung der

Anders Megenoz, nach Schweitzer, Paulus 25. ios ygi a u c h Feine, Paulus, 43f£; Kümmel, Neues Testament, 266; Merk, Bibelwissenschaft, 386.; Schweitzer, Geschichte der Paulinischen Forschung 24f. 106 Seeberg, zit. nach Kümmel, Neues Testament, 262. 107 Vgl Pfleiderer, Urchristentum, VII. Gegen Kümmel, der für Pfleiderer ein ,antitheologisches' Selbstverständnis behauptet; vgl. Kümmel, Neues Testament, 262. 104

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mystisch-realen Verwandlung des Menschen durch die Geistverleihung. 108 Die von Lüdemann angenommenen zwei Erlösungsvorstellungen in den paulinischen Briefen sind nach Pfleiderer nicht aus einer Entwicklung zu erklären, sondern stehen v o n Anfang an gleichberechtigt nebeneinander. Aus den verschiedenen Erlösungsvorstellungen erwachsen zwei unterschiedliche Ansätze der Ethik, die letztlich unverbunden nebeneinander stehen, ohne daß Paulus dies als Problem empfunden hätte. So ist die eigentliche Theologie des Paulus das Ergebnis einer Inkonsequenz 109 — und die Vorstellung eines einheitlichen Lehrsystems ausdrücklich aufgegeben. 110

1.5. Paulus, der Jude. Die paulinische Theologie nach Fran% Overbeck In FRANZ OVERBECK hatte Nietzsche einen Bekannten, dessen Sicht der paulinischen Theologie in vieler Hinsicht in einer aufschlußreichen Spannung zu den forschungsgeschichtlichen Tendenzen seiner Zeit stand. Overbeck war wohl der Freund, mit dem Nietzsche so lange wie mit keinem anderen verbunden war. Sie wohnten in Basel ab 1872 als Duz-Freunde im selben Haus (der legendären „Baumannshöhle") und fühlten sich in ihren gemeinsamen Gesprächen und Gedanken als Verschworene gegen die konservativen wie gegen die liberalen Strömungen jener Zeit. 111 Overbeck hatte sich als 108 Vgl. Pfleiderer, Urchristentum, 288f. 109 „Ist er [der Mensch; Vf.] das selbsttätige und selbstverantwortliche Subjekt der Heiligung oder nicht vielmehr nur das passive Objekt, um dessen Besitz die beiden feindlichen Mächte, die heilig-geistige und die fleischlich-sündige, sich streiten? (Gal. 5,17) In der Tat wäre dies eigentlich die logische Konsequenz der paulinischen Geistlehre, wie sie unter den Voraussetzungen der animistischen Denkweise seiner Zeit nicht anders ausfallen konnte. Aber zum Glück für den ethischen Wert seiner Theologie hat Paulus seine Vorstellung vom ,Geist' nicht konsequent durchgeführt, sondern hat der sittlichen Selbstbestimmung des Menschen ihr Recht gewahrt; was dann freilich unter Voraussetzung jener Theorie nur in der Art geschehen konnte, dass er zwischen der mystischen und der sittlichen Ansicht des Christenlebens abwechselte, beide neben einander anwandte und möglichst eng verknüpfte, ohne sie doch wirklich innerlich vereinigen zu können." (Pfeiderer, Urchristentum, 325f.) 110 Vgl. Pfleiderer, Urchristentum, 330. Zur Geschichte der Entdeckung der Widersprüchlichkeit der paulinischen Theologie vgl. auch Bultmann, Geschichte der Paulus-Forschung, 34ff. 111 Zum Verhältnis Overbecks und Nietzsches in jener Zeit vgl. Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, 59ff.; Pestalozzi, Über die Christlichkeit, 92ff.; Berger, Exegese und Philosophie, 7Iff. Zur beide verbindenden Freundschaft vgl. Sommer, Der Geist der Historie und das Ende des Christentums, lOff. Sommer beleuchtet diese Freundschaft, indem er beider Verständnis von „Freundschaft" nachgeht, und betont in diesem Verhältnis die Spannung zwischen Nähe und Distanz zwischen zwei gleichrangigen Partnern, die einander nicht nur Freund, sondern immer auch Widerpart waren. Sommer untersucht in seinem Werk die Schriften von Nietzsche und Overbeck aus ihrer Baseler Zeit und stellt sie nebeneinander. Die

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Kirchengeschichtler und Neutestamentier sein Paulusbild anscheinend ohne größere Beeinflussung durch Nietzsche erarbeitet, lediglich in der Frage nach dem Verhältnis von Paulus und Jesus scheint er auch von Nietzsche inspiriert worden zu sein.112 In ihm hatte Nietzsche in Bezug auf das Thema „Paulus" einen so scharfsinnigen wie eigenwilligen Denker zum Gesprächspartner. Nietzsche lernte von Overbeck nicht nur dessen Paulusbild kennen, sondern erfuhr von ihm sicherlich auch Tendenzen der Paulus fors chung dieser Zeit. Doch leider entziehen sich die Gespräche weitgehend unserer Kenntnis. Jedenfalls hat Overbeck Nietzsche auch später bisweilen auf neutestamentliche Literatur aufmerksam gemacht.113 Die Einordnung Overbecks in die theologische Paulusforschung seiner Zeit ist schwierig, weil er kaum aktiv in sie eingegriffen hat.114 Andererseits war er über viele Jahrzehnte ein selten aufmerksamer Beobachter der theologischen Diskussion seiner Zeit, doch verschwanden seine Beobachtungen zu Paulus wie viele seiner Gedanken zunächst unveröffentlicht und vor der exegetischen Fachwelt verborgen in seinem unermeßlichen Zettelkasten.115 Im Gegensatz zu den meisten seiner exegetischen Zeitgenossen ist für Overbeck Paulus auch als „Christ" Jude geblieben.116 Für Overbeck allerdings war schon der „vorchristliche" Paulus ein Jude, der am Judentum irre geworden war. Hier liegt nach Overbeck gewissermaßen die eigentliche Wurzel der paulinischen Theologie. Paulus steht in diesem Irresein am bestehenden Judentum nach Overbeck nicht allein, sondern in einer „idealistischen" Strömung des Judentums, deren prominentester Vertreter Philo ist. Philo wie Paulus unterscheiden zwischen dem tatsächlichen und einem idealen Judentum, beide sehen das eigentliche Judentum nicht in seiner realen Gestalt, sondern in einer abstrahierten Idee vom Judentum, die gegen das Judentum

Basis der „Waffengenossenschaft" von Overbeck und Nietzsche sieht er in der Radikalität der Kritik beider am bestehenden Christentum, wobei Sommer die Unterschiedlichkeit ihrer Zielstellung herausarbeitet. 112 Vgl. dazu unten im Kapitel „.Paulus und Jesus' bei Franz Overbeck". 113 Zum Thema „Paulus" vor allem auf Lüdemanns Paulusbuch. 114 Zu Overbecks Bedeutung für die neutestamentliche Forschung allgemein vgl. bes. den seiner Zeit wegweisenden Aufsatz von Philipp Vielhauer, Franz Overbeck und die neutestamentliche Wissenschaft, der seinerseits die Rezeption Overbecks in der neutestamentlichen Wissenschaft stark beeinflußt hat; vgl. neuerdings auch (die Arbeit Vielhauers in manchem kritisierend und korrigierend) Rese, Fruchtbare Mißverständnisse. Franz Overbeck und die neutestamentliche Wissenschaft, bes. 215ff. 1 , 5 Zu Overbecks Zettelkasten und zur Problematik der Bernoullischen Herausgabe vgl. die Einleitung zur Neuherausgabe des „Kirchenlexikons" (Reibnitz, Einleitung, K L IV, VII-XXV.) 116 Vgl. z.B. Overbeck, KL, Art.: Paulus u. das Judenthum 9, WuN V, 221.

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durchgesetzt werden muß.117 Im Unterschied zu Philo aber findet Paulus im Christentum einen Ausweg, das Bekenntnis zu Jesus wird für Paulus zur Scheidewand zwischen eigentlichem und formalem Judentum — eine Scheidewand, die die bisherige der Beschneidung notwendig aufhebt. Das Christentum selbst ist nunmehr das wahre Judentum. Indem Paulus das Judentum auf diese Weise zu sich selbst bringen wollte, hat er es nach Overbeck über sich hinausgeführt und es dabei gleichzeitig vernichtet.118 In seiner Darstellung der paulinischen Eschatologie greift Overbeck häufig auf die 1897 erschienene Arbeit „Der Christ und die Sünde bei Paulus" von Wernle119 zurück, in der Wernle als einer der ersten die radikale Naherwartung120 für Paulus herausgearbeitet hatte und die Meinung vertrat, vor diesem Hintergrund hätte sich der Christ nach Paulus völlig sündlos fühlen können und müssen. In den Thesen Wernles zur paulinischen Ethik und Rechtfertigungslehre sieht Overbeck über weite Strecken sein eigenes Anliegen ausgedrückt, die Arbeit ist ihm lediglich nicht konsequent genug, weil sie immer wieder in eine Apologetik des Protestantismus zurückfällt.121 Auch für Overbeck bleibt Paulus in dem Ziel seiner theologischen wie praktischen 117 Vgl. Overbeck, KL, Art.: Paulus u. das Judenthum 4, WuN V, 220. US Vgl. Overbeck, KL, Art.: Paulus u. das Judenthum 4, WuN V, 220. 119 Ein grundsätzliches Problem des Overbeckschen Zettelkastens ist die Datierung, bei der Frage der Beziehung zu Nietzsches Paulusbild und der gegenseitigen Abhängigkeit spielt es eine besondere Rolle. So ist Overbeck (bei aller Kritik) von wenigen exegetischen Werken zu Paulus so beeindruckt wie von der (erst 1897 erschienenen) Untersuchung Wernles, und kein Buch wird in den Notizen zu Paulus mehr zitiert und exzerpiert. Viele seiner wichtigen Gedanken notiert Overbeck erst im Anschluß an dieses Buch. Sicher konnten von Overbeck etliche Aussagen zur Eschatologie oder zur Ethik erst in der Auseinandersetzung mit Wernle so prägnant formuliert werden. Dennoch scheint mix die Art der Aufnahme und auch Kritik dieses Werkes dafür zu sprechen, daß Overbeck diese Thesen Wernles nicht als etwas ihm gänzlich Neues, sondern seinem Geist durchaus Verwandtes empfand. Seine eindeutig früheren Aufzeichnungen bestätigen dieses Bild: Overbeck legt schon hier allen Wert auf die Bedeutung der Naherwartung für den Apostel und will ihn vor allem aus seinen jüdischen Wurzeln her verstanden wissen. (Vgl. bes. Overbeck, KL, Art.: Paulus u. das Judenthum 1—11, WuN V, 219ff. [vor 1897]; vgl. auch Art.: Paulus. Allgemeines 1, WuN V, 211 [Zit. Fichtes, vor 1870].) Es wird in der Darstellung auch deutlich werden, daß Overbecks Paulusbild auch in der Eschatologie und Ethik sehr originale und von Wernle unabhängige Züge aufweist. 120 Obwohl Hilgenfeld schon 1857 auf die Bedeutung des apokalyptischen Judentums grundsätzlich aufmerksam gemacht hatte, blieben die Parallelen zwischen ihm und Paulus lange unbeachtet. Erst Richard Kabisch versuchte 1893, die gesamte Theologie des Paulus aus der frühjüdisch-apokalyptischen Tradition herzuleiten. Er war der erste, der die Bedeutung der eschatologischen Naherwartung fur Paulus begriff und sie zum Zentrum seiner Auseinandersetzung machte. (Vgl. zu Hilgenfeld: Kümmel, Neues Testament, 261, zu Kabisch: ebd. 294; Bultmann, Geschichte der Paulus-Forschung, 41ff. [319f.].) 121 Zu Overbecks Würdigung und Kritik Wernles vgl. Overbeck, KL, Art.: Paulus u. das Judenthum 12f., WuN V, 222; Art.: Paulus (Lehrbegriff) Gesetz. Allgemeines., WuN V, 224.

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Arbeit grundjüdisch: Paulus setze alles daran, Gott ein (im ethischen Sinne) heiliges Volk zu schaffen — heilig im Tun guter, Gott wohlgefälliger Werke. Den Unterschied zum Judentum wie zum Judenchristentum sieht Overbeck in Paulus' Grunderfahrung des ohnmächtigen Gesetzes, das eben kein heiliges Judentum hatte schaffen können. Bei den sich nun ergebenden Möglichkeiten, das Gesetz fallen zu lassen oder ihm einen neuen Sinn zu geben, war es gerade der Jude Paulus, der zur letzteren griff und den Zweck des Gesetzes darauf reduzierte, dem Menschen die eigene Ohnmacht vor Augen zu führen.122 Rettung aus dieser Sündenverlorenheit kann es nur in der göttlichen Sündenvergebung aufgrund des Bekenntnisses zu Christus geben. Die Christen sind nacji ihrer Sündenvergebung wirklich heilig und sündlos, in dieser Vollkommenheit sieht Paulus nicht nur sich selbst, sondern alle Christen. Die paulinische Rechtfertigungslehre reduziert sich dabei allerdings auf einen einmaligen Akt - sündlos zu bleiben, ist nun allein in die Hände der Bekehrten gelegt. Alles was Paul, seinen Gemeinden vermitteln zu können , ist das ursprgli. Wunder ihrer einmal. Bekehrg, dann kann er sie nur sich selbst überlassen. Des Besitzes der Sündenvergebg sind sie damit für einmal sicher, sie sind von da ab für Gott Sünder gewesen. Wie weit sie sich in diesem Besitz erhalten wollen, das ist ihre Sache, Paul, ist nicht in der Lage ihnen da weiter zu helfen. 123

Paulus' Rechtfertigungslehre wie seine gesamte rasdose Wirksamkeit sind nur vor dem Hintergrund einer unmittelbaren Naherwartung zu verstehen. Nur das Bewußtsein, in der Rechtfertigung durch das Christusgeschehen die „letzte große Tat Gottes"124 zu erleben, läßt den Optimismus einer Ethik der tatsächlichen Sündlosigkeit verständlich erscheinen. Diesen Gedanken Wernles spitzt Overbeck noch zu: Nicht nur für die äußere Ordnung der Gemeinden trifft Paulus keinerlei Vorsorge, selbst für eine eigentliche Theologie ist hier keine Zeit. Paul, weiss nicht anders, als dass innerhalb einer nur kurzen Spanne Zeit dem Reiche Gottes eine möglichst grosse Anzahl von Bürgern zu gewinnen hat, und er hat ihnen auch nur für eine solche Spanne etwas zu sagen, nur für eine solche

122 Vgl. Overbeck, KL, Art. „Paulus (Lehrbegriff) Gesetz. Allgemeines" WuN V 222f.; vgl. Gal. 2,24. 123 Overbeck, KL, Art.: Paulus (Characteristik) Apostolische Wirksamkeit. Eile 1, WuN V, 217. 124 Overbeck, KL, Art.: Paulus Reformatorische Auffassung, WuN V, 227; nach Wernle, Sünde, 93.

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Spanne sie mit Aussicht darauf, dass sie sich als Bürger dieses Reiches behaupten zu versehen.125 In der Übertragung dieses eschatologischen Bewußtseins, der „Stimmg des Weltunterganges"126 vom Judentum auf das Griechentum sieht Overbeck gewissermaßen Paulus' eigentliche welthistorische Tat. 127 Es ist letztlich das Bewußtsein der Werdosigkeit der Welt aus der höheren Perspektive Gottes, der ihre Werdosigkeit durch ihre unmittelbar bevorstehende Vernichtung offenbar machen wird. Indem Paulus dieses Gefühl in das griechische Denken hineintrug, prägte er dem Abendland das jüdische Bewußtsein auf.128 Die Juden hatten [...] alle Ursache in Paul, ihren antesignanus129 anzuerkennen. In ihm war die Stimmg, in der auch sie sich geg. die Welt befanden nur viel überschwänglicher und schwärmerischer, und in seiner Extase trug er sie in das Lager des bekämpften Feindes selbst hinüber. Ihre Eschatologie war die alte u. letze Weisheit der Juden, die Paul, auch den Heiden aufzwang.130

1.6. Paulus als Synkretist. Ein Ausblick in das Paulusbild der Religionsgeschichtlichen Schule Der breite Weg führte jedoch in die andere Richtung. Zwar gab es parallel zu dieser religionsgeschichtlich orientierten Bewegung die große Fraktion der liberalen Exegeten, die in der Ritschl-Nachfolge eine größere Abhängigkeit

Overbeck, KL, Art.: Paulus (Characteristik) Apostolische Wirksamkeit. Eile 1, WuN V, 217. Overbeck, KL, Art.: Paulus u. das Judenthum 13, WuN V, 222; nach Wemle, Der Christ und die Sünde, 89. 125 126

Vgl. auch Stegemann, Ende der Zeit - Zeit des Endes, 177. Zu Overbecks Verständnis der frühchristlichen Eschatologie im Kontext seiner Zeit vgl. Stegemann, Ende der Zeit — Zeit des Endes, 167ff.; zum Problem der Anfrage an die heutige Theologie durch die Spannung zwischen der frühchristlichen Eschatologie und der heutigen Existenz und heutigem Selbstverständnis des Christentums vgl. noch heute bes. den Aufsatz von Karl Barth, der Overbeck mit dessen These vom „finis christianismi" zuerst theologisch ernst nahm und ihn so in das Licht des theologischen Interesses rückte: Barth, Unerledigte Anfragen an die Theologie, Iff.; vgl. heute (in Auseinandersetzung mit Barth) Schellong, Noch einmal: Franz Overbeck - Unededigte Anfragen an die Theologie, 139ff.; Ott, Geschichte und Eschatologie, 182ff.; Peter, Unededigte Anfragen und befragte Ededigungen, 196ff. (als Kritik und Weiterführung der Aufsätze von Stegemann, Ott und Schellong). Vgl. aus philosophischer Sicht auch Taubes, Einleitung, bes. lOff. Zu Overbecks persönlichem Umgang mit der Spannung zwischen seiner Erkenntnis des „finis christianismi" und seiner eigenen Anstellung als Professor für Theologie vgl. bes. die ,,autobiographische[n] Reflexionen", die Stauffacher zu diesem Thema zusammengestellt hat (Stauffacher, Overbecks autobiographische Reflexionen.) >29 „Vorkämpfer" (Vf.) Overbeck, KL, Art.: Paulus u. das Judenthum 13, WuN V, 222. 127

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des Paulus von hellenistischen Einflüssen leugnet, aber angestoßen durch das Werk Pfleiderers bemühte sich ein großer Zweig der neutestamentlichen Forschung, die Stellung der paulinischen Theologie in und ihre Genesis aus der hellenistischen Welt zu erklären. Dabei trat schließlich neben dem jüdischen auch der alttestamentliche Hintergrund des Apostels immer weiter in den Hintergrund. Der bekannte Neutestamentier CARL F. G. HEINRICI131 gehörte zwar noch zu denen, die mit Nachdruck die alttestamentliche Verwurzelung Paulus' betonten, dennoch war er einer der ersten, die die hellenistische Literatur nach Parallelen zu Paulus auswerteten. Paulus entstammte der hellenistischen Welt — das mußte sich nach Heinrici auch konkret nachweisen lassen.132 Die Bedeutung des Apostels liegt für Heinrici genau darin, daß er seine Verwurzelung im Alten Testament und im Urchristentum aufgrund seiner Bildung mit der hellenistischen Kultur verschmelzen konnte. Mit diesen Untersuchungen war der Religionsgeschichtlichen Schule endgültig der Weg gewiesen - ab ca. 1890 vermochte sie durch eine Vielzahl von Untersuchungen, das Interesse der neutestamentlichen Wissenschaft auf die religionsgeschichtliche Fragestellung zu lenken. Wir stehen also mit Nietzsches „Antichrist" genau diesseits der Schwelle zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit der religionsgeschichtlichen Einordnung der paulinischen Theologie in der neutestamentlichen Forschung. Ihre Ergebnisse sollte Nietzsche nicht mehr bewußt aufnehmen können. Sie sollen deshalb nur in groben Umrissen skizziert werden, um darzustellen, wie sich nach 1890 in dieser und durch diese Schule das Bild des Apostels veränderte. Die Religionsgeschichtliche Schule133 charakterisierte in ihrer Paulusforschung das Bestreben, Paulus ganz aus hellenistischen Einflüssen und besonders vor dem Hintergrund der Mysterienreligionen zu erklären. Parallel zur Theologie hatte sich auch die Altertumswissenschaft der hellenistischen Vgl. Kümmel, Neues Testament, 266f. Bei dieser Suche entdeckte Heinrici nicht nur die Ähnlichkeit der Gemeinschaftsformen der paulinischen Gemeinden mit den hellenistischen Vereinen, sondern er zeigte auch viele Analogien mit hellenistischen Schriftstellern auf, z.B. „mit dem Classiker des Hellenismus P o · 1 y b i u s , mit E ρ i k t e t , mit P l u t a r c h , mit D i ο η y s i o s von Halikarnass und anderen in einer Weise, welche sich allein aus einer gemeinsamen geistigen Lebenssphäre erklären lässt" (Heinrici, zweite Sendschreiben, 594). 133 In der folgenden Darstellung der Religionsgeschichtlichen Schule beziehe ich mich im wesentlichen auf Sekundärliteratur; vgl. Feine, Paulus, 65ff.; Kümmel, Neues Testament, 310ff.; Bultmann, Geschichte der Paulus-Forschung, 40ff. [318ff.]; Merk, Bibelwissenschaft, 386ff.; ders.: Biblische Theologie, 462f. 131 132

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Kultur zugewandt und erforschte das bislang brachliegende Forschungsfeld ihres Synkretismus, ihrer Mysterien und Kulte (ERWIN ROHDE, HERMANN USENER). Aus dem gemeinsamen Interesse ergab sich eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Theologie und Altertumswissenschaft, z.B. im Schaffen ALBRECHT DIETRICHS 134 , der 1891 versuchte, das neutestamentliche und paulinische Sakramentsverständnis durch die Verwandtschaft mit ähnlichen Akten in den Mysterienkulten zu erklären. Mit seinen Thesen bestimmte er entscheidend die weitere Diskussion: Die bisher in der Paulusforschung so stiefmütterlich behandelten „Sakramente" wurden nun zum Zentralgehalt der paulinischen Erlösungslehre — sie wurden nun nicht mehr als bloßes äußerliches Zeichen verstanden, sondern galten als der Ort, an dem sich (nach mystischem Vorbild) die reale Verwandlung des Menschen vollzog. Die Verwandtschaft zum Hellenismus versuchte PAUL WENDLAND 1 3 5 auch für die Ethik, für den Wunderglauben und die Textformen nachzuweisen. Dabei untersuchte er als erster die Parallelen zur stoisch-kynischen Unterweisungsform der Diatribe, deren Bedeutung für Paulus von RUDOLF BULTMANN 1 3 6 weiter nachgewiesen wurde. Einen Höhepunkt erreichte die religionsgeschichtliche Forschung in HERMANN GUNKEL. 1 3 7 Hatte er in seinen früheren Arbeiten138 die orientalisch-mythischen Grundlagen auch der neutestamentlichen apokalyptischen Vorstellungen erarbeitet, versuchte er später139, die christlich-theologische Entwicklung überhaupt als Ergebnis religiöser Fremdeinflüsse, die dem Christentum sowohl durch das Judentum140 als auch durch die hellenistische Welt zuflössen, zu verstehen. Insbesondere wandte er sich auch für Paulus der Erforschung der orientalischgnostischen Einflüsse zu, und postulierte auch in der paulinischen Theologie ihre Spuren.141 Letztlich ist nach Gunkel das paulinische Urchristentum - wie das des Johannes — als ganzes als eine synkretistische Religion zu betrachten. In Gunkel fließt gewissermaßen der Paulus aus dem Judentum wie der aus dem Heidentum erklärende Forschungssträng zusammen, weil er das JudenVgl. Kümmel, Neues Testament, 311.; Feine, Paulus, 69 ff. Vgl. Kümmel, Neues Testament, 311f. 136 Rudolf Bultmann: Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, Göttingen 1910. 137 Vgl. Feine, Paulus, 99; zu Gunkels Verständnis des Geistes vgl. bes. die Auseinandersetzung bei Horn, Angeld, 13ff.; vgl. auch Bultmann, Geschichte der Paulus-Forschung, 40f. [318f.]. 138 Vgl. bes. Gunkel, Hermann: Schöpfung und Chaos in Frühzeit und Endzeit. 139 Vgl. z.B. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments. 140 Das Judentum stellt nach Gunkel selbst schon eine Mischreligion dar. 141 Z.B. in der Herabkunft des (unbekannten) Edösers. (Vgl. Phil.. 2,5; l.Kor. 2,8 u.a. ) 134

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tum seinerseits als Mischreligion interpretiert und auf seine orientalischheidnischen Wurzeln hin untersucht. Für das Alte Testament bleibt dabei nur die prophetische Tradition, für das Neue Testament nur die Verkündigung Jesu ausgenommen. Von RICHARD REITZENSTEIN 142 wird Paulus endgültig in den heidnischen Hellenismus eingegliedert. Für ihn ist Paulus ein hellenistischer Mystiker und Gnostiker, der seine Theologie aus ihren Quellen speist und ihr religiöses Erleben teilt. WILHELM BOUSSET 1 4 3 ist der erste, der auf der Basis der neuen Forschungsrichtung mit seinem berühmten Werk „Kyrios Christos"144 eine umfassende Geschichte der frühchristlichen Christologie zu schreiben unternimmt. Seiner Meinung nach wird schon in der hellenistischen Gemeinde und in ihrer Folge durch Paulus die judenchristliche Hoffnung auf den wiederkommenden Menschensohn von der Verehrung des in der Gegenwart herrschenden himmlischen Kyrios abgelöst. In ihrer Tradition steht auch Paulus. In seiner Charakterisierung der paulinischen Theologie faßt Bousset den weitgehenden Konsens der Paulusforschung seiner Zeit zusammen: Sie ist für ihn eine supranaturale Erlösungsreligion, die dem Boden der hellenistisch-heidnischen Umwelt entwachsen ist.145 Nach dem Versuch eines Durchgangs durch ein Jahrhundert paulinischer Forschungsgeschichte sehen wir uns hier, am Anfang des neuen Jahrhunderts, einem überraschenden Ergebnis gegenüber: Die paulinische Theologie, die gut hundert Jahre zuvor erst als eigene theologische Stimme wahrgenommen worden war, hat sich nun gewissermaßen in den heidnischen Hellenismus hinein aufgelöst. Die Rechtfertigungslehre, die von der Reformationszeit bis zu Baur selbstverständlich als das Herzstück paulinischer Theologie galt (und auch heute weitestgehend als solche gilt), war dem Verständnis einer mystischen oder gnostischen Erlösungslehre gewichen, und die so verstandenen Sakramente hatten den Glauben als jüdisches Relikt an den Rand gedrängt. Lüdemann, der exegetische Gewährsmann NietzReitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen, ihre Grundgedanken und Wirkungen, 1910. Vgl. Kümmel, Neues Testament, 340f.; Feine, Paulus, 69ff.; Bultmann, Geschichte der Paulus-Forschung, 44f. [322f.] 143 Vgl. bes. Bultmann, Geschichte der Paulus-Forschung, 49ff. [326ff.]; vgl auch Kümmel, Neues Testament, 341 f.; Feine, Paulus, 119ff. 144 Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfangen des Christentums bis Irenaeus, Göttingen 1913. 145 Bousset will dabei für Paulus eine sittlich-religiöse Umdeutung seiner mystischen Tradition postulieren, was Bultmann aber nur „als ein Abgleiten in die traditionelle Exegese" entgegen der eigentlichen Intention des Buches verstehen kann. (Vgl. Bultmann, Geschichte der PaulusForschung, 49f. [32η) 142

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sches, hatte mit seinem Taufverständnis einen wichtigen Impuls in diese Richtung gegeben. Er selbst aber hatte betont, daß sich ein Großteil der paulinischen Texte nicht dem hellenistisch geprägten Denken zuordnen ließe, sondern nur als Ausdruck jüdischen Denkens verständlich sei — ein Problem, das er durch eine Entwicklung der paulinischen Theologie zu lösen versucht hatte. Für ihn stand Paulus zwischen den Welten — in der Religionsgeschichtlichen Schule war er ganz in die hellenistische Welt eingeordnet. Schon die nicht eben vielen, aber z.T. beeindruckenden Versuche jener Zeit, Paulus im Gegenzug ganz aus jüdischem Denken her zu verstehen, machen darauf aufmerksam, daß diese Einlinigkeit nicht aufgeht, was die Paulusforschung der nachfolgenden Jahrzehnte auch ausführlich nachzuweisen unternahm. Beeindruckend bleiben jedoch beide Versuch, die Theologie des Apostels als ganze von einem durchgehenden Gedankengang her zu begreifen.146

144 Heute ist es um das Problem des Verhältnisses von Jüdischem und Hellenistischem in Paulus stiller geworden, und in der Regel wird diese Frage (nicht unähnlich Baur) mit einem „sowohl als auch" beantwortet. Es ist jedoch die Frage, ob damit die Spannung zwischen jüdischem und hellenistischem Denken in der paulinischen Theologie wirklich geklärt ist.

2. Die Entdeckung des „Menschen" Paulus und die psychologische Erforschung seines Damaskuserlebnisses 2.1. Einleitung In der Paulusdeutung Nietzsches spielt der „Mensch" Paulus eine wichtige Rolle. Zwar ist für ihn der Charakter des Apostels nicht eigentliches Thema, aber dennoch ist seine Paulusinterpretation ohne ein bestimmtes Charakterbild nicht zu verstehen. Außerdem ist seine Paulusdeutung wesentlich durch sein Verständnis des Damaskuserlebnisses bestimmt. Nicht nur Nietzsches Paulusbild, sondern seine Christentumskritik als ganze ist davon berührt. Die Frage nach Wesen und Charakter des Apostels Paulus147 hat sich in der Paulusforschung erst langsam einen Platz erobert. Nachdem die neutestamentliche Exegese am Anfang des Jahrhunderts den eigenen Charakter der paulinischen Theologie entdeckt hatte und zu erforschen begann, war der Weg frei, hinter dieser Theologie auch den „Menschen" Paulus zu entdecken. Dennoch sollte es noch einige Jahrzehnte dauern, bis die psychologische Eigenart des Apostels Thema der neutestamentlichen Forschung wurde. Die Frage nach dem „Menschen" Paulus ist, oberflächlich betrachtet, immer ein Randthema in der Paulusforschung geblieben. Sie wurde deshalb m.W. auch noch nie in ihrer Geschichte erforscht. Doch dies täuscht über die Bedeutung dieses Themas für die Paulusforschung des 19. Jahrhunderts, 147 Die Frage nach dem paulinischen Charakter ist in der gegenwärtigen neutestamentlichen Forschung wieder in den Hintergrund getreten. Man ist vorsichtiger geworden hinsichtlich dessen, was sich aus den paulinischen Briefen zu diesem Thema erschließen läßt. Studien, die den paulinischen Charakter erschließen wollen, sind oft polemischer Natur. Eine vorsichtige Einschätzung des „Menschen" Paulus bietet Gnilka, Paulus von Tarsus, 290ff. Eine „sozialpsychologische Studie zu Paulus" hat Rebell mit seinem Buch „Gehorsam und Unabhängigkeit" vorgelegt. Rebell hat die Beziehungen des Paulus zu den Jerusalemer Autoritäten, seinen Mitarbeitern und den Gemeinden aus der Perspektive von Beziehungstheorien untersucht und hieraus weitreichende Schluß Folgerungen gezogen. Aus psychologischexegetischer Perspektive vgl. weiter die Untersuchungen von Theißen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie; außerdem die Beiträge zu Paulus in Berger, Historische Psychologie des Neuen Testaments.

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denn spätestens, als man nach den persönlichen und psychischen Hintergründen des Damaskusereignisses zu fragen begann, wurden auch Charakter und Wesen des Apostels in seine Theologie unauflöslich hineinverwoben. Auch die Geschichte der Interpretation des Damaskusereignisses wurde m.W. noch nicht untersucht, obwohl sie — in Verbindung mit der Frage nach dem „Menschen" Paulus - eines der spannendsten Kapitel der Paulusforschung darstellen dürfte. An keiner anderen Stelle im Neuen Testament wurde der christliche Offenbarungsgedanke stärker hin ter fragt, weil nirgends so deutlich und authentisch zur Sprache kommt, wie sich die göttliche Autorität des Evangeliums auf ein menschliches Erlebnis gründet. Tatsächlich ist die Erforschung der paulinischen Theologie in ihrer Geschichte weit weniger von der Frage nach dem Charakter des Apostels frei gewesen, als es die wenigen Bemerkungen und Beiträge zu diesem Thema vermuten ließen.148 Sympathien und Antipathien machten sich oft unbewußt daran fest, und auch die ganze Paulus-Jesus-Debatte ist von diesem Problem durchdrungen. Im folgenden soll die Debatte um den Charakter wie um das Damaskuserlebnis des Apostels Paulus nachgezeichnet und aufgezeigt werden, welche Charakterbilder des Apostels und welche Erklärungen des Damaskusereignisses Nietzsche kennenlernte und welche Positionen diese Darstellungen in der exegetischen Diskussion jener Zeit einnahmen.

2.2. Die Anfänge der Erforschung der,Individualität" des Apostels Zuerst fiel in der kritischen Erforschung der Paulusbriefe die Eigenart seines Charakters auf. LEOPOLD I. RÜCKERT 1 4 9 entdeckte in seinen Kommentaren besonders im Galaterbrief und im 2. Korintherbrief die menschliche Seite des Apostels. Er merkte an, wie hart Paulus über seine Gegner urteile. Für ihre Handlungen und Uberzeugungen unterstelle er ihnen oft unheilige Motive, und seine Angriffe auf sie ließen auf einen harten Charakter schließen. Dieselbe Seite dieses Charakters fand man auch in der Erforschung der vorchristlichen Zeit des Paulus wieder. Die frühere Verfolgung der Christen schien auch nach seinen eigenen Berichten150 von einem fanatischen Eifer getrieben.

148 Die erste Monographie zur paulinischen Persönlichkeit, die „Psychologie des Apostels Paulus" von Theodor Simon, erschien erst 1897. ' « Vgl. Baur, Paulus 21866, 3.Teil, 314 (Vgl. Gal. 1,7; 2,4; 6,12; 2.Kor. 2,17; 11,12). «o Vgl. bes. Gal. 1,13; l.Kor. 15,9.

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Der erste, der der „Individualität" des Paulus eine besondere Untersuchung (in einem eigenen Kapitel seines Paulusbuches151) widmete, war wiederum FERDINAND CHRISTIAN BAUR. In seiner Darstellung der paulinischen Persönlichkeit ist Baur sehr zurückhaltend — die wenigen Daten erlaubten keine umfassende Charakterisierung. So will Baur denn auch nur einige Aspekte des paulinischen Wesens deutlich zu machen versuchen. Seine Schilderung des paulinischen Charakters ist im ganzen durchaus positiv, ja nimmt bisweilen hymnischen Charakter an. Es sind vor allem die idealistischen Grundtugenden, die er in Paulus wiederentdeckt, die andere Seiten seines Wesens zwar nicht ausblenden, aber doch an den Rand stellen und überstrahlen. In der Einseitigkeit dieser Perspektive macht Baur aber auch wesentliche Entdeckungen, die das Apostelbild bei aller künftigen Veränderung bestimmten sollten. Paulus ist für Baur zuerst ein Dialektiker reinster Natur, der alle Probleme zueinander in Beziehung stellt, die theologischen Begriffe in Bewegung hält, vor Dogmatisierung bewahrt und um die letztliche Einheit aller theologischen Gegensätze weiß und bemüht ist. Selbst die Härte und Schroffheit der Sprache fuhrt Baur auf die Stärke des Gedankens zurück, der Mühe hat, in der Sprache rechten Ausdruck zu finden.152 Für Baur bezeugte die Entschiedenheit und Konsequenz, mit der Paulus zuerst die Christenverfolgung wie später die Mission durchführte, gerade sein Absehen von seiner Person zugunsten der Sache, war Ausdruck der „Objectivität, welcher sich uns in allem [...] auch nicht das Geringste erkennen lässt, was in ihr auf den Einfluss subjectiver Interessen und Motive zurückzuführen wäre".153 Durch die Kraft dieses Denkens entwickelte Paulus ein Freiheitsbewußtsein gegenüber allen menschlichen und formalen Autoritäten, mit dem er nach Baur das Prinzip des christlichen Bewußtseins überhaupt geprägt hat.154 Die Liebe schließlich als bestimmender Charakterzug des Apostels ist gewissermaßen gelebter Ausdruck des Bewußtseins von der Einheit der Gegensätze.155 Neben den zeitbedingten Grenzen, die Paulus trotz aller Freiheit in vielem an das Judentum wie an sein Gesetz gebunden sein lassen, sind es auch Grenzen seines Charakters. Diesen letztlich unwesentlichen Beschränkungen

151 „Einige die Individualität des Apostels betreffende Züge", Baur, Paulus 2 1866, 3.Teil, 9. Kap., 294-315. •52 Vgl. Baur, Paulus 21866,3.Teil, 307f. 153 Baur, Paulus 2 1866, 3.Teil, 295. im Vgl. Baur, Paulus 2 1866, 3.Teil, 297ff. iss Vgl. Baur, Paulus 2 1866, 3.Teil, 305ff.

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widmet Baur allerdings nur zwei Seiten.156 Eine bisweilen zu beobachtende Härte gegen seine Gegner kann auch Baur nicht leugnen, ebenso wenig wie „eine gewisse Erregbarkeit oder Heftigkeit", die sich z.T. auch in rasch wechselnden Gemütszuständen niederschlug.157 Das Damaskuserlebnis158 behandelt Baur in eigentümlicher Weise. Einerseits beginnt er sein Kapitel mit der Behauptung, der Übergang vom Judentum zum Christentum sei das bekannteste Faktum aus dem Leben des Apostels, das wie nichts anderes in seinen „geistigen Organismus" 159 blicken ließe. Am Ende dagegen bedauert er, daß nicht mehr „über die ekstatischen ό π τ α σ ί α ι und α π ο κ α λ ύ ψ ε ι ς " zu erschließen sei, weil man gerade hier in die „Individualität des Apostels nach ihrer psychischen und wohl auch nach ihrer leiblichen Organisation hineinsehen könne".160 Für Baur sind die ekstatischen Erlebnisse des Paulus eine psychologische Randerscheinung, die zu seinem Damaskuserlebnis in keiner Beziehung stehen. Zwar hatte er seine Überlegungen zur Individualität des Apostels mit einem ausdrücklichen Verweis auf dessen Damaskuserlebnis begonnen, ohne es aber wirklich für die Erschließung seiner Persönlichkeit fruchtbar zu machen. Dieses Erlebnis ist für Baur ein Ereignis sui generis, das er keiner psychologischen Deutung unterwirft — es ist ein „Wunder", und „keine weder psychologische noch dialektische Analyse kann das innere Geheimnis des Aktes erforschen, in welchem Gott seinen Sohn in ihm enthüllte".161

15« Vgl. Baur, Paulus 2 1866,3.Teil, 314f. 157 Bes. im 2.Kor., von dessen Einheitlichkeit Baur ausgeht, und im Gal. (Vgl. Baur, Paulus 2 1866, 3.Teil, 215.) iss Zur Interpretation des paulinischen Damaskuserlebnisses vgl. auch Feine, Paulus, 18ff. •59 Baur, Paulus 21866,3.Teil, 294. i«o Baur, Paulus 21866,3.Teil, 315. 161 Baur, Das Christentum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte, 1853, 45; zit. nach Feine, Paulus, 18f.; vgl. Holsten, christusvision, 3. In seinem Paulusbuch hatte Baur über das Damaskuserlebnis sagen können, „Was er in dem Akte seiner Bekehrung als geistigen Process in sich durchmachte, ist nur die Explication des an ihm sich selbst explicierenden christlichen Princips." (Baur, Paulus, 3.Teil, 134). Es war ihm „der eigentümliche innere Process, durch welchen in ihm der Glaube an Jesum, als den Messias, entstanden war" (ebd., 135). Diese Interpretation des Damaskuserlebnisses ist vom Hegeischen Entwicklungsgedanken her geprägt und gedacht. Seine spätere ausdrückliche Bezeichnung als „Wunder" sollte auch ein psychologisches Mißverständnis dieser Deutung verhindern.

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2.3. Die erste Kritik am Offenbarungscharakter des Damaskuserlebnisses durch David Friedrich Strauß Mit dieser Behauptung grenzte sich Baur gegen alle Erklärungsversuche ab, die schon seit der Zeit des Rationalismus für das Damaskuserlebnis gegeben worden waren. Hier wurden vor allem äußere Erscheinungen, wie z.B. ein Gewitter, als Ursachen angenommen, die von Paulus als Offenbarungen erlebt worden waren.162 Die Abgrenzung galt auch gegen DAVID FRIEDRICH STRAUß163 (dessen „Leben Jesu" Nietzsche in seiner Studienzeit gelesen hatte), der als erster das Damaskusereignis auf rein psychische Ursachen zurückzufuhren wagte. Nach Strauß hatte das Christentum in seiner Lehre wie im Auftreten und Leiden seiner Anhänger auf Paulus eine starke Faszination ausgeübt und ihn dadurch in innerliche Zerrissenheit und Verzweiflung gestürzt. Zuerst wollte er die Faszination des christlichen Glaubens durch eine um so leidenschaftlichere Verfolgung der Christen unterdrücken, schließlich aber erlag er ihr doch. Die Auferstehung und Erscheinung Jesu war Paulus „als Glaube der Secte, die er verfolgte, gegeben; er hatte sie nur noch in seine Uberzeugung aufzunehmen, und durch die Phantasie bis zur eigenen Erfahrung zu beleben".164 Die „Christophanie" war die Endadung der paulinischen „Krisis", was „uns bei einem Orientalen nur gar nicht wundern darf'.165 Die Möglichkeit einer Christuserscheinung bei Paulus galt für Strauß letztlich als plausibel, ohne daß er sie aus der Psyche oder der Situation des Apostels erst hätte nachweisen müssen.

2.4. Die psychologische Erklärung des Damaskuserlebnisses durch Holsten und seine Darstellung des paulinischen Charakters CARL HOLSTEN166 stand, ohne Strauß zu erwähnen, in dessen Tradition, wenn er gegen seinen Lehrer Baur versuchte, auch das Damaskuserlebnis der historischen Kritik zu unterwerfen. Wie Strauß wollte er dieses Erlebnis alSo Eichhorn, Schmidt und Kaiser; nach Strauß, Leben Jesu, 688f. 163 Vgl Strauß, Leben Jesu, 687ff. Strauß behandelt hier das Damaskuserlebnis des Paulus nur sehr knapp und lediglich als Analogie zur Ostererfahrung der Jesus-Jünger. Zur Aufnahme und Diskussion Strauß' zum Thema in der heutigen Exegese vgl. Kessler, Sucht den Lebenden, 133ff. 164 Strauß, Leben Jesu, 690. Strauß, Leben Jesu, 688. 166 Zum Verständnis des Damaskusedebnisses bei Holsten vgl. auch Feine, Paulus, 30ff.; eine kurze Bemerkung bei Mehlhorn, Holsten, 283. 162

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lein aus der paulinischen Psyche her erklären, aber anders als dieser wollte er zum Erweis dieser Möglichkeit einen gründlichen Nachweis fuhren. Dazu griff Holsten auf die Psychologie zurück, die sich selbst gerade erst als Wissenschaft zu etablieren begann. Seelische Zustände waren schon vorher als Ursachen von ekstatischen Erlebnissen angesehen worden, aber Holsten machte als erster mit großer Sachkunde den Forschungsstand der Psychologie für die Paulus forschung nutzbar und stellte damit die Diskussion um den Charakter und das Damaskuserlebnis des Apostels auf eine wissenschaftliche Grundlage.167 Er wollte auf diese Weise das Damaskuserlebnis und damit die Entstehung des paulinischen Evangeliums, als „immanente entwicklung des menschlichen geistes aus innerweltlichen causalitäten"168 ohne die Notwendigkeit göttlicher Offenbarungen historisch und psychisch verständlich machen. Holsten versucht in seiner Untersuchung darzulegen, daß sich das Damaskuserlebnis des Apostels psychologisch als Vision verstehen ließe.169 Im Begriff der „Vision" ist für Holsten gegeben, daß sie zwar als Sehen einer objektiven Wirklichkeit erlebt wird, aber keinen Rückhalt in der Wirklichkeit hat. Vielmehr beruht sie auf einer Täuschung, in der als objektiv sichtbar erlebt wird, was die Phantasie des Visionärs entwarf.170 Ein Mensch muß zwar nicht krank sein, um Visionen zu erleben, dennoch bedarf es nach Holsten dazu bestimmter Bedingungen: Zunächst muß im Weltbild des Visionärs die Möglichkeit von Visionen gegeben sein; er muß sich in seinem

167 Vgl di e langen Ausführungen zum Charakter von Visionen. (Vgl. Holsten, christusvision, 79ff; zur von Holsten rezipierten Literatur vgl. ebd., 79 Anm.) Auch von H. Lüdemann wird Holsten als Begründer der psychologischen Paulusforschung bestätigt. (Vgl. Lüdemann, Anthropologie, 110.) Die schmale Textgrundlage für die Erforschung des Damaskusedebnisses sind vor allem die eigenen Erwähnungen des Paulus (Gal. l,15f.; l.Kor. 9,1; 15,8; [2.Kor. 4,6]), daneben die Darstellung der Apostelgeschichte (Apg. 9,3-9, vgl. 22,6-10; 26,12-18). Diese Textbasis galt, wie die Zusammenfassung bei Renan zeigt, für diese Diskussion im wesentlichen auch im 19. Jahrhundert. (Vgl. Renan, Apostel, 172 Anm.; vgl. zur heutigen exegetischen Diskussion Dietzfelbinger, Berufung des Paulus; vgl. auch Wilckens, Bekehrung des Paulus.) 168 Holsten, christusvision, 65. Holstens eigentliches Ziel dieses Aufsatzes scheint mir, aus seinem christlichen Gewissen heraus das durch Hegel geprägte Weltbild einer bruchlosen Entwicklung gegen das christliche Offenbarungsverständnis verteidigen zu wollen. So schließt er seine Untersuchung mit der begründeten Hoffnung für die historische Kritik, „auch an diesem punkte in der entwicklung des menschlichen geistes werde kein riss durch ihre Weltanschauung gehen". 169 Vgl. Holsten, christusvision, 66f; zur heutigen exegetischen Diskussion um die „Vision" vgl. die unterschiedlichen Positionen von Kessler, Sucht den Lebenden, 175ff. und G. Lüdemann, Auferstehung, 68ff. 170 Vgl Holsten, christusvision, 79ff.

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Bewußtsein ein Stück aus der sinnlichen Welt zurückgezogen und sich in sich selbst hineingegraben haben, so daß ein Visionserlebnis durch die Reflexion nicht mehr hinterfragt werden kann. In diesem Bewußtsein werden nun die phantastischen Bilder erzeugt, die dann in der Vision als objektiv erlebt werden. Alle Elemente der in der Vision geschauten Bilder müssen schon vor dem Erlebnis im Schauenden vorhanden gewesen sein. Und schließlich wird nach Holsten jede Vision aus einer bestimmten Situation des Visionärs heraus geboren, d.h. der Visionär muß psychisch dafür disponiert sein.171 Ist nun das Damaskuserlebnis des Paulus ebenfalls eine Vision, wovon Holsten ausgeht, dann müssen sich alle diese Bedingungen auch in Charakter und Situation des Paulus nachweisen lassen. Holstens Erforschung des paulinischen Charakters steht somit unter dem Vorzeichen, das Damaskusereignis verstehbar zu machen. Zwar ist Holstens Charakterbild des Apostels zunächst von dem Baurs geprägt172, aber anders als Baur stellt Holsten die Charaktereigenschaften des Apostels in den Vordergrund, die auf eine übermäßige psychische Erregbarkeit und Sensibilität und damit auf eine Disposition zu Visionen schließen lassen. Trotz der von Baur übernommenen positiven Gesamtwürdigung der paulinischen Persönlichkeit wird der paulinische Charakter unter dem Vorzeichen seines Damaskuserlebnisses als ganzer suspekt. Wie für Baur ist auch für Holsten Paulus der lautere Geist und leidenschaftliche Denker, der jeden Widerspruch aufzulösen versuchte und sich in der Konsequenz dieser Gedankenbewegung jeden Kompromiß verbot.173 Holsten ist aber nicht nur zuversichtlicher, was die Möglichkeit der Erschließung der paulinischen Persönlichkeit betrifft, er nimmt vor allem neue Schwerpunktsetzungen vor: Paulus teilt nach Holsten nicht nur das Weltbild seiner Zeit, sondern ist eine in besonderer Weise religiöse Natur, in der das Streben des religiösen Gemütes sogar das der Reflexion zurückzudrängen vermag. Paulus war ein sanguinisch-cholerisch veranlagter Mensch mit seiner sensiblen, nervösen und unruhigen Natur. Sein Wesen war nicht nur von Heftigkeit und Leidenschaft, sondern von einer geradezu feurigen Reizbarkeit bestimmt ,174 Darüber hinaus meint Holsten Paulus' Veranlagung für starke seelische Erschütterungen auch noch genauer in einer bestimmten Krankheit des

Vgl. Holsten, christusvision, 82. Vgl. seine eigene Beurteilung des Baurschen Charakterbildes: Holsten, christusvision, 84f. 173 Vgl. Holsten, christusvision, 89 u.a. 174 Vgl. Holsten, christusvision, 87f.; 94ff. bes. 97. 171

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Apostels festmachen zu können. Holsten versteht unter der „Schwachheit des Fleisches" (ασθένεια της σαρκός) nicht eine beliebige Krankheit, sondern eine, die in besonderer Weise die gesamte leibliche Erscheinung zerrüttet und doch gleichzeitig in besonderem Zusammenhang mit seinen Ekstasen und Visionen steht: die Epilepsie.175 Grundsätzlich ist festzuhalten, daß es Holsten nie um einen Beweis der psychischen Bedingtheit der Visionen geht, sondern nur um einen Beweis der Möglichkeit solcher psychischen Ursachen. Weiter würden die Möglichkeiten historischer Kritik nicht reichen — bei einer nachgewiesenen Möglichkeit innerweltlicher Ursachen allerdings hätte der kritische Exeget immer diese anzunehmen.176 Holsten versucht nun nachzuzeichnen, wie sich das Damaskuserlebnis in Paulus vorbereitet haben mag, wie die in ihm vermittelte Erkenntnis in Paulus Gestalt annahm und welche psychische Situation es disponierte. Die Auferweckung Jesu als solche konnte im Weltbild des Paulus kein Problem darstellen, aber Jesu Fluchtod am Kreuz Schloß sie aus und machte die Behauptung der Auferstehung zur Blasphemie. In seiner Verfolgung der Christen mußte Paulus jedoch begreifen, daß die Behauptung der Jünger von der Wiedererscheinung ihres Herrn nicht Betrug war, sondern sie davon überzeugt waren und sie also tatsächlich erlebt haben mußten. Dennoch ließen sich für den konsequenten Denker Auferweckung und Kreuzestod nicht vereinbaren — hatte Gott den am Kreuz Gestorbenen auferweckt, so mußte in diesem Kreuzestod selbst sein neuer Heilswille liegen. Die Möglichkeit, in seiner Verfolgung der Christen eventuell gegen den Heilswillen Gottes zu streiten, stieß Paulus in eine peinigende Seelenqual, die in diesem ohnehin nervösen und erregbaren psychischen Organismus seine Nerven auf das äußerste anspannte. Diese Spannung endud sich im Erlebnis von Damaskus, in dem die von Paulus erkannte Wahrheit ihm sichtbar vor Augen trat.177 Das Vgl. Holsten, christusvision, 85f. (Vgl. 2.Kor. 12,7; Gal. 4,13f.) Als erster hat W. Ziegler die Krankheit des Paulus als Epilepsie zu deuten versucht. (Vgl. Ziegler: Theologische Abhandlungen, Bd. 2, Göttingen 1804,128; vgl. dazu Heckel, Schwachheit und Gnade, 220 und ff.) 176 Vgl Holsten, christusvision, 66; messiasvision des Petrus, 232. 177 Vgl. Holsten, christusvision, 107ff. Im wesentlichen adäquat stellte Holsten einige Jahre später die „messiasvision des Petrus" dar: Petrus stand seit Jesu Auftreten in Jerusalem und seinem Wissen um den baldigen Tod seines Meisters unter schrecklichster seelischer Erregung, die sich nach dessen tatsächlichem Tod noch verschärft: Der Fluchtod Jesu am Kreuz stritt wider seine Messianität, und Petrus wurde von der Furcht gepeinigt, die Gegner könnten mit ihrem Vorwurf des „Lügenpropheten" Recht behalten. Die „brütende Innerlichkeit", verstärkt durch sein Fasten, konnte „aus der phantasie bei dem überreizten zustande seines gemütes und nervenlebens" seine Hoffnung als Vision in den Zustand der Objetivität treten lassen. (Zit: Holsten, messiasvision des Petrus, 232; vgl. 230ff.)

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Bewußtsein des göttlichen Heilswillens im Kreuzestod Jesu, von dem aus Paulus sein gesamtes Denken neu entwarf, war ihm also nicht durch göttliche Offenbarung vermittelt, sondern seinem eigenen Denken entsprungen.178 Aus der Perspektive der späteren Diskussion überrascht in der Darstellung Holstens, auf welche Ursachen er die psychische Disposition des Apostels füir sein Damaskuserlebnis nicht zurückführt: Die Ursache ist nicht sein Scheitern am jüdischen Gesetz. Erst als Konsequenz aus der gedanklichen Durchdringung dieses Heilshandelns Gottes her kam Paulus über sein neues radikales Sündenbewußtsein und Menschenbild zu dem Schluß, daß sich auch das judenchristliche Gesetzesverständnis mit dieser Gottestat nicht vereinbaren ließe. Es ist die Inkonsequenz des judenchristlichen Denkens, die Paulus aus dem Judenchristentum hinaustrieb.179

2.5. Die Debatte um daspaulinische Damaskuserlebnis (Beyschlag Holsten, Uidemann) Der Versuch Holstens zur psychologischen Erklärung des Damaskuserlebnisses hatte in der Paulusforschung einen heftigen Streit ausgelöst. Neben den rein apologetischen Gegenschriften gab es auch Versuche, die Unmöglichkeit einer psychologischen Herleitung des Damaskusereignisses exegetisch zu belegen. Dabei ging es im besonderen um die Frage, ob man das Damaskuserlebnis als Visionserscheinung interpretieren könne.180 Die bedeu178 Holsten wird in der neuesten Diskassion von Gerd Lüdemann in seinem Auferstehungsbuch wieder aufgegriffen. Lüdemann greift ausführlich auf die Überlegungen Holstens zur Psyche des Apostels zurück. Er selbst begründet die Situation, die Paulus zur Vision führte, (ohne dies zu thematisieren) jedoch anders: Paulus sei nicht zuerst durch das Auferstehungszeugnis der Jünger innerlich überzeugt worden, sondern die christliche Lehre habe ihn derart fasziniert, daß er wohl an einem „Christuskomplex" gelitten habe, der sich in der Vision nach außen entlud. Als seelische Ursache hierfür weist Lüdemann sehr knapp auf ein Scheitern des Paulus am Gesetz nach Rom. 7 hin. (Vgl. G. Lüdemann, Auferstehung, 68ff.; 97ff.) 179 Vgl. Holsten, christusvision, 113; vgl. Holsten, messiasvision des Petrus, 138ff.; 236f. Adolf Hausrath erweist sich in seiner Sicht des Damaskuserlebnisses (ohne ihn zu nennen) stark von Holsten abhängig. In seiner Darstellung der psychologischen Ursachen für das Damaskuserlebnis führt er Holstens Gedanken weiter, daß Paulus durch die Argumente und durch die Botschaft der durch ihn verfolgten Jünger innerlich überzeugt worden sei, und dieser innere Zwiespalt sich schließlich in einem visionären Erlebnis entlud, zu dem Paulus von seinem „krankhaft erregten Temperamente" und von seiner epileptischen Krankheit her angelegt war — nur wagte Hausrath in seinem Buch, das an einen „größeren gebildeten Leserkreis" gerichtet war, die Farben wesentlich kräftiger aufzutragen. (Vgl. Hausrath, Paulus, 123ff., [bes. 129ff.] und - zur Psyche des Paulus - 52ff.; Zit. 57 und V.) 180 Eine dieser Schriften, mit denen Holsten sich auseinandersetzt, ist die Arbeit „des herrn pfarrer paul", die die reale Auferstehung Jesu aus den neutestamentlichen Zeugnissen nachweisen will. Für das Damaskuserlebnis des Paulus leugnet Paul den Visionscharakter mit der

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tendste von diesen Gegendarstellungen ist sicher die von WILLIBALD Viele seiner Gegenargumente bringen wenig neue Aspekte, sind aber bezeichnend für die Themen der Diskussion jener Zeit.182 Dennoch stellt Beyschlag in seiner Gegendarstellung die Auseinandersetzung um das Damaskuserlebnis des Paulus auf eine neue Ebene, denn er verbindet sie mit der Frage nach dem Verhältnis des „vorchristlichen" Paulus zum Gesetz. Die Frage nach dem Scheitern des Paulus am Gesetz war, wie bei Holsten gezeigt, keine ursprüngliche Begründung seiner psychischen Disposition zum Damaskuserlebnis, sondern wird überraschenderweise zuerst als Argument gegen die Visions-Hypothese ins Feld gefuhrt.183 Holsten hatte als eine Ursache angenommen, daß Paulus den Jüngern ihre Messiaserscheinungen geglaubt und damit unbewußt die Auferstehung Jesu anerkannt habe. Beyschlag setzt dagegen, die Auferstehung sei gar nicht das eigentliche Problem des Pharisäers Paulus gewesen, auch nicht seine Messiashoffnung, sondern die Stellung zum Gesetz. Paulus war innerlich am Gesetz verzweifelt, weil er sich durch die Sündhaftigkeit seiner Fleischesnatur unfähig sah, durch die Erfüllung des Gesetzes die Gewißheit der Gerechtigkeit zu erreichen.184 Dennoch hing er am Gesetz und mußte aus innerster Überzeugung die Jünger Jesu verfolgen, weil er wußte, daß schon ihr Meister sich gegen das Gesetz gestellt hatte. Die verzehrende Verzweiflung über die eigene Sündigkeit ist der seelische Hintergrund, von dem her er seine Christusoffenbarung erlebt.185 Beyschlag will diese Seelenqual aber gerade wegen ihrer Schwere nicht als Ursache BEYSCHLAG. 181

Begründung, diese sei für das parallel zu interpretierende Erlebnis des Petrus nicht zu begründen und dürfe deshalb auch für Paulus nicht behauptet werden. Dieses Argument hat Holsten in einer eigenen Untersuchung zur „messiasvision des Petrus" zu widerlegen versucht. (Paul: Über die geschichtliche Beglaubigung einer realen Auferstehung Christi, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 1863,182ff; nach Holsten, christusvision, 7). 181 Beyschlag: Die Bekehrung des Apostel Paulus mit besonderer Rücksicht auf die Erklärungsversuche von Baur und Holsten, in: Theologische Studien und Kritiken 1864, 197ff. Gegen die Schrift Beyschlags wendet sich Holsten in einer ausfuhrlichen Einleitung zu seiner neuen Herausgabe seines Aufsatzes zur Christusvision des Paulus. (Vgl. Holsten, christusvision, Einleitung. Gegen Beyschlag, 2-64.) 182 Auch Beyschlag leugnet den Visionscharakter des Damaskuserlebnisses unter anderem mit dem Hinweis darauf, Paulus hätte wie alle anderen biblischen Personen wohl zwischen einer Offenbarungsvision und einer objektiven Begegnung zu unterscheiden gewußt. Auch hätte die totale Wende, die dieses Ereignis im Leben des Paulus bedeutete, und die ihn nach Beyschlag auch in seinem Charakter verwandelte, nicht durch eine bloße Erscheinung ausgelöst werden können. 183 Beyschlag greift hier nach Holsten einen Hinweis aus der Paulus-Biographie von Lang auf. (Vgl. Holsten, christusvision, 58.) 184 Erstmals in dieser exegetischen Diskussion wird hier Rom. 7 als autobiographisches Zeugnis der vorchristlichen Zeit des Apostels gedeutet. 185 Vgl. dazu Beyschlag, Bekehrung, 244ff. ; vgl. auch Holsten, christusvision, 49ff.

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des Damaskuserlebnisses ansehen. Paulus selbst konnte durch Jesus, den er als Widersacher des Gesetzes haßte, keine Hilfe erwarten, sondern ihm mußte von Gott selbst von außen geholfen werden — und dies tat Gott durch die Christusoffenbarung. Der Widerlegung der Visions-Hypothese hatte Beyschlag mit seiner Gegendarstellung keinen guten Dienst erwiesen, sondern wider Willen seinen Gegnern ein neues Argument in die Hände geliefert. Holsten griff Beyschlags Überlegungen so auf: Hätte nicht Beyschlag so argumentiren müssen: Wenn bei dem hunger und durst nach gerechtigkeit in Paulus auch durch die strengste pharisaeische erfüllung der ceremonialsatzungen die bedürfnisse des religiösen gemütes nicht befriedigt wurden, wie l e i c h t musste der glaube an die göttliche Wahrheit der ceremonialsatzungen in Paulus sich lösen, wenn ihm in Jesus eine innerliche gerechtigkeit entgegentrat, welche die Bedürfnisse des religiösen gemütes befriedigte? Man denke an Luther. 186

Wenn auch Holsten selbst sich noch weigerte, das Sündenbewußtsein des Apostels als „positive Kraft"187 für sein Damaskuserlebnis anzuerkennen, so wurde in der weiteren Diskussion die Frage nach einer Disposition des Apostels zu seinem Offenbarungserlebnis durch seine Verzweiflung am Gesetz zum bestimmenden Thema. Auf dieser Ebene bewegte sich der Streit um die Bekehrung des Paulus, als Nietzsche in Gestalt der Argumentation Hermann Lüdemanns von dieser Diskussion Kenntnis erhielt. Nietzsche hat gerade in diesem Zusammenhang etliches exzerpiert, und es wird zu zeigen sein, wie stark seine eigene Interpretation des Damaskuserlebnisses und damit sein ganzes Paulusbild von der Darstellung Lüdemanns geprägt ist. Das Damaskusereignis ist kein zentrales Thema der Arbeit Lüdemanns, er stellt seine pointierten Ergebnisse zur Frage nach der Bekehrung des Paulus und seinen Voraussetzungen nur in anderem Zusammenhang thesenhaft zusammen.188 Ausdrücklich stellt sich Lüdemann in der Frage nach den inneren Ursachen für den Wandel des Apostels trotz aller Hochachtung für dessen „epochemachenden Untersuchungen" gegen Holsten.189 Vielleicht hat

Holsten, christusvision, 48f. Anm. Holsten, chiistusvision, 58 (bei Holsten im Plural). 188 Yg] Lüdemann, Anthropologie, 11 Of. 189 „Namentlich ist unseres Erachtens das bei Paulus immer klarer sich einstellende Gefühl von der Nicht-Thatsächlichkeit und Unmöglichkeit einer Gesetzesgerechtigkeit schon mit unter die 186

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niemand vor Lüdemann das Damaskuserlebnis so deutlich und eindeutig auf das Scheitern des Apostels am Gesetz zurückgeführt wie er. Einst hoffnungslos gescheitert mit seinem heissen Streben durch die Erfüllung des Gesetzes, welche sich ihm zunächst empirisch, später principiell als unmöglich erwies, zum Heil und zum Bewusstsein des göttlichen Wohlgefallens zu gelangen, zum Tode geängstet in der Verzweiflung, [...] (Rom. 7,10), ist er sich bewusst, vermöge unmittelbarer göttlicher Erleuchtung den ersten Ausweg aus diesem Dunkel erkannt, den Heilsrathschluss Gottes durchschaut zu haben [...]. 190

Bezeichnenderweise greift Lüdemann von den Paulus-Belegen zu seiner Christusoffenbarung gerade auf die umstrittene Stelle 2.Kor. 4,6 zurück, wodurch sein Damaskuserlebnis zu einem wesentlich innerlichen Geschehen wird, dessen Erleuchtung wesentlich im „Herten" geschieht und sich in seiner „Erkenntniss" zusammenfassen läßt— Aspekte, die auch im DamaskusVerständnis Nietzsches wichtig werden sollten. Diesen Text versteht und übersetzt Lüdemann so, daß [...] Gott es in seinem Herzen aufleuchten liess, bis dass hell wurde d i e kenntniss des Lichtglanzes Gottes auf A n g e s i c h t e J e s u C h r i s t i 191 .

E r dem

Bewußt übersetzt Lüdemann das griechische Wort πρός durch „bis dass" und hat so einen Beleg, das Damaskuserlebnis als Endpunkt einer Entwicklung anzusehen.192 Das Damaskuserlebnis war für Paulus die unbestreitbare Bezeugung der Messianität Jesu, der doch bisher durch seinen Kreuzestod (welcher nach dem Gesetz als verfluchter Tod galt) so vehement widersprochen worden war. Die Lösung dieses Widerspruches war nach Lüdemann der eigentliche Motor der paulinischen Theologie. Schon im Erlebnis seiner Christusoffenbarung mußte Paulus klar geworden sein, „dass in dem paradoxen Todesschicksal desselben der Knoten des Räthsels liegen, hier das Geheinmniss des göttlichen Rathschlusses ruhen müsse"193 . Nicht die Gesetzeskritik Jesu, wie Beyschlag es wollte, sondern dessen Tod am Kreuz ersten treibenden Motive seiner Wandlung zu rechnen." (Lüdemann, Anthropologie, 110 Anm.) 190 Lüdemann, Anthropologie, 110. Auch Baur versteht später in seinen Vodesungen über die neutestamentliche Theologie Rom. 7 als autobiographisches Zeugnis des Paulus. (Vgl. Baur, Neutestamentliche Theologie, 145f.) "i Lüdemann, Anthropologie, 110. 192 „Unverkennbar hat diese Stelle ganz bestimmt den Process leidenschaftlichen inneren Ringens im Auge, der mit der plötzlichen Katastrophe der Damaskus-Erscheinung seinen vodäufig entscheidenden Abschluß fand." (Lüdemann, Anthropologie, 110; vgl. Anm.) 193 Lüdemann, Anthropologie, 110; von Nietzsche exzerpiert 4[219] = KSA 9,154f.

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war durch Damaskus als Ansatzpunkt für Paulus' eigene Gesetzesüberwindung vorgegeben.194

2.6. Die weitere Entwicklung des Charakterbildes des Paulus (Renan, Overbeck, Lüdemann) Je mehr man das Damaskusereignis als eigentlichen Schlüssel zur paulinischen Theologie anerkannte, desto wichtiger wurde auch die Frage nach dem paulinischen Charakter, der gewissermaßen selbst zu einer wichtigen Ursache der christlichen Weltreligion geworden war. Grundsätzlich läßt sich beobachten, daß das paulinische Charakterbild in der folgenden neutestamentlichen Diskussion im ganzen eine große Konsistenz besaß. Daran haben Baur und besonders Holsten wesentlichen Anteil. Schwierigkeit und Ambivalenz des paulinischen Charakters waren aus dem Paulusbild nicht mehr zu verdrängen. Als bestimmende Charaktereigenschaft des Apostels wurde in der Regel sein unermüdlicher Tatendrang genannt. Als andere Seite dieser Energie wurden seine Heftigkeit und Erregbarkeit, bisweilen auch sein Fanatismus herausgestellt. Der Denker und Dialektiker, wie ihn Baur gezeichnet hatte, verblaßte hinter dem leidenschaftlichen Eiferer. Es drängten sich die Charaktereigenschaften in den Vordergrund, die zur Erklärung seines Damaskuserlebnisses herangezogen worden waren: seine innere Zerrissenheit, sein „krankhaft erregtefs] Temperament"195 und schließlich seine rätselhafte Krankheit, über die nun viel spekuliert wurde. Nicht selten bemühte man das Klischee des „Orientalen", um Paulus' religiöse Natur und die Befangenheit seines Weltbildes zu beschreiben. Die Unterschiede des Paulusbildes bei den neutestamentlichen Forschern ergaben sich weniger durch die Feststellung unterschiedlicher Charaktereigenschaften, sondern durch die Bewertung derselben: Während etliche Exegeten zurückhaltender waren und das Schwergewicht auf die positiven 194 Auch für Renan kommen zur Erklärung des Damaskuserlebnisses übernatürliche Ursachen nicht in Betracht. Er fuhrt das Damaskuserlebnis in der Tradition der rationalistischen Theologie vor allem auf äußere Ursachen zurück: Eine Augenentzündung, einen Anfall oder ein Gewitter hält er für möglich. Für die Welt, in der Paulus lebte, waren solche Erscheinungen nach Renan selbstverständlich, aber für Paulus nimmt er eine besondere Affinität zu solchen Erlebnissen an, „ein in den Augen jedes andern unbedeutender Umstand genügte, um ihn außer sich [i.e. in Ekstase; d.Vf.] zu bringen". Als besondere innere Disposition des Paulus nimmt Renan „Gewissensbisse" gegenüber den verfolgten Jüngern an. (Renan, Apostel, 168ff., Zit. 172f.; mit Hinweis auf 2.Kor. 12,Iff.) 195 Hausrath, Paulus, 57.

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Eigenschaften des Apostels legten, waren andere kritischer und trugen die Farben z.T. recht kräftig auf. Umstritten war, wie diese Eigenschaften mit der Liebe des Apostels in Einklang zu bringen seien. Manche Forscher stellten überhaupt in Frage, daß ein einheitliches Charakterbild aus den Briefen zu gewinnen sei. Trotz aller positiven Würdigungen des Charakters des Apostels muß man sagen, daß Paulus als Person in der neutestamentlichen Wissenschaft suspekt geworden war. Wesentliche neue Aspekte zur paulinischen Psyche wurden, wie gesagt, nicht beigebracht (wenn man von den vielfältigen Vorschlägen zur Erklärung seiner Krankheit absieht). Deshalb sollen im folgenden nur jene Beschreibungen zur paulinischen Persönlichkeit genauer dargestellt werden, durch die Nietzsche die Diskussion über das paulinische Charakterbild kennenlernte. Für ERNEST RENAN, den Historiker des frühen Christentums, sind der Charakter und das persönliche Erscheinungsbild großer Menschen gleichsam der Motor der Weltgeschichte und weit wichtiger als deren Gedanken oder Theologien.196 Das gilt auch für Paulus — auch er wirkte nach Renan nicht in erster Linie durch seine Theologie, sondern durch sein Auftreten und durch seine Persönlichkeit. Im krassen Gegensatz zum Paulusbild der Baur-Schule ist für Renan Paulus kein besonders scharfer Denker. Er war kein Gelehrter, man kann selbst sagen, daß er der Wissenschaft durch seine paradoxe Verachtung der Vernunft, durch sein Lob der sichtbaren Narrheit, durch seine Verherrlichung des übernatürlichen Widersinns sehr geschadet hat.197 Der Charakter des Apostels Paulus mußte deshalb in besonderer Weise das Interesse Renans finden. Renan hatte wenig Mühe, die vielen Puzzlesteine der Angaben in den Briefen zu einem Gesamtbild des paulinischen Charakters zusammenzustellen. Ein Grund dafür war, daß er mehr Briefe als wahrscheinlich authentische anerkannte und selbst die unechten Pastoralbriefe für Angaben zur paulinischen Person heranziehen zu können glaubte. Außerdem verstand er sich in seiner historischen Schriftstellerei nicht eigentlich als Forscher, sondern als Erzähler198, dessen Aufgabe es sei, vom „künstlerischefn] Standpunkt" der Zusammenschau aus nicht zuerst nach der historischen Einzelheit, sondern nach der „Wahrheit der Farbe"199 zu suchen.

196 197 198 199

Vgl. Renan, Leben Jesu, 40. Renan, Paulus, 473. Vgl. Renan, Antichrist, VIII.; vgl. Renan, Leben Jesu, 40ff. Renan, Leben Jesu, 41.

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Sein Rückgriff auf apokryphe Texte ermöglichten Renan sogar eine Beschreibung der Gestalt des Apostels: Das Äußere des Paulus war nicht bedeutend und scheint seiner Seelengröße nicht entsprochen zu haben. Er war häßlich, untersetzt, plumper Gestalt und ging gebückt daher. Seine starken Schultern trugen seltsamerweise einen kleinen, kahlen K o p f . Sein blasses Gesicht war von einem struppigen Bart förmlich in Besitz genommen, eine Adlernase, durchdringender Blick und schwarze, auf der Stime zusammenlaufende Augenbrauen. Auch seine Sprache hatte nichts Imponierendes. 200 [E]r stellt sich als einen kranken, erschöpften Menschen hin, der dabei noch schüchtern, unansehnlich, unbeachtet ist, der nichts von dem hat, was einen Eindruck hervorzubringen vermag, so daß es verdienstlich sei, sich mit einem so elenden Äußern nicht zu beschäftigen. 201

Das Wesen des Apostels wird von Renan nicht nur dargestellt, sondern auch gewertet. Renan stellt in seinem Werk die Beurteilung der Charaktere unter feste Maßstäbe. Er mißt die wahre Größe jedes Menschen daran, inwieweit er „in reiner Liebe für das Gute, Wahre oder Schöne gelebt hat".202 Sein Charakterbild des Apostels Paulus entwirft er deshalb stets im Gegenüber zum Wesen Jesu. In Jesus (genauer: im jüngeren Jesus während seiner Zeit in Galiläa) sieht Renan sein Wesensideal „in seinem himmlischen Glorienschein als Ideal der Güte und der Schönheit"203 am reinsten verkörpert. Von diesem Ideal aus betrachtet bleibt für ihn an Paulus wenig Gutes. Schon während der Darstellung der paulinischen Missionsgeschichte bemerkt man Renans Sympathie für dessen Gegner - am Schluß faßt er seine Pauluskritik in eine für die damalige neutestamentliche Forschung ungewöhnlich harte Wertung seines Charakters zusammen: Was war Paulus? Er war kein Heiliger, der herrschende Zug seines Charakters war nicht die Güte, er war stolz, barsch, abstoßend, vertheidigte sich, steifte sich auf das, was er gesagt, hatte harte Worte, glaubte durchaus recht zu haben, hielt an seiner Meinung fest, gerieth mit Verschiedenen in Streit. 204

Renan sieht die Notwendigkeit dieses Charakters darin, daß sich Paulus so in der damaligen Welt durchsetzen konnte. Paulus war für ihn ein Renan, Apostel, 164 (betreffs der Sprache mit Hinweis auf l.Kor. 2,Iff.; 2.Kor. 10,1.10; 11,6). Renan, Apostel, 165 (mit Hinweis auf l.Kor. 2,3; 2.Kor. l,8f.; 10,10; 11,30; 12,5.9f.; Gal. 4,13.14). 202 Renan, Paulus, 474. 203 Renan, Paulus, 473. 204 Renan, Paulus, 473. 200

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„hervorragender Mann der That, ein starker, mit sich fortreißender, enthusiastischer Geist, ein Eroberer, ein Missionar, ein Verkünder, nach allen Seiten um so eifriger, als er früher seinen Fanatismus im entgegengesetzten Sinne entfaltet hatte".205 Dennoch fühlte sich Renan diesem leidenschaftlichen, „niemals liebenswürdig[en]" Missionar, der seine Meinung „nach dem politischen Nutzen"206 bestimmte, im Innersten fremd. Im ganzen ist die historische Persönlichkeit, die größte Ähnlichkeit mit Paulus hat, Luther; von beiden Seiten dieselbe Heftigkeit der Sprache, dieselbe Energie, dieselbe edle Unabhängigkeit, dasselbe enge Ketten an einen Satz, den man als unumstößliche Wahrheit erkannt hat. 207

Nicht nur sein heftiger Charakter macht Paulus für Renan suspekt, sondern auch seine Unfähigkeit, über sich selbst „zu lächeln", die Unfähigkeit, sich zeitweise über sich selbst zu erheben und sein eigenes Bemühen auch aus einer anderen Perspektive betrachten zu können.208 Wie schon bei Strauß deutlich wurde, ist das Bild des paulinischen Charakters in jener Zeit auch vom gängigen Bild eines „Orientalen" geprägt. Auch bei Renan genügt oft der Hinweis auf die orientalische Herkunft des Apostels, um bestimmte Wesenszüge und Verhaltensweisen zu belegen oder zu erklären: Fanatismus, eine gewisse geistige Enge und das Leben in einer für uns abergläubischen Gedankenwelt werden oft auf diesen Ursprung zurückgeführt.209 Renan hatte die Briefe an die Kolosser und Epheser in eine vierte Briefklasse eingeordnet und damit letztlich trotz aller Bedenken als echt anerkennen wollen. Um auch ihnen im Ganzen der paulinischen Theologie einen Platz zuweisen zu können, nimmt er in der paulinischen Theologie eine Entwicklung an, die ihre Ursache wiederum in einer Veränderung des Charakters des Apostels gehabt hätte: Zudem begann das Alter ihm nahezutreten und ließ den Ausbrüchen seiner glühenden Leidenschaft eine düstere Reife folgen, in welcher die Überlegung ihr Recht verlangte und ihn nöthigte, seine Gedanken auszuarbeiten und in ein System zu bringen. Er, der früher praktisch gewesen, wurde mystisch, theologisch, spekulativ. 210

Renan, Paulus, 471. Paulus war nach Renan gerade durch seine Tätigkeit als Missionar, die er so leidenschaftlich zu seiner Lebensaufgabe gemacht hatte, suspekt: „Der Apostel ist von Natur ein etwas beschränkter Geist, er will zur Geltung gelangen, dafür bringt er Opfer; Die Berührung mit der Wirklichkeit beschmutzt immer." (Renan, Paulus, 474.) 206 Renan, Paulus, 474. 207 Renan, Paulus, 474. 208 Vgl. Renan, Antichrist, 81; Zit. ebd. 209 Vgl. z.B. Renan, Apostel 174; Antichrist, 81. 210 Renan, Antichrist, 59f. (mit Hinweis zum Alter auf Phlm. 9). 205

2. Die Entdeckung des „Menschen" Paulus

69

Auch fïir Nietzsches Freund FRANZ OVERBECK ist Paulus durch ein „fanat. Temperament" geprägt, „mit welchem denn auch der Kirche den Geist des Fanatismus inspirirt hat"211 . Dennoch sieht er die Persönlichkeit des Apostels wesentlich differenzierter als Renan. Paulus, der seinen Gemeinden „mit dem Schein der Unerbittlichkeit drohte" war „zugleich der Apostel, der selbst dem scheinbar verlorensten Sünder noch nicht jede Aussicht auf schliessl. Vergebung verschloss".212 Overbecks Charakteristik des Paulus hat hierin durchaus einen eigenen Zug. Für ihn ist Paulus weder nur boshaft heftig, noch ist seine Strenge allein Gegenseite seiner Liebe, sondern gerade im Wechsel zwischen den Extremen von Strenge und Milde zeigt sich die Menschlichkeit des Paulus.213 Anders als Renan hütet sich Overbeck davor, Paulus als Menschen und Charakter zu verurteilen, seine wenigen Notizen zur Persönlichkeit des Apostels sind auch von hoher Achtung geprägt. Vor allem aber entdeckt Overbeck gerade im Beieinander von Stärken und Schwächen den Menschen Paulus: Das Trotzen des Paul, auf seine Selbständigkt gegenüber den Aposteln, das fast Rechthaberische datin macht uns freilich den starken Menschen lieb, den Menschen so beschränkt wie er ist. Es ist aber eine Verirrg ihn eben mit seinen Schranken auf eine göttli. Höhe zu erheben, u. auch eben durch seine Schroffheit den Urchristen gegenüber sich darin nicht stören zu lassen. Paul, hat die Lösung des Conflicts durch seine Art keineswegs erleichtert. Menschlich angesehen ist der Stab über ihn nicht zu brechen. Unbegreifl. wird er sobald er ein gottbegeistert handelndes v. übermenschlichen Motiven geleitetes Subject sein soll.214 HERMANN LÜDEMANN hat in seinem Paulusbuch, das doch das Menschenbild des Apostels zum Thema hat, auf die Persönlichkeit des Paulus selbst so gut wie keinen Bezug genommen. Der „Mensch" Paulus taucht als Thema gar nicht auf — in allen Überlegungen zur σάρξ, zur Sünde und zur Gerechtigkeit wird von der Person des Paulus abstrahiert. Dennoch konnte Nietzsche gegen die Intention des Autors viele Informationen zu Paulus aus diesem Werk erschließen, indem er die allgemeinen theologischen Aussagen zur σάρξ auf Paulus selbst bezog. Auf diese Weise hat auch die Lektüre

Overbeck, Art.: Paulus (Charakteristik) Fanatismus, WuN V, 218 (mit Hinweis auf l.Kor. 9,11). 212 Overbeck, Art.: Paulus (Charakteristik) Apostolische Wirksamkeit 1, WuN V, 218 (mit Hinweis auf l.Kor. 4,21: 2.Kor. 13,2.10 und l.Kor. 5,5; 11,10). 213 Vgl. Overbeck, Art.: Paulus (Charakteristik) Apostolische Wirksamkeit 1, WuN V, 218. 2 , 4 Overbeck, Art.: Paulus und die Urapostel 4, WuN V, 234. 2,1

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Ι· Paulusforschung und Paulusbild im 19. Jahrhundert

Lüdemanns auf Nietzsches Bild des paulinischen Charakters großen Einfluß gehabt. 2 1 5

215 Diesem wichtigen Thema soll im Kapitel zu Nietzsches Lüdemann-Lektüre weiter nachgegangen werden.

3. Das Thema „Paulus und Jesus" in der Theologie des 19. Jahrhunderts 3.1. Einleitung Das Thema „Paulus und Jesus"216 stellte sich der neutestamentlichen Wissenschaft schon früh und hat sie — wenn auch sehr unterschiedlich als Problem empfunden - bis heute begleitet. Sobald die Einheit der Schrift in eine Vielzahl verschiedener Stimmen aufbrach, mußte sich die Frage stellen, in welchem Verhältnis diese Stimmen zueinander und zu ihrem Ursprung standen, mußte nach dem Verbindenden und nach dem Verbindlichen gesucht werden. Das 19. Jahrhundert war, wie in den vorangegangen Kapiteln dargestellt, das Jahrhundert, in dem die paulinische Theologie als eigene Stimme entdeckt und in ihrer Besonderheit erforscht wurde und in dem auch der „Mensch" Paulus aus der Schrift plastisch hervorzutreten begann. Man möchte nun annehmen, daß sich damit sofort die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Theologie des Paulus und der Verkündigung Jesu aufdrängte, zumal das Problem ja schon aus der Aufklärung (insbesondere durch die Pauluskritik Reimarus') bekannt war.217 Doch eine große Auseinandersetzung um das Thema „Paulus und Jesus" ließ fast ein Jahrhundert auf sich warten. War dieses Verhältnis nicht als Problem empfunden worden? Oder wagte man sich nicht an es heran? Der folgende Einblick in die theologische Diskussion jener Zeit mag hier ein wenig Aufschluß geben. Er wird auch deutlich machen, wie Nietzsche mit seiner Polarisierung zwischen Jesus und Paulus im „Antichrist" in dieser Debatte Position bezieht.

216 Zur Geschichte des Themas „Paulus und Jesus" insgesamt vgl. bes. Regner, Paulus und Jesus im 19. Jahrhundert. Zur heutigen exegetischen und systematisch-theologischen Auseinandersetzung mit diesem Thema vgl. Jüngel, Paulus und Jesus; Bornkamm, Paulus, 324ff. (Schlußkapitel: „Paulus und Jesus"). 217 Regner fast diese Zeit als die „Zeit der Vernachlässigung" dieses Themas zusammen. (Kapitelüberschrift, vgl. Regner, Paulus und Jesus, 43, vgl. 102.)

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I. Paulusforschung und Paulusbild im 19. Jahrhundert

3.2. Paulus, der Apostel Jesu Christi. ,.Paulus undJesus" bei Ferdinand Christian Baur Wenn auch das Thema „Paulus und Jesus" kein Hauptfeld der theologischen Auseinandersetzung war, so kann doch von einem „Schweigen"218 dazu nicht die Rede sein. Eine Ursache, warum es nicht von Anfang an schärfer zum Streitpunkt wurde, war die Vorgabe, die BAUR 2 1 9 der weiteren Paulusforschung machte. Baur selbst scheute sich keineswegs vor diesem Thema, sondern machte es zum Titel seines Paulusbuches: „Paulus, der Apostel Jesu Christi". Mit diesem Titel ist die Stellung Baurs in Kürze zusammengefaßt. Baur hatte, wie zuvor dargestellt, schon am Anfang seines wissenschaftlichen Forschens einen Gegensatz im frühen Christentum entdeckt und für sich und für die Paulus fors chung zum Thema gemacht — aber eben nicht einen Gegensatz \wischen Jesus und Paulus, sondern ^mischen Paulus und den Uraposteln. Der Standpunkt der Urapostel und direkten Jünger Jesu war letztlich der jüdische, denn ihr Christus-Verständnis schöpften sie aus den Messiasverheißungen des Alten Testaments, „ungeachtet seine ganze Erscheinung und besonders sein letztes Schicksal in so großem Widerspruch mit allem demjenigen stund, was man nach gewöhnlichen Vorstellungen vom Messias erwartete".220 Jesus selbst hätte sich als „Sohn Gottes" verstanden und dies in seinem Auftreten gezeigt. Doch seine Jünger konnten das nicht wahrnehmen, und erst Paulus machte dies zum Mittelpunkt seiner Christusbotschaft. In diesem Bewußtsein der „Gotteskindschaft" hat Paulus das Christentum zu sich selbst gebracht.221 Und genau hierin war er nach Baur ein — oder, wie Baur konsequenter formuliert — „der Apostel Jesu Christi".222

3.3. Die Debatte um den wahren „Stifier des Christentums"in der Theologie nach Baur Die folgende Diskussion zu diesem Thema war weitgehend von der Fragestellung Baurs abhängig: Sie diskutierte den Bruch stets ^wischen den Uraposteln und Paulus. Und soweit sie hier an Baurs These eines Bruches festhielt, war es (soweit es thematisiert wurde) meist Paulus, der das eigentliche Christentum ver-

Gegen Regner, Paulus und Jesus, 101 f. Zum Thema „Paulus und Jesus" bei Baur vgl. Regner, Paulus und Jesus, 53ff., Jüngel, Paulus und Jesus, 6ff. 220 Baur, Paulus 2 1866,3.Teil, 134. 221 Vgl. Baur, Paulus 2 1866,3.Teil, 133f. 222 Hervorhebung vom Vf. 218 219

3. Das Thema „Paulus und Jesus" in der Theologie des 19. Jahrhunderts

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körperte und damit die Intention Christi in seiner Theologie am adäquatesten aufnahm. Diese Stellung des Paulus stand nun in gewissem Widerspruch zu einem Fakt, der der freieren Theologie von Anfang an aufgefallen war: daß nämlich Paulus fast nichts aus der Verkündigung Jesu in seinen Briefen erwähnt.223 In der Regel deutete man dies so, daß sein Wissen um Jesus nicht allzu groß gewesen war — zumindest konnte es nur durch die Urgemeinde und die Urapostel vermittelt und mußte damit dem ihren unterlegen sein. Paulus war auf andere Weise zum Apostel berufen worden: durch sein Offenbarungserlebnis von Damaskus — und diese besondere Berufung sollte sein fehlendes Wissen um Leben und Verkündigung Jesu bei weitem aufheben. „Daher nicht aus dem, was ,Gott in Jesus, sondern was Gott an Jesus offenbarte', ist das evangelium des Paulus geworden."224 Die Wichtigkeit, die auf diese Weise dem Damaskuserlebnis zukam, problematisierte aber die Bedeutung Jesu. Wenn die Verkündigung des Evangeliums kein Kontinuum mehr war und die Botschaft nicht mehr von Jesus über die Jünger an Paulus weitergegeben wurde, sondern Paulus' Theologie mit seinem Damaskuserlebnis gewissermaßen neu einsetzte, dann stellte sich die Frage, wer nun der eigentliche „Stifter des Christentums" gewesen sei.225 Das Thema „Paulus und Jesus" wurde nicht zuerst in der Frage nach der Übereinstimmung ihrer Verkündigung gestellt, sondern unter der Frage nach ihrer Bedeutung.226 Diese Frage konnte abgeschwächt auch so formuliert werden, wer der „Stifter des Christentums nach seiner welthistorischen Bedeutung"227 gewesen sei. Baur hatte diese Frage für sich schon eindeutig beantwortet: Es war Paulus, durch den das Christentum „seiner universellen

Vgl. z.B. Holsten, christusvision, 102; Renan, Paulus, 470. 22" Holsten, Galatei, 245. 225 Nach Renan war es zu seiner Zeit schon zur Mode geworden, Paulus für den „wahre [n] Gründer des Christenthums" zu halten (vgl. Renan, Apostel, 5). Zur Diskussion dieser Frage zwischen Hilgenfeld und Holsten vgl. Holsten, christusvision, 244f. Der erste, der die Meinung vertrat, Paulus sei in besonderer Weise für den „Urheber und Stifter des Christenthums" zu halten, war Reimarus. Der Unterschied zu den Aposteln war aber fur ihn nur graduell. (Reimarus, Apologie I, 546, zit. nach Regner, Paulus und Jesus, 103, vgl. 103f.) 226 Die gute Arbeit Regners zum Thema scheint mir ein wenig zu stark vom Standpunkt der Religionsgeschichtlichen Schule von der Unvermittelbarkeit beider Lehren aus in die Paulusforschung des 19. Jahrhunderts zurückzuschauen. Die Frage nach „Paulus und Jesus" ist in dieser Zeit aber zunächst unter anderen Gesichtspunkten behandelt worden, die Regner unter seinem Blickwinkel z.T. nicht bemerkt. Das Urteil vom „Schweigen" zum Thema „Paulus und Jesus" in dieser Zeit, zu dem Regner auf diese Weise kommt, ist deshalb ebenfalls nicht richtig. (Vgl. Regner, Paulus und Jesus, 99 ff.) 227 Holsten, christusvision, 244. 223

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I. Paulusforschung und Paulusbild im 19. Jahrhundert

historischen Bedeutung nach" das wurde, was es geworden ist.228 Er war auch in diesem Sinne „der Apostel Jesu Christi", der in der Welt durchsetzte, was in Jesu Verkündigung angelegt war. Man muß sich zu dieser Debatte in Erinnerung rufen, daß es nach dem damaligen Diskussions- und Kenntnisstand zwischen der Lehre der Urgemeinde und der des Paulus keine vermittelnde Instanz gab. Erst 1913 stellten Wilhelm Heitmüller und Wilhelm Bousset unabhängig voneinander die Bedeutung des hellenistischen Urchristentums für die Ausbildung der frühchristlichen Christologie heraus.229 Bis dahin wurde die gesamte Christologie und Theologie, soweit sie nicht auf das Judenchristentum zurückzufuhren war, der originalen Schöpfung des Paulus zugeschrieben. In der Paulusforschung nach Baur wurde die Frage nach dem eigentlichen „Stifter des Christentums" zwar unterschiedlich mit Paulus oder Jesus beantwortet, der Sache nach aber bestand zumindest in der Baur-Schule ein Konsens, der letztlich mit Baurs eigenem Ansatz zusammenfiel: Die eigentliche christliche Idee hat in Jesus ihren Ursprung, ihre reale Ausbreitung und Bedeutung in der Welt aber hat sie durch Paulus erhalten.230 Ritsehl und seine Schule dagegen wollten diese Bedeutung des Paulus abgeschwächt sehen. Sie holten ihn nicht nur theologisch in die Phalanx der Urapostel zurück, sondern relativierten auch seine historische Bedeutung durch die Erkenntnis, daß Paulus auf das frühkatholische Christentum einen weit geringeren Einfluß hatte, als in der Regel angenommen (und durch die Darstellung der Apostelgeschichte, durch die Vielzahl der paulinischen Briefe im Neuen Testament sowie durch das deuteropaulinische Schrifttum nahegelegt) wird.231 Indem der Unterschied des Paulus zu den anderen Aposteln zurückgestellt wird, wird aber auf andere Weise auch dem Apostel Paulus seine „Orthodoxie" im Sinne Jesu zuerkannt.

Baux, Paulus 2 1866, 3.Teil, 6. Vgl. Kümmel, Neues Testament, 243, und 428 Anm. 230 Allerdings war man nach Baur eher bereit, auch für Paulus eine Vereinseitigung des Evangeliums Jesu zu konstatieren. (Vgl. z.B. Holsten, Galater, 245.) 231 Vgl. Kümmel, Neues Testament, 201. 228

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3. Das Thema „Paulus und Jesus" in der Theologie des 19. Jahrhunderts

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3.4. Paulus als Vater dergrausamen Theologie. yPaulus undJesus" bei Ernest Renan Der Franzose ERNEST RENAN ist in der Frage dieser Wertung einen eigenen Weg gegangen, der in der heutigen Forschung zum Thema übersehen worden ist.232 Seine Stellung zu Paulus ist durchweg kritisch, so daß Renan als einer der ersten Antipauliner des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Es ist für das Paulusbild Nietzsches entscheidend, daß Renan sein Thema war - diese These wird sich in den Kapiteln zu Nietzsches eigener Paulusinterpretation zu bestätigen haben. Der „Antipaulinismus" Renans darf dabei nicht von dem Lagardes aus gedacht werden — Renan ist wesentlich differenzierter als dieser und versucht, Paulus in seiner Aufgabe als „Eroberer" und „Missionar"233 auch gerecht zu werden. Dennoch bleibt das Paulusbild Renans im ganzen ein negatives. Es wurde schon dargestellt, welch schwierigen Charakter Renan diesem Apostel zugeschrieben hat und angedeutet, daß er schon diesen Charakter als Gegensatz zu seinem im romantischen Geist gezeichneten Jesusbild verstanden hat. Von diesem romantischen Ideal her kritisiert Renan den Apostel Paulus — er verkörpert in seiner ganzen Person, in seinem Tun und Denken das Gegenteil des Wesens Jesu. Empört weist Renan deshalb die „heutigentags zur Mode gewordene Ansicht" ab, in Paulus den eigentlichen Gründer des Christentums zu sehen.234 Nicht nur gegen Jesus, sondern schon gegen seine Jünger will Renan Paulus abgewertet sehen, „er ist ein Arbeiter zweiten Grades und fast ein Eindringling"235: Paulus hat gut reden, er steht doch den andern Aposteln nach, er hat Jesus nicht gesehen, sein Wort nicht gehört, die göttlichen Logia, die Parabeln kennt er kaum. Der Christus, der ihm persönliche Offenbarungen macht, ist sein eigenes Trugbild: er glaubt Christus zu vernehmen und hört sich selbst.236

Renan beurteilt die theologische und auch geschichtliche Wirkung des Paulus für das zweite Jahrhundert als viel geringer, als es üblicherweise angenommen wurde. Seine Wirkung beginnt nach Renan erst, als ab dem dritten Jahrhundert „die mündliche Uberlieferung ihren Wert verloren hatte und die Schrift über alles galt" und im Zuge der Theologisierung des Christentums

In Regners Werk z.B. wird Renan gar nicht aufgeführt. Renan, Paulus, 473. 234 Renan, Apostel, 5; Paulus 470,474. 235 Renan, Apostel, 4. 236 Renan, Paulus, 470, vgl. Apostel, 4f. 232

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I. Paulusforschung und Paulusbild im 19. Jahrhundert

auch die Theologie des Paulus wiederentdeckt und aufgewertet wurde.237 Renan sieht in Paulus — nicht nur im Gegensatz zu Jesus, sondern auch zu Jesu Jüngern und Jüngerinnen — den Vater der christlichen metaphysischtheologischen Dogmatik.238 Aus diesem Grunde sieht Renan in Paulus mehr als eine unangenehme Gestalt der Geschichte — Paulus steht als Vater der christlichen Dogmatik für eine ganze Epoche des christlichen Abendlandes — eine Epoche, die das jesuanische Christentum verdorben hat. Die Schriften des Paulus sind eine Gefahr und Klippe gewesen, die Veranlassung der hauptsächlichsten Mängel der christlichen Theologie; Paulus ist der Vater des spitzfindigen Augustinus, des trockenen Thomas von Aquino, des düstern Calvinisten, des mürrischen Jansenisten, der grausamen Theologie, die verdammt und zur Verdammung vorherbestimmt.239

Diese Epoche sieht Renan nun ihrem Ende entgegengehen. Ein romantischer Traum scheint ihm in Erfüllung zu gehen: Er sieht Jesus, den „Vater aller derer, die in idealistischen Träumen die Ruhe ihrer Seele suchen", in seiner Zeit die Herrschaft antreten. Die Kritik an der Dogmatik, das Desinteresse an der Theologie der Paulusbriefe und die Zuwendung zur Jesusüberlieferung, die er in seiner Zeit zu spüren meinte, scheint ihm diese neue Epoche einzuläuten.240 Die neue Epoche ist die der Dichter und Künstler, in der die Hoffnung der Romantik nach einer Zeit des Friedens, der Kunst und der Träume wahr wird.241

Vgl. Renan, Paulus, 470f.; Apostel, 5f. Die eigentliche Leistung des Paulus sieht Renan dann, daß er das Christentum vom Judentum befreite und als selbständige Religion etablierte. (Vgl. Renan, Apostel, 474.) 238 „Er wird im wahren Sinne des Worts der Lehrer der christlichen Theologie, er der echte Vorsitzende jener griechischen Concile, die Jesus zum Schlußstein eines metaphysischen Gebäudes machen." (Renan, Paulus, 471; dazu, daß Paulus im Gegensatz zu den Jüngern und Jüngerinnen Jesu eine Theologe hatte, vgl. Renan, Apostel, 6.) 239 Renan, Paulus, 475. 240 „Paulus sieht, nachdem er seit dreihundert Jahren der christliche Lehrer im wahren Sinne des Wortes gewesen, in unsern Tagen seine Herrschaft enden, Jesus ist lebendiger als jemals; der Römerbrief nicht mehr der Inbegriff des Christenthums, sondern die Bergpredigt; das wahre Christenthum kommt aus den Evangelien, nicht aus den pauünischen Briefen." (Renan, Paulus, 475.) 241 Vgl. Renan, Paulus, 475; vgl. Leben Jesu 380f. 237

3. Das Thema „Paulus und Jesus" in der Theologie des 19. Jahrhunderts

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3.5. Paulus, der „Unberufene". Das Paulusbild Paul de hagardes Wenige Jahre später meldete sich in Deutschland eine andere Stimme zu Wort, die seitdem als Prototyp des Antipaulinisten gilt: PAUL DE LAGARDE. In seiner Schrift „Über das Verhältnis des Staates zu Theologie, Kirche und Religion" von 1873 242 machte Lagarde Paulus für die Misere der Theologie seiner Zeit verantwortlich. Nietzsche hat diese Schrift noch im selben Jahr mit viel Interesse gelesen. Wahrscheinlich wurde er durch Overbeck auf sie aufmerksam.243 Nietzsche hat die Schrift Lagardes, ohne sich mit allem identifizieren zu können, selbst als sehr anregend weiterempfohlen. Schon am 31. Januar 1873 macht er seinen Freund Erwin Rohde auf sie aufmerksam: „Eine kleine höchst auffallende Schrift, die 50 Dinge falsch, aber 50 Dinge wahr und richtig sagt, also eine sehr gute Schrift — versäume nicht zu lesen: der Titel würde unsereinen nicht anziehn, darum rathe ich sie Dir eigens an."244 Mit seiner späteren Lösung vom Wagnerkreis und von den verwandten deutsch-nationalen und antisemitischen Gruppen hat sich Nietzsche auch von Lagarde distanziert.245 Dennoch hat er auch Lagardes weitere Veröffentlichungen verfolgt und gelesen246 und auch die „Deutschen Schriften" immer wieder einmal zur Hand genommen, wie spätere Zitate und Bezugnahmen beweisen.247 Bevor auf diese Schrift näher eingegangen wird, soll ein kurzer Blick auf JOHANN GOTTLIEB FICHTE248, der Lagarde in seiner antipaulinischen Hal-

Seit 1878 Teil der „Deutschen Schriften". Overbeck verstand seine eigene, ebenfalls 1873 geschriebene Streitschrift „Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie" auch als Antwort auf Lagarde. In einem Brief vom 2. März 1873 an Erwin Rohde kündigt Nietzsche diese Schrift Overbecks als ein „öffentliches Sendschreiben an Paul des Lagarde" an. 244 Im Anschluß nennt Nietzsche Verfasser, Titel und Erscheinungsjahr und -ort der Schrift. Auch Cosima Wagner versprach er diese Schrift Lagardes zuzuschicken und machte damit auch den Wagnerkreis auf sie aufmerksam. (Vgl. den Brief an R. Wagner vom 18. April 1873.) 245 Vgl. z.B. seine Bemerkung zum Antisemiten Lagarde in seinem Brief an seinen Verleger Fritsch vom 29. März 1887; vgl. auch Brief an Theodor Fritzsch vom 23. März 1887. (Vgl. folgende Anm.) 244 Vgl. Nietzsches Bemerkung an seinen Verleger Fritzsch in einem Brief an ihn vom 23. März 1887, er habe im vorigen Frühjahr die Bücher jenes „ebenso gespreizten als sentimentalen Querkopfs" gelesen, und tüchtig dabei „gelacht". 247 Vgl. MA I 408 (Vgl. Komm.); vgl. ein unkommentiertes Zitat aus dem Sommer 1884 (26[4] = KSA 11, 151; vgl. Komm.); vgl. eine Bezugnahme auf die Schrift „Über das Verhältnis des Staates..." im Nachlaß Ende 1876 / Sommer 1877 (23[13] = KSA 8,408). 248 Für Fichtes Antipaulinismus beziehe ich mich vor allem auf Schütte, Lagarde und Fichte, 67ff. und Regner, Paulus und Jesus, 105ff. 242

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I. Paulusforschung und Paulusbild im 19. Jahrhundert

tung entscheidend beeinflußt hat, geworfen werden.249 Overbeck hatte schon sehr früh diese Position Fichtes wahrgenommen250, und es ist sehr wahrscheinlich, daß in den Gesprächen zwischen Overbeck und Nietzsche über dieses Thema251 Nietzsche vom Paulusbild Fichtes erfuhr. In zwei 1806 erschienen Vorlesungen252 hatte er Paulus die Verfälschung des wahren Christentums Jesu angelastet. Jesus (den sich Fichte vor allem intuitiv aus dem Johannesevangelium erschließt) war für ihn die Verkörperung der Einheit von Gott und Mensch — eine Einheit, die die menschliche Geschichte als Ziel noch vor sich hat. Paulus dagegen hätte von seiner jüdischen Herkunft her dieses Christentum mit jüdischen Vorstellungen entstellt: Mit den Theologumena eines zürnenden Gottes, von der Sünde als von Gott trennender Macht und von einem Sühnetod Jesu hätte er das Christentum in unsinniger Weise theologisiert und judaisiert. Diese Entscheidung des Paulus bestimmt nach Fichte bis heute Religion und Theologie, denn auch die katholische Kirche habe sich vom paulinischen Boden nie befreien können. Das echte Christentum als Menschheitsreligion zu finden, ist nach Fichte besonders dem deutschen Volk als Aufgabe zugelegt — in dieser Arbeit hat das deutsche Volk seine eigentliche Mission zu erfüllen. Fichte hat diesen deutsch-nationalen Antipaulinismus später nicht mehr vertreten, aber er fand in LAGARDE 2 5 3 einen Nachfolger, der seine Gedanken, freilich ohne Fichte zu nennen, in seiner eigenen Kampfschrift aufgriff und weiterführte. Ähnlich wie Fichte prangert Lagarde den unhaltbaren Zustand der Religion und Theologie in Deutschland an. Das Ziel Lagardes ist die Vorbereitung einer nationalen Religion.254 Nationen entstehen nach Lagarde durch große historische Ereignisse — und haben gerade darin ihren

Diesen Einfluß hat Walter Schütte erkannt und herausgestellt. (Vgl. Schütte, Lagarde und Fichte, 125ff.) 250 Vgl. Overbeck, KL, Art.: Paulus (Allgemeines) 1. WuN V, 211 (aus der Zeit bis 1870). 251 Zum Gespräch zwischen Overbeck und Nietzsche über dies Thema vgl. Overbeck, KL, Art.: Paulus u.Jesus (Allgemeines) 1. WuN V, 219. (s.u.) 252 „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" (von 1804/05) und „Die Anweisung zum seligen Leben" (von 1806). 253 Zum Religionsverständnis und zur Christentumskritik Lagardes vgl. Schütte, Lagarde und Fichte, 15ff.; Nesde, de Lagarde, 216ff.; Karpp, Lagardes Kritik an Kirche und Theologie, 367ff. (hier auch gute Darstellung des religiösen und schriftstellerischen Werdeganges von Lagarde); Mildenberger, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie, 166ff.; vgl. auch Schmid, Paul de Lagardes Kritik an Kirche, Theologie und Christentum (zwar wissenschaftlich, aber im Dienste einer ,,völkische[n] Neubesinnung" geschrieben; vgl. ebd. 1). Zum Paulusbild Lagardes vgl. Schütte, Lagarde und Fichte, 26ff.; Regner, Paulus und Jesus, 103ff.; Fischer, Paulus- und Lutherbild Lagardes, 78ff; Schmid, Kritik, 85ff. 254 Vgl. Lagarde, Verhältnis, 73ff. 249

3. Das Thema „Paulus und Jesus" in der Theologie des 19. Jahrhunderts

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göttlichen Ursprung.255 Eine Nation zeichnet sich dadurch aus, daß sie sich von einer gemeinsamen Idee geleitet weiß, der sich alles in dieser Nation unterzuordnen hat - und die Gestaltung dieser Idee ist die nationale Religion, ohne die kein Volk auf Dauer existieren kann. Das deutsche Volk entbehrt nach Lagarde aber einer solchen Religion - ihr stehen die geschichtlichen Religionsgemeinschaften im Wege, die die Verwaltung der Religion in ihre Gewalt gebracht haben und damit jede weitere Entwicklung verhindern. Jesus ist mit seinem „Evangelium" für Lagarde Bürge einer wahren Religion. Er war ein Genius, der das Evangelium nicht nur verkündet hat, sondern in seiner Person verkörperte.256 Was Lagarde unter diesem Evangelium allerdings näher versteht, bleibt merkwürdig unklar.257 Aus dem wenigen, was er darüber sagt, wird deutlich, daß es gerade nicht in besonderer Weise das Evangelium Jesu ist. Jesus war als Genius nur fähig gewesen, die ewige Wahrheit zu empfinden. Jesus sagte und verkörperte nur, was auch ohne ihn ewige Gültigkeit hat und sich jedem Genius erschließt.258 Lagardes ganze Schrift ist von einem antijüdischen Tenor durchzogen.259 Auch das Evangelium Jesu bestimmt er letztlich aus dieser Frontstellung gegen das Judentum heraus. Jesus, der „Stifter des Evangeliums", war ihm der „Schöpfer eines noch nicht dagewesenen Lebensstoffes", weil er als Genius, das heißt, als unmittelbarer Empfinder der ewigen Wahrheit, fühlte, sagte und lebte, daß gerade der „Gegensatz des [...] Judenthums das sei, worauf es in Zeit und Ewigkeit ankomme."260 Diese Befreiung vom jüdischen Geist hat Paulus wieder rückgängig gemacht. Paulus, der „Unberufene", der „auch nach seinem Ubertritte Pharisäer vom Scheitel bis zur Sohle" blieb, hat alle jüdischen theologischen Begriffe wieder ins Christentum eingeführt: Paulus hat uns das alte Testament in die Kirche gebracht, an dessen Einflüsse das Evangelium, so weit dies möglich, zugrunde gegangen ist: Paulus hat uns mit der pharisäischen Exegese beglückt, die Alles aus Allem beweist, den Inhalt, der im Texte gefunden werden soll, fertig in der Tasche mitbringt, und dann sich rühmt, nur dem Worte zu folgen: Paulus hat uns die jüdische Opfertheorie und alles, was Vgl. Lagarde, Verhältnis 66. Vgl. Lagarde, Verhältnis, 74. 257 Vgl. Regner, Paulus und Jesus, 111. 258 Karpp weist darauf hin, daß Lagardes Stellung zu Jesus nicht einheitlich ist: Während er an einigen Stellen behauptet, Jesu Evangelium sei ständig zu ergänzen, erklärt er andernorts, ein Hinausgehen über Jesu Botschaft sei unmöglich. (Vgl. Karpp, Lagardes Kritik, 376.) 259 Dieser schlägt sich auch in einer scharfen Kritik am Alten Testament nieder. (Vgl. dazu bes. Karpp, Lagardes Kritik, 378f.) 260 Lagarde, Religion der Zukunft, 226. 255 256

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I. Paulusforschung und Paulusbild im 19. Jahrhundert daran hängt, in das Haus getragen: die ganze [...] jüdische Ansicht von der Geschichte ist uns von ihm aufgebunden. 2 6 1

Paulus hat mit dem Opfertodgedanken auch den Begriff der „Sünde" im Christentum eingeführt (wohl, weil er selber so an diesem Problem gelitten hatte) und zu seiner Aufhebung eine „Feier des Todes Christi und seiner Auferstehung" institutionalisiert.262 Die Verehrung eines Vergangenen statt des Ewigen und Gegenwärtigen und ewig neu Geschehenden ist nach Lagarde eines der jüdischen Grundübel im Christentum geworden. Der Einfluß des Paulus war nur möglich, weil auch die Jünger Jesus nicht wirklich verstanden hatten und nicht in angemessener Weise über ihn berichten konnten. Paulus allerdings gab sich gar keine Mühe, etwas über Jesus zu erfahren, ging im Gegenteil allen Jüngern Jesu aus dem Wege und berief sich für seine Verkündigung allein auf sein Damaskuserlebnis. 263 Man kann deshalb nach Lagarde gar nicht anders, als Paulus aus der Theologie zu verbannen. 264 Aus der Frage des Verhältnisses von ,Jesus und Paulus" wird ein Entweder-Oder, in dem man sich mit gutem wissenschaftlichen und religiösen Gewissen nur für Jesus entscheiden kann.265

Lagarde, Verhältnis, 57. 262 Vg] Lagarde, Verhältnis 61. 263 „Paulus hat Jesum nie gesehen, geschweige daß er mit ihm umgegangen wäre: seine Beziehungen zu Jesus sind durch seinen Haß gegen Jesu Jünger, und danach durch eine Vision, gewis die schlechtesten Quellen historischer Erkenntnis, die es gibt, vermittelt worden." (Lagarde, Verhältnis 56.) 264 Vgl. Lagarde, Verhältnis 57. 265 Diese Entscheidung gegen die Paulinisierung letztlich der ganzen christlich-abendländischen Theologie will Lagarde nun in die Hand des Staates gelegt wissen, nachdem die bisherigen Konfessionen durch ihre Untätigkeit bewiesen haben, daß sie zu einer Erneuerung nicht fähig sind. Die Kirchen sollen deshalb in den Stand von Sekten zurückgestuft und die staatlichen theologischen Fakultäten als deren Ausbildungsstätten abgeschafft werden. Dagegen soll der Staat eine wissenschaftliche Theologie fördern, die die allgemeinen Gesetze der Religion erforscht und als „Pfadfinderin der deutschen Religion" eine nationale Religion vorbereiten hilft und für das Auftreten eines neuen nationalen Genius vorbereitet. (Vgl. Lagarde, Verhältnis, 63ff., 67f.; Zit. 67.; zu Nietzsches Kritik dieses Theologieverständisses vgl. ein NachlaßFragment vom Ende 1876 / Sommer 1877 (23[13] = KSA 8,408.)) 261

3. Das Thema „Paulus und Jesus" in der Theologie des 19. Jahrhunderts

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3.6. Paulus undJesus" bei Frans^ Overbeck FRANZ OVERBECKS266 Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Jesus und Paulus ist für Nietzsche von besonderer Bedeutung, denn genau dieses Problem war zwischen beiden nach dem Zeugnis Overbecks schon in ihrer gemeinsamen Baseler Zeit Thema vieler Gespräche gewesen.267 Dabei scheint hier nicht einer einseitig vom anderen beeinflußt zu sein, sondern beide haben in der gemeinsamen Diskussion ihre Positionen gefunden (und natürlich in späterer Zeit jeweils weiter verändert). Overbeck hat in Paulus stets den Fremden gesehen, der einer anderen, uns fremden Zeit und Weltanschauung entstammte und dessen Theologie schon deshalb in der christlichen Verkündigung keine Rolle spielen dürfte.268 Schon früh hat er von diesem Problem aus die Frage nach dem Verhältnis des Paulus zu Jesus gestellt. Schon vor 1870 (also auch noch vor seiner Begegnung mit Nietzsche) formuliert er (wohl im Anschluß an seine FichteLektüre, doch in der Radikalität über diesen hinausgehend): Alle schönen Seiten des Xsthms [i.e. Christentums, Vf.] knüpfen sich an Jesus, alle unschönen an Paulus.269

In der gedanklichen Durchdringung dieses Verhältnisses fiel Overbeck früh die Fremdheit und das Unverständnis auf, die Paulus der Person und Verkündigung Jesu gegenüber empfunden haben mußte. In seinem Zettelkasten notiert er (ebenfalls vor 1870): Gerade dem Paulus war Jesus unbegreifl. Darum Jesus ihm schlechthin transcend. Wesen. Jesus mit der Harmonie, Paulus mit der Gebrochenht seines Bewusstseins. Für eine Persönlichkt wie Paulus musste eine Persönlichkt wie Jesus völlig unverständli. sein und nur seinen unbedingtesten Abscheu o. seine unbedingteste Verehrg genießen. Beides hat Paulus für Jesus empfunden.270

Gegenüber den Versuchen der Theologie, die Kontinuität zwischen Jesus und Paulus herauszustellen und Paulus als den legitimen Ausleger Jesu zu

266 Zum Thema „Paulus und Jesus" im Gespräch zwischen Overbeck und Nietzsche vgl. (die allerdings nicht sehr konkrete) Darstellung Bergers, Exegese und Philosophie, 79ff. 267 Vgl. Overbeck, KL, Art.: Paulus u.Jesus (Allgemeines) 1., WuN V 219. 268 Overbecks Artikel zu Paulus in seinem Zettelkasten beginnt mit dem Satz: „Heutzutage hat kein Mensch den Paulus wirkl. verstanden, der noch seiner Ansicht sein zu können meint." (Overbeck, KL, Art.: Paulus 1., WuN V, 211.) 269 Overbeck, KL, Art.: Paulus (Allgemeines) 1. WuN V, 211. 270 Overbeck, KL, Art.: Paulus. Allgemeines 3 und 6.

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I. Paulusforschung und Paulusbild im 19. Jahrhundert

erweisen, hat O v e r b e c k nur Spott übrig. Dagegen t r i f f t Nietzsches spätere Interpretation dieses Verhältnisses seinen Beifall. 271 O v e r b e c k geht es dabei v o r allem u m die Beobachtung Nietzsches, wie frei Paulus mit der Gestalt Jesu umzugehen gewagt hat. A u s seiner A u f n a h m e der Positionen Nietzsches w i r d auch deutlich, daß er dessen Urteile durchaus als dessen eigene S c h ö p f u n g e n angesehen hat, o b w o h l er auch Ideen der gemeinsamen früheren Gespräche darin wiederfand. Vortrefflich Nietzsche: »Man denke, mit welcher Freiht Paulus das Personalproblem Jesus behandelt, beinahe eskamotirt 2 7 2 —: Jemand, der gestorben ist, den man nach seinem Tode wieder gesehen hat, Jemand, der von den J u d e n zum Tode überantwortet wurde ... Ein blosses >Motiv