Die Wunder der Apostel 9783641310820

Nach den Wundern Jesu werden nun im zweiten Band des »Kompendiums der frühchristlichen Wundererzählungen« Auslegungen de

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Die Wunder der Apostel
 9783641310820

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Wundererzählungen in den Akten der Apostel – eine Hinführung
Apostelgeschichten und antiker Roman
Mehr als nur ein paar Spuren: Humor in Wundererzählungen
Wunder versus Magie und Zauberei
Niedergestreckt und zerstört: Strafwunder und ihre pädagogische Funktion
Tiere und Monster in apokryphen Apostelwundern
Einblicke in die bildliche Darstellung der Wunder der Apostel in der Kunst
I. Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte
Hinführung zu den Wundererzählungen in der Apostelgeschichte
Tabelle: Wunder in der Apostelgeschichte
Entsetzen an der Schönen Pforte (Die Heilung des Gelähmten im Tempel) – Apg 3,1-10
Ein plötzlicher Tod als Warnung (Der Betrug des Hananias und der Sapphira) – Apg 5,1-11
Zur Lehre befreit! (Die Befreiung der Apostel aus dem Gefängnis) – Apg 5,17-26
Konfrontation von Wunder und Magie (Philippus in Samaria – Simon der Zauberer) – Apg 8,6-8.13.39f
Blind werden, um in Wahrheit zu sehen! (Die Heilung des Paulus) – Apg 9,1-19 (22,1-21; 26,9-23)
Kam, sah, heilte (Petrus in Lydda) – Apg 9,32-35
Stütze der Gemeinde erwacht zu neuem Leben (Die Auferweckung der Tabita) – Apg 9,36-43
(Wie) Hilft Beten? (Die Befreiung des Petrus) – Apg 12,1-11
Der besiegte Magier (Die Blendung des Barjesus Elymas) – Apg 13,6-12
Einfach nur göttlich (Die Heilung des Gelähmten in Lystra) – Apg 14,8-13
Geschäftsschädigende Intervention (Die Heilung der wahrsagenden Sklavin) – Apg 16,16-22
Die Tür zur Rettung steht offen (Paulus und Silas im Gefängnis) – Apg 16,19-40
Die unbeholfenen Zauberlehrlinge in Ephesus (Die Söhne des Skevas) – Apg 19,11-17
Ein tröstlicher Zwischenfall (Eutychus in Troas) – Apg 20,7-12
Schlange, Schuld und Schutz (Das Schlangenwunder auf Melite) – Apg 28,1-6
Der jüdische Häftling und der edle Römer (Die Heilungen im Hause des Publius auf Malta) – Apg 28,7-10
II. Die Wundererzählungen in den Johannesakten
Hinführung zu den Wundererzählungen in den Johannesakten
Tabelle: Wunder in den Johannesakten
Die ersten Machttaten Gottes in Ephesus (Die Heilung der Kleopatra und die Auferweckung des Lykomedes) – ActJoh 19-24
»Girls Day« (Die Heilung der alten Frauen in Ephesus) – ActJoh 30-36
Lebens-entscheidender Wettstreit der Götter (Heilung vieler Krankheiten in Ephesus; Prodigium vor Artemisstatue) – ActJoh 37-45
Bekehrung praktisch: Verwandtschaft mit Jesus (Totenauferweckung des Artemispriesters) – ActJoh 46f
Die fatalen Folgen eines Ehebruchs (Totenauferweckung des ermordeten Vaters) – ActJoh 48-54
Bargeld nicht akzeptiert (Die Heilung der Söhne des Antipatros) – ActJoh 56f
Der Herr der Wanzen (Die gehorsamen Wanzen) – ActJoh 60f
»Stirb, damit du lebst!« (Die Totenauferweckungen des Kallimachos, der Drusiana und des Fortunatus) – ActJoh 63-86, bes. 74-84
III. Die Wundererzählungen in den Akten des Paulus und der Thekla
Hinführung zu den Wundererzählungen in den Akten des Paulus und der Thekla
Tabelle: Wunder in den Akten des Paulus und der Thekla
Die Feuertaufe der Thekla (Erstes Martyrium der Thekla) – ActThecl 1-25
Thekla – die Herrin der Tiere (Zweites Martyrium der Thekla) – ActThecl 28-37
Bestialische Menschen und ein frommes Tier (Löwentaufe und Löwenkampf) – ActPl 9,1-15.22-26
First Lady trifft Paulus (Die Taufe der Artemilla als Mysterieninitiation) – ActPl 9,16-21.27f
Milch statt Blut (Tod des Paulus und Erscheinungen des Paulus) – MartPl 5-7
IV. Die Wundererzählungen in Leben und Wunder der Heiligen Thekla
Hinführung zu den Wundererzählungen in Leben und Wunder der Heiligen Thekla
Tabelle: Wunder in Leben und Wunder der Heilligen Thekla
Zum Schweigen gebracht (Vertreibung des Apollon Sarpedonios aus seinem Heiligtum) – MirThecl 1
In Stein gemeißelt (Wunderbare Bewahrung einer Inschrift) – MirThecl 10
Die wandernde Geschwulst (Heilung des Aurelios von einem Halstumor) – MirThecl 11
Thekla setzt die Segel (Rettung von zwei Jünglingen aus Seenot) – MirThecl 15
Ein kräftiger Tritt von der Märtyrerin (Heilung des zertrümmerten Beins des Steinmetzes Leontius) – MirThecl 17
Tod nach Tempelraub (Strafwunder an Dieben aus Laistrygonia) – MirThecl 28
V. Die Wundererzählungen in den Petrusakten
Hinführung zu den Wundererzählungen in den Petrusakten
Tabelle: Wunder in den Petrusakten
Vom Nutzen der Krankheit (Heilung vieler Kranker und Verweigerung der Heilung der Tochter des Petrus) – BG/Kopt. Pap. Berlin 8502,4 (p. 128-132.135-141)
Oder wollt ihr, dass es euch geht wie Rufina? (Paulus in Rom, Strafwunder an Rufina beim Abendmahl) – ActPetr 1-3
»Die Stadt ist zu klein für uns beide!« (Wunder des Petrus und Zauberei Simons) – ActPetr 4-15
Die Matrone Eubola und der Perlenraub: reich – gerettet – diakonisch (Der Sieg des Petrus über Simon in Judäa) – ActPetr 16-18
Viermal wunderbares Sehen: Gott sorgt überall für die Seinen (Wunder im Hause des Marcellus) – ActPetr 19-22
Tod oder Leben – wer hat das letzte Wort? (Eine dreifache Totenerweckung auf dem Forum Iulium; Wunder während des Kampfes mit Simon) – ActPetr 25-29
Missglückte Himmelfahrt (Letzte Auseinandersetzung mit Simon) – ActPetr 30-32
VI. Die Wundererzählungen in den Thomasakten
Hinführung zu den Wundererzählungen in den Thomasakten
Tabelle: Wunder in den Thomasakten
Die kommende Welt schlägt zurück (Strafe des Mundschenks) – ActThom 6-9
Geplatzt vor Bosheit! (Himmlischer Bräutigam besiegt altbösen Feind) – ActThom 31-33
Thomas und der dämonische Lüstling (Dämonenvertreibung) – ActThom 42-50
Beziehungsstress, Mord – und ein Happy End (Die Auferweckung eines ermordeten jungen Mädchens) – ActThom 53f
»Du wirst große Wunder sehen!« (Wildesel, Exorzismus und Erweckung) – ActThom 68-81
Das Siegel öffnet für das Heil (Das Türöffnungswunder mit Mygdonias Taufe) – ActThom 119-122
Ausbruch aus den Kerkern – Fluchthelfer ungesehen wieder verschwunden (Der unsichtbare Jüngling) – ActThom 154
Knochen und Staub: die Kraft der heiligen Reliquien (Heilung des Sohnes) – ActThom 170
VII. Die Wundererzählungen in den Andreasakten
Hinführung zu den Wundererzählungen in den Andreasakten
Tabelle: Wunder in den Andreasakten
VII.1 Die Wundererzählungen in Gregorius von Tours
Geh weg von dem Diener Gottes! (Dämonenaustreibung und die Heilung einer ganzen Familie) – ActAndr(Greg) 5.
»Unser Sohn ist Magier geworden!« (Wunderbare Brandlöschung in Philippi) ActAndr(Greg) 12
Eine verhängnisvolle Affäre (Bestrafung und Auferweckung der Frau des Lesbius) – ActAndr(Greg) 23.
Totenerweckungen als Mittel zum Zweck (Die Auferweckung von 1 + 39 Toten) – ActAndr(Greg) 24
Geburtswunder der Mätresse des Mörders (Abtreibung des vom Mörder empfangenen Fötus) – ActAndr(Greg) 25
Die Austreibung der Dämonen aus dem Haushalt des Antiphanes (Dämonenaustreibung in Megara) – ActAndr(Greg) 29
VII.2 Die Wundererzählungen im Martyrium des Andreas
Stärker als Herkules! (Heilung des besessenen Sklaven des Stratokles) – MartAndr 2-5.
VII.3 Die Wundererzählungen in den Akten des Andreas und Matthias
Käpt’n Jesus, das Kind (Jesus erscheint in vielen Gestalten) – ActAndrMatt 18.
Versteinerte Hände und nutzlose Schwerter: Wenn Empathie Unmenschlichkeit entwaffnet (Strafwunder an den Menschenfressern) – ActAndrMatt 22f
Ein apostolischer Streich mit dem Sintflutwasser (Strafwunder durch Flut aus Statue und Auferweckung der Toten) – ActAndrMatt 29-32
VII.4 Die Wundererzählungen in den Akten des Petrus und des Andreas
»Selbstwachsende Saat« vorgeführt (Gesätes Korn wächst und reift in wenigen Stunden) – ActPetrAndr 3-5
Showdown im »Zirkus Petrus« (Kamel geht durch Nadelöhr) – ActPetrAndr 13-21
VIII. Die Wundererzählungen in den Philippusakten
Hinführung zu den Wundererzählungen in den Philippusakten
Tabelle: Wunder in den Philippusakten
Kreuzförmiger Adler und leuchtendes Siegel (Sturmstillung und sprechender Adler) – ActPhil 3,5-19
Sieg durch Wunder (Totenerweckung in Nikatera) – ActPhil 6,16-22
Ein veganes Evangelium für Tiere (Bekehrung des Leoparden und der jungen Ziege) – ActPhil 8,16-21.
Heilkräftige Schmiere (Wunder in Opheorymos. Die Heilung des blinden Stachys mit Mariamnes Speichel) – ActPhil 14,1-7
IX. Die Wundererzählungen in den Barnabasakten
Hinführung zu den Wundererzählungen in den Barnabasakten
Tabelle: Wunder in den Barnabasakten
Streetworker im Auftrag des Herrn (Barnabas heilt durch Handauflegung und mit einer Kopie des Matthäusevangeliums) – ActBarn 15
Gottloser Wettlauf in die Zerstörung (Barnabas lässt ein Stadion einstürzen) – ActBarn 19
X. Die Wundererzählung in der Abgarlegende
Eine Wunderheilung, per Eilpost bei Jesus bestellt (Die Abgarlegende) – Eus. h.e. 1,13,6-18
Liste der Wundererzählungen nach Quellenbereichen
Die Autorinnen und Autoren
Gesamtverzeichnis der verwendeten Literatur
Abkürzungsverzeichnis
Stellenregister
Sachregister
Abbildungsnachweis

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KOMPENDIUM der frühchristlichen Wundererzählungen Band 2 Die Wunder der Apostel Herausgegeben von Ruben Zimmermann in Zusammenarbeit mit István Czachesz Bernd Kollmann Susanne Luther Annette Merz Tobias Nicklas

Gütersloher Verlagshaus

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KOMPENDIUM der frühchristlichen Wundererzählungen Herausgegeben von Ruben Zimmermann in Zusammenarbeit mit István Czachesz Detlev Dormeyer Judith Hartenstein Bernd Kollmann Susanne Luther Annette Merz Christian Münch Tobias Nicklas Enno Edzard Popkes Uta Poplutz

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1. Auflage Copyright © 2017 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber. ISBN 978-3-641-31082-0 www.gtvh.de

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Wundererzählungen in den Akten der Apostel – eine Hinführung. . . . . 3 Ruben Zimmermann 1. Die Apostel als Wundertäter: Von Jesuswundern zu Apostelwundern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1.1 Der Wunderauftrag Jesu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.2 Die »Apostel« als Wundertäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.2.1 Zum Begriff »Apostel«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5



1.2.2 Die Apostel im Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen. . . . 8



1.3 Wundertaten – »im Namen Jesu«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1.4 Der Wundertäter Paulus als Testfall. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

2. Die Wundererzählungen im Horizont der Apostelakten. . . . . . . . . 14

2.1 Die Apostelakten – Expeditionen in weitgehend unbekanntes Terrain. . . . . . . 14 2.2 Die Auswahl der Apostelakten in diesem Kompendium. . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.3 Die Suche nach den Ursprungsakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

3. Wundererzählungen in den Apostelakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

3.1 Vom ›Wundermotiv‹ zur Gattung ›Wundererzählung‹. . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.2 Ein gattungsorientierter Zugang: Kriterien der Wundererzählungen. . . . . 23 3.2.1 Die Kriterien der Gattung Wundererzählung – revisited. . . . . . . . . . . . . . 24



3.2.2 Phantastische Tatsachenberichte: Mehr Phantastik als Tatsachen. . . . . . . 32

4. Anlage und Auslegungsstruktur in Band 2 des »Kompendiums der frühchristlichen Wundererzählungen«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

4.1 Weichenstellungen: Die Vorentscheidungen und Begrenzungen. . . . . . . . . . 35 4.2 Vielfalt der »Sehepunkte«: Das Auslegungsraster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

5. Literatur zu frühchristlichen Wundererzählungen in Apostelakten. 38 5.1 Monographien/Sammelbände/Themenhefte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 5.2 Auswahl an Aufsätzen/Lexikonartikel (insb. zum Thema Wunder in Acta) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Apostelgeschichten und antiker Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Detlev Dormeyer 1. Der antike Roman. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Wunder in den Romanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 3. Apostelgeschichten und die antike Romanliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

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Inhalt

Mehr als nur ein paar Spuren: Humor in Wundererzählungen. . . . . . . 54 Richard I. Pervo 1. 2. 3. 4.

Formen und Funktionen von Humor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neutestamentliche Beispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele aus den neutestamentlichen Apokryphen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54 57 62 64

Wunder versus Magie und Zauberei. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Tobias Nicklas 1. 2. 3.

Antike »Definitionen« von Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Magie und Wunder – unterschiedliche Verhältnisbestimmungen in unterschiedlichen Texten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

Niedergestreckt und zerstört: Strafwunder und ihre pädagogische Funktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Meghan Henning 1. 2. 3. 4. 5.

Zur Gattung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafwunder im Alten Testament. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafwunder im Neuen Testament. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pädagogische Strafhandlungen in den apokryphen Apostelakten. . . . . . . . . . . . . Tendenzen: Pädagogische Strafmaßnahmen und ihre jeweilige Funktion. . . . . .

76 76 78 80 81

Tiere und Monster in apokryphen Apostelwundern. . . . . . . . . . . . . . . 82 Livia Neureiter/Janet E. Spittler 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Antiker und spätantiker Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wundersame Tiere in den apokryphen Apostelakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bestialische Tiere in den Andreasakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kluge Tiere in den Johannesakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfreiche Tiere in den Petrusakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiere als Angreifer und Verteidiger in den Paulus- und Theklaakten sowie in den Paulustraditionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außergewöhnliche Tiere in den Thomasakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82 84 85 86 87 88 89 90

Einblicke in die bildliche Darstellung der Wunder der Apostel in der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Susanne Luther 1. Bildliche Darstellung in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten. . . . . . . . . . 92 2. Die bildliche Darstellung der Apostel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 VI

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Inhalt

3. Die Wunder der Apostel in Einzelszenen und Apostelzyklen. . . . . . . . . . . . . . . . 96 4. Darstellungen auf Artefakten mit wundersamer bzw. magischer Wirkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5. Die Nutzung der Apostelwunder: Erinnerung und kreative Fortschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

I. Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte Hinführung zu den Wundererzählungen in der Apostelgeschichte . . 115 Bernd Kollmann Tabelle: Wunder in der Apostelgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Entsetzen an der Schönen Pforte (Die Heilung des Gelähmten im Tempel) – Apg 3,1-10. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Friedrich Wilhelm Horn Ein plötzlicher Tod als Warnung (Der Betrug des Hananias und der Sapphira) – Apg 5,1-11. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Detlev Dormeyer Zur Lehre befreit! (Die Befreiung der Apostel aus dem Gefängnis) – Apg 5,17-26. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Christian Schramm Konfrontation von Wunder und Magie (Philippus in Samaria – Simon der Zauberer) – Apg 8,6-8.13.39f.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Wolfgang von Ungern-Sternberg Blind werden, um in Wahrheit zu sehen! (Die Heilung des Paulus) – Apg 9,1-19 (22,1-21; 26,9-23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Andrzej Najda Kam, sah, heilte (Petrus in Lydda) – Apg 9,32-35. . . . . . . . . . . . . . . 189 Martin G. Ruf Stütze der Gemeinde erwacht zu neuem Leben (Die Auferweckung der Tabita) – Apg 9,36-43. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Bernd Kollmann (Wie) Hilft Beten? (Die Befreiung des Petrus) – Apg 12,1-11 . . . . . . 204 Hanna Roose

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Inhalt

Der besiegte Magier (Die Blendung des Barjesus Elymas) – Apg 13,6-12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Niclas Förster Einfach nur göttlich (Die Heilung des Gelähmten in Lystra) – Apg 14,8-13. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Bernd Kollmann Geschäftsschädigende Intervention (Die Heilung der wahrsagenden Sklavin) – Apg 16,16-22. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Eva Ebel Die Tür zur Rettung steht offen (Paulus und Silas im Gefängnis) – Apg 16,19-40. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Heike Omerzu Die unbeholfenen Zauberlehrlinge in Ephesus (Die Söhne des Skevas) – Apg 19,11-17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 István Czachesz Ein tröstlicher Zwischenfall (Eutychus in Troas) – Apg 20,7-12 . . . . . 268 Martin Bauspiess Schlange, Schuld und Schutz (Das Schlangenwunder auf Melite) – Apg 28,1-6. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Dirk Wördemann Der jüdische Häftling und der edle Römer (Die Heilungen im Hause des Publius auf Malta) – Apg 28,7-10 . . . . . . . . . . . . . . . 288 Lukas Bormann

II. Die Wundererzählungen in den Johannesakten Hinführung zu den Wundererzählungen in den Johannesakten . . . . 299 Tobias Nicklas Tabelle: Wunder in den Johannesakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Die ersten Machttaten Gottes in Ephesus (Die Heilung der Kleo patra und die Auferweckung des Lykomedes) – ActJoh 19-24. . . 307 Jörg Frey/Veronika Niederhofer

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Inhalt

»Girls Day« (Die Heilung der alten Frauen in Ephesus) – ActJoh 30-36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Paul Metzger Lebens-entscheidender Wettstreit der Götter (Heilung vieler Krank heiten in Ephesus; Prodigium vor Artemisstatue) – ActJoh 37-45. 335 Heike Hötzinger Bekehrung praktisch: Verwandtschaft mit Jesus (Totenaufer weckung des Artemispriesters) – ActJoh 46f.. . . . . . . . . . . . . . . . 351 Almuth Peiper Die fatalen Folgen eines Ehebruchs (Totenauferweckung des ermordeten Vaters) – ActJoh 48-54 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Kurt Erlemann Bargeld nicht akzeptiert (Die Heilung der Söhne des Antipatros) – ActJoh 56f.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Janet E. Spittler Der Herr der Wanzen (Die gehorsamen Wanzen) – ActJoh 60f. . . . . 376 Detlev Dormeyer »Stirb, damit du lebst!« (Die Totenauferweckungen des Kallimachos, der Drusiana und des Fortunatus) – ActJoh 63-86, bes. 74-84 . . 385 Michael Theobald

III. Die Wundererzählungen in den Akten des Paulus

und der Thekla

Hinführung zu den Wundererzählungen in den Akten des Paulus und den Akten der Thekla. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Annette Merz Tabelle: Wunder in den Akten des Paulus und der Thekla. . . . . . . . . 422 Die Feuertaufe der Thekla (Erstes Martyrium der Thekla) – ActThecl 1-25. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Claudia Losekam Thekla – die Herrin der Tiere (Zweites Martyrium der Thekla) – ActThecl 28-37. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Elisabeth Esch-Wermeling IX

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Bestialische Menschen und ein frommes Tier (Löwentaufe und Löwenkampf) – ActPl 9,1-15.22-26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Annette Merz First Lady trifft Paulus (Die Taufe der Artemilla als Mysterien initiation) – ActPl 9,16-21.27f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 Annette Merz Milch statt Blut (Tod des Paulus und Erscheinungen des Paulus) – MartPl 5-7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Tobias Nicklas

IV. Die Wundererzählungen in Leben und Wunder der Heiligen Thekla Hinführung zu den Wundererzählungen in Leben und Wunder der Heiligen Thekla. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Bernd Kollmann Tabelle: Wunder in Leben und Wunder der Heilligen Thekla. . . . . . . 521 Zum Schweigen gebracht (Vertreibung des Apollon Sarpedonios aus seinem Heiligtum) – MirThecl 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Eva Ebel In Stein gemeißelt (Wunderbare Bewahrung einer Inschrift) – MirThecl 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 Markus Lau Die wandernde Geschwulst (Heilung des Aurelios von einem Halstumor) – MirThecl 11. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 Pieter W. van der Horst Thekla setzt die Segel (Rettung von zwei Jünglingen aus Seenot) – MirThecl 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 Andreas Müller Ein kräftiger Tritt von der Märtyrerin (Heilung des zertrümmerten Beins des Steinmetzes Leontius) – MirThecl 17 . . . . . . . . . . . . . . 553 Pieter W. van der Horst Tod nach Tempelraub (Strafwunder an Dieben aus Laistrygonia) – MirThecl 28 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 Andreas Müller X

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V. Die Wundererzählungen in den Petrusakten Hinführung zu den Wundererzählungen in den Petrusakten. . . . . . . 569 Susanne Luther Tabelle: Wunder in den Petrusakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 Vom Nutzen der Krankheit (Heilung vieler Kranker und Verweigerung der Heilung der Tochter des Petrus) – BG/Kopt. Pap. Berlin 8502,4 (p. 128-132.135-141) . . . . . . . . . . 583 Uwe-Karsten Plisch Oder wollt ihr, dass es euch geht wie Rufina? (Paulus in Rom, Strafwunder an Rufina beim Abendmahl) – ActPetr 1-3 . . . . . . . 593 Martin G. Ruf »Die Stadt ist zu klein für uns beide!« (Wunder des Petrus und Zauberei Simons) – ActPetr 4-15. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Matthias Hoffmann Die Matrone Eubola und der Perlenraub: reich – gerettet – diako nisch (Der Sieg des Petrus über Simon in Judäa) – ActPetr 16-18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 Marietheres Döhler/Livia Neureiter Viermal wunderbares Sehen: Gott sorgt überall für die Seinen (Wunder im Hause des Marcellus) – ActPetr 19-22. . . . . . . . . . . 639 Magda Misset-van de Weg Tod oder Leben – wer hat das letzte Wort? (Eine dreifache Totenerweckung auf dem Forum Iulium; Wunder während des Kampfes mit Simon) – ActPetr 25-29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 Marietheres Döhler/Livia Neureiter Missglückte Himmelfahrt (Letzte Auseinandersetzung mit Simon) – ActPetr 30-32. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672 Martin G. Ruf

VI. Die Wundererzählungen in den Thomasakten Hinführung zu den Wundererzählungen in den Thomasakten . . . . . 685 Tobias Nicklas Tabelle: Wunder in den Thomasakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691

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Die kommende Welt schlägt zurück (Strafe des Mundschenks) – ActThom 6-9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 Karl Weyer-Menkhoff Geplatzt vor Bosheit! (Himmlischer Bräutigam besiegt altbösen Feind) – ActThom 31-33. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700 Georg Gäbel Thomas und der dämonische Lüstling (Dämonenvertreibung) – ActThom 42-50 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 Enno Edzard Popkes Beziehungsstress, Mord – und ein Happy End (Die Auferweckung eines ermordeten jungen Mädchens) – ActThom 53f.. . . . . . . . . 723 Tobias Nicklas »Du wirst große Wunder sehen!« (Wildesel, Exorzismus und Erweckung) – ActThom 68-81 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730 Janet E. Spittler Das Siegel öffnet für das Heil (Das Türöffnungswunder mit Mygdonias Taufe) – ActThom 119-122. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739 Ruben Zimmermann Ausbruch aus den Kerkern – Fluchthelfer ungesehen wieder verschwunden (Der unsichtbare Jüngling) – ActThom 154 . . . . . 758 Charlotte Dötzkirchner Knochen und Staub: die Kraft der heiligen Reliquien (Heilung des Sohnes) – ActThom 170. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766 Janet E. Spittler

VII. Die Wundererzählungen in den Andreasakten Hinführung zu den Wundererzählungen in den Andreasakten . . . . . 773 István Czachesz Tabelle: Wunder in den Andreasakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782 VII.1 Die Wundererzählungen in Gregorius von Tours Liber de miraculis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787 Geh weg von dem Diener Gottes! (Dämonenaustreibung und die Heilung einer ganzen Familie) – ActAndr(Greg) 5 . . . . . . . . . . . . 789 Soham Al-Suadi

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»Unser Sohn ist Magier geworden!« (Wunderbare Brandlöschung in Philippi) – ActAndr(Greg) 12. . . . . . . . . . . . . . 801 István Czachesz Eine verhängnisvolle Affäre (Bestrafung und Auferweckung der Frau des Lesbius) – ActAndr(Greg) 23. . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 Michael Sommer Totenerweckungen als Mittel zum Zweck (Die Auferweckung von 1 + 39 Toten) – ActAndr(Greg) 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818 Hanna Roose Geburtswunder der Mätresse des Mörders (Abtreibung des vom Mörder empfangenen Fötus) – ActAndr(Greg) 25. . . . . . . . . . . . 824 Anders Klostergaard Petersen Die Austreibung der Dämonen aus dem Haushalt des Antiphanes (Dämonenaustreibung in Megara) – ActAndr(Greg) 29. . . . . . . . 831 Anders Klostergaard Petersen VII.2 Die Wundererzählungen im Martyrium des Andreas. . . . . . . . 843 Stärker als Herkules! (Heilung des besessenen Sklaven des Stratokles) – MartAndr 2-5. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845 Dennis R. MacDonald »… leere Worte« (Andreas’ Rede vom Kreuz) – MartAndr 59. . . . . . 855 Michael Sommer VII.3 Die Wundererzählungen in den Akten des Andreas und Matthias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861 Käpt’n Jesus, das Kind (Jesus erscheint in vielen Gestalten) – ActAndrMatt 18. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 Karl Weyer-Menkhoff Versteinerte Hände und nutzlose Schwerter: Wenn Empathie Unmenschlichkeit entwaffnet (Strafwunder an den Menschen fressern) – ActAndrMatt 22f. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871 Friederike Oertelt Ein apostolischer Streich mit dem Sintflutwasser (Strafwunder durch Flut aus Statue und Auferweckung der Toten) – ActAndrMatt 29-32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 Anders Klostergaard Petersen XIII

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VII.4 Die Wundererzählungen in den Akten des Petrus und des Andreas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893 »Selbstwachsende Saat« vorgeführt (Gesätes Korn wächst und reift in wenigen Stunden) – ActPetrAndr 3-5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895 István Czachesz Showdown im »Zirkus Petrus« (Kamel geht durch Nadelöhr) – ActPetrAndr 13-21. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 902 Eckart D. Schmidt

VIII. Die Wundererzählungen in den Philippusakten Hinführung zu den Wundererzählungen in den Philippusakten. . . . . 919 István Czachesz Tabelle: Wunder in den Philippusakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925 Kreuzförmiger Adler und leuchtendes Siegel (Sturmstillung und sprechender Adler) – ActPhil 3,5-19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927 Christopher Matthews Sieg durch Wunder (Totenerweckung in Nikatera) – ActPhil 6,16-22. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935 Julia A. Snyder Ein veganes Evangelium für Tiere (Bekehrung des Leoparden und der jungen Ziege) – ActPhil 8,16-21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953 Christopher Matthews Heilkräftige Schmiere (Wunder in Opheorymos. Die Heilung des blinden Stachys mit Mariamnes Speichel) – ActPhil 14,1-7 . . . . . 959 Christopher Matthews

IX. Die Wundererzählungen in den Barnabasakten Hinführung zu den Wundererzählungen in den Barnabasakten. . . . . 969 Bernd Kollmann Tabelle: Wunder in den Barnabasakten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 975

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Streetworker im Auftrag des Herrn (Barnabas heilt durch Handauflegung und mit einer Kopie des Matthäusevangeliums) – ActBarn 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976 Kristina Dronsch Gottloser Wettlauf in die Zerstörung (Barnabas lässt ein Stadion einstürzen) – ActBarn 19. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984 Uta Poplutz

X. Die Wundererzählung in der Abgarlegende Eine Wunderheilung, per Eilpost bei Jesus bestellt (Die Abgar legende) – Eus. h.e. 1,13,6-18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 995 Andrea Ackermann Liste der Wundererzählungen nach Quellenbereichen . . . . . . . . . . 1007 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1023 Gesamtverzeichnis der verwendeten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 1027 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1099 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1148 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1157

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Vorwort Das vorliegende Buch ist Band 2 des zweibändigen Werks »Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen«. In Band 1 (Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013) wurden in einer ausführlichen Hinführung viele Aspekte zur Forschungsgeschichte, Gattung, Geschichtlichkeit, Hermeneutik und Theologie reflektiert, die hier zum Verständnis der Anlage und Konzeption des Buches vorausgesetzt werden, ohne sie noch einmal ausführlich wiederzugeben. Während sich Band 1 (Die Wunder Jesu) zu ca. vier Fünfteln mit kanonischen Schriften befasst hat, kehrt sich nun das Verhältnis um. In dem vorliegenden Band 2 (Die Wunder der Apostel) nimmt die kanonische Apostelgeschichte (Apg) nur einen relativ kleinen Raum ein, während ca. vier Fünftel des Buches nicht-kanonische Texte des frühen Christentums zum Gegenstand haben, die von Wundern der Apostel berichten. Bei aller gebotenen Vorsicht hinsichtlich der Datierung dieser Schriften kann man doch sagen, dass hierbei ein Bogen vom 1. Jh. n. Chr. (Apg) bis Ende des 5. Jh. n. Chr. (MirThecl, ActBarn) gespannt wird. Entsprechend vielfältig sind auch die Makrotexte und ihre Gattungen, die in diesem Band vereint werden. Diese Verschiebung hat zugleich Rückwirkungen auf die Grundfrage nach den Verstehensmöglichkeiten dieser Texte. Der Wunderdiskurs, insbesondere zu den Wundern Jesu, wurde in der Forschung lange Zeit durch die Frage nach der historischen Plausibilität der in diesen Texten erzählten Ereignisse dominiert, die dann sowohl apologetisch vertreten als auch kritisch bestritten wurde. Textinterpretation gleitet damit aber auf die Ebene von Glaubensbekenntnissen ab. Denn ist schon die »Faktizität« von vergangenen Ereignissen grundsätzlich geschichtstheoretisch fragwürdig geworden, so ist die Überprüfung der historischen Wahrheitsansprüche dieser Texte gänzlich unmöglich. Besonders die hier im Band dargebotenen Geschichten öffnen in ihrer Überzeichnung, aber auch durch ihren Humor, den Blick für die Grenzen dieser Fragestellungen. So wird zwar die Historizitätsfrage noch bei der kanonischen Apostelgeschichte des »Lukas« im Zusammenhang mit der Frage nach »Lukas« als Geschichtsschreiber oder Paulus als Wundertäter diskutiert. Für das Wirken der anderen Apostel in den jüngeren Akten, z.B. von Andreas und Matthias in der Stadt der Menschenfresser (vgl. ActAndrMatt) oder des Thaddäus in Edessa (vgl. Abgarlegende), findet sich hingegen niemand mehr, der hier Berichte von historischen Ereignissen vermutet. Ob es eine historische Gestalt Thekla überhaupt gegeben hat, lässt sich aus den Quellen nicht erheben. Wohl aber können wir sagen, dass die Thekla-Akten und die Erzählungen über ihre Wunder sich über längere Zeit der Kirchengeschichte großer Beliebtheit erfreuten. Es geht deshalb in diesem Band vor allem um die Erzählungen von Wundern, um Wundergeschichten, die als literarische Produkte jenseits ihrer historischen Referenzialität oder kirchlichen Rezeptionsgeschichte (z.B. als »apokryph« oder gar »häretisch«) wahrgenommen werden sollen. Dies macht aber weder die historische Fragestellung noch die Glaubwürdigkeits- und Wahrheitsfrage dieser Texte per se obsolet. Historisch kann sehr wohl 1

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Vorwort

nach Entstehungskontexten, historischer Semantik verwendeter Begriffe und Motive oder Lokaltraditionen von Schriften (z.B. in Bezug auf Lokalheiligtümer wie der Thekla in Seleukia/Isaurien) gefragt werden. Der Ereignisanspruch kann ferner auf der Ebene der Erzählung selbst als »faktuale Erzählweise« beschrieben werden. Warum behaupten diese Texte mit ihrer Erzählweise einen geschichtlichen Anspruch und präsentieren sich nicht gleich als phantastische Literatur oder Märchen? Ist die durch Erzählmodus und Inhalt erzeugte Spannung möglicherweise sogar gattungskonstitutiv für diese Texte, die dann mit Recht als »phantastische Tatsachenberichte« beschrieben werden können? Durch welche literarischen Mittel erzeugen sie ihre Wirkung? Was ist ihre Funktion? Wird »Unmögliches« erzählerisch als »Möglichkeit«, ja sogar historische Wirklichkeit präsentiert, um eingrenzende Normsysteme zu durchbrechen und neu für die Frage nach Gottes Wirklichkeit und Wahrheit zu öffnen? Wird »Unglaubliches« vielleicht deshalb erzählt, um für die Glaubensfrage zu sensibilisieren? Diese pragmatisch-hermeneutischen Fragen gehen über die historische und literarische Deskription hinaus und stellen Sinnfragen, die letztlich bei religiösen Texten immer auch in theologische Grundfragen münden. Die hier geleisteten Auslegungen wollen gerade auch solche Deutungshorizonte der Texte eröffnen und begnügen sich nicht – wie häufig bei den nicht-kanonischen Akten – mit der Rekonstruktion der Textgeschichte. Begleitend zum Gesamtprojekt ist inzwischen auch ein Aufsatzband erschienen, der die hier angesprochenen unterschiedlichen Herangehensweisen und Interpretationsmethoden zu Wundergeschichten im internationalen Kontext diskutiert (vgl. B. Kollmann/R. Zimmermann [Hg.], Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, WUNT 339, Tübingen 2014). Darin sind u.a. auch Beiträge von Mitherausgebenden abgedruckt, die auf den drei Mainzer Tagungen während der Arbeit an diesem Projekt vorgetragen wurden und auf je eigene Weise Weichenstellungen des Gesamtprojekts vertiefend reflektieren. Viele der hier besprochenen Texte sind in der kirchlichen und auch wissenschaftlichen Diskussion weitgehend unbekannt, einige werden zum ersten Mal in deutscher Übersetzung dargeboten. So hoffen wir in mancher Hinsicht, Neuland zu erschließen und freuen uns, wenn wir einen Diskussionsanstoß sowohl für die frühchristliche Literatur- und Theologiegeschichte als auch für den Wunderdiskurs geben können. Aber vor allem wünschen wir beim Lesen dieser Texte und ihrer Auslegungen vielfältige Resonanzen, die die Spannung aus Kopfschütteln und Tiefensinn in produktives Nachdenken überführen lassen und hier und da auch das Schmunzeln ermöglichen. Mainz, im September 2017

Ruben Zimmermann für die Herausgebenden

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Wundererzählungen in den Akten der Apostel – eine Hinführung 1. Die Apostel als Wundertäter: Von Jesuswundern zu Apostelwundern 1.1 Der Wunderauftrag Jesu

Jesus wird als Wundertäter erinnert. Auch die neueste Phase historischer Jesusforschung lässt trotz mancher Unterschiede in Umfang und Art kaum einen Zweifel daran, dass Jesus Taten vollbracht hat, die man als ›Wunder‹ verstanden und weitererzählt hat (vgl. Meier 1994, 509-1038; Twelftree 2011; Merz 2013). Nach der neutestamentlichen Überlieferung wird seine Wundertätigkeit geradezu zum Erkennungszeichen seiner Messianität, wie es die Antwort auf die Täuferfrage festhält (vgl. Q/ Lk 7,20-23/Mt 11,3-5). Auch im vergleichenden Gegenüber zum Täufer zeichnet sich Jesus offenbar besonders durch seine Wundertätigkeit aus (Joh 10,41). Aber schließt deshalb der Ruf in die Nachfolge schon ein, dass auch die Jünger Jesu ihrerseits Wunder vollbringen konnten? Ist es das, was »der Kleinste im Reich Gottes« dem Täufer Johannes voraus hat (Q/Lk 7,28; Mt 11,11)? Jesus verheißt die Fähigkeit, »Maulbeerfeigenbäume« (Lk 17,6) oder gar »Berge zu versetzen« (Mt 17,20), wenn man nur Glauben so groß wie ein Senfkorn hat. Das sind zweifellos wunderbare, unvorstellbare Begebenheiten. Dem Glaubenden sind »alle Dinge möglich« (Mk 9,23) und Jesu Zusage von Gebetserhörungen wird ohne Einschränkung formuliert (Q/Lk 11,9; Mt 7,7: »Bittet, so wird euch gegeben«). Hierbei handelt es sich aber doch zunächst um Vertrauensbekundungen und rhetorisch hyperbolische Bekräftigungen, zumindest dem Sprechakt nach um Zusagen und noch keine Ereignisberichte. Aber es wird auch von vollzogenen Wundertaten der Jünger erzählt, bereits zu Lebzeiten Jesu. Nach einhelliger Forschungsmeinung gab es eine vorösterliche Aussendung der Jünger Jesu (vgl. Meier 2001, 125; Popkes 2014, 17). Trotz Abweichungen im Detail (vgl. die Synopse bei Popkes 2014, 20f.) sind sich die Quellen darin einig, dass Jesus seine Nachfolger hierbei nicht nur zum Predigen in die Dörfer Galiläas schickte, sondern explizit auch mit einem Handlungsauftrag. Nach der sogenannten Missionsinstruktion in der Logienquelle Q/Lk 10,9 wird dieser explizit als Heilungsauftrag konkretisiert (»heilt die Kranken, die in ihr [der Stadt] sind«, vgl. dazu Fleddermann 2005, 426f.). Bereits bei der ersten Einsetzung der Zwölf nach dem Markusevangelium (Mk 3,15) und dann wiederum nach Mk 6,7-13 gab Jesus den Zwölfen die »Macht über die unreinen Geister« (V. 7), die dann von den Jüngern auch erfolgreich angewandt wird (V. 13: »sie trieben viele böse Geister aus«). Ferner heilten die Jünger die Kranken, verbunden mit einer Ölsalbung (V. 13: »und salbten viele Kranke mit Öl und machten sie gesund«, ἐθεράπευον etherapeuon). Im Lukasevangelium finden sich dann sogar zwei Aussendungsreden, eine an den Zwölferkreis gerichtet (Lk 9,1-6), die andere an die 72 Jünger (Lk 10,1-9), die 3

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Wundererzählungen in den Akten der Apostel – eine Hinführung

vermutlich auch je unterschiedliche Quellen (Mk und Q) verarbeiten. Während in dem an Mk 6,7 orientierten Einleitungsvers Lk 9,1 wiederum von der Beauftragung zu Exorzismen und Heilungen die Rede ist, wird im nachfolgenden Erfahrungsbericht (abweichend von Mk 6,13) jedoch nur von der vollzogenen Tätigkeit als Heiler erzählt (Lk 9,6: »sie heilten an allen Orten«). Bei der Aussendung der 72 wird auch nur noch der Krankenheilungsauftrag gegeben (Lk 10,9: »Heilt die Kranken«, vgl. zur lukanischen Redaktion Popkes 2014, 86-93). Bevor man hier aber vorschnell ein Desinteresse des Lukas an Exorzismen von Jüngern postuliert, muss auch der zweite Teil seines Doppelwerks im Blick behalten werden. In Apg 5,16; 16,16-18 und 19,12 wird sowohl summarisch als auch in einer Einzelerzählung von der exorzistischen Tätigkeit der Apostel berichtet. Die umfassendste Beauftragung finden wir im Matthäusevangelium. Hier ist von einem vierfachen Handlungsauftrag die Rede: Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus! (Mt 10,8).

Von einer Umsetzung und Rückkehr der Jünger erfahren wir hier nichts. Nach Mt 11,2 ist nur von den »Werken Christi« (τὰ ἔργα τοῦ Χριστοῦ ta erga tou Christou) die Rede, die dann im Anschluss der Täuferfrage konkret als Heilungen (Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören) und Totenerweckungen (Mt 11,5) beschrieben werden. Im Johannesevangelium fehlt eine Aussendungsrede im Sinne der Synoptiker. Die explizit formulierte Sendung der Jünger (Joh 20,21: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch«) bleibt ohne konkreten Handlungsauftrag. Allerdings wird in der ersten Abschiedsrede die Fähigkeit von Werken zugesprochen, die sogar die Taten Jesu übertreffen (Joh 14,12: »Amen, Amen ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und er wird noch größere als diese tun.«). Da die Werke (ἔργα erga) bei Joh im Verbund mit den Zeichen (σημεῖα sēmeia) explizit für die Wundertaten stehen (vgl. dazu Poplutz 2013, 664), wird hier zumindest als Verheißung auch die Wundertätigkeit der Jünger angesprochen (zur Wiederaufnahme dieses Motivs der größeren Werke in den ActPl 13,11 vgl. Merz, Hinführung ActPl in diesem Band). Schließlich wird im Thomasevangelium (EvThom 14,4f.) dann nochmal ein Heilungsauftrag bezeugt, was innerhalb dieses Spruchevangeliums durchaus auffällig ist (»Die Kranken unter ihnen heilt«, vgl. dazu Popkes 2014, 111). Zusammenfassend kann man festhalten, dass Jesus gemäß der Erinnerung der Logienquelle, der synoptischen Evangelien sowie des Thomasevangeliums seine Jünger beauftragt hat zu heilen. Bei allen Synoptikern ist ferner vom Auftrag der Dämonenaustreibung die Rede (Mk 3,15/Mt 10,1/Lk 9,1). Bei Matthäus werden zusätzlich die Heilung von Aussatz sowie die Totenerweckung als mögliche Taten im Handlungsspektrum der Jünger benannt. Man kann deshalb übergreifend nicht nur von einem Heilungsauftrag, sondern regelrecht von einem »Wunderauftrag« Jesu an 4

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Die Apostel als Wundertäter

seine Jünger sprechen. Bei Mk und Lk ist ferner in Form eines berichtenden Summariums von der Umsetzung dieses Auftrags die Rede. Das Neue Testament weiß umgekehrt aber auch einiges vom Kleinglauben der Jünger zu berichten, der u.a. in ihrer Unfähigkeit, Kranke zu heilen (Mk 9,18) oder Hungernde zu speisen (Mk 6,37), sichtbar wird. Dass gleichwohl die Wundertätigkeit der Jünger zum Erkennungszeichen des wahren Glaubens avancierte, zeigt schließlich der sekundäre Markusschluss (dazu Kelhoffer 2000): Als Zeichen (σημεῖα sēmeia) aber werden den Glaubenden diese folgen: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, in neuen Zungen werden sie reden, Schlangen mit den Händen hochheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird’s ihnen nicht schaden; auf Kranke werden sie die Hände legen, so wird’s gut mit ihnen werden (Mk 16,17f.).

Zusätzlich zur Dämonenaustreibung und Krankenheilung, wie es aus den Aussendungsreden bekannt ist, werden die Glossolalie, Schlangenbeschwörung und Immunität gegen tödlichen Gifttrank genannt. Besonders der Umgang mit Schlangen hat noch bis ins 20. Jh. eine durchaus ambivalente Nachwirkung erzielt, wie die amerikanischen »Snake-Handler-Churches« zeigen (vgl. Burton 1993; Kimbrough 2002). Die Argumentationsrichtung hat sich hierbei umgekehrt. Die gesandten Jünger haben nicht mehr nur das Potenzial, Wunder zu tun, sondern die Wundertätigkeit gilt als Zeichen, ja sogar notwendiges Kriterium, um wahre Jüngerschaft und Glaubensnachfolge zu demonstrieren.

1.2 Die »Apostel« als Wundertäter

Der vorliegende Band trägt den Untertitel »Die Wunder der Apostel«. So stellt sich die Frage, von wem hier überhaupt die Rede ist. Geht es um die Wundertätigkeit von Jüngern Jesu allgemein oder speziell des Zwölferkreises? Ist mit dem Apostelbegriff ein bestimmtes urchristliches Amt oder eine besondere Beauftragung verbunden? Daran schließen sich sowohl traditions- bzw. literargeschichtliche als auch hermeneutische Fragen. Wer wird zum Wundertäter beauftragt, wie exklusiv oder integrativ ist dieser Auftrag? Gilt die Beauftragung für eine bestimmte Personengruppe und geschichtlich begrenzte Periode oder für Christen allgemein an jedem Ort und zu jeder Zeit? 1.2.1 Zum Begriff »Apostel«

Die Beauftragung zur Wundertätigkeit der Jünger erfolgte im Rahmen von Aussendungen, wie sie uns die Synoptiker überliefert haben (s.o.). Aussenden heißt im Griechischen ἀποστέλλω apostellō, das Nomen ὁ ἀπόστολος ho apostolos, »der Apostel«, kann man entsprechend mit »der Ausgesandte« übersetzen. Konkret ist 5

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hier bei Mk 6,7-13par. an den Zwölferkreis gedacht, dessen Mitglieder nicht nur »gesandt« (Mk 6,7: »er begann, sie auszusenden«), sondern auch explizit »Apostel« genannt werden (vgl. Mk 3,14; Mt 10,2; Lk 6,13: »er erwählte zwölf von ihnen, die er auch Apostel nannte [ἀποστόλους ὠνόμασεν apostolous ōnomasen]«). Solche Formulierungen sowie die Differenz zu den 72 Jüngern, die zwar auch ausgesandt (Lk 10,1: ἀπέστειλεν apesteilen), aber nicht ausdrücklich mit dem »Apostel«-Namen belegt werden, ließen die Vermutung aufkommen, dass sich im frühen Christentum schon früh eine Art »Apostelbegriff« oder »Apostelamt« ausgebildet hatte (dazu allg. Bienert 1997; Frey 2016). Hatte die frühere Forschung eine Vorprägung der frühchristlichen Apostolatsvorstellung im jüdischen schaliach-Botenrecht angenommen (vgl. Rengstorf 1933; Hahn 1974, 69), so plädiert man heute für eine größere Offenheit bzw. Eigenheit des urchristlichen Begriffs (Haacker 2005; Frey 2016, 730-732). Nach Gerber hat sich der Begriff gerade aufgrund seiner »semantischen Unscheinbarkeit« (Gerber 2012, 38) im Gegenüber zum »Angelos« (Engel), d.h. dem »himmlischen Boten« der jüdischen Tradition, für das frühe Christentum als brauchbar erwiesen. Bereits die Paulusbriefe zeigen zweifellos eine erste Begriffsbildung, die gleichwohl inhaltlich und funktional eine beträchtliche Flexibilität behält (vgl. Frey 2016, 713-721). So werden nahe am Wortsinn Gemeindemissionare »Apostel« genannt (1 Kor 9,5; 12,28; 2 Kor 11,5), dann aber auch speziell Erstverkündiger des Evangeliums an die Nicht-Juden (Röm 11,13: Apostel der Völker, vgl. Röm 1,5; Gal 2,7f.). Daneben können Auferstehungszeugen »Apostel« genannt werden (1 Kor 15,8-10), oder es kann Epaphroditus auch nur als »Abgesandter« der Gemeinde von Philippi (Phil 2,25) gelten. Eine Begrenzung des Begriffs auf den Zwölferkreis – so offenbar das Konzept des Lukas (dazu Frey 2016, 721-723) – kann man hierbei nicht feststellen. Zwar kennt Paulus den Titel für Petrus (1 Kor 9,5; Gal 2,8) und die Jerusalemer (Gal 1,17), namentlich hierbei den Herrenbruder Jakobus (Gal 1,19), aber er stellt sich selbst, der er ja definitiv nicht zum Zwölferkreis gehört hat, im Präskript von vier Briefen als »Apostel« vor (Röm 1,1; 1 Kor 1,1; 2 Kor 1,1; Gal 1,1). Ferner werden noch Andronikus und Junia als berühmt »unter den Aposteln« (ἐν τοῖς ἀποστόλοις en tois apostolois, Röm 16,7) erwähnt, so dass auch Frauen den Namen tragen konnten. Der literarisch älteste neutestamentliche Beleg spricht vom »Gewicht der Apostel Christi« (1 Thess 2,7), so dass hier – wie auch in 1 Kor 15,9 – bereits ein Würdebzw. Autoritätsanspruch mit dem Titel verbunden wird (anders Gerber 2005, 274294, die hier einen Verzicht auf die Last des Unterhalts annimmt). Auffällig ist schon, dass bei Paulus der Apostelbegriff häufig im Zusammenhang mit Unterhaltsfragen diskutiert wird (so 1 Kor 9; 2 Kor 11). Offenbar war es möglich und üblich, dass der Apostel von der Gemeinde Unterhalt empfing, was Paulus aber in der Gemeinde von Korinth nicht in Anspruch nahm, ganz im Gegensatz zu anderen Missionaren, die nach der Abwesenheit des Paulus in der Gemeinde auftraten, wie der 2. Korintherbrief thematisiert. Apostel sind hierbei offenbar nicht nur die Gründer der Gemeinde, sondern auch (wandernde) Prediger, die eine Zeit lang in der Gemeinde 6

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arbeiteten. Signifikant ist hier in unserem Zusammenhang die Beschreibung, dass selbst diese fremden Missionare – wie vermutlich Paulus selbst davor – die »Zeichen der Apostel« getan haben: Die Zeichen des Apostels wurden gewirkt bei euch in aller Geduld, durch Zeichen und Wunder sowie Krafttaten (σημείοις τε καὶ τέρασιν καὶ δυνάμεσιν sēmeiois te kai terasin kai dynamesin; 2 Kor 12,12).

Hier wird offenbar ein enger Zusammenhang von Wundertätigkeit und Apostolat vorausgesetzt, indem sowohl die alttestamentlich geprägte Formulierung »Zeichen und Wunder« (vgl. Dtn 4,34; Ps 78,43; sowie Joh 4,48; Apg 2,43; 4,30 etc., dazu Weiß 1995) als auch der terminus technicus für Wunder, »Krafttaten« (δυνάμεις dynameis, vgl. zu den Wundertermini im NT Zimmermann 2013a, 18-22), als »Zeichen des Apostels« angesehen werden (mit Haacker 2005, 1665). Die Wundertätigkeit allein reicht aber für Paulus nicht als Kriterium für eine gute Erfüllung des mit dem Apostolat verbundenen Auftrags. Entsprechend kann er die fremden Missionare in Korinth abwertend als »Lügenapostel« (2  Kor 11,13) oder »Superapostel« (2  Kor 11,5.11) bezeichnen. Fazit: Der durchaus disparate Gebrauch des Apostelnamens in den neutestamentlichen Quellen spricht dafür, dass es eine einhellige Konzeptbildung oder gar ein institutionelles Amt bei Paulus oder der ersten Generationen von Christen noch nicht gegeben hat (mit Gerber 2012, 51; Frey 2016, 702f.). Dennoch leuchtet bereits hinter den ältesten Quellen hervor, dass der Apostel-Begriff ein Würdename war, der aufgrund von Sendung, Beauftragung und Tätigkeiten im Bereich der Mission bzw. Evangeliumsverkündigung geführt wurde. Als eine apostolische Handlung wird die Wundertätigkeit genannt, obgleich dies weder ein hinreichendes noch notwendiges Kriterium des Apostolats ist. Die Christusnachfolger der ersten Generation, prototypisch Petrus und Paulus, wurden später als Norm des ›Apostolischen‹ bzw. der »guten/rechten Apostel« (ἀγαθοὶ ἀπόστολοι agathoi apostoloi, 1 Clem 5,3) betrachtet (vgl. Jud 17; 2 Petr 1,1; 3,2; 1 Clem 5,1-7; IgnEph 12,2; IgnTrall 1,1: hier erstmals das Adjektiv ἀποστολικός – »apostolisch«, dazu Frey 2016, 684-692.763-768). Das »Apostolische« wurde auf diese Weise zum Ausdruck von Authentizität und Wahrheit der Botschaft. Spätere Christen oder Schriften konnten durch »apostolische Tradition bzw. Sukzession« (vgl. erste Hinweise in 1 Clem 42; 44,1-3) daran partizipieren. »Apostolizität«, nach dem Nicaeno-Constantinopolitanischen Glaubensbekenntnis eines der Kennzeichen der Kirche (notae ecclesiae), wurde somit später zu einem Kriterium der Rechtgläubigkeit z.B. bei der Bewertung von Schriften als »kanonisch« bzw. »rechtgläubig« (z.B. die Sammlung der ›apostolischen Väter‹; vgl. Bienert 1997, 26-28: Das Apostolische als Norm der Orthodoxie) oder »apokryph« (dazu Markschies 2012b, 65; Tuckett 2015). Nach den Zeugnissen einiger Kirchenväter waren auch Wunder Ausdruck der Apostolizität bzw. der apostolischen Zeit, die freilich aktuell vergegen7

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wärtigt werden konnte (vgl. Or. Cels. 7,8; Ambr. ep. 77; Aug. civ. 22,8,22; vgl. Den Boeft 2004, 61f.). 1.2.2 Die Apostel im Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen

In diesem Kompendium werden Texte besprochen, die einen Apostel bzw. eine Apostelin im engeren, späteren Begriffsgebrauch als Wundertäter(in) aufweisen. Dies gilt für Apostel, die entsprechend dem Zeugnis der vier kanonischen Evangelien explizit aus dem Zwölferkreis der Jünger Jesu stammen (vgl. Mk 3,18), wie Petrus (Apg, ActPetr, ActPetrAndr) und sein Bruder Andreas (ActAndr), Johannes (als Sohn des Zebedäus) (ActJoh) und Philippus (ActPhil) sowie Thomas (ActThom), der im Johannesevangelium eigens hervorgehoben wird (Joh 11; 20). Auch Thaddäus wird in Mk 3,18 genannt, der nach der Abgar-Legende in Edessa Wunder wirkte. Obgleich dieser Text in Überlieferung und Gattung einen Sonderfall darstellt, wird doch Thaddäus explizit »Apostel« genannt (Eus. h.e. 1,13,11 V. 3 bzw. 1,13,14 V. 2f., Zählung Ackermann in diesem Band) und seine Sendung durch Jesus bzw. Thomas zum Toparchen Abgar mehrfach thematisiert. Bei »Matthias« (ActAndrMatt) handelt es sich um den nach Apg 1,23-26 an Stelle von Judas Iskariot in den Zwölferkreis nachgewählten Jünger, der hierbei auch explizit »den elf Aposteln« zugeordnet wird. Hinzu kommen Personen, die nicht direkt aus dem Jüngerkreis stammen, ja Jesus persönlich nicht gekannt haben, aber dennoch im Neuen Testament bzw. frühchristlichen Schrifttum als Apostel(in) bezeichnet werden, konkret Paulus (Apg; ActPlThecl) und Barnabas (ActBarn, vgl. Apg 14,14; 1  Kor 9,6). Einen Sonderfall stellt Thekla (ActThecl; MirThecl) dar, denn sie wird weder im Neuen Testament erwähnt, noch wird von einer direkten Beauftragung durch Christus berichtet. Gleichwohl wurde ihr in der Tradition der (Ost-)Kirche der Name »Apostelin« verliehen (vgl. Jensen 1995; Wesseling 1996; Hylen 2015, 111). Eine Chrysostomos zugeschriebene Homilie trägt etwa den Titel »Loblied auf die Heilige Protomärtyrerin und Apostelin Thekla« (dazu MacDonald/Scrimgeour 1986, 151-159), so dass Thekla mit gutem Recht in diesem Band aufgenommen wurde (dazu Merz, Hinführung zu ActPlThecl und Kollmann, Hinführung zu MirThecl in diesem Band).

1.3 Wundertaten – »im Namen Jesu« …

Wenn Apostel als Gesandte und Beauftragte handeln, wird damit zugleich ein Wesensmerkmal der Wundertaten der Apostel sichtbar: Jesus handelt mit eigener Macht und Autorität (ἐξουσία exousia, die von Anfang an betont wird, vgl. Mk 1,27; Lk 4,36; 5,24), während die Apostel im Auftrag und in Rückbindung an Jesus wirken. Ihre Tätigkeit steht in einem Verweiszusammenhang zu der des Meisters und bleibt ihr somit untergeordnet. So wird es im Blick auf die Sendungsmetaphorik in Joh explizit formuliert: »Der Gesandte (ἀπόστολος apostolos) ist nicht größer als der, der ihn gesandt hat« (Joh 13,16, vgl. aber auch Joh 14,12). 8

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Entsprechend besteht auch hinsichtlich der Wundertätigkeit der Apostel ein klares Gefälle. Die Jünger können aus eigener Macht nichts tun (vgl. Mk 9,18.28), sondern nur in der Nachfolge und Rückbindung an Jesus (bzw. Gott) Wunder wirken (so Apg 3,6). Immer wieder wird diese Unterordnung auch innerhalb der Apostelakten selbst thematisiert. Schon nach dem ersten Wunder der lukanischen Apg sagt Petrus: Als Petrus das sah, sprach er zu dem Volk: Ihr Männer von Israel, was wundert ihr euch darüber, oder was seht ihr auf uns, als hätten wir durch eigene Kraft oder Frömmigkeit bewirkt, dass dieser gehen kann? (Apg 3,12).

Diese Abhängigkeit und Unterordnung bleiben ein konstitutives Element auch in den späteren Erzählungen über die Wundertätigkeit der Christen und auch der Apostel im Besonderen. Der christliche Wundertäter handelt nicht eigenmächtig, sondern im Auftrag, weshalb Czachesz mit Recht von »commission narratives« spricht (Czachesz 2007b, 10-18). Sein wundersames Tun steht in unmittelbarer Abhängigkeit von Jesus bzw. durch ihn von Gott. Ein spezifischer Ausdruck dieser Verweisstruktur findet sich in der immer wiederkehrenden Wendung »im/auf den Namen Jesu«, mit der die Wundertat verbal begleitet wird. Bereits die rückkehrenden 72 Ausgesandten berichten, dass die Dämonen »dem Namen Jesu« untertan sind (Lk 10,17). Im unechten Markusschluss sind Exorzismen von bösen Geistern »im Namen Jesu« Erkennungszeichen der Glaubenden (Mk 16,17, s.o.) und auch am Beginn apostolischer Wundertätigkeit in der Apg wird sogleich unterstrichen, dass die Jünger hier nicht eigenmächtig handeln (so Apg 3,6 und 4,10: Gelähmtenheilung des Petrus und Johannes »im Namen Jesu«, dazu F. W. Horn in diesem Band; ferner Apg 16,18). Nach Apg 19,11 ist es Gott, der durch die Hände des Apostels (hier Paulus) handelt. Obgleich die Namensnennung häufiger im Zusammenhang mit Exorzismen auftritt, wird an Apg 3 erkennbar, dass sich die Namensnennung doch auch nicht darauf beschränken lässt und hier explizit eine Heilung einschließt. Der Handelnde stellt sich durch die Namensanrufung bewusst in eine Beziehung zum Namensträger und ordnet sein Tun ein und unter. Die Macht und Kraft des Namensträgers wird bei einem Handeln im Namen aufgerufen und vergegenwärtigt (so Kollmann 1996, 350f.; sowie Ruck-Schröder 1999, 182-191). Möglicherweise gab es im religionsgeschichtlichen Umfeld sogar spezifisch exorzistische Techniken mit Namensnennung (so Twelftree 2007, 126f. mit Blick auf Mk 9,38f.). Nach Mt 7,22 wird prophetische Rede, Exorzismus und allgemein »Wunder tun« im Namen Jesu genannt (»Es werden viele zu mir sagen an jenem Tage: […] Haben wir nicht in deinem Namen böse Geister ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Wunder getan?«). Allerdings macht gerade diese Stelle auch deutlich, dass die Namensnennung nicht als Technik oder Automatismus funktioniert. Denn obwohl hier vermeintlich »im Namen Jesu« gehandelt wird, wird die Tätigkeit von Jesus verurteilt, weil die Beziehungsebene gestört ist (»Ich kenne euch nicht«). Erfolgt in Mt 7,22 nur ein fiktiver Bericht, so erzählt Apg 19,11-17 tatsächlich von Exorzisten, den sieben Söhnen des Skevas, die im Namen Jesu Dämonen austreiben 9

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wollen, dabei aber schmählich scheitern (dazu Czachesz in diesem Band). Nicht die bloße Namensnennung, sondern die Urheberschaft ist wesentlich. Entsprechend lautet die direktere Formulierung (ohne Namensdeklaration) nach Apg 9,34: »Jesus Christus heilt dich, Äneas.« Auch in den späteren Apostelakten bleibt diese Abhängigkeit sichtbar, selbst wenn der Apostel immer stärker heroische Züge annimmt oder wie im Falle der zwillingshaften Überlagerung zwischen Thomas und Jesus bis zur Ununterscheidbarkeit mit Jesus verschmilzt (z.B. ActThom 6f. Jesus-Thomas im Brautgemach, zum Zwillingsmotiv vgl. Frenschkowski 2013). Dazu einige Beispiele: ActJoh 22fin: »Stehe auf im Namen Jesu Christi« (Erweckung der Kleopatra durch Johannes). ActJoh 25: Lykomedes zu Johannes: »Ich beschwöre dich bei dem Gott, in dessen Namen du uns erweckt hast.« ActJoh 83: »Stehe auf, Fortunatus, im Namen Jesu Christi, unseres Herrn.« ActPetr 11: Der Dämon des jungen Mannes wird »im Namen Jesu« ausgetrieben und zerstört danach die Kaiserstatue. ActPetr 13: Wiederbelebung eines Räucherfisches. »In deinem Namen, Jesus Christus, … werde vor allen lebendig und schwimme …« ActPetr 15: »Jesus Christus lässt dir sagen: Verstumme unter dem Zwang meines Namens und verlasse Rom bis zum kommenden Sabbat.« ActThom 119 (syr. Fass.): »Mein Herr Jesus, der Messias, ist mächtiger als alle Mächte, Könige und Herrschenden. Er öffnete die Türen und hüllte die Wächter in Schlaf.« ActAndr(Greg) 23,10: Trophime wird zur Prostitution gezwungen. Ein aufdringlicher Freier fällt tot um. »Bald darauf erweckte sie den Mann im Namen Jesu Christi …« ActPhil 6,20: »Philippus fuhr fort und betete ein zweites Mal, dann sagte er dem Kind: ›Im Namen Jesu Christi, sprich, stehe auf und lauf!‹ Sofort rief Theophilos: ›Der eine Gott ist der des Philippus, Christus Jesus, der mir das Leben (zurück)gab!‹«

Die Urheberschaft Jesu bzw. Gottes wird auf diese Weise ausdrücklich benannt, zugleich aber auch die Mitwirkung des Apostels betont. Nach ActPhil 6 spricht Jesus dem Apostel explizit Mut zur Wundertat zu (vgl. ActPhil 6,18: »Philippus blickte auf und sah Jesus rechts von ihm stehen und sagen: ›Hab keine Angst. Durch mich wird der Tote auferstehen‹.«). Die ›Synergie‹ zwischen Jesus und dem Apostel findet etwa in der Erweckungsbitte des Petrus einen typischen Ausdruck: »Und nun, Herr, erwecke vor aller Augen den von Simons Berührung Getöteten durch meine Stimme und deine Kraft!« (ActPetr 26, Übers. Lang 2015, 61). Die Rückbindung der Wunderkraft an Jesus (bzw. Gott) ermöglicht es ferner, dass die Wundertätigkeit nicht exklusiv an den Apostel (seinen Status oder gar sein Amt) gebunden ist, sondern auch weitergegeben werden kann. Der Apostel behauptet kein Privileg der Wunderkraft, wie es explizit in einer Rede des Petrus formuliert wird:

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Männer von Rom! Ich bin einer von euch, von menschlichem Fleisch und Sünder, doch ich habe Gottes Erbarmen erlangt. Daher richtet euer Augenmerk nicht auf mich, denn Wunder wirke ich nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Kraft meines Herrn Jesus Christus, der Richter ist über Lebende und Tote. Im Vertrauen auf ihn und von ihm gesandt, wage ich es, ihn zu bitten, er möge Tote erwecken (ActPetr 28; Übers. Lang 2015, 62).

Entsprechend kann der Apostel auch andere beauftragen und ermächtigen, ähnliche Wundertaten wie er auszuführen. Die zentrale Rückbindung an Jesus (bzw. Gott) hat somit eine zentrifugale Wirkung im Blick auf die späteren Wundertäter. So ruft z.B. Kleopatra auf Anweisung des Apostels ihren Mann Lykomedes ins Leben zurück (ActJoh 24), wobei gerade in der Deutung die enge Verknüpfung zwischen »Kleopatra – Apostel Johannes – Christus – Gott« gewahrt bleibt, so dass letztlich doch im Namen Jesu Christi in der Macht Gottes gehandelt wird. Nach ActPetr 11 ist es Marcellus, der selbst die zertrümmerte Kaiserstatue in Ordnung bringt, nach ActPetr 26 erweckt der Präfekt Agrippa den Jüngling, indem er ihm auf Anweisung des Apostels die rechte Hand hält. Die Frau des Virinus ruft ein totes Kind ins Leben zurück (ActAndr[Greg] 19). Nach ActPhil 6 beauftragt Philippus Ireus mit der Heilung des Aristarchus, der sie mit einem Kreuzzeichen ausführt. Drusiana erweckt sogar ihren »schlimmsten Feind«, Fortunatus, der sie zuvor noch schänden wollte (ActJoh 83). Und nach ActThom 53f. muss der Jüngling seine zuvor von ihm selbst getötete Geliebte im Auftrag des Apostels wiedererwecken (ActThom 54: »Geh, nimm ihre Hand und sprich zu ihr: ›Ich habe dich mit meinen Händen durch Eisen getötet und mit meinen Händen erwecke ich dich wegen des Glaubens an Jesus.‹«). Die letzten beiden Beispiele zeigen, dass die Wundertätigkeit offenbar auch für die Wundertäter eine rehabilitierende Funktion besitzt. Die Wunderkraft ist folglich zwar an Christus gebunden, bleibt aber nicht auf den Apostel begrenzt, sondern kann auf andere Wundertäter übergehen. Diese zentrifugale Dimension der Wundertätigkeit deutet sich bereits in der Beauftragung der 72 Ausgesandten im Lukasevangelium und mehr noch am Beispiel des »unbekannten Wundertäters« an: Johannes sprach zu ihm: Lehrer, wir sahen einen, der in deinem Namen Dämonen austrieb, und wir hinderten ihn daran, weil er uns nicht nachfolgte. 39 Jesus aber sprach: Hindert ihn nicht! Denn keiner, der ein Wunder in meinem Namen (δύναμιν ἐπὶ τῷ ὀνόματί μου dynamin epi tō onomati mou) tut, wird fähig sein, mich im nächsten Moment zu beschimpfen; 40 denn wer nicht gegen uns ist, ist für uns (Mk 9,38-40).

Es handelt sich hier um einen Exorzisten, der zwar »im Namen Jesu« handelt, aber doch nicht in die Nachfolge eintritt, also kein Jünger im Sinne der sonstigen Überlieferung ist. Vielmehr wird auch hier die Vielfalt der Wundertätigkeit der frühen Christen vorausgesetzt, die weder an ein Amt, noch Titel oder bestimmte gemeindliche Ordnungen gebunden ist (vgl. dazu Kelhoffer 1999). Möglicherweise mag hier ein Grund dafür liegen, dass es im Laufe der Zeit zu einer wahren Flut von Wundern kommt, zumindest zu einem inflationsartigen Anwachsen der Wundererzählungen. 11

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1.4 Der Wundertäter Paulus als Testfall

Richten wir den Blick noch einmal speziell auf Paulus. Er nennt sich selbst »Apostel« mit direkter Beauftragung durch Christus (Gal 1,1) und sieht sein Wirken in enger Bezogenheit auf den Herrn, ja sieht sich als einen »Nachahmer [μιμητής mimētēs] Christi« (1 Kor 11,1). Die Frage liegt deshalb nahe, ob Paulus entsprechend auch ein Nachfolger Jesu im Blick auf seine Wundertätigkeit war. War Paulus ein Wundertäter? Lange Zeit wurde die Frage, ob und in welchem Maße Paulus selbst Wunder vollbracht hat, in der Paulusforschung nur am Rande bearbeitet (vgl. den Überblick bei Twelftree 2013, 7-17). Dies lag zu einem guten Teil daran, dass die Quellenlage einen äußert inhomogenen Befund liefert. Während die narrative Pauluserinnerung (Apg, ActPl) voller Wundererzählungen ist, kommt das Thema »Wunder« in den authentischen Paulusbriefen nur am Rande vor. Im Kontext der Narrenrede erwähnt Paulus Wundertaten als Zeichen des Apostels (2 Kor 12,11-13, s.o.), auch im Ausblick auf die geplante Spanienmission und Rückblick auf seine bisherige Missionstätigkeit nennt er »Zeichen und Wunder« in der Kraft des Geistes als Beglaubigungszeichen des Evangeliums (Röm 15,18f.; ähnlich 1 Thess 1,5; 1 Kor 2,4; Gal 3,5). In 1 Kor 12,28 (vgl. 1 Kor 12,9.30) wird das Charisma der Heilung und Kraft- bzw. Wundertaten (ἔπειτα δυνάμεις, ἔπειτα χαρίσματα ἰαμάτων epeita dynameis, epeita charismata iamatōn) in einer Liste spezieller Beauftragungen und Gaben genannt. In all diesen Erwähnungen werden Wundertaten relativierend bei- und untergeordnet oder gar kritisch bewertet (zu 2 Kor 12 und mit der paradoxen Theologie der Schwäche kontrastiert, vgl. 2 Kor 12,9). Hinzu kommen noch ein paar Belege, in denen Ereignisse von Rettung und Heilung (z.B. 2 Kor 1,8-11; Phil 2,25-30) in den Briefen erzählt werden, ohne dass hier aber die klassischen Wundertermini zur Deutung herangezogen werden (vgl. die Diskussion der Stellen bei Twelftree 2013, 153-225). Angesichts dieses Befunds kann man sich dem Schluss kaum entziehen, dass für »Paulus Wunder überhaupt nicht wichtig waren« (Schreiber 1996, 282). Auch für Twelftree war Paulus kein Wundertäter und hat auch nicht den Anspruch erhoben, die Gaben des Heilens oder der Dämonenaustreibung zu besitzen (Twelftree 2013, 318: »Paul clearly did not see himself as a miracle worker«). Gleichwohl möchte er im Anschluss an Gal 3,3-5 und Röm 15,18 daran festhalten, dass das Evangelium in »Wort und Tat« gekommen ist. »The Gospel was also realized in the miraculous through the work of the Spirit« (Twelftree 2013, 319 sowie 225). Wundertaten sind also nicht zentraler Inhalt der Botschaft des Heils, sondern stellen bestenfalls »Begleiterscheinungen dar. Die Wunder sind der Verkündigung nachgeordnet, da erst im Wort der Glaube entstehen muss, der die Wunder als Zeichen der Geistesgegenwart erkennen kann« (Schreiber 1996, 272; ähnlich Kollmann 2000a, 82f.). Wie ist nun aber dieses Ergebnis mit der narrativen Pauluserinnerung zu vereinbaren, die die Wundertaten auf Schritt und Tritt zum Grundgerüst der Paulusmission erhebt? Schon in Apg werden neun Einzelwundertaten neben weiteren 12

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Summarien genannt. Für den Herausgeber der wiederentdeckten Handschriften der Paulusakten (P.Heid., P.Hamb.) ist die Wundermacht des Apostels »zum Leitmotiv für das ganze Werk geworden« (Schmidt 1905, 215). Wird in den Erzählungen alles »in den Nebel der Dichtung eingehüllt« (Schmidt, ebd., zum vollen Zitat siehe Merz, Hinführung zu ActPl) und der Legendenbildung freien Lauf gelassen? Einige Forscher haben nun versucht, diesen disparaten Befund auf je eigene Weise zu verknüpfen oder gar zu harmonisieren. Erst in neuerer Zeit hat man Lukas als Historiographen wiederentdeckt (Marguerat 2011; Keener 2012, Bd. 1, 90-115; Moessner 2016) und ihn nicht zuletzt sogar wegen seiner Wundererzählungen der tragisch-pathetischen Geschichtsschreibung zugeordnet (vgl. Plümacher 2004d; Dormeyer 2009b; dazu Zimmermann 2014c, 480-483). Könnte deshalb der historische Quellenwert nicht nur einzelner Perikopen wie z.B. die Heilung des Gelähmten (Apg 14,8-10) oder der Exorzismus an einer jungen Sklavin (Apg 16,16-19, so z.B. Schreiber 1996, 287, zurückhaltend Twelftree 2013, 319: »could be reliable«), sondern sogar aller Wundererzählungen in Apg (so Keener 2012, Bd. 1, 166-220; 320381) hinsichtlich ihrer historischen Zuverlässigkeit neu gewürdigt werden? Ferner hat besonders die fortdauernde Jesus-Paulus-Debatte für die Gattungsdifferenzen zwischen Briefen und Erzählung sensibilisiert. So wurde das Defizit an erzählender Jesustradition bei Paulus nicht durch Desinteresse, sondern durch die Rahmengattung begründet (vgl. Zimmermann/Zimmermann 1996; Jacobi 2015), ähnlich wie z.B. die Johannesbriefe keinen Erzählstoff präsentieren, obwohl man allgemein von einem einzigen Autor von Evangelium und Briefen ausgeht. Entsprechend könnte dieser Befund auch auf Paulus selbst angewandt werden. S. Alkier hat hingegen noch grundlegender bereits die Fragestellung auf semantischer und erkenntnistheoretischer Ebene problematisiert. Die Suche nach einzelnen Wundertaten anhand von Begriffen und Formen in den Paulusbriefen sei verfehlt, weil das Wunderphänomen grundlegender und umfassender diskutiert werden müsse, als es in Teilen der Forschung der Fall war. Die Ausweitung seiner Fragestellung ermöglichte dann auch eine neue Wahrnehmung der paulinischen Briefe im Horizont eines entsprechenden antiken wie gegenwärtigen Weltwissens, eines – wie er selbst es nennt – semiotisch beschreibbaren »Diskursuniversums« (Alkier 2001; ders. 2013). Nach C. A. Evans kann das Bild der Apostelgeschichte, das Paulus als Heiler und Exorzist zeichnet, uns helfen »(to) understand better what Paul means when, for example, he reminds his readers that he performed ›the signs of the apostle‹ while with them« (Evans 2006, 379). Für B. J. Lietaert Peerbolte besteht zumindest noch eine Strukturanalogie zwischen den Paulusbriefen und der späteren narrativen Paulusdarstellung dahingehend, dass die Wundertätigkeit hier wie dort nie als Ausdruck der Kraft und Macht des Apostels, sondern immer der von Jesus Christus betrachtet wird (»through the power of Jesus Christ«, Peerbolte 2006, 199). Es soll hier die Frage nicht selbst bearbeitet werden. Der Blick auf Paulus schärft jedoch noch einmal den Blick für die Fragestellung und Herangehensweise an das Wunderphänomen in diesem Buch. Im Kompendium steht die Narration 13

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über Wunder klar im Vordergrund. Es geht nicht um Wunderphänomene, Wunderereignisse oder Wunderwirklichkeit, sondern um die Wundererzählung. Entsprechend findet sich auch keine Kommentierung der Briefstellen, die sich thematisch mit Wunder im weitesten Sinn befassen. Die Debatte um Paulus als Wundertäter hat gezeigt, wie schwierig bis unmöglich es ist, aus der narrativ-literarischen Darbietung von Wundern, aus den Wundererzählungen also, Ableitungen bezüglich ihrer historischen Plausibilität zu machen. Und das, obwohl für Paulus die Quellenlage gemessen an geschichtswissenschaftlichen Standards hinsichtlich zeitlicher Nähe und Vielfalt des Materials eigentlich exzellent ist. Die historische Frage, ob nun Paulus oder schon gar ein anderer Apostel die Wunder tatsächlich vollbracht haben, oder welche Wundertaten eine höhere oder geringere historische Plausibilität haben könnten, spielt im vorliegenden Kompendium eine ganz untergeordnete bzw. gar keine Rolle. Damit wird die Frage nach der Wirklichkeit der Wunder nicht verabschiedet, wohl aber die methodisch kontrollierbare Prüfbarkeit der narrativ behaupteten Referentialität. Diese wird gleichwohl in narratologischer Hinsicht sehr ernst genommen. Die Wundererzählungen präsentieren sich grundsätzlich als Wirklichkeitserzählungen mit historischem Referenzanspruch (dazu Zimmermann 2013a, 36-40), nicht als Märchen oder Mythen (dazu vgl. Gattungsdefinition). Inwiefern dieser Anspruch der faktualen Erzählweise als Gattungsmerkmal (dazu Zimmermann 2014b, 322-324) auch bei den späteren Apostelakten noch aufrechterhalten wird, muss je im Einzelfall geprüft werden.

2. Die Wundererzählungen im Horizont der Apostelakten 2.1 Die Apostelakten – Expeditionen in weitgehend unbekanntes Terrain

Die Apostelgeschichten erfreuen sich seit einigen Jahren neuer Beliebtheit, dies gilt für die kanonische Apostelgeschichte des Lukas (vgl. Frey/Rothschild/Schröter 2009; Moessner 2016), aber fast noch mehr für die sogenannten »apokryphen«, d.h. nicht-kanonischen, Apostelakten (vgl. Bovon/Brock/Matthews 1999; Pervo 2015b). Besonders im ersten Drittel des 20. Jh. waren die nicht-kanonischen Apostelakten schon einmal im Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Im Kontext der religions- und formgeschichtlichen Schule war der Vergleich dieser Texte mit Umfeldtexten (z.B. dem hellenistischen Roman) beliebt, sei es im Blick auf die Makrogattung (Dobschütz 1902; Schmidt 1905; Reitzenstein 1906), sei es im Blick auf einzelne Motive (Söder 1932 = 1969; Blumenthal 1933; vgl. den Überblick über die ältere Forschung bei Del Cerro 1993). Das Interesse flaute allerdings zwischenzeitlich ab, und zwar aus mehreren Gründen: Die theologische Forschung des 20. Jh. war stark von einem historischen Ursprungs- bzw. Authentizitätsdogma bestimmt, nach dem die späteren Apostelakten wenig Aussichten auf verlässliche Erkenntnisse boten. Als historische Quellen für den erzählten Inhalt schieden sie schon aufgrund des großen Abstands zwischen ih14

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rer Entstehung (frühestens Mitte 2. Jh.) und der erzählten Zeit (ca. 100 Jahre früher) aus. Andererseits hatte die Forschung bis ca. Mitte des Jahrhunderts viel Fleiß in die Beantwortung der Frage verwandt, in welcher Nähe und Distanz auch die Apostelakten zur Gnosis (als der großen Herausforderung der Alten Kirche und deren ›Rechtgläubigkeit‹) standen (vgl. Lipsius 1887; Bornkamm 1933; zur Diskussion Schneemelcher/Schäferdiek 1997, 79-81). Eine veränderte Sicht auf die Gnosis (nicht zuletzt durch die Funde von Nag Hammadi, 1945) hat entsprechend diese Frage in den Hintergrund treten lassen oder zumindest deutlich variiert (vgl. Lalleman zu ActJoh). Schließlich haben sicher auch die Wertungsprädikate der früheren Forschung zu einer späteren Missachtung der Texte beigetragen, die sowohl theologisch als auch literarisch als minderwertig eingestuft wurden (vgl. dazu Klauck 2005, 261-269). Inzwischen haben einerseits einige spektakuläre Textfunde mit bislang unbekanntem Material bzw. ihre Editionen die Diskussion neu entfacht: so etwa Papyrus Bodmer 41 zur Ephesus-Episode der ActPl (bekannt seit 1956, ed. Kasser/Luisier 2004), die Handschrift Xenophontos 32 zu den Philippusakten (von Bovon in einem Athoskloster im Jahr 1974 entdeckt, dazu Bovon/Bouvier/Amsler 1999; Snyder 2014, Kap. 4) oder die Neuedition von Codex Vaticanus Graecus 808 zu den ActAndr (vgl. Roig Lanzillotta 2007; ders. 2011). Andererseits wurde auch der Eigenwert der nicht-kanonischen Apostelgeschichten neu gewürdigt, und zwar auf unterschiedlichen Ebenen: −

in religionsgeschichtlicher Verortung im Kontext antiker Religion und Kultur (z.B. MacDonald 1990a; ders. 1994a; Bremmer 1996-2001c);



in form- bzw. gattungsgeschichtlicher Hinsicht im Lichte neuerer Gattungstheorien (vgl. Pervo 1987; ders. 2015b; Cooper 1996; vgl. dazu den Themenartikel von Dormeyer in diesem Band);



in sozialgeschichtlicher Hinsicht, z.B. im Blick auf die darin möglicherweise gespiegelten sozialen Rollen z.B. von Frauen (Davies 1980; Burrus 1987; Del Cerro Calderón 2003; Hylen 2015);



in historiographischer Hinsicht vor dem Hintergrund eines differenzierteren Bildes antiker Historiographie (Plümacher 2004d; Schröter 2007; Frey/Rothschild/Schröter 2009; Moessner 2016);



in theologie- und missionsgeschichtlicher Hinsicht, z.B. zum Glaubensbegriff (Nicklas/Niederhofer 2017); als Spiegel für die Öffnung des Christentums für Gebildete mit paganem Hintergrund; oder als Quellen für die Entwicklung frühchristlicher Erinnerungslandschaften (Nicklas 2016);



in liturgiegeschichtlicher Hinsicht im Blick auf Taufe, Abendmahl, Ölsalbung etc. (z.B. ActThom für das syrische Initiationsritual; Messner 2009; Buchinger 2015);



in narratologischer Hinsicht als einer spezifischen Erzählgattung bzw. unter Benutzung spezifischer Motive und Symbole (wie z.B. Tiere, dazu Spittler 2008) oder im Kontext kognitiver Identitätstheorien (Czachesz 2007b; Snyder 2014).

Gleichwohl zeigt das neu erwachte Interesse an diesen Texten, dass die Forschung in vielerlei Hinsicht noch ganz am Anfang steht, ohne bereits konsensfähige Ergebnis15

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se vorweisen zu können. Dies gilt sogar bis hinein in die Grundfrage, welche Texte man überhaupt zu den Apostelakten rechnen soll.

2.2 Die Auswahl der Apostelakten in diesem Kompendium

Ausgangspunkt ist zunächst der zweite Teil des lukanischen Doppelwerks, die sogenannte Apostelgeschichte des Lukas (Apg), die im Kanon des Neuen Testaments die später hinzugefügte Überschrift Πράξεις Ἀποστόλων (Praxeis Apostolōn, lateinisch: Acta Apostolorum) trägt, die man im Wortsinn mit »Taten der Apostel« wiedergeben kann. Diese Klassifikation ist nicht unberechtigt. Denn obgleich inhaltlich auch Predigten bzw. Reden oder Gerichtsprozesse zum konstitutiven Bestandteil der erzählten Geschichten gehören, wird doch den Handlungen eine größere Aufmerksamkeit gewidmet. Neben der Reisetätigkeit und sakramentalen Handlungen (insb. Taufen) ragen hierbei Wunderhandlungen heraus (vgl. Del Cerro 1993, 215-221). Inhaltlich geht es in Apg konkret um die Aktivitäten der zentralen Handlungsfiguren Petrus und Paulus, die der Ausbreitung des Evangeliums in Wort und Tat in fremde Städte, Länder und sogar Kontinente dienen (z.B. die Missionsreisen des Paulus). Von kurzen Begegnungen abgesehen, werden in paralleler Anordnung die Handlungen von Petrus und Paulus nacheinander erzählt (dazu Kollmann, Hinführung Apg in diesem Band). Dieses Setting ist auch in den späteren Akten immer wieder anzutreffen, wobei meist nur noch ein Apostel bzw. eine Apostelin als Hauptcharakter im Zentrum der Handlung steht, was sich auch im Titel niederschlägt (z.B. Petrusakten, Thomasakten), teilweise reisen und wirken auch mal zwei Figuren einzeln (z.B. Thekla und Paulus in ActPlThecl) oder gemeinsam (z.B. Andreas und Petrus in ActAndrPetr; oder Andreas und Matthias in ActAndrMatt). Hinzu kommt in den späteren Apostelakten regelmäßig der Bericht über den gewaltsamen Tod des Apostels, also das Martyrium (was die Gattung der Acta eng mit Märtyrergeschichten verbindet, vgl. Moss 2013; Seeliger/Wischmeyer 2015). Das gewaltsame Ende des Protagonisten/der Protagonistin grenzt die Acta vom antiken Roman ab und bringt sie in größere Nähe zur Evangeliengattung. Dass der Apostel nicht nur in seinem Wunderhandeln, sondern auch in seinem Leiden und Sterben seinen Herrn Jesus Christus imitiert, wird etwa in den Acta Pauli besonders deutlich (vgl. Brock 1994; Pervo 2014, 64-66), was MacDonald dazu veranlasst hat, sogar das Diktum Kählers über das Markusevangelium (Passionsbericht mit ausführlicher Einleitung) auf die Apostelakten zu übertragen (vgl. MacDonald 1990b, 55: »A Pauline passion narrative with a long introduction«). Ein weiteres wesentliches Abgrenzungskriterium zum antiken Roman liegt in der asketisch-enkratitischen Tendenz der nicht-kanonischen Acta, in denen sexuelle Enthaltsamkeit (sogar in der Ehe) aufs engste mit der Christusnachfolge verbunden wird (vgl. Zimmermann 2001b, 530-561; Burrus 2004; Tissot 2015). 16

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Mit diesen rudimentären Grundstrukturen enden auch schon bald die Gemeinsamkeiten der unter dem Label »Apostelakten« gewöhnlich vereinten Texte. Die einzelnen Akten sind literarisch und theologisch so unterschiedlich (mit Schneemelcher/Schäferdiek 1997, 74), dass man ernstlich fragen muss, ob sie zu einer gemeinsamen Literaturgattung bzw. -tradition zu rechnen sind (s.u.). Entsprechend vielfältig sind auch die Akten, die in diesem Kompendium vereint sind. Der Band wird eröffnet durch die kanonische Apostelgeschichte des Lukas (s.o.). Von den sogenannten »apokryphen Apostelgeschichten« werden die fünf sogenannten großen oder »alten Apostelakten« des 2./3. Jh. (Klauck 2005, 10; Pervo 2015b, 68: »major apocryphal acts«) aufgenommen. Nach dem Zeugnis des byzantinischen Patriarchen Photius (9. Jh.) wurden diese in der mittelalterlichen Überlieferung zu einem Buch mit dem Titel »Wanderungen der Apostel« zusammengefasst und unter dem Namen des Leukius Charinus herausgegeben. Ich habe ein Buch gelesen mit den sogenannten ›Wanderungen der Apostel‹. Darunter befinden sich die Akten des Petrus, des Johannes, des Andreas, des Thomas, des Paulus (Phot. bibl. 114).

Das Zeugnis des Photius ist kein Einzelfall. Bovon listet eine ganze Menge von Verweisbelegen der ›alten Acta‹ in unterschiedlichen Gattungen (Hagiographie, Liturgie, Geschichtsschreibung, Homiletik) der byzantinischen Zeit auf (vgl. Bovon 1999a). Auch das Auftreten von Apostelgestalten in jüngeren Akten (so z.B. ActPhil 3: Petrus, Johannes, Andreas, Thomas und Matthäus) oder intertextuelle Berührungen (so z.B. ActPhil 5-6 auf ActPetr 21.29) können als Hinweis auf die Kenntnis der älteren Apostelakten gewertet werden. Nach Klauck kann man auch aus den Angaben eines Psalms aus dem manichäischen Psalmenbuch (4. Jh. n. Chr.) auf die Kenntnis dieser fünf Akten schließen, so dass sie zu diesem Zeitpunkt schon bekannt gewesen sein mussten (Klauck 2005, 11). Vor allem gelten die fünf großen bzw. alten Akten auch innerhalb der neueren Forschung nach wie vor als eine abgrenzbare Größe (vgl. Schneemelcher/Schäferdiek 1997; Bremmer 2001c; Pervo 2015b, 67-87; sowie die ganze Reihe »Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles«, 1996-2001). Von den zahlreichen sogenannten jüngeren Akten werden exemplarisch die Philippusakten (4. Jh.) sowie die Barnabasakten (Ende 5. Jh.) integriert, da sie eine vergleichsweise gute Textüberlieferung aufweisen und auch inhaltlich einiges Interessante zur Wunderthematik beitragen können. Hinzu kommen zwei Texte, die traditionell nicht im strengen Sinn zu den Apostelgeschichten, sondern eher den Heiligenlegenden gerechnet werden (dazu allgemein von der Nahmer 1994; Pratsch 2005; vgl. zur Gattung auch Becht-Jördens 2008). Dies ist zum einen das Buch »Wunder der Heiligen Thecla« (MirThecl), das zwischen 468475 n. Chr. im Umfeld eines Lokalheiligtums entstanden sein dürfte und von Wundern berichtet, die posthum, also nach dem Tod der Thekla, stattgefunden haben (dazu Kollmann, Hinführung zu MirThecl in diesem Band). Dies ist zum anderen die 17

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sogenannte Abgar-Legende, die nur sekundär über den Kirchenhistoriker Eusebius (Eus. h.e. 1,13,6-18, terminus ante quem 325 n. Chr.) überliefert ist und einen Briefwechsel zwischen dem edessinischen Herrscher Abgar und Jesus einschließt, der die kurze Erzählung über Wundertaten des Apostels Thaddäus in Edessa begründet. Nicht berücksichtigt wurden hingegen die sogenannten »Pseudo-Klementinen«, obwohl die darin thematisierte Auseinandersetzung zwischen dem Apostel Petrus und dem Magier Simon durchaus viel Material zum Thema Wunder birgt. Die hierbei als literarische Basis postulierte »Petrus-Simon-Novelle«, die vermutlich im 3. Jh. entstanden ist und die Acta Petri voraussetzt (Wehnert 2010, 32f.), ist aber nicht eigenständig überliefert, sondern nur in doppelter Verarbeitung erahnbar: zum einen durch die in Ich-Form stilisierte Geschichte des römischen Adeligen Klemens, die aber ebenfalls nicht erhalten ist (vgl. zum rekonstruierbaren Plot Klauck 2005, 233f.; Pervo 2010, 177-184; ders. 2015b, 82-84); zum anderen durch die beiden erhaltenen sogenannten Rezensionen der Klemenserzählung, der griechischen »Homilien« (H) und der lateinischen »Rekognitionen« (R). Bisher liegen weder eine synoptische Edition hierzu noch ein Rekonstruktionsversuch der Klemenserzählung oder der Petrus-Simon-Novelle vor. Obgleich in den beiden erhaltenen Werken erzählerische Elemente vorkommen, handelt es sich doch jeweils nicht um Texte der Makrogattung Erzählung (wie die Acta), so dass wir aufgrund der Überlieferungslage und Gattung diese Texte nicht im Einzelnen kommentiert haben. Bei aller Vorsicht, die hinsichtlich der Datierungen der Schriften nach wie vor geboten ist, kann man doch so viel sagen, dass im Kompendium Texte aus einem Zeitraum von vier Jahrhunderten (Ende 1. Jh. bis Ende 5. Jh.) dargeboten werden. Graphisch kann man folglich die Textbereiche folgenden vier Blöcken zuordnen: Neues Testament

Alte Apostelakten (Datierung nach Klauck 2005, 10)

Jüngere Apostelakten

Heiligenlegenden

Apostelgeschichte des Lukas (Apg) (ca. 90 n. Chr.)

1. Johannesakten (ActJoh) (ca. 150 n. Chr.)

1. Philippusakten (ActPhil) (4. Jh. n. Chr.)

1. Wunder der Heiligen Thekla (MirThecl) (Ende 5. Jh. n. Chr.)

2. Paulus-Thekla-Akten (ActPlThecl) (ca. 170 n. Chr.)

2. Barnabasakten (ActBarn) (Ende 5. Jh. n. Chr.)

2. Abgar-Legende (AL) (Anfang 4. Jh. n. Chr.)

3. Petrusakten (ActPetr) (ca. 190 n. Chr.) 4. Andreasakten (ActAndr) (ca. 200 n. Chr.) 5. Thomasakten (ActThom) (ca. 220 n. Chr.)

Tab. 1: Texte des Kompendiums nach klassischen Textgruppen

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Die Anordnung im Kompendium folgt allerdings nur lose diesem Schema nach Entstehungszeit bzw. Textgruppen. Wir beginnen mit der kanonischen Apostelgeschichte und schließen mit der Abgar-Legende. Aus inhaltlichen Gründen wird die Erzählung von den Wundern der Heiligen Thekla aber unmittelbar an die PaulusThekla-Akten angefügt. Ferner wurde die übliche Reihenfolge zwischen Andreasund Thomasakten vertauscht, weil mit den ActThom eine recht homogene Schrift vorliegt, während bei ActAndr mehrere Überlieferungsstränge nebeneinander präsentiert werden, von denen einige (z.B. ActAndrPetr) nicht vor dem 4.-5. Jh. zu datieren sind (vgl. Klauck 2005, 147).

2.3 Die Suche nach den Ursprungsakten

Die Inhomogenität der Texte zeigt sich aber sogar innerhalb einzelner Apostelgeschichten. Hierzu nur skizzenhaft einige Beispiele: Intensiv diskutiert wird die Einheitlichkeit der Paulus-Thekla-Akten (vgl. Merz, Hinführung ActPlThecl in diesem Band), und zwar sowohl aufgrund der speziellen Überlieferungssituation als auch im Blick auf eine gewisse literarische Eigenständigkeit der einzelnen Teile. Der 3. Korintherbrief fällt schon gattungsmäßig aus dem Rahmen der Erzählung und wird auch durch einen frühen Papyrus (P.Bod. 10, 3. Jh.; ed. Testuz 1959) eigenständig, ohne narrativen Rahmen bezeugt (vgl. dazu Snyder 2013, 148-188; Pervo 2014, 253255). In ähnlicher Weise zeigen der Thekla-Abschnitt (ActThecl) und das Martyrium (MartPl) eine je eigene Überlieferungsgeschichte ohne die restlichen Teile der Acta Pauli. Im griechischen Papyrus Hamburg (P.Hamb., ca. 300 n. Chr.; ed. Schmidt 1936) fehlt hingegen die Thekla-Episode, während der koptische Papyrus Bodmer 41 (P.Bod. 41, 4. Jh.; ed. Kasser/Luisier 2004) nur die Ephesus-Phase bezeugt. Einen recht umfassenden Erzählrahmen von der Damaskusbekehrung bis zum Martyrium in Rom setzt hingegen der jüngere Papyrus Heidelberg (P.Heid., 6. Jh.; ed. Schmidt 1905) voraus, allerdings fehlt hier das Ephesus-Material und der Papyrus ist insgesamt stark fragmentarisch. Doch wie ist nun dieser Befund zu beurteilen? Sollte man aufgrund des materialen Quellenbestands von je eigenen Texten z.B. des 3. Korintherbriefs (so Pervo 2010, 99-102; Twelftree 2013, 298) oder der Ephesus-Episode (so Snyder 2013, 66-99) ausgehen? Kann man aufgrund der Überlieferungslage der Thekla-Akten (mit ca. 50 Handschriften, ActPl mit drei fragmentarischen Handschriften) sowie inhaltlicher Erwägungen (z.B. die weitgehende Abwesenheit des Paulus; die Rolle der Frau) auf eine ursprünglich separate Entstehung dieser Texte schließen, die z.B. durch gender-sensible Literarkritik rekonstruiert werden kann (so etwa Esch/ Leinhäupl-Wilke 2005 sowie Esch-Wermeling 2008b; vorsichtiger Ebner/Lau 2005, 1-5)? Wer in dieser Weise weiterdenkt, gibt den Gedanken einer ursprünglichen Urschrift der Paulus-(Thekla-)Akten auf und sieht primär Einzelteile, die erst in späterer Überlieferung z.B. in Erweiterung des Martyriums zu einer übergreifenden Schrift zusammengewachsen sind (so Snyder 2013, 190-216). Die Mehrzahl der 19

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Forscher/innen hält aber hinsichtlich der ActPlThecl mit durchaus überzeugenden Gründen an einer ursprünglichen Schrift Ende des 2. Jh. fest, aus der dann einzelne Teile sekundär ausgegliedert und separat überliefert wurden (vgl. Merz, Hinführung ActPlThecl in diesem Band; ähnlich auch Pervo 2014, 61). Als zweites Beispiel soll kurz die Problematik der Andreasakten angesprochen werden. Obgleich auch hier eine alte Apostelgeschichte angenommen wird (Pervo 2015b, 68f.), zeichnet die Überlieferungssituation doch ein sehr unübersichtliches Bild: Einen Grundbestand des Textes verdanken wir einem Exzerpt in lateinischer Sprache, der sogenannten »Epitome« des Gregor von Tours aus dem 6. Jh., eine Technik, die in dieser Zeit durchaus üblich war (so gibt es z.B. auch einen Auszug der Thomasakten von Nicetas von Thessaloniki, vgl. BHG 1832; dazu Bovon 1999a, 89). Dann gibt es zahlreiche unterschiedliche griech. Fassungen des Martyriums, die so disparat sind, dass Lipsius und Bonnet die vielleicht weise Entscheidung getroffen haben, sie nicht zu kompilieren, sondern stattdessen in ihrer Textedition drei verschiedene Fassungen nebeneinander zu drucken (vgl. Lipsius/Bonnet 1959, 2/1, »Passio Andreae« [1-37], Martyrium Andreae prius [46-57]; Martyrium Andreae alterum [58-64]). Eine offenbar in sich geschlossene Episode erzählt weiter von den Taten des Andreas, nun gemeinsam mit Matthias im Land der Kannibalen. Allein zu dieser Episode gibt es wiederum fünf abweichende (jeweils lat.) Fassungen (zum Vergleich Roig Lanzillotta 2006). Unter weiteren griechischen und koptischen Handschriften mit unterschiedlichen Inhalten ragt der Codex Vaticanus Graecus 808 (Vat. gr. 808) heraus. Es erfordert schon beträchtlichen Mut, aus dieser disparaten Quellenlage eine einheitliche Geschichte unter Einbeziehung möglichst aller Fragmente zu (re)konstruieren, wie es D. MacDonald in seiner Ausgabe getan hat, in der er z.B. die Episode in der Stadt der Kannibalen als genuinen Textteil integriert (vgl. MacDonald 1990a; anders Prieur 1989; Hilhorst/Lalleman 2000; Näheres dazu Czachesz, Hinführung zu ActAndr in diesem Band). Den umgekehrten, nämlich minimalistischen, Weg geht hingegen Roig Lanzillotta, indem er sich einzig auf den Codex Vaticanus Graecus 808 konzentriert und in ihm die alten Andreasakten am klarsten bewahrt sieht (vgl. Roig Lanzillotta 2007; ders. 2011). Zuletzt sei noch auf die Philippusakten (ActPhil) verwiesen. Lagen lange Zeit nur Fragmente dieser Akten vor, wie z.B. der Codex Vaticanus Graecus 824, so fand François Bovon im Jahr 1974 in der Klosterbibliothek von Xenophontos auf der griechischen Halbinsel Athos mit dem sogenannten »Codex Xenophontos 32« längere Fassungen schon bekannter und zusätzlich bisher unbekannter Teile dieser Akten (Bovon 1999b; ders. 2012). Die Xenophontos-Fassung besteht aus 15 Akten und einem Martyrium (= 16 Akten). Die Vaticanus-Fassung besteht aus 9 Akten und einem Martyrium (= 10 Akten). Akte 2 war offensichtlich manchmal allein im Umlauf. Für Bovon und ihm folgende Forscher war man damit auf eine frühere und vollständigere Fassung der ActPhil gestoßen, während andere Forscher darin lediglich eine andere »Überarbeitung« bzw. »Variante« der ActPhil gesehen haben (so Snyder 2014), die nicht eo ipso als »ursprünglicher« gesehen werden müsse. Allein 20

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die Beobachtung, dass diese Sammlungen aus mehreren vorher unabhängigen Teilen bestehen, lässt Zweifel aufkommen, ob man an dem Gedanken einer ursprünglichen Apostelgeschichte des Philippus, den frühen ActPhil oder überhaupt an der Vorstellung eines »Buches« festhalten sollte. Es versteht sich von selbst, dass wir im Fokus dieses Bandes derart gravierende überlieferungsgeschichtliche Probleme nicht lösen können und wollen. Es scheint mir jedoch ein methodisch-hermeneutisches Grundproblem darin zu bestehen, dass man oft a priori von der Annahme einer Ursprungsfassung bzw. einer Urerzählung ausgeht, von der alle anderen Versionen abhängig sind – ein Postulat, das nicht nur hinsichtlich der Literarkritik der Synoptiker (z.B. bei der Rekonstruktion von Q), sondern auch hinsichtlich der Textkritik von Handschriften brüchig geworden ist. Im Sinne methodischer Vorsicht scheint es uns deshalb vernünftiger, etwa im Fall der Andreasakten, die verschiedenen Quellen nur im losen Verbund nebeneinander stehen zu lassen. Da es im vorliegenden Kompendium letztlich um die Interpretation einzelner Wunderepisoden geht, muss der Ort innerhalb einer Makro- oder gar Gesamterzählung dafür nicht abschließend bestimmt werden.

3. Wundererzählungen in den Apostelakten 3.1 Vom ›Wundermotiv‹ zur Gattung ›Wundererzählung‹

Auch wenn man die »Taten der Apostel« nicht pauschal als »Wundertaten« auffassen kann (s.o.), so ist es kaum übertrieben festzustellen, dass auf den Reisen der Apostel ständig Ereignisse geschehen, die man klassischerweise im exegetischen Diskurs den Wundern zurechnete. So werden fortwährend Menschen geheilt, vom Tode erweckt oder böse Geister ausgetrieben, und es passiert vieles mehr, was die Menschen staunen lässt und bekannte Realitätssysteme durchbricht. Auch in den zahlreichen Handlungssummarien (Apg 2,22; 2,43; 4,30; 5,12.15f. etc.) und metareflexiven Kurzformeln wie »Zeichen und Wunder« (σημεῖα καὶ τέρατα sēmeia kai terata, vgl. Apg 4,30; 14,3; 15,12 etc.; ActPetr 26, vgl. dazu Zimmermann 2013a, 18-22) oder »Unmögliches und Unglaubliches« (ἀδύνατα καὶ ἄπιστα adynata kai apista, ActJoh 31) wird das Wunderelement eigens hervorgehoben. Die Wunderthematik ist deshalb ein wesentlicher Bestandteil dieser Texte, auch wenn man im Blick auf die Makrogattung die Differenz zu den sogenannten »Paradoxographien« (einer listenartigen Sammlung wunderbarer Ereignisse, vgl. dazu Ziegler 1949; Giannini 1965; Brodersen 2002; ders. 2014) festhalten kann. Die Annäherungen an die Wunderthematik in den Apostelakten sind vielfältig. Nur im Blick auf die kanonische Apostelgeschichte wurde und wird die Frage nach der Referenzialität auf historische Ereignisse ernsthaft diskutiert (vgl. z.B. Keener 2012, Bd. 1, 320-382). Während bis in die neueste Auslegung der lukanischen Apostelgeschichte die Wunderthematik historisch abqualifiziert oder gar ignoriert 21

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wird (so z.B. Koch 2014 mit keiner einzigen Erwähnung), weist Keener mit Recht auf die hermeneutischen Vorurteile dieser Position hin (Keener 2012, Bd. 1, 382: »The a priori modernist assumption that genuine miracles are impossible is a historically and culturally conditioned premise […]«). Die Wundererzählungen müssen und dürfen nicht von vornherein in das Reich der Legenden verwiesen werden. Dies gilt besonders auch im Blick auf die antike Historiographie. Es war innerhalb der neueren Forschung besonders das Verdienst von Plümacher, auf die Bedeutung von Wundern (konkret: τερατεία terateia) innerhalb der antiken Geschichtsschreibung hingewiesen zu haben (vgl. Plümacher 2004d, 45f.59-66). Verfechter der pragmatischen Geschichtsschreibung, vornehmlich Polybius (z.B. Polyb. Hist. 3 und 16) sowie Plutarch (z.B. Cor. 37f.), polemisierten gegen das Erzählen von »krassen« Wundertaten bei Geschichtsschreibern, jedoch nicht generell gegen das Erzählen von Wundertaten. Aber selbst mit ihrer Kritik bestätigen sie, dass das Erzählen von Wundertaten Bestandteil eines Großteils der antiken Geschichtswerke war. Im Blick auf die Wundererzählungen der Acta heißt das, dass z.B. Lukas sich durch das Erzählen von mehr oder weniger krassen Wundertaten gerade nicht aus dem Kreis der antiken Historiographen hinauskatapultiert, sondern ganz im Gegenteil gerade durch seine Wundererzählung sich als solcher erweist (vgl. dazu Zimmermann 2014c, 480-483; dazu auch unten). Vergleicht man auf diese Weise die Acta hinsichtlich ihrer Wunderthematik mit anderen antiken Texten, so folgt man dem Pfad religionsgeschichtlichen Vergleichens bzw. der alten Formgeschichte. Entsprechend wurde in den Dissertationen aus den 1930er Jahren von R. Söder (1929; vgl. dies. 1969) und M. Blumenthal (1931; vgl. ders. 1933) das »Wundermotiv« als ein zentrales Form-Element der Apostelakten betrachtet. Söder hat dabei zusätzlich zwischen einem »aretalogischen« und einem »teratologischen Element« differenziert (vgl. dazu den Themenartikel von Dormeyer in diesem Band). »Aretalogien nennt man deshalb die Erzählungen von Wundertaten der mit besonderer Kraft begabten Menschen und Götter« (Söder 1969, 51). Insbesondere in den apokryphen Akten dienten nach Söder die Wundertaten der Vergöttlichung der Apostel selbst. […] Hier finden sich überall Massenwunder und ganze Wunderreihen, eben um das Volk anzulocken; das gleiche Wunder wird zwei- oder dreimal wiederholt, wenn die wundersüchtige Menge danach verlangt. Oft brüsten sich die Apostel mit ihrem ›Können‹, sie stehen noch über ihrem Herrn und Meister, sind nicht mehr seine Diener, sondern die Hauptpersonen, wie im gleichzeitigen griechischen Roman (Söder 1969, 51).

Bei dem »teratologischen Element« verselbstständigte sich nun das Wundermotiv und vermengte sich mit dem fiktiv Fabulösen, wie Söder am Motiv der Menschenfresser, Fabelländer, Tiere und Wunderpflanzen erläuterte. »So sind wir denn mitten in eine richtige Wunderwelt hineingeraten. Fabelländer und Fabelwesen, wunderbare Naturerscheinungen, überhaupt mannigfaches teratologisches Gut findet sich überall in den AGG [= apokryphen Apostelgeschichten, R.Z.]« (Söder 1969, 111). 22

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Blumenthal unterschied in seiner Untersuchung kategorisch zwischen Formen und Motiven, wobei »Wunder« sowohl bei den »Formen der Einzelstücke« (Blumenthal 1933, 88-96.102-105) als auch bei den »Einzelmotiven« (a.a.O., 144-152) vorkommen. Bei »Formen der Einzelstücke« sah Blumenthal Formen neutestamentlicher Herkunft wie die Erweckungserzählungen, Heilungswunder, Befreiungen aus Gefängnissen ebenso wie Naturwunder (z.B. Sturmstillung) und »übernatürliche Erscheinungen« (a.a.O., 88-96). Bei »außerneutestamentlichen Formen« sei eine enge Anlehnung an die Wunderdarstellung griechischer (nicht-jüdisch-/ christlicher) Texte bei Aretalogien, Straf- bzw. Doppelwundern sowie den Wunderketten erkennbar (a.a.O., 102-104). Bei der Untersuchung von Einzelmotiven z.B. bei Dämonenaustreibungen, Heilungs- und Naturwundern dominiert die Referenz auf neutestamentliche Texte (z.B. Blumenthal 1933, 146: »Schluß auf nt Herkunft zwingend« (sowie a.a.O., 153), einzig die Tierwunder weisen hier in einen anderen kulturellen und literarischen Bereich (z.B. Volkssage, Märchen). Die alten Untersuchungen sind zwar im Blick auf die Makrogattung formgeschichtlich ausgerichtet. Dabei war besonders die Frage der Nähe oder Distanz zum antiken Roman leitend. Auf der Ebene der Untersuchung von Einzelelementen wurde jedoch die Wunderthematik vor allem als inhaltlich bestimmtes »Motiv« betrachtet, das seinerseits nicht als gattungskonstitutiv für eine Mikrogattung (z.B. wie bei einer Rede oder einem Hymnus) betrachtet wurde. Wir haben im Kompendium demgegenüber eine literaturwissenschaftlich orientierte Herangehensweise an die Wundererzählung als literarischer Gattung sui generis bevorzugt, die im Folgenden nochmal in Erinnerung zu rufen und zu vertiefen ist.

3.2 Ein gattungsorientierter Zugang: Kriterien der Wundererzählungen

Im Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen wird ein gattungsorientierter Zugang zum Wunderphänomen vertreten. Das heißt, es geht primär weder um das wunderhafte Ereignis der Vergangenheit, noch um die Frage nach intertextuellen literarischen Bezügen von Wundermotiven. Textliche Elemente lassen sich vielmehr zu einem Merkmalsbündel zusammenfassen, das einen Textabschnitt als »Wundererzählung« erkennbar werden lässt. Damit ist nicht ein Modell der alten Formgeschichte präjudiziert, dass solchen Textabschnitten auch Perikopen entsprechen, die auf literarkritisch ablösbare Traditionsstücke zurückzuführen sind, die möglicherweise in vorausliegenden Quellen (wie der Semeia-Quelle bei Joh) oder in mündlichen Überlieferungsverfahren isoliert tradiert wurden. Die neuere dynamische Gattungstheorie muss die Identifizierung von Mikro-Gattungen nicht mit der Vorstellung von frei umlaufenden Einzeltexten verknüpfen. So hat die jüngere Forschung zu Hymnen gezeigt, dass man sehr wohl hymnische Abschnitte z.B. als gehobenen Stil bzw. epideiktische Passagen (Brucker 1997; ders. 2013) bzw. rhythmisierte Prosa (Gordley 2007) innerhalb eines Makrotextes identifizieren kann, ohne die Vorstellung von Bekenntnisformeln z.B. 23

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aus der Taufliturgie teilen zu müssen. Hymnen können einerseits aufgrund von gattungsspezifischen Textmerkmalen identifiziert werden (vgl. Leonhard/Löhr 2014), andererseits aber genuiner Bestandteil eines Makrotextes bleiben. Die lukanischen Hymnen der Kindheitserzählungen wie das Magnifikat (Lk 1,46-55) oder das Benedictus (Lk 1,68-79) sind als Lieder beschreibbar, können aber sehr wohl integraler Bestandteil des Evangeliums sein und vom Autor selbst stammen. Entsprechend können wir Abschnitte als »Wundererzählung« beschreiben, ohne damit ein bestimmtes Modell der Texttradierung bzw. Patchwork-Traditionsliteratur annehmen zu müssen. Während für das lukanische Doppelwerk und besonders auch für die Apg zutreffen mag, dass hier unterschiedliche Quellen verarbeitet sind (wie der Prolog ja selbst hervorhebt, vgl. Lk 1,1-4), kann man bei manchen der späteren Acta annehmen, dass hier in den jeweils vorliegenden Fassungen eine schriftstellerische Leistung aus einem Guss vorliegt. In Band 1 des Kompendiums der frühchristlichen Wundererzählungen wurden sowohl grundlegende Überlegungen zur Möglichkeit der Gattungsdefinition im Licht neuerer Gattungstheorien als auch zwei Definitionen der (Mikro-)Gattung »Wundererzählung« gegeben (Zimmermann 2013a, 29-32.36-40). An anderer Stelle wurden diese ausführlich reflektiert und weiter expliziert (Zimmermann 2014b und ders. 2014c). Diese Vorarbeit muss hier vorausgesetzt und kann nicht wiederholt werden. Um dem hier vorliegenden Band dennoch eine gewisse Eigenständigkeit zu geben, sollen die Definitionen gleichwohl noch einmal abgedruckt und vor dem Hintergrund der hier besprochenen Textgrundlage der Wundergeschichten der Apostelakten an einigen Punkten vertieft werden.

3.2.1 Die Kriterien der Gattung Wundererzählung – revisited

Die erste Definition versteht sich als eine konstruktiv-analytische Nominaldefinition im Sinne neuerer dynamischer Gattungstheorien (vgl. Fricke 2010; Zymner 2010). Gattungen sind hierbei Konstruktionen der Meta-Kommunikation, was sowohl für die wissenschaftliche Deskription als auch für die kommunikative Praxis mit Texten gilt. Sie existieren nicht an und für sich, können aber im Vollziehen und Beschreiben von Kommunikationsakten äußerst hilfreich sein. Wenn hierbei von Kriterien die Rede ist, dann sind diese nicht als fixe Parameter zu verstehen, sondern vielmehr als Merkmale, die eine Gruppe von Texten aufweist und damit Kommunikationsteilnehmern (bzw. den Autoren oder Rezipienten dieser Texte) ermöglicht, den Einzeltext einem Texttyp zuzuordnen. Gattungen zeichnen sich durch Merkmalsbündel von Texten aus. Da Einzeltexte stets an Kriterien unterschiedlicher Texttypen partizipieren (also immer in gewisser Weise einer Mischgattung angehören), werden in der Regel nie alle Kriterien von einem Text erfüllt. Es hat sich deshalb als sinnvoll erwiesen, im Sinne der Wittgensteinschen Idee der Familienähnlichkeit zwischen »notwendigen« (und) und »fakultativen« (und/oder) Kriterien zu unterscheiden. 24

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Die folgende Definition bezieht sich auf frühchristliche Texte, hat somit ein relativ enges Textcorpus als Ausgangspunkt (kursive Teile), ist aber anschlussfähig für weitere Gattungsdefinitionen in ähnlichen Feldern (z.B. Wundererzählungen in der Antike allgemein oder gar in der Literaturgeschichte; vgl. dazu Zimmermann 2013a, 30-32): »Wundererzählung« – Definition 1: Eine frühchristliche Wundergeschichte ist eine faktuale mehrgliedrige Erzählung (1) von der Handlung eines Wundertätigen (Jesus, Apostel, Christusgläubiger) an Menschen, Sachen oder Natur (2), die eine sinnlich wahrnehmbare, aber zunächst unerklärbare Veränderung auslöst (3), textimmanent (4a) und/oder kontextuell (4b) auf das Einwirken göttlicher Kraft zurückgeführt wird und die Absicht verfolgt, den Rezipienten/die Rezipientin in Staunen und Irritation zu versetzen (5a), um ihn/sie damit zu einer Erkenntnis über Gottes Wirklichkeit zu führen (5b) (allgemein: Erkenntnis zu führen) und/oder zum Glauben bzw. zu einer Verhaltensänderung zu bewegen (5c) (allgemein: an eine nachfolgende Handlung zu appellieren).

Die Definition versucht bewusst, die beiden in der Erzähltheorie differenzierten Aspekte des »Wie« (Form/Darstellungsweise) als auch des »Was« (Handlung/ Gegenstand) der Erzählung aufzunehmen. Das erste Kriterium bezieht sich primär auf die Form, während die Bereiche 2-4 inhaltlich bestimmt sind und 1 bzw. 5 die Darstellungsweise bzw. den Erzählakt betreffen. Die Definition verbindet zugleich harte, gattungskonstitutive Kriterien mit weichen, möglichen Kriterien bzw. lässt offen, ob z.B. die Erklärung des Unerklärlichen durch das Einwirken göttlicher Kraft bereits textimmanent oder lediglich kontextuell, d.h. durch die Einbettung in die Makroerzählung, vollzogen wird. Mit anderen Worten, es sind fünf Elemente miteinander verknüpft (vgl. dazu Zimmermann 2014b, 322-343 mit Erläuterungen): 1. Narration: Eine Wundergeschichte ist eine mehrgliedrige Erzählung, die in faktualer Erzählweise präsentiert wird. 2. Handlungsfigur und Handlung: Ein Wundertäter vollzieht eine konkrete Handlung an Menschen, Sachen, Natur. 3. Handlungsfolgen: Die Handlung löst eine sinnlich wahrnehmbare Statusveränderung aus, die aber unerklärbar ist und die übliche Ordnung bzw. Norm durchbricht. 4. Urheber – Deutung: Das Einwirken Gottes bzw. göttlicher Kraft wird direkt oder indirekt als Grund der Veränderung benannt; die Unerklärbarkeit wird damit mit einem spezifischen Deutungsangebot verbunden. 5. Wirkungsästhetik: Die Erzählung hat eine spezifische Wirkung auf den Rezipienten bzw. die Rezipientin, sie wirkt irritierend, kognitiv erschließend, pistisch motivierend und ethisch appellativ.

Im Blick auf die Wundererzählungen innerhalb der Apostelakten besteht hinsichtlich Narration (1) ein wesentlicher Unterschied zwischen Wundererzählungen der kanonischen Wunder Jesu bzw. der Apostel und der späteren Wundertradition 25

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in der Verschränkung der Einzelerzählung mit dem Kontext der Makroschrift. Während sich Wundererzählungen in kanonischen Texten (vermutlich aufgrund der Genese und Überlieferung dieser Texte als Traditionsliteratur) oft als in sich relativ geschlossene Miniaturerzählungen leicht gegenüber dem Kontext der Makro-Gattung abgrenzen lassen, sind die Wundergeschichten in den späteren Akten (vermutlich eher Autorenliteratur) so eng mit den Gesamterzählungen verwoben, dass oft eine Perikopen bezogene Betrachtung schwer bis unmöglich wird. Dies führt auch in der Darstellung der Übersetzungstexte im Kompendium dazu, dass der längere MakroKontext durch Paraphrasen eingeholt werden muss. Man erkennt hier zugleich eine Gattungsdifferenz zu den byzantinischen Sammlungen von Wundergeschichten (z.B. die Wunder des Artemios, vgl. dazu Nesbitt 1997), bei denen die Makro-Story zugunsten einzelner Episoden ganz in den Hintergrund tritt. Gleichwohl können auch in den Apostelakten einzelne Abschnitte als MikroWundererzählung identifiziert werden, die auch eine Mehrgliedrigkeit unterschiedlicher Elemente aufweisen. Die sechs Grundelemente lassen sich recht konstant wiederfinden (vgl. die Tabelle in Zimmermann 2014b, 328, die Ziffern »U 2« etc. beziehen sich auf die dort erläuterte Terminologie): 1. Auftreten des Wundertäters und anderer Figuren (U 2) 2. Charakterisierung der Not (des Mangels, des Problems) (U 3) 3. Begegnung mit dem Wundertäter (U 4) 4. Wunderhandlung (im engeren Sinn) (U 7) 5. Konstatierung einer Veränderung (U 8) 6. Reaktionen der Figuren (U 9)

Darüber hinaus gibt es dann noch eine ganze Reihe von Erzähldetails, die optional und in unterschiedlichen Kombinationen hinzutreten können. Die faktuale Erzählweise (dazu Zimmermann 2014b, 324f.) gilt grundsätzlich auch in den Apostelakten ungeachtet ihrer Nähe zum Roman, der ja fiktional erzählt wird (vgl. dazu den Themenartikel von Dormeyer in diesem Band). Bezüglich der Handlungsfigur und Handlung (2) wurde ausführlich im ersten Abschnitt dieser Hinführung erörtert, dass der Wundertäter prinzipiell der Apostel bzw. die Apostelin ist, die aber ihrerseits auch weitere Menschen für die Tat beauftragen können. Der Apostel ist im figurenanalytischen Sinne der Handlungsträger, gleichwohl wird seine Handlung direkt (z.B. mit Namensnennung) oder indirekt (z.B. mit Kreuzeszeichen, oder im Kontext) auf Jesus oder Gott als den eigentlichen Urheber der Handlung zurückgebunden. Die Übertragung der Heilkraft kann nicht nur durch Menschen, sondern sogar durch Sachen erfolgen. Dieser früher als ›magisch‹ abqualifizierte Zug findet sich bereits im Kanon: Bei Jesus wird die Heilung der blutflüssigen Frau etwa ohne sein direktes intentionales Handeln durch die Berührung seines Gewands ausgelöst (vgl. Mk 5,27-30; dazu Kahl 2013; vgl. summarisch auch Lk 6,19). In Apg 19,11-12 sind es nicht nur die Hände des Apostels, sondern auch die Kleidungsstücke, durch die medial die Wunderkraft Gottes wirken kann: 26

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Und Gott wirkte außergewöhnliche Wundertaten (δυνάμεις τε οὐ τὰς τυχούσας dynameis te ou tas tychousas) durch die Hände des Paulus, so dass auch die Schweißtücher und andere Tücher seiner Haut zu den Kranken getragen wurden, und die Krankheiten wichen von ihnen, und die bösen Geister fuhren aus (Apg 19,11-12).

Diese medial durch Gegenstände vermittelte Wunderkraft der Apostel findet sich auch in den Wundererzählungen der nicht-kanonischen Apostelgeschichten (vgl. ActThom 170; ActTit 11; ActBarn 15). Dass auch die Knochen des Apostels, die Grabstätte oder Kleidungsstücke gewirkt haben, ist die Voraussetzung für den späteren Reliquien- und Wallfahrtskult (vgl. zu Sekundärreliquien Pfister 1912, 532f.; Fascia 2013, 825). Das behutsam formulierte Summarium in Apg 19 hält das Bewusstsein dafür wach, dass nicht die Gegenstände per se wunderwirksam sind, was in der späteren Wirkungsgeschichte teilweise aus dem Blick geraten ist. Einen Sonderfall stellen die Wundererzählungen dar, in denen Tiere selbst zu Handlungssubjekten werden, wie z.B. die Schlange, die nach ActJoh 30-38 eine Totenerweckung vollzieht, wenn auch im Auftrag des Apostels (vgl. dazu den Themenartikel von Neureiter/ Spittler in diesem Band). Besonders das Spektrum der Handlungen »an Menschen, Sachen, Natur« wird in den Apostelakten gegenüber den Evangelien beträchtlich ausgeweitet (vgl. Bovon 2003, 255: »all sorts of miracles and fantastic occurences«; im Unterschied auch zum engen Spektrum der Wunderhandlungen in Märtyrergeschichten, vgl. dazu Moss 2013, 286f.). Was in der Forschung vielfach und unpräzise als »Untergattung« bezeichnet wurde, kann hier auf der Ebene unterschiedlicher Handlungsfelder differenziert werden: So finden sich alle auch aus dem Kanon bekannten Bereiche wie Krankenheilung, Exorzismen und Totenerweckungen, darüber hinaus aber auch noch weitere Handlungsfelder wie Handlungen an und mit Tieren, Strafwunder etc. Um für das Spektrum der Heilungen ein spätes Beispiel zu nennen, sei auf die Schrift »Leben und Wunder der Thecla« verwiesen. Dort lesen wir von der Heilung von Halswirbelverrenkung (MirThecl 7), gebrochenen Beinen (MirThecl 8; 17f.), eines Tumors am Hals (MirThecl 11), von Milzbrand (MirThecl 12), Augenentzündungen oder Blindheit (MirThecl 23-25; 37), Nierenbeschwerden (MirThecl 40), vereiterten Ohren (MirThecl 41) und einer Gesichtsentstellung (MirThecl 42). Die Präzision der Auflistung dieser Krankheitsbilder hängt hier gewiss auch damit zusammen, dass das Thekla-Heiligtum vermutlich auf ein im Zuge der konstantinischen Wende ›christianisiertes‹ Apollon-Sarpedonios-Heiligtum aufbauen konnte (Einzelheiten dazu Kollmann, Hinführung; sowie allgemein Pratsch 2013, 71-73). Während die kanonische Apg hinsichtlich der Exorzismen auffallend zurückhaltend ist (sie fehlen in Summarien; es findet sich kein Exorzismus mit Petrus als Wundertäter; zu Paulus nur Apg 16,16-18; misslungener Exorzismus der Söhne des Skevas in Apg 19,13-17), finden sich Dämonenaustreibungen regelmäßig in späteren Akten, wie z.B. der Exorzismus des Paulus in Tyrus (ActPl 7), des Petrus im Haus des Marcellus (ActPetr 11), des Andreas (ActAndr[Greg] 5; 6; 17; 27; 29) oder des Thomas (ActThom 42-50; 75-77; 170). Im Vergleich zu anderen Wundertaten (z.B. Heilungen) treten die Exorzismen aber deutlich in den Hintergrund. In einigen Acta (wie ActJoh, ActBarn) fehlen Exorzismen an Menschen vollständig. Kommen Totenerweckungen im Kanon doch nur selten vor (bei Jesus die Tochter des Jairus [Mk 5] und Lazarus [Joh 11]; bei den Aposteln Tabita [Apg 9] und Eutychus [Apg 20]), so sind sie in den apokryphen Apostelakten an der Tagesordnung. Innerhalb der insgesamt nur

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acht Wundererzählungen der Johannesakten wird beispielsweise von vier Totenerweckungen an sieben Personen berichtet: ActJoh 19-24 (Lykomedes), ActJoh 46f. (Artemispriester); ActJoh 48-54 (Vater); ActJoh 63-86 (Kallimachos, Drusiana, Fortunatus). Dramaturgisch wie ein großes Finale werden in der Grabkammer der Druisiana gleich drei Tote wieder ins Leben gerufen, wobei der mutwillige Leichenschänder Fortunatus das neue Leben verwirft (ActJoh 83: »Ich wollte, ich wäre nicht auferweckt worden, sondern weiterhin tot, damit ich sie nicht sehen muss.«) und in Folge seines ›unheilbaren‹ Liebeswahns kurz darauf erneut stirbt. Eine ähnlich spektakuläre Dreifacherweckung lesen wir in den Petrusakten auf dem Forum Iulium (ActPetr 25-29). Aber auch in den anderen Akten zeichnet sich ein ähnliches Bild mit vielen Erweckungen (vgl. ActPl 2; 5 [P.Heid. p. 30]; 11; ActPetr nach Ps.-Tit.; ActAndr[Greg] 7; 14; 18; 23; 24; 29-32; ActThom 21f.; 54; ActPhil 1; 6). Auch Sach- und Naturwunder finden sich in den Acta zahlreich. So lesen wir von der Macht über Naturgewalten wie Wind und Wasser: Analog zu Jesu Sturmstillung (vgl. Mk 4,35-41) bewirken Andreas oder Thekla eine Sturmstillung (ActAndr[Greg] 8; MirThecl 15), wie umgekehrt nach der Taufe des Steuermanns Theon durch die Hilfe von Petrus die Windstille überwunden wird und ein kräftiger Wind das Schiff bis ans Ziel bringt (ActPetr 5). Ein bereits in Apg variationsreich verwendetes Erzählmuster ist die Befreiung aus dem Gefängnis, indem Türen sich öffnen und Ketten abfallen (Apg 5,19; 12,6-11; 16,26f.). Derartige Türöffnungswundererzählungen sind besonders in ActThom häufig (vgl. ActThom 119-122; 151-154 und 162, vgl. auch ActAndrMatt 19-21). Daneben wird von der Wiederbeschaffung von Diebesgut erzählt (der durch Simon gestohlene Besitz des Eubola nach ActPetr 17f.; Thecla offenbart den Betroffenen im Schlaf die Identität des Diebes und den Aufbewahrungsort der gestohlenen Gegenstände, vgl. MirThecl 21f.; 43), Gegenstände werden vor Zerstörung bewahrt (MirThecl 10: Inschrift) bzw. nach Zerstörung wieder hergestellt (z.B. die zertrümmerte Kaiserstatue durch Wasserbesprengung, ActPetr 11). Eher seltener kommen Speisungswunder (Brot, ActPl 12) oder Weinwunder (ActPhil 15,4f.) vor. In einigen Handlungskreisen gehen die Apostelwunder deutlich über das Spektrum der kanonischen Wundererzählungen hinaus: Das betrifft die Schauwunder, die Strafwunder sowie die Tierwunder und Befähigungswunder. Sowohl bei den Erzählungen zu den Jesuswundern als auch in Apg finden wir eine kritische Distanz zu sogenannten Schau- bzw. Massenwundern. Nicht so in den apokryphen Apostelakten. In dem leider nur fragmentarisch erhaltenen Wundertext ActJoh 30-36 wird die Heilung an »alten Frauen über sechzig aus ganz Ephesus« effektvoll im Theater der Stadt vor den Augen der ganzen Stadt inszeniert. Ein missglücktes Schauwunder ist das Schweben des Magiers Simon, dem aber Petrus ein abruptes Ende setzt (ActPetr 30-32). Andreas lässt coram publico ein Kamel tatsächlich durch ein Nadelöhr gehen (ActPetrAndr 13-21). Ähnliche Beispiele finden sich auch in den anderen Acta (z.B. ActPetr 25; 31; ActThom 59; ActAndr[Greg] 12; 24; ActBarn 19). Auch zu wunderbaren Strafhandlungen (vgl. dazu auch Themenartikel von Henning in diesem Band) gibt es mit der Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11) und dem plötzlichen Tod der unehrlichen Spender (Apg 5) sowie der Blendung des Barjesus Elymas (Apg 13) kanonische Vorbilder. Dieser für moderne Ohren gewöhnungsbedürftige Bereich ›schwarzer Pädagogik‹ wird jedoch in den Apostelakten gravierend ausgeweitet. Dabei kann man drei Bereiche differenzieren: Menschen werden (oft mit dem Tod) bestraft aufgrund von moralischen Vergehen wie z.B. Tempelraub (MirThecl 28), versuchter Vergewaltigung (MirThecl 34), sexuellen Praktiken und Begierden (ActJoh 74-84; ActThom 53f.) oder brutaler Gewaltausübung (ActAndrMatt 22-23). Hier gibt es auch keine Gnade für höher gestellte Persönlichkeiten wie den Ratsherr Pappos aus Eirenoupolis, der Kinder um ihr Erbe prellen will (MirThecl 35). Ein eigener Topos ist das Aufdecken der Vergehen beim Empfang der Eucharistie wie in ActPetr 2 (Rufina wird halbseitig gelähmt) oder ActThom 53 (dem jungen Mann verdorrt die Hand am Kelch). Andererseits werden Personen betraft, die die Ausbreitung des Evangeliums bzw. die Apostel behindern. So wird z.B. der ältere Sohn des Hermokrates,

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Hermippus, der Paulus mit einer Schar bewaffneter Männer nachstellt und töten will, mit Blindheit geschlagen (ActPl 5, P.Heid. p. 28-35). Oder der Mundschenk, der Thomas schlägt, wird von Hunden aufgefressen (ActThom 6). Gegenspieler (exemplarisch Simon Magus, vgl. ActPetr 9; 30-32) oder auch Scharlatane (Apg 19,11-19) müssen ebenso für ihr frevelhaftes Tun büßen. Selbst Amtsträger, die die Ausbreitung des Evangeliums und spezifisch auch des Thekla-Kults verhindern wollen, werden bestraft. So stirbt der Bischof Marianos, weil er den Gläubigen die Teilnahme am Theklafest in Seleukia untersagt hatte (MirThecl 29). Eng damit verbunden ist ein dritter Bereich, denn häufig werden auch nicht-christliche Tempel und Heiligtümer zerstört. So wird der Artemistempels von Johannes (ActJoh 42) oder der Apollotempel von Sidon auf das Gebet des Paulus hin zerstört (ActPl 6, P.Heid. p. 35-39 fragmentarisch). Nach ActBarn 19 lässt Barnabas ein Stadion einstürzen. Nach MirThecl 3-5 werden Athene, Aphrodite und Zeus aus Seleukia vertrieben. Ein faszinierendes Kuriosum der Apostelakten stellen die sogenannten Tierwunder dar, d.h. hier werden Handlungen erzählt, bei denen Tiere in einer Weise agieren, die jede Norm der Erfahrung im Umgang mit diesen Geschöpfen durchbricht (vgl. dazu den Themenartikel von Neureiter/Spittler in diesem Band). Eine genaue Auflistung der ca. 30 genannten Tierarten würde den Überblick hier sprengen (dazu Spittler 2008, 6). Die Tiere können nicht nur denken und sprechen (z.B. der Löwe in ActPl 9 oder der Hund in ActPetr 10-12), sondern repräsentieren bald das ganze Spektrum sonstiger (menschlicher) Handlungsfiguren. Entsprechend können sie dem Apostel nützlich sein (die kluge Schlange verhindert die Schändung der Drusiana, vgl. ActJoh 71; dämonenkundige Wildesel nach ActThom 74-79; die Schlangen-Dämonen helfen beim Kirchenbau nach ActPhil 11) oder ganz im Gegenteil eine feindlich-dämonische Macht repräsentieren (die liebestolle Schlange nach ActThom 30-38). Besondere Aufmerksamkeit haben in der Forschung die »gehorsamen Bettwanzen« (ActJoh 60-61) oder der »getaufte Löwe« (ActPl 9) sowie der »reanimierte Räucherfisch« (ActPetr 13) auf sich gezogen. Zuletzt gibt es eine Reihe von wunderbaren Bewahrungen oder Befähigungen, besonders in der Thekla-Legende. Thecla erweist sich nicht nur als Schutzheilige für die Regionen Seleukia, Ikonion und Dalisandos (MirThecl 5f.; 26), sie verhilft z.B. auch dem General Satornilos zum Erringen militärischer Siege (MirThecl 13) oder rettet Seleukia vor dem Angriff der Hagarener (MirThecl 5). Sie bewahrt den Verfasser auch vor Exkommunikation (MirThecl 12) oder verhindert die Einrichtung von Grabstätten in der Theklakirche (MirThecl 30). Die Heilige befähigt die Analphabetin Xenarchis zum Lesen (MirThecl 45).

Anders als bei Epiphanien oder Visionen kommt es bei einer Wundererzählung auf die sinnliche Wahrnehmbarkeit einer Handlungsveränderung an. Auf der Ebene der erzählten Welt muss gesagt werden, ob und was sich ändert, konkret, ob ein Kranker gesund oder ein Toter wieder lebendig geworden ist. Die Konstatierung der Handlungsfolgen (3) kann durch den auktorialen Erzähler erfolgen oder innerhalb der Figurenwelt eine Stimme finden. So fragt z.B. Mygdonia, wie der Apostel aus dem Gefängnis gekommen sei, oder die Wächter fragen, wie es sein kann, dass die Türen offen und die Insassen dennoch da sind (ActThom 119122). Oder die Jünger des Johannes wundern sich, als sie die Wanzen am Türrahmen sitzen sehen (ActJoh 60). Häufig wird gerade durch die erzählte Reaktion von Zuschauern oder Betroffenen selbst die Normdurchbrechung zum Ausdruck gebracht (z.B. ActPhil 6,20). Das, was sich hier ereignet hat, ist nicht ›normal‹. Es irritiert und verstört. Oder erweckt so viel Aufsehen, dass z.B. der lebendig gewordene Räucherfisch zu einer Attraktion wird, der von Schaulustigen bestaunt werden muss (ActPetr 13). 29

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Nahezu idealtypisch wird Statusveränderung und Reaktion beim ersten Wunder der Apostelgeschichte, bei der Heilung des Gelähmten durch Petrus (und Johannes), beschrieben: Und er fasste ihn an der rechten Hand und richtete ihn auf; auf der Stelle aber wurden seine Füße und Knöchel gefestigt, 8 und er sprang auf und stellte sich hin und lief umher und ging hinein mit ihnen ins Heiligtum, (dort) lief er umher, sprang und lobte Gott. 9 Und es sah ihn das ganze Volk (εἶδεν πᾶς ὁ λαὸς αὐτόν eiden pas ho laos auton), wie er umherlief und Gott lobte. Sie erkannten ihn aber, dass er es war, der beim Schönen Tor des Heiligtums gesessen und gebettelt hatte, und sie wurden mit Staunen und Entsetzen (θάμβους καὶ ἐκστάσεως thambous kai ekstaseōs) über das ihm Widerfahrene erfüllt. Als er sich aber zu Petrus und Johannes hielt, lief alles Volk zu ihnen in der sogenannten Halle Salomos zusammen, und sie staunten sehr (ἔκθαμβοι ekthamboi) (Apg 3,7-11).

Hier wird kein Geschehen beschrieben, das im Innenraum der Psyche oder nur als Beziehungsgeschehen zwischen Heiler und Geheiltem abläuft. Das Wunder wird vielmehr »gesehen« und sogar »vor allem Volk« (V. 9.11; wieder Apg 3,16: »vor allen«), was hier passiert, ist im wahrsten Sinne des Wortes »offensichtlich«. Dass die Statusveränderung genau wahrgenommen wird, erfährt der Leser durch die Erinnerung der Zeugen, die den früheren Zustand des Gelähmten noch gut im Gedächtnis haben. Staunen, Wundern und sogar Entsetzen werden explizit als Reaktionen genannt. Das hier Geschehene ist gerade nicht alltäglich oder erwartbar, es durchbricht die Normen der üblichen Erfahrung und löst entsprechend Irritationen aus. Obgleich die Wundererzählung das Element des Staunens und Sich-Wunderns explizit hervorhebt, werden doch auch direkt oder indirekt Grund und Ursache (4) des irritierenden Geschehens genannt. Es ist das Einwirken Gottes bzw. göttlicher Kraft, das das Wunder bewirkt. Die Unerklärbarkeit wird somit mit einem spezifischen Deutungsangebot verbunden. Wählen wir noch einmal die Heilung des Gelähmten als Beispiel. Petrus greift das Staunen der Menge explizit auf und verweist auf die Ursache der Normdurchbrechung: Als Petrus das sah, sprach er zu dem Volk: Ihr Männer von Israel, was wundert ihr euch über dies (τί θαυμάζετε ἐπὶ τούτῳ ti thaumazete epi toutō), oder was seht ihr auf uns, als hätten wir durch eigene Kraft oder Frömmigkeit bewirkt, dass dieser gehen kann? Der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs, der Gott unsrer Väter, hat seinen Knecht Jesus verherrlicht, […] Und aufgrund des Glaubens an seinen Namen festigte sein Name diesen, den ihr seht und kennt. Der Glaube, der durch ihn gewirkt wird, gab ihm volle Gesundheit vor euch allen (Apg 3,12-16).

Nicht die Kraft des apostolischen Wundertäters, sondern die Kraft Gottes bzw. der Name Jesu (s.o.) sind Grund des Wunders. Zugleich wird die Kategorie des Glaubens eingeführt, der einen spezifischen Anteil am Geschehen trägt und vor allem bereits auf die Wirkung der Erzählung beim Leser bzw. der Leserin zielt (Wirkungsästhetik 5). Der Rezipient bzw. die Rezipientin soll aus dem intendierten Prozess des Staunens zu einer Einsicht (kognitiv erschließend), zum Glauben (pistisch mo30

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tivierend) und schließlich zum Handeln (ethisch appellativ) befähigt und ermutigt werden. Nach Bovon sind diese Texte »invitations, addressed to readers for the purpose of earnestly accessing this spiritual realm (i.e. a divine world behind our world)« (Bovon 2003, 253). Die intendierte Wirkung der Wundererzählung wird in den Apostelakten oft bereits narrativ durch die Reaktion der Handlungsfiguren vorgeführt. Sie gelangen zur Einsicht, kommen zum Glauben oder ändern ihr Leben. Auch die Leser(innen) können den narrativ vorgeführten Erzählfiguren folgen und die Wundererzählungen als Zeichen von Leben, Gemeinschaft und Rettung lesen. Die Konversion ist folglich eine der wesentlichen Funktionen dieser Texte (vgl. zur Vielfalt der Funktionen von Wundererzählungen Bovon 2003, 256-258; sowie Zimmermann 2013a, 45-49). Im Folgenden möchte ich den Aspekt der Glaubensdimension etwas vertiefen. Der enge Zusammenhang zwischen Glaube und Wunder ist bereits in den kanonischen Wundererzählungen angelegt, wobei häufig eine dialektische Beziehung beschrieben wird. Der Glaube ist zugleich Voraussetzung und Folge des Wundergeschehens (vgl. »dein Glaube hat dich gerettet«, Lk 7,50; 8,48; 17,19 etc.). Ein simpler Kausalzusammenhang, als ob das Wundergeschehen unmittelbar in Glauben münde, wird in den kanonischen Evangelien kritisch reflektiert (z.B. die Ablehnung von Schauwundern; Zeichenforderung, vgl. Mk 15,32; Joh 6,30). Besonders Johannes hat vor einer naiven Zuordnung gewarnt (Joh 4,48) und spricht auch vom Unglauben trotz des Sehens von Zeichen und Wundern (Joh 12,37). In Apg finden sich Formulierungen, die diese differenzierte Sicht zu untergraben scheinen. So wird z.B. erzählt, dass gerade die Erweckung der Tabita zum Glauben führte (Apg 9,42). Ferner wird berichtet, dass der Statthalter Sergius Paulus das Strafwunder an dem Magier Barjesus Elymas sah und gläubig wurde: »Als der Statthalter sah, was geschehen war, wurde er gläubig und verwunderte sich über die Lehre des Herrn« (Apg 13,12). Das Geschehen wird hier zwar als Anlass des Glaubens beschrieben, der Statthalter staunt aber, wie der Nachsatz betont, nicht über die Wunderhandlung, sondern über die »Lehre des Herrn«, womit eine Formulierung aufgenommen wird, wie sie bereits aus dem Evangelium bekannt ist (Lk 4,32 ebenfalls mit ἐκπλήσσω ekplēssō). Glaube ist mehr noch als an die Tat (Apg 19,18) an das (gepredigte) Wort gebunden (vgl. Apg 4,4; 8,12; 14,1; 18,8) und bleibt gerade auch bei den Wundertaten Teil eines Beziehungsgeschehens (Böttrich 2017, 409-414). Glaube zielt auf eine radikale Lebensänderung der Glaubenden, wie es bei spontan Geheilten besonders eindrücklich vor Augen geführt wird (Schließer 2017, 30f.). Entsprechend wird man Marguerat zustimmen können, dass auch der Autor der Apostelgeschichte eine eigene Hermeneutik der Wunder entwickelt hat, bei der Glaube und Heilung, ebenso wie Zeugenamt und Christologie zu einem theologisch anspruchsvollen Geflecht verbunden werden (so Marguerat 2003a, 101). In den späteren Apostelakten wird diese differenzierte Zuordnung teilweise stark simplifiziert, so dass man den Eindruck gewinnt, als propagiere der Autor einen direkten Kausalzusammenhang zwischen Wunder und Glauben: Wegen 31

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der Wunder glauben die Menschen (z.B. ActJoh 42: die Epheser an den Gott des Johannes; ActPhil 6,21: die Nikateraner an den Gott des Philippus). Ein eindrückliches Beispiel ist die Belebung des Räucherfisches (ActPetr 13), die nur als Beweis für den Glauben durchgeführt wird. Petrus fragt: »Wenn ihr den Fisch wieder schwimmen seht, werdet ihr dann an den glauben können, den ich predige?« Die Menge bejaht, und die Reaktion bleibt nicht aus: »Als sie das sahen, folgten ihm sehr viele und glaubten an den Herrn« (ActPetr 13). Der Fisch war sogar eine Attraktion, die »von allen Seiten Scharen herbeilockte«, um ihn als echten Fisch zu bestaunen und sogar mit Brot zu füttern. Umgekehrt kann die Initiative auch vom Volk ausgehen: »Zeige uns ein anderes Wunder (signum), damit wir glauben, dass du der Diener des lebendigen Gottes bist« (ActPetr 12). Während Jesus die Zeichenforderung ablehnt, scheinen die Apostel bereitwillig auf jeden Wunsch nach Beglaubigungswundern einzugehen. Nach ActPetr 25 möchte der Apostel, dass noch mehr Publikum herbeigeholt werde, damit die Auferweckung des Jünglings auch entsprechend wirksam sei: »damit diese, wenn sie es sehen, glauben können, dass er durch Gottes Kraft auferstanden ist« (ActPetr 25). »Als aber die Volksmasse das sah, riefen sie alle: ›Es gibt nur einen Gott, nur den einen Gott des Petrus!‹« (ActPetr 25). Ist für Marguerat das deutende Wort notwendig, um einem Missverständnis der Wundertätigkeit in Apg zu vermeiden (vgl. Marguerat 2003a, 101.123), so liest sich ActPhil 6 nahezu als Umkehrung: Hier bedarf es der Auferweckung des Jünglings, um zum Glauben zu führen, das Wort bzw. hier der Schriftverweis allein reicht offenbar nicht. An dieser Stelle darf kritisch zurückgefragt werden, ob die Zuordnung von Wunder und Glaube hierbei nicht eine Unterkomplexität erreicht, die problematisch ist. Das Wunderkonzept der Acta könnte dabei den Gefahren einer theologia gloriae der Wunder erlegen sein, wie sie in Band 1 beschrieben wurden (Zimmermann 2013a, 44f.). Gleichwohl besteht gegenüber einem voreiligen und pauschalen Urteil die Notwendigkeit, den Glaubensbegriff der einzelnen Acta genauer je für sich zu analysieren (so z.B. für ActPlThecl Nicklas/Niederhofer 2017). Hierbei dürfte deutlich werden, dass es durchaus differenzierte Reflexionen über die Frage gibt, wie z.B. in Auseinandersetzung mit den Wundern des Simon in PsClem H 2,33-34 (dazu Nicklas 2007). Wie die Passionsgeschichte letztlich die Erinnerung an den Wundertäter Jesus davor bewahrt, ihn zum Wunderhelden zu stilisieren, so ist es in den Acta das Martyrium der Apostel, das im Blick auf die Makroerzählung letztlich doch ein Gegengewicht zum Übermut der Wundererzählung schafft. Die Wunderthematik muss insofern stets auch im Zusammenhang mit anderen Aspekten der Apostelgeschichten gesehen werden (so auch Bovon 2003).

3.2.2 Phantastische Tatsachenberichte: Mehr Phantastik als Tatsachen

Nun wurde im Kompendium noch eine zweite Definition gegeben, die einzelne Aspekte der ersten Definition vertieft und zuspitzt: Konkret geht es um die m.E. 32

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gattungskonstitutive Spannung zwischen der faktualen Erzählweise und dem realitätsdurchbrechenden Erzählinhalt: »Wundererzählung« – Definition 2: Wundergeschichten sind im Redemodus grundsätzlich faktuale Erzählungen, die gleichwohl fiktionalisierende Erzählverfahren in unterschiedlichem Maße einschließen. Im Blick auf die erzählten Inhalte bewegen sie sich bewusst auf der Grenze zwischen Realitätsbezug (Realistik) und Realitätsdurchbrechung (Phantastik).

In einfacher Lesart ist die Wundererzählung durch die literarisch bewusst erzeugte Spannung zwischen Erzählweise (Discourse-Ebene: das »Wie« der Darstellung) und Erzählinhalt (Story-Ebene: das »Was« der Handlung) charakterisiert (dazu ausführlich Zimmermann 2014c, 470-475). Literaturwissenschaftlich betrachtet handelt es sich bei Wundererzählungen um Vergangenheitserzählungen. Sie erheben den Anspruch, geschichtliche Ereignisse zu erzählen, sind folglich in ihrem Erzählmodus »faktual« (dazu Genette 1992, 65-94). Durch Ortsangaben, Personen(namen), Reminiszenzen etc. werden textimmanent viele Signale gegeben, die die Wundererzählung als historisch referentiell erkennen lassen. Mit anderen Worten: Der Text zielt darauf, dass der Leser ihn als historische Erzählung versteht. Auf dem Boden einer solchen Realitätsbezogenheit wird nun aber Unmögliches erzählt. Schon auf der Ebene der erzählten Welt (z.B. durch Aussagen der Figuren wie Lk 5,26: »wir haben ›Paradoxa‹ gesehen«) wird die Realitäts- und Erfahrungsdurchbrechung direkt thematisiert. Was hier berichtet wird, durchbricht die Norm und Alltagserfahrung nicht nur moderner, sondern auch antiker Leser (dazu Frenschkowski 2014). Nach literaturwissenschaftlichen Kriterien erfüllen die Texte hierbei Kriterien der Phantastik, denn die erzählten Ereignisse durchbrechen bekannte Realitätssysteme und übersteigen auch die ›possible world‹-Vorstellung, d.h. das »mögliche NichtWirkliche« (Zipfel 2001, 84), das zwar als kontrafaktische Alternativwelt, aber innerhalb akzeptierter Normen entworfen wird (vgl. Durst 2010; einführend Zimmermann 2014c, 483-488). Dass Tote wieder auferstehen oder jahrzehntelang gelähmte Menschen plötzlich wieder gehen können, das kann eigentlich nicht sein. Mit Motiven wie dem Land der Menschenfresser oder Drachen und sprechenden Eseln überschreiten die Erzählungen dann ohnehin die Grenze hin zum Phantastischen. Der Wert der Definition 2 besteht nun darin, dass sie nicht – wie in der Wunderforschung üblich (vgl. Zimmermann 2014a) – diese Spannung zwischen historischer Erzählweise und phantastischem Inhalt harmonisiert oder in der ein oder anderen Weise zu entkräften versucht (indem man z.B. den faktualen Redemodus herunterspielt oder die Inhalte als zeitgemäß ›normal‹ einstuft), sondern ganz im Gegenteil als wesentlich wahrnimmt und gelten lässt. Auf eine Kurzformel gebracht, sind Wundererzählungen deshalb »phantastische Tatsachenberichte«. Nach Koschorke kann man hier von der Interferenz zweier logisch inkompatibler Systeme sprechen, für die er den Begriff der »Doppelkonditionierung« bzw. »Superimposition zweier Koordinatensysteme« (Koschorke 2012, 370) geprägt hat. Für Koschorke 33

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entsteht gerade so eine kulturell und hermeneutisch besonders fruchtbare »bilinguale Kontaktzone« bzw. dynamisierende »Semiosphäre« (Koschorke 2012, 371-376), die auch den Reiz einer Wundererzählung ausmacht. Wie bereits Definition 2 andeutet und in der genannten Erläuterung umfassend reflektiert wird (Zimmermann 2014c, 476-488), kommt es aber in den meisten Wundererzählungen zu einer weiteren Brechung. Die faktuale Erzählung wird durch fiktionale Elemente angereichert. Ferner gibt es sowohl Fiktives im faktualen Redemodus als auch Realistisches im fiktionalen Redemodus, wie es von Seiten narratologischer Geschichtsschreibung oder auch der Literaturwissenschaft zur Phantastik herausgearbeitet wurde (vgl. dazu Luther 2014a). Die Wundererzählung kann dann aber nicht mehr ›einfach‹ mit den Etiketten »fiktional« oder »faktual« bzw. »Realistik« oder »Phantastik« klassifiziert werden, sondern bewegt sich stets auf der Grenze. Sie markiert geradezu diese Grenze, indem sie den Leser/die Leserin in eine oszillierende Suchbewegung bzw. Semiosphäre zwischen verschiedenen Polen hineinstößt (mit Durst 2010, 103). Diese literaturwissenschaftliche Betrachtung der Wundererzählungen birgt m.E. Chancen auf unterschiedlichen Ebenen: Sie versucht, die Beschaffenheit der Texte möglichst präzise zu erfassen, ohne sie z.B. ideologischen Vorentscheidungen im Blick auf ein Weltbild oder ein Glaubensurteil zu unterwerfen. Sie kann ferner eine übergreifende Definition geben, die für die kanonische Apg ebenso wie für nicht-kanonische Apostelakten gilt, und so bewusst die Kontinuität zwischen den später kanonisch oder apokryph gewordenen Texten betont. Die in der früheren Forschung vollzogene kategorische Trennung zwischen Kanon und Apokryphen kann im Blick auf die Wundererzählungen m.E. am Textbefund nicht bestätigt werden. So sprach z.B. Söder pauschal von der »Wunderwelt«, »Fabelländern und Fabelwesen« der apokryphen Akten und wollte sie damit von der Apg abgrenzen. »Von einem Vorbild der Apg kann hier keine Rede sein, spielen doch die Reisen der Apostel dort in nur realen Ländern und entbehren jeder phantastischen Ausschmückung« (Söder 1969, 111). Ausschmückungen, Strafwunder oder Gegenstandswunder finden sich aber bereits in der Apg, ebenso wie auch in jüngeren Acta sehr präzise Ortsreferenzen die faktuale Redeweise bestärken und erhalten wollen. Gleichwohl ermöglicht es die Skalendefinition auf zwei Ebenen (zwischen Faktualität und Fiktionalität; zwischen Realistik und Phantastik), in der Beschreibung von Einzeltexten Verschiebungen und Tendenzen zum Ausdruck zu bringen. Einzelne Texte verlassen klarer als andere den Vorstellungshorizont der Realistik, und entsprechend kann man dann konstatieren, dass hier nicht nur die Tür zur Phantastik geöffnet, sondern bereits die Schwelle überschritten ist. Oder man kann schriftspezifische Tendenzen benennen, dass z.B. die Apostelgeschichte des Lukas stärker historiographische Elemente einschließt als die Acta von Andreas in der Stadt der Menschenfresser.

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4. Anlage und Auslegungsstruktur in Band 2 des »Kompendiums der frühchristlichen Wundererzählungen« 4.1 Weichenstellungen: Die Vorentscheidungen und Begrenzungen

Die grundlegenden konzeptionellen und methodischen Weichenstellungen des Kompendiums sind in Band 1 des zweibändigen Werks hinreichend erläutert worden und gelten hier unverändert (vgl. Zimmermann 2013a, 50-63). Hierbei ist das Bekenntnis zur Vielfalt der Auslegungsmöglichkeiten besonders hervorzuheben. Es zeigt sich darin, dass Forscher unterschiedlicher Schul- und Forschungstraditionen, Konfessionen und Kontinente im Autor(inn)enteam vereint werden, ebenso wie in der Vielfalt der methodischen Annäherungen, die narratologische, historische und rezeptionsästhetische Dimensionen integriert (s.u.). Aufgrund der bisherigen Forschung an den apokryphen Apostelakten gilt es umso mehr zu betonen: Textinterpretation ist mehr als Textrekonstruktion! Im Kompendium haben wir auch bei unbekannten Texten einen hermeneutischen Anspruch, die Texte sinnstiftend auszulegen, um sie in ihren unterschiedlichen Facetten besser verstehen zu können. Wie bereits in Band 1 (Die Wunder Jesu, hierbei zu den apokryphen Jesuswundern) waren wir aufgrund der Vielzahl der Texte gezwungen, eine Auswahl zu treffen. Bei einigen Quellenbereichen konnten alle Wundererzählungen besprochen werden (Apg, ActJoh, ActBarn). Bei anderen wie z.B. den Andreasakten sind allein in der Epitome des Gregor von Tours 25 Wunderepisoden genannt, von denen im Kompendium exemplarisch sechs besprochen wurden. Entsprechend wurden von den 50 Wundern der Thekla nach der Legende »Wunder der Thekla« (MirThecl) nur sechs Texte ausführlich interpretiert, um ein anderes Beispiel zu nennen. Um dennoch auch hier einen Überblick über alle Wundererzählungen des Gesamtwerks zu geben, wurden eine Großzahl der Einzeltexte (sowie die Summarien) in den Hinführungen der jeweiligen Bereichsherausgeber(innen) berücksichtigt. Die Tabellen am Ende der Hinführungen sowie summarisch am Ende des Buches geben ferner einen Überblick über alle Wundergeschichten innerhalb der Akten. Übergreifende und wiederkehrende Aspekte wie z.B. zu Tier- oder Strafwunder-Erzählungen werden in exkursartigen ›Themenartikeln‹ innerhalb der Gesamteinleitung eigens behandelt.

4.2 Vielfalt der »Sehepunkte«: Das Auslegungsraster

Das in Band 1 des Kompendiums ausführlich erläuterte Auslegungsraster (vgl. Zimmermann 2013a, 54-61) wurde auch für den vorliegenden Band 2 des Kompendiums zu Grunde gelegt. Auf diese Weise wird nicht nur die Kontinuität zu dem bewährten Interpretationsmuster des ersten Bandes erwirkt, sondern auch die Diversität von Autor(innen) und Einzeltexten zu einer Einheit in Vielfalt innerhalb des Gesamtwerks zusammengebracht. 35

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Im Folgenden soll das Raster hier kurz wiederholt werden, um dann einige Spezifika der Anwendung im vorliegenden Band zu benennen. (a) Überschrift (b) Eigene Übersetzung der Wundererzählung (c) Sprachlich-narratologische Analyse (d) Sozial- und realgeschichtlicher Kontext (e) Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund (f) Verstehensangebote und Deutungshorizonte (g) Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte (h) Literatur zum Weiterlesen Tab. 2: Auslegungsraster der einzelnen Kommentare

Die unterschiedlichen Perspektiven der Exegese dürfen nicht als lineare Schrittfolge missverstanden werden. Sie repräsentieren vielmehr eine Vielfalt der Zugänge und sind somit – um es mit Chladenius zu sagen (vgl. dazu Luther/Zimmermann 2014, 217-222) – »Sehepunkte«. Sie können zwar aufbauend gelesen werden, stellen jedoch je für sich eigene Zugänge mit unterschiedlichen Methoden dar. Dabei sind drei Sehepunkte kategorial zu differenzieren (vgl. dazu Zimmermann 2011, 3-24; appliziert auf die Wundererzählung Mk 5,1-20 in Zimmermann 2012): ein sprachlicher Fokus (hier: Übersetzung und sprachlich-narratologische Analyse), ein historischer Fokus (hier: sozial- und realgeschichtlicher Kontext und traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund) sowie ein rezeptionsästhetischer Fokus (hier: Deutungshorizonte und Aspekte der Wirkungsgeschichte). Während die ersten vier Annäherungen eher analysieren und enzyklopädisches Wissen zusammentragen, geht es bei den Deutungshorizonten um die Synthese bestimmter Aspekte, die auf eine sinnstiftende Auslegung hinführt. Die Überschrift (a) der einzelnen Auslegungen setzt sich aus maximal drei Elementen zusammen: kreativer Titel, »explikativer Titel« in Klammern sowie die Stellenangabe (ggf. Parallelen), also z.B. Einfach nur göttlich (Die Heilung des Gelähmten in Lystra) Apg 14,8-13 (Apg 3,1-10) Eine verhängnisvolle Affäre (Bestrafung und Auferweckung der Frau des Lesbius) ActAndr(Greg) 23

Es werden eigene, von den Autor(inn)en selbst erstellte Übersetzungen (b) der Wundererzählungen präsentiert. Die ursprachliche Quellenbasis (Edition) ist hierbei jeweils in der Hinführung bzw. im Text benannt. Da sich in einigen nicht-kanonischen 36

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Apostelgeschichten die Wunderepisoden über mehrere Kapitel erstrecken und die Texte nicht überall bekannt und zugänglich sind, werden teilweise paraphrasierende Zusammenfassungen der Vorgeschichte oder Überleitungen beigefügt. Im Zentrum des Kompendiums stehen Wundererzählungen. Entsprechend wird auch eine größere Sorgfalt auf die Wahrnehmung der Erzählung selbst gelegt und das Repertoire der narratologischen Analyse (c) konzeptionell und terminologisch nutzbar gemacht. So werden Plot, Figurenkonstellationen oder auch die narrative Darstellung von Raum und Zeit interpretiert. Die in der Definition der Wundererzählung (s.o.) zentral gewichtete Leserorientierung wird pragmatisch bzw. rezeptionsästhetisch zu erfassen versucht. Leitende Fragen sind hierbei, wie die Normdurchbrechung und Irritation erzählerisch inszeniert werden, oder wie z.B. das Wunderhafte durch die Reaktion von Figuren auf der Ebene der erzählten Welt hervorgehoben wird. Um die Darstellung der Wundererzählungen und ihre intendierte Wirkung verstehen und deuten zu können, ist die möglichst genaue Kenntnis der sozial- und realgeschichtlichen Kontexte (d) notwendig. Die Wahrnehmung der gewohnten Welt des Textes, wie z.B. die üblichen Therapieverfahren, ist Voraussetzung, um die bewusste, narrativ angelegte Brechung dieser Ordnung profilierter benennen zu können. Eine präzise Rekonstruktion der Kontexte einzelner Texte ist aus geschichtsund erkenntnistheoretischen Begrenzungen nicht möglich. Entsprechend wurde hier eher enzyklopädisch vorgegangen, indem eine ›mögliche Welt‹ (re)konstruiert wird, wie sie uns durch antike Quellen zugänglich ist. Um ein breites Panorama zu bieten, wurden viele themenverwandte außer- und vorchristliche Textquellen aus Judentum und griechisch-römischer Welt herangezogen. Häufig wurden auch zentrale Textpassagen als Zitate präsentiert. Ferner wurden nach Möglichkeit außertextliche Quellen, z.B. archäologische Funde/Münzen hinzugezogen. Auch jenseits einer symbolischen Interpretation der Wunderhandlung stehen Wundererzählungen und ihr Repertoire immer schon in einem Deutungszusammenhang, der durch eine Analyse des traditions- und religionsgeschichtlichen Hintergrundes (e) erhellt werden soll. In der traditionsgeschichtlichen Analyse sollte herausgearbeitet werden, wie das Motivrepertoire oder einzelne Semanteme der Wundererzählung traditionell verwendet wurden. Gefragt wurde hierbei, ob es stereotype Deutungsmuster innerhalb der jüdischen oder griechisch-römischen Literatur gab bzw. wie das frühe Christentum selbst solche Überdeterminationen geprägt hat. Mit welcher Rahmentheorie man diese Tiefenbedeutung der Motive beschrieb (wie z.B. klassische Motiv-/Traditionsgeschichte, historische Semantik, Bildfeldtheorie oder Diskurs- und Zeichentheorien), war dem Autor/der Autorin überlassen. Die Auslegungen wollen nicht die maßgebliche Deutung einer Wundererzählung bieten. Sie verstehen ihre Aufgabe darin, dass sie aus den eher analytischen oder enzyklopädischen Teilabschnitten der vorgängigen Interpretation nun sinnstiftende Auslegungen zusammenfügen und anbieten, weshalb wir die Überschrift Verstehensangebote und Deutungshorizonte (f) gewählt haben. Dabei wurde jeder Autor/jede 37

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Autorin angehalten, mindestens drei in sich kohärente und mögliche Auslegungen vorzustellen. Dies war auch für die beteiligten Wissenschaftler(innen) eine Herausforderung, weil man innerhalb der fachwissenschaftlichen Diskussion eher bemüht ist, andere Deutungen zu kritisieren, um die favorisierte eigene Deutung umso klarer profilieren zu können. Die Autorinnen und Autoren sollten jedoch gerade abweichende und auf ihre je eigene Weise schlüssige Auslegungsvarianten stark machen und somit als Sinnstiftungsangebote einem Leser/einer Leserin vor Augen führen. Auf diese Weise sollten die verschiedenen Verstehenspotenziale der Texte entfaltet werden. Das in Band 1 des Kompendiums dargebotene Raster an Auslegungsmöglichkeiten (Zimmermann 2013a, 62f.) wurde auch im vorliegenden Band herangezogen. Allerdings zeigten die Texte sowie die Kreativität der Auslegungen, dass hier eine Fülle an weiteren Möglichkeiten (wie z.B. liturgiegeschichtliche Auslegung) hinzukam. Die Vielfalt der Deutungshorizonte soll die Leser(innen) des Kompendiums einladen, ihrerseits in diese hermeneutische Suchbewegung einzusteigen und zu eigenen Deutungen zu gelangen. Wahrheitsfähige Exegese kann nie vorgeschrieben, sondern immer nur selbst in den je eigenen Kontexten und Lebenswelten vollzogen werden. Der letzte Punkt des Auslegungsrasters Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte (g) wurde insbesondere im Blick auf kanonische Texte mit einer immensen Wirkungsgeschichte entwickelt. Die apokryphen Wundererzählungen haben vielfach keine uns bekannten textlich manifesten Rezeptionsgeschichten. In solchen Fällen konnte dieser Punkt des Auslegungsrasters entfallen. Schließlich wurde an jeden Kommentar eine kleine Liste mit Literatur zum Weiterlesen (h) angefügt, die Titel nennt, die zur weiteren Beschäftigung mit dem Text einladen. Je nach Länge des Beitrags wurden hier ca. 5-15 Titel genannt, die einschlägige, aber auch interessante und entlegenere sowie auch englischsprachige Literatur einbeziehen. Diese Liste führt nicht alle im jeweiligen Beitrag genannten Titel auf. Die in Klammern in einem Beitrag genannte Literatur wie z.B. »(Kollmann 1996)« kann anhand des Gesamtliteraturverzeichnisses am Ende des Buches vollständig bibliographisch entschlüsselt werden. Ruben Zimmermann

5. Literatur zu frühchristlichen Wundererzählungen in Apostelakten Die bibliographischen Angaben zu den Quellen-Editionen sowie Übersetzungen der einzelnen Apostelgeschichten finden sich am Ende der jeweiligen Hinführungstexte der Bereichsherausgeber. 5.1 Monographien/Sammelbände/Themenhefte

(hier speziell zu den Apostelakten; Literatur zu Wundererzählungen allg. vgl. Wunderkompendium, Bd. 1, 64-67) 38

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Literatur zu frühchristlichen Wundererzählungen in Apostelakten

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Wundererzählungen in den Akten der Apostel – eine Hinführung

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Literatur zu frühchristlichen Wundererzählungen in Apostelakten

D. R. MacDonald, The Legend and the Apostle. The Battle for Paul in Story and Canon, Philadelphia 1983. Ders., The Acts of Andrew and the Acts of Andrew and Matthias in the City of the Cannibals, Atlanta 1990a. Ders., Christianizing Homer. The Odyssey, Plato, and the Acts of Andrew, New York 1994a. Ders. (Hg.), The Acts of Andrew, ECA 1, Santa Rosa, 2005. D. Marguerat, Lukas, der erste christliche Historiker. Eine Studie zur Apostelgeschichte, AThANT 92, Zürich 32011 (zuerst 2008). J. W. Nesbitt, The Miracles of St. Artemios: A Collection of Miracle Stories by an Anonymous Author of Seventh-Century Byzantium, The Medieval Mediterranean 13, Leiden 1997. T. Nicklas/M. Tilly (Hg.), The Book of Acts as Church History. Apostelgeschichte als Kirchengeschichte, BZNW 120, Berlin et al. 2003. Ders./J. E. Spittler (Hg.), Credible, Incredible. The Miraculous in the Ancient Mediterranean, WUNT 321, Tübingen 2013. V. Niederhofer, Konversion in den Paulus- und Theklaakten. Eine narrative Form der Paulusrezeption, WUNT, Tübingen (im Druck). R. I. Pervo, Profit with Delight. The Literary Genre of the Acts of the Apostles, Philadelphia 1987. Ders., Acts. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis 2009. Ders., The Acts of Paul. A New Translation with Introduction and Commentary, Eugene 2014. Ders., The Acts of John, ECA 6, unter Mitarbeit von J. V. Hills, Salem 2015a. T. Pratsch, Der hagiographische Topos. Griechische Heiligenviten in mittelbyzantinischer Zeit, Millennium-Studien 6, Berlin 2005. A. Reimer, Miracle and Magic. A Study in the Acts of the Apostles and Life of Apollonius of Tyana, JSNT.S 235, Sheffield 2002. H. Rhee, Early Christian Fiction: Apologies, Apocryphal Acts and Martyr Acts, Routledge Early Church Monographs, London 2005a. Dies., Early Christian Literature: Christ and Culture in the Second and Third Centuries, London et al. 2005b. J.-M. Roessli/T. Nicklas (Hg.), Christian Apocrypha: Receptions of the New Testament in Ancient Christian Apocrypha, Göttingen 2014. W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61997. S. Schreiber, Paulus als Wundertäter, BZNW 79, Berlin/New York 1996. H. R. Seeliger/W. Wischmeyer (Hg.), Märtyrerliteratur, herausgegeben, übersetzt, kommentiert und eingeleitet, Berlin/München 2015. G. E. Snyder, Acts of Paul. The Formation of a Pauline Corpus, WUNT 2/352, Tübingen 2013. J. A. Snyder, Language and Identity in Ancient Narratives: The Relationship between Speech Patterns and Social Context in the Acts of the Apostles, Acts of John, and Acts of Philip, WUNT 2/370, Tübingen 2014. R. Söder, Die apokryphen Apostelgeschichten und die romanhafte Literatur der Antike, Darmstadt 1969 (Nachdr. der Ausgabe Stuttgart 1932).

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Wundererzählungen in den Akten der Apostel – eine Hinführung

J. E. Spittler, Animals in the Apocryphal Acts of the Apostles, WUNT 2/247, Tübingen 2008. R. F. Stoops, The Acts of Peter, ECA 4, Salem 2012. G. H. Twelftree, In the Name of Jesus. Exorcism among Early Christians, Grand Rapids 2007. Ders., Paul and the Miraculous. A historical Reconstruction, Grand Rapids 2013. Ders., The Nature Miracles of Jesus. Problems, Perspectives, and Prospects, Eugene 2017. M. Vielberg, Klemens in den pseudoklementinischen Rekognitionen. Studien zur literarischen Form des spätantiken Romans, TU 145, Berlin/New York 2000. J. Wehnert, Pseudoklementinische Homilien. Einführung und Übersetzung, Kommentare zur apokryphen Literatur 1/1, Göttingen 2010. A. Westermann, Paradoxographi scriptores rerum mirabilium Graeci, Brunsviga 1839.

5.2 Auswahl an Aufsätzen/Lexikonartikel (insb. zum Thema Wunder in Acta) P. J. Achtemeier, Jesus and the Disciples as Miracle-Workers in the Apocryphal New Testament, in: ders., Jesus and the Miracle Tradition, Eugene, Oregon 2008, 163-192 (zuerst in: E. Schüssler Fiorenza [Hg.], Aspects of Religious Propaganda in Judaism and Early Christianity, University of Notre Dame Center for the Study of Judaism and Christianity in Antiquity 2, Notre Dame/London 1976, 149-186). J. den Boeft, Miracles Recalling the Apostolic Age, in: A. Hilhorst (Hg.), The Apostolic Age in Patristic Thought, SVigChr 70, Leiden/Boston 2004, 51-62. J. Bolyki, Miracle stories in the Acts of John, in: J. N. Bremmer (Hg.), The Apocryphal Acts of John, SAAA 1, Kampen 1995, 15-35. F. Bovon, Miracles, Magic, and Healing in the Apocryphal Acts of the Apostles, in: ders., Studies in Early Christianity, WUNT 161, Tübingen 2003, 253-266 (zuerst: ders., Miracles, magie et guérison dans les Acts Apocryphes des Apôtres, JECS 3 [1995], 245-259). J. N. Bremmer, The Five Major Apocryphal Acts: Authors, Place, Time and Readership, in: ders. (Hg.), The Apocryphal Acts of Thomas, SECA 6, Leuven 2001c, 149-170. I. Czachesz, Magic and Mind: Toward a Cognitive Theory of Magic, With Special Attention to the Canonical and Apocryphal Acts of the Apostles, ASEs 24 (2007d), 295-321. Ders., Speaking Asses in the Acts of Thomas, in: G. H. van Kooten/J. van Ruiten (Hg.), The Prestige of the Pagan Prophet Balaam in Judaism, Early Christianity and Islam, Leiden/ Boston 2008, 275-285. Ders., Metamorphosis and Mind: Cognitive Explorations of the Grotesque in Early Christian Literature, in: T. K. Seim/J. Økland (Hg), Metamorphoses: Resurrection, Body and Transformative Practices in Early Christianity, Berlin 2009b, 207-230. Ders., Explaining Magic: Earliest Christianity as a Test Case, in: L. H. Martin/J. Sørensen (Hg.), Past Minds: Studies in Cognitive Historiography, London 2011, 141-165. G. Del Cerro, Los Hechos apócrifos de los Apóstolos. Su género literario, Estudios Biblicos 51 (1993), 207-232. D. Dormeyer, Die Gattung der Apostelgeschichte, in: J. Frey/C. K. Rothschild/J. Schröter (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, BZNW 162, Berlin 2009a, 437-476.

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Literatur zu frühchristlichen Wundererzählungen in Apostelakten

M. Frenschkowski, Art. Magie, RAC 23 (2010), 857-957. Ders., Antike kritische und skeptische Stimmen zum Wunderglauben als Dialogpartner des frühen Christentums, in: B. Kollmann/R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen: Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, WUNT 339, Tübingen 2014, 283-308. J. Frey, Apostelbegriff, Apostelamt und Apostolizität. Neutestamentliche Perspektiven zur Frage nach der ›Apostolizität‹ der Kirche und der ›apostolischen Sukkzession‹, in: ders., Von Jesus zur Neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften II, hg. v. B. Schließer, WUNT 368, Tübingen 2016, 677-777. J. A. Kelhoffer, Ordinary Christians as Miracle Workers in the New Testament and the Second and Third Century Christian Apologists, Journal of the Chicago Society of Biblical Research 44 (1999), 23-34. H.-J. Klauck, Unterhaltsam und hintergründig: Wundertaten des Apostels in den Johannesakten, in: H. Grieser/A. Merkt (Hg.), Volksglaube im antiken Christentum, FS T. Baumann, Darmstadt 2009, 87-107. B. Kollmann, Paulus als Wundertäter, in: U. Schnelle et al. (Hg.), Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge, FS H. Hübner, Göttingen 2000a, 76-96. Ders., Halbgott in Weiß. Asklepioskult und Christentum, WUB 7 (2002), 28-35. B. J. Lietaert Peerbolte, Paul the Miracle Worker. Development and Background of Pauline Miracle Stories, in: M. Labahn/B. J. Lietaert Peerbolte (Hg.), Wonders Never Cease: The Purpose of Narrating Miracle Stories in the New Testament and Its Religious Environment, LNTS 288, London 2006, 180-199. S. Luther, Erdichtete Wahrheit oder bezeugte Fiktion? Realitäts- und Fiktionalitätsindikatoren in frühchristlichen Wundererzählungen – eine Problemanzeige, in: B. Kollmann/R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen: Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, WUNT 339, Tübingen 2014a, 345-368. Dies., Die ethische Signifikanz der Wunder. Eine Relecture der Wundererzählungen der apokryphen Thomasakten unter ethischer Perspektive, in: B. Kollmann/R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen: Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, WUNT 339, Tübingen 2014b, 559-588. D. Marguerat, Magic and Miracle in the Acts of the Apostles, in: T. E. Klutz (Hg.), Magic in the Biblical World. From the Rod of Aaron to the Ring of Solomon, JSNT.S 245, London/New York 2003a, 100-124. C. R. Matthews, Articulate Animals: A Multivalent Motif in the Apokryphal Acts of the Apostles, in: F. Bovon/A. G. Brock/C. R. Matthews, The Apocryphal Acts of the Apostles. Cambridge 1999, 205-232. C. Moss, Miraculous Events in Early Christian Stories about Martyrs, in: T. Nicklas/J. E. Spittler (Hg.), Credible, Incredible. The Miraculous in the Ancient Mediterranean, WUNT 321, Tübingen 2013, 283-301. F. Neirynck, The Miracle Stories in the Acts of the Apostles. An introduction, in: J. Kremer (Hg.), Les Actes des Apôtres: Traditions, redaction, théologie, BEThL 48, Leuven 1979, 169-213. J. C. Paget, Miracles in early Christianity, in: G. Twelftree (Hg.), The Cambridge Companion to Miracles, Cambridge/New York 2011, 131-148.

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Wundererzählungen in den Akten der Apostel – eine Hinführung

D. Pao, Physical and Spiritual Restoration. The Role of Healing Miracles in the Acts of Andrew, in: F. Bovon/A. G. Brock/C. R. Matthews, The Apocryphal Acts of the Apostles, Cambridge 1999, 259-280. R. I. Pervo, Narratives about the Apostles: Non-canonical Acts and Related Literature, in: A. Gregory/C. Tuckett (Hg.), The Oxford Handbook of Early Christian Apocrypha, Oxford/New York 2015b, 65-89. E. Plümacher, Τερατεία. Fiktion und Wunder in der hellenistisch-römischen Geschichtsschreibung und in der Apostelgeschichte, in: ders., Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, hrsg. v. J. Schröter und R. Brucker, Tübingen 2004d, 33-83. T. Pratsch, »… erwachte und war geheilt«: Inkubationsdarstellungen in byzantinischen Heiligenviten, ZAC 17 (2013), 68-86. M. Rydryck, Miracles of Judgment in Luke-Acts, in: S. Alkier/A. Weissenrieder, Miracles Revisited. New Testament Miracle Stories and their Concepts of Reality, SBR 2, Berlin/ New York 2013, 23-32. R. N. Slater, An Inquiry into the Relationship between Community and Text: The Apocryphal Acts of Philipp 1 and the Encratites of Asia Minor, in: F. Bovon/A. G. Brock/C. R. Matthews, The Apocryphal Acts of the Apostles. Cambridge 1999, 281-306. C. M. Thomas, Die Rezeption der Apostelakten im frühen Christentum, ZNT 18 (2006), 52-63. J.-M. Van Cangh, Miracles évangéliques – Miracles apocryphes, in: F. Van Segbroeck et al. (Hg.), The Four Gospels 1992, FS F. Neirynck, BEThL 100, 4 Bde., Leuven 1992, Bd. 3, 2277-2319. D. Zeller, Wunder und Bekenntnis. Zum Sitz im Leben urchristlicher Wundererzählungen, BZ NF 25 (1981), 204-222 (wieder abgedruckt in: ders., Jesus – Logienquelle – Evangelien, SBAB.NT 53, Stuttgart 2012, 229–247). R. Zimmermann, Von der Wut des Wunderverstehens. Grenzen und Chancen einer Hermeneutik der Wundererzählungen, in: B. Kollmann/ders. (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen: Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, WUNT 339, Tübingen 2014a, 27-52. Ders., Gattung »Wundererzählung«. Eine literaturwissenschaftliche Definition, in: B. Kollmann/ders. (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen: Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, WUNT 339, Tübingen 2014b, 311-343. Ders., Phantastische Tatsachenberichte?! Wundererzählungen im Spannungsfeld zwischen Historiographie und Phantastik, in: B. Kollmann/ders. (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen: Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven, WUNT 339, Tübingen 2014c, 469-494.

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Apostelgeschichten und antiker Roman 1. Der antike Roman Die Antike hat keinen zusammenfassenden Namen und keine literarische Theorie für die Roman-Literatur (Rohde 1960, 178-180; Helm 1956, 7; Müller 1981, 387f.). Was modern unter der Gattung Roman zusammengefasst wird, bietet allerdings für den Liebesroman nach antiken Verhältnissen »ein ungewöhnlich geschlossenes Bild« (Müller 1981, 388). Erhalten ist aus der griechischen Literatur als ältester Liebesroman Kallirhoë mit historisierender Einleitung. Er wurde von Chariton von Aphrodisias im 1. Jh. n. Chr. verfasst (Holzberg 1986, 52-58). In die frühe Kaiserzeit (2. Jh. n. Chr.) gehört auch der Liebesroman Ephesiaka des Xenophon von Ephesus; er reiht eine Fülle von Abenteuern der beiden Liebenden aneinander (Müller 1981, 399). Aus der Zweiten Sophistik stammen von Achilleus Tatios Leukippe und Kleitophon (2. Hälfte 2. Jh.), Heliodors, Aithiopika (Ende 3. Jh.) und der lateinische Roman von Longos: Daphnis und Chloe (Anfang 3. Jh.; Holzberg 1986, 103-124). Neben der Ausformung zum Liebesroman vermischt sich der Roman als »offene Form« auch mit der Biographie, die ebenfalls eine offene Form besitzt (Müller 1981, 392; Vines 2002, 69-121). Es überschneiden sich Roman und Biographie im Apollonius von Tyana des Philostratos (1. Hälfte 3. Jh. n. Chr.), in dessen romanhafte Biographie aretalogische Wundergeschichten eingestreut sind (Esser 1969, 111). Die lehrhafte Biographie von Jamblichos zu Pythagoras enthält ebenfalls romanhafte Partien mit Wundergeschichten (du Toit 2002, 275f.; Keener 2011, 6870). Auch der Alexanderroman von Ps.-Kallisthenes (3. Jh. n. Chr.) gehört wie die volkstümliche Vita Homeri und der Äsoproman in die hellenistische Romanliteratur; die romanhafte Bios- und Geschichtsliteratur steht in fließendem Übergang zu Werken der Hochliteratur wie Herodots Historien und Xenophons Kyropädie (Reiser 1984, 161). Ein weiterer Bereich ist die griechische Reiseliteratur. Homers Odyssee, Herodots ethnographische Exkurse und der Alexanderzug beeinflussen die Liebesromane und Romanbiographien und regen die Schaffung utopischer Reiseberichte an. Letztere sind aber nur fragmentarisch überliefert: Euhemeros von Messene (um 300 v. Chr.) erzählt von utopischen Staatswesen, in denen die griechischen Götter lediglich Könige sind; Theopomp von Chios (4. Jh. v. Chr.) schildert einen entlegenen utopischen Kontinent; Hekataios von Teos (3. Jh. v. Chr.) kennt ein Land der Hyperboreer, das noch nördlich vom Nordwind liegt; Iambulos (3.-1. Jh. v. Chr.) beschreibt einen Sonnenstaat auf Sieben Inseln; die Erklärung der ganzen Welt und Völker (um 350 n. Chr.) träumt von einem fernöstlichen Wunderland, in dem es täglich vom Himmel Brot regnet und es keine Wanzen und kein anderes Ungeziefer mehr gibt (vgl. ActJoh 60f.); Antonius Diogenes (1. Jh. n. Chr.) schreibt den Reiseroman Die Wunder jenseits von Thule und Iamblich (2. Jh. n. Chr.) verfasst Babylonische Geschichten (Kytzler 1983, 667-714). Ganz erhalten ist hingegen der satirische utopische Reisebericht von Lukian von Samosata (2. Jh. n. Chr.), Wahre Geschichten (Ehlen 2004, 23-25). 45

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Themenartikel

Ein vierter Bereich sind die lateinischen komisch-realistischen Romane: Petron (1. Jh. n. Chr.), Satyrikon und Apuleius (2. Jh. n. Chr.), Metamorphosen (Holzberg 1986, 73-99) mit der griechischen Parallele von Lukian, Lucius. Letztere haben verloren gegangene griechische Vorgänger, auf die der byzantinische Patriarch Photios verweist (bibl. 129; Holzberg 1986, 87-92). Liebesroman, Romanbiographie, utopischer Reisebericht und komödiantischer Roman sind nicht streng voneinander getrennt, sondern überlagern sich ständig. Gegenüber dem Epos formt der Roman individuelle Charaktere, arbeitet gegenüber der Monoglossia des epischen, allwissenden Autors mit der Polyglossia des sich hinter den Figuren verbergenden antiken Romanautors (Vines 2002, 71-80). Der Alltag der Komödie bestimmt gegenüber dem hohen Level des Epos die Dramatik der Handlung mit primären, alltagsbezogenen und poetischen, fiktionalen Kleingattungen (Vines 2002, 108-121).

2. Wunder in den Romanen Die auffallendste Gestalt eines Wundertäters ist Apollonius von Tyana in der Romanbiographie Philostrats: […] Dämonenaustreibungen (IV 20.25; VI 27) […] Pestvertreibung (IV 10), Erweckung einer Toten (IV 45). Apollonius erscheint plötzlich an einem entlegenen Ort (IV 10, VIII 10) […] Auch er weiß alles, kennt die Zukunft (VII 10), weiß selbst das, was die Menschen verschweigen (I 32); von Heilungen wird viel erzählt, besonders auch beim Besuch der Weisen (III 38: Heilung eines Besessenen, eines Lahmen und eines Blinden). Es wird von ihm gerühmt, er habe Macht über Feuer und Sturm und jegliche andere Gefahr (IV 13), Erdbeben versteht er zu stillen (VI 41). Wilde Tiere greifen ihn nicht an (IV 24, VIII 30); ein wütender Hund, der einen Menschen gebissen hatte, legt sich ihm zu Füßen und wedelt wie ein Flehender (VI 43). Und was wir auch fortwährend bei den Aposteln sehen: Fußfesseln vermögen ihn nicht zu halten (VII 38) […] Auch das Sich-Öffnen der Türen begegnet bei Apollonius von Tyana (VIII 30) und neben der Apg (5,19f.; 12,5-19; 16,26-40) schon in den ältesten Missionsaretalogien (Eur. Bakch. 443ff., 615ff.; Ovid met. III 699) (Söder 1969, 76).

Wunderkraft besitzen auch Hauptpersonen von nicht romanhaften Biographien: Diogenes Laertios, Empedokles; Plutarch, Numa; Sueton, Vespasian; Lukian, Alexander von Abonuteichos u.a. (Dormeyer 2013, 69-78). Söder trennt zu Recht zwischen »aretalogischem Element« und »teratologischem Element«. Aretalogie meint Wundertaten, die ein Wundertäter aufgrund eigener Wundervollmacht im Auftrag einer Gottheit ausführt: »Das aretalogische Element, das sich gleichfalls von Anfang an in der romanhaften Literatur der Griechen findet, ist die Betonung des Wunderbaren in der Kraft des geschilderten Helden« (Söder 1969, 51). Söder streicht heraus, dass sich in den Romanen mit Ausnahme von Apollonius von Tyana »richtige Wundererzählungen« nicht ereignen im Unterschied zu den Apostelgeschichten. Auch im Alexanderroman geschehen viele Wunder, aber Alexander selbst übt keine Wunder aus (Reiser 1984, 159). »In 46

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Apostelgeschichten und antiker Roman

den AGG [Apostelgeschichten, D.D.] dagegen finden sich solche Wundergeschichten rein aretalogisch, sei es, daß die Kraft des Apostels sich in ihnen kundgibt, sei es, daß Gott selbst die areté seiner Jünger dadurch bestätigt« (Söder 1969, 78f.). Die Apostel haben von Jesus die Wunderkraft der angebrochenen Königsherrschaft Gottes erhalten (Mk 3,15 parr.; 6,7 parr.; QLk 10,9); den Hauptfiguren der Romane fehlt jedoch solche Wunderkraft. Bei Xenophon von Ephesus kann zwar der Held Habrokomes trotz seiner Fesselung ungehindert auf dem Nil schwimmen (Xen. Eph. 4,2); seine Geliebte und Ehefrau Antheia wird von zwei fürchterlichen Hunden, die sie zerfleischen sollen, nicht angerührt (Xen. Eph. 4,6). Doch in beiden Fällen liegen Mirabilia oder Terata vor, staunenswerte Ereignisse, nicht menschliche Wunderkräfte. Leider rechnet Söder ungenau zur Aretalogie auch die wunderbaren Taten, die von übermenschlichen Nebenfiguren wie Magiern und Zauberinnen und von übermenschlichen Kräften wie Naturmächten, Dämonen und Gottheiten ausgehen und die eigentlich nach ihrer Differenzierung zu der Teratologie gehören müssten (Söder 1969, 79-102). Denn unter Teratologie zählt Söder erstaunliche Vorgänge und Zustände auf, die Mirabilia: Menschenfresser, fabelhafte Völker und Menschen, wunderbare Pflanzen, redende Tiere und plötzliche Errettungen, Reisen zum Mond (Söder 1969, 103-112). Besonders die utopischen Reiseromane entführen den Leser in entfernte und unentdeckte Landschaften. Noch war ja die bewohnte Welt nur zum Teil erkundet. So blieb viel Raum für phantastische Gegenden voller τέρατα (terata). Die komödiantischen Romane Metamorphosen oder Der Goldene Esel von Apuleius und Lucius von Lukian leben vom Spanungsbogen der wunderbaren Verwandlung des Helden Lucius in einen Esel (Apul. Met. 3,24f.; Luc. asin. 13) und der wunderbaren Rückverwandlung in einen Menschen durch Rosen (Luc. asin. 54) bzw. durch die Göttin Isis (Apul. Met. 11,12-15). Es handelt sich um die τέρατα (terata) einer Zauberin und den Gegenzauber der Göttin Isis. Isis lenkt wie der Heilige Geist in der Apostelgeschichte das Schicksal der Hauptfiguren. Die Liebesromane leben von der Spannung der Trennung der Liebenden und der glücklichen Wiedervereinigung am Ende. Dazwischen ereignen sich viele Terata-Wunder. In den Ephesiaka des Xenophon von Ephesus eröffnet ein Orakel des Apollon von Kolophon die Handlung. Es werden viele Leiden und die abschließende Rettung verheißen (Xen. Eph. 1,6). Höhepunkt der Leiden ist die Kreuzigung von Abrokomes, dem Ehegatten von Anthia, am Nil. Der Gekreuzigte betet zum obersten Gott von Ägypten: So betete er, und der Gott erbarmte sich seiner, Windeswehen kam plötzlich auf und stürmte gegen das Kreuz und stürzte es zusammen mit dem Felsen, auf dem es stand, in die Tiefe. Abrokomes fiel in den Strom, wurde dahingetragen, und die Fesseln behinderten ihn nicht, und die wilden Tiere fügten ihm kein Leid zu; die Strömung trug ihn dahin, und er trieb bis dort, wo der Nil in das Meer mündet. Dort fischten ihn die Wächter heraus […] (Xen. Eph. 4,2; Übers. Kytzler 1983).

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Abrokomes ist Objekt der Wundertaten einer Gottheit, insbesondere der Isis, nicht Subjekt einer Wundermacht. Er bedarf noch eines zweiten Wunders (θαῦμα), und zwar der Löschung eines brennenden Scheiterhaufens, bevor der Statthalter von Ägypten den göttlichen Schutz über ihn anerkennt (Xen. Eph. 4,2). Auch Anthia betet zu Isis und erfährt auch ihren Schutz, z.B. durch Zähmung der furchtbaren Hunde, mit denen sie in einer Grube eingeschlossen wurde (Xen. Eph. 4,3-6). Nach glücklichem Wiederfinden zählt Anthia ihrem Gemahl noch einmal den Peristasenkatalog ihrer Leiden auf (vgl. 2 Kor 11,16-33): »O mein Gatte und Gebieter«, flüsterte sie, »ich habe dich wieder! Durch Land und Meer bin ich weit umhergereist, ich bin den Drohungen der Räuber entflohen, den Nachstellungen der Piraten, dem Übermut der Kuppler, den Fesseln, der Grube, den Brettern, dem Gift und dem Grab. Aber ich komme zu dir zurück, Abrokomes, Herr meiner Seele, so wie ich war, als ich damals von Tyros nach Syrien fortgeschleppt wurde« (Xen. Eph. 4,14; Übers. Kytzler 1983).

Es geht um die eheliche Keuschheit, die für beide Partner gilt und die von beiden bewahrt worden ist. So »ergibt sich ein konsequenter Parallelismus der Handlungsführung als die erzähltechnische Umsetzung des gleichmäßig verteilten Leserinteresses an den beiden Romanhelden« (Müller 1981, 400). Sie verkörpern die Hochschätzung der ehelichen Liebe und Treue in der Prinzipatszeit (Dormeyer 1993, 77f.).

3. Apostelgeschichten und die antike Romanliteratur Söder hatte fünf Elemente bestimmt, die überhaupt das Wesen des Romanhaften in der griechischen Literatur ausmachen: 1. das Element der Wanderung, 2. das aretalogische Element, 3. das teratologische Element, 4. das tendenziöse Element, religiöser, philosophischer, politischer und ethischer Art, 5. das erotische Element, voll ausgebildet, allerdings erst im sophistischen Roman (Söder 1969, 3f.).

Alle fünf Motivkreise prägen auch die Apostelgeschichten (Söder 1969, 181-183). Dieser Befund ist zutreffend, erfasst aber nur die Motive, nicht die literarische fiktionale Gestaltung der antiken Romane und der Apostelgeschichten (Ehlen 2004, 13-15). Schneemelcher/Schäferdiek kritisieren daher bei Söder die Unklarheit der Definition von Aretalogie, die ja keine Großgattung, sondern »eine inhaltliche Aussage« sei (Schneemelcher/Schäferdiek 1997, 75; Esser 1969, 101; Dormeyer 2005b, 109f.). Ergänzen lässt sich, dass die τέρατα (terata), die die erstaunenswerten Vorgänge, Zustände und Rettungen beinhalten, zwar zum Bereich der Aretalogie gehören, sich aber von den ἀρεταί (aretai) noch deutlicher als bei Söder trennen lassen, wenn Letztere nur auf den menschlichen Wundertäter bezogen werden. Das Neue Testament wählte zwar für die menschlichen Wundertaten nicht den Begriff ἀρετή (aretē), sondern andere Substantive und Verben wie δύναμις (dynamis), θαῦμα (thauma), σημεῖον (sēmeion), θεραπεύω (therapeuō), ἐκβάλλω (ekballō) (Zimmermann 2013a, 18-22), gebrauch48

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Apostelgeschichten und antiker Roman

te jedoch τέρατα (terata) nur für die Taten Gottes (vgl. Röm 15,19; 2 Kor 12,12; Mk 13,22 par.; Apg 2,19 u. ö.; Alkier 2001, 290). Der Vergleich der Apostelgeschichten mit den antiken Romanen soll nach Schneemelcher/Schäferdiek und Holzberg nicht nur die Ähnlichkeit der Motive herausarbeiten, sondern die fiktionale Gesamtgestalt berücksichtigen: Die Verfasser der Apostelgeschichten schufen »zweifellos einen neuen Typus fiktionaler Prosaerzählung, den man mit einem gewissen Recht als frühchristlichen Roman bezeichnen könnte. Zur Gattung des antiken Romans wird man ihn freilich nicht mehr zählen, sondern mit ihm dessen Rezeptionsgeschichte beginnen lassen« (Holzberg 1986, 19; Schneemelcher/Schäferdiek 1997, 78). Schneemelcher/ Schäferdiek heben als Spezifikum gegenüber den Romanen heraus: Ihre besondere Prägung bekommen die AGG durch die Stellung der Apostel. Sie (und nicht die emanzipierten Frauen) stehen im Mittelpunkt der Werke, um ihretwillen sind die AGG geschrieben worden. Denn sie sollen die Träger der Botschaft sein, die in der Form, die dem Roman nahesteht, verkündet wird. So verbinden sich hier die Intentionen der Unterhaltung, der Belehrung und der religiösen Propaganda zu einer eigenartigen Gattung, die für spätere Hagiographie den Ausgangspunkt darstellt (Schneemelcher/ Schäferdiek 1997, 78).

Die Intentionen der Unterhaltung, Belehrung und religiösen Propaganda lassen auf das Lesepublikum schließen. Adressaten sind nicht bildungsferne Volksschichten, sondern eine gebildete Leserschicht. Ähnlich wie bei den neutestamentlichen und apokryphen Evangelien haben die paganen Schöpfungen einen höheren literarischen Rang. Die Biographien von Plutarch übertreffen die Evangelien bei weitem an ästhetischer Gestaltung (Dormeyer 2005b, 125-134.166-185; Burridge 1992). Die Romane exzellenter Schriftsteller wie Chariton, Xenonophon von Ephesus, Achilleus Tatios, Heliodor, Philostrat, Longos, Petron, Lukian und Apuleius übertreffen an Poetizität die Apostelgeschichten. Doch der Alexanderroman des unbedeutenden Ps.-Kallisthenes kommt in Stil und Aufbau nahe den Evangelien (Reiser 1984) und den Apostelgeschichten. Alle Romane nehmen alte Traditionen auf und arbeiten sie ein. Den großen antiken Schriftstellern gelingt dieser Sammlungsprozess eleganter als den Apostelgeschichten. Es ist ein Genuss, z.B. die Parallelfassungen zu Lucius, dem verwandelten Esel, von Lukian und Apuleius miteinander zu vergleichen. Entsprechend haben auch die Apostelgeschichten überliefertes Material verarbeitet, ohne dass der Wortlaut der Tradition eindeutig erkennbar wird. »Die Scheidung von Tradition und Komposition ist schwierig und kann sicher nicht nach einheitlichen Kriterien in gleicher Weise bei allen AGG vorgenommen werden« (Schneemelcher/Schäferdiek 1997, 79). Die Endgestalt bildet den Zugang zur Interpretation der Apostelgeschichten und der antiken Romane. Romanbiographie, Liebesroman und utopischer Reiseroman bilden zu den Apostelgeschichten die nahesten Parallelen, aber auch der komödiantische Roman wirkt ein, z.B. beim Wanzenwunder (ActJoh 60f.). Parallel zu den Romanbiographien, Liebesromanen und utopischen Reiseromanen entführen die Thomasakten den Leser in das ferne Indien, das bereits seit dem Alexanderzug bekannt ist (Philostr. vit. Ap.; Ps.-Kall. Alex.). Gleich die Einleitung macht in Anlehnung an die lukani49

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sche Apostelgeschichte klar, dass der Leser auf die Reise der Apostel »an die Grenzen der Erde« (Apg 1,8) mitgenommen wird: Zu jener Zeit waren wir Apostel alle in Jerusalem, Simon, genannt Petrus, und Andreas, sein Bruder, Jakobus, des Zebedäus Sohn, und Johannes, sein Bruder, Philippus und Bartholomäus, Thomas und Matthäus, der Zöllner, Jakobus (des Alphäus Sohn), und Simon, der Kanaanäer, und Judas (des Jakobus Bruder); und wir verteilten die Gegenden der Erde, dass ein jeder von uns in die Gegend, die durchs Los auf ihn käme, und zu dem Volke, zu welchem der Herr ihn schicke, reisen solle. Nach dem Lose kam nun Indien an Judas Thomas, der auch Zwilling heißt (ActThom 1; Übers. Drijvers 1997).

Thomas wird gegen seinen Willen vom Herrn nach Indien als Sklave verkauft; nach der Schiffsfahrt in Andrapolis angekommen, verliebt sich eine hebräische Flötenspielerin in ihn (ActThom 1-8): »Denn sie liebte ihn sehr als ihren Landsmann; er war aber auch von Ansehen jugendlich schön, mehr als alle dort Anwesenden« (ActThom 8). Er aber enthält sich Christus zuliebe der erotischen Leidenschaft (ActThom 9). Der Liebesroman wird jetzt zur nahesten Parallele. Es gelingt Christus, in der Gestalt des Thomas die Tochter des Königs und den Bräutigam in der Hochzeitsnacht ebenfalls von der Enthaltsamkeit zu überzeugen (ActThom 9-15). Natürlich ist der König aufgebracht und will den Zauberer hinrichten; doch Thomas befindet sich bereits wieder auf der Schiffsfahrt nach Indien, und die betrübte Flötenspielerin wird durch den neuen Glauben und die Enthaltsamkeit des königlichen Brautpaares getröstet und wird zur Verkünderin von Christus vor dem König (ActThom 16). Die ersten Kapitel der Thomasakten verbinden Reiseroman, Liebesroman und biblische Geschichtsdarstellung anschaulich und spannungsvoll. Zum Offenbarungswunder, dass Christus selbst in der Gestalt des Thomas im Brautbett liegt und lehrt, tritt ein weiteres Wunder im Stile der Wunder des Propheten Elischa hinzu. Wie Elischa von jungen Burschen verspottet wird, sie verflucht und wie Gott diese durch zwei Bären zerreißen lässt (2 Kön 2,23f.), so sorgt Gott auch für die Vergeltung eines Backenstreiches, eine Vergeltung, die beim Backenstreich für den Herrn während der Passion noch ausbleibt (Joh 18,22). Thomas fastet während des öffentlichen Festmahles wegen der königlichen Hochzeit: Während aber der Apostel zur Erde hinsah, streckte einer der Weinschenke seine Hand aus und gab ihm einen Backenstreich. Der Apostel aber hob seine Augen auf, richtete sie auf den, der ihn geschlagen hatte, und sprach: »Mein Gott wird in der zukünftigen Welt dies Unrecht vergeben, in dieser Welt aber wird er seine Wunder zeigen, und ich werde jetzt gleich sehen, wie die Hand, die mich geschlagen hat, von Hunden fortgeschleppt wird« (ActThom 6; Übers. Drijvers 1997).

Anschließend trägt Thomas ein Lied vor. Denn als Haupttätigkeit predigt er wie der Herr, die Apostel in der lukanischen Apostelgeschichte, der Wanderphilosoph Apollonius von Tyana und Pythagoras. Und siehe da, der Übeltäter des Backenstreichs geht kurz darauf zum Wasserholen zu einer Quelle, wird dort von einem Löwen zerfleischt, ein schwarzer Hund packt die sündige Hand und bringt sie zum Gelage. Die hebräische Flötenspielerin findet spontan zum Bekenntnis: »Dieser Mensch ist entweder ein Gott oder ein Apostel Gottes«. Wie in der lukanischen Apostelge50

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schichte glauben einige, während andere ungläubig bleiben (Apg 13,48-52; 14,4-6). Die τέρατα (terata) sind keine Beweise, sondern Symbole. Gott schafft das moralisch Unreine aus der Gesellschaft (Apg 5,1-11; vgl. Dormeyer z.  St. in diesem Band). Der Apostel Thomas wiederum heilt durch seine Wunderkraft in der Vollmacht des Herrn die Störungen der Schöpfung und Gesellschaft, findet aber beim König und seinen Freunden keinen Glauben: Sie [die Freunde, D.D.] sagten ihm [dem König, D.D.] aber: »Weder hat er einen Palast gebaut noch etwas anderes von dem getan, was er zu tun versprach, sondern er geht in den Städten und Dörfern umher, und wenn er etwas hat, gibt er alles den Armen und lehrt einen neuen Gott […] und pflegt Kranke und treibt Dämonen aus und tut viele andere Wunder« (ActThom 20; Übers. Drijvers 1997; vgl. Mk 6,7-12 parr.).

Die Wunder des Thomas symbolisieren den Anbruch des Eschatons. Noch stärker als die Thomasakten sind die Taten des Paulus und der Thekla innerhalb der Paulusakten von dem Liebesroman geprägt (ActThecl; ActPl; Schneemelcher/Kasser 1997, 216-224). Thekla hört in Ikonium die Predigt des Paulus am Fenster eines benachbarten Hauses. Tag und Nacht verlässt sie den Fensterplatz nicht, sondern drängte sich im Glauben in unaussprechlicher Freude herzu. Da sie aber noch viele Frauen und Jungfrauen zu Paulus hineingehen sah, hatte sie das Verlangen, auch sie möchte gewürdigt werden, vor dem Angesicht des Paulus zu stehen und das Wort Christi zu hören. Denn sie hatte Paulus von Angesicht noch nicht gesehen, sondern hörte nur sein Wort (ActThecl 7; Übers. Schneemelcher in Schneemelcher/Kasser 1997).

Das Wort Christi und das Wort des Paulus sind noch nicht voneinander getrennt. Die leidenschaftliche Liebe Theklas gilt Paulus und seinem Wort. Die Mutter von Thekla und der Bräutigam Theklas betreiben die Verhaftung von Paulus und den Prozess gegen ihn vor dem Statthalter (ActThecl 8-17). Thekla besticht die Wärter, die Paulus bewachen, und »küßte auch seine Fesseln«; die Ihrigen finden sie »sozusagen mitgefesselt durch ihre Liebe«; Paulus wird vor den Richterstuhl geführt; »Thekla aber wälzte sich auf der Stelle, wo Paulus lehrte, als er im Gefängnis war« (ActThecl 18-20). Gleich das zweite Gedicht von Ovids Liebesliedern (Amores) beginnt programmatisch mit einer ähnlichen Topik, die hier offenkundig weiterwirkt: Was hat das zu bedeuten? Das Lager kommt mir so hart vor, Und es fährt auf dem Bett Laken und Decken daher. Schlaflos hab ich die Nacht – wie währte sie lange! gelegen, Hab mich gewälzt und noch jetzt spür ich im Leib das Gebein. Fiel eine Liebe mich an, ich denk doch, ich müßte es merken. Oder schleicht sie und wirkt heimlich und listig versteckt? Doch wird es sein! Der Pfeil, der spitzige, hängt schon im Herzen, Amor ist da! Ein Tyrann herrscht er und wühlt in der Brust (Ov. am. 1,2,1-8; Übers. Marg/Harder 1992).

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Thekla ist plötzlich vom Liebespfeil Christi getroffen worden und liebt noch in erotischer Weise den Verkünder der Liebe, Paulus. Seinetwegen verweigert sie die Ehe mit ihrem Bräutigam, wird zum Feuertod verurteilt und schaut in der Ferne den Herrn in der Gestalt des Paulus (ActThecl 20-21; Esch 2005, 162f.). Da Thekla beim Besteigen des Scheiterhaufens gläubig ein Kreuz schlägt, bewirkt Gott τέρατα (terata), löscht mit Regengüssen den Scheiterhaufen und lässt Thekla unverletzt von ihm herabsteigen (ActThecl 22). Thekla trifft anschließend Paulus, zieht mit ihm nach Antiochien und wird dort erneut zum Tode verurteilt. Sie findet dort in Tryphäna eine wohlhabende und mächtige Freundin, die ihr bis zum Tode in Liebe verbunden bleibt (ActThecl 22-43). Gottes τέρατα (terata) retten Thekla auch im zweiten Martyrium, und Thekla tauft sich selbst auf den »Namen Jesu Christi« (ActThecl 23-39). Sehnsuchtsvoll sucht Thekla anschließend Paulus, aber nicht mehr als erotisch Geliebten, sondern als den Apostel in der Verkündigung. Nach dem Wiedersehen in Myra trennen sich beide; Thekla geht nach Seleukia und stirbt dort nach erfolgreicher Verkündigungstätigkeit (ActThecl 40-43). Eine eigene, apostolische Wunderkraft besitzt Thekla im Unterschied zu Paulus nicht; aber sie ist sich in ihren Gebeten sicher, dass Gott sie nicht ohne Rettung lassen wird (ActThecl 37). In einer weitergehenden Deutung hingegen werden auch Thekla die Wunder zugeschrieben (Esch 2005, 163-174). Paulus wirkt ebenfalls noch eigene Wunder aufgrund seiner apostolischen Vollmacht. Auch die Liebe zum gleichen Geschlecht spielt in den Liebesromanen eine große Rolle. Chaireas gewinnt bei der Suche nach seiner geliebten Frau Kallirhoe den Polymarchos als unzertrennlichen Freund (Char. Kall. 4,2,2). Nach dem Wiederfinden und der Vereinigung mit Kallirhoe belohnt Chaireas ihn mit seiner Schwester als Braut (Char. Kall. 8,8,12). Bei den »Liebenden von Ephesos« entbrennt der Räuberführer Korymbos in leidenschaftliche Liebe zu Abrokomes; dieser aber kann ihn erfolgreich zurückweisen (Xen. Eph. 1); der Räuberhauptmann Hippothoos wiederum wird zum treuen Helfer (Xen. Eph. 2-5). Der Apostel Philippos wirbt um den äthiopischen Kämmerer; dieser erhört ihn, aber nicht mit sexueller Erotik, sondern mit der Liebe zu Christus und der Bitte um die Taufe (Apg 8,26-40; Dormeyer 2005a). Die Petrusakten haben analog zu den Romanbiographien den Kampf der beiden Wanderphilosophen Petrus und Simon Magus zum Mittelpunkt. Die Wunder bringen zum Ausdruck, wer die wahre, von Gott und Christus kommende Wunderkraft besitzt (Haehling 2003). In den Andreasakten tritt der Apostel Andreas in Kleinasien und Griechenland als großer Wundertäter auf und erleidet in Patras das Martyrium. Die Johannesakten schildern Johannes als Wanderphilosophen mit einem Kreis von Schülerinnen und Schülern, der auf seinen Reisen im östlichen Mittelmeerraum viele Wundertaten bewirkt und einen friedlichen Tod im Kreise seiner Schüler findet. Wunder aufgrund der eigenen Wundervollmacht der Apostel bringen alle großen Apostelgeschichten: die lukanische Apostelgeschichte, die Andreasakten, die Johannesakten, die Paulusakten, die Petrusakten und die Thomasakten. Außerdem finden Wunder in den Akten des Petrus und Matthias, des Petrus und Andreas, des Philippus und des Barnabas statt. Die Anlehnung an die Romanliteratur 52

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Apostelgeschichten und antiker Roman

ermöglicht es den Apostelgeschichten, die Grunderfahrungen der conditio humana umfassend einzuarbeiten. Zwischen den apokryphen Apostelakten und der neutestamentlichen Apostelgeschichte als erstem Werk besteht allerdings hinsichtlich der antiken Romane ein grundlegender Unterschied. Die Apostelgeschichte gehört zur pathetischen Historiographie (Dormeyer 2009a), die Apostelakten gehören zur Romanliteratur. Die Eigennamen von Amtsträgern in der Apostelgeschichte sind historisch verifizierbar, während die Namen in den Apostelakten außer den neutestamentlich bezeugten Apostelnamen durchgängig Erfindungen sind. Die Reiserouten in der Apostelgeschichte sind differenziert und als Wege- und Schiffsrouten nachprüfbar, während sie in den Apostelakten vage bleiben (Keener 2011, 55f.69). Die soziologischen und politischen Informationen zum Synhedrion, zu jüdischen Religionsparteien, zu den Synagogen in der griechisch-römischen Welt, zu den Rechtsverhältnissen in den Provinzen, Städten und in der Hauptstadt Rom sind zuverlässig, während diese Informationen in den Apostelakten sehr schemenhaft und ungenau bleiben, insbesondere bei den Martyrien. Marguerat spricht zu Recht bei der Apostelgeschichte von einer »Mischung aus Imagination und Realismus«, die von den nachfolgenden Apostelakten zugunsten des rein fiktionalen Romanstils aufgegeben wird (Marguerat 2011, 26f.), während Pervo diese Differenzierung unterlässt: »Acts and its apocryphal successors were not history« (Pervo 2009). In neuer, singulärer Weise drückt das Christentum in den Apostelgeschichten den Glauben aus, dass Gott den neuen, eschatologischen Kosmos in Jesus Christus und seinen Aposteln hat anfanghaft Wirklichkeit werden lassen und die Glaubenden an deren Wunder für immer teilnehmen lässt. Detlev Dormeyer

Literatur zum Weiterlesen R. A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography, SNTS. MS 70, Cambridge 1992. D. Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte. Eine Einführung, Darmstadt 1993. Ders., Die Gattung der Apostelgeschichte, in: J. Frey/C. K. Rothschild/J. Schröter (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, BZNW 162, Berlin/New York 2009a, 437-475. O. Ehlen, Leitbilder und romanhafte Züge in apokryphen Evangelien. Untersuchungen zur Motivik und Erzählstruktur (anhand des Protevangeliums Jacobi und der Acta Pilati Graec. B), Altertumswissenschaftliches Kolloquium 9, Stuttgart 2004. M. Reiser, Der Alexanderroman und das Markusevangelium, in: H. Cancik (Hg.), Markus-Philologie. Historische, literargeschichtliche und stilistische Untersuchungen zum zweiten Evangelium, WUNT 33, Tübingen 1984, 131-165. R. Söder, Die apokryphen Apostelgeschichten und die romanhafte Literatur der Antike, Darmstadt 1969.

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Mehr als nur ein paar Spuren: Humor in Wundererzählungen 1. Formen und Funktionen von Humor Der Titel Von den Pflichten legt eine ernsthafte, wenn nicht gar verbissene Einstellung zum Leben nahe. Ciceros De officiis (eine stark dem Stoiker Panaitios verpflichtete Abhandlung) enttäuscht nicht: »Wir sind nämlich von der Natur nicht so erschaffen worden, dass wir für das Spiel und den Spaß gemacht zu sein scheinen, sondern vielmehr für den Ernst und für einige gewichtigere und bedeutendere Beschäftigungen« (Neque enim ita generati a natura sumus, ut ad ludum et iocum facti esse videamur, ad severitatem potius et ad quaedam studia graviora atque maiora, Cic. off. 1,103) Der homo ludens ist nicht das, was die Natur im Sinn hat. Cicero fährt fort und erklärt, Humor und dergleichen seien statthaft, freilich erst nach Erfüllung der Pflichten. Humor solle auf Bildung und geistige Wendigkeit (ingenuum et facetum) abzielen, nicht aber auf das profusum oder immodestum. In Cic. off. 1,104 postuliert er, dass es zwei unterschiedliche Arten von Humor gebe: den schlechten »ungehobelten, rüden, bösartigen, unanständigen« (illiberale, petulans, flagitiosum, obscenum) und den erstrebenswerten, der »kultiviert, höflich, klug und geistreich« sei (elegans, urbanum, ingeniosum, facetu). Gentlemen bevorzugen Letzteren. Wer sich für Populärliteratur interessiert, wird versucht sein, nach den illiberale etc. zu suchen. Der Instinkt dieser Menschen trügt in der Regel nicht. Cicero wurde für seinen Sinn für Humor bewundert. Antike rhetorische Abhandlungen über Humor sind hilfreich in Hinblick auf die Kriterien, die sie liefern, und die Beispiele, die sie anführen; ihr Humor ist in den meisten Fällen unmittelbar ersichtlich. Die Verwendung von Humor in Gerichts- und anderen Reden zielte darauf, das Wohlwollen des Richters, der Geschworenen und des Publikums zu gewinnen. In der Theorie weniger explizit, aber in Beispielen doch gut belegt ist die Absicht, den Gegner schlecht dastehen zu lassen, weshalb das illiberale und seinesgleichen alles andere als verschmäht wurden. Schon Aristoteles (Arist. rhet. 1415a) knüpfte die Verwendung von Humor an Einführungen, eine auch heute noch geläufige Methode, da Redner, die »Aristoteles« oder »Rhetorik« vielleicht nicht einmal buchstabieren können, ihre Vorträge üblicherweise mit ein paar Witzen beginnen, um ihr Publikum »aufzulockern«. Unter den lateinischen Quellen finden sich Quint. inst. 6,3 und Cic. orat. 2,216-289 (vgl. auch Cic. orat. 87 und ad Her. 1,10). Cicero und Quintilian sind sich darin einig, dass die Definition des Begriffs schwierig ist. Während Cicero Humor eher als eine Gabe der Natur denn als Kunstfertigkeit versteht (orat. 2,216), gesteht Quintilian auch Letzterer Raum zu (inst. 6,3,11). Alle diese Schriften konzentrieren sich auf eine Klassifizierung, was eine erschöpfende Auflistung von Sprachfiguren und Tropen zur Folge hat. Der Ertrag dieser Bemühungen ist jedoch begrenzt. Wenn nicht gerade im Kontext trübsinniger stoischer Ausführungen (oder wenn er nicht über seine Hauptquelle hinausblickte), konnte Cicero Humor ernst nehmen. 54

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Humor in Wundererzählungen

Auf lange Sicht trugen die in De officiis formulierten Vorbehalte den Sieg davon. Ambrosius von Mailand tat es Cicero in seiner Abhandlung über die Pflichten der Kirchenbediensteten gleich. Eine dieser Pflichten bestand darin, Humor zu vermeiden, da dieser, wie er versicherte, in den biblischen Schriften nicht zu finden sei (Ambr. off. 1,23,102). Die Einführung eines neuen exegetischen Geistes im Westen zur Zeit der Renaissance hätte zu einer neuen Überprüfung der Frage führen können, doch sowohl die Reformation als auch die Gegenreformation wollten es anders. Luther wäre biblischem Humor gegenüber offen gewesen, doch die Welle humanistischen Ernstes, gefolgt von altprotestantischer Schulphilosophie erstickte dahingehende Bemühungen bereits im Keim. Der Calvinismus war unempfänglich für den biblischen Witz, wie der Puritanismus unter Beweis stellte, der Jansenismus bot keine und der Pietismus nur sehr wenig Hilfe. Und Rudolf Bultmann, wohl der größte Exeget des 20. Jh. und keineswegs ein humorloser Mensch, konnte geltend machen, dass sich im Neuen Testament nicht eine Spur von Humor finde (Bultmann 1968, 208-210). Dies war der allgemeine Stand der Dinge vor 40 Jahren, als ich anfing, mich mit dem Thema zu beschäftigen (Pervo 1987, 58-66). Diese Sachlage erscheint heute schwer vorstellbar. Die Gleichnisse bringen Licht ins Dunkel. Wie, so mag man sich zu Recht fragen, kann es sein, dass Exegeten in der häuslichen Krise, auf die sich Lk 15,8-10 bezieht, nicht eine Spur von Humor erkennen konnten, nicht einmal im Rückblick? Oder in dem Szenario von Lk 11,58? Oder bei der kampflustigen Witwe von Lk 18,1-8? Es ist nach wie vor leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass zahlreiche Exegeten einsehen, dass der Verwalter in Lk 16,1-8 tatsächlich der Schurke ist, als der er dargestellt wird. Diese durchschaubaren Fälle legen offen, was des Kaisers Kleider waren: die Annahme, Jesus habe ständig über Theologie oder Ethik gesprochen, und zwar auf ziemlich trübsinnige Art und Weise. Gleichnisse waren mit exemplarischen Charakteren ausgestattete Moralgeschichten. Vorausgesetzt, die heutige Forschung erkennt derlei Ansichten nicht mehr notwendigerweise an, bleiben dennoch Fragen: Was sind die Kriterien für Humor? Antiken Rhetorikern gelang es nicht, Humor zu definieren, aber sie lieferten zahlreiche Beispiele für dessen Gebrauch. Liest man diese, die Alte und insbesondere die Neue Komödie sowie Schriftsteller wie Lukian, so legt sich der Schluss nahe, dass einige Formen von Humor beständig sind. Andere sind auf bestimmte Kulturräume und Epochen beschränkt. In einem Seminar über Aristophanes verwendete ich einst Texte, in denen alle Witze getilgt waren, in denen es um Sex und Körperfunktionen ging. Politische und andere Schärfen, die Exegeten mit Hilfe antiker Scholien und moderner Konjekturen zu erklären versuchten, blieben hingegen unangetastet. Somit lag es nahe, dass die Studierenden zu dem Schluss kommen würden, Aristophanes sei schwierig und nicht besonders komisch. Gerade die unanständigen Formen von Humor aber waren es, die die Redaktoren vor der leicht zu beeindruckenden Jugend verbargen, genau wie auch Satire, Ironie und Parodie sowie das zu jeder Zeit beliebte Wortspiel. Dies wird zu einer weiteren Debatte führen. Ich für meine Person habe keine Zweifel daran, dass 2 Kor 55

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12,6-9a die Parodie einer Wundererzählung ist (vgl. Mk 14,32-42); auch andere zweifeln daran nicht. Die Auffassung, auch bei 2 Kor 12,2-5 handle es sich um eine Parodie, ist noch weniger verbreitet. Diejenigen, die keinerlei Verwendung von Witzen gelten lassen und damit auch die Möglichkeit implizit ausschließen, dürfen herausgefordert werden. Es dürfte offensichtlich sein, dass die Definition von »Humor«, um die es hier geht, vieles mit einschließt, was nicht zum Lachen bringt. In der Regel gilt ein Stöhnen als angemessene Reaktion auf ein Wortspiel, und ein schmerzerfüllter Gesichtsausdruck ist die passende Antwort auf boshafte Witze. Definiert man Humor streng als etwas, das Lachen hervorruft, wird sich die Definition auf Aggression und Dominanz konzentrieren (vgl. z.B. Krichtafovich). Auch wenn Aggression den Hintergrund und Ursprung vieler Formen des Humors darstellen mag, beleuchtet sie dessen Funktionen nicht hinreichend. Mit Hilfe von Humor können Menschen sich von sich selbst lösen, so dass sie in der Lage sind, eine Situation aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen, ist schließlich nicht immer ein Zeichen für Selbsthass! US-Präsident Abraham Lincoln war ein Meister des selbstironischen und leisen Witzes. Er setzte Humor sowohl dafür ein, einen Stachel zu mildern, als auch dafür, ihn anzuspitzen. Die folgenden Beispiele beinhalten sowohl den aggressiven als auch den nicht aggressiven Typ von Humor. Untersucht man einen Text darauf hin, ob er Humor enthält, dann ist Mehrdeutigkeit sowohl möglich als auch erwünscht. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Gleichnis vom verlorenen Groschen (Lk 15,8-10). Eine Theateraufführung dieser Geschichte, die den Schwerpunkt auf die angestrengten und nicht immer wohlüberlegten Versuche der Frau legt, das abhanden gekommene Geld wiederzufinden, kann angenehm amüsant sein. Wir alle waren schon einmal mit solchem Suchen beschäftigt und lachen später vielleicht über uns selbst – wenn sie denn erfolgreich enden. Von einem feindseligen Standpunkt aus kann die Geschichte dazu benutzt werden, Frauen als irrationale Wesen zu zeichnen. Wieder eine andere Aufführung könnte die Angst und die Anspannung der zunehmend verzweifelten Hausfrau betonen. Alle haben ihre Berechtigung. In dem literarischen Kontext, in dem die Geschichte im Lukasevangelium steht, würde eine heitere Lesart die eher sentimentale erste Erzählung (Lk 15,1-7) auf schöne Weise ergänzen und einen Kontrast zum Nachfolgenden schaffen. Humor unterschiedlicher Art findet sich auch in Wundererzählungen, da diese als Prosa-Miniaturen die meisten, wenn nicht gar alle Elemente beinhalten, die in einer Erzählung vorkommen können, wie z.B. Spannung, Konflikt, Pathos und – fast immer – Überraschung und Irritation (vgl. dazu Definition 1, in Zimmermann, Einleitung in diesem Band). Wundererzählungen haben ihren Sitz im Leben in der Missionstätigkeit. »Mission« ist dabei in einem weiten Sinn zu verstehen, nicht nur im Anwerben von neuen Gläubigen, sondern auch in der Zurückgewinnung Abtrünniger, der Ermutigung Mutloser und ganz allgemein in der Stärkung der Gemeinde sowie verschiedenen apologetischen und polemischen Aufgaben. Insbesondere für »neue« Götter sind Wunder von Nutzen, d.h. für Götter, die ganz neu auftauchen oder Götter, die sich selbst »neu erfunden« haben, indem sie ihren 56

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Humor in Wundererzählungen

Herrschaftsbereich ausgeweitet oder ihrem Angebot neue Dienstleistungen hinzugefügt haben. Die Forschung hat Wunder lange Zeit der missionarischen Propaganda zugeordnet (vgl. Kollmann 1996, 362-369 mit Bezug auf A. v. Harnack). Sofern diese Charakterisierung stichhaltig ist, gehören Wundererzählungen zur Welt der Werbung. Möglicherweise ist die Werbung hinsichtlich ihrer Gestalt und Funktion die beste moderne Analogie zu Wundererzählungen. Werbespots präsentieren ebenfalls eine verdichtete Erzählung in einer typischen Dreifachstruktur: Ein Problem (z.B. Kopfschuppen, verkrüppelte Beine) hindert einen Menschen an der vollen Teilhabe an einem aktiven und glücklichen Leben. Eine Lösung (Produkt, Ritual, Aktion) führt zu augenblicklichem Erfolg, der die beabsichtigten Folgen und sogar unbeabsichtigte Nebenwirkungen mit sich bringt (die Person ist jetzt sexuell attraktiver; der einstige »Krüppel« springt umher und hüpft auf und ab wie ein Kind). Eine weitere Ähnlichkeit zwischen beiden besteht in ihrer Vorliebe für Tropen, insbesondere für Metonymie und Synekdoche, und in ihrem Hang zum Symbolismus. Die Analogie zur Werbung, insbesondere zu Fernsehspots, ist insofern hilfreich, als dadurch der Blick weg von Debatten über »Verstöße gegen die Naturgesetze« u.Ä. hin zu Funktion(en) und Absichten der Wundererzählungen lenkt. Religion könnte ein wettbewerbsfähiger Markt sein. Man mag nun fragen: Kann in Werbespots Humor angewendet werden? Die Antwort lautet: Ja. Humor kann die Zielgruppe gewogen machen und dafür sorgen, dass sie sich eher an ein Produkt oder eine Dienstleistung erinnert. Vor etwa sechs Jahren gab es in den USA im Fernsehen einen Werbespot, in dem ein höchstens zehnjähriges Mädchen seine (attraktive usw.) Mutter fragte, ob sie ihr eigenes Mobiltelefon haben könne. »Möchtest du nicht lieber ein Tattoo?«, lautete das Gegenangebot der Mutter. Dabei konnte man sich aus Sicht einer Mutter aus der oberen Mittelklasse kaum etwas weniger Reizvolles vorstellen als ein Tattoo bei einem jungen Mädchen. Diese erheiternde Antwort blieb – und bleibt – im Gedächtnis. Zudem veranschaulichte sie mit wenigen Worten das Ausmaß des »Problems«. Die schreckliche Situation konnte hier aufgelöst werden, denn hinter dem Spot steckte nichts anderes als ein Telefonanbieter, der so günstige Preise hatte, dass eine Familie sich eine unbegrenzte Zahl von Mobiltelefonen und Dienstleistungen für jedes ihrer Mitglieder leisten konnte. Der Spot endet mit Schnappschüssen von Mutter, Vater, Suzy und Johnny, die alle glücklich mit jemandem telefonieren und dabei ihren verschiedenen Beschäftigungen nachgehen. Metonymie: Die Wirkung, eine glückliche Familie, wird durch die Ursache, ein bezahlbarer Telefondienst, ersetzt.

2. Neutestamentliche Beispiele Die Menschen in der Antike verstanden den Wert des Lachens, um die Aufmerksamkeit und das Wohlwollen eines Publikums zu gewinnen, sehr gut. Sie erkannten auch den Nutzen von Beleidigungen und anderen sprachlichen Spitzen, um einen Gegner zu diskreditieren (s.o. die Hinweise auf Quintilian und andere). Nehmen wir 57

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Apg 19,13-17 als Beispiel. Die Mission des Paulus war außerordentlich erfolgreich (19,10). Wie ruft der Autor die Erinnerung an diesen Erfolg wach? Mit Hilfe von Wundern. Zunächst fasst er die von Paulus gewirkten Wunder zusammen, dann erwähnt er die Tücher, die mit seiner Haut in Berührung gekommen waren (19,12). Im Folgenden bietet V. 13 eine weitere Zusammenfassung. Einige ortsansässige jüdische Exorzisten warteten mit einer neuen Technik auf: Zusätzlich zu ihren Rezepturen riefen sie den Namen Jesu an, den Paulus predigte. Diese Veränderung war allerdings eher dem Wettbewerb als dem Glauben zuzuschreiben. Die Exorzisten hatten nicht die Absicht zu bekehren, sie wollten Geld verdienen (es muss an dieser Stelle nicht extra betont werden, dass die Exorzismen des Paulus gratis waren). Hier haben wir eine hübsche Portion Ironie mit einer scharfsinnigen, ganz und gar nicht schmackhaften Pointe über den Verlauf der Heilsgeschichte vor uns. Es folgt ein ausdrückliches Beispiel: Ein gewisser Skevas, Mitglied der hohepriesterlichen Familie, die aus irgendeinem Grund in Ephesus residierte, hatte sieben Söhne, die sich darauf verlegt hatten, es bei ihren exorzistischen Praktiken mit den Namen von Jesus und Paulus zu versuchen. Das ist Verleumdung, vergleichbar mit der Behauptung, ein Erzbischof von Canterbury habe sieben Söhne, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, dass sie angeblich aus dem Jordan stammendes Wasser verkauften, das in der Lage sein sollte, eine Myriade von Krankheiten zu heilen. Das Experiment der Söhne des Skevas war nicht wirklich erfolgreich. Zwar erkannte der Dämon Jesus und Paulus an, jedoch nicht die, die sich auf deren Namen beriefen. Was auch immer andere meinen mögen: Dämonen lehnen ein magisches Exorzismusverständnis ab. Um das deutlich zu machen, fällt dieses Wesen über die Möchtegern-Exorzisten her, so dass sie am Ende vielmehr wie Opfer von Dämonen als wie deren Bezwinger dastehen. Dies ist eine laute und burleske Episode, die bei gläubigen Hörern garantiert herzhaftes Gelächter auslöst, ganz zu schweigen von denjenigen, die Aberglauben und religiösen Schwindel verachten, und sogar bei denen, die selbst nicht immer absolut glaubwürdig sind. Die Erzählung endet, womit sie hätte beginnen sollen: mit verwundeten und nackten Opfern eines Dämons. Diese Pointe veranschaulicht auch Mk 5,1-20 par. gut, eine Erzählung, die Lukas vielleicht vor Augen hatte, als er Apg 19 schrieb. Diese Erzählung in Mk 5 ist ein gutes Beispiel für eine Exorzismuserzählung, die jedes Publikum begeistern würde – sie bietet Dramatik, Humor, Schauspiel und Spannung. Der Abschnitt besteht aus vier Bildern, in denen sich Jesus jeweils mit einer einzelnen Figur oder einer Figurengruppe auseinandersetzt. Die Erzählung eröffnet mit einem Individuum, das so weit wie nur irgend möglich von einer menschlichen und zivilisierten Existenz entfernt ist, mit einem Friedhofsbewohner, den man nicht davon abhalten oder schützen kann, sich selbst zu verletzen. Die Rede vom »Binden« (V. 4) ermöglicht verschiedene Wortspiele: Böse Geister binden (z.B. Lk 13,16) und werden gebunden (Offb 20,2). Szenen, in denen gefeilscht wird, sind oft unterhaltsam (z.B. Gen 18,22-31). Mk 5,6-12 ist dafür ein ergiebiges Musterstück. Der Besessene erzielt den ersten Stich, indem er Jesus mit seinem Namen anspricht und ihm befiehlt, ihm nichts anzuhaben. Man beachte die frequentativen 58

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Imperfekte (V. 8.9.10), die wiederholte Aktion implizieren: »Und er versuchte es erneut …«. In V. 9 hat Jesus den Namen herausgefunden: »Legion«. Es handelt sich also nicht um einen einzelnen bösen Geist, sondern um eine ganze Division dieser Kreaturen. Die Bewohner Palästinas hatten im letzten Drittel des 1. Jh. die Gelegenheit, etwas über Legionen zu lernen, und nur wenige von ihnen waren geneigt, diese mit offenen Armen zu empfangen. Bei diesem lateinischen Wort handelt es sich um eine politische Anspielung. Es ist nicht verwunderlich, dass die Legion mit ihrer großen Anzahl triumphierte und die Bedingungen für ihren Auszug diktieren und eine neue Behausung in Besitz nehmen konnte. Aus jüdischer Perspektive war diese Schweineherde genau der Ort, wohin Legionen gehörten, und wenn die Schweine ertranken, war das sogar noch besser. Diese Perspektive wird im weiteren Verlauf fortgesetzt, wenn die frisch entmachteten Bewohner Jesus dazu auffordern wegzugehen (V. 10.12.17). Der Exorzist wird »exorziert«. Diese launige Geschichte entstand offensichtlich in einem jüdisch-nationalistischen Kontext. Ihre Ursprünge sind möglicherweise nicht in den Kreisen derer zu finden, die Jesus nachfolgten. Sie ist stark anti-römisch und auf kaltschnäuzige Weise anti-heidnisch (V. 18-20 bieten dann einen passenden christlichen Abschluss). Mk 7,24-30, ein Apophthegma, in dem der Exorzismus den Sieger honoriert, enthält eine geistreiche Erwiderung, die auch bei Quintilian Zustimmung gefunden hätte. Wieder ist die Sprache rassistisch, denn »Hund« war (und ist) für Semiten ein beleidigender Begriff. Die heidnische Frau akzeptiert die Beleidigung und fegt sie damit vom Tisch. Die Würdigung dieser scharfen Erwiderung (es handelt sich um den einzigen Bericht über eine Auseinandersetzung, die Jesus verloren hat) wurde in dem Bemühen, seine Historizität zu verteidigen, entschärft und mit einer Prise Jesusfrömmigkeit gewürzt. Überzeugt davon, dass Jesus niemals ein so grobes und unfeines Verhalten an den Tag gelegt hätte, klammerten sich Kommentatoren in den ersten 75 Jahren des 20. Jh. an die Diminutive und verwandelten die Szene so in ein freundliches Gespräch über süße kleine Kinder und ihre niedlichen kleinen Haustiere. Ein typisches Beispiel ist der Kommentar von Julius Schniewind (1956, 107): »An unserer Stelle wird die Schärfe durch die Verkleinerungsform gemildert – man erinnert an die Tobias-Geschichte (Tob 11,3 u. ö.)«. Dabei haben diese Exegeten allerdings die in der Frage der Historizität gewichtigeren Schwierigkeiten ignoriert: Wie konnte es z.B. dieser Frau gelingen, an dem/den Gastgeber/n vorbeizukommen, die Jesus, wie man annehmen kann, von ungebetenen Gästen abgeschirmt haben? Oder: Wie hätte eine Griechin sich mit einem bäuerlichen Galiläer unterhalten können? Dieses Beispiel benutzt eine kaltschnäuzige anti-heidnische Verunglimpfung, um die Anerkennung von Heiden zu fördern. Apg 5,17-25 bietet Humor einer anderen Art. Aus Eifersucht auf die Fähigkeiten der Apostel nehmen der Hohepriester und die Sadduzäer diese fest und werfen sie ins Gefängnis. Das ist in etwa so, als würde die Bundeskanzlerin persönlich, unterstützt von den Christdemokraten, bestimmte Verdächtige verhaften und einsperren. Egal – die Tat wird vollzogen und überrascht nicht. In der Nacht öffnet ein 59

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Engel die Türen und lässt sie hinaus. Ebenfalls keine Überraschung. Als der Morgen kommt, kehren die Zwölf in den Tempel zurück, um zu lehren. Die Ankläger versammeln sich. Apg 5,21b beschreibt diese Versammlung stark übertrieben: Der Hohepriester mit seinem Gefolge, der Sanhedrin und alle Ältesten in Israel kommen zusammen. Der Erzähler ergeht sich in Ausmaß und Feierlichkeit dieser richterlichen Versammlung. Es wird der Befehl ausgegeben, die Gefangenen zu holen. Als die Wachen zurückkehren, haben sie keine Gefangenen bei sich. Ein ausführlicher Bericht bestätigt das Wunder und unterstreicht das Rätsel. Ihre Ratlosigkeit weicht bei der vorhersehbaren Ankunft eines anderen Boten, der ihnen den Aufenthaltsort der Apostel nennt. Der Witz besteht in dem Kontrast zwischen der Selbstsicherheit und Größe des richterlichen Gremiums und dessen Unfähigkeit, ein Dutzend Männer für eine Nacht sicherzustellen. Diese Einschätzung verstärkt sich, wenn man sich die Szene als Film vorstellt: lange Stille, als die Zeit, die es normalerweise dauern würde, die Gefangenen herzubringen, überschritten wird; Unruhe kommt auf; es folgt die alarmierende Enthüllung mit dazugehöriger Verwirrung; eine Gruppe schimpft über mangelnde Sicherheit. Dies alles ist zu erwarten, wenn sich herausstellt, dass diejenigen, die eigentlich völlige und hundertprozentige Kontrolle haben sollten, in Wahrheit keine Kontrolle haben. Dieser Appell an die Phantasie ist nicht unzulässig. Jede Erzählung fordert ihren Lesern Phantasie und Mitwirkung ab. Geschichten wie die in der Apostelgeschichte sollten laut vorgelesen und von Erzählern ausgestaltet werden. Ein Prediger kann sich eine ganze Stunde mit Apg 5,17-25 beschäftigen, ohne alle Möglichkeiten dieses Textes auszuschöpfen. Man kann entweder behaupten, dass Gott die Verantwortung hat, oder man kann es zeigen. Diese drei ausführlichen Beispiele veranschaulichen einen Humor, der auf »den anderen« zielt. Das folgende untersucht einen anderen Typ von Humor. Apg 12,5-17 ist Teil einer Erzähleinheit, die reich an Dramatik und Symbolismus ist, dabei aber nicht frei von Humor (Pervo 2009, 299-315). Ist das geschmacklos? Lukas weiß, dass eine Prise Humor Spannungen sowohl verschärfen als auch mildern kann. Die überspannende Ironie besteht in der Hinrichtung während des Passafestes, dem Fest der Befreiung. Diese Jahreszeit erinnert an eine andere Hinrichtung. In der Nacht vor seinem Tod schläft Petrus, in Fesseln und praktisch umstellt von Wachen (die Ereignisse von Apg 5 sollen sich nicht wiederholen), so fest, dass nicht einmal ein blendendes, ja epiphanisches Licht ihn wecken kann. Mit diesem Licht kam ein Engel. Petrus hat das schon einmal erlebt (5,19), versteht aber trotzdem nichts. Der Engel muss ihn in die Seite stoßen (V. 7; vgl. V. 23) und ihn auffordern, sich zu beeilen. Wie eine Mutter, die ihr widerwilliges Kind überredet, aufzustehen und sich für die Schule fertig zu machen, muss er jedes seiner Kleidungsstücke überwachen: den Gürtel, vergiss deine Schuhe nicht, jetzt den Mantel. Das ist bei einem Schulkind schön und gut, nicht aber in dieser Situation. An dieser Stelle ist das Publikum verrückt vor Sorge und enttäuscht von zwei Charakteren: dem Engel und dem Apostel. Die Anweisung müsste eigentlich lauten: »Schnapp dir deine Klamotten und komm in Schwung!« Dieser Engel wäre ein guter Diener, wenn es darum ginge, Petrus für einen päpstlichen Empfang einzukleiden, aber jetzt 60

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gerade wird niemand benötigt, der dafür sorgt, dass man beim Ausbruch aus dem Gefängnis möglichst gut aussieht. Der Leser wird beim ersten Lesen fast verrückt; auf den zweiten Blick ist Petrus eine amüsante Gestalt; bei noch weiterem Nachdenken stellt sich heraus, dass er den liturgischen Anweisungen für das Passafest folgt. Zu gegebener Zeit wird Petrus als der Typus des Eingeweihten gesehen, der wie ein neugeborenes Kind in die Gefilde des neuen Lebens eintritt. Das Abenteuer des Petrus endet mit einer Szene, wie sie in der Neuen Komödie beheimatet gewesen wäre. Von dem Engel, der ihn befreit hat und nicht länger als nötig geblieben ist, verlassen, muss Petrus sich durch die ärmlichen Straßen zum Haus der Maria schleichen, in dem er Zuflucht finden kann. Dieses letzte Tor ist nicht weniger gefährlich als die vorherigen, denn als er anklopft, öffnet ihm eine gedankenlose Sklavin (in Komödien sind Sklaven immer entweder gewitzt oder extrem begriffsstutzig), Rhode, die beim Anblick des Petrus vor Freude so außer sich ist, dass sie davonstürzt, um die gute Nachricht weiterzugeben. Die unglückliche Komponente ihres Enthusiasmus liegt darin, dass sie den Gast draußen stehen lässt. Abgesehen davon, dass dies von schlechten Manieren zeugt, verschärft sich die Gefahr, da Petrus weiterhin gegen das Tor hämmert. Wie lange kann es dauern, bis die Menschen anfangen, an dem als Hauptquartier einer verderblichen Sekte bekannten Ort nach der Ursache dieses Lärms zu suchen? Denn Rhodes Mitteilung fällt auf steinigen Boden. Die guten Leute halten sie für verrückt. Was sie gesehen habe, sei sein Schutzengel gewesen. Wieder eine Prise Ironie, denn ein Engel hatte gerade die Wachen des Petrus überwunden. Als ihm die Schlüssel zum Himmelreich gegeben wurden, hätte Petrus um einen Generalschlüssel bitten sollen, da Türen und Tore ständige Hindernisse darstellten. Diese Episode ist die »Heimzahlung« für seine Begegnung mit einem anderen Sklavenmädchen (Lk 22,56f.); das Verb διïσχυρίζετο [diischyrizeto] findet sich im Neuen Testament nur in Lk 22,59 und in Apg 12,15; s.u. zu weiteren Begegnungen mit Türhütern). Im Haus der Maria wurde die langgezogene Debatte (vgl. die frequentativen Imperfekte in V. 15f.) schließlich durch den genialen Vorschlag gelöst, jemand anderer möge zur Tür gehen und nachsehen. Die Zielscheibe ist hier nicht eine dumme Sklavin. Sie hat sich behauptet. Petrus für seinen Teil wird gezwungen, über seine frühere Verleugnung nachzudenken, ebenso die Leser. Beiden Abschnitten geht eine Nebenerzählung voraus: Die Gemeinde betet inbrünstig (12,5.12). Ist dies ironisch, weil sie für die Befreiung des Perus beten, obwohl sie von der Vergeblichkeit solcher Gebete überzeugt sind? Das ist möglich, der Erzähler sagt jedoch nicht, dass sie um Befreiung oder Strafaufschub beteten. Der Autor mahnt zu häufigem und inbrünstigem Gebet (Lk 11,5-13), ohne zu behaupten, das Ergebnis entspreche unbedingt dem, was man normalerweise unter einem Wunder versteht. Eine hilfreiche homiletische Schlussfolgerung könnte darin bestehen, dass Gläubige sich nicht von ihrem Gebetsleben davon abhalten lassen sollten, ein Wunder zu erkennen, das sich in ihrer Mitte ereignet. Diese Bestandsaufnahme, die eher veranschaulichend als vollständig sein will, macht die Spannbreite humorvoller Elemente in neutestamentlichen Wundererzäh61

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lungen kenntlich. Auch wenn in den meisten Polemik beabsichtigt ist, können Autoren wie Lukas auch sanfte Pfeile auf die Gemeinde und deren Helden abschießen. Aufgrund einer ehrwürdigen Tradition, die Möglichkeit von Humor auszuschließen, müssen Exegeten den Fokus insbesondere darauf legen, den in den Texten enthaltenen Humor herauszuarbeiten, damit er heute wieder wahrgenommen werden kann. Die ideale Reaktion eines Lesers wäre zu sagen: »Natürlich ist das lustig! Warum habe ich das nicht schon vorher gesehen?« Oder: »Dieser Abschnitt hat mich immer gestört. Diese Erklärung ergibt Sinn«.

3. Beispiele aus den neutestamentlichen Apokryphen In der neutestamentlichen Wissenschaft wurde schon vor langer Zeit erkannt, dass in den Apokryphen Humor begegnet. Dies wurde jedoch als Indiz für ihre Minderwertigkeit angesehen. Gesteht man allerdings den kanonischen Texten die Verwendung von Humor zu, so wird dieses Argument gewaltig geschwächt. Andererseits hat man die strikten Kriterien, anhand derer die christliche Bibel geprüft wurde, bei der Lektüre der apokryphen Texte nicht immer beiseitegelegt. Die Schwierigkeit bei der Auslegung bestand in einem Unwillen, solche Erzählungen als symbolisch und somit als humorvoll zu betrachten. Anders gesagt: Es war schwierig, die Gewissheit aufzugeben, die antiken Leser hätten mehr oder weniger jeden Text für bare Münze genommen. Die Untersuchung beginnt bei Petrus, der erneut einem Türwächter begegnet. Das Material entstammt den Actus Vercellenses 9-14, dem größten erhaltenen Teil der Petrusakten. Der Apostel ist nach Rom gekommen, um eine Gemeinde zu retten, die nach der Abreise des Paulus nach Spanien von Simon verführt worden war. Nachdem eine erste Rückgewinnung gelungen ist, bitten ihn die Gläubigen darum, gegen Simon zu kämpfen (ut committeret se cum Simone). Ein freundlicher Empfang ist höchst unwahrscheinlich. Als der Pförtner herbeigerufen wird, erklärt er Petrus freundlich, Simon habe ihn angewiesen zu sagen, er sei nicht zu Hause, sollte Petrus vorbeischauen (zu einem Witz mit ähnlichem Motiv vgl. Cic. orat. 2,276). Die Freimütigkeit bezeugt die Macht des Petrus. Anstatt den Pförtner melden zu lassen, Simon solle zur Tür kommen, wendet sich der Apostel (angesichts der Menschenmenge) an den riesigen, mit einer schweren Kette angebundenen Wachhund des Simon (vgl. ActPetr 29). Der unerschrockene Seelsorger nähert sich dem Hund und macht ihn von der Kette los. Prompt fragt das befreite Tier Petrus, wie es ihm zu Diensten sein könne. Daraufhin schickt Petrus den Hund los, um Simon zu holen. In ActPetr 12 weist Simon den Hund an zu sagen, er sei nicht zu Hause, woraufhin er sich eine lange Moralpredigt anhören muss. Die frühen Leser wussten aus der Bibel: Wenn Tiere reden, ist die Wahrscheinlichkeit von Orakeln groß (Num 22,28-30). In ActPetr 14 hat Simon das Glück so weit verlassen, dass er von seinen Sklaven mit Fäusten, Stöcken und Steinen geschlagen, mit dem Inhalt von Nachttöpfen getauft und schließlich auf die Straße hinausgetrieben wird. Ein solches Rowdytum ist in 62

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der Neuen Komödie Bestandteil des Standardrepertoires, und man kann es für seine Geschmacklosigkeit, nicht aber für seine Humorlosigkeit verurteilen. Dies ist ein Teil der »Passionserzählung« des Simon, eine kunstvolle Verspottung dessen, was im Falle Jesu Verspottung war. Das ist alles schön und gut. ActPetr 13 jedoch ist so sehr jenseits des Akzeptablen, dass sogar vulgäre Pöbelei ihren Glanz verliert. Als Reaktion auf die Bitte um ein weiteres Zeichen (weil Simon einige ungeheuerlichen Wunder gewirkt hatte) ließ Petrus sich von einem gewöhnlichen Räucherfisch inspirieren, den er in einen glücklicherweise nahe gelegenen Teich warf und im Namen Jesu Christi aufforderte, wiederaufzuleben und zu schwimmen. Dies tat er auch und knabberte an Brotstückchen, die die erstaunten Zuschauer herbeibrachten. Erbärmliche Übertreibung, mögen manche sagen, aber der Zwischenfall ist zweifellos amüsant. (Eine postmoderne Interpretation ist verführerisch, denn dies kann als Verspottung derjenigen verstanden werden, die nach immer größeren und besseren Wundern verlangen.) Petrus wusste eine Menge über Fisch (Mk 1,16-20; Lk 5,1-11; Joh 21,1-14). In gewisser Weise kann dies als Kommentar zu Tert. bapt. 1 gelesen werden (vgl. auch Or. Comm. in Mt. 13,10). Es handelt sich hierbei um eine simple, aber unvergessliche Parabel auf die Erneuerung durch die Taufe: Ein vormals totes Lebewesen wird durch Eintauchen ins Wasser wiederbelebt. Keine Tiergeschichte in den christlichen Apokryphen kann jedoch mit derjenigen konkurrieren, in der Paulus einen Löwen tauft (ActPl 9, möglicherweise auch im Eröffnungskapitel berichtet). Die uns überlieferten Verurteilungen beginnen bei Hieronymus: »Darum klassifizieren wir die Reisen des Paulus und der Thekla und die gesamte Fabel über einen getauften Löwen als apokryphe Schriften« (vir. ill. 7). Die Fakten dieses Falles: Kurz nach seiner Konversion werden der Apostel und zwei Frauen in seiner Begleitung von einem Löwen angesprochen. Anstatt das Trio zu verspeisen, begehrt das Raubtier die Taufe, erhält diese und lebt in der Folge streng zölibatär. Auf der moralischen, fiktiven Ebene beschämt dieses Tier, das für sexuelle Potenz und Heldenmut gerühmt wird, Männer. Symbolisch repräsentiert das Tier den christlichen Sieg über die ungezähmte Begierde. Eschatologisch weist es auf das Ende der Feindschaft zwischen den Arten. Die Klugheit dieser Tat wird bestätigt, als der Apostel in Ephesus den wilden Tieren vorgeworfen werden soll und der wilde Löwe, der ausgewählt worden war, ihn zu zerreißen, sich als kein anderer als sein Schützling erweist. Der Löwe bietet auch eine passende Parallele mit Thekla, wo sich in Kap. 4 eine Löwin, die sie eigentlich verschlingen soll, mit ihr anfreundet. Seit 1950, als Wissenschaftler auf die Möglichkeit stießen, die Erzählung könnte eine symbolische Bedeutung haben, ist das Maß der von Hieronymus vorgebrachten Verachtung zurückgegangen. Wenn sie symbolisch zu deuten ist, könnte in der Erzählung ein kleines bisschen Humor enthalten sein. Eine ähnliche Erkenntnis könnte die Polemik gegen den geräucherten Fisch mildern. Das abschließende Beispiel entstammt den ActPetrAndr 13-21. Dazu aufgefordert, seine Frau und seinen Besitz zu verlassen, wurde der reiche Onesiphorus ausfallend. (Hier handelt es sich um eine Darstellung, die sich stark von der in den 63

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ActThecl 3 unterscheidet.) Als Reaktion zitiert Petrus Mk 10,25. Dies führt zu einer Epiphanie des Heilands als Kind. Er verlangt nach einem Kamel und einer Nadel. Petrus versteht, steckt die Nadel in den Erdboden und weist das Kamel – mit einer christologischen Anrufung – an, durch das Nadelöhr zu gehen, welches sich zuvorkommend öffnet wie ein Tor, so dass das Kamel zweimal hindurch gehen kann. Davon beeindruckt, legt Onesiphorus die Messlatte höher und fordert, dass er sowohl Nadel als auch Kamel, letzteres geritten von einer »unreinen Frau«, sowie einige Schweine herbeibringe, deren Anordnung nicht weiter spezifiziert wird. Ich möchte die Spannung nicht ausdehnen: Petrus wiederholt die Prozedur zweimal. Dies motiviert Onesiphorus dazu, seine Höfe, Weinberge, Edelmetalle und die Freilassung seiner Sklaven anzubieten, wenn er im Gegenzug den Trick selbst vollbringen könne. Es stellt sich heraus, dass er es kann, auch wenn das Kamel nur bis zum Hals durch das Nadelöhr passt, weil Onesiphorus nicht getauft war. Er nahm die Initiation zusammen mit 1000 anderen an. Leider wurde die arme Frau, die als Reiterin herangezogen wurde, um den Abschnitt noch herausfordernder zu gestalten, in der Luft hängen gelassen. Sie schwor, ihren Besitz wegzugeben und ihr Haus in ein Heim für religiöse Frauen umzuwandeln. Alles ging gut aus. Ein Zugang zu diesem Material besteht darin, dessen plumpe Befriedigung des Wunderglaubens und einen übertriebenen Buchstabenglauben zu beklagen. Der Charakter dessen, was uns erhalten ist (eine Fortsetzung der Acta Andreae et Matthiae apud Anthropophagos) stehen diesem Schluss nicht entgegen, die Art der Übertreibung, die Erinnerung an Petrus’ Auseinandersetzung mit Simon und der Gebrauch von Onesiphorus als Zielscheibe wecken jedoch Zweifel. Vor 20 Jahren erschien diese Passage als ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie eine Hyperbel missverstanden werden kann. Inzwischen vermute ich, dass beinahe das genaue Gegenteil davon die wahrscheinlichere Auslegung darstellt.

4. Fazit Frühchristliche Literatur enthält mehr als nur ein paar wenige Spuren von Humor. Wundererzählungen stellen mit ihrer breiten narrativen Ausdehnung und ihrer Intention zu beeindrucken hervorragende Beispiele dar. Einige Arten von Humor – u.a. Wortspiele, bestimmte Arten von Ironie und geistreiche Erwiderungen – scheinen nicht an eine bestimmte Zeit oder Kultur gebunden zu sein. Die Erfahrungen des Simon Magus in seiner Heimat gehören zu dieser Kategorie. Das, was stärker in einer bestimmten Kultur, Subkultur, Altersgruppe oder Epoche verankert ist, ist schwieriger zu fassen. Wer die Bedeutung des Namens Onesiphorus nicht erkennt, wird das Beispiel aus den Acta Petri et Andreae eher als konkrete Erzählung lesen. Hier besteht weiterer Diskussionsbedarf in der Wissenschaft. Häufig ist frühchristlicher Humor in seiner Absicht aggressiv und lässt die Bösen böse aussehen. Ein solcher Humor ist keineswegs auf Minderheitengruppen beschränkt, aber er ist in Minderheitenkulturen tief verwurzelt und kann dazu bei64

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tragen, das Selbstbewusstsein von Außenseitern aufzubauen. Andere Beispiele sind weniger aggressiv. Auch sie verdienen Anerkennung. Die Untersuchung von Humor in Wundererzählungen ist ein Schritt in Richtung einer Anerkennung dieser zweiten Form. Ein Aspekt davon besteht darin, sich darauf zu freuen, jemanden sagen zu hören: »Hast du schon diese Wundererzählung gehört?« Richard I. Pervo

Literatur zum Weiterlesen R. Bultmann, Das Christentum als orientalische und als abendländische Religion (1949), in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, Tübingen 1968, 187-210. I. Krichtafovitch, Humor Theory: Formula of Laughter, Denver 2006. R. I. Pervo, Acts. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis 2009. Ders., Profit with Delight, Philadelphia 1987.

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Wunder versus Magie und Zauberei »There is no such thing as magic.« (Uncle Vernon, Harry Potter and the Sorcerer’s Stone)

Nicht erst seit dem nun schon bald zwanzig Jahre andauernden Fankult um Harry Potter und seine Abenteuer geht von dem Begriff »Magie« eine unglaubliche Faszination – man möchte sagen »magische Anziehungskraft« – aus. Auch in Kreisen ernstzunehmender Religionswissenschaften gehört die Erforschung vor allem antiker Magie seit etwa dreißig Jahren zu den »großen Themen«, zu denen eine kaum überschaubare Menge von Literatur produziert wird und mit denen sich eine Vielzahl höchst spannender und immer neuer Fragen verbinden. Gerade deswegen ist es keineswegs einfach, das gegenseitige Verhältnis von »Wundern« und »Magie« präzise zu bestimmen. Das Problem erschwert sich vor dem Hintergrund einer Forschungsgeschichte, in der der Begriff »Magie« lange Zeit mit dem (ebenso schwierig zu bestimmenden) Begriff »Religion« kontrastiert wurde. Noch bis etwa zur Mitte des 20. Jh. lassen sich im Grunde zwei einander konträr liegende Vorstellungen erkennen: Während z.B. Ulrich von WillamowitzMoellendorf von der Magie als »Urdummheit« der Menschheit sprechen konnte, die der »Religion« vorausliege (Willamowitz-Moellendorf 1931, 28-31), verstand etwa Samson Eitrem magische Praktiken als Relikte degenerierter Religion (Eitrem 1925, 1). In eine ähnliche Kerbe schlägt Norbert Brox, wenn er von Magie als »überall anwesende[r] Perversion von Religion« schreibt (Brox 1974, 157), doch stellt sich das Verhältnis M[agie] – Religion […] in verschiedenen kulturellen Umfeldern sehr unterschiedlich dar; in manchen Gesellschaften sind beide kulturellen Konzepte nur schwer formulierbar, bzw. es existiert keine Opposition M[agie] – Religion. Manchmal ist das Verhältnis dialektisch, doch sind andererseits strikte Oppositionen auch keineswegs selten (Frenschkowski 2010, 875).

Ähnlich problematisch sind auch Versuche, (aus Sicht einer heutigen Theorie von Wissenschaft) Magie und Wissenschaft miteinander zu kontrastieren. Gerne wurde Magie zudem mit »Zwang« assoziiert, während der »Religion« die »Bitte« entspreche (z.B. de Vries 1962, 218-221; Klauck 1995, 175). In seiner umfangreichen Studie des Jahres 1980 zeigt jedoch David E. Aune, dass vielmehr durchaus das Gegenteil gelten kann: Auch in magischen Texten fänden sich Beispiele für das demütige Bitten, während Religion durchaus auch den Versuch der Manipulation überirdischer Mächte kenne (Aune 2006, 373). Auch Versuche, »Magie« auf soziologischer Ebene zu verstehen, bleiben umstritten: Ist »Magie« als »individualistisch« und anti-sozial außerhalb des religiösen Kollektivs operierend zu beschreiben (Durkheim 1965, 57-59)? Oder soll man gar so weit gehen, ihre »Illegalität« als zentrale Eigenschaft, die Magie von Religion unterscheidet, hervorzuheben (Smith 1975, 23)? 66

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In all diesen Überlegungen wird klar, dass es notwendig ist, sehr genau zu beschreiben, was man unter »Magie« versteht, bevor man sich darüber wissenschaftlich angemessen äußern möchte. Doch auch die Frage nach einer angemessenen Definition des Begriffs wirft eine Vielzahl von Problemen auf. Will man versuchen, »Magie« aus einer Innenperspektive heraus, also soweit wie möglich aus der Sicht dessen, der Magie anwendet(e), zu verstehen (Dickie 2001, 19f.)? Ist so etwas, so wünschenswert es vielleicht sein mag, heute überhaupt noch möglich? Oder soll eine von außen auf magische Phänomene blickende Perspektive eingenommen werden? Soll man heutige Begrifflichkeit einbringen oder sich dem Phänomen über antike Verständnismöglichkeiten annähern? Auch wenn klar scheint, dass weder eine Zeiten und Kulturen übergreifende Definition von Magie, noch die Übernahme der Innenperspektive eines antiken Magiers durch den heutigen Wissenschaftler möglich ist (Versnel 1991, 185), lassen sich die eben gestellten Fragen kaum beantworten. Wo es aber – wie im vorliegenden Fall – vor allem darum geht, Licht auf Verständnismöglichkeiten antiker christlicher Texte, die von wunderbaren Ereignissen sprechen, zu werfen, mag es zunächst einmal interessant sein, sich mit Aussagen antiker Autoren der römisch-hellenistischen Welt zu beschäftigen, die sich aus unterschiedlichen Anlässen mit »Magie« auseinander setzen.

1. Antike »Definitionen« von Magie Bereits in der Antike zeigen sich unterschiedliche Formen dessen, was unter »Magie« zu verstehen ist (vgl. Aune 2007, 249-252; Frenschkowski 2010, 858-873; Graf 1996, 93-104). Ein erster Versuch einer systematischen Einleitung in die Magie und ihre Geschichte ist uns aus der Naturgeschichte Plinius des Älteren (23/24-79 n. Chr.) bekannt (nat. 30,1-18), der Magie auf das Zueinander von Medizin, Religion und Astrologie zurückführt und sie als lügenhaft und letztlich nutzlos ablehnt (vgl. Frenschkowski 2010, 865f.; für eine Gesamtdarstellung betrügerischer magischer Praktiken aus christlicher Sicht vgl. zudem Hipp. haer. 4). Einen interessanten Zugang bietet uns die Verteidigungsrede des Apuleius von Madauros (etwa 125-170 n. Chr.) gegen den (für ihn durchaus gefährlichen) Vorwurf, Magie zu betreiben. Apuleius beantwortet die für seinen Prozess so entscheidende Frage, »was eigentlich ein Magier ist« (Apul. Mag. 25,11), mit einem Verweis darauf, dass (1) im Persischen das Wort Magier zunächst einmal für »Priester« stehe (so schon Herodot; zu persischen Ursprüngen des Wortes »Magie« bzw. »Magier« sowie zur Verbindung »Magie« – »Zoroaster« Frenschkowski 2010, 859-863) und dass wiederum (2) Plato von Magiern als Erziehern persischer Prinzen spreche. Im umgangssprachlichen Gebrauch wiederum (3) sei derjenige »Magier«, der »im gemeinschaftlichen Gespräch mit den unsterblichen Göttern zu all dem, was er will, mit einer geradezu unglaublichen Macht seiner Beschwörungen befähigt ist« (Apul. Mag. 26,6). Apuleius unterscheidet so grundsätzlich zwischen zwei Arten von Ma67

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giern – guten und schlechten. Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich auch die von Apuleius v.a. in Mag. 40,3 an die Oberfläche kommende, offensichtlich aber vorausgesetzte Idee, dass der Unterschied zwischen dem Philosophen und dem Zauberer bzw. professionellen Heiler darin zu sehen sei, dass Letzterer auf seinen Profit bedacht sei. Mit dieser Differenzierung zwischen wahrer Magie und Formen der Zauberei durch gefährliche, ja kriminelle Scharlatane steht Apuleius nicht allein – Parallelen zu diesem Denken finden sich u.a. in der Vita Apollonii des Philostrat (etwa 170-247/50), in den Aethiopica des Heliodor von Emesa (4. Jh.), sind aber selbst bei Augustinus bekannt (civ. 10,9). Damit aber sind noch keineswegs alle Formen antiker »Theorien« zur Magie vorgestellt (zum Folgenden vgl. weiterführend Aune 2007, 251f.; Graf 2002, 100104, ausführlich auch Frenschkowski 2010, 858-873). Durchaus an den bei Apuleius geäußerten (und letztlich auf Plato zurückzuführenden) Gedanken angelehnt, dass Magie auf einer communio loquendi cum deis immortalibus basiere, formuliert Augustinus in seinen Schriften De Trinitate und vor allem De Doctrina Christiana eine semiotische Theorie von Magie, deren Grundgedanken Andreas Merkt folgendermaßen zusammenfasst: Das magische Treiben […] beruht auf »pacta quaedam significationum cum daemonibus placita atque foederata«, also auf Verträgen oder Übereinkünften über die Bedeutung der (magischen) Zeichen, auf Bündnissen sozusagen, die mit Dämonen geschlossen wurden. Zu diesen magischen Zeichensystemen gehören die Bücher der Haruspices und Auguren, Beschwörungen, geheime Zeichen, Amulette und abergläubische Bräuche, aber auch die Astrologie […] Alle derartigen Künste beruhen gleichsam auf Pakten treuloser und verschlagener Freundschaft, auf der schändlichen Gemeinschaft von Menschen und Dämonen (Merkt 2007, 469; vgl. auch Markus 1994).

Dabei geht es Augustin nicht um die viel später nachweisbare Idee, dass der Magier in einer Art »Pakt mit dem Bösen« stehe, sondern darum, dass den verwendeten magischen Zeichen »nur im Rahmen einer bestimmten Sprachgemeinschaft«, hier einer Gemeinschaft zwischen Mensch und Dämon, Bedeutung zukomme (Merkt 2007, 469). Damit ist natürlich eine – im Rahmen eines christlichen Monotheismus einzig mögliche – Weiterentwicklung des bei Apuleius zu erkennenden Gedankens von der communio loquendi mit Göttern, die hier als Dämonen verstanden werden, erkennbar. Einflussreich bis hinein in Magie-Definitionen des 20. Jh. war auch die auf Plotin zurückgehende Vorstellung der »Sympathie« und »Antipathie«, die zwischen verschiedenen Teilen des Kosmos zu erkennen sei (En. 4,4[28],40-44). Magie setze eine Kenntnis der dadurch entstehenden Verbindungen voraus. Der Magier wiederum nehme Einfluss auf die »sympathetischen« Dimensionen des Kosmos und erreiche so die entsprechenden Resultate – man könnte geradezu von einem »naturwissenschaftlichen« Ansatz sprechen (hierzu v.a. Aune 2007, 251; Frenschkowski 2010, 867f.). Damit aber wird m.E. vor allem eines klar: Wenn wir das Verhältnis von »Wundern« und »Magie« in antiken christlichen Texten diskutieren und dabei die 68

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Wunder versus Magie und Zauberei

Texte selbst ernstnehmen wollen, können wir nicht einfach davon ausgehen, dass sie alle das gleiche Verständnis von Magie voraussetzen. Erst ein Zugang, der versucht, vor dem Hintergrund antiker Denkmöglichkeiten über »magische Praktiken«, zu verstehen, worin die entsprechenden Texte selbst »Magie« verstehen, kann dem in ihnen zum Tragen kommenden Verhältnis von »Wundern« und »Magie« gerecht werden. Dies müsste im Grunde ähnlich selbstverständlich sein wie die Tatsache, dass man zwischen dem markinischen Verständnis von »Wundern« als Machttaten, in denen sich das Hereinbrechen der kommenden Königsherrschaft Gottes zeigt, und ihrer johanneischen Darstellung als Zeichen, in denen für den Glaubenden die Herrlichkeit Christi (und damit Herrlichkeit Gottes) offenbar wird, differenziert.

2. Magie und Wunder – unterschiedliche Verhältnisbestimmungen in unterschiedlichen Texten Wie wenig sich antike Theorien über das Verhältnis von Magie und Wundern von einem auf einen anderen Text übertragen lassen, zeigt etwa das Beispiel der Pseudoklementinischen Homilien, die dem Simon Magus eine ganze Liste höchst beeindruckender Taten zuschreiben: Er lässt Standbilder umhergehen und verbrennt nicht, wenn er sich auf Feuer wälzt. Manchmal fliegt er auch, und aus Steinen macht er Brote. Er wird zur Schlange, nimmt die Gestalt einer Ziege an, wird doppelgesichtig, verwandelt sich in Gold. Er öffnet verschlossene Türen, schmilzt Eisen, bei Gastmählern führt er Trugbilder von verschiedenstem Aussehen vor. Zu Hause erweckt er den Anschein, als würden seine Geräte von selbst zum Dienst herbeigebracht, ohne dass man die, die sie herbeibringen, sieht (PsClem H 2,32,2; zu dem Beispiel vgl. Nicklas 2007, 498-500; Übers. Wehnert 2010).

Trotz seiner unglaublichen Wunderkräfte wird Simon Magus aber abgelehnt – die dem Text zugrunde liegende Theorie über das Verhältnis von »Wundern« und »Magie« findet sich später im Munde des Petrus (PsClem H 2,34): Zu unterscheiden seien die »unnützen Zeichen« des Simon von den Taten Jesu und der Jünger dahingehend, dass Letztere »menschenfreundlich« seien und »zur Heilung von Menschen« dienten – ein Gedanke, der im weitesten Sinne an die Aussage des Apuleius erinnert, dass es dem Zauberer nur auf den eigenen Profit ankomme. Würde man nun diese in der Auseinandersetzung der Pseudoklementinischen Homilien mit Simon Magus funktionierende Differenzierung als Kriterium etwa auf die synoptischen Evangelien anwenden, müsste man z.B. Jesu Wunder der Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12-14 par.) als sicherlich nicht »menschenfreundlich« und damit der Seite der Magie zuordnen. Dass dies den Texten nicht gerecht würde, liegt auf der Hand, mag dieses Wunder im Kontext des Markusevangeliums doch (theologisch überaus problematisch) als Zeichen dafür stehen, dass Israel seine Rolle als Volk Gottes verspielt hat. Mit diesen Gedanken ist im Grunde nicht eine Lösung der Frage, wie antikchristliche Texte das Verhältnis von Wundern und Magie verstehen, gegeben, sondern 69

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ein Arbeitsprogramm skizziert, das versuchen muss, den einzelnen Texten und den unterschiedlichen, in ihnen zum Tragen kommenden Diskursen gerecht zu werden. An einigen Beispielen aber sei wenigstens gezeigt, wie so etwas aussehen könnte. Ganz unproblematisch ist zunächst einmal die Rede von den Magiern (μάγοι magoi), die aus dem Osten nach Jerusalem kommen, um dem neugeborenen König der Juden zu huldigen (Mt 2,1-12). Auch wenn man nicht folgern muss, dass der Text hier (im Sinne des Apuleius) explizit an Mitglieder einer persischen Priesterkaste denkt, so liegt die vollkommen positive Darstellung dieser Figuren doch auf einer Linie mit einer derartigen Deutung des Begriffs »Magier«. Vielleicht könnte man, dächte man nicht an das Bileamorakel, zudem den Gedanken, dass sie das Aufgehen eines Sterns mit der Geburt eines Königs verbinden, als Zeichen einer Form von Magie auffassen, die sich an die Beschreibung Plotins anlehnt. In ganz anderer Weise scheint das Markusevangelium an der Frage interessiert zu sein, mit wessen Hilfe denn Jesus seine Machttaten vollbringt. Vor diesem Hintergrund versteht sich dann der in Mk 3,22 (par. Mt 12,24; Lk 11,15) gegen Jesus erhobene Vorwurf, er bewerkstellige seine Exorzismen mit Hilfe des Beelzebul, des Anführers der Dämonen (vgl. dazu den Beitrag zu Lk 11,14-23 von C. Böttrich sowie den Themenartikel Dämonen von U. Poplutz in Bd. 1 des Kompendiums). Im Grunde verstehen die Gegner Jesus damit – entsprechend der Magiedefinition, der wir bei Augustinus begegneten – als mit Dämonen bzw. dem Satan, der ihm Macht über Dämonen verschaffe, im Austausch. Die scharfe Ablehnung dieses Vorwurfs durch Jesus ist nachvollziehbar. In diesem Zusammenhang ist ein Blick in die matthäische Parallele interessant: Pikanterweise reagieren laut Mt 12,23 einige Beobachter eines Exorzismus mit der Frage, ob Jesus der Sohn Davids sei. Dies kann man sicherlich durchaus in dem bereits in Mt 1,1 erkennbaren Sinn verstehen, dass Jesus als Messias Davidssohn sei. Im Zusammenhang mit dem direkt darauf folgenden Beelzebul-Vorwurf mag man aber durchaus auch an Salomo denken, dem, anknüpfend an 1 Kön 5,9-13, im frühen Judentum und antiken Christentum exorzistische Macht zugesprochen wurde (vgl. Busch 2006b, 3-6). Die beiden in der matthäischen Szene gestellten Alternativen scheinen also auf der Ebene der Frage zu liegen, von wem Jesus seine exorzistischen Kräfte verliehen sind: Ist ihm wie Salomo, dem weisen König, seine Macht über die Dämonen von Gott verliehen? Oder steckt hinter all dem, was er vollbringt, der Anführer der Dämonen? Dass Letzteres auf keinen Fall zutreffen kann, ist im Grunde auch schon in Mt 4,1-11, der matthäischen Versuchungsgeschichte, thematisiert. Natürlich geht es diesem Text zunächst einmal um ein angemessenes Bild dessen, was unter »Sohn Gottes« zu verstehen ist. Damit zusammen hängt aber auch, dass der Sohn Gottes sich in seinem Wunderwirken nicht vom Teufel und seinen Ideen beeinflussen lässt (Mt 4,3). Während die Frage, ob Jesus von Nazaret »wunderbare Taten« vollbracht habe oder nicht, in der Antike offensichtlich unumstritten gewesen ist, scheint die Frage, mit welchen Mitteln dies geschehen sei, tatsächlich ein Problem gewesen zu sein, mit dem das antike Christentum immer wieder konfrontiert wurde. So beschreibt der in platonischer Philosophie gebildete Heide Kelsos, der Ende des 2. Jh. wohl in 70

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Wunder versus Magie und Zauberei

Alexandrien seine anti-christliche Streitschrift Alethes Logos – Die Wahre Lehre verfasste, das Leben Jesu folgendermaßen: Jesus hat seine Geburt aus einer Jungfrau erdichtet. Er stammt aus einem jüdischen Dorf, geboren von einer einheimischen armen Handarbeiterin. Sie wurde von ihrem Mann, der von Beruf Zimmermann war, des Ehebruchs überführt und verstoßen. Als sie von ihrem Mann weggeschickt wurde und ehrlos umherirrte, gebar sie heimlich Jesus. Wegen der Armut ging dieser nach Ägypten, wo er sich als Tagelöhner verdingte; dort versuchte er sich an einigen magischen Kräften, auf die die Ägypter stolz sind. Eingebildet auf diese Kräfte kam er zurück und erklärte sich ihretwegen öffentlich als Gott (Or. Cels. 1,28; Übers. Lona 2005).

Damit ist die grundsätzlich negative Einschätzung, die Kelsos – und sicherlich mit ihm viele Kritiker des Christentums – hegten, klar. Was Kelsos konkreter unter den magischen Taten Jesu (und seiner Anhänger) versteht, zeigt er an anderer Stelle: Die Kraft, welche die Christen zu haben scheinen, geht auf die Anrufung und Beschwörung von gewissen Dämonen zurück. Durch Zauberei (γοητεία goēteia) konnte Jesus die Wundertaten vollbringen, die er scheinbar gewirkt hat; und weil er voraussah, dass auch andere, wenn sie die gleichen Kenntnisse besitzen, dasselbe tun werden […], hat er solche Menschen aus seiner Gemeinschaft ausgeschlossen (Or. Cels. 1,6; Übers. Lona 2005).

Für Kelsos ist Jesus also ein »Goet«, eine eindeutig negative Bezeichnung für »Magier«, eine Person also, die mit Hilfe von Hexerei scheinbar in der Lage ist, wunderbare Dinge zu wirken. Trotz der offensichtlichen Nähe von Kelsos’ Vorwurf zur Definition des Augustinus, Magier wirkten aufgrund einer Gesprächsgemeinschaft mit Dämonen, sollte auf eine wichtige Differenz hingewiesen werden: Die Definition des Augustinus versteht sich im Rahmen des christlich-monotheistischen Denkens, in dem der eine Gott den Dämonen gegenübersteht. Für Kelsos dagegen stehen Dämonen nicht per se für widergöttliche Mächte. Sein Vorwurf an die Christen besteht also nicht darin, dass sie aufgrund einer Gemeinschaft mit Dämonen Wundertaten wirken, sondern richtet sich gegen die Art und Weise, wie sie die Dämonen anrufen. Dies zeigt sich etwas später: Durch eine gewisse Zauberei und Gaukelei rufen sie die barbarischen Namen von einigen Dämonen an. Sie tun das gleiche wie die, die immer dieselben Dämonen anrufen, und vor denjenigen, die nicht wissen, dass diese Dämonen andere Namen bei den Griechen und bei den Skythen haben, Gaukelei treiben. Den Apollon nennen die Skythen Gongosyros, den Poseidon Thagimasada, die Aphrodite Argimpasa, die Hestia Tabiti. […] Ich sah bei einigen Ältesten Bücher, in denen barbarische Namen der Dämonen und Zauberformeln enthalten waren. Diese Ältesten versprechen nichts Gutes, sondern alles zur Schädigung der Menschen. Ein gewisser Dionysos, ein ägyptischer Musiker, der mir bekannt war, hat mir gesagt, dass die Zauberei nur bei Ungebildeten und sittlich verdorbenen Menschen etwas bewirken kann, bei Philosophen hingegen nichts bewirken kann, da diese für eine gesunde Lebensform schon im Voraus Sorge getragen haben (Or. Cels. 6,39-41; Übers. Lona 2005).

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Für Kelsos liegt das eigentliche Problem der durch Christus (wie auch die Christen) vollbrachten wunderbaren Taten also darin, dass diese nur die barbarischen (und nicht die griechischen) Namen der Dämonen anrufen: Aus Herodot (Hdt. 4,59) führt er Beispiele griechischer Gottheiten an, die bei den Skythen – im griechischen Denken den Barbaren schlechthin – ebenfalls verehrt würden, aber unter anderen Namen. Damit aber zeige sich nicht die Macht der Christen, sondern höchstens ihre »Ignoranz und Selbstüberschätzung« (Lona 2005, 353): Derartiges könne nur zum Schaden der Menschen führen, erreiche seine Wirkung aber nur bei ungebildeten und verdorbenen Menschen. Dass der Vorwurf sich auch in die andere Richtung wenden kann, zeigt ein Text wie die wenig bekannten, wahrscheinlich in die Zeit zwischen dem Ende des 4. und dem 6. Jh. einzuordnenden Akten des Andreas und Matthias in der Stadt der Anthropophagen (ActAndrMatt; zum Beispiel vgl. weiterführend Nicklas 2007). Deren phantastische, in ihren Details etwas verwirrende Handlung über die (angebliche) Mission der Apostel Matthias und Andreas in Mermedonia/Mirmidonia, der Stadt der Anthropophagen, d.h. »Menschenfresser«, kann im Grunde als Erzählung über die Befreiung einer von teuflischen Mächten im Bann gehaltenen und damit ihrer Menschlichkeit beraubten Menschheit durch das Christentum (und die durch Christus vollbrachten Wunder) gelesen werden. Bezeichnend ist schon die Beschreibung der Lebensweise der Anthropophagen: Diese halten alle Reisenden, die in ihrer Stadt kommen, fest, stechen ihnen die Augen aus und zwingen sie, ein magisches Getränk zu trinken, das, wie die lateinische Überlieferung des Textes sagt, ihren Geist auslöscht und sie sozusagen zu Tieren macht. Diese Praxis wiederum verdankt sich der Tatsache, dass die Anthropophagen in einem Bündnis mit dem Teufel stehen. Warum dieser Trank beim Apostel Andreas nicht wirkt, ja, der Teufel mit seinen Dämonen Andreas gegenüber machtlos ist, macht ActAndrMatt 27 deutlich: Andreas trägt auf seiner Stirn das Siegel, das Jesus ihm gegeben hat (vgl. 2 Kor 1,22; Offb 7,4-8; 9,4 etc.), die lateinische Überlieferung setzt hier explizit die Worte signum crucis. Fungiert das Kreuz hier nicht als ein die Mächte der Dämonen abwehrender Schutzzauber? Muss man dies (wie auch etwa die Beschreibung eines Türöffnungswunders mit Hilfe von auf die Tür aufgemalten Kreuzzeichen, ActAndrMatt 19-21) nicht als »magisch« interpretieren? Die Antwort auf diese Frage hängt sicherlich vom zugrunde gelegten Magiebegriff ab. Legte man den Text selbst und sein Verständnis zugrunde, so käme man auf eine ganz einfache Differenzierung: »›Wunder‹ ist das, was Jesus und die Jünger vollbringen. ›Magie‹ ist das, was die Gegner tun. Magie wird mit Hilfe des Teufels oder teuflischer Mächte vollzogen« (Nicklas 2007, 496). Für den Außenstehenden ist die Überlegenheit Jesu und seiner Anhänger deutlich sichtbar – ihre Wunder sind einfach großartiger als die ihrer Gegner. Wer sich dem verschließt, muss (aus der Perspektive unseres Textes) blind sein. Derjenige Text des Neuen Testaments, der die sicherlich vielfältigste und differenzierteste Auseinandersetzung zwischen Wundern der Apostel und magischen Praktiken bietet, ist sicherlich die Apostelgeschichte. So überrascht es kaum, dass in den vergangenen Jahren eine Reihe von Studien sich gezielt dem Magieverständnis 72

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dieses Textes gewidmet haben (Garrett 1989; Klauck 1996; Reimer 2002). Aus der Fülle der möglichen Beispiele können nur zwei kurz angesprochen werden. Im Rahmen der in Apg 8 erzählten Samarienmission begegnet erstmals in christlicher Literatur die schillernde Gestalt des Simon Magus. Dieser verwirrt laut Apg 8,9 das Volk durch seine »magischen« Künste. Dass er als Kraft (δύναμις dynamis) Gottes bezeichnet wird (Apg 8,11), spricht dafür, dass er seine Kräfte auf seine Beziehung zu Gott, der ja auch von den Samaritanern angebetet wird, zurückführt. Beeindruckt von den »Zeichen und Machttaten« (Apg 8,13), die der Apostel Philippus wirkt, lässt sich Simon taufen. Bereits durch die pure Wortwahl unterscheidet der Text also zwischen den Praktiken Simons und den Taten des Philippus. Was sich zum Guten zu wenden scheint, kippt in der folgenden Szene. Offensichtlich erkennt Simon in der Handauflegung der Apostel, durch die der Geist weitergegeben wird, den entscheidenden Grund, der deren Wundertaten ermöglicht. Sein entscheidendes Missverständnis besteht nun darin, dass er glaubt, die »Macht« der Apostel kaufen zu können. Damit verwechselt er nicht nur die von Gottes Gnade geschenkte »Gabe« (Apg 8,20) mit einem käuflichen Gut, er stellt damit die Apostel im Grunde auf die Ebene von Jahrmarktshexern, die mit ihren Praktiken Gewinn machen wollen – Apuleius lässt grüßen. Auf einer noch einmal anderen Ebene liegt Apg 19,11-20. Will man an diese Szene etwa die bei Klauck (1995, 174f.) vorgestellten Aspekte magischen (vs. religiösen) Denkens anlegen, dann hätte man bereits größte Schwierigkeiten, das, was laut Apg 19,12 mit den Schweiß- und Taschentüchern des Paulus geschieht, anders als »magisch« zu verstehen. Die Handlungen dienen offensichtlich »individuellen Zielen«, sie werden von »Privatleuten« (und nicht Repräsentanten einer Gruppe) ausgeführt; sie scheinen »zweckorientiert« und an der Anwendung einer Technik interessiert, mit der eine von Paulus ausgehende heilende Kraft über Vermittlung auf Kranke übertragen werden kann. Dabei scheint zudem auch keine emotionale Beziehung zur Gottheit bzw. zu Christus nötig, um den Erfolg dieses Tuns zu gewährleisten. Nichts jedoch würde der Intention unseres Textes weniger gerecht, als die Handlungen um Paulus als magisch einzuordnen (vgl. Apg 19,11). Erst in Apg 19,13 treten die entscheidenden Gegner auf, herumreisende jüdische Exorzisten, die sich als Söhne eines (wohl von ihnen selbst erfundenen) Hohenpriesters namens Skeuas bezeichnen (Apg 19,14). Bereits diese Angabe ist aufschlussreich für ihr offensichtliches Verständnis der von ihnen bewirkten Exorzismen: Als einziger Mensch überhaupt darf der jüdische Hohepriester einmal im Jahr – im Rahmen der Feier des großen Versöhnungstages – den Namen Gottes aussprechen. Dies scheint für Exorzisten, die mit Namenszaubern arbeiten, von höchstem Interesse gewesen zu sein. Dahinter steht offensichtlich die Idee, dass die Kenntnis dieses Namens dem Magier Teil an dessen Macht, ja, eventuell Macht über seinen Träger verleihe. Um den »Namen Jesu« geht es entscheidend auch in der vorliegenden Szene. Die Söhne des Skeuas scheinen aufgrund der Wunder im Zusammenhang mit Paulus den Namen Jesu als besonders wirksam anzusehen. So versuchen sie, diesen im Rahmen des nächsten Exorzismus zur Anwendung zu bringen – der »Erfolg« jedoch zeigt ihr 73

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tiefes Missverständnis: Vom Dämon fürchterlich verprügelt, müssen sie das Weite suchen (19,16). Kenntnis des »Namens Jesu« verleiht laut Apg 19 also nicht jedem beliebigen Exorzisten Macht, sondern nur demjenigen, der in der entsprechenden Gemeinschaft mit ihm steht. Gleichzeitig ist er größer als alle anderen »Machtnamen«, wird zu Recht »hoch gepriesen« (19,17): Die in ihm vollbrachten Wunder der Christen ersetzen von nun an die Zaubereien der Heiden (Apg 19,19f.).

3. Fazit Damit sind im Grunde nur einige Linien skizziert, das Gesamtbild ist in Wirklichkeit noch einmal viel komplexer. Was sich aber immer deutlicher zeigt, ist die Tatsache, dass eine Gesamttheorie zum Verhältnis zwischen Wundern und Magie dem Anspruch der verschiedenen antiken Texte nicht gerecht werden kann, sondern dass diese von unterschiedlichen, z.T. auch auf unterschiedlichen Ebenen liegenden Vorstellungen von Magie (und Wundern) ausgehen, die es zu berücksichtigen gilt, wenn man sie verstehen will. Dass die dabei zum Tragen kommenden Vorstellungen noch einmal (historisch-)kritisch zu hinterfragen sind, versteht sich von selbst – dazu aber müssen sie zunächst einmal an sich ernst genommen werden. Allerdings existiert auch heute noch keine allgemeingültige und jederzeit anwendbare Theorie von Magie. Diese wird aufgrund der verschiedenen Perspektiven auf das in unterschiedlichen kulturellen Kontexten auf unterschiedlichste Weisen zum Ausdruck kommende Phänomen auch nicht zu ändern sein. Mit anderen Worten – um Uncle Vernon ein wenig abzuwandeln: There is not just one thing as magic, but a lot of different ideas about it … Tobias Nicklas

Literatur zum Weiterlesen D. E. Aune, ›Magic‹ in Early Christianity and its Ancient Mediterranean Context: A Survey of Some Recent Scholarship, ASEs 24 (2007), 229-294. P. Busch, Magie in neutestamentlicher Zeit, FRLANT 218, Göttingen 2006a. Ders., Das Testament Salomos. Die älteste christliche Dämonologie kommentiert und mit deutscher Erstübersetzung, TU 153, Berlin/New York 2006b. M. W. Dickie, Magic and Magicians in the Greco-Roman World, London/New York 2001. M. Frenschkowski, Art. Magie, RAC 23 (2010), 857-957. Ders., Magie im antiken Christentum. Eine Studie zur Alten Kirche und ihrem Umfeld, Standorte in Antike und Christentum 7, Stuttgart 2016. F. Graf, Gottesnähe und Schadenzauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike, München 1996. Ders., Theories of Magic in Antiquity, in: M. Meyer/P. Mirecki (Hg.), Ancient Magic and Ritual Power, Religion in the Graeco-Roman World 129, Leiden et al. 1995.

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Wunder versus Magie und Zauberei

T. Nicklas, Zaubertränke, sprechende Statuen und eine Gefangenenbefreiung. Magie und Wunder in den Akten des Andreas und Matthias, ASEs 24 (2007), 485-500. A. M. Reimer, Miracles and Magic. A Study in the Acts of the Apostles and the Life of Apollonius of Tyana, JSNT.S 235, London 2002.

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Niedergestreckt und zerstört: Strafwunder und ihre pädagogische Funktion 1. Zur Gattung Zumeist nehmen wir Wunder als etwas Positives wahr, als ein Zeichen des göttlichen Willens, in die Weltordnung einzugreifen und das menschliche Wohlergehen zu fördern. Wir »beten für ein Wunder« und implizieren damit, dass ein Wunder bzw. die Aufhebung der uns bekannten Weltordnung ein willkommenes Ereignis darstellt. Jedoch berichten biblische Texte und Apokryphen auch von zahlreichen Wundern, in denen sich eine göttliche Strafsanktion manifestiert. In jenen Fällen resultiert das göttliche Eingreifen in Verletzungen, der Pest oder dem Tod. Obwohl nun derartige Wunder als vom Empfänger durchaus unerwünscht betrachtet werden können, spielen sie mit Blick auf den größeren Erzählkontext eine gewichtige Rolle, insofern sie die göttliche Macht verdeutlichen und eine numinose Strafhandlung für bestimmte Vergehen vor Augen führen (weiterführend Theißen 1998, 114120, der diese Erzählungen in die Gattung [strafendes] Normenwunder einordnet). Dementsprechend können sich die Wunder positiv auf ihre Augenzeugen auswirken und sowohl ihnen als (vor allem) auch den Lesern des Textes eine pädagogische Lektion erteilen. Im folgenden Artikel sollen einige der merkwürdigsten Beispiele von Strafwundern der frühchristlichen Literatur vorgestellt werden. Dabei soll zunächst die pädagogische Funktion der Strafhandlungen in den Texten des Alten und Neuen Testaments analysiert und so die rhetorische Strategie bzw. pädagogische Botschaft der einzelnen Wundererzählungen herausgearbeitet werden. Abschließend sollen einige Beispiele aus den Petrusakten genauer betrachtet werden, die verdeutlichen sollen, dass es sich hierbei um einen flexiblen Tropus handelt, der in ein und demselben Text in unterschiedlicher Weise verwendet werden konnte.

2. Strafwunder im Alten Testament Über das Alte Testament verstreut findet sich eine Vielzahl von Strafwundern, in denen Gott in dramatischer Weise in das Leben der Menschen eingreift, um diejenigen zu strafen, die sich eines Vergehens schuldig gemacht haben. So wird beispielsweise in Gen 19,17 Lot samt seinen Angehörigen von göttlichen Boten dazu aufgefordert, die Flucht zu ergreifen, und zudem ermahnt: »Blick nicht zurück und bleib in der ganzen Ebene nirgends stehen« (Gen 19,17, hier und im Folgenden zitiert nach der Zürcher Bibel). Dabei antizipiert die Ermahnung das schicksalhafte Zaudern der Frau Lots in Gen 19,26. Denn bedauerlicherweise blickt die Frau Lots zurück, erstarrt unversehens zu einer Salzsäule und versinnbildlicht so das Erstarren als direkte Konsequenz der Missachtung des durch die Boten vermittelten göttlichen Befehls (vgl. auch 1 Kön 14,17). Im Text selbst wird Lots Frau so zum Symbol dessen, 76

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Strafwunder und ihre pädagogische Funktion

was den Menschen ereilt, der sich dem göttlichen Gebot widersetzt. Dieses Motiv wird später im Lukasevangelium als ein Beispiel für jene Gefahren aufgenommen, die uns begegnen, wenn wir nicht bereit sind, unser Leben für das Evangelium zu verlieren (Lk 17,32f.; vgl. Mt 16,25). In Lev 10,1-3 bringen zwei Söhne Aarons JHWH »ein unerlaubtes Feueropfer« dar. »Da ging Feuer aus vom HERRN und verzehrte sie« (Lev 10,1-3). Die Gottesrede im folgenden Absatz stellt dieses tragische Ereignis als eine »Lektion« für Aaron dar, die es ihm ermöglichen soll, »zwischen dem, was heilig ist, und dem, was nicht heilig ist«, zu unterscheiden, da er beauftragt ist, »die Israeliten die Satzungen zu lehren, die ihnen der HERR durch Mose gegeben hat« (Lev  10,9-11). Sowohl im Falle der Frau Lots als auch im Falle der Söhne Aarons dient das Wunder demnach als ein Zeichen des göttlichen Urteils, das die Hörer deutlich aufmerken lässt. In beiden Beispielen sind die göttliche Strafhandlung, das Vergehen und das Strafwunder direkt miteinander verknüpft, so dass kein Zweifel darüber bestehen kann, dass das plötzliche Unglück als Folge eines spezifischen menschlichen Fehlverhaltens zu verstehen ist. In Num 16 fahren die Söhne Korachs mit allem, was ihnen gehört, lebendig hinab in das Totenreich. Dies aber geschieht erst, nachdem Mose eine Erklärung für die Notwendigkeit der Bestrafung geboten hat: 28 Dann sprach Mose: Daran sollt ihr erkennen, dass der HERR mich gesandt hat, alle diese Taten zu vollbringen, und dass es nicht aus meinem eigenen Herzen kommt. 29 Wenn diese sterben, wie alle Menschen sterben, und heimgesucht werden, wie alle Menschen heimgesucht werden, dann hat der HERR mich nicht gesandt.30 Wenn aber der HERR Unerhörtes schafft und der Ackerboden seinen Mund aufsperrt und sie verschlingt mit allem, was ihnen gehört, und sie lebendig hinabfahren ins Totenreich, werdet ihr erkennen, dass diese Männer den HERRN verachtet haben.31 Als er aber alle diese Worte zu Ende geredet hatte, spaltete sich der Ackerboden unter ihnen.32 Und die Erde tat ihren Mund auf und verschlang sie und ihre Häuser und alle Menschen, die zu Korach gehörten, und ihre gesamte Habe (Num 16,28-32).

In diesem Absatz wird nicht nur deutlich vor Augen geführt, dass der Untergang der Sippe Korach in einem direkten Zusammenhang mit ihrem hochmütigen Widerstand gegen Mose steht, sondern auch, dass ihre Bestrafung ein pädagogisches Exempel für die gesamte Gemeinde Israel statuiert. Das Verschlingen der Sippe Korach durch die Scheol ist eine Bewährungsprobe für die Autorität Moses als göttlicher Abgesandter, in der die Zuschauer zu Zeugen einer dramatischen Zurschaustellung prophetischer Autorität und göttlicher Strafhandlung an den Söhnen Korachs werden. Nach dem Untergang der Korachiten werden die »Räucherpfannen derer, die durch ihre Sünde das Leben verloren haben«, zu Blechplatten verwertet, die als Überzug für den Altar dienen sollen. Denn, so spricht JHWH zu Mose, »sie sollen für die Israeliten zu einem Zeichen werden« (Num 37,3). Anders als das Motiv der zur Salzsäule erstarrten Frau in Gen 19 wird der Überzug des Altars in Num 36f. explizit als ein bleibendes Symbol für die Folgen des Ungehorsams interpretiert (vgl. ähnlich die Erklärung des Namens »Tal Achor« in Jos 7,25).

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3. Strafwunder im Neuen Testament An diese Strafwunder aus dem Alten Testament erinnern auch einige neutestamentliche Erzählungen. Hier ist insbesondere an die Apostelgeschichte zu denken. In Apg 1,16-19 erzählt Petrus die Geschichte vom Tod des Judas mit einer auffälligen Änderung. Mt 27,5 berichtet, dass Judas sich erhängt hat und dass der »Blutacker« seinen Namen erhielt, weil er nach Judas’ Tod mit dessen »Blutgeld« erkauft wurde (Mt 27,6f.). In Apg 1,18f. hingegen erzählt Petrus, dass Judas, nachdem er den Acker selbst erworben hatte, unvermittelt und auf grausame Weise stirbt, wobei sein eigenes Blut auf dem Acker vergossen wird: 18 Dieser kaufte von dem Lohn für seine Untat ein Grundstück; dort stürzte er, riss sich den Leib auf, und alle seine Eingeweide quollen heraus.19 Und das wurde allen Bewohnern Jerusalems bekannt; von daher heißt jenes Grundstück in der Sprache der Einheimischen Hakeldama, das heißt »Blutacker« (Apg 1,18f.).

So deutet Petrus in seiner Rede die plötzliche Ausweidung des Judas als ein für die Erfüllung von Ps 69,25 (Apg 1,16.20) notwendiges Zeichen und als Indiz dafür, dass Judas sich der Apostelehre als unwürdig erwiesen hat und deshalb ersetzt werden musste. Der Blutacker dient, wie das Tal Achor (Jos 7,25f.) oder der Überzug des Altars in Num 16,38, als ein bleibendes Zeichen von Judas’ Verrat an Jesus und seinem daraus resultierenden blutigen Tod, den er nun als ein von den Anhängern Jesu Ausgeschlossener stirbt. Anders als in Ex 12 oder Num 16, wo das Strafwunder jeweils die Autorität Moses untermauern sollte, dient der von Petrus dargebrachte Bericht über den Tod des Verräters Judas dazu, den früheren Apostel seiner apostolischen Autorität zu berauben. Die Ausweidung des Judas markiert den ersten von zahlreichen dramatischen und plötzlichen Todesberichten in der Apostelgeschichte, die dazu dienen, die neue Gemeinschaft der »Christen« abzugrenzen. In Apg 5,1-11 behält Hananias mit Wissen seiner Frau Sapphira einen Teil des Erlöses für einen Landverkauf zurück und erstattet Petrus darüber falschen Bericht. Nacheinander befragt Petrus Hananias und Sapphira zu dieser Angelegenheit und deckt während der Befragungen die Schwere ihres Vergehens auf. Anstatt Petrus jedoch eine Antwort zu geben, brechen die Angeklagten sterbend zusammen, als wäre der plötzliche Tod selbst die Antwort auf die Frage des Petrus, sozusagen die »übernatürliche« Folge der genannten Vergehen. Bei dem Versuch einer Interpretation des fraglichen Abschnittes richten viele Kommentatoren ihr Augenmerk auf die von Petrus aufgelisteten Vergehen (Habgier, Lüge, Versuchung durch den Geist Gottes) (vgl. z.B. Johnson 1992, 199; Fitzmyer 1998, 323f.; Marguerat 2007, 172-178).. Die von Petrus gestellten Fragen zeichnen sich jedoch vornehmlich dadurch aus, dass sie ein und dasselbe allumspannende Thema wiederholen: Ein Vergehen an der Gemeinschaft ist ein Vergehen an Gott. Der rhetorische Zweck der Erzählung drückt sich in der vom Erzähler dargebotenen Zusammenfassung aus: 5 Als Hananias diese Worte hörte, brach er zusammen und starb. Und große Furcht überkam alle, die es vernahmen. […] 11 Und große Furcht überkam die ganze Gemeinde und alle, die es vernahmen (Apg 5,5.11).

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Strafwunder und ihre pädagogische Funktion

Das plötzliche Dahinscheiden von Hananias und Sapphira löst eine »große Furcht« bei denen aus, die davon hören. Gleichzeitig lässt es auch die Leser des Textes wissen, dass sie die Folgen fürchten sollen, die sich aus einem Ungehorsam gegen die Gottheit ergeben. Die von der Erzählung gewünschte Reaktion ist Furcht. Sie soll die Hörerschaft dazu zwingen, die Autorität des Petrus, die Regeln der (in der Apostelgeschichte gezeichneten) urchristlichen Gemeinschaft und die Macht Gottes in Ehren zu halten. Interessanterweise haben spätere christliche Generationen den Text mit den Strafwundern des Alten Testaments in Bezug gesetzt – zu denken ist etwa an Augustinus, der in seiner Auslegung der Bergpredigt (s. dom. m. 20,64) das Handeln des Petrus mit dem des Elija vergleicht. Auch Herodes Agrippa stirbt nach Apg 12,23 einen plötzlichen Tod. Denn »auf der Stelle […] schlug ihn ein Engel des Herrn, […] und er wurde von Würmern zerfressen und starb« (Apg 12,23). Der Text gibt zu verstehen, dass Herodes auf diese Weise sterben muss, »weil er Gott nicht die Ehre gegeben hatte« (Apg 12,23). So wird der wundersame Tod des Herodes als göttliche Strafe gegen ein spezifisches Vergehen herausgestellt, das für andere als abschreckendes Beispiel dienen soll. Gerd Theißen (1998, 117-120) hat in diesem Zusammenhang argumentiert, dass eine der Funktionen des strafenden Normenwunders in der Aufrechterhaltung heiliger Grenzen bestehe. Ob dies jedoch für die Apostelgeschichte – in einer Gemeinschaft, bei der noch zu entscheiden ist, welche Grenzen als »heilig« zu betrachten sind – genauso gilt, scheint jedoch fraglich. Über die grauenvollen Tode von Judas, Hananias, Sapphira und Herodes hinaus bietet die Apostelgesichte auch das Motiv der plötzlichen Erblindung als Mittel, um zwischen jenen zu unterscheiden, die würdig sind, in die urchristlichen Gemeinde aufgenommen zu werden, und jenen, die sich Gott widersetzen. In Apg 9,1-19 stellen die Blindheit und Heilung des Paulus den sichtbaren Ausdruck seiner inneren Wandlung von einem »Außenseiter« und erbitterten Gegner, ja Verfolger, zu einem »Mitglied« der christlichen Gemeinde dar; gleichzeitig zeichnet die Erzählung auch den inneren Weg des Saulus/Paulus zum Anhänger Christi nach. Die Erblindung des Magiers Elymas in Apg 13,6-12 ist so überzeugend, dass die Botschaft sofort von dem Prokonsul erfasst wird: »Als der Prokonsul sah, was da geschehen war, kam er zum Glauben, überwältigt von der Lehre des Herrn« (Apg 13,12). Bevor Elymas erblindet, erklärt Paulus, dass diese wundersame Entwicklung als direkte Folge von Elymas’ Widerstand gegen Gott zu verstehen sei. Dabei bezeichnet er Elymas als einen »Sohn des Teufels« und einen »Feind aller Gerechtigkeit«, der andere vom rechten Weg abbringt (Apg 13,10). Und unmittelbar (παρακρῆμα; parakrēma; vgl. Apg 5,10!) nachdem Paulus angekündigt hat, dass »die Hand des Herrn über dich« gekommen ist, erblindet Elymas. Wie die »Furcht«, die die Augenzeugen in Apg 5 erfasste, demonstriert auch die Bekehrung des Prokonsuls in Apg 13, dass Elymas’ plötzliches Erblinden einem höheren Zweck dient, nämlich der Erziehung der Zuhörer und der Gewinnung neuer Anhänger. Und wie bei der Erzählung von Hananias und Sapphira liegt das Hauptaugenmerk nicht nur auf den Vergehen der Bestraften, sondern auch auf der Autorisierung des Apostels, diejenigen zu bestrafen, die sich gegen Gott oder die Jesus-Bewegung richten. 79

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4. Pädagogische Strafhandlungen in den apokryphen Apostelakten In den frühchristlichen apokryphen Apostelakten finden sich viele Beispiele, in denen eine Person durch ein wundersames Ereignis zu Schaden kommt, damit die anwesende Menge von diesem Zeugnis lernen kann. In den Petrusakten beispielsweise führen die Apostel wiederholt Strafwunder aus (vgl. aber auch ActJoh 21,41f.; ActThom 6), um ihre Hörerschaft (und indirekt die Leserschaft) umzuerziehen, indem sie öffentlich auf die Bedeutung der Bußfertigkeit und der apostolischen Autorität hinweisen. In zwei Fragmenten, die mit den Petrusakten assoziiert werden, wird berichtet, wie die Tochter des Petrus gelähmt und die Tochter eines Gärtners getötet werden (BG 8502,4; Ps.-Titus). Diese Taten interpretiert Petrus als göttlichen Segen, weil beide so vor den sexuellen Avancen der Männer verschont blieben. Petrus heilt seine Tochter vor den Augen der Menge, um die Macht Gottes zu veranschaulichen und das Vertrauen der Anwesenden zu stärken, macht die Heilung jedoch sofort wieder rückgängig, weil er die Strafe der Tochter als »nutzbringend für sie und für mich« (Kopt. Pap. Berlin 8502, p. 129-131) betrachtet. Während der Erzählung, die der Strafhandlung und der verwirrenden Erklärung folgt, wird den Hörern dargelegt, dass ihre Behinderung die Tochter des Petrus vor der ungewollten sexuellen Annäherung des Ptolemaeus bewahrt hat und diesen sogar zu bekehren vermochte: »denn durch sie sei er zum Glauben an Gott gekommen und ganz geworden« (BG 8502, p. 139). Gleichermaßen wird in den ActPetr 2 eine ehebrecherische Frau mit Namen Rufina von Paulus ausgesondert, der der Apostel vorhersagt, dass sie durch ein wundersames Ereignis niedergestreckt würde, das Zuschauende zum »Glauben« bewege: »Denn, siehe, Satan wird deinen Leib zerbrechen und dich vor allen, die an den Herrn glauben, niederstrecken, so dass sie sehen sollen, glauben und wissen, dass es der lebendige Gott ist, der die Herzen prüft, an den sie zum Glauben gekommen sind« (ActPetr 2). Paulus befiehlt Rufina, Buße zu tun. Sie fällt auf der Stelle zu Boden und ist gelähmt. Die Menge reagiert, wie von Paulus vorhergesagt: Die Menschen schlagen sich auf die Brust und bekennen ihre früheren Sünden, während Paulus vor der Menge über die Bedeutung des Verlassens der »alten Wege« (ActPetr 2) zu beten beginnt. Dieses Wunder ähnelt den zuvor in diesem Artikel beschriebenen insofern, als es der Erziehung der Augen- und Ohrenzeugen dient. Es unterscheidet sich jedoch von den bisher erörterten Wundern darin, dass die Strafe der Rufina »Satan« zugeschrieben wird, während Paulus die Gelegenheit für seine Bußpredigt nutzt. Ähnliche Ereignisse begegnen auch im weiteren Verlauf der Petrusakten, so etwa als Petrus ein Wunder wirkt, das seinen apostolischen Gegner lähmt und als Beweis für die Unterlegenheit des Simon Magus dient (vgl. ActPetr 9; 15; 32).

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5. Tendenzen: Pädagogische Strafmaßnahmen und ihre jeweilige Funktion Die Dramaturgie der Wundererzählungen lässt sie für die Leserin und den Leser unvergesslich werden, viele der Bestrafungen erscheinen monumental. Zur Salzsäule erstarrt, vom Feuer oder von der Erde verschlungen, der Gedärme beraubt oder einen plötzlichen Tod durch das Wort des Apostels gestorben: Die Bestrafungen und Bestraften bleiben in der Erinnerung des Lesers verhaftet und führen ihm die Folgen seiner Verfehlungen plastisch vor Augen. Darüber hinaus explizieren die Texte selbst die pädagogische Funktion der Strafhandlungen, indem sie die Erzählung mit einer ausdrücklichen Aufzählung des begangenen Fehlverhaltens darbieten und das wundersame Ereignis als Gottesstrafe ausweisen. Im Alten Testament dienen viele dieser Erzählungen dazu, die Autorität der Propheten zu bestätigen und diejenigen auszugrenzen, die ihnen entgegenstehen. Im Neuen Testament und in den apokryphen Apostelgeschichten unterstreichen die Strafwunder einerseits die Autorisierung der Apostel durch Gott und kennzeichnen ihre Gegner andererseits als von der christlichen Gemeinde Ausgeschlossene. Meghan Henning

Literatur zum Weiterlesen J. A. Fitzmyer, The Acts of the Apostles. A New Translation with Introduction and Commentary, Anchor Bible, New York 1998. M. Henning, Educating early Christians through the Rhetoric of Hell. ›Weeping and Gnashing of Teeth‹ as ›Paideia‹ in Matthew and the Early Church, WUNT 2/382, Tübingen 2014. J. Jervell, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 1998. L. T. Johnson, The Acts of the Apostles, Sacra Pagina, Collegeville 1992. D. Marguerat, Les Acts Des Apôtres, Commentaire Du Nouveau Testament, Genf 2007. G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, StNT 8, Gütersloh 1998.

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Tiere und Monster in apokryphen Apostelwundern Tiere und Ungeheuer, die für den Handlungsverlauf oft eine wichtige Rolle einnehmen (z.B. magnum et mirabile monstrum, ActPetr 10), begegnen bei der Lektüre der apokryphen Apostelakten mehrfach. Auf den ersten Blick sind die betreffenden Passagen, in welchen sprechende Hunde (ActPetr 10-12), verliebte und eifersüchtige Schlangen (ActThom 30-38) oder dämonenkundige und vor falschen Propheten warnende Esel (ActThom 74-79) eingeführt werden, für moderne Leser(innen) schwierig zu deuten. Bei einem detaillierten Abgleich im Besonderen mit den literarischen Hinterlassenschaften der Antike wird jedoch deutlich, dass diese wundersamen Tier-Abschnitte zumeist klug komponierte christliche Varianten von aus der antiken Umwelt vertrautem Wissen und wohlbekannten Traditionen sind (ausführlich dazu Spittler 2008).

1. Antiker und spätantiker Kontext In der klassischen antiken Literatur, insbesondere in den zahlreichen Werken zur Naturkunde, finden sich zahlreiche Belege, die das Verhalten und die Charakterisierung von Tieren zum Inhalt haben (Spittler 2008, 12-15). Die Werke variieren stark; während manche die dargestellten Tiere genauestens kategorisieren, wird in anderen primär zu Unterhaltungszwecken von Tieren berichtet. So begegnet in Aristoteles’ Historia Animalium eine sorgsam gegliederte Darstellung, während Aelian sein Werk über die Tiere selbst als eine Art buntes Muster (τὰ ποικίλα ta poikila, Ael. ep. 1,35) bezeichnet. Auch in diesen Werken zur Naturgeschichte taucht die in der Antike vielfach belegte Diskussion darüber auf, was Mensch und Tier unterscheidet. Ganz grundsätzlich wird dabei der Frage nachgegangen, ob ausschließlich dem Menschen Sprache, Vernunft und Ehrfurcht vor den Göttern zukommt. In der philosophischen Debatte sind unterschiedliche Ansätze und Antworten zu diesem Thema auffindbar (Spittler 2008, 15-26; Sorabji 1993, 7-104; Gilhus 2006, 37-63). Die Stoiker lehnen Vernunftbegabtheit bei Tieren strikt ab und auch die Kirchenväter, so zum Beispiel Origenes in seiner Auseinandersetzung mit Kelsos, weisen Argumente, wie die Kooperationsbereitschaft von Tieren, ihre Sorge umeinander oder auch die Anwendung von Heilpflanzen, als Beleg für deren Rationalität zurück (Or. Cels. 4,83-85; Spittler 2008, 40f.). Ebenso lehnt es Origenes strikt ab, dass unvernünftige Tiere eine Vorstellung von Gott haben könnten (Or. Cels. 4,96). Das Argument des Kelsos, dass Elefanten treu gegenüber der Gottheit seien, lässt er nicht gelten (Or. Cels. 4,88). Das in den naturkundlichen, philosophischen und patristischen Schriften zutage tretende große Interesse der Antike an der Tierwelt ist auch in der antiken Prosa, in Romanen, in biographischen Schriften und in der Historiographie nachweisbar. Innerhalb dieser Bezüge zur Tierwelt kann zwischen Tier-Anekdoten und Tier-Episoden unterschieden werden, wobei in Ersteren Informationen über Tiere 82

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gegeben werden und in Zweiteren Tiere eine aktive Rolle spielen (Spittler 2008, 52f.). Tier-Anekdoten finden sich häufig in der Geschichtsschreibung. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Herodots Beschreibung der heiligen Tiere in Ägypten (Hdt. 1,1, 2,6675). Tier-Anekdoten sind meist so komponiert, dass sie dazu dienen, eine genauere Charakterisierung vorzunehmen, dass sie die Klugheit dessen, der sie erzählt, betonen oder auch dass sie eine interpretative Schlüsselfunktion haben (ausführlich vgl. Spittler 2008, 55-65). Tier-Episoden sind in sich variantenreich (ausführlich vgl. a.a.O., 65-72). So können zum Beispiel in biographischen Darstellungen berühmte Persönlichkeiten Tiere zu einer wahrhaft philosophischen Lebensweise führen (Pythagoras, der einem Ochsen erfolgreich Nahrungsvorschriften mitteilt, Iamb. vit. Pyth. 13; Porph. vit. Pyth. 24). Hinsichtlich der griechisch-römischen Religion ist zudem eine enge Verbindung von Götter- und Tierwelt feststellbar, die zum Beispiel durch die Tradition von Göttern in Tiergestalt Ausdruck findet. Ebenso ist es dem antiken Denken vertraut, dass immaterielle Mittlerwesen (Dämonen) Tiere als Wirte nutzen (Böcher 1981, 280). Eine weitere Form von wundersamer Überschreitung gängiger Trennlinien und damit einen gewissen fließenden Übergang zwischen Tier- und Menschenwelt stellen die antiken Überlieferungen dar, die von Menschen berichten, die sich mit Tieren verständigen konnten. So wird zum Beispiel von Apollonius von Tyana (Philostr. vit. Ap. 1,20; 4,3) erzählt, dass er ähnlich wie Pythagoras (Iamb. vit. Pyth. 13, 27; vgl. Spittler 2008, 42f.) in der Lage gewesen sei, die Sprache der Vögel zu verstehen (die Verständigung mit einem Vogel ist auch für Salomo belegt; vgl. TScheni 4). Dieses Vermögen von Menschen, mit Tieren zu kommunizieren, wird in den Texten als Beleg der machtvollen, göttlichen Natur der jeweils vorgestellten Person gedeutet (Spittler 2008, 101). Ein weiterer antiker Traditionsstrang, der in umgekehrter Form ein Näheverhältnis zwischen Mensch und Tier zum Ausdruck bringt, beschreibt das Sprachvermögen von Tieren. Belege dazu finden sich bei den Naturhistorikern, einschließlich Plinius (a.a.O., 137f.). Darüber hinaus werden in der Ilias (das Pferd des Achill; Hom. Il. 19) ebenso wie in den biblischen Schriften (Bileams Esel, Num 22,20-35) Erzählungen von sprechenden, weissagenden Tieren eingeführt (Czachesz 2008, 275-286). Diese Beispiele werden innerhalb der Literatur als außergewöhnliche Phänomene klassifiziert und als prominente Beispiele rezipiert. Auch die Möglichkeit von nicht sprachlicher Verständigung und einer engen Form von Kooperation bis hin zum Zusammenleben zwischen Menschen und als gefährlich geltenden Tieren ist denkbar. Sie ist Thema einer breit belegten Tradition antiker Texte über Löwen, denen Menschen helfen und die sich ihrerseits hilfreich erweisen (Spittler 2008, 173-175). Der berühmteste dieser Texte ist die Erzählung von Androclus und dem Löwen (vgl. Ael. nat. 7,48; Gell. Noct. Att. 5,14). Gegenüber dieser positiven Wertung ist für die antike und spätantike Welt auch eine negative Wertung der Tierwelt – die bereits in der klassischen Antike grundgelegt ist, in welcher Leidenschaft und Begehren metaphorisch als tierisch klassifiziert werden (Plato rep. 588b-589b; Spittler 2008, 44f.) –, auffindbar. Im Kontext asketischer Strömungen ist dieser Traditionsstrang besonders prominent vertreten (a.a.O., 83

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43-49). Da Leidenschaften und Begehren mit Tieren in Verbindung gebracht wurden, wird in diesem Zusammenhang auch auf den Sündenfall rekurriert: Eva tritt mit der Schlange (= Tierwelt) in Kontakt und damit wird dem Menschen auch das, was zur Tierwelt gehört, sexuelle Vereinigung und der Tod, bekannt. Sexualität und Fortpflanzung werden als animalische Akte gedeutet, durch deren Zurückweisung in logischer Konsequenz auch mit der natürlichen Welt und damit auch mit der Welt der Tiere gebrochen wird, die dem christlich-asketischen Lebensideal zuwiderlaufen. Demgemäß ist es naheliegend, dass sich im asketischen Schrifttum noch ein weiterer Traditionsstrang festmachen lässt, in welchem wilde Tiere als bedrohliche Repräsentanten des Bösen vorkommen (z.B. Ath. vit. Ant. 9,5-7, wo Antonius von Dämonen in der Gestalt von Löwen, Bären, Leoparden, Stieren, Schlangen, Nattern, Skorpionen und Wölfen bedroht wird; vgl. Spittler 2008, 46). Auch in den geläufig als gnostisch qualifizierten Schriften von Nag Hammadi wird auf Tiere als Repräsentanten des Bösen rekurriert (z.B. Lehren des Silvanus 85,7-16; Authentikos Logos 24,20-26; Spittler 2008, 47; Gilhus 2006, 208f.).

2. Wundersame Tiere in den apokryphen Apostelakten In den fünf klassischen apokryphen Apostelakten (Andreasakten, Johannesakten, Petrusakten, Paulusakten, Thomasakten) sind unterschiedliche und nuancenreiche Bezüge zur Tierwelt festmachbar (detaillierter und darüber hinausgehend Spittler 2008; um die dreißig verschiedene Tierarten kommen in den Texten vor, Spittler 2008, 6). Die Tierepisoden in den apokryphen Apostelakten weisen zahlreiche wunderhafte Elemente auf. Den Andreasakten kommt innerhalb dieses Corpus insofern eine Sonderstellung zu, als in ihnen Tiere negativ konnotiert und der bösen und dämonischen Welt zugeordnet werden. In den Johannesakten dagegen werden Tiere und ihr ungewöhnliches Verhalten – auch ganz gegen ihre eigentliche Natur – äußerst positiv gezeichnet. In den Petrusakten ist eine gewisse Steigerung der Wundertätigkeit feststellbar, die dadurch zum Ausdruck kommt, dass Tiere zu sprechen (Hund, ActPetr 10-12; zu sprechenden Tieren vgl. Matthews 1999; Perkins 2005) und wieder lebendig zu werden vermögen (Fisch, ActPetr 13). Vor allem in der Arena – mit Rückbezugnahme auf vorhergehende außergewöhnliche Begegnungen – sind Tiere in den unterschiedlichen Überlieferungssträngen der Paulusaktentraditionen von Bedeutung (vgl. Spittler 2008, 156-189; Snyder 2013), wobei sie sowohl auf wunderbare Weise schützend und der Erinnerung fähig als auch gefährlich und lebensbedrohlich dargestellt werden. Der bösen Sphäre zugeordnete Tiere, die der Apostel jedoch unter seiner Kontrolle hat, kommen auch in den Thomasakten vor. Ebenso werden dort Verhaltens- und Lebensweisen von Tieren (verschiedene Arten von Eseln, die jeweils in ungewöhnlicher Manier dem Apostel ihre Dienste anbieten) in zwei parallel strukturierten Erzählungen vorgestellt, um anhand der Wildesel das ideale christliche Leben zu verdeutlichen.

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3. Bestialische Tiere in den Andreasakten Die Vielfalt an Texten, die zur Andreastradition gehören (Spittler 2008, 76-81), verbindet eine grundsätzlich negative Haltung gegenüber Tieren. Eine Ausnahme innerhalb des Corpus stellt eine Adler-Episode dar, in welcher der Adler als Sinnbild für die Seele vorgestellt wird (Spittler 2008, 91f.). Ansonsten entspricht die Darstellung der Tierwelt in der Andreastradition den bereits kurz vorgestellten Tendenzen der christlich-asketischen Literatur sowie den als gnostisch eingeordneten Texten aus Nag Hammadi. So wird zum Beispiel im Liber de Miraculis Gregor von Tours’ erzählt, dass Andreas sieben Dämonen in Hundegestalt aus Nicäa verbannt (ActAndr[Greg] 6,20-23; Spittler 2008, 82). Diese setzen jedoch ihr Unwesen in Nicomedia fort und töten dort einen jungen Mann. Andreas trifft bei seiner Ankunft in Nicomedia den entsprechenden Leichenzug und erweckt den jungen Mann zum Leben. Damit ist die Macht des Bösen gebrochen und das Leben obsiegt. Die Hunde werden in dieser Episode mit bösen Mittlerwesen (Dämonen) und dem Bösen schlechthin verbunden. Diese Kombination ist letztlich eine todbringende. Von daher sind die bedrohlichen und gefährlichen Tiere die Gegenspieler der Menschen und des Lebens, die jedoch vom Apostel durch ein Wunder – die Totenerweckung – überwunden werden. In ähnlicher Weise schildert Gregor von Tours (ActAndr[Greg] 18,55-57) die Tierszene in der Arena. Der Apostel bleibt auf wunderhafte Weise von den Angriffen der bösen und gefährlichen Tiere verschont. Ein wilder Bär umkreist ihn dreimal, aber rührt ihn nicht an, ein Stier zerfetzt zwei Jäger, bevor er selbst tot zu Boden fällt, und ein äußerst gefährlicher Leopard springt auf die Tribüne und erdrückt den Sohn des Prokonsuls. Die Tiere, die hier als gefährlich und bedrohlich, als tötende Bestien charakterisiert werden, lassen den Apostel unbehelligt. Dies scheint jedoch nicht, wie bei den Szenen in der Arena von Thekla oder Paulus, ihr Verdienst zu sein, sondern es wirkt vielmehr so, als ob das Böse sich seinesgleichen als Opfer wählt und der Apostel auf der anderen Seite steht. Andreas erweckt dann auch den Sohn des Prokonsuls, wodurch abermals unter Beweis gestellt wird – nach dem Rettungswunder folgt noch das Wunder der Totenerweckung –, dass die Macht der Bestien, des Bösen und des Todes überwunden ist (Spittler 2008, 83f.). Ähnlich wird auch eine Riesenschlange von Andreas als bedrohlicher, lebensgefährlicher Zerstörer des Menschengeschlechts adressiert und aufgefordert, sich auf die Seite Gottes zu begeben und zu sterben – das Ungetüm kommt dem nach und stirbt. Der zuvor von der Schlange tödlich getroffene Junge wird mit Hilfe der Gattin des Prokonsuls erweckt, das Böse und der Tod sind dadurch besiegt und die Menschen kommen zum Glauben (ActAndr[Greg] 18; Spittler 2008, 84). Auch hier werden gegenübergestellte Zuordnungen präsentiert, wobei es einen eindeutigen Sieg zu verzeichnen gilt, der auch den ungewöhnlichen Gehorsam der Schlange sowie eine Totenerweckung inkludiert. Zur Sphäre des Bösen werden in den Andreasakten jedoch nicht nur Dämonen und bestialische Tiere, sondern auch bestialische Menschen, die ihre tierischen Bedürfnisse befriedigen, gezählt (a.a.O., 87f.); 85

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diese werden Gott und den wahren »menschlichen« Menschen, den Christen, gegenübergestellt (a.a.O., 89).

4. Kluge Tiere in den Johannesakten Die Tierepisoden in den Johannesakten sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen in betont amüsant-unterhaltsamer Weise das Verhalten von Tieren positiv gezeichnet wird und sie sich bei genauerem Hinsehen als erbaulich und tiefgründig erweisen. Im Besonderen gilt dies für die Erzählung von den wachsamen Wanzen (ActJoh 60f.). Johannes gibt zu Beginn der Szene den Wanzen den Auftrag, den ihnen angestammten Aufenthaltsort zu verlassen. Die Wanzen gehorchen ihm, um ihm Ruhe zu verschaffen und kehren am Ende an ihren Ort zurück. Ihr Verhalten wird explizit dem der Jünger des Johannes vorgezogen. In dieser Episode werden verschiedene wunderhafte Elemente miteinander verbunden: Erstens ist es erstaunlich, dass die Wanzen als Tiere dem Apostel gehorchen. Zweitens tun sie das Gegenteil des von ihnen – als den lästigsten und unnützesten Tieren (Spittler 2008, 104) – »natürlicher Weise« Erwarteten, sie gewähren Ruhe. Drittens werden die Tiere den Jüngern in ihrem tadellosen Verhalten und Gehorsam als nachahmenswertes Beispiel vor Augen geführt. Dass Helden, wie Herakles oder Perseus, im Schlaf gestört werden und die Störungen zu beseitigen vermögen, ist der Umwelt der apokryphen Apostelakten ebenso bekannt (a.a.O., 98; vgl. Junod/Kaestli 1983, 535-538) wie Berichte von Insekten, die für eine gewisse Zeit einem kultisch bedeutsamen Ort fernbleiben (Spittler 2008, 98). Dass hier gerade die »unnützesten und lästigsten Tiere« die Menschen übertreffen und ganz entgegen ihrer Natur Ruhe und Kontemplation verschaffen, ist in der Tat ein ganz unglaubliches Beispiel für wahrhaft christliches Verhalten (a.a.O., 105). Ein weiteres unterhaltsames Detail der Episode ist, dass im griechischen Text ein Wortspiel von Wanzen (κόρις koris) und Mädchen (κόρη korē) und damit auch ein erotisches Motiv anklingt (a.a.O., 105). Die Wanzen/Mädchen werden aus dem Bett vertrieben und damit die schlimmste Art der Ablenkung von Kontemplation (a.a.O., 108). Mit den Wanzen, die für Unglücklich-Sein und Schwierigkeiten schlechthin in der Antike stehen, vertreibt der Apostel alles Unglück und alle Schwierigkeiten. So wird der ideale Zustand von Frieden und Ruhe erreicht. Ebenso klug und gerecht, wenn zugleich auch todbringend und bedrohlich wird die Schlange, die die Schändung der Drusiana verhindert, dargestellt (ActJoh 71). Ihrem Einschreiten ist das Wunder der Bewahrung der Reinheit Drusianas zu verdanken. Die Schlange tötet den bestechlichen und verdorbenen Fortunatus und wickelt sich zischend um Kallimachos’ Füße, der Drusiana selbst bis ins Grab hinein nachstellt. Nachdem sie ihn zu Fall gebracht hat, lässt sie sich an seinem Kopfende nieder. Als Johannes erscheint, befiehlt er dem Tier, von ihm zu weichen. Die Schlange spielt in dieser Szene eindeutig eine Schlüsselrolle, auch wenn ein Stück weit offenbleibt, auf welcher Seite sie steht (Spittler 2008, 112). Zur Schlange 86

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kennt auch die antike Umwelt viele unterschiedliche Zugänge. So schildert zum Beispiel auch Aelian Schlangen, die bewahren (a.a.O., 113). Heliodor überliefert unterschiedliche Traditionen zum Verhalten von Schlangen. Einerseits sind sie Folterer des Bösen, zugleich weisen sie eine eigene Loyalität, Gerechtigkeit und Sensibilität gegenüber dem Göttlichen auf oder agieren auf Geheiß Gottes hin (a.a.O., 114). Hier wird die Schlange ähnlich mehrdeutig gezeichnet: als schreckenerregend und zugleich auch gerecht und durchaus göttlich bestimmt. Kallimachos ist zwar verletzt, doch wird er durch den Kontakt mit der Schlange zu einem neuen Menschen. Hier liegt ein doppeltes Rettungswunder vor: Erstens wird Drusiana bewahrt und zweitens findet Kallimachos, der sein verwerfliches Ziel nicht erreicht, zum Glauben.

5. Hilfreiche Tiere in den Petrusakten Ein Hund, der spricht (ActPetr 10-12), macht in den Petrusakten das eben noch unmöglich Erscheinende möglich. Er bewirkt Petrus’ Kontakt zu Simon, und ein gesalzener Fisch (ActPetr 13), der wieder lebendig wird, verhilft der staunenden Menge zum Glauben. Der außergewöhnliche Hund spielt in der Szene am Eingangstor zu Marcellus’ Haus eine aktive Rolle. Er spricht Petrus mit einem Bekenntnis an und wird zum Boten zwischen Petrus und Simon. Der Hund teilt Simon und dem Apostel eine Prophezeiung mit. Der Hund und der menschliche Wächter scheinen in dieser Tierepisode wie ein Paar konstruiert zu sein (Spittler 2008, 143). Mensch und Tier werden hier kontrastiert (a.a.O., 155). Schon Platon schreibt Hunden zu, dass sie ideale Wächter seien (Plato rep. 375a-376c) – in dieser Episode ist das Tier gegenüber dem Menschen der bessere Wächter. In der Antike werden Hunde ambivalent charakterisiert. Einerseits wird ihre Loyalität und Begleitung gerühmt und zugleich gelten sie als bedrohlich und aggressiv (Spittler 2008, 141). Wachhunde werden grundsätzlich als treu und intelligent beurteilt (a.a.O., 142). So wird zum Beispiel auch von Hunden berichtet, dass sie Apollonius als göttlichen Mann erkennen und ihn nicht anbellen (Philostr. vit. Ap. 8,30). Auch der sprechende Hund in den Petrusakten erkennt die wahre Identität des Simon und es kommt zunehmend zu einem Rollentausch. Der wundersame Hund ist der Sprache mächtig, Simon verliert seine Sprache. Schließlich scheint es sogar so weit zu gehen, dass Simon im Stall das dumme Tier ist (ActPetr 15). Vor der Episode vom getrockneten Fisch, der zum Leben kommt, wird von der Menge ein weiteres Wunder gefordert, damit sie zum Glauben kommt (ActPetr 12; Spittler 2008, 149). Daraufhin wird erzählt, dass Petrus wie zufällig einen getrockneten Fisch hängen sieht, den er an sich nimmt und ihn während eines an Jesus Christus gerichteten Gebets in einen Teich wirft, woraufhin der Fisch im Wasser schwimmt und zum Beleg seiner Lebendigkeit auch das ihm zugeworfene Brot frisst. Die Motive Fisch, Wasser und Brot sind zentrale christliche Symbole, ebenso wie das Thema des Überwindens des Todes und die Wiedererlangung neuen Le87

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bens. Möglicherweise wird hier auch klug und unterhaltsam auf Petrus’ Karriere als Menschenfischer angespielt (a.a.O., 151). Innerhalb der Petrusakten wird festgehalten, dass das geschilderte Wunder des wieder zum Leben erweckten Fisches seinen Zweck erfüllt und dass auf dieses Zeichen hin viele Menschen zum Glauben kommen und von Petrus belehrt werden. In den Petrusakten geht es gemäß diesen beiden wunderhaften Tier-Episoden darum, vor Augen zu führen, dass die christliche Botschaft über die Menschheit hinaus hinein ins Tierreich reicht (a.a.O., 155).

6. Tiere als Angreifer und Verteidiger in den Paulus- und Theklaakten sowie in den Paulustraditionen Tiere kommen in den Paulusakten primär in der Arena vor und bereits die Kirchenväter haben sich auf die berühmten Löwen-Passagen bezogen (Spittler 2008, 157). In den Theklaakten fällt auf, dass auch dem Geschlecht der Tiere Bedeutung beigemessen wird. Eine Löwin leckt Thekla die Füße (ActThecl 28) und von einer Löwin wird Thekla errettet (ActThecl 33; Spittler 2008, 170). Dies ist vor allem angesichts der Konnotation von Weiblichkeit und Schwäche auch in der Tierwelt und bei Löwen interessant (Plin. nat. 8,48; Spittler 2008, 173). Während der gesamten Szene in der Arena (ActThecl 33-37), in welcher Thekla in permanenter Todesgefahr dem Angriff wilder Bestien ausgesetzt ist, wird Thekla mehrfach wunderbarer göttlicher Schutz zuteil. Ihre Rettung hat sie nicht nur der Tierwelt, die sich auf ihre Seite stellt, zu verdanken, sondern selbst Naturgewalten sorgen für ihr Überleben: Als sie sich im Robbenbecken (ActThecl 34; Schneider 2001) selbst tauft, werden die Tiere durch einen funkelnden Blitz getötet und eine Feuerwolke umgibt sie, so dass keines der Tier sie berührt. Letztendlich bewirken jedoch die versammelten, mit der Heldin solidarischen Frauen, dass Thekla gerettet wird. Am Rettungswunder sind hier sowohl Tiere – die zugleich auch die Todesbedrohung schlechthin darstellen – als auch Naturgewalten und zuletzt in besonderer Weise Menschen (Frauen) in klug verteilten Rollen beteiligt. Wie auch in den Texten der Umwelt der apokryphen Apostelakten schwächere Tiere in der Lage sind, stärkere zu besiegen, so wird auch in den Theklaakten die Hauptprotagonistin Thekla, die zu Beginn als Insekt im Spinnennetz (ActThecl 9; Spittler 2008, 180) gezeichnet wird, zur erfolgreichen Tierkämpferin. Theklas (weibliche) Schwäche und ihre Stärke werden kombiniert, und ebenso wird hier auch mit der Stärke und dem Mut von weiblichen Tieren auf die Stärke und den Mut der Protagonistin verwiesen, möglicherweise sogar auf die Stärke des weiblichen Geschlechts insgesamt, da ja letztlich die Frauen mit ihren Kräutern und Thryphaina durch ihre Ohnmacht bewirken, dass Thekla der Todesgefahr erfolgreich entkommt. Die Szene von Paulus mit dem getauften Löwen ist die prominenteste Tierepisode (vgl. z.B. Metzger 1945; Schneemelcher 1964b; Drijvers 1990b; Adamik 1996; Spittler 2008, 182-187; zur Thematik der unterschiedlichen Paulustraditionen Sny88

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der 2013). Beim Tierkampf in Ephesus wird ein gewaltiger Löwe für den Kampf in der Arena ausgewählt. Der schreckliche Löwe greift Paulus nicht an, sondern erweist sich als der Löwe, den Paulus auf dessen eigenen Wunsch hin getauft hat (Spittler 2008, 182). Auf Paulus und den Löwen, die auch ihre jeweilige Gefangennahme verbindet, werden schließlich wilde Tiere losgelassen. Doch auch hier ist ein doppeltes Rettungswunder zu konstatieren; während ein Hagelsturm die anderen Bestien tötet, bleiben Paulus und der getaufte Löwe verschont und erlangen so die Freiheit. An anderer Stelle wird von der Taufe des Löwen berichtet, der schließlich auch als asketisch charakterisiert wird, da er eine Löwin nicht anblickt (a.a.O., 183). Für diese Tierepisode ist neben der Erzählung von Androclus und dem Löwen auch die der Antike vertraute Praxis des Zähmens von Löwen sowie des Haltens von Löwen als Haustieren grundlegend. Im Unterschied zu den paganen antiken Löwenepisoden, in welchen primär das innerweltliche Leben und die Linderung einer konkreten Not im Vordergrund stehen, sind wir hier mit einer christlichen Variante einer Löwen-Episode konfrontiert, in welcher das geistlich-spirituelle und asketische Leben (Spittler 2008, 186; vgl. Rordorf 2003, 251-265) in den Mittelpunkt gestellt wird. Der Löwe wird hier so charakterisiert, dass er in der Lage ist, Paulus zu erkennen, und sich erinnert, d.h. Tiere haben ein Gedächtnis und sind in den Heilsplan inkludiert (Spittler 2008, 183f.188).

7. Außergewöhnliche Tiere in den Thomasakten Auch in den Thomasakten ist eine grundsätzlich positive Sicht auf Tiere vorhanden. Diese wird sogar mit den asketischen Tendenzen, die diese Schrift prägen, verbunden (Spittler 2008, 193). Auffällig ist, dass die erwähnten Tiere genau zum Ort der Handlung, nämlich Indien, passen. Zum einen haben schon in der Antike die indischen Schlangen als ganz besonders riesig und gewaltig gegolten (Ael. nat. 15, 21; Plin. nat. 8,13; Philostr. vit. Ap. 3,6; Spittler 2008, 196f.), und auch die indischen Wildesel hatten den Ruf, besonders starke, gefährliche, schreckliche Tiere mit weißem Körper und purpurnem Kopf zu sein, deren Einhorn magische Kraft zugesprochen wurde (Ael. nat. 4,52; Opp. Cyn. 3,183-187; Spittler 2008, 213f.). Die drei Tierepisoden in den Thomasakten verbindet darüber hinaus, dass alle drei auf der Straße ganz unerwartet beginnen und die wundersamen Tiere jeweils der Sprache mächtig sind (a.a.O., 193). Die Szene mit der verliebten Schlange (ActThom 30-38) ist eine ganz ungewöhnliche Totenerweckung. Sie wird so eingeführt, dass eine liebestolle Schlange ihren Rivalen, einen jungen Mann, durch ihren Biss bzw. Stich tötet. Der Apostel entdeckt den Toten am Weg und stellt die Schlange zur Rede. Er fordert sie im Namen Jesu auf, ihre Tat rückgängig zu machen und das Gift aus dem jungen Mann zu saugen. Die Schlange kommt nach kurzem Widerspruch der Aufforderung des Apostels nach, der junge Mann wird wieder lebendig und die Schlange zerplatzt und stirbt. 89

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Der antiken Welt sind verliebte Schlangen wohlbekannt (Spittler 2008, 197). Bezüglich des Tieres ist hier eine Verbindung verschiedenster Traditionen aus Naturgeschichte, populärer Anekdote und biblischer Tradition, in welche sich die Schlange selbst einordnet, nachweisbar (Adamik 2001; Spittler 2008, 198). Ungewöhnlich an der Erweckung ist, dass die Verursacherin ihre Tat rückgängig macht, um dann selbst zum tödlichen Opfer zu werden. Die Schlange ist hier zwar Repräsentantin des Bösen, das sich letztendlich selbst zerstört, doch gehorcht sie dem Apostel und bewirkt damit die Rettung ihres eigenen Opfers. In den zwei ganz ähnlich strukturierten Esel-Episoden (Spittler 2008, 208f.) der Thomasakten werden die beiden dargestellten Eselarten, der domestizierte Esel (ActThom 39-41) und der Wildesel (ActThom 74-79), die schon in der Tradition der hebräischen Bibel und der klassischen Antike, so zum Beispiel auch in den Fabeln Äsops (Fabeln 30 und 194) als paradigmatische Beispiele für wild und gezähmt gelten (Spittler 2008, 209-212), als zwei Varianten christlichen Lebens vorgestellt (a.a.O., 218). Der domestizierte Esel ist dabei ein Beispiel für eine nicht ideale, an die materielle Welt gebundene und ihr verpflichtete Lebensweise, die auch bei aller Bemühung, dem Apostel zu Diensten zu stehen und ihm Ruhe zu verschaffen, letztlich den Tod bringt. So bricht der domestizierte Esel, nachdem Thomas auf ihm geritten ist, tot zusammen und der Apostel verweigert seine Auferweckung. Die Wildesel dagegen repräsentieren das ideale christlich-asketische Leben. Sie werden in den entsprechenden Quellen als lüsterne, aber auch als abstinente und kastrierte Tiere vorgestellt (Opp. Cyn. 3,191-207; Plin. nat. 8,46; vgl. Physiologus 9; Spittler 2008, 214f.). Von daher ist es durchaus naheliegend, dass die Wildeselherde als eine Herde von Eunuchen zu interpretieren ist (a.a.O., 216), die das Frei-Sein von jeglichen Verpflichtungen repräsentiert (a.a.O., 221). Auch hier werden antike Charakterisierungen von Tieren und die biblische Tradition kunstvoll miteinander verbunden. Dem Wildesel, den Johannes schickt, um die Dämonen herauszurufen, werden sogar zwei Reden in den Mund gelegt, in welchen er als Bote Jesu erscheint und vor falschen Propheten warnt. Das beschriebene Verhalten der sprechenden Esel übersteigt sogar das Verhalten der Menschen im Text. In den beiden parallel angelegten Tier-Szenen geht es letztendlich darum, Menschen – durch die kunstvoll komponierte Gegenüberstellung der wunderhaften Esel – zu der Lebensweise der Wildesel zu bewegen, die Freiheit und Leben verheißt, und nicht der Lebensweise des domestizierten Esels verhaftet zu bleiben, die in der materiellen Welt gefangen bleibt und letztlich den Tod bringt.

8. Zusammenfassung Unterschiedliche Tiere und Ungetüme spielen in den Wundertraditionen der fünf klassischen apokryphen Apostelakten eine zentrale Rolle, wobei die Tierepisoden unterhaltsam, variantenreich, lehrreich, zur Erbauung und häufig zur Identifikation angelegt sind. Trotz der in den apokryphen Apostelakten prominent zutage tretenden asketischen Tendenzen, die eher eine negative Wertung der Tierwelt vermu90

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ten lassen würden – auf die Andreasakten trifft das zu –, weist der Großteil der Traditionsstränge der apokryphen Apostelakten eine differenzierte Darstellung der Tierwelt auf. In den meisten Szenen sind Tiere und auch Ungeheuer entscheidende Handlungsträger und als solche meist positiv konnotiert, woraus auch eine große Wertschätzung und positive Wertung der Schöpfung und des Schöpfers abgeleitet werden dürfen. In den apokryphen Apostelakten werden das Verhalten und die Charakterisierung von bestimmten Tieren (z.B. Wanzen, Wildesel) aus der in der antiken Umwelt geläufigen Literatur übernommen und christlich gedeutet, indem das Verhalten der Tiere paradigmatisch christliche Ideale versinnbildlichend darstellt. Die hier vorgestellten Tiere sind auch in ihrer Funktion als Mittlerwesen in der Lage, das Göttliche wahrzunehmen, z.B. indem sie den Apostel erkennen und verehren, die christliche Botschaft verkündigen, was in der Tat besonders wunderhaft erscheint, jedoch auch den Traditionen der antiken Umwelt entspricht (z.B. Elefant, der Schwur treu ist; Spittler 2008, 41). Grundsätzlich sind die Tiere und ihr Verhalten in den apokryphen Apostelakten als Wunderzeichen angelegt, die sinnlich wahrnehmbar darauf verweisen, dass Gottes Macht und die christliche Botschaft grundsätzlich und umfassend sämtliche Widerlichkeiten und Hindernisse und sogar auch den Tod zu überwinden vermögen – auch unter Zuhilfenahme der und in Bezug auf die Tierwelt – und damit auch in Hinsicht auf die gesamte Schöpfung. Livia Neureiter/Janet E. Spittler

Literatur zum Weiterlesen R. Grant, Early Christians and Animals, New York 1999. L. Hobgood-Oster, Holy Dogs & Asses. Animals in the Christian Tradition, Urbana 2008. O. Keller, Die antike Tierwelt, 2 Bde., Leipzig 1913. C. R. Matthews, Articulate Animals. A Multivalent Motif in the Apocryphal Acts of the Apostles, in: F. Bovon/A. G. Brock/C. R. Matthews (Hg.), The Apocryphal Acts of the Apostles, Cambridge 1999, 205-232. E. J. Schochet, Animal Life in Jewish Tradition. Attitudes and Relationships, New York 1984. J. E. Spittler, Animals in the Apocryphal Acts of the Apostles. The Wild Kingdom of Early Christian Literature, WUNT 2/247, Tübingen 2008.

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Einblicke in die bildliche Darstellung der Wunder der Apostel in der Kunst 1. Bildliche Darstellung in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten »Während in den Texten alle Nuancen des Wunders fein herausgearbeitet werden können, fehlt der darstellenden Kunst das erklärende Wort«, konstatiert C. Nauerth, es sei daher »zu bedenken, daß Literatur und bildende Kunst grundsätzlich und notwendig unterschiedliche Wege beschreiten, wenn sie Geschehen wie die Heilungswunder zum Ausdruck bringen wollen« (Nauerth 1983, 339). Doch lassen sich auch Parallelen in der Beschäftigung mit Wundern in Literatur und bildender Kunst aufweisen, denn wie sich in der christlichen Literatur der ersten Jahrhunderte eine Reflexion über theologische Fragen und Sachverhalte abzeichnet, so lassen sich auch in der frühchristlichen Kunst Prozesse erkennen, die ein Nachdenken über theologische und exegetisch-hermeneutische Aspekte offenlegen (vgl. Mathews 2003; Hinz 1973). Die literarische und die bildliche Rezeption neutestamentlicher und nachneutestamentlicher, kanonischer und apokrypher Figuren und Szenen kann daher als ein zeitlich versetzter, aber auf zwei parallelen Ebenen – der literarischen und der bildlichen Ebene – verlaufender Prozess des theologischen Nachdenkens beschrieben werden. Für die frühchristliche Kunst bedeutet dies, dass das Bildrepertoire nicht auf die Illustration der biblisch-kanonischen oder apokryphen Erzählungen beschränkt war. Vielmehr wurden in der künstlerischen Darstellung, analog zur frühchristlichen Literatur, die kanonischen Texte kreativ fortgeschrieben, außerkanonische, apokryphe und mündliche Traditionen eingebunden und neue Parameter geschaffen, die ihrerseits in die Tradition Eingang fanden und die frühchristliche Literatur bereicherten (vgl. Cartlidge 1998, 364). Dieser kreativen Tendenz stand das Bilderverbot gegenüber, denn Ex 20,4 wurde zunächst – wie die Bezugnahme auf diesen Text in den Schriften der Kirchenväter und in frühen Kirchenordnungen zeigt – als Verbot jeglicher bildlicher Darstellung im kirchlichen Kontext interpretiert (vgl. Stutzinger 1983). Der Befund, dass ungeachtet der bilderfeindlichen Positionierung der Theologen dennoch erste (früh)christliche bildliche Darstellungen bereits ab dem frühen 3. Jh. zu fassen sind und deren Zahl mit dem Anwachsen des Christentums exponentiell anstieg, wird dadurch erklärt, dass mithin v.a. der Gebrauch bildlicher Repräsentationen dessen, ›was verehrt und angebetet wird‹ (vgl. Can. 36 der Synode von Elvira, 306 n. Chr.), im Rahmen idolatrischer Praktiken kritisch gewertet wurde (vgl. Cartlidge/ Elliott 2001, 8-15; Finney 1994). Ab dem 4. Jh. lässt sich aber zugleich die Herausbildung von Positionen erkennen, »die den didaktisch-pädagogischen Wert der Bilder zur Vermittlung christlicher Glaubensinhalte und Wertvorstellungen erkannten und offensiv propagierten« (Jäggi 2009, 21). In der Korrespondenz Papst Gregors des Großen um 600 n. Chr. wird z.B. explizit der didaktische Wert der bildlichen 92

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Darstellung biblischer Erzählungen zur Unterrichtung der illiterati betont; für das oströmische Reich lassen sich analoge Positionen anführen (Pictura est litteratura laicorum; vgl. Greg. M. ep. 9,209; 11,10; vgl. Jäggi 2009, 19-25). Die Entstehung der christlichen Kunst und die damit einhergehende umfängliche Diskussion lassen in jedem Fall auf die Beliebtheit und Verbreitung bildlicher Darstellungen christlicher Figuren und Szenen schließen. Im folgenden Beitrag soll der Fokus auf den kanonischen und apokryphen Wundern der Apostel in den bildlichen Darstellungen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte liegen. Während vor allem die kanonischen Wundererzählungen, aber auch einige den apokryphen Evangelien entnommene Wunder, z.B. in Darstellungen der Kindheit Jesu, in der christlichen Kunst breite Rezeption erfahren haben (vgl. Nauerth 1983; Jastrzebowska 1992), sind Illustrationen von Motiven der apokryphen Apostelakten vom 4.-11. Jh. nur in sehr geringem Umfang belegt. Die ab dem 12. Jh. vermehrt auftretenden Darstellungen von Figuren und Szenen der apokryphen Apostelliteratur zeugen von einer starken Variabilität, die darauf zurückzuführen sein mag, dass den Künstlern nicht die uns heute vorliegenden, rekonstruierten Textfassungen zugänglich waren. Sie orientierten sich an einem breiten Spektrum aus Exzerpten der Apostelakten in Homilien, Menologien, Textsammlungen (wie z.B. Acta Martyrum, Acta Sanctorum, Legenda Aurea), liturgischen Texten und Traditionen (wie z.B. Lektionaren für die Lesungen an den Festtagen der Heiligen; vgl. Cartlidge/Elliott 2001, 173). Zudem ist davon auszugehen, dass bildliche Darstellungen nicht notwendig von Textvorbildern ausgingen, sondern die Bildsprache sich eigenständig und unabhängig entwickelte. Die erhaltenen Beispiele finden sich vorwiegend im Bereich der Sarkophagplastik, der sakralen Monumentalmalerei und der Mosaiken sowie auf liturgischem Gerät (vgl. Thomas 2006). Im Folgenden soll ein Einblick in die bildliche Darstellung der Wundererzählungen geboten werden, in denen Apostel als Wundertäter fungieren. Seitens der literarischen Tradition stehen diese Motive mit der kanonischen Apostelgeschichte oder den apokryphen Apostelakten in Zusammenhang. Ihre Rezeption und Interpretation in der (früh)christlichen Kunst und materiellen Frömmigkeit sowie die reziproken Rezeptionsprozesse zwischen apokrypher Literatur und bildender Kunst sollen hier schlaglichtartig in den Blick genommen werden.

2. Die bildliche Darstellung der Apostel Obgleich bereits Euseb erste Darstellungen des Paulus und Petrus erwähnt (h.e. 7,18,4), ist anzunehmen, dass »Petrus und wahrscheinlich auch Paulus in der frühchristlichen Kunst gegen Ende des 3. Jh. in noch ganz anonymer Gestalt innerhalb einer kleinen Gruppe von sechs Aposteln neben dem lehrenden Christus auftreten«, wodurch die christliche Lehre – in der Tradition der Darstellung griechischer Philosophenschulen – als die »wahre Philosophie« präsentiert wurde (Sotomayor 93

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1983, 199). Die distinktiven Merkmale in den Aposteldarstellungen bildeten sich wahrscheinlich erst ab der 2. Hälfte des 4. Jh. an den Passionssarkophagen aus. Wie auch in der klassischen Tradition in der Gegenüberstellung zusammengehöriger Figuren unterschiedliche Darstellungsweisen gewählt wurden, so wird in Bezug auf die beiden Apostel angenommen, dass deren individuelle portraithafte Züge auf die Gegenüberstellung der beiden Figuren zurückzuführen seien (vgl. Sotomayor 1983, 204f.). Die bildliche Darstellung des Paulus, die ihn – mit geringfügigen Varianten – meist mit schmalem Gesicht, Glatze und langem, spitzem Bart, z.T. hervortretender Stirn und gebogener Nase zeichnet, findet jedoch Anhalt an der Beschreibung des Erscheinungsbildes des Apostels in den Paulusakten (2. Jh.): Und er [Onesiphorus, S.L.] ging an die königliche Straße, die nach Lystra führt, stellte sich dort auf, um ihn [Paulus, S.L.] zu erwarten, und sah sich (alle), die vorbeikamen, auf die Beschreibung des Titus hin an. Er sah aber Paulus kommen, einen Mann klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und krummen Beinen, in edler Haltung mit zusammengewachsenen Augenbrauen und ein klein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit; denn bald erschien er wie ein Mensch, bald hatte er eines Engels Angesicht (ActThecl 3, Übers. Schneemelcher in Schneemelcher/Kasser 1997).

Eine analoge Beschreibung findet sich im 6. Jh. auch bei Johannes Malalas (Io. Mal. chron. 10,37) und im 14. Jh. bei Nicephorus Callistus Xanthopoulos (h.e. 2,37; PG 145,853f.; vgl. Omerzu 2008, 253-255). Frühe Darstellungen des Paulus, die z.T. noch geringfügige Variationen gegenüber dem später kanonisch werdenden Kopftypus erkennen lassen, finden sich z.B. in einem Fresko in der Domitilla-Katakombe (1. Hälfte 4. Jh.; vgl. Wilpert 1903, 2/Tafel 154) oder in den Goldgläsern des späten 4. Jh. (vgl. Abb. 1). Als Attribut wird Paulus häufig eine Schriftrolle beigegeben und vor allem in Darstellungen ab dem 13.  Jh. ein Schwert, das auf die Beschreibung seines Martyriums in MartPl 5 Bezug nimmt.

Abb. 1: Petrus und Paulus, Goldglas, spätes 4. Jh., Rom

Die Darstellung des Petrus mit breitem Gesicht, kurzem, gelocktem Haar (seit dem 6. Jh. mit Tonsur und Stirnlocke), anfangs meist bartlos, ab Ende des 4. Jh. mit rundem Bart, korrespondiert hingegen nicht mit den überlieferten textlichen Quellen (vgl. Braunfels 1968, 161). Entwickelte sich der Typus des Judenapostels erst im Laufe des 4.  Jh. im Gegenüber zum Typus des Heidenapostels (vgl. Sotomayor 1983, 204f.; Dinkler 1939, 65; Stuhlfauth 1925, 11f.)? Oder ist glaubhaft zu machen, dass eine Beschreibung des Apostels, die bei Nicephorus (h.e.

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2,37) erhalten ist, ursprünglich einen Teil der Petrusakten bildete und aufgrund dessen in der bildlichen Darstellung Wirksamkeit entfaltete (vgl. Matthews 1996, 136)? Als Attribut wird Petrus seit der ersten Hälfte des 4. Jh. ein Hahn beigegeben, v.a. in der Petrus-Christus-Hahn-Szene, die auf die Verleugnung verweisen (Mk 14,66-72 parr.) oder die Beauftragung des Petrus (Joh 21,15-18) darstellen kann (vgl. Dresken-Weiland 2011, 128.141-144). Entgegen der kanonischen literarischen Tradition in Hinsicht auf das Verhältnis der beiden Apostel zueinander (vgl. Gal 1f.; Apg 15) ist deren gemeinsame Darstellung, z.B. in der sog. Traditio legis (Dominus legem dat), seit constantinischer Zeit weitverbreitet und betont die concordia apostolorum (vgl. Dresken-Weiland 2011, 144-149; Pietri 1961; Fabricius 1956, 91f.; Berger 1973). Ab dem Ende des 4. Jh. und bis ins Mittelalter finden sich zudem häufig Apostelzyklen, die Szenen aus dem Leben des Petrus und des Paulus verbinden und z.B. das Treffen der Apostel in Rom, den gemeinsamen Sieg über Simon Magus oder die Anwesenheit des Petrus beim Martyrium des Paulus thematisieren (vgl. Cartlidge/Elliott 2001, 135; Kessler 1987). Die frühe Ausprägung portraithafter Züge der beiden Apostel ist vielleicht auf die Tatsache zurückzuführen, dass es sich um Figuren handelt, die in der kanonischen Literatur und der kirchlichen Tradition von großer Bedeutung waren. Zudem stehen Petrus und Paulus in der frühchristlichen Kunst häufig den anderen Aposteln vor, so dass man Darstellungen der Apostel auf Petrus und Paulus reduzieren konnte, da diese die Apostelgemeinschaft repräsentierten (vgl. Sotomayor 1983, 298). Die Darstellungskonventionen der weiteren Apostel sind weit weniger ausgeprägt. Die frühesten lehnen sich an den Typus antiker Philosophenbilder an und zeigen schon im 4. Jh. das Zwölferkollegium um Christus versammelt (z.B. im Rahmen einer Lehrszene), später auch als allgemeine Apostelversammlung (z.B. im Kontext der Akklamation), dazu kommen Zyklen mit Bildmedaillons der Apostel und Darstellungen der Apostel als Lämmer oder Tauben. Des Weiteren werden Auswahlgruppen gebildet, z.B. in der Traditio legis (Petrus und Paulus) oder in der großen Deesis (Petrus, Paulus, Johannes, Jakobus, Andreas). Ab etwa dem 8. Jh. entstehen Zyklen, die die Apostel predigend, lehrend, taufend oder im Martyrium präsentieren (vgl. Myslivec 2012, 155-160.169-172). Eine bedeutende Rolle kommt in diesem Zusammenhang auch der Darstellung auf Ikonen zu (vgl. Loeschcke 1973). Obgleich der apokryphen Literatur Informationen über die Charaktereigenschaften der Apostel zu entnehmen sind, haben sich ikonographische Konventionen für eine individuelle Darstellung der anderen Apostel erst im Hochmittelalter, wohl mit der zunehmenden Bedeutung der Apostel im liturgischen Kontext im Zusammenhang der Heiligenverehrung verfestigt (vgl. Myslivec 2012, 152f.). Auch diese Darstellungen finden keine Parallelen in den erhaltenen antiken Texten und »it is not clear as to what was the origin of these types« (vgl. Cartlidge/Elliott 2001, 176). Für diejenigen Apostel jedoch, deren kultische Verehrung in der Liturgie Ausdruck fand, lässt sich bereits früh die Herausbildung distinktiver Darstellungskonventionen erkennen – neben Petrus und Paulus gilt dies insbesondere für Andreas, der bereits in den ravennatischen Mosaiken des 6. Jh. wie später üblich mit langem grauem, zerzaustem 95

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Haar dargestellt wird, und für Johannes, der entweder als alter Mann oder als asketischer, bartloser Jüngling portraitiert wird (vgl. Cartlidge/Elliott 2001, 174-176).

3. Die Wunder der Apostel in Einzelszenen und Apostelzyklen Ab dem Ende des 3. Jh. und vor allem im Laufe des 4. Jh. entstanden – vielleicht im Zusammenhang mit der zunehmenden Verehrung des Petrus und Paulus in Rom – Darstellungen von Szenen aus dem Leben der beiden Apostel in unterschiedlichen Medien. Aus der kanonischen Apostelgeschichte und den apokryphen Apostelakten werden unter anderem auch Wundererzählungen aufgenommen. Da die Apostelakten und -traditionen – kanonisch wie apokryph – primär aus der Perspektive des Heiligen- und Märtyrerkults rezipiert wurden, sind in bildlichen Darstellungen insbesondere Berufung, Aretalogie und Martyrium der Apostel von Bedeutung. Lebenszyklen der Apostel selektieren in der Regel einige wenige prägnante Einzelszenen aus dem umfangreichen Traditionsmaterial und reduzieren die Narration auf die zentralen Aspekte des Apostellebens (vgl. Cartlidge/Elliott 2001, 176.179).

Petrus (Apostelgeschichte, Petrusakten)

Die früheste gesichert benennbare Darstellung des Petrus findet sich im Baptisterium der Hauskirche von Dura Europos (Mitte 3. Jh.), wo ein Fresko den Seewandel Jesu abbildet und im Rahmen dieses Wunders Jesu dem sinkenden Petrus besondere Bedeutung zumisst. Eine explizite Rezeption von Petruserzählungen findet sich ab dem Ende des 3. Jh. in der Sarkophagplastik. Es lässt sich ein festes Inventar an Szenen identifizieren: das Quellwunder (s.u.), die Verleugnungs- bzw. Beauftragungsszene (Mk 14,66-72 parr.; Joh 21,15-18) und die Gefangennahme (ActPetr 36), später erweitert durch die Darstellung des lehrenden Petrus (vgl. Dresken-Weiland 2011; Sotomayor 1983, 200-204; Fabricius 1956, 94-106). In den frühen Darstellungen des Martyriums des Petrus wird seine Gefangennahme portraitiert, zudem finden sich Darstellungen, zunächst des kreuztragenden Petrus (ActPetr 36; vgl. z.B. Sarkophag der 12 Apostel, San Apollinare in Classe, 5. Jh.), dann auch von der umgekehrten Kreuzigung (ActPetr 37f.; z.B. Elfenbeindarstellung im Musée Cluny, 6./7. Jh.; vgl. Cartlidge/Elliott 2001, 169). Auch in weiteren bildlichen Darstellungen der Wunder Jesu nimmt Petrus eine zentrale Rolle ein, z.B. in der Darstellung des Wunders von der Steuermünze im Fisch (Mt 17,24-27; vgl. Abb. 2). Auf einer Gruppe von Elfenbeintäfelchen aus dem frühen 5. Jh., die heute im Britischen Museum in London verwahrt werden, sind Szenen aus dem Leben des Apostels Petrus abgebildet. Die Darstellung des Quellwunders (Abb. 3) zeigt den Apostel, wie er mit einem Stock auf einen Stein schlägt, aus dem Wasser hervor96

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quillt, von dem zwei Figuren trinken. Diese Parallelisierung des Petrus mit Mose (vgl. Ex 17,6; Num 20,10f.) ist eine bereits bei den Kirchenvätern bekannte Tradition (vgl. Or. Comm. in Matth. 12,11; Aug. serm. 352,1,4; vgl. Fabricius 1956, 102), die jedoch – wie auch die Erzählung über die Gefangennahme des Petrus – erst im Text der Petrusakten des Ps.-Linus literarischen Niederschlag findet (um 500 n. Chr.; vgl. Verrando 1983). Die frühen bildlichen Darstellungen dieser Szene basieren daher wahrscheinlich auf mündlichen Traditionen (vgl. Sotomayor 1983, 201) und rezipieren Vorbilder der alttestamentlichen Abb. 2: Steuermünze im Fisch, Elfenbein des Szene (vgl. Stuhlfauth 1925, 50-71). Der Magdeburger Antependiums, um 970, Liverpool Unterscheidung dieser Szene von der Moseszene dient häufig eine Beischrift (vgl. z.B. auf der Glasschale von Podgoritza u.ö.; vgl. Fabricius 1956, 98f.) sowie die charakteristische Ikonographie (vgl. Dresken-Weiland 2011, 130-133).

Abb. 3: Quellwunder des Petrus, Elfenbeintäfelchen, frühes 5. Jh., Rom

Weitere häufig dargestellte Petruswunder sind der Apg entnommen, z.B. die Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis (Apg 12,6-17; vgl. Sarkophag in Fermo, Abb. 6; vgl. dazu Roose in diesem Band) oder die Auferweckung der Tabitha (Apg 9,36-43; Abb. 4; vgl. dazu Kollmann in diesem Band): Petrus reicht in der Darstellung auf dem hier vorgestellten Elfenbeintäfelchen der verstorbenen Tabitha die Hand und richtet sie auf; wie häufig in frühchristlichen Heilungsdarstellungen verweist die impositio manus auf eine Heilung des Kranken durch die Berührung des Wundertäters (vgl. Nauerth 1983, 340-343).

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Abb. 4: Auferweckung der Tabitha, Elfenbeintäfelchen, frühes 5. Jh., Rom

Die Lipsanothek von Brescia bietet eine Darstellung des Strafwunders an Hananias und Sapphira (Abb. 5; vgl. dazu Dormeyer zu Apg 5,1-11 in diesem Band). Die abgebildete Szene verbindet die zwei Erzählpassagen aus Apg 5,1-11 in einem Bild: Petrus ist sitzend dargestellt, vor ihm steht Sapphira, zu ihren Füßen ist ein Beutel mit Geld zu sehen. Die Leiche des Hananias wird bereits von einigen Männern nach rechts weggetragen (vgl. Kessler 1979, 110f.; Kollwitz 1933; Delbrueck 1952). Diese in frühchristlicher Zeit häufig wiedergegebene Episode ist in der Darstellung auf mehreren Sarkophagen vor allem südgallischer Provenienz bekannt (vgl. Nauerth 1983, 345; Beispiele bis ins Mittelalter bei Kessler 1979, 110f.).

Abb. 5: Strafwunder an Hananias und Sapphira, Detail aus der Lipsanothek von Brescia, spätes 4. Jh., Brescia

Weitere wahrscheinlich der apokryphen Tradition zuzurechnende Wunder des Petrus sind nicht definitiv zu identifizieren: Auf einem Sarkophag in Fermo (Abb. 6) werden zwei Szenen abgebildet, die wahrscheinlich Bezug auf apokryphe Petruswunder nehmen (1. und 2. Szene von links). Die genaue Deutung der Szenen ist jedoch umstritten (Diskussion bei Cartlidge/Elliott 2001, 164): Die Darstellung kann in Bezug auf die Erzählung von der Auferweckung der Tabitha oder auf die Erzählung über die gelähmte Tochter des Petrus (Kopt. Pap. Berlin 8502,4; vgl. dazu Plisch in diesem Band) interpretiert werden, auch eine Blindenheilung (ActPetr 20f.; vgl. dazu Misset-van de Weg in diesem Band) oder die Bitte einer Witwe um Auferweckung ihres Sohnes Nikostratus (ActPetr 25-27; vgl. dazu Döhler/Neureiter in diesem Band) stellen mögliche Bezugspunkte dar. 98

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Abb. 6: Petruswunder, Sarkophag, 4./5. Jh., Fermo

Obgleich somit von einer Kenntnis der apokryphen Wundertradition um Petrus in der frühchristlichen Kunst auszugehen ist, ist eine genaue Zuordnung zu einer erhaltenen literarischen Vorlage nicht möglich; vielmehr verweist die Kreativität der bildenden Kunst auf eine parallele Entwicklung eigenständiger Traditionen in diesem Bereich. Zugleich legt die Darstellung des Petrus, der die Frau bzw. Witwe im zweiten Interkolumnium tröstend aufrichtet, nahe, dass die dargestellte Szene auf die aktuelle Situation im sepulkralen Kontext hin interpretiert wird (vgl. Stuhlfauth 1925, 28-35). Auf drei gallischen Sarkophagen aus dem 4./5. Jh. findet sich – in unterschiedlicher Ausführung – die Darstellung eines sitzenden Hundes, der die Pfote hebt und mit einer ihm gegenüberstehenden Figur interagiert. Diese Szene wird als eine bildliche Darstellung des sprechenden Hundes aus der Auseinandersetzung des Apostels Petrus mit Simon Magus nach ActPetr 10(-12) identifiziert (vgl. dazu Hoffmann in diesem Band). Dieses apoAbb. 7: Der sprechende Hund, Detail aus Sarkophag, 4./5. Jh., kryphe Tierwunder aus den ActPetr war auch im MoVerona (San Giovanni in Valle) saikzyklus der Petruswunder in Alt-St. Peter vertreten (Abb. 7; vgl. Stuhlfauth 1925, 3-9; Fabricius 1956, 95f.). Paulus (Apostelgeschichte, Paulus- und Theklaakten)

Darstellungen des Paulus sind später und weniger facettenreich als die des Petrus (vgl. Sotomayor 1983, 209). Paulus wird vor dem 4. Jh. – vor allem auf Sarkophagen – häufig im Evangelistentypus dargestellt, als predigender Völkerapostel; in narrativen Einzelszenen wird z.B. die Berufung (Apg 9,1-9), die Flucht aus Damaskus (Apg 9,24f.) oder die Identifizierung des Paulus und Barnabas als Hermes und Zeus in Lystra (Apg 14,12) abgebildet. Zudem finden sich Einzelszenen der Gefangennahme und des Martyriums (MartPl; vgl. Lechner 1968). Frühe Darstellungen der Wunder des Paulus sind auf einem Elfenbeintäfelchen aus dem frühen 5. Jh. überliefert: 99

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Auf dem rechten Flügel des Elfenbeindiptychons von Carrand sind drei Szenen aus dem Leben des Paulus dargestellt (Abb. 8): Im oberen Drittel wird der Apostel sitzend dargestellt, ihm gegenüber steht ein Mann, mit dem er debattiert. Ein weiterer Mann, der hinter Paulus steht, scheint ihm aufmerksam zuzuhören. Eine identifizierende Zuschreibung dieser Szene zu den aus der kanonischen Apostelgeschichte oder den apokryphen Apostelakten bekannten narrativen Szenen ist schwierig; vielleicht soll der Völkerapostel predigend gezeigt werden, vielleicht wird auch auf eine bestimmte Einzelerzählung Bezug genommen – mögliche Referenztexte sind Apg 17 (Areopagrede) oder Apg 25f. (Rede vor Agrippa und Festus). Die mittlere Darstellung auf dem Täfelchen bildet die Erzählung aus Apg 28,1-6 ab, als sich auf Malta die Immunität des Paulus gegen Schlangenbisse erweist. Obgleich Szenen aus der kanonischen Apostelgeschichte in der frühchristlichen Kunst häufig rezipiert wurden, fand diese auf dem Elfenbeintäfelchen wiedergegebene Szene nur sehr selten Aufnahme in bildliche Darstellungen; dennoch war sie z.B. im Zyklus von S. Paolo fuori le mura vertreten (vgl. Kessler Abb. 8: Diptychon mit Szenen aus dem Leben des Paulus, Elfenbein, 1979, 113f.). Dieser frühe römische Pauluszyklus frühes 5. Jh., Rom (?) (1. Hälfte 5. Jh.) wurde 1823 durch ein Feuer zerstört (vgl. Lechner 1968, 145; Weis-Liebersdorf 1902, 75f.; Gui 2002; Garber 1918). Allein Aufzeichnungen aus dem 17. Jh. sind erhalten und lassen eine Rekonstruktion zu, die auf die Darstellung verschiedener paulinischer Wunder schließen lässt (vgl. Waetzoldt 1964). Die auf dem Täfelchen zuunterst dargestellte Szene verweist auf die wundersame Heilung eines Kranken auf Malta durch Paulus nach Apg 28,7f. bzw. auf das Summarium in Apg 28,9. Die beiden drastisch deformiert dargestellten Kranken werden von je einem Mann herbeigeführt und gestützt. Entgegen der noch auf den Sarkophagen des 4. Jh. häufig zu beobachtenden Konvention, die Kranken nur halb so groß darzustellen wie die übrigen Figuren (Bedeutungsmaßstab), werden hier alle Beteiligten gleich groß portraitiert (vgl. Nauerth 1983, 342). Auf einem Elfenbeintäfelchen aus dem frühen 5. Jh. sind weitere Szenen aus dem Leben des Apostels Paulus abgebildet (Abb. 9). Paulus wird gezeigt, wie er der konzentriert lauschenden Thekla predigt, die hinter einer Stadtmauer steht; zudem zeigt die Tafel die Steinigung des Paulus (in Anlehnung an Apg 14,5.19 oder ActThecl 21):

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Abb. 9: Darstellungen des Paulus, Elfenbeintäfelchen, frühes 5. Jh., Rom

Die frühesten Paulusdarstellungen nehmen sowohl auf die Apg, als auch auf das MartPl Bezug: Diverse frühchristliche Sarkophage, unter anderem der des Junius Bassus aus dem 5. Jh., bilden z.B. die Gefangennahme des Paulus ab, die zum Martyrium führte (Abb. 10; vgl. Malbon 1990, 2f.; Cartlidge/Elliott 2001, 144; vgl. Nicklas zu MartPl 5-7 in diesem Band). In der mittelalterlichen Kunst wird zudem das Martyrium dargestellt (vgl. z.B. S. Maria in Sylvis, in Sesto al Reghena, Italien).

Abb. 10: Sarkophag des Junius Bassus, 5. Jh., Rom, mit der Darstellung der Gefangennahme des Petrus (2. Szene von links, oberes Register) und des Paulus (5. Szene von links, unteres Register)

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Thekla (Paulus- und Theklaakten, Leben und Wunder der heiligen Thekla)

Der Figur der Thekla kommt in der frühen Kirche große Bedeutung zu. Gregor von Nazianz nennt sie z.B. als einzige Frau in der Liste der frühchristlichen apostolischen Märtyrer (or. 24,10; PG 35,1180D-1181A). In ihrer Lebensbeschreibung wird sie als Protomärtyrerin mit Stephanus parallelisiert (vgl. VitThecl 1; 5. Jh.; Dagron 1978, 172). In der apokryphen Erzählung des Martyriums und des Wirkens der Thekla in den ActThecl, die sich bereits in der frühen Kirche großer Bekannt- und Beliebtheit erfreute, wird sie als Frau den Aposteln gleichgestellt. Die früheste künstlerische Referenz auf Thekla findet sich auf einem Fragment aus der Coemeterialbasilika des hl. Valentin (Rom; vgl. Abb. 11). Abgebildet ist ein Schiff, das die Aufschrift THECLA trägt und von einer Figur mit der Beischrift PAVLVS gesteuert wird. Diese symbolische Darstellung zeichnet zunächst Paulus, den Gemeindegründer und -vorsteher, als Menschenfischer (vgl. Fabricius 1956, 110). Cartlidge/Elliott beurteilen den Befund folgendermaßen: Whether the plaque is a gravestone for a Thecla or part of a sarcophagus intended to illustrate the link between Thecla and Paul, its visual connection between Paul and Thecla certainly argues for our considering it a parallel with the Acts of Paul. […] On the one hand, Paul is clearly in command of the Good Ship Thecla’s course; he handles the tiller and the mainsheet. Thecla’s dependence on the Pauline message and her attraction to his preaching of »celibacy and the resurrection« (Acts of Paul 5f.) are emphasized in the rhetorical narrative. On the other hand, it may well be that the ship parallels the rhetorical narrative’s ambiguity: Thecla is both dependent upon Paul and an independent pursuer of her baptism and of the faith. In the end, she is an independent teacher, preacher and female martyr (Cartlidge/Elliott 2001, 148f.).

Abb. 11: Das Schiff Thekla, Fragment eines Sarkophagdeckels, 4. Jh., Rom

Ab dem 5. Jh. sind uns vielfältige Darstellungen der Thekla erhalten, häufig in Verbindung mit Paulus. Zu den am häufigsten dargestellten Szenen zählen die Rettungswunder im Kontext der Verurteilung der Thekla zum Martyrium (vgl. Losekam, Esch-Wermeling und Merz zu den Wundern in ActThecl in diesem Band). Thekla 102

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wird als Orantin oder als Gebundene dargestellt, flankiert von zwei flammenden Feuern oder von zwei Tieren (Löwen, Robben oder Stieren), die die zentralen Prüfungen illustrieren und die Errettung der Thekla symbolisieren. Ein Kalksteinmedaillon (Abb. 12; Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City) zeigt die Leiden der zum Martyrium verurteilten Thekla: Sie wird gebunden, mit nacktem Oberkörper und fließendem Rock präsentiert und ist flankiert von zwei geflügelten Engeln, zu ihren Füßen von zwei wilden Tieren. Ferner gründet die Darstellung der Thekla in ihrer literarischen Erwähnung im Rahmen von Lehrszenen als Hörerin der Predigt des Paulus (vgl. Abb. 9; zudem z.B. die Darstellung in der Friedenskapelle von El-Bagawat; vgl. Nauerth/Warns 1981, 1-11; Cartlidge/Elliott 2001, 150f.) sowie von Szenen der Thekla im Gefängnis. Thekladarstellungen fanden weite geographische Verbreitung sowie breite Rezeption im kirchlichen Kontext wie auch im privaten Umfeld (z.B. Berliner Kamm, vgl. Nauerth/Warns 1981, 51-53) und waren auch im Mittelalter noch beliebt, wie z.B. das Antependium der Thekla geweihten Kathedrale von Tarragona erkennen lässt, das Abb. 12: Thekla umgeben von wilden Tieren, Kalkstein, 5. Jh. (?), Ägypten Anfang des 13.  Jh. entstand und kompendiumartig Szenen aus dem Leben der Heiligen präsentiert (vgl. Nauerth/Warns 1981, 85-91; vgl. Abb. 13).

Abb. 13: Szenen aus dem Leben der Hl. Thekla, Hochaltar der Kathedrale von Tarragona (Detail), Anfang 13. Jh., Tarragona

Dieser knappe Einblick in die Darstellung der Apostelwunder lässt erkennen, dass die bildliche Repräsentation narrativer Wunderszenen andere Wege geht als die literarische Darstellung. So wird z.B. bei Heilungen die Krankheit chiffreartig charakterisiert, indem der zu heilende Körperteil drastisch überbetont oder durch die Berührung des Wundertäters hervorgehoben wird, oder indem dem Kranken ein Attribut beigegeben wird 103

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(z.B. Bett, Stock etc.). Die Komposition der narrativen Szenen erscheint typisiert, ist aber häufig variabler und figurenreicher als in literarische, Darstellungen der Wunder; obgleich ein expliziter Bezug zu neutestamentlichen oder apokryphen Texten immer wieder angestrebt wird, ist dieser häufig nicht eindeutig identifizierbar oder gar gegeben (vgl. Nauerth 1983, 342-345). Die Szenenauswahl lässt dennoch auf eine Rezeption sowohl kanonischer wie auch apokrypher Stoffe schließen; es werden sowohl Heilungen und Totenauferweckungen als auch außergewöhnliche Wunder, z.B. Rettungswunder, Tierwunder und Szenen mit magischen Implikationen (z.B. Schlangenbiss) aufgenommen. Die Apostel werden dabei als Wundertäter präsentiert, der Einfluss der Macht Gottes in diesen Wundertaten wird in der Darstellung nicht explizit berücksichtigt.

Lebenszyklen der Apostel

Die Berufungen, die Wunder und die Martyrien der Apostel stellten die zentralen narrativen Traditionen dar, die in der (früh-)christlichen Frömmigkeit rezipiert wurden. Dennoch sind keine Belege für apostolische Lebenszyklen aus den ersten Jahrhunderten erhalten. Lediglich eine schriftliche Quelle lässt darauf schließen, dass in der Apostelkirche in Konstantinopel (6. Jh.) Mosaikzyklen der Apostel existierten (Mesarites um 1200, vgl. Heisenberg 1908). Erst ab dem 11. Jh. sind vermehrt zyklische Darstellungen der Apostelleben erhalten. Hier soll beispielhaft ein Thomaszyklus vorgestellt werden:

Abb. 14: Szenen aus dem Leben des Apostels Thomas, 13. Jh., Fenster der Kathedrale von Chartres

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Das Thomasfenster im Chorumgang der Kathedrale von Chartres datiert ins 13. Jh. Die Darstellung orientiert sich eng am Text der ActThom und stellt im Rahmen des Apostelzyklus von der Berufung bis zum Tod folgende Wunder dar: In den Bildfeldern 6-7 wird das Strafwunder am Mundschenk des Königs berichtet (ActThom 4-9); dargestellt ist die Festtafel, zu der ein Hund die abgebissene Hand des Mundschenks trägt (6), und in der korrespondierenden Szene der Tod des Mundschenks, der an der Quelle von einem Löwen zerrissen wird, bevor seine Hand von einem Hund abgebissen wird (7; vgl. Weyer-Menkhoff zu ActThom 6-9 in diesem Band). Zudem mag man den Tod und die wunderhafte Wiederkehr ins Leben des Gad, des Bruders des Königs (14), zu den Wundern zählen (ActThom 21-23): Gad erkennt im Jenseits die guten Werke des Apostels (15) und empfiehlt dem König bei der Rückkehr ins Leben den Apostel (16). Im Kontext des Martyriums wird das Wasserwunder angedeutet, das verhindert, dass Thomas auf glühende Eisenplatten gestellt wird (18). Im darüberliegenden Vierpass wird erzählt, wie der Herrscher Thomas zur Anbetung einer Götterstatue bewegen will (20), dieser aber das Götzenbild durch ein Gebet zerstört (21; vgl. Halfen 2007, 456-458). Letztere Erzählung geht nicht auf die ActThom, sondern auf die Legenda Aurea zurück. In Bildfeld 26 wird letztlich dargestellt, wie Kranke zum Schrein des Thomas pilgern, um Heilung zu erfahren. Dies ist in der Handlung des Königs Misdai bereits angelegt, dessen Sohn durch den heilkräftigen Staub vom Grab des Apostels geheilt wird (s.u.; vgl. Spittler zu ActThom 170 in diesem Band). An diesem Beispiel lässt sich aufzeigen, dass die Zyklen der Apostelleben diverse literarische und mündliche Vorlagen dezidiert auf die bildliche Darstellung der Aretalogie sowie des Martyriums der Apostel hin zuspitzen. Die Auswahl der Szenen folgt keinen nachvollziehbaren Kriterien, als Quellen für die Zyklen dienen nicht nur kanonische und apokryphe Texte, sondern ebenso liturgische Bücher und Menologien, Sammlungen von Heiligenviten und -legenden.

4. Darstellungen auf Artefakten mit wundersamer bzw. magischer Wirkung Neben der Rezeption der kanonischen und apokryphen Wunder und der Fortschreibung der breiten frühchristlichen Wundertradition in der bildenden Kunst ist unter einer erweiterten Perspektive auch die Verwertung und Funktionalisierung der Wunder in der materiellen Frömmigkeit in den Blick zu nehmen.

Wunderdarstellungen auf (magischen) Gegenständen

Dass Amulette mit Verweisen auf Wunder oder Exorzismen der Apostel bislang nicht bekannt sind, mag darauf zurückzuführen sein, dass die Apostelwunder – auch wenn die Erzählung nicht explizit davon spricht, dass im Namen Jesu oder Gottes gehandelt wird – auf der Macht Gottes basierend wahrgenommen wurden (vgl. Kollmann, Wun105

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der Jesu im Licht von Magie und Schamanismus in Bd. 1 des Wunderkompendiums). Vor diesem Hintergrund ist der Fokus auf die Anrufung Jesu auf frühchristlichen Amuletten zu erklären (vgl. DeBruyn 2015, 167f.). Zudem handelt es sich insbesondere um kanonische Wundererzählungen, die z.B. auf Gemmen und Zauberpapyri, auf Amuletten mit heilender oder apotropäischer Funktion abgebildet werden. Die Schriften christlicher Autoren der ersten Jahrhunderte belegen, dass pagane magische Praktiken zwar von Seiten der Kirche abgelehnt wurden, christliche magische Vorstellungen und Handlungen, z.B. der Gebrauch christlicher Symbole, Gegenstände oder sogar Bibeltexte in dieser Funktion, jedoch geduldet wurden (vgl. z.B. Aug. Joh. tract. 7,12; civ. 22,8,7; ep. 20,37; Clem. Al. paid. 3,11; u.ö.; vgl. Engemann 1997, 164f.; Brox 1974, 168-179; Staubli 2010, 190). Doch nicht nur im privaten Bereich wurden magische Gebräuche gepflegt, apotropäische Artefakte lassen vielmehr auf die verbreitete Wirksamkeit magischer Übelabwehr in der breiten Öffentlichkeit schließen (vgl. Engemann 1975). Im Codex Theodosianus 9,16,3 findet sich diesbezüglich folgende Bestimmung: Das Wissen derjenigen ist zu bestrafen und durch zu Recht sehr strenge Gesetze zu ahnden, die überführt werden, als Anhänger der magischen Künste gegen das Heil der Menschen agiert oder sittsame Seelen zu Begierden verführt zu haben. Keinerlei Anschuldigungen sind hingegen die Mittel ausgesetzt, die für die Gesundheit der Menschen erfunden wurden (zitiert nach Engemann 2007, 296).

Der Glaube an die den materiellen Gegenständen innewohnende – magische – Kraft ist nicht nur der Volksfrömmigkeit zuzuschreiben, sondern war auch in gebildeten Schichten und im Klerus weitverbreitet. So finden sich auch im offiziellen kirchlichen Bereich magische Praktiken: Apotropäische Zeichen (z.B. Christus- und Kreuzsymbole) wurden auf Fußbodenmosaiken oder Schwellen von Kirchenräumen, christlich-magische Inschriften und Symbole auf Amuletten und Kultgerät angebracht, Reliquien und Eulogien waren als Phylakteria und Apotropaia in Gebrauch (vgl. Engemann 1975, 40-48). So sind z.B. Papyrus-Amulette bekannt, die explizit auf ihre heilende Wirkung hinweisen: P.Oxy. 1151, ein Amulett aus dem 5. Jh., enthält ein an Christus gerichtetes Gebet um die Heilung vom Fieber und die Bewahrung einer Frau namens Joannia; ein weiteres Amulett (BGU III,954), das in das 6. Jh. datiert, bietet ein Gebet des Silvanus, Sohn des Sarapion, der um die Befreiung von Dämonen und die Heilung von aller Krankheit bittet (vgl. De Bruyn 2008, 67-69; zudem Busch 2006a, 25-30). Obgleich in derartigen Amuletten häufig biblische Wendungen Eingang finden (z.B. Mt 4,23; 9,35), verschiebt sich die Bitte von der physischen Heilung zur spirituellen Heilung; nur Letztere wird offensichtlich in der Verwendungszeit des Amuletts für wahrscheinlich angenommen (vgl. De Bruyn 2008, 72f. mit Verweisen auf die Kirchenväter). Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das FischfangAmulett: Ein koptischer Zauberpapyrus (P. London Ms. Or. 6795; Abb. 15) überliefert einen Text, der Gebet und Beschwörung verbindet. Auf dem Papyrus ist ein jugendlich-bartloser Jesus abgebildet, der durch die Beischrift I̅ C̅ gekennzeichnet ist 106

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und eine Angel hält, an der ein Fisch hängt, der ebenfalls mit der Beischrift I̅ C̅ als Christussymbol erkennbar ist. Der Text bietet eine Anrufung an Vater, Sohn und Heiligen Geist, darauf folgt ein Rekurs auf die Tobiterzählung und den wunderbaren Fischfang (Lk 5; Joh 21) sowie die Beschwörung: Bestimme mir selbst heute, mir, Severus, Sohn der Johanna, deinen Erzengel Raphael, daß er mir alle Arten Fische einsammle, von dem einen Ende der Erde bis zum andern, von Nord, Süd, Ost und West an den Ort, an dem dein Bild und deine Amulette sich befinden werden. Schnell, schnell, schnell! Bald, bald, bald! (Übers. adaptiert nach Kropp 1931, 99).

Die Schlussformel ist in Analogie zu magischen Formeln formuliert. Das Amulett nimmt die Wundererzählung vom Fischfang auf, erhält sie im Kontext der Fischerei und bestimmt sie als Grundlage für eine Beschwörung zum Fischfang (vgl. Horak 1995, 35f.). Die Tendenz, pagane magische Praktiken zu verurteilen, christliche magische Praktiken aber zu dulden, begründet, warum auch spezifisch christliche Motive auf Amuletten belegt sind. So sind z.B. drei Amulette mit dem Motiv der Heilung der blutflüssigen Frau durch Jesus bekannt, die in das 6./7. Jh. datieren. Das Amulett aus Abb. 15: Fischfang-Amulett (Detail), Papyrus, um 600, Ägypten Hämatit (!), das sich im Metropolitan Museum of Art in New York befindet (Abb. 16), zeigt auf der Vorderseite eine sich vor Jesus niederwerfende Frau, auf der Rückseite eine Frau in Orantenhaltung. Der Text, der eine gekürzte Version der kanonischen Heilungserzählung aus Mk 5,25-34 wiedergibt, beginnt auf der Vorderseite und wird auf der Rückseite fortgesetzt. Es ist anzunehmen, dass diese Art von Amulett in christlichen Kreisen dazu diente, Blutfluss zu hemmen, und z.B. im Kontext von Geburten zum Einsatz kam, da sowohl aufgrund der entsprechenden bildlichen Darstellungen und des Textes als auch aufgrund des Materials magische Wirksamkeit erwartet wurde (vgl. Vikan 1984, 81). Dass derlei Praktiken keineswegs auf das frühe Christentum beschränkt blieben zeigt sich darin, dass noch in nachreformatorischer Zeit in Deutschland sowohl die Verwendung von Amuletten belegt ist als auch der Versuch, z.B. Lähmung zu heilen, indem dem Kranken eine Bibel aufgelegt wurde, die an der Stelle geöffnet war, an der Jesu Heilung des Gelähmten erzählt wird (Mt 9,1-8; Mk 2,1-12; Lk 5,17-26; vgl. Scribner 2002, 316f.). Im katholischen Einflussbereich ist als Bestandteil der »geistlichen Hausapotheke« bis ins 20. Jh. in der Volksmedizin die Verwendung von Schabmadonnen belegt, deren Abrieb wie Medizin eingenommen wurde, sowie von papiernen Schluckbildchen mit Kultmotiven, die eine 107

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Parallele zur Hostie annehmen lassen (vgl. Staubli 2010, 194-197). Letztere waren als Esszettel auch im protestantischen Bereich bekannt und konnten z.B. Beschwörungsformeln oder Gebete enthalten.

Abb. 16: Amulett aus Hämatit, 6./7. Jh., Ägypten

Am Beispiel der christlichen Amulette lässt sich die bedeutende Rolle der frühchristlichen Kunst aufzeigen, »the integral role that art once played in effecting miraculous cures, and the instrumental role that it can still play in explicating the circumstances under which such cures were accomplished« (Vikan 1964, 67). Amulette fanden nicht nur in apotropäischer, sondern ebenso in medizinischer, heilender Funktion Verwendung (vgl. ebd.).

Wunderdarstellungen im Kontext des antiken Pilgerwesens

Ab der constantinischen Zeit entwickelte sich im Christentum ein reges Pilgerwesen: Pilgerheiligtümer werden v.a. in Palästina an mit alt- und neutestamentlichen Ereignissen verbundenen Stätten gegründet, aber auch Apostel- und Märtyrergräber sowie mit den Aposteln und deren Taten und Wundern in Verbindung zu bringende Orte werden auf diese Weise verehrt (vgl. Caseau 2007). Für die Frage nach Darstellungen der Apostelwunder in der bildenden Kunst sind zunächst materiale Überreste wie z.B. Pilgerampullen oder Amulette von Bedeutung, die Abbildungen der Wundertäter oder Wundertaten tragen. Zudem spiegeln sich Ansätze einer Verehrung der Apostel als Wundertäter bereits in den apokryphen Wundererzählungen. So wird z.B. in ActThom 170 berichtet: Es sich aber nach Verlauf langer Zeit, dass einer von den Söhnen des Königs Misdai von einem Dämon besessen wurde; da aber der Dämon hartnäckig war, so war niemand imstande zu heilen. Misdai überlegte aber und sprach: Ich will hingehen und

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das Grab öffnen und Gottes nehmen und an meinen Sohn hängen, und ich weiß, dass er geheilt werden wird. […] Misdai fand aber die Gebeine nicht. Denn einer der Brüder hatte sie heimlich weggenommen und in die Gegend des Westens getragen. Da nahm er Staub von der Stelle, wo die Gebeine des Apostels gelegen hatten, hängte ihn an seinen Sohn […]. Als aber der Sohn auf diese Weise gesund geworden war, nahm er (Misdai) an den Versammlungen der Brüder teil […] (Übers. orthographisch bearbeitet nach Drijvers 1997).

Im Rahmen des antiken Pilgerwesens konnten Eulogia wie z.B. Haare eines Heiligen, sowie auch Erde, Staub oder Lehm von der heiligen Stätte und daraus geformte Objekte, Öl oder Wasser oder andere mit dem Heiligen oder dem Ort seiner Verehrung in Berührung gekommene und dadurch mit Heiligkeit »aufgeladene« Gegenstände von den Pilgern mit nach Hause genommen werden, um auch dort ihre Heilkraft zu entfalten. Sie trugen z.B. ein Bild des Heiligen, um dessen Präsenz auch fern vom Heiligtum zu gewähren (vgl. Vikan 1984, 68.73f.). Diese Pilgerandenken in Form von Eulogia oder Phylakteria konnten mehrfache Wirkung entfalten – sie hatten heilende oder apotropäische Funktion und wurden als Mittler der Heiligkeit der Gedenkstätten betrachtet sowie allgemeiner als Verweis auf die dahinterstehenden (wunderhaften) Ereignisse angesehen und verwendet (vgl. Engemann 1997, 157-162). Eulogia sind auch in direkt heilender Funktion belegt: Durch Berührung oder Auflegen der geheiligten Gegenstände kann sich deren heilende Wirkmacht entfalten, indem z.B. geheiligter Staub von der Pilgerstätte trocken oder auch mit Wasser vermischt und zur Paste gerührt extern aufgetragen wurde (so Vikan 1984, 68f. am Beispiel des Hl. Symeon). Darstellungen der biblischen Erzählungen von Wunderheilungen wurden gerne auf Reliquienschreinen und -kästchen angebracht, deren Berührung den Gläubigen Heilung bringen konnte (vgl. Kessler 1979, 116). Eines dieser Pilgerheiligtümer ist das südwestlich von Alexandria gelegene Kloster des Hl. Menas (Abu Mina), eines ägyptischen Märtyrers (vgl. Christern 1983; Grossmann 1989; 2004). Viele der Ampullen mit Abbildungen des Menas in Orantenstellung, flankiert von zwei sich zu seinen Füßen verneigenden Kamelen, die Pilger als Eulogia von ihrem Besuch im Heiligtum mit nach Hause nahmen, sind erhalten geblieben. Auf der Rückseite dieser Ampullen finden sich unterschiedliche Darstellungen, einige Ampullen vor allem aus dem 5. und 6. Jh. bilden eine Orantin mit nacktem Oberkörper ab, die inmitten wilder Tiere – Löwe, Bär oder Stier – steht (ad bestias). Es handelt sich hier um Abbildungen der aus den ActThecl bekannten Erzählung des zweiten Martyriums der Thekla. Die Akten berichten, dass Thekla nach der zweifachen Errettung vor dem Martyrium durch göttliche Intervention selbst verkündigte und bis zu ihrem Ende in Seleukia wirkte. Die im 5. Jh. entstandene Schrift Leben und Wunder der Thekla lokalisiert den Wirkraum der Heiligen in einer Höhle in der Nähe von Seleukia. Der Theklakult am Schrein der Heiligen in Seleukia entwickelte sich im 4. und 5. Jh., nahe dem heutigen Silifke in der Türkei, der als Pilgerheiligtum weite Bekanntheit erlangte (vgl. Peregr. Eger. 23; vgl. Davis 1998, 303-307; vgl. dazu Kollmann, Hinführung zu Leben und Wunder der Thekla in diesem Band). Der Theklakult breitete sich rasch in der gesamten Mittelmeerregion aus und war vom 4.-7.  Jh. von großer Bedeutung. Möglicherweise rührt die 109

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Parallelisierung der beiden Heiligen, Menas und Thekla, daher, dass sich ein weiteres wichtiges Pilgerzentrum der Thekla nahe dem Menasheiligtum in Nordägypten befand, von dem heute aber jede Spur fehlt, oder daher, dass es sich um zwei das Martyrium auf sich nehmende Christen mit parallelen Lebensgeschichten handelte (so Davis 1998, 313-317; ausführlich Davis 2001). Ein heute im Louvre verwahrtes Pilgersouvenir (Ant. Breg. MNC 1926, vgl. Abb. 17) trägt auf der Vorderseite ein Bild des Menas, auf der Rückseite der Thekla zwischen einem Löwen und (vielleicht) einem Bären. Beide Seiten der Ampulle sind durch die Inschrift ΕΥΛΟΓΙΑ ΤΟΥ ΑΓΙ(ΟΝ) ΜΗΝ(Α) ΑΜΗ(Ν) (eulogia tou hagi[on] Mēn[a] amē[n] – Eulogion des heiligen Menas Amen) als Eulogion des Menas gekennzeichnet. Thekla wird gebunden dargestellt und ist durch die Beischrift Η ΑΓΙΑ ΘΕΚΛ(Α) (hē hagia Thekl[a] – die heilige Thekla) bestimmt (vgl. Nauerth/Warns 1981, 25-30). Als apotropäische Amulette dienten auch Pilgerampullen aus Palästina, die nicht auf einen locus sanctus Bezug nehmen, sondern kanonische Wundererzählungen, wie z.B. den Seewandel Jesu, abbilden und so vielleicht als Amulette für Seereisende zu lesen sind (vgl. Vikan 1991, 77.83). Der Träger der Ampulle mag sich eine Rettung in ähnlicher Weise erhofft haben, wie sie die abgebildete Szene darstellte (vgl. Vikan 1991, 84). Auf derartigen Amuletten sind Darstellungen von Jesus, Maria, Engeln und Heiligen bekannt, ebenso Kreuzigungsdarstellungen; die Aufnahme von Aposteldarstellungen oder gar Apostelwundern hingegen ist nicht belegt (vgl. Horak 1995; Schmitz 1993). Mit dem Andenken an ein Jesuswunder verbunden ist auch ein Pilgerort in Paneas (Caesarea Abb. 17: Thekla ad bestias, PilgerPhilippi): Euseb berichtet von zwei Statuen, die Jesus ampulle, Terracotta, 6. Jh., Ägypten und die blutflüssige Frau darstellen (Mt 9,20-22; Mk 5,25-34; Lk 8,43-48) und der Tradition nach vor deren Haus aufgestellt waren: Das blutflüssige Weib nämlich, von dem wir aus den heiligen Evangelien wissen, daß es durch unseren Heiland von seiner Krankheit befreit wurde, soll aus Cäsarea Philippi gekommen sein. Auch zeige man daselbst sein Haus und seien noch kostbare Denkzeichen an das Wunder vorhanden, das der Heiland an ihm gewirkt hatte. Auf hohem Steine vor dem Tore des Hauses, in dem das Weib gewohnt, stehe die eherne Statue (ἐκτύπωμα χάλκεον ektupōma chalkeon) einer Frau, die, auf ein Knie gebeugt, gleich einer Betenden die Hände nach vorne ausstrecke. Ihr gegenüber befinde sich aus demselben Metalle die stehende Figur eines Mannes (ἀνδρὸς ὄρθιον σχῆμα andros orthion schēma), der, hübsch mit einem doppelten Obergewand umkleidet, die Hände nach der Frau ausstrecke. Zu den Füßen des Mannes wachse an der Säule eine seltsame Pflanze, welche bis an den Saum des ehernen Mantels hinaufreiche und ein Heilmittel gegen alle möglichen Krankheiten sei (ἀλεξιφάρμακόν τι παντοίων νοσημάτων τυγχάνειν alexiphar-

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Einblicke in die bildliche Darstellung der Wunder der Apostel in der Kunst

makon ti pantoiōn nosēmatōn tynchanein). Diese Statue soll das Bild Jesu sein (τοῦτον τὸν ἀνδριάντα εἰκόνα τοῦ Ἰησοῦ φέρειν ἔλεγον touton ton andrianta eikona tou Iēsou pherein elegon). Sie ist noch heute erhalten; wir haben sie mit eigenen Augen gesehen, als wir in jener Stadt weilten (h.e. 7,18,1-4; zitiert nach Eusebius 2012, 334; griechischer Text nach Schwartz/Mommsen/Winkelmann 1999).

Das Standbild – eine Statue oder ein Basrelief – wird mehrfach erwähnt: Der Kirchenhistoriker Philostorgius berichtet von seiner Verbringung in die Kirche von Paneas und betont die Heilkraft des Krautes (μάλιστα δὲ τῆς φθινάδος ἴαμα malista de tēs phthinados iama; h.e. 7,3), bei Sozomenos erfährt man von seiner Zerstörung evtl. unter Kaiser Julian (vgl. h.e. 5,24; vgl. Nic. Call. h.e. 6,15). In späteren Texten wird der vom Blutfluss geheilten Frau, wahrscheinlich unter dem Einfluss von EvNik 7, der Name Bernike beigegeben (vgl. z.B. bei Johannes Diakrinomenos, 6. Jh.; vgl. Beatrice 1995, 527f.). Dennoch ist die in den antiken Texten tradierte Deutung des Standbildes als Darstellung der Wunderhandlung an der blutflüssigen Frau in der Forschung umstritten. Man zog auch die Möglichkeit in Betracht, dass es sich um eine von Christen mit dem Jesuswunder in Verbindung gebrachte Darstellung des Heilgottes Asklepios handelte oder dass die Figur nicht die Blutflüssige, sondern vielmehr die in Mk 7,2430/Mt 15,21-28 erwähnte Syrophönizierin darstellte (vgl. Beatrice 1995, 525f.). Von Bedeutung ist jedoch vor allem die über Jahrhunderte hin relativ konstante Interpretation und Funktion des Standbildes, das als bildliche Darstellung eines Jesuswunders in Verbindung mit einer weiterhin Wunderkraft spendenden Pflanze eine Wundertradition erhalten hat und den Standort zu einem erfolgreichen Pilger- und Erinnerungsort hat werden lassen (vgl. auch Keel 1994; Feldbusch 1942; ders. 1968). Auch von einem anderen, aus den Petrusakten bekannten Wundertäter ist in der Literatur ein Standbild bekannt: Justin berichtet in 1 apol 1,26,1f. von einer Bildsäule, die man zu Ehren des Simon Magus auf der Tiberinsel aufgestellt habe und die die römische Inschrift SIMONI DEO SANCTO getragen habe. Auch Euseb rekurriert in h.e. 2,14,4-6 auf die Bildsäule. Eine Statuenbasis, die 1574 auf der Tiberinsel gefunden wurde, trägt hingegen die Inschrift SEMONI SANCO DEO ^ FIDIO SACRVM. Sofern diese Inschrift mit der bei Justin erwähnten identisch ist, ist sie nicht dem Simon Magus gewidmet, sondern bezeichnet mit Semo Sancus einen altsabinischen Schwurgott. Dieser Fund stellt somit keinen Verweis auf ActPetr 10 dar, wo ebenfalls ein Standbild mit der Inschrift SIMONI IVVENI DEO erwähnt wird (Zwierlein 2013, 23-26; ders. 2011, 461-463).

5. Die Nutzung der Apostelwunder: Erinnerung und kreative Fortschreibung Schon dieser kurze Überblick lässt erkennen, dass das Bildrepertoire der frühchristlichen Kunst auf Figuren und Motiven der literarischen kanonischen wie apokryphen Tradition gründet. Zudem wird aber auch deutlich, dass die Herausbildung ikonographischer Traditionen und die Entstehung neuer Darstellungskonventionen in der bil111

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denden Kunst wiederum die Fortschreibung der literarischen Apostelleben und die Genese neuer literarischer Traditionen begünstigten. Viele der Darstellungen narrativer Szenen im Zusammenhang mit den Wundern der Apostel können mit Dinkler als »abbreviated representations« gelesen werden, d.h. als Darstellungen, »reduced to the most essential figures, yet maintaining the recognizability of the scene« (Dinkler 1978, 396). Für die Interpretation solcher Darstellungen ist der Kontext essentiell, denn »[a] lthough the abbreviated representation is always rooted in a biblical [or apocryphal, S.L.] episode, its symbolic allusions transcend that text. It is intended, at least by the person who gave the commission, as a reference to the function of the object or to the patron’s life« (Dinkler 1978, 402). Viele der zentralen Episoden, die auf das Leben und (Wunder-)Wirken der Apostel verweisen, wurden selektiv den Rezipienten in konkreten (historischen) Kontexten vor Augen gestellt. Besonders beachtenswert ist dabei die große Bandbreite an Bildträgern, sei es Gebrauchsgegenstand oder zweckgebundenes, mit dem Bildthema einhergehendes Artefakt. Durch diese Kontextualisierung erlangten die Darstellungen eine auf die Gegenwart der Betrachtenden hin ausgerichtete Deutung und Aktualisierung und dienten so einerseits der Illustration und der Erinnerung der in den Apostelakten berichteten Wunder und Taten sowie deren theologischen und pastoralen Implikationen. Andererseits standen Wundererzählungen durch die bildliche Repräsentation in narrativer oder symbolischer Form, z.B. auf Amuletten oder Phylakteria, in enger Verbindung mit dem Wunderglauben der Menschen, der vor allem im Bereich des antiken Pilgerwesens sowie im medizinischen Bereich von Bedeutung war. Susanne Luther

Literatur zum Weiterlesen D. R. Cartlidge/J. K. Elliott, Art and the Christian Apocrypha, London/New York 2001. T. De Bruyn, Appeals to Jesus as the One ›Who Heals Every Illness and Every Infirmity‹ (Matt 4:23, 9:35) in Amulets in Late Antiquity, in: L. DiTommaso/L. Turcescu (Hg.), The Reception and Interpretation of the Bible in Late Antiquity. Proceedings of the Montréal Colloquium in Honour of Charles Kannengiesser, 11-13 October 2006, Leiden 2008, 65-81. Ders., Christian Apocryphal and Canonical Narratives in Greek Amulets and Formularies in Late Antiquity, in: P. Piovanelli/T. Burke (Hg.), Rediscovering the Apocryphal Continent. New Perspectives on Early Christian and Late Antique Apocryphal Texts and Traditions, WUNT 349, Tübingen 2015, 153-174. H. L. Kessler, Scenes from the Acts of the Apostles on Some Early Christian Ivories, Gesta 18 (1979), 109-119. C. Nauerth, Heilungswunder in der frühchristlichen Kunst, in: H. Beck/P. C. Bol (Hg.), Spätantike und frühes Christentum, Ausstellung im Liebieghaus Museum alter Plastik Frankfurt am Main, 16. Dezember 1983 bis 11. März 1984, Frankfurt a.M. 1983, 339-346. J. Spier/M. Charles-Murray, Picturing the Bible. The Earliest Christian Art, New Haven 2007.

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I. Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

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Hinführung zu den Wundererzählungen in der Apostelgeschichte Verfasser und Abfassungsverhältnisse Die Apostelgeschichte wurde vom Autor des Lukasevangeliums als dessen Fortsetzung konzipiert. Sie bildet damit den zweiten Teil des lukanischen Doppelwerks. Seit dem ausgehenden 2. Jh. n. Chr. wird damit gerechnet, dass der aus den Paulusbriefen als Mitarbeiter des Apostels bekannte Arzt Lukas (Phlm 24; Kol 4,14; 2 Tim 4,10f.) der Verfasser beider Schriften war. Älteste Zeugen dafür sind der Kirchenvater Irenäus (haer. 3,1,1; vgl. Eus. h.e. 5,8,3) und der Kanon Muratori, ein um 200 n. Chr. entstandenes Kanonverzeichnis der Gemeinde in Rom. Wenn diese Überlieferung den Tatsachen entspräche, würde Lukas zumindest im Blick auf die Pauluswunder der Apostelgeschichte historisch zuverlässige Nachrichten aus erster Hand übermitteln. Die Bibelwissenschaft steht allerdings der altkirchlichen Tradition von Lukas dem Arzt als Urheber des lukanischen Doppelwerks mit Recht weitgehend ablehnend gegenüber (vgl. Ebner/Schreiber 2013, 193-196.238-242; Broer 2010, 138-143). Der Verfasser der Apostelgeschichte ist zwar deutlich in der Paulustradition verwurzelt, zeigt sich aber in entscheidenden Punkten der Paulusbiographie schlecht oder falsch informiert. Zudem lässt er keine tiefere Kenntnis paulinischer Theologie erkennen, wie man sie von einem Begleiter des Apostels auf dessen Missionsreisen erwarten würde. Auch der gelegentlich unternommene Versuch, den Autor des lukanischen Doppelwerks anhand seines Sprachschatzes als Arzt zu identifizieren und damit die Glaubwürdigkeit der altkirchlichen Tradition zu untermauern, führte zu keinem überzeugenden Ergebnis. Das lukanische Doppelwerk stammt von einem hellenistisch gebildeten und mit jüdischen Traditionen vertrauten Autor, der uns nicht näher bekannt ist. Die Apostelgeschichte wurde vom ihm wahrscheinlich in der Zeit zwischen 90 und 100 n. Chr. als Fortsetzung des um 80 n. Chr. entstandenen Lukasevangeliums geschrieben.

Wunder und antike Historiographie Im Blick auf den Inhalt und die literarische Form ist die Apostelgeschichte unter den neutestamentlichen Schriften wie überhaupt in der frühchristlichen Literatur ohne Analogie. Mit ihr hat Lukas etwas völlig Neues geschaffen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die literarische Gattung der Apostelgeschichte mit ihrer Wunderdarstellung von Parallelen aus der nichtchristlichen Literatur der Antike inspiriert wurde (vgl. Dormeyer 2009a). Diskutiert werden vor allem Einflüsse aus der Historiographie, dem Roman, der Praxeis-Literatur und der Philosophenbiographie. Der Titel (inscriptio), unter dem die Apostelgeschichte von den griechischen Bibelhandschriften wiedergegeben wird, lautet überwiegend »Taten der Apostel« (πράξεις ἀποστόλων praxeis apostolōn). Diese nicht von Lukas stammende, son115

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

dern später aufgekommene Bezeichnung ordnet die Apostelgeschichte in die antike Praxeis-Literatur ein und trägt der Tatsache Rechnung, dass sie eine Vielzahl von Wunderberichten enthält. Als Praxeis werden romanhafte Biographien bezeichnet, die eine Aneinanderreihung wunderbarer Taten berühmter Persönlichkeiten bieten. Ein bekanntes Beispiel ist der wohl im 3. Jh. n. Chr. entstandene Alexanderroman des Pseudo-Kallisthenes. In der Bibelwissenschaft herrscht ein breiter Konsens, dass die Zuordnung der Apostelgeschichte zur antiken Praxeis-Literatur dem literarischen Charakter des Werks nicht gerecht wird. Anders als in den apokryphen Apostelakten, die anschauliche Zeugnisse der christlichen Praxeis-Literatur sind, machen in der kanonischen Apostelgeschichte Wundertaten und andere spektakuläre Ereignisse nur einen Bruchteil der Schilderung aus. Zudem will Lukas keinen Roman, sondern eine geschichtliche Abhandlung verfassen. Das vorrangige Interesse liegt in der Darstellung dessen, wie durch Gottes Handeln die Kirche entstand und das Evangelium sich von Jerusalem aus über Judäa und Samaria in die gesamte Welt ausbreitete. Mit dieser Zielsetzung stellt die Apostelgeschichte ein Stück antiker Historiographie dar und steht in der Tradition von Geschichtswerken sowohl aus dem alttestamentlich-jüdischen als auch aus dem hellenistisch-römischen Bereich. Der Form nach kann man sie am ehesten als historische Monographie bezeichnen, in der Lukas sich der Darstellungsmittel der antiken Historiographie bedient, um die theologische Aufgabe einer religiösen Geschichtsbetrachtung zu bewältigen. Historiker wie Thukydides oder Polybios verzichten allerdings in ihren Geschichtswerken bewusst auf wunderhafte oder spektakuläre Ereignisse, während Lukas großen Wert darauf legt, dass die Ausbreitung des Evangeliums über die Welt in vielfacher Form von Zeichen und Wundern begleitet ist. Zu diesen eindrucksvollen Demonstrationen der Macht Gottes zählen unter anderem das unvermittelte Einstürzen von Gefängnismauern, die Erweckung Toter, allein durch den Schatten oder das Schweißtuch des Wundertäters bewirkte Heilungen und die Immunität gegen den Biss von Giftschlangen. Auch kuriose Beispiele des zum Scheitern verurteilten Handelns nichtchristlicher Wundertäter wie den misslungenen Exorzismus der Skevassöhne möchte der Verfasser der Apostelgeschichte seinem Lesepublikum keineswegs vorenthalten. Diese Aspekte berechtigen allerdings nicht dazu, Lukas den Rang eines Historikers abzusprechen und ihn als Romanschriftsteller zu betrachten, sondern weisen in die Richtung eines spezifischen Zweigs der antiken Historiographie. Eckhard Plümacher zufolge ist die Apostelgeschichte mit ihrer dem Spektakulären zuneigenden, vor Fiktion und Mirakel nicht zurückscheuenden Erzählweise der mimetischen oder sensationalistischen Geschichtsschreibung der griechisch-römischen Welt zuzurechnen. Diese wird von Autoren wie Duris, Phylarch, Agatharchides oder Poseidonios repräsentiert, von deren Werken allerdings nur wenige Fragmente erhalten blieben. Lukas sah im Erzählen von Wundern zur Veranschaulichung des machtvollen Eingreifen Gottes in die irdische Wirklichkeit ein geeignetes Mittel der Historiographie, ohne damit von seinen Ansprüchen als ernst zu nehmender Geschichtsschreiber abzurücken: 116

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Hinführung

Sich der Fiktion zu bedienen, mochte sie nun in der Übertreibung oder gar der Erfindung von Fakten bzw. Geschehnissen bestehen, war in der mimetischen Geschichtsschreibung jener Zeit eine gebräuchliche Methode, um zur Darstellung des Spektakulären zu gelangen. Genau dieser Methode hat sich auch Lukas bedient, und viele Actatexte zeigen, dass es ihm nicht schlechter als seinen paganen Kollegen gelungen ist, das anvisierte Ziel einer den Leser überwältigenden spektakulären Darstellung zu erreichen. […] Wie gezeigt, zählte zum Repertoire des die Fiktion um des Spektakulären willen nicht scheuenden mimetischen Geschichtsschreibers allermeist auch das Mirakulöse, und so wird man Lukas wegen der von ihm in der Apostelgeschichte erzählten Wunder ebenfalls nicht aus der Zunft der Historiker ausschließen dürfen, zumal sich unter seinen miracula mancherlei findet, das dem entspricht, was seine paganen Kollegen in ähnlicher Weise zu bieten hatten und, nota bene, wie Lukas geboten haben, ohne die bei Historikern sonst zu beobachtende Distanz zum Inhalt ihrer Erzählungen spüren zu lassen (Plümacher 2004d, 53f.57; vgl. auch Alexander 1998, 380-399; Schröter 2009, 27-47).

Einschränkend ist allerdings festzuhalten, dass anders als bei den paganen Geschichtsschreibern »kritischer Abstand zum Berichteten und prüfende Abwägung zwischen verschiedenen Versionen hier erst gar nicht zum Repertoire des Berichterstatters gehören« und man die Apostelgeschichte als ein Stück apologetischer Historiographie zur Etablierung der eigenen Identität gegenüber der Außenwahrnehmung betrachten kann (Backhaus 2007, 57). Direkte Parallelen zu den in der Apostelgeschichte geschilderten Wundertaten bleiben in den Geschichtswerken der griechisch-römischen Historiker ohnehin Mangelware. Anders sieht dies in hellenistischen Philosophenbiographien aus. Mit der Vielzahl der sich überwiegend um Petrus und Paulus rankenden Wunder bringt Lukas »einen Zug ein, der den Biographien ›göttlicher Männer‹ weitaus näher steht als der historischen Monographie oder der Historiographie allgemein, und komme sie auch noch so tragisch oder pathetisch daher« (Heininger 2007, 424). Auch wenn die Apostelgeschichte in den breiteren Rahmen der antiken Historiographie einzuordnen ist, hat sich Lukas also im Blick auf die umfängliche Rezeption von Wundergeschichten bei der Gestaltung seines Werks vermutlich auch ein Stück weit von der hellenistischen Biographie beeinflussen lassen.

Vorlukanische Gemeindetradition oder lukanische Fiktion? Mit Ausnahme der Episode von den Skevassöhnen sind alle ausführlicher erzählten Wunder der Apostelgeschichte mit Petrus oder Paulus verbunden. Dabei dominieren Heilungen, Totenerweckungen und Befreiungswunder. Als in den Evangelien noch nicht präsente Form kommt das ethisch bedenkliche Strafwunder an Menschen neu hinzu. Auffällig ist das Zurücktreten von Exorzismen, die nur in der ausführlicher erzählten Geschichte von der Magd in Philippi (Apg 16,16-18) und in summarischen Notizen (5,16; 8,7; 19,12) vertreten sind. Das Weichen der bösen Geister ist damit im lukanischen Doppelwerk ungleich eher ein Signum der Jesuszeit als der Zeit der Kirche. Vermutlich waren Lukas keine weiteren Berichte über Exorzismen der Apostel bekannt. Weniger wahrscheinlich ist die Vermutung, dass er Exorzismen bewusst mit Zurückhaltung begegnete, weil sie noch stärker als die 117

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Heilungswunder dem Magieverdacht ausgesetzt waren (so Klauck 1996, 132). Wenn dies der Fall wäre, hätte Lukas das exorzistische Wirken des Petrus, Philippus und Paulus kaum durch Summarien ausgeweitet und als typischen Zug ihres Auftretens gekennzeichnet. Die Erforschung der Wundererzählungen der Apostelgeschichte war lange Zeit von der Frage geprägt, inwieweit sie aus vorlukanischer Gemeindetradition stammen oder sich allein der schöpferischen Phantasie des Lukas verdanken. Häufig ging man davon aus, dass erst Lukas sowohl die Wunder des Petrus als auch des Paulus unter dem Eindruck der Jesuswunder aus der Evangelienüberlieferung geschaffen habe, oder man sah in den Pauluswundern der Apostelgeschichte lukanische Nachbildungen vorgefundener Petruswunder (vgl. Neirynck 1979, 172-188). In der Tat haben nahezu alle der Paulus zugeschriebenen Wundertaten Entsprechungen bei Petrus. Die Apostelgeschichte ist durch eine weitreichende Parallelität des Wirkens der beiden Lichtgestalten des frühen Christentums geprägt. Wie bei den Reden steht Paulus auch bei den Wundern Petrus in nichts nach.

Art des Wunders

Petrus

Paulus

Summarische Ausweitung des Wunderwirkens

Apg 2,43; vgl. 5,16f.

Apg 14,3; 15,12; 28,9; vgl. 19,11f.

Gelähmtenheilung

Apg 3,1-11

Apg 14,8-13

Strafwunder

Apg 5,1-11

Apg 13,9-12

Heilungen und Exorzismen ohne eigenes Zutun

Apg 5,15f.

Apg 19,11f.

Befreiungswunder

Apg 5,17-21

Apg 16,25-34

Konkurrenz zu antiken Magiern

Apg 8,14-28

Apg 19,13-17

Weitere Krankenheilung

Apg 9,32-35

Apg 28,7f.

Totenerweckung

Apg 9,36-42

Apg 20,7-12

Weiteres Befreiungswunder

Apg 12,3-17

---

Exorzismus

---

Apg 16,16-18

Rettungswunder

---

Apg 28,3-6

Tab. 3: Parallele Wundertaten von Petrus und Paulus nach der Apg

Neben zwei Krankenheilungen zählen ein Strafwunder, eine Dämonenaustreibung, ein Befreiungswunder, eine Totenerweckung und ein Rettungswunder zu den Machttaten, die nach Darstellung des Lukas das Auftreten des Paulus begleiten. Zudem gehen ohne Zutun des Paulus heilende Kräfte von seinen Schweißtüchern aus. Nähert man sich vom Paulusbild der Apostelgeschichte her den Briefen des Apostels, mutet es überraschend an, dass dort Wunder für seine Missionstätigkeit eine auffallend geringe Rolle spielen. Die ›Tübinger Tendenzkritik‹ des 19. Jh. mit 118

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Hinführung

Ferdinand Christian Baur als wichtigstem Vertreter sah in der Apostelgeschichte ein spätes Dokument des Ausgleichs zwischen petrinischem und paulinischem Christentum. Vor diesem Hintergrund galten die Pauluswunder der Apostelgeschichte als von Lukas geschaffene Parallelbildungen zu den Petruswundern, »es kann an Petrus nichts Außerordentliches geschehen seyn, was sich nicht auch an Paulus wiederholt« (Baur 1866, 189). Andere Bibelforscher des 19. Jh., allen voran Bruno Bauer, richteten den Fokus auf die Parallelität der Apostelwunder zu den Jesuswundern und vertraten die Auffassung, dass sowohl Petrus als auch Paulus von Lukas unter dem Eindruck der Evangelientradition zu Wundertätern gemacht wurden. So wurde etwa auf die Übereinstimmungen zwischen den Gelähmtenheilungen wie Totenerweckungen in den Evangelien und in der Apostelgeschichte aufmerksam gemacht und daraus der Schluss gezogen, dass die entsprechenden Jesusüberlieferungen von Lukas sowohl auf Petrus als auch auf Paulus übertragen worden seien (Bauer 1850, 7-25). Die Betrachtung der Wunderzählungen der Apostelgeschichte als lukanischer Bildungen greift allerdings in mehrerlei Hinsicht zu kurz. Sie verkennt, dass die unbestreitbare Parallelisierung zwischen Petrus und Paulus auch durch die Auswahl ähnlichen Traditionsmaterials über das Wirken beider Gestalten zustande gekommen sein kann. Lukas hat seine Darstellung von den Anfängen der Kirche nicht frei erfunden, sondern größtenteils aus überlieferten Stoffen gestaltet. Dies gilt auch für die in seinem Geschichtswerk verarbeiteten Wunderüberlieferungen. Petrus ist ebenso wenig wie Paulus erst durch Lukas zum Wundertäter geworden. Er verkörpert wie kein anderer die Kontinuität zwischen vorösterlicher und nachösterlicher Wunderpraxis in der Nachfolge Jesu. Als bedeutsamste Gestalt des Zwölferkreises gehörte er zu jenem Personenkreis, der von Jesus selber zu Krankenheilungen wie Dämonenaustreibungen instruiert und ausgesandt worden war (Mt 10,8). Gleichzeitig wissen wir, dass Petrus sich auch nach Ostern als christlicher Missionar an den Aussendungsanordnungen Jesu orientierte (1  Kor 9,5). Damit ist für die Petruswunder der Apostelgeschichte ein klarer historischer Haftpunkt gegeben, auch wenn sie die Tendenz verfolgen, Petrus als legitimen Sachwalter der Wundermacht Jesu zu zeichnen. Es kann kein Zufall sein, dass sich an der Person des Petrus zahlreiche Wunderüberlieferungen kristallisieren, während dies bei einer von der historischen Bedeutung her vergleichbaren Gestalt wie dem Herrenbruder Jakobus überhaupt nicht der Fall ist. Auch im Blick auf Paulus haben neuere Untersuchungen den hohen Stellenwert von Wundern für sein Selbstverständnis als Apostel gezeigt.

Die Pauluswunder der Apostelgeschichte im Licht der Paulusbriefe Während bei Lukas die Nachrichten über Paulus als Wundertäter kräftig sprudeln, kommt der Apostel in seinen Briefen nur vereinzelt auf Wunder und das eigene Wunderwirken zu sprechen. Die bedeutsamsten Aussagen zum Thema (vgl. Schrei119

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

ber 1996, 161-284; Kollmann 2000a, 78-87; Alkier 2001, 91-283) finden sich im Schlussteil der Narrenrede (2 Kor 12,11-13). In Korinth sind judenchristliche »Überapostel« aufgetreten, die sich ihrer Machttaten rühmen, Paulus ein schwächliches Auftreten vorwerfen und ihm den Aposteltitel absprechen. Paulus betont, den Gegnern in nichts nachzustehen, da während seiner Anwesenheit in Korinth die »Zeichen des Apostels« in Form von Zeichen, Wundern und Machttaten der Gemeinde keineswegs vorenthalten worden seien. Dabei ist primär an Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen zu denken. Dass die Apostelgeschichte des Lukas keine Pauluswunder aus Korinth überliefert, legt allerdings einen eher unspektakulären Charakter des paulinischen Wunderwirkens nahe. Indem Paulus in Anlehnung an traditionellen Sprachgebrauch von seinen Machttaten als »Zeichen und Wundern« spricht, hebt er hervor, dass kein geringerer als Gott selber mit seinem endzeitlichen Handeln am Werk ist. Dies kommt auch in dem Passivum Divinum »wurden bewirkt« (κατειργάσθη kateirgasthē) zum Ausdruck, das die eigene Person in den Hintergrund treten lässt. Ergänzend ist davon die Rede, dass die Apostelzeichen »in aller Geduld« (ἐν πάσῃ ὑπομονῇ en pasē hypomonē) geschahen. Damit spielt Paulus auf das allen Widrigkeiten zum Trotz erfolgende Standhalten bis zur Heilsvollendung, nicht zuletzt das geduldige Ausharren im Leid, an und gibt zu erkennen, dass seine Machttaten in Korinth von allerlei Bedrängnissen begleitet waren. Vor dem Hintergrund des Leidenskatalogs 2  Kor 11,23-29 und der Krankheitsschilderung 12,7-10 ist an die mit dem Aposteldienst verbundenen Widerfahrnisse des Paulus im Allgemeinen, an seine krankheitsbedingten schweren Schmerzen im Besonderen zu denken. Der Vollzug der Apostelzeichen »in aller Geduld« zeigt ebenso wie der gesamte Kontext von 2 Kor 12,11-13, dass für die Wunder des Paulus die Kreuzestheologie den Bezugsrahmen darstellt. In seiner Schwäche bleibt er als Wundertäter auf die Schöpfermacht Gottes als in ihm wirkender Kraft angewiesen. Auf einer Linie mit dem Wunderverständnis der Korintherkorrespondenz liegen die paulinischen Äußerungen im Römerbrief. Dort sieht sich Paulus zur Darlegung seines Apostolats veranlasst, um die Gemeinde von Rom zur Unterstützung für die geplante Spanienmission zu gewinnen (Röm 15,14-21). Vor diesem Hintergrund gewinnen Wunder für die Selbstdarstellung als Apostel der Völker programmatische Bedeutung. Die Heiden wurden nicht nur durch das Wort, sondern auch »durch die Tat, in der Kraft von Zeichen und Wundern, in der Kraft des Geistes« (Röm 15,18f.) zum Glaubensgehorsam geführt. Wie in 2 Kor 12,12 bedient sich Paulus der traditionellen Wendung »Zeichen und Wunder«, um die Erfahrung der heilvollen Gegenwart Gottes in seinen Machttaten zum Ausdruck zu bringen und daraus seine apostolische Autorität abzuleiten. Urheber des Wundergeschehens ist der in Paulus wirksame Christus, gleichzeitig wird es als Kraftäußerung des Geistes verstanden. Die Zeichen und Wunder werden als fester Bestandteil des paulinischen Apostolats kenntlich gemacht, ohne im Vordergrund zu stehen. Wie aus der Abfolge »in Wort und Tat« hervorgeht, sind die Wunder der Verkündigung untergeordnet. Sie stellen Begleiterscheinungen der Missionspredigt dar, bekräftigen das Wort und tragen zu seiner Glaubwürdigkeit bei, ohne unabhängig davon eigenständige Bedeutung zu 120

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erlangen. Zudem liegt der Akzent auf der Wirksamkeit Christi und des Geistes, als deren Werkzeug sich Paulus mit seinen Wundertaten betrachtet. Insgesamt zeigt sich, dass Paulus Wunder zu den selbstverständlichen Begleiterscheinungen seines Apostelwirkens rechnet, er ihnen aber keine hervorgehobene Bedeutung beimisst und sich nicht ohne Not auf sie beruft. Wenn Paulus an anderer Stelle (1 Kor 12; Gal 3,5) Heilungen wie Machttaten in der Kirche als geistgewirkte Gnadengaben Gottes betrachtet, sie mit den weiteren Charismen auf eine Stufe stellt und gleichzeitig das Gemeindewohl als übergeordnetes Ziel im Auge hat, steckt er einen theologischen Rahmen ab, der auch für seine eigene Wundertätigkeit verbindlich ist. Dieses unverwechselbare Profil des Paulus als Wundertäter ist untrennbar mit den Charakteristika seines Apostolats und seiner Christologie verbunden. Bei den Gegnern des Paulus in Korinth dominiert ein Traditionsprinzip, das durch einen engen Bezug auf die Aussendungsanordnungen Jesu gekennzeichnet ist (Lüdemann 1983, 136f.). Paulus dagegen sieht seinen Apostolat durch die Berufung vor Damaskus konstituiert, hebt die Unabhängigkeit von irdischen Autoritäten hervor (Gal 1,1; Röm 1,1-5) und kann sich wegen der im Zentrum stehenden Verkündigung des Evangeliums an die Heiden (Gal 1,15f.; Röm 15,16) über traditionelle Elemente des Apostelbildes hinwegsetzen. Zwar tut er dies im Hinblick auf Wundertaten nicht derart weitgehend, wie es bei seinem Umgang mit dem apostolischen Unterhaltsrecht der Fall ist (1 Kor 9,1-18), und erkennt sie als unverzichtbare Apostelzeichen an. Doch dürfte insgesamt kein Zweifel daran bestehen, dass Wunder im missionarischen Wirken des Paulus deshalb eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielen, weil er seine Vollmacht als Apostel nicht aus der Aussendungstradition ableitete und sich in der Art seines Auftretens nur bedingt an ihr orientierte. Wie bei den anderen Aposteln ist auch seine Verkündigung von Zeichen und Wundern begleitet (Mk. 16,17; 1. Thess. 1,5; 1. Kor. 2,4; 2. Kor. 12,12; Röm. 15,19). Aber von diesen Vorgängen spricht Paulus nur beiläufig, weil seine Legitimation von ihnen nicht abhängig gemacht wird. Seine Person tritt ganz zurück hinter der unvergleichlichen Botschaft, die er zu Gehör zu bringen hat (Lohse 1996, 66).

Während die Gegner in Korinth durchaus dem Normalbild des urchristlichen Wandermissionars entsprechen, stellt der paulinische Apostolat, bei dem die Apostelwürde durch eine Christophanie mit Beauftragung zur Heidenmission konstituiert wird, eine absolute Ausnahmeerscheinung dar. In der Regel beanspruchten Apostel unter Berufung auf die Aussendungstradition Unterhalt und maßen neben der Verkündigung auch Dämonenaustreibungen, Krankenheilungen und anderen Machttaten einen unverzichtbaren, wenn nicht gar den entscheidenden Stellenwert bei. Über die unterschiedliche Gewichtung von Wundertaten für den Apostolat hinaus markierten auch christologische Aspekte eine unüberbrückbare Differenz zwischen Paulus und seinen Gegnern. Für die Gegner dürfte der Auffassung, ein Apostel müsse sich in erster Linie durch Wundertaten auszeichnen, eine Herrlichkeitschristologie korrespondiert haben. Nicht wie bei Paulus das Passionskerygma war für sie Ausgangspunkt der Christologie, sondern Jesu machtvolles Wirken als Wundertäter 121

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in Vergangenheit und Gegenwart. Das Jesusbild der Gegner dürfte entscheidend von den Wundergeschichten der Evangelientradition geprägt gewesen sein und gleichzeitig ihr Selbstverständnis bestimmt haben, indem sie sich mit ihren Machttaten als Mittler der Wunderkraft Jesu betrachteten (Georgi 1964, 213-218.289). Einen in dieser Weise einseitig verherrlichten Jesus musste Paulus für einen »anderen Jesus« (2 Kor 11,4) halten als jenen, den er selbst im Rahmen der Theologia Crucis predigte. Dennoch stellen Wunder für Paulus einen festen Teil seines Evangeliums dar, sind unlösbar mit der Verkündigung verbunden und kommen in den Briefen nur deshalb selten zur Sprache, weil sie nicht regelmäßig Gegenstand innergemeindlicher Auseinandersetzungen waren (Jervell 1979, 54-75). Vergleicht man die lukanische Darstellung des Wundertäters Paulus mit dem paulinischen Selbstzeugnis, so ergibt sich in entscheidenden Punkten ein einheitliches Bild. Wunder haben die Verkündigung des Paulus begleitet, übereinstimmend werden sie in der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen als »Machttaten« (δυνάμεις dynameis 2 Kor 12,12; Apg 19,11) oder »Zeichen und Wunder« (2 Kor 12,12; Röm 15,19; Apg 14,3; 15,12) bezeichnet. Das darin implizierte endzeitliche Heilshandeln Gottes wird sowohl von Paulus (2 Kor 12,12) als auch von Lukas (Apg 15,12; 19,11) betont hervorgehoben. Die Überzeugung des Paulus, dass in seinen Wundertaten der erhöhte Christus wirksam ist (Röm 15,18), spiegelt sich ebenfalls klar in der Apostelgeschichte wider (Apg 14,3; 16,18). Lukas zeichnet insgesamt ein deutlich realitätsgetreueres Bild des Wundertäters Paulus, als ihm oftmals unterstellt wird. Daneben sind Unterschiede nicht zu übersehen. Die Bedeutung der Wunder als Apostelzeichen kommt bei Lukas nicht zur Sprache, da er Paulus mit Ausnahme von Apg 14,4.14 den Aposteltitel konsequent vorenthält. Der vollmächtige Wundertäter Paulus begegnet zwar auch in der Apostelgeschichte als Leidensgestalt (Apg 14,19; 16,22), doch die Paradoxie von der Kraft in der Schwachheit und deren christologische Voraussetzungen werden in ihrer eigentlichen Tiefe nicht erfasst (vgl. Jervell 1979, 75). Während Paulus die Wunder dem Wort gezielt nachordnet (Röm 15,18), ist dies in der Apostelgeschichte in solcher Eindeutigkeit nicht der Fall. Einerseits begegnen Zeichen und Wunder als sekundäre Begleiterscheinungen der Verkündigung (Apg 14,3), andererseits führt in Philippi das Befreiungswunder und nicht die Predigt zur Bekehrung des Gefängniswärters (Apg 16,23-40) und auf Malta zieht Paulus die Inselbewohner allein durch Wunder in seinen Bann (Apg 28,1-10). Zudem dürfte Lukas Umfang wie Bedeutung der paulinischen Wunderwirksamkeit insgesamt zu hoch bewerten und neigt zu ihrer Verherrlichung. Lukas vermehrt durch Summarien die Zahl der Wunder und porträtiert Paulus auf all seinen Reisen als höchst bedeutsamen Thaumaturgen, während dieser selber nur am Rande auf seine Wunder zu sprechen kommt und keinen Anlass sieht, sich ihrer zu rühmen. Die im besonderen Profil des Apostolates und der Christologie liegenden tieferen Ursachen dafür werden aus der Apostelgeschichte nicht ersichtlich. Paulus hat zweifellos Wunder vollbracht. Seine Briefe zeugen aber im Unterschied zur Apostelgeschichte davon, dass er ihnen einen ungleich geringeren Stellenwert beigemessen hat, als dies bei anderen Aposteln der Fall war. Der uneingeschränkt im 122

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Zentrum stehende Verkündigungsauftrag drängt die Wunder an die Peripherie und lässt sie zu theologischen Randphänomenen werden. Wenn Menschen durch die Predigt vom gekreuzigten und auferstandenen Herrn zum Glauben kommen, stellt dies alle anderen Wunder in den Schatten.

Die Wundersummarien der Apostelgeschichte Neben ausführlicher erzählte Wunder treten in der Apostelgeschichte Sammelberichte oder summarische Notizen, die der Ausweitung und Verallgemeinerung einzelner Ereignisse aus dem Leben der Gemeinde und der Missionspraxis der Apostel dienen. Dort ist refrainartig von Zeichen und Wundern oder Machttaten die Rede, die Gott durch die Hände der Verkündiger des Christusglaubens bewirkte. In vielen Fällen lässt sich nicht zweifelsfrei bestimmen, ob die betreffenden Befunde ohne Traditionsgrundlage aus der Feder des Lukas stammen oder die redaktionelle Ausformung vorgegebenen Materials vorliegt. Bei der Schilderung des Lebens der Urgemeinde (Apg 1-5) begegnen in zwei Sammelberichten und einem Gemeindegebet verallgemeinernde Notizen über die Wunder der Apostel. In seinem ersten großen Sammelbericht über das Leben der Urgemeinde (Apg 2,42-47) verwendet Lukas im Hinblick auf die Beschreibung des gottesdienstlichen Lebens und der Mahlfeiern älteres Material. Die Erwähnung von Wundern und Zeichen durch die Hände der Apostel (2,43) ist dagegen der lukanischen Redaktion verdächtig, zumal sie der Parallelisierung der Apostel mit Jesus (vgl. 2,22) und der Vorbereitung der Gelähmtenheilung in 3,1-10 dient (Pesch 2005, 130f.). In Apg 4,30 begegnet innerhalb des Gebets 4,24-30 auch die Bitte, dass Gott seine Hand ausstrecke zu Heilung und dass er Zeichen und Wunder geschehen lasse durch den Namen seines heiligen Knechtes Jesus. Es gibt Indizien dafür, dass Lukas ein christologisch-messianisches Gemeindegebet (4,24b-28) aufgegriffen und ihm durch die redaktionell formulierte Schlussbitte eine Wendung in das Ekklesiologische gegeben hat (Schneider 1980, 354f.; Roloff 2010, 85). Die Wunderthematik ginge dann auf sein Konto. Der Sammelbericht Apg 5,12-16 stellt mit seiner Schilderung der Apostelwunder alle anderen summarischen Notizen in den Schatten. Nachdem Lukas in Apg 5,12 mit dem für ihn typischen Sprachgebrauch (vgl. Apg 2,43; 4,30; 14,3) nochmals summarisch die Wunder durch die Hände der Apostel festgehalten hat, verarbeitet er offenkundig eine Petrustradition, die in legendenhafter Form dem Schatten des Petrus Heilkraft zuschreibt (Apg 5,15f.). Die Antike kennt die magische Vorstellung, dass der Schatten von Menschen oder Tieren mit der heilenden oder schädigenden Kraft des Schattenspenders geladen ist (van der Horst 1976-1977, 204-212; Pesch 2005, 207). In der Schilderung, wie Petrus durch seine Wunderkraft großen Zulauf erhält und auch aus der Umgebung Jerusalems die Kranken herbeigebracht werden, klingen Formulierungen des Summariums Mk 6,53-56 an, das Lukas nicht in sein Evangelium übernommen und offenkundig für die Verarbeitung in der Apostelgeschichte aufgespart hat. Im Blick auf Stephanus und Philippus aus dem Kreis der Hellenisten ist unklar, 123

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ob sie erst von Lukas zu Wundertätern gemacht wurden oder die knappen Notizen über ihr Wunderwirken Streiflichter sind, bei denen die lukanische Kenntnis einer größeren Zahl an Wunderüberlieferungen im Hintergrund steht. In Apg 6,8 berichtet Lukas summarisch von großen Wundern und Zeichen des Stephanus unter dem Volk, vermag dies aber in keiner Weise zu konkretisieren. Es dürfte sich um einen redaktionell gebildeten Überleitungsvers ohne Kenntnis von Stephanuswundern handeln (Weiser 1989, 171). Der Sammelbericht über die Wunderwirksamkeit des Philippus in Apg 8,6-8, der in 8,13 nochmals nachhallt, berichtet dagegen konkret von Dämonenaustreibungen und Gelähmtenheilungen der nach Stephanus zweitwichtigsten Figur aus dem Kreis der Hellenisten. Dass er sprachlich von Lukas geformt ist, berechtigt nicht von vornherein zu dem Urteil, dass der Verfasser der Apostelgeschichte über Einzelheiten der Mission des Philippus in Samaria nichts gewusst habe (gegen Weiser 1989, 199). Vielmehr könnte sich in diesem Summarium ältere Tradition niedergeschlagen haben (Pesch 2005, 271), zumal Philippus auch mit seiner Entrückung (Apg 8,39f.) und seiner Nähe zur urchristlichen Prophetie (Apg 21,8-11) als charismatischer Pneumatiker begegnet. Mit dem Verweis auf die Zeichen und Wunder, die durch die Hände von Paulus und Barnabas geschahen (Apg 14,3), greift Lukas fast wörtlich seine Formulierung aus Apg 5,12 auf. Ohne konkrete Kenntnis von Wundertaten in Ikonion will er zum Ausdruck bringen, dass die Missionare der antiochenischen Gemeinde den Jerusalemer Aposteln in nichts nachstehen. Mit ähnlichen Worten ist im Kontext des Apostelkonvents nochmals redaktionell von den Zeichen und Wundern die Rede, die Paulus und Barnabas bewirkten (Apg 15,12). In Apg 19,11f. untermauert Lukas seine Bemerkung über die von Gott durch die Hände des Paulus gewirkten Taten mit Informationen über Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen, die durch Schweißtücher des Paulus bewirkt wurden. Die Vorstellung, dass die Berührung des Gewandes bedeutsamer Personen Teilhabe an deren Kraft oder Glück sichert, ist auch im Zusammenhang mit Alexander dem Großen (Arr. An. 6,13) und Sulla (Plut. Sull. 35,3f.) belegt. Wenn Paulus als großartiger Thaumaturg begegnet, dessen Heilkraft sogar auf Kleidungsstücke abstrahlt und ohne sein Zutun wirksam gemacht werden kann (Apg 19,12), steht dies in Spannung zur Absicht des Lukas, den Wundertäter Paulus als dienendes Werkzeug Gottes darzustellen (Apg 19,11). Dem Summarium liegt folglich eine von Lokalkolorit geprägte Tradition über die heilende Wirkung von Tüchern zugrunde, die mit der Haut des Paulus in Berührung gekommen waren. Gern wird darauf verwiesen, welche Welten hier den lukanischen Paulus vom geschichtlichen Paulus trennten (Roloff 2010, 286). Da es sich bei Ephesus um eine Hochburg der antiken Magie handelt und ein beträchtlicher Teil der Gemeinde nicht nur in der vorchristlichen Vergangenheit, sondern offenkundig auch nach der Bekehrung weiterhin in magische Praktiken involviert war (Apg 19,19), entbehrt Apg 19,12 allerdings nicht der historischen Plausibilität und vermittelt ein Bild davon, welche Wundervorstellungen sich um Paulus rankten. Möglicherweise lag Theodor Zahn mit seiner Vermutung gar nicht so falsch, es sei in Ephesus den Angehörigen der Kranken gelungen, sich ohne irgendeine Beteiligung des Paulus von dessen Hauswirtin »das eine oder andere Kopftuch oder 124

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Schnupftuch für ganz vorübergehenden Gebrauch zu verschaffen« (Zahn 1927, 681). In Apg 28,9 hingegen steigert erst Lukas die Heiltätigkeit des Paulus auf Malta, die sich in der vorlukanischen Tradition auf die Heilung des Publius von Fieber beschränkte, ins Unermessliche und lässt ihn zum gefeierten Wundertäter der ganzen Insel werden.

Zur Herkunft der Wundergeschichten Die für den historischen Wert des Geschilderten nicht unbedeutende Frage nach der Herkunft der Wundererzählungen in der Apostelgeschichte lässt sich nicht zweifelsfrei klären. Neben der Rezeption von Einzeltraditionen aus den Gemeinden kommt für Lukas auch die Verarbeitung größerer Überlieferungskomplexe oder zusammenhängender Quellenschriften in Betracht. Der Streit um die Quellen der Apostelgeschichte hat zwar eine Reihe unterschiedlichster Modelle hervorgebracht, aber nicht zu allgemein anerkannten Ergebnissen geführt. Während im Blick auf den ersten Hauptteil der Apostelgeschichte (Apg 1,1-15,35) die Diskussion um Quellenschriften aus Jerusalem, Cäsarea oder Antiochia kreist, steht für den zweiten Hauptteil (Apg 15,36-28,16) die Kontroverse um die Wir-Passagen und deren Rückführbarkeit auf einen Augenzeugen des Geschehens im Mittelpunkt der Betrachtung. Adolf von Harnack rechnete im ersten Hauptteil der Apostelgeschichte mit drei unterschiedlichen Quellenschriften und glaubte sogar, deren Urheber weitestgehend benennen zu können. Neben einer nach Jerusalem bzw. Cäsarea weisenden Quelle A (Apg 3,1-5,16; 8,5-40; 9,29-11,18; 12,1-24), die von den Taten des Petrus wie des Philippus erzähle, und einer aus Jerusalem bzw. Palästina stammenden Quelle B (Apg 2,1-47; 5,17-42), die in historisch minderwertiger Form von der Missionspredigt des Petrus und dem Verhör der Apostel vor dem Hohen Rat berichte, ging er von einer antiochenischen Quelle C (Apg 6,1-8,4; 11,19-30; 12,25-15,35) aus, der Lukas seine Informationen über das Stephanusmartyrium, die Gemeindegründung in Antiochia und die erste Missionsreise verdanke (Harnack 1908, 131-198). Unter der Prämisse, dass Lukas der Arzt aus dem Mitarbeiterstab des Paulus die Apostelgeschichte verfasste und sich auch hinter den Wir-Passagen verbirgt, sah Harnack in Philippus, Johannes Markus und Silas die Gewährsmänner für die Quellen A und C, während sich die Herkunft der Quelle B nicht bestimmen lasse. Das in der Quelle A Berichtete habe Lukas größtenteils bei seinem Besuch im Hause des Philippus (Apg 21,8-14) erfahren, lediglich der Bericht über die Ereignisse unter Agrippa I. (Apg 12,1-24) gehe auf Johannes Markus zurück. Für die von der Verfolgung der Hellenisten und den Aktivitäten der Gemeinde von Antiochia handelnde Quelle C dürfe man es wagen, Silas als Urheber in Anspruch zu nehmen. Grundsätzlich attestiert Harnack den Wundererzählungen der Apostelgeschichte hohe Glaubwürdigkeit. Gemessen an den überwiegend als »alberne Mirakel« zu betrachtenden und kein Körnchen Wahrheit besitzenden Wundern der späteren Apostelakten, erschienen sie kaum als Wunder und man müsse nicht viel Aufhebens um sie machen (Harnack 1908, 130). Harnacks Rekonstruktion der Quellen A und B stieß kaum auf positive Reso125

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nanz, da sie sich weder durch inhaltliche noch durch sprachliche Indizien erhärten lässt und damit auf tönernen Füßen steht. Größere Akzeptanz fand dagegen die von Harnack vermutete Quelle C aus Antiochia (vgl. Schneider 1980, 86f.; Roloff 2010, 192; Pesch 2005, 48-50; Pokorný/Heckel 2007, 485), wobei allerdings deren vermutete Gestalt in der Regel erheblich von der Rekonstruktion Harnacks abweicht. Die völlig unterschiedlichen Vorstellungen vom Umfang der antiochenischen Quelle deuten bereits die Schwierigkeit an, zu methodisch abgesicherten Ergebnissen zu kommen. Zumindest die Darstellung der Ersten Missionsreise mit den Wundern in Paphos und Lystra könnte aber in Grundzügen aus antiochenischer Gemeindetradition stammen. Auch die Diskussion um eine im zweiten Hauptteil der Apostelgeschichte verarbeitete Wir-Quelle hat zu keinen konsensfähigen Ergebnissen geführt. In den Passagen, die im Unterschied zur übrigen Berichterstattung in der ersten Person Plural formuliert sind (Apg 16,10-17; 20,5-15; 21,1-18; 27,1-28,16), finden sich vier der von Lukas überlieferten Pauluswunder, nämlich die Dämonenaustreibung in Philippi, die Totenerweckung in Troas sowie das Schlangenwunder und die Fieberheilung auf Malta. Für die Erklärung der jeweils abrupt einsetzenden und ebenso unvermittelt endenden Wir-Passagen gibt es unterschiedliche Lösungsversuche. Nicht selten rechnet man mit der Verarbeitung einer Wir-Quelle durch Lukas. Dabei gelten die in der ersten Person Plural formulierten Passagen als Schilderungen eines Augenzeugen, wobei am ehesten Timotheus in Betracht zu ziehen wäre (Pesch 2005, 50). In modifizierten Versionen dieses Erklärungsmodells fallen einzelne Wundergeschichten aus der Wir-Quelle heraus. Claus-Jürgen Thornton beschränkt den Umfang der Wir-Quelle auf einzelne Passagen aus Apg 16 und 20f., womit die Wunder auf Malta aus dem Spiel sind. Diese von Lukas verarbeitete Wir-Quelle betrachtet er als Bericht über die Kollektenreise nach Jerusalem, der auf den 2 Kor 8,23 erwähnten unbekannten Apostel an der Seite des Paulus zurückgehe (Thornton 1991, 305313). Von den Wundern gilt nur die Eutychusgeschichte aus Troas (Apg 20,7-12) als Bestandteil dieses Wir-Berichts, während der Verfasser der Quelle den Exorzismus wie auch die weiteren Ereignisse in Philippi nicht miterlebt habe (a.a.O., 278). Stanley E. Porter kommt im Blick auf den Exorzismus und das Befreiungswunder in Philippi zu einem ähnlichen Ergebnis, rechnet aber die beiden Wunder auf Malta zur Wir-Quelle (Porter 1999, 42-62). Im Vokabular und Stil unterscheiden sich die Wir-Passagen allerdings nicht signifikant vom Rest der Apostelgeschichte. Weitverbreitet ist daher die Auffassung, dass sich mit dem ›wir‹ Lukas selbst zu Wort melde, um seine persönliche Anwesenheit bei den geschilderten Ereignissen kenntlich zu machen (Harnack 1906a, 19-60; Jervell 1998, 66f.; Eckey 2011, 12f.). Dabei geht man von Lukas dem Arzt (Kol 4,14) als Verfasser der Apostelgeschichte aus und zieht ergänzend in Erwägung, dass es sich bei den Wir-Passagen um Reisenotizen des Lukas aus der Zeit des gemeinsamen Wirkens mit Paulus handelte, auf die er später bei Abfassung seines Geschichtswerks zurückgreifen konnte. Vor diesem Hintergrund wären der Exorzismus in Philippi, die Totenerweckung in Troas und die beiden Wunder auf Malta Augenzeugenberichte des Lukas. Jacob Jervell allerdings misst nur Apg 20,7-12 besonders hohe 126

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Glaubwürdigkeit bei, während in Apg 16,16-18 die erste Person Plural sekundär sei und in Apg 28,3 der Wechsel vom Wir-Stil zum Er-Stil zeige, dass Lukas die Wundertaten des Paulus auf Malta persönlich nicht miterlebte, sondern lediglich davon erzählt bekam (Jervell 1998, 430.504f.618). Wenn man angesichts der schwer erklärbaren Unkenntnis des Lukas über einzelne Reisewege und die Theologie des Paulus einen Begleiter und Mitarbeiter des Apostels als Verfasser der Apostelgeschichte ausschließt, drängt sich ein drittes Erklärungsmodell für die Wir-Passagen auf. Die Verwendung des ›wir‹ ist dann am ehesten ein fiktives Stilmittel des Lukas, mit dem dieser eine persönliche Augenzeugenschaft vorspiegeln wollte, ohne tatsächlich bei den geschilderten Ereignissen dabei gewesen zu sein (vgl. Vielhauer 1975, 387-393). Damit wären die in den WirPassagen anzutreffenden Wundertraditionen nicht von vornherein glaubwürdiger als die übrigen Wunderberichte der Apostelgeschichte. Jürgen Wehnert vertritt zwar die These, Lukas mache durch das fingierte ›wir‹ die Verarbeitung mündlich überlieferter Mitteilungen durch Silas kenntlich, um die betreffenden Berichte für seine Leserinnen und Leser als besonders verlässliches Zeugnis zu kennzeichnen, klammert dabei die Wundergeschichten aber aus. Sie stünden schon allein aus formgeschichtlichen Gründen im Verdacht, durch sporadische Einfügung von Wir-Elementen sekundär mit den auf Silas zurückgehenden Wir-Passagen verbunden worden zu sein (Wehnert 1989, 182-204). Während sich der Nachweis umfangreicherer Quellenschriften in der Apostelgeschichte somit als schwierig erweist, erfreut sich die von Martin Dibelius begründete Annahme eines von Lukas in Apg 13,4-21,16 verarbeiteten Reisestationenverzeichnisses größerer Akzeptanz (vgl. Schneider 1980, 93-95; Weiser 1989, 37f.; Schnelle 2013, 344). Dieses Itinerar, das die Reisestationen des Paulus aufgeführt und durch kurze Notizen erläutert habe, bilde das Gerippe für das Mittelstück der Apostelgeschichte und sei von Lukas mit Paulusreden und Einzelerzählungen, darunter Wundergeschichten, angereichert worden (Dibelius 1968, 9-28). Schon aus allgemeinen formgeschichtlichen Erwägungen heraus betrachtet Dibelius alle Wundererzählungen der Apostelgeschichte als ursprünglich selbstständige Überlieferungsstücke, die einen wesentlichen Teil der von Lukas benutzten Tradition darstellten. Es handele sich der Erzählform nach um Legenden, Novellen oder Anekdoten, ohne dass damit bereits ein Urteil über den geschichtlichen Wert gesprochen sei. Eine Sonderstellung misst Dibelius lediglich den Pauluswundern auf Malta bei, die er auf Lukas zurückführt. In Apg 27f. habe Lukas die Erinnerung an die stürmische Italienfahrt des Paulus unter Rückgriff auf einen antiken Seefahrtbericht zu der jetzt vorliegenden Komposition ausgebaut. Die auf Malta spielende Erzählung Apg 28,1-10 mit ihrer »weltlich-kühlen Haltung« sei ohne religiöse Pointe, wie sie dem frommen Interesse der Legende entspräche, auf die Verherrlichung des Paulus zugeschnitten (a.a.O., 15). Insgesamt haben die Annahmen von Dibelius viel für sich, ohne dass seiner Betrachtung der Pauluswunder auf Malta als religiös bedeutungslose Produkte lukanischer Schriftstellerkunst zwingende Beweiskraft zukäme. Als Fazit ergibt sich, dass Lukas allenfalls einige der in seinem Geschichts127

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werk verarbeiteten Wundergeschichten als Teil umfangreicherer Quellenschriften zugekommen sind. Vermuten lässt sich dies am ehesten noch für die Pauluswunder in Paphos und Lystra, sofern Lukas tatsächlich aus Antiochia eine Art Chronik der Ersten Missionsreise vorlag. Mehrheitlich handelt es sich bei den Wundererzählungen der Apostelgeschichte um mündliche Lokaltraditionen oder Personallegenden über die großen Gestalten aus der Frühzeit der Kirche, die Lukas gesammelt und in sein Werk eingebaut hat. Dabei kann Lukas durchaus in einzelnen Gemeinden wie Antiochia, Philippi, Troas oder Ephesus gründlich recherchiert haben.

Vermutete Quelle

Umfang

Enthaltene Wundergeschichten

Quelle A = jerusalemisch-cäsareensische Quelle (Harnack)

Apg 3,1-5,16; 8,5-40; 9,2911,18; 12,1-24

Heilung des Gelähmten durch Petrus (3,1-10); Strafwunder an Hananias und Sapphira (5,1-11); Wundertaten der Apostel (5,12-16); Wunder des Philippus (8,6f.39f.); Heilung des Äneas (9,32-35); Erweckung der Tabitha (9,36-43), Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis (12,3-11)

Quelle B = jerusalemische Quelle (Harnack)

Apg 2,1-47; 5,17-42

Zeichen und Wunder der Apostel (2,43); Befreiung der Apostel aus dem Gefängnis (5,17-21)

Quelle C = antiochenische Quelle (Harnack)

Apg 6,1-8,4; 11,19-30; 12,2515,35

Strafwunder in Paphos (13,612); Gelähmtenheilung in Lystra (14,8-13)

Wir-Quelle (de Wette u.a.)

Apg 16,10-18; 20,5-15; 21,118; 27,1-28,16

Dämonenaustreibung in Philippi (16,16-18); Totenerweckung in Troas (20,7-12); Schlangenwunder und Fieberheilung auf Malta (28,1-9)

Itinerar (Dibelius)

Grundgerüst von Apg 13,421,16 (Auflistung der Reisestationen mit kurzen Erläuterungen)

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Tab. 4: Quellenhypothesen zur Apostelgeschichte

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Lukanische Gestaltungstendenzen Wichtige Rückschlüsse auf das lukanische Verständnis der sich in der Zeit der Kirche vollziehenden Wunder erlaubt bereits die Terminologie. Stereotyp ist von σημεῖα καὶ τέρατα (sēmeia kai terata, 4,30; 5,12; 14,3; 15,12) oder in umgekehrter Reihenfolge von τέρατα καὶ σημεῖα (terata kai sēmeia, 2,43; 6,8) die Rede. Diese in unseren Bibelübersetzungen meist mit »Zeichen und Wunder« bzw. »Wunder und Zeichen« übersetzte Begrifflichkeit sucht im Rahmen gläubiger Geschichtsbetrachtung betont den göttlichen Ursprung und den eschatologischen Charakter der Wunder hervorzuheben. Sie war bereits bei der Übersetzung der Hebräischen Bibel in das Griechische zu einem formelhaften Ausdruck für die Exoduswunder (Ex 7,3; 11,9), aber auch für die göttlichen Beglaubigungszeichen der Propheten (Jes 20,3) geworden (vgl. Stolz 1972, 139-142). In der hellenistischen Literatur steht das Begriffpaar sēmeia kai terata für wundersame Prodigien und Vorzeichen (vgl. Weiß 1995, 18-22). Wenn die Wunder des Philippus und des Paulus auch als δυνάμεις (dynameis – Machttaten) bezeichnet werden (8,13; 19,11), greift Lukas einen Begriff aus der mit Jesus verbundenen Wundertradition (Mk 6,2; Mt 11,20f.) auf, bei dem das Moment des personalen Machterweises und der darin sichtbaren Kraft Gottes in den Vordergrund rückt. Allgemein wird Lukas nicht müde zu betonen, dass kein anderer als Gott hinter den Wundern steht und diese durch die Hände der Verkündiger bewirkt (4,30; 15,12; 19,11). Die Apostel verfügen nicht aus eigenen Stücken über Wunderkräfte und sind keine selbstherrlichen Magier, sondern dienende Werkzeuge der souveränen Macht Gottes. Zudem ist das lukanische Doppelwerk von einer weitreichenden Parallelität und Kontinuität zwischen dem Wunderwirken Jesu und den Taten seiner Nachfolger geprägt. Fast alle von den Aposteln berichteten Wunder haben Vorbilder im Wirken Jesu, wobei Lukas die betreffenden Wunderzählungen der Apostelgeschichte zuweilen auch an ihre Pendants aus dem Evangelium angleicht. So sind bei den Gelähmtenheilungen durch Petrus und Paulus oder der Fieberheilung auf Malta sprachliche Anklänge an die Vorbilder aus der Jesusüberlieferung (Lk 4,38f.; 5,17-26) wahrnehmbar (vgl. Schneider 1980, 307f.; Kirchschläger 1979, 509-521). Sowohl im Blick auf Jesus (Apg 2,22) als auch im Blick auf die Apostel ist von Zeichen und Wundern als Charakteristika des Auftretens die Rede. Die Art der von Jesus und seinen Anhängern erzählten Wunder gleicht sich. Dämonenaustreibungen, Krankenheilungen und Totenerweckungen stehen hier wie dort im Vordergrund. Dem Schatten des Petrus und den Schweißtüchern des Paulus wird eine magische Wunderkraft zugeschrieben, die sich ohne aktives Mitwirken des Wundertäters zu Heilzwecken nutzbar machen lässt. Damit stehen Petrus und Paulus in der Nachfolge Jesu, an dessen Wunderkraft die Menschen durch bloße Berührung seines Gewandes oder Körpers teilhaben (Lk 6,19; 8,44). Am Ende der Apostelgeschichte schließt sich der Kreis von der Zeit der Kirche zu den wunderbaren Anfängen bei Jesus. Das Schlangenwunder des Paulus auf Malta stellt die Erfüllung der Verheißung Jesu aus Lk 10,19 dar. Indem die Heilung des Publius (Apg 28,7f.) als letzte Wundererzählung der Apostelgeschichte thematisch den Bogen zur Heilung der Schwiegermutter des Petrus schlägt 129

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

(Lk 4,38f.), wird das lukanische Doppelwerk kunstvoll vom Motiv der Fieberheilung umschlossen. Insgesamt liegt Lukas viel daran, die Nachfolger Jesu als legitime Sachwalter seiner Wunderkraft zu porträtieren (vgl. Apg 14,3). Die Verkündigung ist in der Jesuszeit wie auch in der Zeit der Kirche von Wundern begleitet. So wie Jesus von Gott durch Wunder legitimiert wurde, gilt dies auch für die Protagonisten der frühen Kirchengeschichte. Grundsätzlich ereignet sich »in den vielerlei übernatürlichen Manifestationen und Zwischenfällen, von denen die Apostelgeschichte erzählt, im Grunde genommen nichts anderes […] als eine Fortsetzung der Geschichte Jesu Christi unter veränderten Voraussetzungen, die durch seine Auferstehung und Erhöhung zur Rechten Gottes geschaffen sind« (Avemarie 2009, 543). Als Träger der Kraft Gottes und Zeugen Christi erweisen die christlichen Wundertäter nicht nur ihre Überlegenheit gegenüber jüdischen wie heidnischen Magiern, sondern lassen auch die griechisch-römische Welt zum Raum für das Wirken des Gottes Israels werden. Darüber hinaus geht es Lukas um eine Parallelisierung von Petrus und Paulus. Dabei zeigte sich bereits, dass dieser Angleichungsprozess nicht durch die redaktionelle Bildung von Wundergeschichten, sondern durch die Auswahl, Anordnung und Bearbeitung des überlieferten Materials erfolgt. In Analogie dazu, dass Petrus und Paulus in der Apostelgeschichte mit der gleichen Anzahl von ihnen gehaltener Reden bedacht werden, nimmt Lukas von beiden Personen auch ungefähr gleich viele und zudem überwiegend gleichartige Wunder in sein Werk auf. Der Verfasser der Apostelgeschichte trifft aus den Traditionen eine gezielte Auswahl, um seine beiden Hauptakteure einander in nichts nachstehen zu lassen. Lediglich der Exorzismus des Paulus in Philippi und das Schlangenwunder auf Malta bleiben bei Petrus, von dem andererseits gleich zwei Befreiungswunder erzählt werden, ohne Parallele. Durch diese penibel aufgebaute Parallelität erreicht der Pauliner Lukas, der Paulus selbstredend als großen Protagonisten verehrt, dass Petrus, auch wenn seine heilsgeschichtliche Rolle früh endet, in seinem Wirken Paulus gleichgestellt wird (Becker 2011, 121).

Eine zentrale Rolle spielt für Lukas schließlich die Auseinandersetzung mit Wunderpraktiken aus der Umwelt der Kirche. Wo er das Wirken nichtchristlicher Thaumaturgen in den Blick nimmt, schreibt er es der Magie zu. Aus den Konflikten mit Magiern wie Simon, Barjesus Elymas und den Skevassöhnen geht das Christentum als klarer Sieger hervor (vgl. Klauck 1996, 24-34.60-63.112-116). In Ephesus kommt es nach dem Scheitern der jüdischen Exorzisten sogar im großen Stil zur Vernichtung magischer Bücher. Die Austreibung des Wahrsagegeistes aus der Magd in Philippi dokumentiert die Überlegenheit des Christentums in der Auseinandersetzung mit dem griechischen Orakelwesen (Heininger 2005, 278-281), das durch Praktiken aus dem Bereich der Mantik und Magie geprägt ist. Inwieweit etwas als Magie oder als Religion eingestuft wird oder wo die Grenze zwischen abgelehntem magischem und anerkanntem charismatischem Wunder gezogen wird, ist in hohem Maße eine Frage des subjektiven Standpunkts. Bevorzugt Phänomene, die nicht mit dem ei130

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Hinführung

genen Religionsverständnis konform sind, werden als Magie disqualifiziert. Lukas reiht sich mit seiner negativen Anwendung des Magie-Begriffs auf Simon und Barjesus Elymas nahtlos in diese Tradition ein. Insbesondere seinen Helden Paulus hält er gezielt auf Distanz zur Magie, um ihn nicht ins Zwielicht geraten zu lassen. Im Kontrast zu den modernen Paulusbiographen hat Lukas »das Wundersame und Wunderliche an Paulus eher integriert – freilich um den Preis der magischen Projektion auf die ›Anderen‹« (a.a.O., 290f.). Indem er die christlichen Protagonisten als in der Macht Gottes wirkende Charismatiker porträtiert und ihre Konkurrenten der Magie bezichtigt, bedient er sich einer Art »cultural script«, das sich in der griechischrömischen Welt zur Unterscheidung von Wundertätern und Magiern herausgebildet hatte und beispielsweise auch von Philostrat in seiner Apollonius-Vita aufgegriffen wird (Reimer 2002, 242-250). Im Wettkampf mit der antiken Magie erweist sich für Lukas die Überlegenheit des Christentums als wahrer Religion. Bernd Kollmann

Literatur zum Weiterlesen F. Avemarie, Acta Jesu Christi. Zum christologischen Sinn der Wundermotive in der Apostelgeschichte, in: J. Frey/C. K. Rothschild/J. Schröter (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, BZNW 162, Berlin/New York 2009, 539-562. B. Heininger, Im Dunstkreis der Magie. Paulus als Wundertäter nach der Apostelgeschichte, in: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tübingen 2005, 271-291. C. S. Keener, Acts. An Exegetical Commentary, 4 Bde., Grand Rapids 2012-2016. B. J. Lietaert Peerbolte, Paul the Miracle Worker. Development and Background of Pauline Miracle Stories, in: M. Labahn/B. J. Lietaert Peerbolte, Wonders Never Cease. The Purpose of Narrating Miracle Stories in the New Testament and Its Religious Environment, LNTS 288, London/New York 2006, 180-199. D. Marguerat, Magic and Miracle in the Acts of the Apostles, in: T. E. Klutz (Hg.), Magic in the Biblical World. From the Rod of Aaron to the Ring of Solomon, JSNT.S 245, London 2003a, 100-124. F. Neirynck, The Miracle Stories in the Acts of the Apostles, in: J. Kremer (Hg.), Les Actes des Apôtres, BEThL 48, Leuven 1979, 169-213. B. Prete/A. Scaglioni, I miracoli degli Apostoli nella Chiesa delle origine, Turin 1989. L. O’Reilly, Word and Sign in the Acts of the Apostles. A Study in Lucan Theology, AnGr 243, Rom 1987. G. Schneider, Apostelgeschichte 1,1-8,40, HThK 5/1, Freiburg i.Br. 1980, 304-331 (Exkurs: Die Wundererzählungen).

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Tabelle: Wunder in der Apostelgeschichte Nr.

Apg-Faden

Titel

Parallelstellen

davon kommentiert im Kompendium

Apg 2,43

Summarium

Hinführung Apg

Apg 3,1-10

Entsetzen an der Schönen Apg 9,32-35; Pforte Apg 14,8-13 (Die Heilung des Gelähmten im Tempel)

Apg 3,1-10; Apg 9,32-35; Apg 14,8-13;

Apg 4,30

Summarium

Hinführung Apg

Apg 5,1-11

Ein plötzlicher Tod als Warnung (Der Betrug des Hananias und der Sapphira)

Apg 5,1-11

Apg 5,12-16

Summarium

Hinführung Apg

3

Apg 5,17-26

Zur Lehre befreit! (Die Befreiung der Apostel aus dem Gefängnis)

Apg 6,8

Summarium

Hinführung Apg

4

Apg 8,6-8. 13.39f.

Konfrontation von Wunder und Magie (Philippus in Samaria – Simon der Zauberer)

Apg 8,6-8.13.39f.

5

Apg 9,1-19 (22,1-21; 26,9-23)

Blind werden, um in Wahrheit zu sehen! (Die Heilung des Paulus)

Apg 9,1-19

6

Apg 9,32-35

Kam, sah, heilte (Petrus in Lydda)

Apg 3,1-10; Apg 14,8-13

Apg 3,1-10; Apg 9,32-35; Apg 14,8-13

7

Apg 9,36-43

Stütze der Gemeinde erwacht zu neuem Leben (Die Auferweckung der Tabita)

Apg 20,7-12

Apg 9,36-43 Apg 20,7-12

8

Apg 12,1-11

(Wie) Hilft Beten? (Die Befreiung des Petrus)

Apg 5,17-26; Apg 16,19-40

Apg 5,17-26; Apg 12,1-11; Apg 16,19-40

9

Apg 13,6-12

Der besiegte Magier (Die Blendung des Barjesus Elymas)

Apg 13,6-12

Apg 14,3

Summarium

Hinführung Apg

Apg 14,8-13

Einfach nur göttlich (Die Heilung des Gelähmten in Lystra)

Apg 15,12

Summarium

1

2

10

Apg 12,1-11; Apg 16,19-40

Apg 3,1-10; Apg 9,32-35

Apg 5,17-26; Apg 12,1-11; Apg 16,19-40

Apg 3,1-10; Apg 9,32-35; Apg 14,8-13 Hinführung Apg

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Tabelle: Wunder in der Apostelgeschichte 11

Apg 16,1622

Geschäftsschädigende Intervention (Die Heilung der wahrsagenden Sklavin)

12

Apg 16,1940

Die Tür zur Rettung steht offen (Paulus und Silas im Gefängnis)

13

Apg 19,11-17 Die unbeholfenen Zauberlehrlinge in Ephesus (Die Söhne des Skevas)

14

Apg 20,7-12

Ein tröstlicher Zwischenfall (Eutychus in Troas)

15

Apg 28,1-6

Schlange, Schuld und Schutz (Das Schlangenwunder auf Malta)

Apg 28,1-6

16

Apg 28,7-10

Der jüdische Häftling und der edle Römer (Die Heilungen im Hause des Publius auf Malta)

Apg 28,7-10

Apg 16,16-22

Apg 5,17-26; Apg 12,1-11

Apg 5,17-26; Apg 12,1-11; Apg 16,19-40 Apg 19,11-17

Apg 9,36-43

Apg 9,36-43; Apg 20,7-12

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Entsetzen an der Schönen Pforte (Die Heilung des Gelähmten im Tempel) Apg 3,1-10 (3,1) Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, der Gebetszeit. (2) Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der von Mutterleib an lahm war. Den setzte man täglich an das Tor des Tempels, das »das Schöne« heißt, um Almosen zu betteln von denen, die in den Tempel gingen. (3) Als er Petrus und Johannes sah, die in den Tempel gehen wollten, bat er um Almosen. (4) Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sagte: »Sieh uns an!« (5) Er aber sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. (6) Da sprach Petrus: »Silber und Gold besitze ich nicht. Was ich aber habe, das gebe ich dir. Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, (stehe auf und) geh umher.« (7) Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sofort aber wurden seine Füße und Knöchel kräftig; (8) und er sprang auf, stand und ging umher und ging mit ihnen hinein in den Tempel, lief umher und lobte Gott. (9) Und alle Leute sahen ihn umherlaufen und Gott loben. (10) Sie erkannten ihn aber, dass er es war, der zum Zweck von Almosen an dem schönen Tor des Tempels gesessen hatte, und sie waren voll von Verwunderung und Entsetzen über das, was mit ihm geschehen war.

Sprachlich-narratologische Analyse Höchst alltäglich setzt die Erzählung ein. Die Apostel Petrus und Johannes gehen gewohnheitsmäßig zur neunten Stunde, also zu dem Abendtamid etwa um 15 Uhr, hinauf zum Tempel in Jerusalem. Bereits vorher wurden Bettler an den Aufgang zum Tempelbereich in der Erwartung von Almosen gebracht, denn es strömen jetzt neben vielen Touristen einige Hundert fromme Menschen in den Tempel zum Gebet. Ein knapper Dialog zwischen dem Apostel Petrus und einem Gelähmten, dessen Name unbekannt bleibt, der täglich zu dieser Zeit an dieser Stelle sitzt, findet statt, sodann eine Heilung mit wirksamem Wort und einer Berührung. In der Folge dieser Wunderheilung begegnet ein springender und Gott lobender Geheilter im Tempel, während Verwunderung und Entsetzen sich bei dem umstehenden Volk breitmacht. Das Wunder schenkt dem Gelähmten die Bewegung. Er springt (V. 8), steht (V. 8), geht umher (V. 8), geht hinein (V. 8), läuft umher (V. 8), sein Laufen wird gesehen (V. 9). In Apg 3,11-26 schließt sich sodann eine Rede des Petrus an das Volk im Tempelbereich, genauer in der Halle Salomos an, die ihren Ausgangspunkt bei dem Wunder nimmt (Apg 3,12). Die beiden Apostel werden angesichts des Massenauflaufs von der Tempelpolizei festgenommen, über Nacht gefangen gehalten und 134

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Entsetzen an der Schönen Pforte Apg 3,1-10

müssen sich wegen ihrer Verkündigung am nächsten Morgen vor den Führern des jüdischen Volkes, den Ältesten, den Schriftgelehrten sowie den namentlich genannten Hohepriestern verantworten (Apg 4,5f.). Hierbei geht dieses Gremium in seiner Beratung und Beschlussfassung dezidiert auf die Wundertat an dem Gelähmten ein, deren Faktizität in der Anwesenheit des Geheilten (Apg 4,14) als »offenkundiges Zeichen, das allen bekannt ist, die in Jerusalem wohnen«, geradezu »amtlich« anerkannt wird (Apg 4,16). Die Einheit schließt in dem Nachtrag mit der Angabe, dass der Gelähmte zum Zeitpunkt des Wunders über vierzig Jahre alt war (Apg 4,22). Dies ist eine mit der Eingangsnotiz korrespondierende Bemerkung, der Mann sei von Geburt an lahm gewesen. Petrus spricht den Gelähmten im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, an. In den Evangelien und in der Apostelgeschichte, und zwar nur in diesen Schriften, wird Jesus als Ναζαρηνός (Nazarēnos – Nazarener; Mk 1,24; 10,47; 14,67; 16,6; Lk 4,34; 24,19) bzw. als Ναζωραῖος (Nazōraios – Nazoräer; Mt 2,23; 26,69 v.l.; 26,71; Lk 18,37; Joh 18,5.7; 19,19; Apg 2,22; 3,6; 4,10; 6,14; 22,8; 24,5; 26,9) angesprochen. Mt und Lk verwenden folglich beide Bezeichnungen und wohl auch synonym. Diese Begriffe beziehen sich auf den Ortsnamen Nazaret. Daher ist deren Verwendung der ebenfalls gebräuchlichen Wendung »Jesus, der aus Nazaret« (Mt 21,11; Apg 10,38; Joh 1,45) gleichzusetzen. »Ναζωραῖος und Ναζαρηνός sind für die ntl. Autoren offensichtlich zwei lediglich morphologisch voneinander abweichende Formen des gleichen Begriffs mit übereinstimmenden Bedeutungsgehalten und kongruenten Bezugsfeldern« (Kuhli 1991, 1119). Die Heilung des Gelähmten wird in einer Form erzählt, die sich an den typischen Elementen einer Wundererzählung orientiert (dazu Theißen 1998, 53-128). Sie ist also weitgehend gattungskonform. In der Einleitung betreten Petrus und Johannes, die Wundertäter, die Szenerie (Apg 3,1). Ein Kranker, von Helfern herbeigetragen, begegnet ihnen und es wird in der Exposition sein Krankheitsbild in Art und Dauer benannt: Er ist von Geburt an lahm (Apg 3,2). Der Gelähmte erbittet von den Aposteln Almosen und es schließen sich ein direkter Blickkontakt und ein Dialog an, der allerdings noch gänzlich bei der Almosenbitte des Kranken bleibt (Apg 3,3-6a). Aus dem Dialog baut sich über die Verneinung einer Gabe und die Zusage einer alternativen Hilfe geradezu ein Missverständnis, auf jeden Fall aber eine Spannung auf, da die Leserschaft nicht wissen kann, woran Petrus denkt: »Silber und Gold besitze ich nicht. Was ich aber habe, das gebe ich dir« (Apg 3,6a). Als Wundertäter ist Petrus bisher nicht aufgetreten, auch wenn das Summarium, das der Wundergeschichte unmittelbar vorausgeht (Apg 2,42-47), bereits von vielen Zeichen und Wundern der Apostel gesprochen hat. Die erst jetzt einsetzende Wunderhandlung enthält ein Wunder wirkendes Wort (Apg 3,6b), eine Heilungsgeste der Berührung (Apg 3,7a) und die unmittelbare Bestätigung des Heilerfolgs (Apg 3,7b-8). In Apg 3,6 ist unsicher, ob der Befehl ἔγειρε καί (egeire kai – steh auf und) zum ursprünglichen Text zählt. Er fehlt in den großen Majuskeln ‫א‬, B, D, wird allerdings in den Majuskeln A, C, E und vielen weiteren Textzeugen geboten. Möglicherweise ist die Aufforderung »steh auf und« in Anlehnung an ähnliche Befehlsworte wie Mk 2,9 par.; Joh 5,8 nachgetragen. Sachlich 135

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

steht der Befehl ἔγειρε καί (egeire kai – steh auf und, 3,6) jetzt in Spannung zu dem ἤγειρεν ἀυτόν (ēgeiren auton – er richtete ihn auf, 3,7). Die Erzählung schließt mit der Demonstration, dass die Wundertat von dem gesamten Volk konstatiert wird (Apg 3,9f.), und in Aufnahme des Eingangs der Geschichte wird erneut festgehalten, dass diese Heilung an dem Gelähmten, der vor der schönen Tür des Tempels um Almosen gebettelt hatte, vollzogen wurde (Apg 3,10). Das Wunder wirkende Wort »Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, (stehe auf und) geh umher« ist eine Variante der vielfach bezeugten Dämonenaustreibungen oder Krankenheilungen »im Namen Jesu« (Mt 7,22; Mk 9,38; 16,17; Lk 10,17; Apg 16,18; Jak 5,14). Das Aussprechen des Namens Jesu vergegenwärtigt die Kraft und Macht des Namensträgers (dazu Kollmann 1996, 350f.; grundsätzlich Ruck-Schröder 1999, 182-191). Mag die Bezeichnung Jesu als Ναζαρηνός (Nazarēnos – Nazarener) bzw. als Ναζωραῖος (Nazōraios – Nazoräer) ursprünglich auch ausschließlich der Identifikation der Person über seinen Herkunftsort gedient haben, so kommt dem Aussprechen eines fremdsprachigen, aramäischen Wortes in dem Wunder wirkenden Wort eine zusätzliche Bedeutung zu. Innerhalb der Formel »Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, (stehe auf und) geh umher« erfüllt »Nazoräer« für griechisch sprechende Christen die Funktion eines fremdsprachigen Zauberwortes (dazu Kollmann 1996, 232f.). In Apg 3,6 ist die Anrufung des Namens Jesu kombiniert worden mit einer Variation eines Krankenheilungswortes »steh auf und geh umher«, das sich formelhaft in den Evangelien und der Apostelgeschichte, vor allem dann häufig in den Apokryphen Apostelakten findet (Mk 2,9; 5,41; Apg 9,34.40; ActJoh 22; 83 u.ö.). Diese Wundergeschichte ist im weiteren Kontext bestens verankert. Bereits die Pfingstpredigt des Petrus hatte in Aufnahme von Joël 3,3LXX Zeichen (σημεῖα sēmeia) auf der Erde angekündigt (Apg 2,19). Von vielen Wundern und Zeichen der Apostel spricht Apg 2,43 im Summarium. Der Bericht von der Heilung des Gelähmten wird aufgenommen sowohl in der Rede des Petrus in der Halle Salomos (Apg 3,11-26; genauer 3,12.16) als auch in seiner Rede vor dem Synhedrion (Apg 4,1-22; genauer 4,7.9.10.14-22). Die Besprechung des Wunders im Synhedrion wertet den Fall natürlich extrem auf und verleiht ihm Öffentlichkeit und eine nachträgliche Bestätigung durch die oberste jüdische Behörde. Selbst in dem Gemeindegebet Apg 4,23-31 und in dem Summarium Apg 5,12-16 werden die Zeichen und Wunder der Apostel nochmals erwähnt. Unbeschadet dieser kontextuellen Verklammerung durch den Evangelisten wird diese Wundergeschichte im Kern älter sein und in die Gemeindeüberlieferung zurückreichen. Darauf deuten wenige Beobachtungen hin: a) Der Apostel Johannes, der Zebedaide, wirkt im Text wie nachgetragen. Johannes begleitet Petrus zwar zum Tempel (Apg 3,1.3), doch allein Petrus wirkt als Wundertäter. In Apg 3,4 wird Johannes in einen Satz eingefügt, der nur von den Taten und der Rede des Petrus handelt, und hierfür wie auch in V. 7 eine Verbform im Singular gebraucht. Auch an anderen Stellen (Lk 22,8; Apg 8,14) hat Lk den Apostel Johannes nachgetragen. b) Der Dialog zwischen Petrus und dem Gelähmten in Apg 3,3-6a rückt einen Gedanken ins Blickfeld, der für die Wundergeschichte absolut entbehrlich, im Blick auf die Apostel je136

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Entsetzen an der Schönen Pforte Apg 3,1-10

doch typisch lukanisch ist: die Besitzlosigkeit der Jünger und Apostel (vgl. Apg 2,45; 4,34; 20,33; bereits Lk 5,11.28; 10,4; 14,33). Zwar kollidiert dieser Gedanke hier mit dem Almosengebot (Lk 11,41; 12,33), vorrangig ist aber wohl die Besitzlosigkeit der Apostel. Dies bedeutet, dass es sich ursprünglich wohl um eine Wundergeschichte handelt, die nur oder zumindest vornehmlich mit Petrus als Wundertäter in Verbindung steht und die wegen der institutionellen (Konflikt mit dem Synhedrion) und lokalen (Schauplatz sind Jerusalem und der Tempel) Verankerung in die Jerusalemer Urgemeinde zurückreichen mag. Vor der eigentlichen Wundertat des Petrus findet ein Dialog zwischen dem Bettler und dem Apostel statt, dessen Zweck darin besteht, die Größe des Wunders hervorzuheben. Die Bitte um Almosen wird zunächst zurückgewiesen mit den Worten: »Silber und Gold besitze ich nicht«. Silber und Gold beziehen sich hier wie auch in Apg 20,33 auf geprägte Silber- und Goldmünzen und bedeuten daher Geld. Gemeint sind hochwertige Münzen, ohnehin also mehr als die üblichen Bronzemünzen, die ein Bettler erhoffen darf. Dass Petrus und Johannes völlig mittellos sind, entspricht durchaus der lukanischen Darstellung der Apostel seit den Berufungs- (Lk 5,11), Nachfolge- (Lk 12,33; 14,33; 18,28) und Aussendungsgeschichten (Lk 9,3; 10,4) im Evangelium. Die Darstellung der Gütergemeinschaft der Urgemeinde führt diesen Aspekt der Besitzlosigkeit der Nachfolgenden fort, wenn in Apg 2,45 und 4,34 betont wird, dass alle, die Besitz, Grundstücke oder Häuser besaßen, diese verkauften, um den Erlös der Gesamtgemeinde zur Verfügung zu stellen. Freilich entsteht dadurch aber auch eine leichte Spannung zur betonten Mittellosigkeit des Petrus in Apg 3,6, da nach Apg 4,45; 5,2 die Besitzenden den Erlös der Verkäufe an die Apostel übergeben. Ein Almosen an den Bettler wäre nach dem Grundsatz »man gab einem jedem, was er nötig hatte« (Apg 4,35; auch 2,45) durchaus möglich gewesen. Der Dialog verfolgt wohl eine doppelte Absicht: Zunächst wird die Handlung verlangsamt, indem sie die Begegnung zwischen Bettler und Apostel von dem Hauptgleis der Krankheit auf das Nebengleis der Besitzlosigkeit des Apostels führt. Daraus aber baut sich eine dramaturgisch geschickt inszenierte Spannung auf. Wenn der Apostel Silber und Gold nicht hat, dann kann das, was er als Alternativgabe anbietet, nicht viel sein, da Geldmittel aus der Perspektive des lahmen Bettlers wohl nicht zu überbieten sind. Erste Erwartungen werden also enttäuscht. Die Heilung stellt jedoch ein Geschenk dar, das in seinem Wert mit Silber und Gold nicht zu vergleichen ist und dennoch beides um ein Vielfaches übersteigt. Die Heilungsgeschichte kann im Anschluss an R. Pesch (2005, 134f.) in ihren vier Hauptteilen wie folgt untergliedert werden:

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Einleitung − Auftritt des Wundertäters und Begleiters (V. 1) − Auftritt des Kranken und Beschreibung seiner Krankheit (V. 2) Exposition − Begegnung Wundertäter und Kranker (V. 3a) − Bitte um Hilfe, aber nicht Bitte um Heilung (V. 3b) − Kontakt Wundertäter – Kranker (V. 4a) − Zuspruch des Wundertäters (V. 4b) − Missverständnis des Kranken (V. 5) Zentrum − Wunderheilung − Argumentation (V. 6a) − Heilwort (V. 6b) − Heilgestus (V. 7a) Schluss − Konstatierung der Heilung (V. 7b) − Demonstration der Heilung (V. 8-9) − Beglaubigung durch Zeugen (V. 10a.b) − Admiration der Zeugen (V. 10c)

Im Zentrum der Heilung stehen Heilwort und Heilgestus. Es ist streng genommen nicht der Apostel, der das Wunder wirkt. Vielmehr spricht er den Gelähmten im Namen Jesu des Nazoräers an und gebietet dem Kranken aufzustehen. Der Apostel ist so etwas wie der Mittler der Macht Jesu, die im Namen gegenwärtig ist. Der Namensbegriff ist das entscheidende Movens der Heilung des Lahmen vor dem Tempel (3,6); er wird als solches in der anschließenden Rede noch einmal hervorgehoben (3,16). Die Frage der Hohenpriester nach dem Namen, in welchem das Wunder getan wurde (4,7), gibt Petrus Gelegenheit, auf den Namen Jesu zu verweisen (4,10) und seine grundsätzliche Exklusivität in Sachen Rettung zu behaupten (4,12). Die Hohenpriester verbieten daraufhin den Gebrauch des Namens Jesu in Verkündigung und Lehre (4,17f; 5,28.40), woran sich die Apostel freilich nicht halten (4,30) (Ruck-Schröder 1999, 182).

Das Anfassen bei der rechten Hand mag ursprünglich eine Übertragung der Kraft des angerufenen Namens Jesu Christi durch den Apostel an den Gelähmten andeuten. Es ist auf jeden Fall mehr als eine Hilfestellung zum Aufrichten. Sofort, unmittelbar stellt sich der Heilungserfolg ein. Auf der rechten Hand liegt hier wohl keine Betonung. Heilgesten beziehen sich an anderen Stellen einfach auf die Hand (Mk 1,31; 5,41/Lk 8,54; Mk 9,27; Apg 9,41). Seitens des Gelähmten werden weder eine Heilungsbitte an den Apostel noch der Glaube erwähnt, der häufig in Wundergeschichten betont wird (Lk 5,20; 7,9.50; 8,48; 17,19; 18,42). Allerdings wird das Glaubensmotiv in der an das Wunder anschließenden Predigt des Petrus in der Halle Salomos in Apg 3,16 sozusagen nachgetragen. Ob damit der Verdacht, der Name 138

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Entsetzen an der Schönen Pforte Apg 3,1-10

Jesu heile auf magische Weise, ausgeschlossen werden soll? Auf jeden Fall werden Heilung im Namen Jesu und Glaube an diesen Namen zueinander in eine Relation gebracht. Wenn die Heilungsgeschichte in Apg 3,1-10 in ihrer traditionellen Substanz keinen Hinweis auf den Glauben des Gelähmten enthielt, dann wird dieser Zusammenhang also erst jetzt von Lukas eindeutig hergestellt. Dabei wird zweierlei betont: a) die Heilung geschah aus einem Zusammenwirken von Name Jesu Christi und Glaube an diesen Namen; b) der Glaube wiederum verdankt sich der Predigt des Namens Jesu Christi durch Petrus.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Die Wundergeschichte enthält einige lokale und sprachliche Eigenheiten, die vorab zu klären sind: Das Wunder wird genau lokalisiert (dazu ausführlich Küchler 2007, 197f.). Die von Lukas hier gebotene Beschreibung des Tempels gilt in der Literatur entweder als Beispiel dafür, dass Lukas keinerlei topographische Kenntnisse Jerusalems und des Tempels besaß oder dass er unser Wissen entscheidend bereichert. Petrus und Johannes gehen aus der Stadt hinauf in den Tempel. Der eigentliche Tempel, das Kultheiligtum, liegt auf einer großen, mit Säulenhallen umgebenen, deutlich höher gelegenen Plattform, die über verschiedene Treppen und Tore erreicht wird. Über diese Treppen und durch diese Tore strömen die Besucher zu den täglichen Gebetszeiten. Die »Tür des Tempels«, an der das Wunder geschieht, wird exakt benannt: Ὡραία (Hōraia), wörtlich zu übersetzen mit »die Schöne« (Apg 3,2). Es muss sich um ein heute nicht mehr genau zu verifizierendes prächtiges Zugangstor zum äußeren Tempelbereich gehandelt haben, allerdings nicht um das gleichfalls prächtige Nikanor-Tor (so u.a. Roloff 2010, 69), das zum inneren Tempelbereich führte. Da nur der äußere Tempelbereich auch Nicht-Juden zugänglich war, wird der Besucherstrom durch das Schöne Tor wesentlich höher gewesen sein als etwa am NikanorTor. Nach Max Küchler bieten sich für das Schöne Tor die Tore an der Westmauer oder eher noch an der Südmauer an, deren »Zweier-Tor und Dreier-Tor unglaublich prachtvoll ausgeschmückt waren« (Küchler 2007, 197; so bereits zuvor Ådna 1999, 80 Anm. 38). Nach der Heilung ereignet sich ein Volksauflauf in dem ebenfalls allen zugänglichen Tempelbereich in der »Halle Salomos« (Apg 3,11), einer Säulenhalle oder Kolonnade, die nach Josephus (Flav. Jos. Ant. 20,221; Flav. Jos. Bell. 5,185) den äußeren östlichen Tempelplatz abschloss und für Versammlungen geeignet war. Almosen ist ein deutsches Lehnwort aus dem griechischen Wort ἐλεημοσύνη (eleēmosynē), wörtlich übersetzt »Mitleid«, »Wohltat«, häufig dann auch die »Armengabe«, gerade in der Kombination mit den Verben »geben« oder »tun« (Mt 6,2f.; Lk 12,33; Apg 9,36; 10,2; 24,17 u.ö.). Almosen haben einen hohen Stellenwert in der zeitgenössischen jüdischen Ethik, sowohl als materielle Unterstützung für die Bedürftigen (Kranke, Witwen, Waisen) als auch als ein vor Gott verdienstvolles Werk für die Geber (Spr 11,4; Tob 4,11; Sir 32,5 u.a.). Da der Jerusalemer Tempel nicht 139

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allein zentrales jüdisches Kultheiligtum war, sondern gleichzeitig auch wegen seiner unvergleichlichen Pracht touristischer Anziehungspunkt und wegen seiner Funktion als eines zentralen Marktes ökonomisches Zentrum, bestand fraglos aufgrund dieser Frequenz vor den Eingangstoren des Tempelbereichs eine begründete Hoffnung auf den Empfang von Almosen. Um die Schwere der Krankheit und den Umfang der Heilung angemessen verstehen zu können, ist der Kontext der eigentlichen Wundergeschichte unbedingt heranzuziehen. Der Gelähmte ist nach Apg 4,22 zum Zeitpunkt der Heilung über 40 Jahre alt, nach antikem Denken ein alter Mensch. Die Angabe dieses Lebensalters verstärkt die Beschreibung der notvollen Situation des Gelähmten und ist an sich ein beliebtes Steigerungsmotiv in Heilungsgeschichten. Da dieser von Mutterleib an gelähmt ist (Apg 3,2), leidet er seit über vierzig Jahren und ist seitdem auf Hilfe, etwa durch Almosen, angewiesen. Als solcher ist er stadtbekannt, denn im Anschluss an das Wunder wird er vom Volk als derjenige erkannt, der »gewöhnlich« vor dem Schönen Tor des Tempels saß (Apg 3,10). Auch die Bewertung des Wunders durch das Synhedrion als offenkundiges Zeichen, das allen bekannt ist, die in Jerusalem wohnen, verstärkt diese breite Zeugenschaft des Wunders. Das Krankheitsbild ist nicht exakt zu bestimmen. Die Wendung »lahm von Mutterleib an«, die in genau dieser Formulierung auch in Apg 14,8 bei der Wundertat des Paulus begegnet, ist wohl im Anschluss an Formulierungen der LXX gewählt worden (vgl. zur Wendung »von Mutterleib an«: Hi 1,21; 38,8; Ps 21,11; 70,6; Weish 7,1; Jer 1,5 u.ö.). Als χωλός (chōlos) kann er entweder lahm, hinkend, verstümmelt oder auch einfach gebrechlich sein. Da Helfer ihn täglich tragen und zum Schönen Tor bringen, ist hier bei χωλός (chōlos) wohl an Gehunfähigkeit gedacht. Auch die Konstatierung der Heilung deutet in diese Richtung, da die Füße und Knöchel fest werden.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Einem seit über vierzig Jahren Gelähmten widerfährt eine Heilung und er kann laufen. Dieses Geschehen kann im Kontext des lukanischen Doppelwerks zunächst als eine weitere Erfüllung der Antwort Jesu an die Täuferjünger gelesen werden. Auf deren Frage hin, ob Jesus der Kommende sei, gibt er ihnen zur Antwort: »Geht hin und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet« (Lk 7,22). Diese Antwort Jesu hat sprachliche und sachliche Berührungspunkte mit seiner Antrittspredigt in Nazaret (Lk 4,18f.), die Erwähnung der Lahmen geht aber darüber hinaus. In der Jesusgeschichte hat sich in der Heilung des Gichtbrüchigen/Gelähmten (Lk 5,17-26) das Wunder »Lahme gehen« bereits erfüllt. In Apg 3,1-10 setzt sich diese Heilungstätigkeit durch das Wirken des Apostels fort. Der Katalog in Lk 7,22 greift zurück auf prophetische Heilsverheißungen, die das endzeitliche Heilshandeln Gottes an seinem Volk beschreiben: Jes 26,19; 29,18; 35,5f.; 42,7.18; 61,1; aber auch 4Q 521 2,2,4-13. Nach 140

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Jes 35,5f. werden die Lahmen dann springen wie ein Hirsch. Da Lähmung im alttestamentlichen Recht als ein Körperfehler und nicht als Krankheit angesehen wurde, galten lahme Männer als untauglich für den Priesterdienst (Lev 21,18-24). Das Wunder der Heilung schenkt daher nicht nur körperliche Gesundheit, sondern auch eine religiöse Aufwertung. In dem Gleichnis vom großen Festmahl wird die endzeitliche Mahlgesellschaft beschrieben (Lk 14,15-24). Nachdem alle Erstgeladenen abgesagt haben, ergehen zwei weitere Einladungen. Zunächst werden die Armen und die Krüppel, die Blinden und die Lahmen geladen (14,21), sodann in einer weiteren Einladung die Menschen von den Landstraßen und vor der Stadt (14,23). Die erstgenannte Ersatzgruppe ist bereits in der Einleitung zum Gleichnis (Lk 14,12-14) im Gegenüber zu Freunden, Brüdern, Verwandten und reichen Nachbarn genannt worden. In Lk 14,21 begegnet diese Gruppe erneut, allein Blinde und Lahme sind in anderer Reihenfolge genannt. Die Auslegung hat häufig eine heilsgeschichtliche Interpretation gesucht, in der die drei Gruppen der Geladenen im ersten Fall mit Israel, im letzten Fall mit den Heiden identifiziert wurden. Die mittlere Gruppe war in dieser Auslegung nicht klar bestimmt. Vermutlich aber haben die beiden Gruppen der Nachgeladenen in der Erzählung nur die Funktion, den Zorn des Gastgebers über das Ausschlagen der Einladung durch die Erstgeladenen zu illustrieren. Dann würde das Gleichnis nicht einer heilsgeschichtlichen Linienführung folgen, sondern den Ernst des Rufes Jesu und die Folgen einer Ablehnung illustrieren (Wolter 2008, 509). Gleichwohl deutet auch dieses Gleichnis an, dass die Gruppe der Armen und Krüppel, der Blinden und Lahmen eine besondere Zuwendung erwarten darf.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Im Kontext einer historisierenden Deutung von Apg 3,1-10 wird davon ausgegangen, dass die Erzählung im Kern auf einem tatsächlichen Geschehen beruht. Für Bernd Kollmann steht die Historizität der Wundertätigkeit des Petrus außer Frage (Kollmann 1996, 108f.). Die »lukanische Gestaltungstendenz gründet auf der nicht zu bezweifelnden Tatsache, dass die frühchristlichen Apostel und Missionare nach dem Vorbild Jesu Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen vollzogen haben« (a.a.O., 108). Da Petrus sich ausweislich der Notiz des Paulus (1 Kor 9,5) an den Aussendungsanordnungen Jesu orientiere (vgl. etwa Lk 10,9), sei »für die Petruswunder der Apostelgeschichte ein klarer historischer Haftpunkt gegeben« (ebd.). Auch falle auf, dass Petrus mit Wundern in Verbindung gebracht werde, nicht aber etwa der Herrenbruder Jakobus. Der Heilung des Gelähmten in Apg 3,1-10 dürfe »ein tatsächliches Geschehen zugrunde liegen« (a.a.O., 109). »Im Falle von Bewegungsstörungen stellt ein auf psychischer Einwirkung beruhender Heilungsprozess keine Seltenheit dar« (ebd.). Rudolf Pesch ist ebenfalls davon überzeugt, dass Apg 3,1-10 »wohl tatsächliches, wenn auch in gattungsgemäßer Form (und damit in womöglich gesteigerter Gestalt überliefertes) Geschehen« wiedergibt (Pesch 2005, 139f.). Das 141

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berichtete Geschehen sei lokal fest verankert und spiegle das Jerusalemer Milieu (Bettelei am Tempel) wider. Dass die frühen Christen »im Namen Jesu« heilten, sei ein breit belegter Sachverhalt. Die unterschiedlichen Versuche einer kerygmatischen Deutung von Apg 3,1-10 fragen dagegen nach der theologischen Kernaussage der Erzählung und richten den Fokus auf die unter der Oberfläche verborgene Glaubensbotschaft. Ernst Haenchen betrachtet die von Lukas vorgefundene Tradition als eine Geschichte, welche »die heilende Macht des Retters Jesus glaubenweckend schildert« (Haenchen 1977, 201). Für Jürgen Roloff macht die Erzählung implizit den Glauben des Petrus anschaulich, der durch die Nennung des Namens Jesu den Kranken der von Jesus ausgehenden Heilswirkung unterstellt. »Diese Vergegenwärtigung des Namens Jesu kann nur im Glauben geschehen, der auf eigenes Rechtbehaltenwollen verzichtet und alles auf die Gegenwart der Hilfe Gottes in Jesus stellt« (Roloff 2010, 69). Friedrich Avemarie hat die These vorgelegt, »dass sich in den vielerlei übernatürlichen Manifestationen und Zwischenfällen, von denen die Apostelgeschichte erzählt, im Grunde nichts anderes ereignet als eine Fortsetzung der Geschichte Jesu Christi unter veränderten Voraussetzungen, die durch seine Auferstehung und Erhöhung zur Rechten Gottes geschaffen sind« (Avemarie 2009, 543; im Original kursiv). Diese These bestätigt sich nach Avemarie auch in Apg 3,1-10. Während Jesus seine Wunder in eigener Kraft und Vollmacht vollbringt, vollzieht Petrus die Heilung im Namen Jesu Christi. Die Apostel verfügen folglich über ein abgeleitetes Wundercharisma. Insbesondere der Nachtrag in Apg 3,16, der die Relation von Wunder und Glaube einführt, »führt die Heilung offenbar auf ein Zusammenwirken des Namens Jesu mit dem Glauben des Gelähmten zurück« (a.a.O., 554). »Dass der Glaube hier so wichtig wird, während er in dem eigentlichen Heilungsbericht gar nicht erwähnt worden war, hängt zweifellos damit zusammen, dass diese Predigt nicht nur das Wunder erläutern, sondern ihr Publikum auch dazu bewegen will, die Macht des Namens Jesu anzuerkennen« (ebd.). Im Rahmen einer redaktionsgeschichtlichen Deutung des Wunders verweist Jürgen Becker auf die Parallelität, die Lukas zwischen Paulus und Petrus herstellt, und kommt zu dem Schluss: Sieht man sich die Parallelität beider Gestalten an, stellt sich gewiss der Eindruck hagiographischer Typik ein. So hat man sich also die großen Charismatiker der ersten Generation in nachapostolischer Zeit vorgestellt! Dieses im Phänomenbereich so einheitliche Bild des Lukas ist von ihm gezielt gezeichnet, aber nicht unbedingt Abbild des historischen Wirkens der beiden Apostel (Becker 2011, 121).

Becker verfolgt die parallele Darstellung beider Apostel, angefangen von der Berufung, über ihre Führung durch den Geist und durch Träume, in ihrer Predigttätigkeit vor Juden und Heiden, in der Gefangenschaftssituation u.a. Zu dieser parallelen Darstellung, die möglicherweise der antiken Konvention einer Doppelbiographie folge (vgl. etwa Plutarch), gehören auch Wunder und Heilungen (Apg 3,1-10; 5,1216; 14,3.8-10; 23,3-6), Exorzismen (5,16; 16,16-18), Auferweckungen Toter (9,32-43; 20,7-12), Strafwunder (5,1-11; 13,6-12), Befreiungen aus dem Gefängnis (5,17-25; 142

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12,1-19; 16,19-40) u.a. Auch das Bild der Wunder wirkenden Aura verbindet das Auftreten beider Apostel (5,15; 19,11f.). Mittels dieser Darstellung wertet Lukas Petrus im Vergleich mit Paulus auf, schreibt ihm aber gleichzeitig eine Rolle ausschließlich in der Anfangszeit der Kirche zu.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Zwischen der Heilung des Gelähmten am Schönen Tor (Apg 3,1-10) und der Heilung eines Gelähmten durch Paulus in Lystra (Apg 14,8-10) bestehen so viele Parallelen, dass nach dem Verhältnis beider Texte zueinander gefragt werden muss. Gerhard Schneider hat beide Texte und zusätzlich noch Lk 5,17-26 in einer Synopse dargestellt (Schneider 1980, 307f.). Bereits die Eingangssätze beider Wundergeschichten Apg 3,2 und Apg 14,8 sind völlig identisch: ein Mann, der von Mutterleib an lahm war. Die traditionsgeschichtliche Analyse fragt, ob Lukas Apg 14,8-10 auf der Grundlage von Apg 3,1-10 gebildet hat und diesen Text wiederum auf der Grundlage von Mk 2,1-12 par. (so Lüdemann 1987, 58f.; dagegen Schreiber 1996, 62-65). Es ist jedoch zu beobachten, dass Lukas durchaus an einer Parallelisierung der Apostel Petrus und Paulus sowohl in ihren Reden als auch bei Wundern interessiert ist und dass deren Parallelisierung wiederum in Kontinuität zur Darstellung der Reden und Wunder Jesu steht. Darin kommt ein heilsgeschichtliches Denken zum Ausdruck, dem an der Kontinuität der Zeit der Kirche zu der Zeit Jesu gelegen ist. Die Wundertätigkeit der Apostel, auch diejenige des Petrus, ist in der Theologie und Bibelwissenschaft des 20. Jh. entsprechend zur Wundertätigkeit Jesu ganz an den Rand getreten. Sie wurde teilweise sogar im Zeichen der Wort-Gottes-Theologie völlig ignoriert. Eine durchaus zutreffende Intention des Textes aufnehmend, die Wunderthematik damit aber ausblendend, schreibt Karl Barth zu Apg 3,4: »Sie ansehen, wie es Act. 3,4 gefordert wird, wird eben immer heißen müssen: Den ansehen, der sie gesandt hat!« (Barth 1960, 545). Der an sich ausgezeichnete Artikel zu Petrus von Erich Dinkler in der RGG3 aus dem Jahr 1961 geht auf die Wundertätigkeit des Petrus und damit auch auf Apg 3,1-10 gar nicht ein. Der wenige Jahre zuvor verfasste Klassiker zu Petrus von Oscar Cullmann aus dem Jahr 1952 erwähnt Apg 3,1-10 nur im Blick auf die verfassungsrechtliche Frage, ob auch Johannes neben Petrus eine autoritative Stellung in der Leitung der Urgemeinde gehabt habe (a.a.O., 33f.). Selbst in der Darstellung der Jerusalemer Urgemeinde durch Ludger Schenke wird die Petruslegende Apg 3,1-10 nur in Übersetzung vorgestellt, aber nicht ausgewertet (Schenke 1990). Weder in dem führenden katholischen Lexikon, dem LThK3 aus dem Jahr 1999, wird in dem Artikel über Petrus die Wundertätigkeit und damit Apg 3,1-10 erwähnt, noch in dem ansonsten recht umfassenden Werk zu Petrus von Joachim Gnilka (Gnilka 2002). Die Kommentare zur Apostelgeschichte von Gerhard Schneider (1980, 304-310) und Rudolf Pesch (2005, 141-148) gehen dagegen in umfangreichen Exkursen auf die Wundererzählungen der Apostelgeschichte und damit auch auf die Petruswunder ein. Beide Werke stehen im Kontext redaktions143

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geschichtlicher Auslegung des Neuen Testaments und fragen nicht zuletzt nach der Funktion der Wundererzählungen für die Theologie des Lukas. Friedrich Wilhelm Horn

Literatur zum Weiterlesen F. Avemarie, Acta Jesu Christi. Zum christologischen Sinn der Wundermotive in der Apostelgeschichte, in: J. Frey/C. K. Rothschild/J. Schröter (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, BZNW 162, Berlin/New York 2009, 539-562. C. Böttrich, Petrus. Fischer, Fels und Funktionär, BG 2, Leipzig 2001, bes. 173-183. B. Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten. Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis, UB 477, Stuttgart 32011a, bes. 109-113. M. Küchler, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt, OLB IV/2, Göttingen 2007, bes. 133-141.194-205. J. Lambrecht, The Lame Man’s Trust or Peter’s Faith? (Acts 3,12-16), in: ders., Understanding What One Reads. New Testament Essays, ANL 46, Leuven 2003, 125-131. M. C. Parsons, The Character of the Lame Man in Acts 3-4, JBL 124 (2005), 295-312.

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Ein plötzlicher Tod als Warnung (Der Betrug des Hananias und der Sapphira) Apg 5,1-11 (5,1) (2)

Ein Mann aber, Hananias mit Namen, mit Sapphira, seiner Frau, verkaufte Besitz und schaffte von dem Erlös etwas für sich beiseite, und die Frau war Mitwisserin,

und er brachte einen Teil und legte ihn vor die Füße der Apostel. (3) Es sprach aber Petrus: »Hananias, weshalb erfüllte der Satan dein Herz, dass du belogst den Heiligen Geist und für dich von dem Erlös des Grundstücks etwas bei seite schafftest? (4) Bleibend verblieb es dir nicht, und verkauft stand es nicht in deiner Vollmacht? Weswegen setztest du in deinem Herzen diese Tat? Nicht belogst du Menschen, sondern Gott.« (5)

Hananias hörte diese Worte, fiel zu Boden und hauchte sein Leben aus,

(6)

und es entstand große Furcht bei allen, die es hörten. Die jungen Männer standen auf, verhüllten ihn,



trugen ihn hinaus und begruben ihn.

(7)

Es war nun etwa drei Stunden Zwischenzeit, und seine Frau, die um das Geschehene nicht wusste, kam herein.

(8) Es sprach zu ihr Petrus: »Sag mir, ob ihr für soviel das Grundstück abgabt?« Die sprach: »Ja, für soviel.« (9) Petrus nun zu ihr: »Weswegen seid ihr übereingekommen, den 145

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Geist des Herrn zu versuchen? Siehe, die Füße derer, die deinen Mann begruben, stehen vor der Tür und werden dich hinaustragen.«

(10) Sie fiel auf der Stelle zu Boden zu seinen Füßen und hauchte ihr Leben aus;

die jungen Männer kamen herein und fanden sie tot.

(11)

Und sie trugen sie hinaus Und begruben sie bei ihrem Mann, und es entstand große Furcht bei der ganzen Gemeinde und bei allen, die dieses hörten.

Sprachlich-narratologische Analyse Zehn Ereignisse (Sequenzen) bauen die Geschichte von einem doppelten Wunderzeichen Gottes auf: V. 1-6 (Ereignisse 1-5) schildern den plötzlichen Tod von Hananias, V. 7-11 (Ereignisse 6-10) parallel dazu den Tod seiner Ehefrau Sapphira. Ereignis 1 (V. 1f.) stellt den Fall vor, der unmittelbar an den zweiten Sammelbericht von der Gütergemeinschaft anschließt (Apg 4,32-37). Das Ehepaar Hananias und Sapphira beteiligt sich an der Gütergemeinschaft und verkauft von seinem Besitz etwas. Nach der Aussage des vorhergehenden Verses vom Ackerverkauf des Barnabas (Apg 4,37) und der späteren Petrusfragen (V. 3.8) muss es sich um ein Grundstück handeln. Das Ehepaar teilt heimlich den Erlös auf und legt nur einen Teil als Spende vor den apostolischen Zwölferkreis, der aber den gesamten Erlös als Beitrag erwartet. Der Handlungsteil der gesamten Erzählung ist im Aorist gehalten. Es handelt sich hier um einen einmaligen Fall aus der Ursprungszeit der Jerusalemer Urgemeinde. Ereignis 2 (V. 3f.) bringt das Verhör des Mannes in der Form von drei Fragen und einer Feststellung. Er ist der hauptverantwortliche Täter. Petrus führt als Leiter der Urgemeinde das Verhör durch. Er setzt mit einer Frage ein, in der bereits der Sachverhalt zutreffend dargestellt ist. Petrus vermag, mit dem Heiligen Geist in prophetischer Weise die Menschen zu durchschauen, wie auch der irdische Jesus seine Umgebung »wahr« einzuschätzen wusste (Lk 5,17-26 u.ö.). Allerdings bleibt die Frage selbst unbeantwortbar und stellt einen indirekten Vorwurf dar: »Weshalb erfüllte der Satan dein Herz?« (vgl. Lk 8,12). Zum Festhalten des Eigentums gesellt sich bei dem Ehepaar das persönlich verantwortbare Belügen des Heiligen Geistes. Die zweite Frage betont als Rechtssatz noch einmal die Freiwilligkeit von Verkauf und Spende. Nur hier steht das Imperfekt. Das Verbleiben des Eigentums oder seines 146

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Ein plötzlicher Tod als Warnung Apg 5,1-11

Verkaufserlöses beim Ehepaar hätte unverändert andauern können, und dann hätten die Eheleute mit Vollmacht keinen oder nur einen geringen Beitrag zur Armenkasse leisten können. Die dritte Frage wiederholt die erste Frage und ersetzt Satan durch das personale Du. Der Mensch ist nicht willenloses Werkzeug Satans, sondern behält über sich die Entscheidungsgewalt. Er kann in seinem Herzen die Herrschaft des Geistes verlassen und mit Satan das Böse wollen, er kann aber auch widerstehen. Die abschließende Feststellung wiederholt die Erklärung vom Anfang, dass mit der Lüge Gott selbst getroffen ist. Ereignis 3 (V. 5) steht im Mittelpunkt. Überraschend tritt der Tod des Übeltäters Hananias ein. Dieser hört die anklagenden Fragen und Feststellungen und haucht (ἐξέψυξεν exepsyxen) wie Herodes Agrippa (Apg 12,23) sein schuldbeladenes Leben aus. Ob Hananias beim »Hören« die Tat bereut hat, muss der Leser selbst entscheiden. Hananias hatte beim Hören und Fallen Gelegenheit zur Umkehr. Ereignis 4 (V. 5c.6a) erzählt die Wirkung (Pragmatik) dieses Vorfalls auf die Teilnehmer am Verhör. Die Furcht ist die übliche Reaktion auf ein Offenbarungshandeln Gottes. Da Gott hier einen plötzlichen Tod als Strafe gesetzt hat, verharrt die anwesende Gemeinde mit Petrus und den anderen Aposteln in Passivität aus Ehrfurcht vor der göttlichen Machttat. Normalerweise waschen die Angehörigen den Verstorbenen und hüllen ihn in ein Leichentuch (Lk 23,50-56). Doch Sapphira ist noch nicht anwesend. So fühlt sich die Gemeinde verantwortlich für die rituelle Bestattung. Die jungen Männer werden aktiv und übernehmen die Pflicht zum Begräbnisritual. Ereignis 5 (V. 6b) schließt ab: Die jungen Männer tragen Hananias auf einer Bahre hinaus (vgl. Lk 7,11-17) und beerdigen ihn am selben Tag außerhalb der Stadt. Erst hier wird für den Leser erkennbar, dass sich die Gemeinde in einem eigenen Raum aufhält, zu dem nur ihre Mitglieder Zugang haben, aus dem sie aber auch ausgeschlossen werden können (Marguerat 2011, 253). Ereignis 6 (V. 7) leitet die Verdoppelung ein. Die Ehefrau kommt drei Stunden später; die Gemeinde trifft sich ja jeden Tag (Apg 2,46). Sapphira hat das Wissen um die heimliche Teilung des Kauferlöses, aber nicht das Wissen um den plötzlichen Tod ihres Mannes. Ob mit der Eile von drei Stunden die Reinheit der Gemeinde ganz schnell wiederhergestellt werden soll (Apg 5,6.10; Jervell 1998, 197-199), bleibt eine mögliche Assoziation an die Forderungen von Deuteronomium, das »Böse« aus Israel wegzuschaffen (Dtn 13,6). Mit der Angabe der drei Stunden wird jedenfalls der Zeitrahmen für die Szene geschaffen. Es hat eine dreistündige Versammlung stattgefunden. Ereignis 7 (V. 8f.) bringt darin eine Abweichung zu V. 3, dass Petrus und Sapphira ein zweiteiliges Verhörgespräch führen, das mit einer Unheilsprophetie endet. Im Unterschied zu ihrem Ehemann gibt Petrus Sapphira eine Chance zum Bekennen der Wahrheit (Pesch 2005, 199-201; gegen Haenchen 1977, 233-235; Schneider 1980, 375-377). Petrus war wie die gesamte Gemeinde vom plötzlichen Tod des Ehemannes überrascht und in Furcht versetzt worden. Doch außer ihm wagt es niemand, mit Sapphira zu reden. Die zwei Sammelberichte von der Einmütigkeit der 147

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Gemeinde und den Wunderheilungen der Apostel, die die Erzählung einrahmen (Apg 4,32-37; 5,12-16), sind außer Kraft gesetzt. Petrus darf Hananias nicht auferwecken (gegen Apg 9,36-43; 20,7-12). Petrus hält Sapphira den Täuschungsversuch vor. Sapphira kann von ihm abrücken und die richtige Verkaufssumme nennen. Leider beharrt Sapphira auf der Täuschung und greift ebenfalls zur Lüge. Nun muss Petrus auch ihr vorhalten, dass sie zusammen mit ihrem Mann vereinbart hat, den Heiligen Geist mit allen Mitteln zu täuschen, und muss ihr das unmittelbar bevorstehende Begräbnis ankündigen. In Ereignis 8 (V. 10a) bildet der Tod parallel zu V. 5 wieder den Mittelpunkt. Sapphira fällt vor Petrus wie ihr Ehemann zu Boden und haucht wie er ihr Leben aus. Der Fußfall kann als stummer Ausdruck der Erkenntnis und der Bitte um die Fürbitte der Gemeinde gedeutet werden. Sapphira steht nach dem jesuanischen (Lk 16,18) und kaiserzeitlichen Eheideal in »gefühlsmäßiger Übereinstimmung« (συμφωνέω symphōneō, V. 9) mit ihrem Ehemann, insbesondere bei der hybriden Verschwörung gegen den Heiligen Geist (Marguerat 2011, 261-263). Im Ereignis 9 (V. 10b) sind im Unterschied zu V. 6 die jungen Männer abwesend, weil sie Hananias begraben. Bei der Rückkehr finden sie Sapphira tot vor. Ereignis 10 (V. 10cf.) beendet die Doppelerzählung. Sapphira findet ein Begräbnis wie ihr Mann. Die Reaktion der Gemeinde mit Furcht wirkt wie ein Chorschluss (Roloff 2010, 95). Hananias und Sapphira werden zu einem Identifikationsmodell, das vor Betrug und Lüge warnt, sowie zu Umkehr, Wachsamkeit und standhaftem Glauben an den Heiligen Geist aufruft. Es schließt sich ein Sammelbericht von den Wunderheilungen der Apostel für das umkehrbereite Volk an. Von ähnlichen Vorzeichen wie dem plötzlichen Tod von Hananias und Sapphira redete Jesus im ersten Buch seines Doppelwerks (Lk 13,1-5): Der Einsturz eines Turmes am Siloah-Teich in Jerusalem wird von der Bevölkerung als strafende Machttat Gottes gedeutet. Jesus widerspricht dieser Deutung nicht, gibt ihr aber einen neuen Sinn: »Oder jene achtzehn, auf die der Turm am Siloah(teich) fiel und sie tötete, meint ihr, dass sie Schuldner waren, mehr als alle Menschen, die Jerusalem bewohnen? Nein, im Gegenteil, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle ebenso zugrundegehen« (Lk 13,4f.). Die Machttat Gottes trifft nicht nur große Sünder, sondern kann auch weniger Schuldige und damit jeden treffen. Sie wird von Gott als Appell für alle zugelassen, auf den Untergang dieser Welt vorbereitet zu sein und schon jetzt umzukehren (vgl. Bovon 1996, 377-379). Auch das einleitende, anders strukturierte Vorzeichen erfährt eine neue Deutung: »Zu der Zeit waren nun einige anwesend und berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern mischte. Und er antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, dass diese Galiläer Sünder waren, mehr als alle Galiläer, weil sie dieses erlitten haben? Nein, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle gleicherweise zugrundegehen« (Lk 13,1-3). Bei der Ermordung von Galiläern beim Opfern im Tempelbezirk handelt es sich um ein Verbrechen des damaligen römischen Präfekten Pilatus. Es wird allerdings von den außerbiblischen Quellen nicht belegt. Gott hat es nicht verhindert, aber nicht deshalb, weil diese Galiläer große Sünder waren, sondern weil alle Menschen, auch die Jerusalemer, Sünder sind und der Mahnung zur Umkehr bedürfen. Daher rettet Gott nicht die unschuldigen und zugleich sündigen Galiläer durch eine Machttat im Unterschied zu rettenden Machttaten im Alten Testament (Ex 13,17-14,31; 2 Makk 11,8-12). Politischer Mord entsteht aufgrund der Sündhaftigkeit des Menschen. Nur bei Gott ist der Glaubende endgültig geborgen.

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Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Die Idee der Gütergemeinschaft ist nicht biblischen Ursprungs, sondern stammt aus dem Hellenismus. Allerdings ist sie auch dort kein Modell für hellenistische Städte. In diesen regiert die Euergesia (εὐεργεσία – Wohltätigkeit). Wohlhabende übernehmen Aufgaben der Stadt, eines Tempels, eines Vereins und finanzieren Einzelvorhaben; sie veräußern ihren Besitz aber nicht vollständig. Die Idee der Gütergemeinschaft begegnet uns bei Pythagoras, und Platon hat sie in das ideale Bild seines Staates aufgenommen. In der neupythagoräischen Schule wird besonders durch Philostrat in seiner romanhaften Vita des Apollonius von Tyana dieses alte Ideal der vollendeten Gemeinschaft erneuert. Aus dem Hellenismus ist das Ideal der Gütergemeinschaft in das Judentum eingedrungen. Das zeigen die begeisterten Ausführungen des Josephus über die Essener. Verwirklichte Gütergemeinschaft trifft man tatsächlich in der Sekte von Qumran an (Zimmermann 1967, 256).

Josephus führt zu den Essenern aus: Sie sind Verächter des Reichtums, und bewundernswert ist bei ihnen der Gemeinschaftssinn; es ist auch unter ihnen niemand zu finden, der an Besitz hervorrage; denn es ist Gesetz, dass die in die Sekte Eintretenden ihr Vermögen dem Orden übereignen, sodass bei ihnen insgesamt weder die Niedrigkeit der Armut noch ein Vorrang des Reichtums in Erscheinung tritt, sondern nach Zusammenlegung des Besitzes der Einzelnen nur ein Vermögen für alle als Brüder vorhanden ist. […] Nichts aber kaufen oder verkaufen sie untereinander, sondern dem, der Bedarf hat, gibt jeder seinen Besitz und empfängt umgekehrt von jenem das, was er brauchen kann; ja auch ohne Gegenleistung ist die Entnahme von Gütern, bei wem man will, unverwehrt (Flav. Jos. Bell. 2,122.127; Übers. Michel/Bauernfeind 1959, 205.207; vgl. noch Philo prob. 85-87).

Bei Jamblichos heißt es zu den Pythagoräern: Ursprung der Gerechtigkeit ist nun Gemeinschaft, gleiches Recht und eine Verbundenheit, in der alle ganz wie ein einziger Leib und eine einzige Seele dasselbe empfinden und mein und dein gleich bezeichnen, wie Platon, der es von den Pythagoräern erfahren hat, bezeugt. Dies hat nun Pythagoras am besten von allen Menschen ins Werk gesetzt, indem er aus der Wesensart seiner Jünger die Bindung an Privateigentum völlig verbannte und dafür den Sinn für das Gemeinsame verstärkte. Er ging dabei bis zu den geringfügigsten Besitztümern, da sie Zwietracht und Verwirrung stiften könnten. Gemeinsam gehörte allen alles ohne Unterschied, privat besaß keiner etwas; fand einer an der Gemeinschaft Gefallen, so gebrauchte er die gemeinsamen Güter aufs Gerechteste, andernfalls nahm er seine eigene Habe und noch mehr, als er zum gemeinsamen Besitz beigesteuert hatte, und ging von dannen. So stellte Pythagoras die Gerechtigkeit von ihrem allerersten Ursprung aus auf festen Grund (Iamb. vit. Pyth. 167f.; Übers. Albrecht 2002, 145).

Ist Petrus ein neuer, archaischer Pythagoras? Stellt die Jerusalemer Urgemeinde einen hellenistischen idealen Staat dar, der in die Ursprungszeit zurückdatiert wird (Weiser 1989, 104; Zimmermann 1967, 256f.; kritisch Wendel 1998, 125-133)? Wollen Pythagoras und Platon tatsächlich eine »Gütergemeinschaft« oder geht es nur um die Realisierung des hellenistischen Freundschaftsideals? Der Freund darf 149

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selbstverständlich allen Besitz nutznießen, die Eigentumsverhältnisse bleiben aber unangetastet. Petrus ist kein neuer Pythagoras. Qumran bildet auch nur eine entfernte Parallele, da dort anders als in der Urgemeinde alle Immobilien der Gemeinschaft unterstellt werden; ihr Verkauf an Außenstehende ist außerdem in Qumran untersagt und wird mit einjähriger Rückversetzung in den Stand des Novizen bestraft (1QS 6,24f.). Eine nähere Parallele bildet der Status des Novizen in Qumran. Nach der Gemeinderegel gibt dieser zwar sein Vermögen ab, behält aber bis zur endgültigen Aufnahme die Verfügungsgewalt darüber (1QS 4,13-25; Capper 1986). Allerdings spricht gegen eine Abhängigkeit von dieser Regelung, dass in der lukanischen Urgemeinde nicht alle Besitztümer auf die Gemeinde übertragen werden müssen. Der Verkauf von Gütern bleibt eine Ausnahme, sowohl in den hellenistischen Ideal-Gemeinschaften als auch in der Apostelgeschichte. In Qumran ist er verboten. In der hellenistischen Stadtgesellschaft ist Landeigentum nur ein Erwerbsfaktor neben vielen anderen. Vorrang haben Geld und Warentausch. Daher wird für jeden Verein eine Gemeinschaftskasse aus unterschiedlichen Einnahmequellen eingerichtet; auch die frühjüdische Synagogengemeinde kennt die Armenkasse (Billerbeck 1928, 536-558). Die christlichen Gemeinden in den hellenistischen Städten haben genügend wohlhabende Mitglieder, die auch ohne Verkauf von Grundstücken für Arme sorgen und sogar eine Spende für Jerusalem organisieren können (Apg 11,2730). Diese Spende entspricht den Spendenaufrufen der protopaulinischen Briefe (2 Kor 8-9). Nur die Urgemeinde in Jerusalem ist so arm, dass ein Verkauf notwendig wird. Da diese Situation an den Gründungsanfang gerückt wird, wird für eine ungewöhnliche Notlage eine ungewöhnliche Lösung in die Gründungsurkunde mit aufgenommen. Wenn das System der Euergesia versagt, muss zum äußersten Mittel, zum Verkauf von verzichtbarem Grund und Boden gegriffen werden. Barnabas verkauft einen Acker (Apg 4,34f.; Kollmann 1998, 21f.). Das Wohnen in eigenen Häusern mit eigenem Grundbesitz hingegen bleibt eine Notwendigkeit, z.B. für Maria, die Mutter des Johannes Markus (Apg 12,12). Die zusätzlich Land Besitzenden werden angesprochen, nicht die Armen; der implizite Leser dieser Wundergeschichte gehört wie Theophilos zu den Besitzenden (Apg 1,1). Aus Gründen der politischen Unauffälligkeit unterbleibt in der Urgemeinde die Errichtung einer anzeigepflichtigen Vereinskasse. Die Gütergemeinschaft ist nicht eine Rechtsform wie die Institution in Qumran, sondern bleibt eine ideale Gesinnung mit konkreten ökonomischen Maßnahmen. Eine Wohltätigkeit muss auf jeden Fall eingerichtet werden, sei es durch den Verkauf von Grundstücken, sei es durch Spenden. Die ökonomische, soziale und theologische Gleichheit ist außerdem mit weiteren außerökonomischen Mitteln zu vertiefen.

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Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Der Auszug aus Ägypten führte notwendigerweise zum Verlust des Grundbesitzes. Der Geber des neuen Landes Kanaan war JHWH. Er blieb nach der Landnahme und Landaufteilung weiterhin der Eigentümer. So verlangte er, dass im Jobeljahr, dem 49. oder 50. Jahr, die ursprünglichen Bodenbesitzverhältnisse wiederhergestellt werden sollen (Lev 25,8-22); denn er schützt als Eigentümer den Grundbesitz des Armen (Lev 25,23-28). Beim Neuanfang in Kanaan hatte JHWH allen Stammesmitgliedern mit Ausnahme des Priester-Stammes Levi (Jos 13,14) gleichen Anteil an Land gegeben (Jos 13,1-22,34). Schuldverschreibungen auf Landeigentum verfielen im Sabbatjahr (Dtn 15,1-11; Lev 25,5). Die Differenzierung in Arme und Reiche während der Königszeit verletzt den auf Gleichheit ausgerichteten Willen JHWHs. Der Verkauf von Grundstücken stellt die Gleichheit in Israel bei Exodus und Landnahme wieder her. Die Gütergemeinschaft folgt diesem Vorbild (Apg 2,42-47; 4,32-37). Eine Veruntreuung des Gott gehörenden Banngutes wird mehrfach berichtet. Achan wird dafür gesteinigt (Jos 7,1-26), Saul wird das Königtum vom Herrn weggenommen und David gegeben (1 Sam 15,1-35; 16,1-16). Auch die keltischen Vakkäer verbieten aufgrund ihres Agrar-Kollektivismus Grundbesitzern das Beiseiteschaffen von den für Gemeingut erklärten Früchten mit der Todesstrafe (Diod. Sic. 5,34,3). Lüge (Apg 5,4.8f.) gehört als falsche Aussage gegen deinen Nächsten zum Katalog der Zehn Gebote (Ex 20,16; Dtn 5,20). Als Unaufrichtigkeit belastet sie auch das Verhältnis zu Gott (Hos 7,13f. u.ö.). Korach und seine Anhänger verbreiten lügenhaft, dass Gott die Vorrangstellung von Mose und Aaron vor dem Volk nicht will (Num 16,1-4). Gott beendet diesen Aufstand mit einer Machttat. Eine Erdspalte verschlingt Korach mit seiner Sippe, und ein Feuer vernichtet seine Anhänger (Num 16,31-35). Lügen mit falschen Eiden galt auch in der griechisch-römischen Welt als schwerer Frevel, der von der beleidigten Gottheit durch das Gottesgericht geahndet werden konnte (Eurip. Hipp. 612; Harrill 2011). Das gemeinsame Täuschungsmanöver des Ehepaares Hananias und Sapphira erinnert außerdem an die Stammeltern Adam und Eva und deren Ursünde, Gottes Gebot zu übertreten (Marguerat 2011, 260-263). Der Totenkult muss wie bei der Bestattung Jesu beachtet werden (Lk 23,5056). Die Gräber von Jerusalem befanden sich wie in Ägypten und in der griechischrömischen Kultur außerhalb der Stadt. Der Tod erzeugt Unreinheit. Der unreine Tote muss noch am selben Tag aus der Welt der Lebenden in die unbewohnte Welt gebracht werden. Über die Traditionsgeschichte besteht insoweit weitgehender Konsens, dass diese Machttat-Erzählung keine lukanische Erfindung ist (anders Schmithals 1982, 56). E. Haenchen hält V. 4 für lukanische Redaktion, weil die Betonung der Freiwilligkeit in Spannung zur ursprünglichen Verpflichtung der Abgabe allen Besitzes steht (Apg 4,32.34; Haenchen 1977, 232f.; Schneider 1980, 375). A. Weiser konstruiert noch radikaler eine Grundgestalt aus 5,1.2b.8.3a.4a.5a.6.5b (Weiser 1989, 143). R. Pesch hingegen bestreitet die Uneinheitlichkeit der Geschichte; er hält sie insgesamt 151

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für eine spannungsfreie traditionelle Erzählung (Pesch 2005, 196). Es liegt nach ihm ein Strafwunder vor (ähnlich Weiser 1989, 139f.). Doch stellen die Worte von Petrus wirklich Strafworte dar (so Haenchen 1977, 232-234)? R. Pesch räumt dagegen ein: »Wesentlich ist, daß Petrus kein eigentliches Straf- und Fluchwort ausspricht, sondern nur eine Schuldfeststellung. Die sogenannte ›Strafe‹ erscheint im Horizont biblischen Denkens als Tat-Folge, die der Täter sich selbst zuzieht« (Pesch 2005, 197). Vorsichtiger äußert sich daher Theißen zur Gattungsfrage des Traditionsbestandes. Es liegt ein für das Neue Testament singuläres bestrafendes Normenwunder an Personen mit Nähe zum Gottesurteil vor (Theißen 1998, 117; Zmijewski 1994, 239). Seit H. Conzelmann wird das Gottesurteil deutlich gesehen (Conzelmann 1972, 45; Schneider 1980, 370). Im Unterschied zum Strafwunder, zu dem ein Wundertäter wie Paulus Gott veranlassen kann (Apg 13,4-13), liegt hier eine unvorhergesehene und nicht erbetene göttliche Machttat im alttestamentlichen Stil vor (Lk 13,4f.). Insgesamt zeigt die gesamte Erzählung lukanischen Stil. Die Tradition lässt sich nicht im Wortlaut, wohl aber mit Motiven von alttestamentlichen strafenden Machttaten Gottes und der Erinnerung an die nachösterlichen Anfänge der Jerusalemer Gemeinde umrisshaft rekonstruieren. Die narrativen Ereignisse (Sequenzen 1-10) waren Lukas mündlich oder schriftlich vorgegeben worden, in der Gestaltung der Worte hatte er große Freiheit (Jervell 1998, 163f.; Marguerat 2011, 241f.).

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Historische Deutung: Es besteht ein weitgehender Konsens, der Erzählung aufgrund der Eigennamen und der Ortsangabe einen historischen Kern zuzuweisen, während nach H. Conzelmann kein historischer Kern zu gewinnen ist (Conzelmann 1972, 39; Schmithals 1982, 56). B. Reicke hält sogar den ganzen Bericht für historisch. Er erwägt: »Psychologisch dürfte man es nicht für unwahrscheinlich halten, dass Ananias und Sapphira tatsächlich wegen der Strenge der Rede und des Anathemas des Petrus gestorben sind« und wegen der öffentlichen Schande (Reicke 1957, 89). E. Haenchen wendet sich zwar gegen diese psychologisierende Erklärung, lässt aber mit existentialer Hermeneutik gelten, »daß ein geisterfüllter Christ einen Sünder durchschauen kann (vgl. 1 Kor 14,24f.) und daß ein so überführter Betrüger unter der Enthüllung seiner Schuld einfach zusammenbricht« (Haenchen 1977, 236f.; vorsichtig Schneider 1980, 372). Nach Weiser hingegen lassen sich die näheren Umstände nicht mehr erkennen; es könnte sich bei dem Sterben von Hananias um einen Unglücksfall handeln, der früh auf ein strafendes Eingreifen der Gottheit zurückgeführt wurde (Weiser 1989, 148). R. Pesch hält wiederum an einem deutlichen historischen Kern fest, deutet ihn aber nicht psychologisch oder existential (Enthüllung der Schuld), sondern ekklesiologisch als berichtende Erzählung von dem vielleicht außergewöhnlichen, weil vorzeitigen, nach dem Ausscheiden aus der Gemeinde womöglich rasch erfolgten, als Strafe interpretierten Tod eines Ehepaars, deren ›gespaltene‹ Herzen unter dem Druck der Überführung durch die Wahrheit (des von

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ihnen geheuchelten Anspruchs) zerbrachen; daher ist das Geschick des Ehepaares die Folge seiner Tat, und mit Tod ist der TOD des Glaubens oder der biologische Tod (und damit beide Sinne von Tod) gemeint (Pesch 2005, 203).

Es wird die Doppelkodierung der Machttat Gottes als somatisches und metaphorisches Ereignis deutlich. Der Tod als Isolierung von der Gemeinde führt zum biologischen Tod. Für ein Ausscheiden des Ehepaares aus der Gemeinde gibt es allerdings keine Anhaltspunkte im Text, wohl aber für ihre Isolierung. Niemand hilft ihnen bei der Befragung mit Rat und Verteidigung, die sonst in griechischen Vereinskonflikten üblich sind (Apg 6,1-7). Religionsgeschichtlich-existentiale Deutung: Nach H. Conzelmann kennt Petrus, der nachösterlich zum Wundermann und Theios Aner wird, das Verborgene des Herzens […]. Der Geist ist hier nicht die allgemeine Begabung der Gläubigen, sondern metaphysische, sich entladene Potenz. Apostel und Gemeinde sind deren Exponenten […]. Der Gedanke an eine Buße und Vergebung liegt fern. Die Geschichte ist aus einem kollektivistischen Gruppen- und magischen Machtgedanken entworfen (Conzelmann 1972, 45).

Der göttliche Wundermann Petrus verbreitet die Aura des Faszinierens und Erschreckens. In den Heilwundern fasziniert er (Apg 3,1-10; 9,32-43), hier erzeugt er mit dem Gottesurteil Furcht (Apg 5,5). Die Wunder sind Exponate der numinosen Macht des Petrus. Sie fordern weder Umkehr noch ermöglichen sie einen Neuanfang, sondern bestätigen den Glauben an die numinose Macht der Apostel. E. Haenchen macht das Gottesurteil noch deutlicher zum Instrument des Petrus: »Er will töten und es gelingt ihm«, und zwar mit Hilfe des Strafgerichts Gottes; der Tod des Ehepaares wird zusätzlich existential interpretiert als Zusammenbrechen unter der Schuld (Haenchen 1977, 234-237). O. Stählin geht so weit, Petrus die permanente Vollmacht zuzuerkennen, »eine vernichtende Gottesstrafe zu verhängen«, das Verbrecher-Paar wird außerhalb der Gemeinde in einer Grabstätte für Verbrecher beerdigt (Stählin 1978, 84f.). Über die Grabstätte und über weitere von Petrus bewirkte vernichtende Gottesstrafen schweigt aber die Apostelgeschichte. Die religionsgeschichtliche Deutung vom göttlichen Wundertäter, vom Theios Aner, lässt sich heute nicht mehr in dieser Weise halten (vgl. dazu Dormeyer, Weltbild in Bd. 1 des Kompendiums). Petrus ist kein Heilgott in menschlicher Gestalt wie Asklepios, sondern eine geschichtliche Person mit göttlicher Vollmacht zur Wundertätigkeit. Wie bei Jesus im ersten Buch hängt der Erfolg der Wunder vom Vertrauensglauben der Bittsteller oder Übeltäter an den Wundertäter oder Bevollmächtigten innerhalb einer geschichtlichen Situation ab. Dann aber muss die Machttat Gottes an Hananias und Sapphira umfassender innerhalb der Interaktionen aller Beteiligten an diesem Geschehen interpretiert werden. Symbolisch-geschichtstheologische Deutung: Es geht um die Erschließung der Plausibilität der gesamten Geschichte. Sie hätte sich so ereignen können, ohne dass die einzelnen Fakten des Erzählten bewiesen werden müssen. Die historische Deutung bemüht sich um den objektiven Nachweis einiger grundlegender Fakten 153

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und ergänzt so die synchrone, faktuale Deutung. Die Bereitschaft der Gemeinde, Grundstücke zur Bildung einer Armenfürsorge zu verkaufen, wie es vorbildlich Barnabas gemacht hat (Apg 4,37; Öhler 2003, 87-138), erfüllt die Verheißungen der Endzeit (Apg 5,1f.). Wenn in der Urgemeinde die Wohlhabenden Geld den Aposteln geben und die Armen Geld erhalten, wird die Vermögensgleichheit des Exodus wiederhergestellt. Mit Zwölferkreis, Geisterfüllung und Aufhebung der Not wird die soziale Gleichheit Israels wiederhergestellt. Doch gleichzeitig erzeugt die Verpflichtung zu dieser Wiederherstellung sozialen Druck. Hananias und Sapphira wollen sich zwar beteiligen, fühlen sich aber zu schwach, vor den Aposteln und der Gemeinde zu vertreten und zu diskutieren, dass sie von ihrem Recht Gebrauch machen wollen, nur einen Teil des Verkaufserlöses zu spenden. Sie müssten dann begründen, warum sie an der Stelle Gottes dem Reichtum, dem Mammon, ihr Herz überlassen (Lk 12,16-34; 16,9-13). Stattdessen planen sie ein Täuschungsmanöver, das zwei Regeln verletzt. Sie schaffen – wie Achan vom Banngut Gottes (νοσφίζω nosphizō – beiseite schaffen, Jos 7,1.19-26LXX) – heimlich etwas von dem Erlös beiseite, auf den die Gemeinde für die Armenfürsorge angewiesen ist, und sie stellen durch die Lüge die Geistlenkung der Gemeinde infrage. Die Gemeinde wird durch die Habgier und die Lüge zu einer frühkapitalistischen Gesellschaft entwertet, in der Täuschung zur Selbstbehauptung gehört und Wahrheit Selbstschwächung bedeutet. Petrus deckt mit geisterfülltem, prophetischem Erkennen diese Absage an die Glaubensideale der Gütergemeinschaft und der Herrschaft des Geistes auf (Apg 5,3f.). Hananias und Sapphira haben dem Satan die Herrschaft über ihre Herzen eingeräumt. Im ersten Buch versuchte Satan Jesus (Lk 4,1-13) und seine Jünger (Lk 22,31); Judas verleitete er zum Verrat (Lk 22,3) und danach zur Verweigerung der Umkehr (Apg 1,18); die anderen Jünger stiftete er ebenfalls zum Verleugnen und Verlassen Jesu an (Lk 22,32-62). Die Jünger haben aber nicht willenlos Satan in sich handeln lassen. Er konnte daher ihre Umkehr nach Ostern nicht verhindern (Lk 24). Doch sein Einfluss geht nach Ostern weiter (Apg 26,18). Er vermag daher, zuerst bei Hananias und Sapphira den Heiligen Geist zu verdrängen und dessen Stelle zusammen mit dem Reichtum einzunehmen wie vor Ostern bei den Jüngern und bei vielen anderen Hörern (Lk 8,11-15). Der Grieche kann das Versuchen des heiligen Geistes mit Hybris gleichsetzen. Tantalos hatte versucht, die Götter zu täuschen, und hatte ihnen seinen zerstückelten Sohn zum Opfer vorgesetzt (Pind. Olymp. 1,49-57b). Hananias und Sapphira wussten um die prophetische Kraft des Geistes in der Gemeinde und wollten ihn übertölpeln. Aufgrund der Hybris wurden Hananias und Sapphira sofort getötet wie auch später Agrippa I. (Apg 12,20-23). Die Mühlen der Götter, hier die Mühlen Gottes, haben in beiden Fällen nicht mit gewohnter Verspätung reagiert (Plut. de sera 3). Im Unterschied zu den Tantalosqualen hatte Petrus weder eine Verdammung noch Höllenstrafen angekündigt, wohl aber die Lüge aufgedeckt und die nahe Beerdigung der Sapphira angekündigt (Zmijewski 1994, 249). Die Erkenntnis der Hybris kann wieder unmittelbar im Sterben zu Umkehr und Bekehrung führen. 154

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Als Ursache von Zusammenbruch und Tod des Ehepaares muss der Leser die strafende Macht Gottes einsetzen (McCabe 2011, 9-30). Petrus wird durch den Heiligen Geist Vermittler, aber nicht Verursacher dieser Machttat; denn sie bleibt eine unvorhergesehene Tat Gottes (Marguerat 2011, 254). Das Gottesurteil löst die anschließende Furcht bei den anwesenden Zuhörern aus. Die Machttat Gottes korreliert mit sozialpsychologischen und psychosomatischen Vorgängen (Pesch 2005, 199). Das Aufdecken von mangelndem Glauben und Lüge bewirkt im System der Ehre Ehrverlust und Scham (Malina 1993, 40-67). Der Verlust der Ehre kann zu einem plötzlichen Zusammenbruch mit Todesfolge oder einer länger andauernden tödlichen Krankheit führen. Verrate und Lügen gehören zur Schwäche des Menschen und kommen immer wieder vor. Zerstörend ist besonders das Festhalten an diesem Fehlverhalten, wie es das Beispiel des Judas zeigt, der vom ersten tödlichen Machtzeichen Gottes nach Ostern getroffen wird (Apg 1,18). Mit dem Tod von Hananias und Sapphira folgt das zweite tödliche Machtzeichen. Zum ersten Mal fällt hier der Begriff ἐκκλησία (ekklēsia – Gemeinde, Versammlung). Die Zeit der Kirche wird von plötzlichen Todesfällen und von Schuldverstrickungen bestimmt werden. Alle zukünftigen Hörer sollen gewarnt sein. Das Erbarmen Gottes kann nicht zeitlich geplant werden und kann dennoch im plötzlichen Tod dem Sünder noch zukommen. Die Kirche bleibt für den Sünder auch im Todesfall weiterhin verantwortlich. Von nun an muss die Gemeinde mit offenen Rechnungen leben. Feierliche, epideiktische Totenreden verkünden nur Lob: de mortuis nihil nisi bene – über die Toten nichts als Gutes. Dagegen deckt die kritische, biographische Geschichtsschreibung das Unrecht auf. Judas erhält ein Anti-Enkomion (Apg 1,16-20). Die Täuschung von Hananias und Sapphira wird im schriftlichen Gedächtnis aufbewahrt; sie wird nicht unter den Tisch gekehrt. Die künftigen inneren Konflikte der Gemeinde werden benannt (Apg 6,1-7). Ein Herz und eine Seele sein (Apg 4,32) bedeutet nicht, in der Planung des Bösen harmonisch zusammenzuklingen, sondern sich heftigen Streit um die Wahrheit des Geistes zu erlauben (Apg 15,1-41). Todesfälle setzt der Geist Gottes, nicht der Leiter der Gemeinde (gegen Haenchen 1977, 233-235; McCabe 2011, 214-218) und auch nicht die sich durchsetzende Mehrheits- oder Minderheitsmeinung. Bei allen folgenden Konflikten bleibt allerdings ein strafendes Gottesurteil aus: sowohl bei den benachteiligten hellenistischen Witwen (Apg 6,1), als auch beim Martyrium des Stephanus und der Verfolgung der Gemeinde (Apg 7,54-8,3) usw. Für das lukanische Konzept der Offenbarungs- oder Heilsgeschichte ist die eschatologische Erfüllung der alttestamentlichen Verheißungen zentral. Die Reinheit Israels war für einen kurzen Zeitraum in der Urgemeinde durch Geisterfüllung und strafende Gottesmacht uneingeschränkt wiederhergestellt worden. Diese Reinheit bleibt anwesend, erfährt allerdings aufgrund der sich wandelnden geschichtlichen Rahmenbedingungen immer neue Einschränkungen. Die historische Rückfrage behält darin ihr Recht, dass sie den historischen Möglichkeiten einer solchen Konstruktion eines rigorosen Kampfes um die perfekte Reinheit der Gemeinde nachgeht (Roloff 2010, 96). Denn historisch war diese Reinheit von Anfang an durch die Sünde einge155

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schränkt, weil die Gemeinde wie Israel und die Jünger noch unter dem Einfluss von Satan und Sünde steht. Doch die symbolische Geschichtsdarstellung zeigt, wie Gott jederzeit mit einer Machttat eingreifen kann und wie bei der verdeckten Trennung von der geisterfüllten Gemeinde der leibliche Tod bei den isolierten Personen eintreten kann. Wie ein Sünder bei plötzlichem Tod noch Umkehr und Gnade Gottes erfahren kann, bleibt dann Gottes Gericht überlassen (Lk 15,1-32; Apg 17,31).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Kirchenväter deuteten das Vergehen von Hananias und Sapphira als Bruch eines Eides oder Gelöbnisses Gott gegenüber. Das Ehepaar hat Gott die Übereignung des Verkaufserlöses geschworen und diesen Eid gebrochen; daraus folgern die Kirchenväter die Mahnung an die Christen, keinen Meineid zu schwören (Chrys. hom. in Ac. 12, PG 60,99-105; Aug. serm. 148 [98], PL 39,799f.; zit. in Harrill 2011, 368f.). Harrill sieht diese Deutung in der Linie von Lukas und seiner hellenistischen Umwelt; komödiantisch wird die Blamierung von Gottlosigkeit (ἀσέβεια asebeia) erzählt (ebd.). Allerdings ist in Apg 5,1-11 von einem Eid oder einem Gelöbnis keine Rede, und Petrus verweist Hananias ausdrücklich auf sein Recht, die Spende des Verkaufserlöses zu verweigern. Nicht Furcht, sondern Gelächter ist die Reaktion auf eine Komödie. Es geht um die Lüge. Sie gefährdet in der Tat jede religiöse und staatliche Gemeinschaft. Der Verfasser der Apostelgeschichte stimmt zugleich ein melancholisches Lob der Gattentreue an. Diese Melancholie hat bis auf den heutigen Tag die Weltliteratur geprägt: in den Tod führende Gattenliebe gegen Gemeinschaftsnormen und Gottesglauben, im Guten wie im Bösen, angefangen mit Adam und Eva. Shakespeare setzte der Gattentreue bis in den Tod mit »Romeo und Julia« und »Macbeth« gegensätzliche Denkmäler. Die guten Beispiele sind sattsam bekannt: die Patriarchinnen und Patriarchen, Penelope und Odysseus (Hom. Od.); Antigone und Haimon (Sophoc. Ant.), Tristan und Isolde; Romeo und Julia. Die negativen Beispiele sind noch bekannter: Macbeth und seine Frau, Bonny und Clyde, Adolf Hitler und Eva Braun. Die dramatisch erzählte Geschichte von Hananias und Sapphira klingt voll Pathos aus. Die Leidenschaften sind gereinigt, Furcht breitet sich in der Kirche aus bis auf den heutigen Tag. Gattenliebe überwindet den Tod; hybride Gattenliebe aber reißt ganze Gemeinschaften und Völker ins Verderben; göttliches Eingreifen rettet um den Preis des Todes. Detlev Dormeyer

Literatur zum Weiterlesen B. J. Capper, ›In der Hand des Ananias …‹ Erwägungen zu 1QS VI,20 und der urchristlichen Gütergemeinschaft, RdQ 12 (1986), 223-236.

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J. A. Harrill, Divine Judgement against Ananias and Sapphira (Acts 5:1-11). A Stock Scene of Perjury and Death, JBL 130 (2011), 351-369. H.-J. Klauck, Art. Gütergemeinschaft, NBL 1 (1991), 963f. B. Kollmann, Das letzte Hemd hat keine Taschen (Vom reichen Kornbauern) – Lk 12,16-21, in: R. Zimmermann et al. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 564-573. A. Le Donne, The Improper Temple Offering of Ananias and Sapphira, NTS 59 (2013), 346364. D. R. McCabe, How to Kill Things with Words. Ananias and Sapphira under the Prophetic Speech-Act of Divine Judgement (Acts 4.32-5.11), London 2011. B. Reicke, Glaube und Leben der Urgemeinde. Bemerkungen zu Apg. 1-7, AThANT 32, Zürich 1957. U. Wendel, Gemeinde in Kraft. Das Gemeindeverständnis in den Summarien der Apostelgeschichte, Neukirchen-Vluyn 1998.

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Zur Lehre befreit! (Die Befreiung der Apostel aus dem Gefängnis) Apg 5,17-26 (5,17) Der Hohepriester und sein ganzer Anhang, nämlich die Partei der Sadduzäer, standen auf, wurden mit Eifersucht erfüllt (18) und legten Hand an die Apostel und nahmen sie öffentlich in Haft (alternativ: warfen sie ins öffentliche Gefängnis = Staatsgefängnis). (19) Ein Engel des Herrn öffnete aber bei Nacht die Türen des Gefängnisses, führte sie heraus und sprach: (20) »Geht und stellt euch hin und redet im Heiligtum zum Volk alle Worte dieses Lebens!« (21) Als sie es gehört hatten, gingen sie um das Morgengrauen hinein ins Heiligtum und lehrten. Es kam der Hohepriester und sein Anhang herbei und sie riefen das Synedrion und den ganzen Ältestenrat der Söhne Israels zusammen und schickten in den Kerker, damit sie vorgeführt werden. (22) Die Diener, die herbeikamen, fanden sie aber nicht im Gefängnis. Da kehrten sie um, meldeten (23) und sagten: »Den Kerker fanden wir ganz fest verschlossen und die Wächter standen an den Türen. Als wir aber öffneten, fanden wir drinnen niemanden.« (alternativ: als wir aber innen öffneten) (24) Als der Befehlshaber des Heiligtums sowie die Hohenpriester diese Worte hörten, waren sie ihretwegen sehr ratlos, was dies werden möge. (25) Es kam aber jemand herbei und meldete ihnen: »Siehe, die Männer, die ihr ins Gefängnis geworfen habt, stehen im Heiligtum und lehren das Volk.« (26) Da ging der Befehlshaber mit den Dienern weg und führte sie vor – nicht mit Gewalt, denn sie fürchteten das Volk, dass sie gesteinigt würden.

Sprachlich-narratologische Analyse Die Apostel sind in den ersten Kapiteln der Apg in Wort und Tat erfolgreich. Das löst jedoch nicht bei allen Freude aus, entsprechend sind Konflikte vorprogrammiert. So agieren die religiösen Autoritäten in Jerusalem gegen sie (Apg 4) und versuchen, sie durch ein Lehrverbot zum Schweigen zu bringen – erfolglos. Und so kommt es, wie es kommen muss: Die Apostel lehren, missionieren und heilen weiter, so dass das erneute Eingreifen der jüdischen Obrigkeit geradezu provoziert wird (Apg 5; vgl. Jervell 1998, 205). Diesmal werden alle Apostel über Nacht inhaftiert, um am nächsten Morgen verhört zu werden – doch macht ein wunderbares Intermezzo (Pesch 2005, 211: »Zwischenspiel«; Schmithals 1982, 158

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60: »retardierende[r] Einschub«) den jüdischen Autoritäten zunächst einen Strich durch die Rechnung. Die wundersame Befreiung aus dem Gefängnis (inkl. des folgenden Nachspiels, Apg 5,17-26), die auch den Hauptunterschied zwischen den ansonsten sehr ähnlich strukturierten Passagen Apg 5,17-42 und 4,1-31 darstellt, ist eingebettet zwischen einer summarischen Notiz vom erfolgreichen Wirken der Apostel (in 5,17 wird der Einschnitt durch die neue Personenkonstellation deutlich angezeigt) und einer Auseinandersetzung mit den jüdischen Autoritäten (der Übergang von V. 26 zu V. 27 ist fließend; thematisch ist die gewählte Abgrenzung durch den Verhörbeginn gerechtfertigt). Gliedert man Apg 5,17-26 und orientiert sich an den jeweils auftretenden Personen sowie den (vollzogenen oder beabsichtigten) Ortswechseln der Kollektivfigur »Apostel«, so können vier Akte unterschieden werden: Akt 1: Verhaftung der Apostel durch die jüdische Obrigkeit (V. 17f.). Akt 2: Wundersame Befreiung durch den Engel des Herrn inkl. Verkündigungsauftrag (V. 19-21). Akt 3: Vergebliche Suche der jüdischen Seite nach den »Gefangenen«, die in Ratlosigkeit endet (V. 21-24). Akt 4: Wiederfinden der »Gefangenen« aufgrund eines Hinweises (aus der Bevölkerung) (V. 25f.).

Akt 1: Der Hohepriester (inkl. Anhang) opponiert gegen die Apostel, die in der Folge ihren Aufenthaltsort verändern: Akt 1 endet für sie im Gefängnis. Dabei bleiben sie selbst passiv und werden wie eine Spielfigur verschoben. Im Unterschied zu Apg 4,1-3 werden jetzt alle Apostel auf einen Schlag verhaftet, und dieses Mal scheinen keine theologischen (4,2: Lehrtätigkeit an sich, v.a. Auferstehungsbotschaft), sondern niedere Beweggründe für die Inhaftierung vorzuliegen. Ζῆλος (zēlos – Eifer, 5,17) ist vielfältig verwendbar und kann »Faszination, Berührung heiliger Gefühle, verletzte Ehre, Rivalität und Neid, Streitsucht und Reizbarkeit« (Popkes 1992, 248) ausdrücken. Der »Eifer kann eine verwerfliche Form annehmen« (Stumpff 1935, 880). In Apg 5,17 ist, ebenso wie in 7,9; 13,45 und 17,5, »durch Mißgunst bedingte Feindseligkeit [… impliziert; C.S.], wobei auch Halsstarrigkeit, Wut […] mitspielen können« (Popkes 1992, 248). Die jüdische Seite missgönnt den Aposteln den Erfolg und reagiert entsprechend. Ob die Apostel »öffentlich in Haft« gesetzt werden oder »in öffentliche Haft« (Staatsgefängnis = custodia publica), hängt davon ab, wie Apg 5,18 (ἐν τηρήσαι δημοσίᾳ en tērēsai dēmosia) verstanden wird: Wird δημοσίᾳ (dēmosia) als Adjektiv gesehen (so fast alle Kommentare), dann werden die Apostel nicht in irgendein Gefängnis, sondern konkret ins »Staatsgefängnis« gebracht, womit »eine besonders sichere Verwahrung der Gefangenen« (Pesch 2005, 213), »eine bes. schwere Form der Haft« (Zmijewski 1994, 263) betont sein könnte. Liest man δημοσίᾳ (dēmosia) dagegen als Adverb (vgl. Fitzmyer 1998, 334), dann wird der öffentlichkeitswirksame Charakter der Verhaftung unterstrichen: Die Apostel werden nicht im Geheimen gefangen gesetzt, sondern es wird demonstrativ ein Exempel statuiert – evtl. mit 159

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abschreckender Wirkung. Für Letzteres (Adverb) spricht: Zum einen wird δημοσίᾳ (dēmosia) in der Apg ansonsten immer in adverbialem Sinn verwendet (16,37; 18,28; 20,20), zum anderen weiß der Ungenannte von Apg 5,25 über die Verhaftungsaktion Bescheid. Zum Dritten scheint dem Gesamtabschnitt das »Staatsgefängnis« als solches nicht sonderlich wichtig, da im Folgenden andere Begriffe für »Gefängnis« verwendet werden (V. 19.22.25: φυλακή phylakē ‒ V. 21.23: δεσμωτήριον desmōtērion; vgl. Fitzmyer 1998, 335). Und zu guter Letzt lässt sich die bewusst gestaltete Parallelität zu Apg 4,1-3 argumentativ anführen: Ist dort klar, dass sich die Verhaftung in der Öffentlichkeit vor Publikum vollzieht, so muss dieser Aspekt in 5,18 ausdrücklich ins Wort gebracht werden. Akt 2: Der Engel des Herrn tritt in V. 19 ebenso plötzlich aus dem Nichts auf, wie er im weiteren Verlauf auch wieder verschwindet. Er führt die Apostel aus dem Gefängnis heraus und trägt ihnen die öffentliche Rede auf: Mit »Dinge/Worte (ῥήματα rhēmata) dieses Lebens« ist vermutlich die »Botschaft von der Auferweckung Jesu« (Pesch 2005, 214) als Quelle des Heils gemeint (vgl. Apg 2,28; 3,15; 4,12; 5,3032; 13,26; Joh 6,68), wobei vielleicht bewusst mit der Doppeldeutigkeit von ῥῆμα (rhēma – Wort oder Sache/Ding; vgl. Radl 1992) gespielt wird. Die Apostel gehorchen dem Befehl des Engels, womit sie auch in Akt 2 den Ort wechseln, nämlich vom Gefängnis zum Heiligtum. Sprachlich stechen angesichts der ansonsten fast durchgängig verwendeten Aoristformen die wenigen Imperfektformen hervor, die mehr ein andauerndes Tun zum Ausdruck bringen (durativer Aspekt). Dies betrifft u.a. das Lehren der Apostel (V. 21, vgl. Pesch 2005, 214). Mit »Geht! Redet!« begegnen in V. 20 die einzigen Imperative des Abschnitts. Bezieht man den näheren literarischen Kontext mit ein, so finden sich weitere Weisungen an die Apostel nur noch im Mund der jüdischen Obrigkeit – in Verbotsform und mit genau entgegengesetzter Zielrichtung: Die Apostel sollen gerade nicht reden oder lehren (4,18; 5,28.40). Letzteren Aufforderungen schenken die Apostel aber kein Gehör, was die Schwierigkeiten, die sie mit der jüdischen Seite haben, mitverursacht bzw. verschärft. Somit wird zum einen deutlich illustriert, wie die Apostel ihre Maxime »Gott mehr gehorchen als den Menschen« (4,19; 5,29) in die Tat umsetzen (vgl. Zmijewski 1994, 264). Zum anderen ist damit implizit das Ansinnen der jüdischen Seite geradezu als widergöttlich erwiesen. Betrachtet man den zweiten Akt insgesamt sowie die vorkommenden Verbformen, so fällt auf, dass die Befreiung aus dem Gefängnis, also das eigentliche Wunder, äußerst knapp und sprachlich sparsam inszeniert ist: Sie erfolgt en passant in V. 19 unter Verwendung von Partizipien (öffnend, herausführend) und wird damit sprachlich beigeordnet. Ausschmückende Details sucht man vergebens. Akt 3: Für das anstehende Verhör holt sich der Hohepriester gewissermaßen Verstärkung: Das Synedrion und der ganze Ältestenrat der Söhne Israels werden zusammengerufen. Die versammelte Großgruppe – »indicating the full weight of political, legal and religious authority« (Dunn 1996, 68) – will die Apostel vorführen 160

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lassen (erneuter Ortswechsel). Doch erweist sich dies als unmöglich, da die Gefangenen nicht mehr am vermuteten Ort sind. Sprachlich fällt im dritten Akt das leitmotivisch eingesetzte Schlagwort »finden« auf: Die Boten berichten u.a., dass das Gefängnis fest verschlossen war sowie die Wachen auf ihrem Posten vorzufinden waren. Damit scheidet ein gewaltsamer Ausbruch aus, die Gefangenen sind einfach spurlos verschwunden! Und diese Entdeckung lässt die Hohepriester (Plural) und den erstmals auftretenden Tempelhauptmann ratlos zurück. Akt 4: In dieser Situation gibt ein Unbekannter/Ungenannter den entscheidenden Tipp: Die am Vortag verhafteten Männer sind mit »open-air temple evangelism« (Larkin 1995, 92) befasst – sie führen ja den Auftrag des Engels aus. Von Gottes Perspektive aus betrachtet, ist alles in bester Ordnung – für die jüdische Obrigkeit stimmt die Welt nicht mehr! Durch die Predigt der Apostel in der Öffentlichkeit des Tempels wird zum einen einmal mehr unterstrichen, dass wir es nicht mit Ausbrechern zu tun haben. Hier versteckt sich niemand! Zum anderen lässt die Szenerie ironisch schmunzeln: Der Tempelhauptmann ist wegen der verschwundenen Gefangenen völlig ratlos, während diese direkt vor seiner Nase genau in seinem Verantwortungsbereich öffentlich für Aufsehen sorgen (vgl. Zmijewski 1994, 258). Schlussendlich werden die Apostel dann doch noch in die Versammlung gebracht, womit der letzte Ortswechsel perfekt wäre. Hinsichtlich der Textpragmatik ist zu berücksichtigen, dass die wunderbare Befreiung aus dem Gefängnis selbst narrativ äußerst kurz kommt und beim anschließenden Verhör vor der jüdischen Obrigkeit keinerlei Rolle spielt. Das Hauptinteresse von Apg 5,17-26 besteht offensichtlich nicht darin, eine gottgewirkte Rettung dramatisch zu inszenieren, zumal sich die Apostel am Ende ja doch vor dem Hohen Rat verantworten müssen. Natürlich schwingt auch mit, dass Gott die Zeugen nicht im Stich lässt, dass Wegsperren nichts nützt. Gott befreit aus Haft – allerdings nicht immer, wie der Blick in Apg 4 lehrt. Und wie eine Erzählung auszusehen hat, für die die Rettungsdimension zentral ist, zeigt Apg 12 geradezu mustergültig. Doch worin besteht dann die Hauptintention der vorliegenden Episode? Es geht um die Frage nach Legitimität und Illegitimität: Das Vorgehen der jüdischen Seite gegen alle Apostel, das aus »Neid/Eifersucht« erfolgt, wird als inakzeptabel erwiesen. Gleichzeitig werden alle Apostel in ihrem Tun bestätigt – und zwar von allerhöchster Stelle: Ihre Konflikte verursachende Lehrtätigkeit ist nicht eitles Menschenwerk, die Apostel sind nicht streitsüchtig oder uneinsichtig, sondern Gott selbst hat sie in Gestalt des Engels zur öffentlichen Predigt beauftragt. Darauf zielt Apg 5,17-26 ab, denn die Befreiung dient in erster Linie dazu, dass die göttlich gebotene Verkündigung in die Tat umgesetzt werden kann (vgl. Larkin 1995, 92; Kratz 1979, 486 macht mit Blick auf Apg 16,23-34 folgende Alternative auf: »nicht Befreiung von, sondern Befreiung für«): »prison-escape is not just a release from prison, but also a release for proclamation« (Weaver 2004, 286). Die Befreiung ist somit Mittel zum Zweck. Entsprechend ist für die Apostel ihr Ver161

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halten alternativlos. Die Sache der Apostel ist wirklich »aus/von Gott« und nicht »aus/von Menschen«. Die wunderbare Befreiung nimmt somit die Antwort auf die Alternativsetzung Gamaliels (5,38f.) bereits vorweg (vgl. Kratz 1979, 455.496f.; Hintermaier 2003, 185f.). Und den informierten Lesern(innen) steht in der Folge auch klar vor Augen, dass sich die jüdischen Oberen durch ihr Vorgehen gegen die Apostel letztendlich als Kämpfer gegen Gott (θεομάχοι theomachoi) selbst disqualifizieren (vgl. Apg 5,39).

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext In sozial- bzw. realgeschichtlicher Hinsicht sind zunächst die jüdischen Autoritäten genauer zu betrachten. Wer opponiert hier gegen die Apostel? An erster Stelle ist im Text der Hohepriester (Singular) genannt, der zum einen mit kultischen und religiösen Aufgaben betraut ist. Er ist »der höchste Würdenträger und Kultrepräsentant des jüdischen Volkes« (Backhaus 2010), auch wenn das Amt im 1.  Jh. n.  Chr. gegenüber früheren Zeiten deutlich an Glanz, Autorität und Macht eingebüßt hat und »weitgehend der Kontrolle der säkularen politischen Gewalt unterworfen« (Ådna 1999, 91) ist. Als Priester ist er v.a. bei repräsentativen rituellen Vollzügen im Einsatz, als »Höhepunkt des kultischen Wirkens« (Backhaus 2010) ist das Sühnopfer am Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag (vgl. Lev 16), anzusehen. Zum anderen aber steht er zur Zeit der römischen Präfekten bzw. Prokuratoren in Judäa (ab 6 n. Chr.) in politischer Hinsicht dem Synedrion vor und vertritt das jüdische Volk gegenüber den Römern (vgl. Kellermann 1992a, 396): Die jeweiligen Hohepriester sind »the supreme representatives of the nation vis-à-vis the Romans even in political matters« (Schürer/ Vermes 1979, 275). Er ist somit auch »head« bzw. »political leader of the nation« (a. a. O., 215.227.275). Namentlich wird der Hohepriester in Apg 5 nicht näher bestimmt; in 4,6 wird Hannas vor Kaiphas genannt (Lk 3,2 erwähnt beide zusammen). Historisch gesehen ist Kaiphas von 18 bis 36/37 n.  Chr. und damit auch für die Apg 5,17-26 zugrunde liegende realgeschichtliche Situation amtierender Hohepriester (vgl. Flav. Jos. Ant. 18,26.33-35.95), doch scheint Hannas (Hohepriester: 6-15 n. Chr.) auch nach seiner Absetzung noch Einfluss gehabt zu haben (vgl. Joh 18,13; vgl. Kellermann 1992a, 395). Allerdings kommt es Apg 5 auf den konkreten Kandidaten gar nicht an: »Eher als individuelle Züge zeichnen sich hier theologische Kontrastsetzungen ab« (Backhaus 2010). Der Hohepriester tritt in Apg 5 mit (seinem) Anhang auf, der als »Partei der Sadduzäer« (αἵρεσις τῶν Σαδδουκαίων hairesis tōn Saddoukaiōn) näher bestimmt wird. Mit αἵρεσις (hairesis) wird in der Antike eine »Schulmeinung, Schule, (Religions-)Partei ohne negativen Akzent« (Baumbach 1992, 96) bezeichnet. Es handelt sich um »freiwillige Zusammenschlüsse […], im griech. Sinne privatrechtliche Vereine« (Baumbach 1992, 96), bzw. um »religiöse Interessengruppe[n] innerhalb des Judentums« (Roloff 2010, 102). Flavius Josephus unterscheidet drei bestim162

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mende jüdische Gruppierungen: Pharisäer – Sadduzäer – Essener (vgl. Flav. Jos. Ant. 13,171; 18,11; Flav. Jos. Bell. 2,119; zur »vierten Philosophie« vgl. Flav. Jos. Ant. 18,9). Für die Gruppe der Sadduzäer ist in religiöser Hinsicht bedeutsam, dass sie die Unsterblichkeit der Seele sowie, damit verbunden, den Glauben an Auferstehung und Jenseits(gericht) ablehnen (Flav. Jos. Bell. 2,165; Flav. Jos. Ant. 18,16). Somit ist stimmig, dass gerade die Sadduzäer über die Auferstehungsverkündigung der Apostel aufgebracht sind (Apg 4,2), so wie sie ja auch als Streitpartner Jesu bezüglich dieser Frage in Erscheinung treten (Lk 20,27-38). In sozialer Hinsicht repräsentieren sie die reiche Oberschicht der Priesteraristokratie (Flav. Jos. Ant. 13,298; 18,17). Zusammen mit den Sadduzäern schafft der Hohepriester in Apg 5,21 einen hochoffiziellen Rahmen für das anstehende Verhör, indem er und sein Anhang das Synedrion und den ganzen Ältestenrat der Söhne Israels (γερουσία τῶν υἱῶν Ἰσραήλ gerousia tōn hyiōn Israēl) zusammenrufen. Ob hiermit eine Gruppe gemeint ist im Sinne von ›das Synedrium, das heißt der ganze Ältestenrat‹ (das ›und‹ wäre dann ein epexegetisches, ein καί-explikativum, vgl. z.B. Eckey 2011, 207), oder ob zwei Gruppen vor Augen stehen, ist nicht letztgültig zu klären. Zeitgeschichtlich korrekt ist die erste Variante, da Synedrion und Ältestenrat im 1. Jh. n. Chr. identisch sind (vgl. Billerbeck 1924, 636; Schürer/Vermes 1979, 206 Anm. 17): Seit Herodes dem Großen heißt der Ältestenrat (Γερουσία Gerousia), das in den alttestamentlichen Überlieferungen zentrale Beratungs- und Entscheidungsgremium (vgl. u.a. Ex 3,16; 4,29; Jdt 15,8), nämlich Synedrion. Ggf. handelt es sich somit um einen »sachliche[n] Fehler« (Roloff 2010, 102) des Autors. Das Synedrion ist die »höchste jüd. Gerichts- und Verwaltungsbehörde in Jerusalem« (Kellermann 1992b, 718), bestehend gemäß Num 11,16 aus 70 + 1 Personen. Dabei handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um ein demokratisch gewähltes Gremium, sondern um ein aristokratisch verfasstes Organ (Mitgliedschaft per Ernennung und Handauflegung, vgl. Schürer/Vermes 1979, 211). Den Vorsitz führt, wie bereits erwähnt, der Hohepriester (trotz anders lautender Behauptungen in der rabbinischen Tradition). Zu den Kompetenzen gehören im 1. Jh. n. Chr. u.a. die (religiöse) Gerichtsbarkeit in Jerusalem, die Tempelaufsicht sowie Entscheidungen in religiösen Fragen inkl. Polizeigewalt in begrenztem Umfang, allerdings ohne das ius gladii (vgl. insgesamt Kellermann 1992b, 719). »Dem Synhedrium oblag die Kult- und Rechtspflege« (Backhaus 2010), wobei die realen Machtbefugnisse dieses Gremiums in der Forschung strittig sind. Bei der in Apg 5,24 erwähnten Gruppe »Hohepriester« (im Plural!) handelt es sich um die vermutlich einflussreichste Teilgruppe des Synedrions, da sie fast immer in Erstposition genannt werden (vgl. Schürer/Vermes 1979, 212 inkl. Anm. 43). Der Begriff bezeichnet die Jerusalemer Priester- und Tempelaristokratie (vgl. Ådna 1999, 92f.). Diese Hohepriester üben »als geistliches Gerichts- und Polizeiorgan sowie administratives Konsistorium am Tempel« (Kellermann 1992a, 395) u.a. ordnungspolitische Funktionen aus und können entsprechende Maßnahmen ergreifen – rund um den Tempel und im Zusammenhang mit religiösen (Streit-) 163

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Fragen. Vor diesem Hintergrund ist sowohl ihre mögliche Beteiligung an Prozess und Verurteilung Jesu zu sehen (vgl. Lk 22,2.4.52.66; 23,4.10.13; 24,20) als auch ihre Opponentenrolle gegen die Apostel in Apg 5. Zu guter Letzt wird noch der Tempelhauptmann (στρατηγός τοῦ ἱεροῦ stratēgos tou hierou, Apg 5,24.26) aktiv. Στρατηγός (stratēgos) bezeichnet ursprünglich einen Heerführer, der Terminus wird aber in der Antike in weiterem Sinne »eine der häufigsten Bezeichnungen für führende provinzielle oder städtische Beamte« (Bauernfeind 1964, 704) überhaupt. Der in Apg 4f. auftretende »Tempeloberst« (Billerbeck 1924, 628) ist »der Inhaber der obersten polizeilichen Gewalt im Tempel« (Ådna 1999, 94). Er stammt aus den Reihen der Priester und kommt rangmäßig direkt nach dem Hohepriester (vgl. Schürer/Vermes 1979, 277f.; Billerbeck 1924, 628; Backhaus 2010). Hier haben wir es mit dem Hauptverantwortlichen für die (äußere) Ordnung des Tempels zu tun: »he had supreme charge of order in and around the Temple« (Schürer/Vermes 1979, 278). Dass ihm in Apg 5,25 die Lehrtätigkeit der gesuchten Apostel in aller Öffentlichkeit im Tempel erst von einem Unbekannten hinterbracht werden muss, gibt ihn der Lächerlichkeit preis und weist ihn auf der Ebene der Erzählung als eine Figur aus, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. Alles in allem ist die Gegnerfront, mit der sich die Apostel in Apg 5 auseinanderzusetzen haben, die im 1. Jh. n. Chr. maßgebliche jüdische Obrigkeit in Jerusalem, »the corporate ›powers-that-be‹ in Jerusalem; […] the Jewish political establishment« (Weaver 2004, 131). Deren Machtbefugnisse und Möglichkeiten werden zwar im Detail kontrovers diskutiert, unstrittig ist aber, dass das in Apg 5 erzählte Vorgehen gegen die Apostel grundsätzlich plausibel und denkbar ist. Neben den Opponenten der Apostel sind in sozial- bzw. realgeschichtlicher Hinsicht noch die Orte der Handlung einen näheren Blick wert. Beim Heiligtum/Tempel (ἱερόν hieron) handelt es sich um den durch Herodes den Großen völlig umgestalteten und erweiterten Jerusalemer Tempel als »Heiligen Bezirk«, das Zentralheiligtum des Judentums. Dabei ist an die weitläufige Anlage einschließlich Säulenhallen und -umgänge, an den »gesamten Tempelbereich mit seinen Gebäuden, Höfen usw.« (Bauer 1988, 756) zu denken. Eine Verengung auf das Tempelhaus im engeren Sinne (meist mit ναός naos bezeichnet) ist nicht sinnvoll, auch wenn »[e]ine eindeutige [terminologische; C. S.] Abgrenzung […] nicht möglich ist« (Borse 1992, 430). Wo wir uns die lehrenden Apostel genau vorzustellen haben, bleibt offen; die Säulenhallen rund um das Areal bieten dafür ausreichend Raum. Der Versammlungsort von Hohepriester und Synedrion wird im Text nicht konkretisiert. Gemäß Josephus tagt das Synedrion »in der βουλή [boulē; C. S.] (Bell. 5,144) oder dem βουλευτήριον [bouleutērion; C. S.] (6,354) der Oberstadt« (Kellermann 1992b, 719), wobei wir diesen Tagungsort vermutlich noch auf dem Tempelgelände selbst zu suchen haben (vgl. Schürer/Vermes 1979, 223-225). Die dritte Lokalität des Textes, das Gefängnis oder der Kerker, in dem die Apostel bis zur wundersamen Befreiung inhaftiert sind, wird mit drei Begriffen benannt: τήρησις tērēsis (V. 18), φυλακή phylakē (V. 19.22.25), δεσμωτήριον desmōtērion 164

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(V. 21.23). Damit ist der »Aufbewahrungsort von Delinquenten […], freilich auch eine Stätte, an der man unliebsame Personen außer Gefecht setzen kann« (Kratz 1991, 757; ders. 1992b, 1055), bezeichnet. Eine konkrete Lokalisierung in Jerusalem ist kaum möglich.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund In Apg 5,17-26 erfolgt eine wunderbare Befreiung aus dem Gefängnis. Vergleichbare Erzählungen sind auch in der Umwelt des NT zu finden: Hier sind v.a. Dionysos-Stoffe relevant (vgl. Eurip. Ba.; Nonn. D.); zu verweisen ist außerdem auf Philostrat (Philostr. vit. Ap. 7,38 und 8,30) sowie auf den Moseroman des Artapanos (vgl. insgesamt Weinreich 1929, 280-341; Kratz 1979, 374-395; Hintermaier 2003, 13-48; Weaver 2004, 29-91). Die gattungs-/formkritische Forschung hat auf dieser Basis eine Klassifizierung der Episode als »Rettungswunder« (Theißen 1998, 107-111; allerdings findet sich Apg 5,17-26 a.a.O., 318 im Stellenregister zu »Rettungswundern« nicht), »Befreiungswunder« (Weinreich 1929, 280-341; Weiser 1989, 153.156; Eckey 2011, 206) bzw. »Türöffnungswunder« (Dormeyer/Galindo 2003, 90f.; Jeremias 1938, 175f.: »Türwunder«) vorgenommen (vgl. Kratz 1979, 351-545; ders. 1992a, 397f.). Dabei fällt auf, dass vom meist angeführten gattungstypischen Inventar nur ausgewählte Elemente vorliegen: Inhaftierung (5,18; der Botenbericht in V. 23 trägt Details zur Haftsituation nach); wunderbare Befreiung nachts (5,19); indirekte Konstatierung des Wunders durch Ausführung des Auftrags (5,21; vgl. 5,25) und Demonstration/ Beglaubigung durch die vergebliche Suche (5,22f.). Ein mythenkritischer Zugang, der durch den Vergleich einen gemeinsamen »micromyth« (vgl. Weaver 2004, 22-27) herausarbeitet, bietet demgegenüber den Vorteil, dass sowohl das Gemeinsame als auch das Unterscheidende dieser Erzählungen stärker in den Blick kommt. Dabei sind besonders die sozialen und politischen Funktionen von Mythen interessant. Apg 5,17-26 ist zu den »Resistance Myths« (»Epiphanic Rescue from Prison«, vgl. Weaver 2004, 282) zu zählen. Bezüglich des Sitzes im Leben ist Folgendes einschlägig: Im Mittelpunkt stehen Auseinandersetzungen im religiösen Kontext, wobei sich eine neue Religion, ein neuer Kult oder eine neue religiöse Strömung (vgl. J. Schäfer 2010, 218 inkl. Anm. 112) am Ende als überlegen erweist. Es geht bei der »Rettung aus feindlicher Macht, die sich in politischer oder religiöser Freiheitsbehinderung äußert« (Kratz 1979, 351), um »Beglaubigung, Bestätigung, Werbung« (a.a.O., 393). »In der Befreiung ihrer Verkündiger erweist die Gottheit ihre Macht als Abschreckung für Außenstehende und Gegner, aber gleichzeitig als Ermutigung ihrer Anhänger […] durch den Erweis, daß sie in Not und Gefahr nicht im Stich gelassen werden« (a.a.O., 441). Kurz: »missionarische Werbung, […] Missionspropaganda, in der Regel für eine neue Religion, einen neuen Kult, die sich erst durchsetzen müssen« (ebd.; vgl. a.a.O., 493f.). Befreiungswunder dienen »zur Legitimation der 165

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göttlichen Sendung der wunderbar Geretteten« (Weinreich 1929, 309), sie sind »propagandistic tales« (Weaver 2004, 91). Gleichzeitig werden die Opponenten als Kämpfer gegen Gott (θεομάχοι theomachoi) disqualifiziert (vgl. a.a.O., 136-144). Für Apg 5,17-26 bedeutet dies konkret, dass die Episode verstanden werden kann als »charter for the establishment of the Christian movement at the geographical heart of Judaism« (a.a.O., 147). Vor dem außerbiblischen Vergleichshintergrund werden aber auch die Besonderheiten von Apg 5,17-26 deutlich, die sich vermutlich der Einpassung in einen jüdisch-alttestamentlich geprägten Kontext verdanken: Den Engel des Herrn (ἄγγελος κυρίου angelos kyriou) als befreienden Akteur kennen nur Apg 5,19f. und 12,7-10 (jeweils Jerusalem!), außerbiblisch ist er bei Befreiungswundern unbekannt und in Apg 16,23-26 (Philippi!) kommt er ebenfalls nicht vor. In gut alttestamentlicher Tradition (vgl. z.B. Gen 16,7-12; 22,11.15; Ex 3,2) tritt der Engel des Herrn im lukanischen Doppelwerk immer wieder als Bote Gottes in Erscheinung (Lk 1,11; 2,9; Apg 8,26; 10,3), einmal auch strafend (Apg 12,23). Beachtenswert ist nun, dass der Engel Gottes (ἄγγελος τοῦ θεοῦ angelos tou theou) im Rahmen des Exodus begegnet (Ex 14,19). Exodusassoziationen werden zudem in Apg 5,19 durch das Verb »herausführen« wachgerufen, da dieses Verb im AT oft als terminus technicus für das befreiende Handeln Gottes im Exodus verwendet wird (vgl. Radl 1983, 89f.). Folglich kann gesagt werden: »In der Befreiung der Apostel verdichtet sich Gottes eschatologisches Heilshandeln an seinem Volk« (Pesch 2005, 222). Diesbezüglich bietet zwar Apg 12,7-17 viel deutlichere Anknüpfungspunkte (vgl. Radl 1983, 87-91; vgl. auch Roose zu Apg 12,1-11 in diesem Band), doch kommt mit Blick auf Apg 5,17-26 noch eine wichtige Beobachtung hinzu, die ebenfalls auf den Exodus verweist. Diese gewinnt zusätzlich an Gewicht, wenn bedacht wird, dass zahlenmäßig nur wenige Belege für »Ältestenrat der Söhne Israels« in der LXX (Ex 3,16; 4,29; 12,21; Jdt 15,8 – im NT nur Apg 5,21) begegnen (dass das Stichwort »Ältestenrat« auf den Exodus verweisen könnte, notiert kurz Pesch 2005, 222): In Ex 12,21 (diesen Vers nennt auch Jervell 1998, 206) ruft Mose den ganzen Ältestenrat der Söhne Israels ‒ und zwar vor der Herausführung des Volkes aus Ägypten; in Apg 5,21 ruft der Hohepriester mit seinem Anhang den ganzen Ältestenrat der Söhne Israels zusammen – und zwar nach der Herausführung der Apostel aus dem Gefängnis. Folglich ist – für traditionsgeschichtlich Eingeweihte dechiffrierbar ‒ der Hohepriester eindeutig zu spät dran. Sein Zusammenrufen wird erfolglos bleiben, da sich das befreiende (Heils-)Handeln Gottes bereits ereignet hat. Nutznießer der Intervention Gottes sind alle Apostel, die dadurch als rechtmäßige Gesandte Gottes ausgewiesen sind.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Bei einer historisierenden Deutung sind mit Blick auf die beiden Apostelinhaftierungen in Apg 4f. grundsätzlich zwei Möglichkeiten denkbar: a) Es handelt sich 166

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um zwei zu unterscheidende Ereignisse, sprich die Apostel sind zweimal eingesperrt, verhört und bestraft worden. Vor dem Hintergrund der damals im jüdischen Kontext geltenden strafrechtlichen Bestimmungen (vgl. Jeremias 1966, 242-247) könnten die beiden Aktionen der jüdischen Obrigkeit gewissermaßen aufeinander aufbauen: Auf die Verwarnung (Apg 4) folgt die Bestrafung (Apg 5). Erstere »hat den Charakter eines Gerichtsurteils und bildet die notwendige Voraussetzung für ein etwaiges späteres und dann strengeres Verfahren« (Bornhäuser 1934, 58), denn »[e]rst durch die Verwarnung entsteht die Strafbarkeit einer Gesetzesübertretung« (Jeremias 1966, 243). Somit wären die Apostel zunächst zurechtgewiesen worden, wohingegen das Vorgehen der jüdischen Autoritäten gegen sie in Apg 5 dann die notwendige Konsequenz aus der Nichtbefolgung der Auflagen (Lehrverbot) wäre. Bei dieser Deutungsvariante findet die wundersame Befreiung aus dem Gefängnis keine weitere Beachtung. b) Es handelt sich um ein und dasselbe Ereignis, sprich Apg 5 ist in literarischer Hinsicht eine Art Dublette von Apg 4. Bei dieser Einschätzung wird Apg 4 als die realistisch-rationale, in historischer Hinsicht glaubwürdige Erzählversion beurteilt, Apg 5 stellt hierzu eine um ein wundersames göttliches Eingreifen erweiterte aretalogische Variation dar. Entsprechend ist das wunderbare Eingreifen Gottes als literarische Anreicherung zu verstehen. Eine mögliche rationalistische Deutung findet sich bei J. D. G. Dunn: »But we cannot exclude the possibility that the matter of fact account is a way of hinting that ›the angel or messenger (same word) of the Lord‹ was actually an early sympathizer with the new movement within the prison staff« (Dunn 1996, 68). Auch bei dieser Deutung wird das Wunder gewissermaßen wegerklärt und die Befreiung der Apostel auf Fluchthelfer aus den Reihen der Gefängnismitarbeiter zurückgeführt. Erst die Überlieferung macht aus diesem menschlichen Adjuvanten einen Engel des Herrn und verschiebt das gelungene Entkommen in die Sphäre des Wunderbaren. Damit ist Apg 5 nicht nur hinsichtlich des Wundercharakters entzaubert, sondern in der Folge entfällt auch die oben herausgearbeitete göttliche Legitimierung der Lehrtätigkeit der Apostel. Sucht man speziell nach einem möglichen Sinn des Wunders als Wunder, so hilft eine form- und religionsgeschichtliche Herangehensweise weiter. Diese klassifiziert Apg 5,17-26 gattungskritisch als Befreiungswunder bzw. mythenkritisch als »resistance myth« und vor diesem Hintergrund können Sitz im Leben, Pragmatik sowie Besonderheiten im Vergleich mit der einschlägigen Umweltliteratur herausarbeitet werden (s.o.). Auch kann ein überlieferungs- und redaktionsgeschichtlicher Blick weiterführend sein. Im Rahmen von Apg 1-7 kann Apg 5,17-26 folgende Rolle spielen: »The prison-escape thus contributes to Luke’s broader narration of the god-directed foundation of the Jerusalem church and the official opposition to its expansion« (Weaver 2004, 131). Weitet man den Fokus und betrachtet Apg 5,17-26 im noch größeren Rahmen von Apg bzw. lukanischem Doppelwerk, so sind folgende theologische Akzentsetzungen erkennbar: Erstens treten die Apostel als Inhaftierte in die Fußstapfen Jesu (Lk 167

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22,47-54; Hintermaier 2003, 80-88; Weaver 2004, 129 Anm. 132). Den Schülern ergeht es somit so wie dem Meister, sie stehen nicht über ihrem Lehrer (vgl. Lk 6,40). Zweitens erfüllen sich im Schicksal der Apostel ‒ positive wie negative ‒ Ankündigungen Jesu für seine Nachfolger (vgl. Lk 12,11f.; 21,12f.; Hintermaier 2003, 88-99.182f.), auch wenn im Munde Jesu nie explizit von der Befreiung aus dem Gefängnis die Rede ist (dies sieht Hintermaier 2003, 97.185 impliziert). Würden die Apostel nicht inhaftiert, so wäre Jesus Lügen gestraft. Und drittens ist innerhalb der Apg das kompositionelle Moment der Steigerung zu entdecken: »Je mehr sich das Evangelium ausbreitet, desto mehr spitzt sich auch der Konflikt zu« (Zmijewski 1994, 262; vgl. Stählin 1978, 89f.; Spencer 2004, 69). Ob Lukas die Episode Apg 5,17-26 selbst geschaffen oder zumindest maßgeblich gestaltet hat, ggf. als »freie Variation« (vgl. Roloff 2010, 100) zu Apg 12,3-11, kann erwogen werden (Kratz 1979, 448 Anm. 9: »eine literarisch konstruierte, von Lukas geschaffene Dublette«; vgl. Weiser 1989, 154-159), ein sicheres exegetisches Urteil ist diesbezüglich jedoch nicht möglich. Eine befreiungstheologische Deutung (Dormeyer/Galindo 2003, 91-94) betont, dass Apg 5,17-26 zum einen Hoffnung spenden, zum anderen zu (passivem wie aktivem) Widerstand ermutigen kann. Positive Identifikationsgröße ist dabei die Gruppe der Apostel, die jüdische Obrigkeit stellt die negative Kontrastfolie dazu dar. Während die jüdische Seite den »Rechtsfrieden« aufgrund von Eifersucht und Neid bricht und rechtswidrig durch terrorähnliche Repressalien die Apostel zum Schweigen bringen will, stellt Gott »durch sein Eingreifen die Würde der Apostel als freie Bürger des Tempelstaates Judäa wieder her« (Dormeyer/Galindo 2003, 91). Der drohende »Justizmord« wird durch die göttliche Intervention verhindert. Apg 5,1726 deckt somit »ungerechtfertigte Gewalt« auf, und die komödiantische Episode macht eines deutlich: »Nichts fürchten Mächtige mehr als die Lächerlichkeit in der Öffentlichkeit und die Aufhebung des Terrors durch Rechtstaatlichkeit« (a.a.O., 92). Entsprechend kann die Lektüre von Apg 5,17-26 dazu ermutigen, im Vertrauen auf die unterstützende Hilfe Gottes dort Widerstand zu leisten, wo Staatsterror im Mantel der Rechtlichkeit die freie Rede zu unterbinden sucht. Ein Klima der lähmenden Angst ist nicht hinnehmbar – und dabei hat man Gott auf seiner Seite! Zu guter Letzt unterbreitet die tiefenpsychologische Deutung ein mögliches Verstehensangebot. Dabei wird das Gefängnis bzw. der Kerker als »Bild einer inneren Gefangenschaft« (Drewermann 1985, 339) verstanden (Drewermann widmet sich aber nur der Petrusbefreiung in Apg 12; vgl. Roose zu Apg 12,1-11 in diesem Band) und auf mögliche therapeutische Dimensionen der Befreiungsgeschichte verwiesen. Die Erzählung von der wunderbaren Befreiung der Apostel kann in der Folge fruchtbar gemacht werden für eigene Schritte hin zu einer Befreiungserfahrung.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Zur Parallelität von Apg 5,17-26 und Apg 4,1-31 ist bereits einiges gesagt worden. Und die weiteren Befreiungswunder der Apg (Apg 12,1-10: Petrus; Apg 16,23-40: 168

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Paulus und Silas) mit ihrer je eigenen Aussageintention werden für sich im Rahmen des Kompendiums bearbeitet (vgl. Roose zu Apg 12,1-11 und Omerzu zu Apg 16,19-40 in diesem Band). Mit Blick auf den weiteren Traditionsstrom kann konstatiert werden, dass Apg 5,17-26 mit zum Urgestein gehört, wobei sich Befreiungswunder besonders im Rahmen apokrypher/hagiographischer Apostelüberlieferungen großer Beliebtheit erfreuen (vgl. Weinreich 1929, 420-436; vgl. Zimmermann zu ActThom 119-123 in diesem Band). Außerdem wird im 4. Jh. n. Chr. Apg 5,17-33 von Johannes Chrysostomus aufgegriffen und im Rahmen seiner 13. Homilie zur Apg ausgelegt und zur Grundlage einer Predigt gemacht (Chrys. hom. in Ac. 13; PG 60,105-112). Dabei hebt Johannes Chrysostomus hervor, dass die wundersame Befreiung ‒ als historisches Geschehen verstanden ‒ eine doppelte Intention verfolgt: Trost/Zuspruch (παραμυθία paramythia) für die Jünger, Nutzen (ὠφέλεια ōpheleia) und Unterweisung (διδασκαλία didaskalia) für die anderen. Und er bringt mehrfach explizit ins Wort, dass sich die jüdische Obrigkeit durch ihr (verstocktes) Verhalten den Aposteln gegenüber als Kämpfer gegen Gott (θεομάχοι theomachoi) erweist. Schlussendlich ruft er seine Hörer(innen) u.a. zur Nachahmung der unerschrockenen Apostel auf, die sich nicht einschüchtern und auch nicht mundtot machen lassen. Denn wer Gott fürchtet, der braucht sonst nichts und niemanden zu fürchten! In diesem Zusammenhang greift er natürlich auch das Wort vom größeren Gehorsam Gott gegenüber (Apg 5,29) auf, das in der weiteren Rezeptionsgeschichte vielfältig aufgenommen und argumentativ in den unterschiedlichsten Zusammenhängen verwendet wird (vgl. Pesch 2005, 222-224). Abschließend soll eine heutige junge alltagsexegetische Stimme zu Wort kommen: Apg 5,17-26 kann im Horizont von interreligiösem Dialog und Umgang mit anderen Glaubensrichtungen als Plädoyer für eine von grundsätzlichem Gottvertrauen getragene »ehrliche, respektvolle Auseinandersetzung mit dem Gegenüber« gelesen werden. Pointe: »etwas anderes, etwas Neues [kann man] nicht so einfach wegschließen […] – zumindest nicht auf Dauer« (Pernack 2009, 94-96). Christian Schramm

Literatur zum Weiterlesen J. Hintermaier, Die Befreiungswunder in der Apostelgeschichte. Motiv- und formkritische Aspekte sowie literarische Funktion der wunderbaren Befreiungen in Apg 5,17-42; 12,1-23; 16,11-40, BBB 143, Berlin 2003. R. Kratz, Rettungswunder. Motiv-, traditions- und formkritische Aufarbeitung einer biblischen Gattung, EHS.T 123, Frankfurt a.M. 1979. J. Schäfer, Zur Funktion der Dionysosmysterien in der Apostelgeschichte. Eine intertextuelle Betrachtung der Berufungs- und Befreiungserzählungen in der Apostelgeschichte und der Bakchen des Euripides, ThZ 66 (2010), 199-222. J. B. Weaver, Plots of Epiphany. Prison-Escape in Acts of the Apostles, BZNW 131, Berlin 2004.

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

O. Weinreich, Türöffnung im Wunder-, Prodigien- und Zauberglauben der Antike, des Judentums und Christentums, in: F. Focke et al. (Hg.), Genethliakon, FS W. Schmid, TBAW 5, Stuttgart 1929, 200-464.

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Konfrontation von Wunder und Magie (Philippus in Samaria – Simon der Zauberer) Apg 8,6-8.13.39f. (8,6) Scharen von Menschen hingen dem an, was Philippus sagte, denn sie waren selbst Augenzeugen der Wunder, die er tat. (7) Sie hatten bei vielen Besessenen miterlebt, wie Dämonen mit lautem Geschrei von ihren Opfern abließen, und hatten gesehen, wie viele Gelähmte und Verkrüppelte geheilt wurden. (8) Darüber herrschte große Freude in der Stadt. (9) Nun hatte schon vorher ein Mann namens Simon in der Stadt gelebt, der Zauberei betrieb. Er behauptete, ein großer Magier zu sein, und hatte das Volk von Samarien in seinen Bann gezogen. (10) Alle waren von ihm eingenommen, Groß und Klein. »Dieser Mann ist die ›Große Kraft‹ Gottes«, sagten sie. (11) Sie waren ganz von ihm abhängig, weil er sie lange Zeit mit seiner Zauberei beeindruckt hatte. (12) Doch jetzt, als Philippus ihnen die Botschaft vom Reich Gottes verkündete und über Person und Werk [wörtlich: »den Namen«] von Jesus Christus sprach, wandten sie sich ihm im Glauben zu, und Männer und Frauen ließen sich taufen. (13) Sogar Simon selbst kam zum Glauben. Er wurde getauft und schloss sich eng an Philippus an. Die großartigen Zeichen und Wunder ließen ihn nicht mehr aus dem Staunen herauskommen. […] (18) Als aber Simon sah, dass durch die Handauflegung der Apostel der Heilige Geist gegeben wurde, brachte er ihnen Geld (19) und sagte: »Gebt auch mir diese Macht, damit auch bei mir jeder den Heiligen Geist bekommt, dem ich die Hände auflege!« (20) »Zur Hölle mit dir und deinem Geld! [wörtl.: Dein Geld gehe mit Dir ins Verderben]«, fuhr Petrus ihn an. »Glaubst du wirklich, du kannst die Gabe Gottes kaufen? (21) Nein, du hast weder Anteil noch Erbe an dieser Macht; denn dein Herz ist nicht aufrichtig vor Gott! (22) Bereue doch deine Verschlagenheit und bete zum Herrn! Vielleicht findest du Vergebung für die tückischen Absichten deines Herzens. (23) Ich sehe nämlich, dass dein Denken durch und durch vergiftet ist und dass du völlig an das Böse gekettet bist.« (24) Da bat Simon die Apostel: »Bitte betet doch für mich zum Herrn! Betet bitte, dass nichts von dem eintrifft, was ihr mir angedroht habt!« (25) Nachdem Petrus und Johannes nun die Botschaft von Jesus als dem Herrn bezeugt und bekannt gemacht hatten, kehrten sie nach Jerusalem zurück. Unterwegs verkündeten sie das Evangelium noch in vielen anderen Städten Samariens. (39) Als sie aber wieder aus dem Wasser stiegen, wurde Philippus plötzlich vom Geist des Herrn ergriffen und an einen anderen Ort versetzt, und der Äthiopier sah ihn nicht mehr. Trotzdem erfüllte ihn tiefe Freu171

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de, als er nun seine Reise fortsetzte. (40) Philippus aber fand sich plötzlich in Aschdod wieder. Er zog von Stadt zu Stadt und verkündigte überall das Evangelium, bis er schließlich nach Cäsarea kam.

Sprachlich-narratologische Analyse Unser Text nimmt uns im ersten Abschnitt (V. 4-13) mit hinein in die prickelnde Konfrontation zwischen einem heidnischen Zauberer und Philippus, hier der Prototyp des von Gott her mit so gewaltiger übernatürlicher Macht begabten christlichen Missionars, dass deren schierer Umfang den paganen Hexer derartig in seinen Bann schlägt. Er bringt diesen nicht nur zum Staunen, sondern sogar zum Glauben und zur Taufe. Der Spannungsbogen setzt dann aber unvermittelt zu einem zweiten Höhepunkt an. Im zweiten Abschnitt (V. 14-25) treten die Apostel Petrus und Johannes auf, die als Abgesandte der Jerusalemer Urgemeinde zum einen quasi den amtlichen Segen zur Aufnahme dieser besonderen Volksgruppe spenden und zum anderen eine besondere spirituelle Erfahrung katalysieren, das Empfangen des Heiligen Geistes. Dabei frappiert der eben noch als erfolgreich missioniert beschriebene Zauberer plötzlich dadurch, dass er ein zutiefst unethisches Ansinnen an die Apostel stellt, nämlich für Geld die Macht zu erhalten, den Heiligen Geist vermitteln zu können. Dies wird als Bestechungsversuch von den Aposteln mit aller Härte verbal gegeißelt und unter Strafandrohung und Verweis auf seinen verdorbenen Charakter abgeschmettert. Die Begegnung mit Simon schließt damit, dass dieser zurückrudert und offensichtlich Angst hat. Der Text schildert dann aber nichts mehr vom weiteren Werdegang Simons und vor allem von dessen Innenleben. Auf jeden Fall schließt die Perikope mit dem jubilierenden Fazit (V. 26), dass die Missionsarbeit in mindestens großen Teilen Samaria erfolgreich weiterwuchs. Wenn wir die rhetorische Struktur genauer betrachten, fällt vor allem die kunstvolle Komposition des ersten Teils auf. Sie ist gekennzeichnet zum einen durch die Spiegelung derselben Begriffe bei Philippus und Simon für den Zustand vor und nach der Konfrontation und zum anderen durch den Parallelismus der »Zeichen« (oberer Pfeil) und das doppelte »außer sich Geraten« (unterer Pfeil; die Tabelle ist erweitert, angelehnt an Theißen 2000, 412). Der Einsatz dieser Stilmittel vermittelt dem Leser eindrücklich die Dynamik des Geschehens. Markant ist dabei, dass προσέχειν (prosechein – hier als »sorgfältig auf etwas/ jemanden achten, seine volle Aufmerksamkeit schenken«, »jemandem anhängen«) sowohl bei Philippus als auch bei Simon steht, und beide Male im Zusammenhang mit ihren übernatürlichen Machttaten. Sprachlich gesehen werden Philippus und Simon von daher strukturell zunächst ähnlich geschildert, auch wenn der Inhalt ihrer Verkündigung unterschiedlich ist: Philippus verkündigt jemand anderen (Christus), Simons Tun hingegen zielt auf seine Selbstglorifizierung als »Kraft Gottes«.

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Konfrontation von Wunder und Magie Apg 8,6-8.13.39f.

Startsituation: Konfrontation

Entscheidung und Folge

Philippus der Missionar

Simon der Zauberer

Philippus siegt

Simon schließt sich an

8,4-8

8,9-11

8,12

8,13

Verkündigung des Christus

Er gibt vor, »etwas Großes zu sein«

Reich Gottes und Name Jesu Christi

Tun von Zeichen (σημεῖα sēmeia)

Zauberei (μαγεύων mageuōn)

Anhängen/Zuhören (προσέχειν prosechein) (dem Philippus, V. 6, bzw. dem Simon, V. 10f.) Freude

Zeichen (σημεία sēmeia) und große Machttaten (δυνάμεις μεγάλας dynameis megalas) Glauben und getauft werden (»alle« in V. 12, Simon in V. 13)

Simon als »Kraft Gottes« außer sich geraten (»alle« über Simon, ἐξιστάνειν existanein)

außer sich geraten (Simon über die Apostelwunder, ἐξιστάνειν existanein)

Tab. 5: Die Komposition des Textes

Die Kraft (ersichtlich an der Steigerung, Apg 8,13) auf der Seite des Philippus ist aber stärker und trägt den Sieg davon, erst über das Volk und dann nochmals mit besonderer Betonung auch über Simon selbst. Dieser gerät nun seinerseits »außer sich«, während es vorher noch andere waren, die das aufgrund seines Wunderwirkens taten.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Philippus und seine Töchter wurden als Erste unter den »Sternen Asiens« genannt (Eus. h.e. 3,31,3; 5,24,2) und genossen hohes Ansehen in der kleinasiatischen Kirche (bei Papias, vgl. Eus. h.e. 3,39,9). Als Mitglied des Siebenerkreises der Jerusalemer Urgemeinde (Apg 6,5) war seine Aufgabe offensichtlich eben nicht nur diakonischer, sondern stark auch missionarischer Natur. Vielleicht ist er mit Pantänus vergleichbar, der ca. 190 n. Chr. als Evangelist bis nach Indien wirkte (Eus. h.e. 5,10,1-3). Simon der Zauberer, der mit dem persischen Lehnwort für »Weiser« oder »Magier« auch »Simon Magus« genannt wird, lebte nach Justin (100-165 n. Chr.) 173

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in der ersten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. in einem Dorf namens Gitta am Westrand des samarischen Berglands (1 apol. 26). Justin berichtet weiter, dass Simon unter Kaiser Claudius (41-54 n. Chr.) in Rom auftrat, wo er »mittels der von Dämonen eingegebenen Kunst magische Krafttaten vollführte« und »für einen Gott gehalten« wurde (1 apol. 56; dial. 120,6). In diesem Zusammenhang sei ihm auch auf einer Insel im Tiber eine Statue errichtet worden mit der Inschrift »Für Simon, den heiligen Gott« (Simoni Deo Sancto). Archäologisch wurde zwar ermittelt, dass auf der Statue dort in Wirklichkeit eben nicht von »Simon Magus«, sondern nur von der sabinischen Gottheit »Semo Sancus« die Rede ist, manche versuchen den Bezug aber über eine Assoziation Semo – Zeus/Jupiter – Simon (als Zeus verehrt) zu legitimieren. Simon allerdings als Gegenstand eines lokalen samaritanischen Zeuskultes zu sehen muss als zweifelhafte Hypothese gelten. Der Einflussbereich des Simon muss tatsächlich beträchtlich gewesen sein: Laut Justins Zeugnis sollen fast alle Samaritaner und auch andere ihn als »ersten Gott« verehrt haben. Sein bedeutendster Schüler war der Häretiker Menander von Caparatteia (1 apol. 26,4), der in Antiochien lehrte, dass seine Nachfolger niemals sterben würden. Markant ist weiter Justins früher Bericht in seiner Apologie, dass Simon von einer ehemaligen Prostituierten aus Tyrus namens Helena begleitet wurde. Um diese entspann sich eine komplexe Legende mit gnostisch-dualistischen Zügen, nämlich dass sie die πρώτη ἔννοια (prōtē ennoia – erste[r] Gedanke/Idee) gewesen sei, die durch ihre Inkarnation in der materiellen Welt gefangen war und dann von ihm aus dieser »erlöst« wurde. Der Mythos entwickelte sich dahingehend weiter, dass Helena als ἔννοια (ennoia) die Schöpfung anstieß, darauf aber von den von ihr selbst geschaffenen Engeln gefangengenommen wurde und schließlich einen Weg durch mehrere Frauenkörper bis zur besagten Prostituierten nahm. Auf ähnlich abenteuerliche Weise wird der Weg des Simon zu ihr geschildert.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Literatur zu Simon Magus geht ins Uferlose (vgl. Kippenberg 1971, 329-348; Lüdemann 1975, 47; Beyschlag 1974, 106-120). Die Quellen lassen offen, ob Simon Samarier war (d.h. einer der überwiegend heidnischen Bewohner der Region) oder Samaritaner (Anhänger des JHWH-Kultes auf dem Garizim). Auch Letztere wurden aber in jüdischer Wahrnehmung als Apostaten gesehen und in die Nähe des Heidentums gerückt (Eliezer ben Hyrkanus, ca. 90 n. Chr.: »Wer das Brot eines Samaritaners isst, ist wie einer, der Schweinefleisch isst«, zit. nach Kippenberg/Wewers 1979, 106). Wie glühend die Feindseligkeiten waren, zeigt sich an der Verwüstung des Heiligtums auf dem Garizim unter Johannes Hyrkan (Flav. Jos. Ant. 13,254256.281, insgesamt vgl. Kippenberg 1971) und der Schändung des Jerusalemer Tempels durch Samaritaner um ca. 8 n. Chr. (Flav. Jos. Ant. 18,30). 174

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Konfrontation von Wunder und Magie Apg 8,6-8.13.39f.

Die Bezeichnung als »große Kraft Gottes« (V. 10) bedeutet wahrscheinlich keine direkte Selbstapotheose Simons. Bei den Samaritanern konnte der Ausdruck als Gottesname JHWHs verwendet werden (Fossum 1985, 171f.). Wahrscheinlich ist er in Richtung von »verbunden mit Gottes Macht« zu verstehen. Vgl. hierzu den urchristlichen Prophet Elchasai, der sich zur Zeit Trajans, Anfang des 2. Jh., die »verborgene Kraft« nennt (Hipp. haer. 9,13-17; 10,29; Epiph. haer. 19,2,10). Auf der anderen Seite ist die »gewaltige Kraft«, die der Engel Michael im apokryphen Text EvHebr Frgm. I nennt, offenbar göttlicher Natur, da sie sich in Maria inkarnierte. Zum Anspruch eines Wundertäters, als Gottheit verehrt zu werden, lässt sich die vielsagende Parallele in der Empedoklesvita des Diogenes Laertius (8,62) vergleichend heranziehen: Als ein unsterblicher Gott reise ich umher, nicht mehr sterblich […] mit Binden umflochten und blühenden Kränzen. Von allen […] von Männern wie von Frauen, werde ich verehrt. Und sie folgen mir zu Zehntausenden [… Sie verlangen] Weissagungen […] die anderen erbitten Auskunft bei Krankheiten aller Art, um ein heilbringendes Wort zu erfahren (Mansfeld 1986, 141).

Hier liegt eine außergewöhnliche Überschneidung mit Motiven aus der Apg vor (Kränze in Lystra: Apg 14,13; viele Nachfolger: Apg 8,10; Krankenheilungen). Sicher ist, dass Simon bereits bei Justin als Gnostiker firmiert (1 apol. 26,2) und bei Irenäus von Lyon (haer. 1,23,1-4) und Hippolyt (haer. 4,51,3-14; 6,7-20; 10,12) sogar als »Urheber aller Häresien« gilt. Seine Nachfolger, die Simonianer sind im 2. Jh. in Rom fest etabliert (Iust. 1 apol. 26,2) und verschwinden (nach Or. Cels. 1,57) im Laufe des 3. Jh. wieder. Dagegen steht allerdings Eusebius, demzufolge selbst zu seiner Zeit (260/64-339/40) noch getaufte Simonianer in christlichen Gemeinden entdeckt und ausgeschlossen werden (h.e. 2,1,11). Vieldiskutiert ist die Frage, ob Simon erst nachträglich von seinen Anhängern gnostifiziert, d.h. in seinem Anspruch, Repräsentant Gottes zu sein, soteriologisch überhöht worden ist, oder ob der historische Simon Repräsentant einer vorchristlichen samaritanischen Gnosis war. Von den mystisch-magischen Praktiken der Simonianer und deren Verehrung von Bildern, die Simon als Zeus und Helena als Athene darstellen, berichtet Irenäus (haer. 1,23,4). Ebenso spricht er von ihrer Promiskuität, obwohl Justin zugab, dass er hinsichtlich dieses Vorwurfs nicht sicher sei (1 apol. 26,3). Hier zeigt sich bereits ein Problem bei der Quellenlage (Übersicht bei Beyschlag 1974, 7-78), da die häresiologischen Texte bei Justin (1  apol. 26), Irenäus (haer. 1,23f.) und Hippolyt (haer. 6,2) sich möglicherweise mehr auf eine Bewegung beziehen, die zwar als simonianische Gnosis bezeichnet wird, deren historischer Bezug auf die Figur des Simon aus der Apg aber umstritten ist. Ähnliches gilt besonders auch für die Apophasis Megale (Große Offenbarung), die Hippolyt Simon zuschreibt. Die früher in der Forschungsgeschichte vertretene These, Simon selbst sei bereits Vertreter einer vorchristlichen Gnosis gewesen (Lüdemann 1975), gilt heute als umstritten oder wird abgelehnt (Theißen 2000, 407; Beyschlag 1974; Berger 1994). 175

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Diese Einschätzung beruht mit auf dem Argument, dass viele der Quellen, denen wir unsere Kenntnis der Gnosis verdanken, erst aus nachneutestamentlicher Zeit stammen (hermetische Gnosis, Manichäismus, Nag-Hammadi-Texte) bzw. in Exzerpten erhalten sind, die bereits Spuren christlicher Apologetik tragen. Mit anderen Worten: Die Quellenlage ist zu unsicher für verlässliche Schlussfolgerungen hierzu. Der übernatürliche Ortswechsel des Philippus erinnert an die Entrückungen Elijas (2 Kön 2,16f.) und Ezechiels (Ez 3,12-14; 8,1-3; 11,24). Aus dem hellenistischen Bereich lassen sich Pythagoras, der am selben Tag in Croton und Metapontion gesehen wurde (Apollon. Hist. mirab. 6; Ael. Var. Hist. 2,26; 4,17, vgl. Iamb. vit. Pyth. 28,134.136; Porph. vit. Pyth. 27; Burkert 1962, 117-120; Kollmann 2000b, 560) und Apollonius von Tyana, der in einem einzigen Augenblick den Weg von Smyrna nach Ephesus bewältigt (Philostr. vit. Ap. 4,10), vergleichend heranziehen. Als alttestamentliche verwandte Motive zum Philippusbericht sind das Gottesurteil auf dem Karmel in 1 Kön 18 (Trocmé 1957, 180) und die Heilung Naamans in 2 Kön 5 (Brodie 1968, 41-67) vorgeschlagen worden.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Ein entscheidender Knackpunkt unseres Textes liegt darin, dass Simon und Philippus als Konkurrenzfiguren, als teilweise vom Typus her ähnliche Wundercharismatiker gekennzeichnet werden (Klauck 1996, 24-30). Das wird unterstrichen durch den überlieferten Anspruch Simons, »Prophet wie Mose« zu sein (Or. Cels. 57; Pseudo-Klementinen: PsClem H 2,22-24/PsClem R 2,7,2, »der Stehende«; vgl. Spencer 1992, 117f.). Darüber hinaus ist das Selbstverständnis Simons als »große Kraft« »nicht so weit entfernt von dem, was man als Christusrepräsentanz der christlichen Boten verstehen könnte« (Klauck 1996, 26). Ihn deshalb als genuinen Vertreter eines samaritanischen Christentums hochstilisieren zu wollen (Berger 1994, 313-317), ist dann aber doch zu weit hergeholt. Vielmehr ist die Mission des Philippus charakterisiert durch ihren Verweischarakter auf den »Namen Jesu Christi«, der das Wundergeschehen in die Verkündigung der Königsherrschaft Gottes einbindet. Das Versöhnungsmotiv vom Eingang der Heiden in das Volk JHWHs (Jes 56,3) klingt stark mit an (Bauernfeind 1939, 122; Schneider 1980, 498) und entspringt einem gemeinsamen theologischen Milieu (Dobbeler 2000, 41). Mit einer ungewöhnlich starken Betonung von Geist und Prophetie (Hengel 1984, 69) wird die »prophetische Selbstauffassung« des hellenistischen Kreises von Philippus »als Pneumatiker schlechthin« geschildert (Berger 1995, 140-149). Seine Vorreiterrolle besteht im Durchbrechen sozialer und religiöser Grenzen in der Mission (Spencer 1992). Der Protagonist ist in diesem Sinne Werkzeug zur Erfüllung göttlicher Verheißungen – und das paradoxerweise eben trotz der Tatsache, dass seine Missionstätigkeit mit dem an sich negativen Ereignis der Vertreibung aus Jerusalem zusammenhängt. Thematisiert wird auch das Verhältnis von spiritueller Macht und Macht des Wortes (Avemarie 2002, 202). Die Antwort der Perikope lautet: 176

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Wort und Wunder werden bei Philippus nicht gegeneinander ausgespielt, sondern ergänzen sich und bilden das Fundament für einen Dienst, der in der Kontinuität des Auftretens Jesu steht. Damit verkörpert die Perikope beispielhaft das, was P. Samain als »Stellvertreterkonflikt« bezeichnet hat: Gott und Teufel entsenden ihre Emissäre, die dann, ausgestattet mit der numinosen Macht ihrer Seite, miteinander in Wettstreit treten (Samain 1938).Von daher ist der Vergleich mit dem Duell zwischen Mose und den Zauberern in Ägypten durchaus nicht verfehlt, wenn auch nicht direkt im Text enthalten. Der Abschnitt stellt auf so frappante Art den Siegeszug der apostolischen Mission (und damit Gottes über den Teufel im oben angegebenen Sinne) dar, dass es ihr häufig den Vorwurf eingetragen hat, redaktionell zu sein. Mindestens der historische Kern von Simon als Magier, »großer Kraft Gottes« und dem Taufmotiv wird jedoch durch ganz verschiedene und teilweise von der Apg unabhängige Quellen belegt (Logan 2000). Gleichzeitig steht dadurch, dass im Zuge der Mission die Gegnerschaft zu den Samaritanern überwunden wird, implizit ein versöhnendes Motiv mit im Mittelpunkt. Mit hier hineingewoben ist die Vollmacht der Apostel, Gemeindezucht und Ermahnung zu üben, und vielleicht etwas vom Konzept des Philippus als eines »Champions der Randgruppen« (Matthews 2002, 217). Dem »missionarischen Doppelbildnis« (Wildhaber 1987, 54, Anm. 4) des Missionars könnte somit paradigmatischer Charakter im Sinne des Selbstverständnisses der hellenistisch-judenchristlichen Gruppe zukommen, zu der Philippus gehörte.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Ins Kirchenrecht hat, ausgehend von dieser Perikope, der Ausdruck »Simonie« für Ämterkauf Eingang gefunden. In kunstgeschichtlicher Hinsicht ist die Episode vom »Flug und Fall des Simon Magus« am meisten rezipiert worden. Die älteste Version findet sich in den Petrusakten (ActPetr 32). Spätere Variationen (vgl. Beyschlag 1974, 59f.) bezeugen Arnobius, die syrische Didaskalia, die Apostolischen Konstitutionen (4. Jh.) und schließlich die Verwebung der Stoffe in der Legenda Aurea, die im Mittelalter weite Verbreitung fand. Gemeinsamer Kern der Berichte ist ein Wunderwettkampf zwischen Petrus und Simon in Rom vor Nero, welchen Petrus gewinnt, indem er Simon durch Gebet zum Absturz bringt. In den Acta Petri wird zudem berichtet, wie Petrus einem Hund das Sprechen und Prophezeien beibringt, der sich daraufhin zu Simon begibt und ein Streitgespräch mit ihm führt (ActPetr 9). Der Vorfall dient mit zur Bekehrung des Marcellus. In Passio Sanctorum Apostolorum Petri et Pauli findet sich die Geschichte davon, wie Petrus die von Simon angesichts einer Konfrontation vor Nero herbeigezauberten gefräßigen Hunde mit gesegnetem Brot abwehrte. Eine spezielle Simon-Tradition wird von Hieronymus in seinem Brief an Ktesiphon (Hier. ep. 133,4) überliefert, datiert um 415, in dem er die Verderbtheit der 177

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priscillianischen Sekte dadurch beweist, dass er ihr eine Art »häretisch-apostolische Sukzession« in ungebrochener Linie von Simon aus attestiert. Wirklich einmalig in der häresiologischen Literatur ist, dass er gleichzeitig eine Sukzession der weiblichen Kollaborateure der Ketzer aufstellt, beginnend mit Simons Helena bis hin zu den zahlreichen Nachfolgerinnen Priscillians, für die dieser bekannt war. Im keltischen Irland und angelsächsischen England fanden sich kreative Adaptationen der Simon Magus-Legenden, so von seiner Kollaboration mit Mog Ruith, einem druidischen Priester, mit dem Ziel, Johannes den Täufer zu köpfen (Ferreiro 2005, Kap. 10). Im Blick auf Philippus ist nicht zuletzt dessen Translokation auf besonderes Interesse gestoßen. In der späteren hagiographischen Literatur finden sich verschiedene Geschichten, in denen das Thema des »wunderhaften Transports« wieder aufgenommen wird. Zu den frühesten gehört diejenige über eine Gründergestalt des Mönchtums, Ammon (Amun, † 350), den Begründer der Mönchskolonie der nitrischen Wüste in Unterägypten. Von ihm wird berichtet, dass er während einer Reise mit seinem Schüler Theodoret auf wunderhafte Weise über einen Fluss teleportiert wurde, nachdem er sich nicht mit dem Gedanken anfreunden konnte, nackt hinüberzuschwimmen. Von Dominik († 1221) lesen wir, dass er sich bei einer nächtlichen Gebetswache vor einer verschlossenen Kirchentür plötzlich auf unerklärliche Weise mit einem Mönchsbruder ins Innere vor den Altar versetzt fand. Besonders hervorstechend ist weiter die Figur des Antonius von Padua († 1231). Er habe sich von Padua nach Lissabon teleportiert, um dort die Leiche eines Ermordeten für kurze Zeit vom Tod zu erwecken. Durch deren verbales Zeugnis sei dann die drohende Verurteilung eines Unschuldigen (des Vaters des Heiligen) abgewandt worden. Martin von Porres († 1639) wurde von seinen Kollegen auch der »fliegende Bruder« genannt. Ihm wird u.a. zugeschrieben, absichtlich, kraft seines Gebets, einmal nicht nur sich selbst, sondern gleich noch 30 Novizen mit sich auf wunderhafte Weise zurück zum Kloster versetzt zu haben, um sie pünktlich wieder zur Gebetszeit in den Chor zurückzubringen. Außerdem ist eine überraschend lange Liste katholischer Heiliger mit Berichten über Levitationsphänomene überliefert (Cruz 1997; vgl. oben die Schilderungen des Wettkampfs mit Petrus in Rom). Im Wesentlichen lässt sich sagen, dass Simon Magus als Erzvater der Häresie, historisches Urbild des Ämterkaufs und Sinnbild überwundener heidnischer Zauberei im kulturellen Gedächtnis erhalten blieb und dass sich bei Philippus überraschende Parallelen zu später berichteten Phänomenen zeigen. Dass Philippus weithin Stiefkind der neutestamentlichen Forschung blieb, verblüfft eigentlich angesichts seiner bedeutenden Rolle in der Mission und besserte sich erst in jüngerer Vergangenheit mit dem Erscheinen mehrerer ausführlicherer Studien (Dobbeler 2000; Matthews 2002; vgl. auch Kollmann 2000b). Wolfgang von Ungern-Sternberg

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Literatur zum Weiterlesen A. von Dobbeler, Der Evangelist Philippus in der Geschichte des Urchristentums. Eine prosopographische Skizze, TANZ 30, Tübingen 2000. A. Ferreiro, Simon Magus in Patristic, Medieval, and Early Modern Traditions, Leiden/Boston 2005. S. Haar, Simon Magus. The First Gnostic?, BZNW 119, Berlin/New York 2003. H.-J. Klauck, Magie und Heidentum in der Apostelgeschichte des Lukas, SBS 167, Stuttgart 1996. B. Kollmann, Philippus der Evangelist und die Anfänge der Heidenmission, Biblica 81 (2000b), 551-565. C. R. Matthews, Philip, Apostle and Evangelist. Configurations of a Tradition, Leiden/Boston 2002. G. Theißen, Simon Magus – die Entwicklung seines Bildes vom Charismatiker zum gnostischen Erlöser, in: K. Berger et al. (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments. FS K. Berger, Tübingen 2000, 407-432.

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Blind werden, um in Wahrheit zu sehen! (Die Heilung des Paulus) Apg 9,1-19 (22,1-21; 26,9-23) (9,1) Saulus aber, der noch von Drohung und Mord gegen die Jünger des Herrn schnaubte, ging zum Hohepriester hin (2) und verlangte von ihm Briefe nach Damaskus an die Synagogen, damit, wenn er einige, die von dem »Weg« sind, fände, Männer und Frauen, sie gefesselt nach Jerusalem führe. (3) Während er aber dahinzog, geschah es, dass er sich Damaskus näherte, und plötzlich umstrahlte ihn Licht aus dem Himmel, (4) und auf die Erde gefallen hörte er eine Stimme, die zu ihm sprach: »Saul, Saul, was verfolgst du mich?« (5) Er sprach aber: »Wer bist du, Herr?« Der aber (antwortete): »Ich bin Jesus, den du verfolgst. (6) Doch steh auf und geh in die Stadt hinein, und es wird dir gesagt werden, was du tun musst.« (7) Die Männer aber, die mit ihm unterwegs waren, standen sprachlos da, denn sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemanden. (8) Saulus stand aber von der Erde auf; als aber seine Augen sich öffneten, sah er nichts. Sie nahmen ihn aber an der Hand und führten ihn nach Damaskus hinein. (9) Und er war drei Tage nicht sehend, und er aß nicht und er trank nicht. (10) Es war aber ein Jünger in Damaskus mit Namen Hananias, und zu ihm sprach in einem Gesicht der Herr: »Hananias!« Der aber antwortete: »Siehe, (da bin) ich, Herr!« (11) Der Herr aber (sprach) zu ihm: »Steh auf und geh zu der Gasse, welche ›die Gerade‹ heißt, und suche im Haus des Judas einen mit Namen Saulus, einen Tarser! Denn siehe, er betet, (12) und er hat in einem Gesicht einen Mann mit Namen Hananias hereinkommen und ihm die Hände auflegen sehen, damit er wieder sehend würde.« (13) Es antwortete aber Hananias: »Herr, ich hörte von vielen über diesen Mann, wie viel Schlechtes er deinen Heiligen in Jerusalem angetan hat; (14) und hier hat er Vollmacht von den Hohepriestern, alle zu fesseln, die deinen Namen anrufen.« (15) Es sprach aber zu ihm der Herr: »Geh nur, weil mir dieser ein Werkzeug der Erwählung ist, zu tragen meinen Namen vor Völker und Könige und die Söhne Israels; (16) denn ich werde ihm zeigen, wie viel er für meinen Namen leiden muss.« (17) Hananias ging aber weg und trat in das Haus und legte ihm die Hände auf und sprach: »Saul, Bruder, der Herr hat mich gesandt, Jesus, der dir erschien auf dem Weg, auf dem du kamst, damit du wieder siehst und erfüllt wirst mit dem Heiligem Geist.« (18) Und sogleich fiel es wie Schuppen von seinen Augen, und er konnte wieder sehen. Und er stand auf und ließ sich taufen (19) und er nahm Nahrung zu sich und kam (wieder) zu Kräften. Er blieb aber einige Tage bei den Jüngern in Damaskus.

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Sprachlich-narratologische Analyse Der folgende Bericht, der gewöhnlich als Bekehrung des Saulus bzw. Paulus bekannt ist, gehört zu den Schlüsselszenen der Apostelgeschichte. Lukas erzählt dreimal von der Wandlung des Saulus vom aktiven und scharfen Christenverfolger zum Zeugen des auferstandenen und erhöhten Jesus Christus (vgl. Apg 22,1-21; 26,9-23). Das weist auf die Bedeutung hin, welche der Auctor ad Theophilum diesem Ereignis beimisst. In Apg 9 liegt ein Bericht des Verfassers vor, in Apg 22 und 26 handelt es sich um literarisch fingierte Selbstberichte des Paulus. Die erste Wiederholung (Apg 22,1-21) steht im Rahmen der Verteidigungsrede, die der vom römischen Militär festgenommene und damit vor dem Lynchen durch Juden bewahrte Paulus von einer Treppe des Tempelplatzes an die versammelten Jerusalemer und Festpilger hält. Die zweite Wiederholung (Apg 26,9-23) findet sich in einer Verteidigungsrede, die Paulus an den jüdischen König Agrippa II. und dessen Schwester Berenike in Anwesenheit des römischen Statthalters Festus hält. Es ist bemerkenswert, dass das in Apg 9,1-19 als Bekehrung des Saulus/Paulus dargestellte Damaskus-Ereignis in den beiden Wiederholungen stärker als seine Berufung zum Völkermissionar und Zeugen des auferstandenen und erhöhten Christus gedeutet wird. Die Erzählung besteht aus der Einleitung, zwei Visionsberichten und dem Bericht von der Ausführung des Auftrags. In der Einleitung (V.  1-2) werden der Seher und sein Vorhaben vorgestellt. Im ersten Visionsbericht (V.  3-9), in dem die Vision des Saulus beschrieben wird, lassen sich der Visionsvorgang (V.  3-6) und die Wirkungen der Vision auf den Seher selbst und auf seine Begleiter (V. 7-9) unterscheiden. Der zweite Visionsbericht (V. 10-16), der die Vision des Hananias zum Inhalt hat, setzt sich aus der kurzen Vorstellung des Sehers und dem Visionsvorgang zusammen. Der letzte Teil ist der Bericht über die Ausführung des in der Vision empfangenen Auftrags durch Hananias (V. 17-19). Paulus wird geheilt. Im Kontrast zu den vorangehenden Philippus-Geschichten wird dem Leser der Mann ins Gedächtnis gerufen, der im Zusammenhang mit dem Stephanusmartyrium in die Apostelgeschichte eingeführt (Apg 7,58) und als großer Verfolger der Jerusalemer Christen charakterisiert wurde (Apg 8,3). Jetzt erscheint er wieder als Christenfeind, der die Initiative übernimmt. Saulus geht zum Hohenpriester und verlangt von ihm die Vollmachtsbriefe, um die Christen von Damaskus, die als »die Jünger des Herrn« gekennzeichnet sind, festzunehmen. Auf dem Weg nach Damaskus, kurz vor dem Erreichen der Stadt umstrahlt ihn plötzlich ein himmlisches Licht (vgl. Apg 22,6: »um Mittag«). Das Motiv der Lichterscheinung lässt den Leser an eine Theophanie denken (z.B. Ex 24,15-18; Ps 29,7; Ez 1,4-28). Es ist aber keine Rede davon, was Paulus in dem himmlischen Licht sieht. Die Wucht der Erscheinung stürzt ihn zu Boden (vgl. 26,14: alle fallen nieder), was auch an eine Epiphanie erinnert (z.B. Ez 1,28; Dan 8,17; 10,9). Die Lichterscheinung und das Zu-Boden-Stürzen bilden den erzählerischen Rahmen. Nun hat der zu Boden geworfene Saulus eine Audition. Die Stimme stellt ihm eine vorwurfsvolle Frage. Die doppelte Anrede erhöht noch das Gewicht des 181

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Ausspruchs: »Saul, Saul«, die in der Muttersprache des Paulus formuliert ist. Paulus, der zwar eine überirdische Gestalt reden hört, sie aber nicht genauer identifizieren kann, tritt in einen Dialog ein. Er fragt nach der Identität des ihm erschienenen »Herrn« (κύριος kyrios). Als Antwort nennt der sprechende Herr seinen menschlichen Namen »Jesus«. Die Offenbarungsformel ἐγώ εἰμί (egō eimi – ich bin) lässt Paulus und dem Leser keinen Zweifel daran, dass der erschienene Herr der auf Erden dagewesene Jesus ist, den der zu Boden Gefallene bis jetzt bekämpft hat. Ähnlich wie in anderen biblischen Erscheinungsgesprächen (z.B. Gen 31,13; 46,3; Ex 3,9f.) schließt sich an die Selbstpräsentation Jesu ein Auftrag an. Paulus soll aufstehen und in die Stadt gehen, aber jetzt nicht mehr, um die Christen von Damaskus zu verfolgen, sondern um in der dortigen Gemeinde den eigentlichen Auftrag Gottes für seine Zukunft zu bekommen, auf welchen die Wendung »es wird dir gesagt werden« (Passivum Divinum) hinweist. Bis jetzt hat ihm der Kyrios seinen eigentlichen Willen nicht kundgetan. Der Leser erfährt jetzt, dass Saulus unterwegs nicht allein war. Lukas erwähnt zum ersten Mal die Begleiter des Saulus und zeigt die Wirkung der Erscheinung auf sie. Diese Männer, die nicht näher charakterisiert werden, stehen sprachlos in numinosem Schrecken da; denn sie hören die Stimme, sind Zeugen der Offenbarung, sehen aber niemanden (vgl. 22,9: die Begleiter sehen zwar Licht, aber hören die Stimme nicht). Adressat und Empfänger der Erscheinung ist Saulus allein. Der Weisung des Kyrios folgend, steht er auf und beim Öffnen der Augen merkt er, dass er nichts sieht. An der Hand geleiten ihn seine Begleiter in die Stadt. Der drei Tage dauernde Verlust der Sehkraft und das Fasten sind Wirkungen der erlebten Erscheinung. Mit einem Szenenwechsel beginnt der zweite Visionsbericht. Dem Leser wird eine neue Person vorgestellt, von der schon in V. 6b als dem Mittler des Auftrags Jesu die Rede war. Der ist ein in Damaskus lebender Christ namens Hananias, der hier als »Jünger« Jesu und in 22,12 als »ein frommer Mann nach dem Gesetz, mit gutem Zeugnis von allen [in Damaskus] wohnenden Juden« bezeichnet ist. Wie zuvor Saulus hat jetzt Hananias eine Vision des Kyrios. Mit der Anrede: »Hananias!« – diesmal nicht verdoppelt – wendet sich der Herr an ihn und tritt mit ihm in ein Gespräch ein. Der Visionär antwortet nicht – wie Saulus – mit einer Gegenfrage, sondern gibt spontan seine Bereitschaft kund, eine Weisung entgegenzunehmen (vgl. Gen 22,1; 1 Sam 3,4.6.8). Deshalb erhält er sofort vom Herrn den Auftrag, in die »Gerade Straße« zu gehen und dort im Haus des Judas nach Saulus, dem Tarser, zu fragen. Der Leser erfährt zum ersten Mal, dass Paulus aus Tarsus stammt. An den Auftrag fügt der Herr eine doppelte Motivierung an. Er weist Hananias darauf hin, dass Saulus betet und dass er bereits in einer Vision den Besuch des Hananias und seine Heilung durch die Handauflegung gesehen hat. Das Gebet des Saulus zeigt, dass sich nach der Begegnung vor Damaskus eine innere Wandlung in ihm vollgezogen hat. Nun entsteht eine Spannung. Nach solchen Argumenten des Kyrios erwartet der Leser, dass Hananias unverzüglich aufbricht. Es kommt aber zunächst anders. Hananias erhebt Einwände gegen den Auftrag Gottes (vgl. Ex 3,11; Jer 1,4-10), da er von der Verfolgertätigkeit des Saulus gegenüber den Jerusalemer 182

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Christen und von seinen Plänen bezüglich der Christen in Damaskus gehört hat. Damit soll die Aufmerksamkeit auf das folgende Geschehen gelenkt und dem Leser noch einmal bewusst gemacht werden, welch einen gefährlichen Christenverfolger der Kyrios überwunden hat und wie unglaublich groß die Bekehrung des Saulus war. Der Herr weist aber den Einwand des Hananias zurück und wiederholt seinen Auftrag an ihn (vgl. 22,18-21). Er soll Saulus aufsuchen. Dann formuliert der Kyrios den eigentlichen Auftrag für Saulus. Der ehemalige Verfolger ist sein »auserwähltes Werkzeug« (V. 15b; vgl. Gal 1,15), das heißt er steht dem Herrn total zur Verfügung. Der Kyrios hat Saulus dazu bestimmt, seinen Namen »vor Völker und Könige und die Söhne Israels« zu tragen (V. 15c; vgl. 22,15.21; 26,16-18). Dem Leser wird Bescheid gegeben, dass Saulus zum Missionar der Heiden wie Juden erwählt wurde. Der Mann, der bisher die Jünger des Herrn hat leiden lassen, wird von nun an als Christuszeuge viel leiden müssen (V. 16; vgl. 13,50; 14,19f.; 16,19-24; 21,27-36). Das Leiden für den Namen Christi ist der Erweis und die Konsequenz seines Zeugnisses. Nach dieser Antwort des Herrn macht sich Hananias endlich auf den Weg, um den Auftrag auszuführen. Er geht in das Haus des Judas und »vollzieht die üblichen Gesten einer Wunderheilung« (Dormeyer/Galindo 2003, 147). Hananias legt Saulus die Hände auf, spricht ihn in der Muttersprache mit seinem hebräischen Namen »Saul« und als christlichen »Bruder« an und erklärt ihm seinen Auftrag. Dabei stellt sich Hananias als Bote des vor Damaskus erschienenen Herrn vor, dessen Kommen darauf abzielt, dass Saulus wieder sieht und den Heiligen Geist empfängt. Die Gabe des Geistes noch vor der Taufe soll den Leser auf eine Sonderstellung des Saulus in der Kirche hinweisen. Die Handauflegung des Hananias heilt sofort. Saulus fällt es »wie Schuppen von den Augen« (vgl. Tob 11,7.12) und er kann wieder sehen. Er erhebt sich selbständig vom Boden und lässt sich taufen. Die (Wunder-)Erzählung endet mit einer weiteren Demonstration der Heilung. Saulus beendet das Fasten, nimmt wieder Nahrung zu sich und kommt dadurch zu Kräften. Er wird von den Christen von Damaskus angenommen und bleibt einige Tage bei ihnen.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Nach dem Zeugnis des Josephus (Bell. 2,559-561) gab es in Damaskus eine große jüdische Diaspora. Sein Schweigen über die Christen lässt sich dadurch erklären, dass für ihn die Christen noch zum Judentum gehören. Unmöglich scheint aber, dass Saulus die gefesselten Christen nach Jerusalem abführen sollte. In Damaskus, einer Stadt der Dekapolis, gab es ein Nabatäerviertel, in dem der Ethnarch des Nabatäerkönigs Aretas IV. Polizeigewalt hatte (vgl. Riesner 1994, 66-68; Hengel/Schwemer 1998, 80-101; Eckey 2011, 287) und bestimmt Jerusalem seine Bürger nicht ausgeliefert hätte. Saulus konnte die Christen allenfalls den Behörden von Damaskus übergeben. Die Vision des Auferstandenen entspricht den Erlebnissen des historischen Paulus, der sich der »Visionen«, »Offenbarungen« und »Entrückungen« rühmt 183

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(2 Kor 12,1-3). In der Apostelgeschichte sind die ekstatischen Phänomene wie Visionen, Offenbarungen und Prophezeiungen als Wirkungen des Pfingstereignisses zu verstehen (vgl. Najda 2005, 212-214). Der vorübergehende Verlust der Sehkraft ist die Wirkung der Epiphanie und soll nicht als Strafe verstanden werden, sondern als Ausdruck der Ohnmacht und der inneren Unklarheit. Der bisherige Verfolger sieht das gesetzte Ziel seines Weges nicht und ist auf die Hilfe seiner Reisegefährten angewiesen. Blind befolgt er den Auftrag des Herrn: Er geht in die Stadt hinein und begibt sich zur »Geraden Straße«. Es geht um die (bis heute existierende) einst prachtvolle Hauptstraße mit Säulenhallen, die Damaskus von Westen nach Osten durchquerte. Saulus wird in das Haus des Judas geführt. Dort sucht ihn Hananias auf. Das Haus kann bis heute archäologisch nicht sicher lokalisiert werden.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Begegnung des Saulus mit dem Herrn vor Damaskus ist keine Erfindung des Lukas. Paulus spricht von ihr in seinen Briefen (Gal 1,15f.; 1 Kor 9,1; 15,8; 2 Kor 4,6) und stellt sie als Offenbarung dar, in der er vom auferstandenen und erhöhten Jesus Christus berufen und beauftragt wurde, das Evangelium unter den Heidenvölkern zu verkündigen (Najda 2004, 47-52). Paulus betont, er habe den Herrn gesehen (1 Kor 9,1), der Auferstandene sei ihm »gleich wie der Fehlgeburt« erschienen (1  Kor 15,8; vgl. 2  Kor 4,6). Die Christuserscheinung vor Damaskus hat für ihn höchste Bedeutung und ist für ihn nicht nur der Akt der göttlichen Erwählung, Berufung und Sendung, das Evangelium unter den Heidenvölkern zu verkündigen (Gal 1,15f.), sondern dient auch der Legitimation seines Apostolats. Von seiner Bekehrung vor Damaskus erzählte man in den christlichen Gemeinden, woran Paulus selbst in Gal 1,23f. erinnert. Im Bericht Apg 9,1-19 (ebenso in 22,1-21; 26,9-23) greift Lukas auf diese auf Paulus selbst zurückgehende Tradition zurück. Das Damaskusereignis stellt er wie eine Berufungsgeschichte dar. In allen drei Berichten benutzt er ein bestimmtes Schema, welches auch schon bei Berufungs- bzw. Erscheinungsdarstellungen in der LXX (z.B. Gen 46,2; Ex 3,4-10; Jes 6,1-13) und im Frühjudentum begegnet. Die Ähnlichkeiten des Berichtes Apg 9,1-19 mit den prophetischen Berufungsgeschichten sind nicht zu übersehen (Najda 2004, 237-241). Folgende Entsprechungen sind zu erwähnen: Der Berufungsvorgang geschieht in Form einer Vision (vgl. Jes 6,1-10; Jer 1,4-10; Ez 1-3); die mit der Vision verbundene Audition vollzieht sich im Rahmen eines Dialogs (vgl. Jes 6,8; Jer 1,4f.; Ez 2,1); der Kyrios spricht Saulus mit seinem Namen an (vgl. 1 Sam 3,6); das Motiv des Lichtes, das Saulus plötzlich umstrahlte (vgl. Ez 1,4-28), das Zu-Boden-Stürzen des Saulus (vgl. Ez 1,28; Dan 8,17; 10,9) und die göttliche Erwählung vollziehen sich in dem Geschehen der Berufung (vgl. Jer 1,5; Jes 42,1; 49,7); Saulus weiß sich unwürdig und ungeeignet, von Gott berufen zu werden (vgl. Jer 1,6; Jes 6,5; Am 7,14f.); er erblindet (vgl. Jes 6,7; Jer 1,9; Ez 2,8-3,3; 3,15); der Auftrag Gottes erscheint als Resultat der 184

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Berufungsvision/-audition (vgl. Jes 6,9f.; Jer 1,10; Ez 2,3); Saulus wird mit dem Geist ausgerüstet (vgl. 1 Sam 10,6.10; 19,20-24; 2 Kön 2,16; Hos 9,7; Mi 3,8; Ez 3,12.14; 8,3; 11,5). Die Erzählung Apg 9,1-19 ist auch mit dem Bericht von der Berufung Sauls (1 Sam 9,1-10.16) zu vergleichen (Storm 1995, 32-38). Auffällig sind folgende Übereinstimmungen: eine Reise und eine dabei erfolgende Berufung, die Berufung bzw. Salbung durch einen anderen und die Geistbegabung. Zu erwähnen sind auch weitere Entsprechungen: Die Reise wird von einem anderen befohlen (1  Sam 9,1-5); unterwegs findet eine unerwartete Begegnung statt, und es ergeht die Aufforderung, in die nächste Stadt zu gehen (1 Sam 9,6a); jemand anderer, der Auskunft gibt, weiß, was weiter zu tun ist (1 Sam 9,6b-13), Gott sendet einen anderen Menschen zur Berufung Sauls (1 Sam 9,15-17), der Auftrag des von Gott Gesandten ist die Berufung eines anderen (1 Sam 9,16). In der Erzählung kann man außerdem viele inhaltliche und formale Parallelen zu der sogenannten Heliodorlegende aus 2 Makk 3 finden. Diese berichtet davon, wie König Seleukos IV. seinen Kanzler Heliodor beauftragt, die Schatzkammer des Jerusalemer Tempels zu plündern. Durch eine machtvolle Epiphanie wird er daran gehindert. Als Heliodor sich bereits in der Schatzkammer befindet, erscheint ein Pferd mit einem goldgepanzerten Reiter, das mit den Vorderhufen nach Heliodor auskeilt, dazu zwei herrlich gekleidete junge Männer, die ihn durchpeitschen (2 Makk 3,25f.). Heliodor stürzt, von Blindheit geschlagen, wird weggetragen und liegt stumm und hoffnungslos auf einer Bahre (2 Makk 3,27-30). Erst als der Hohepriester Onias mit Rücksicht auf den König ein Sühnopfer darbringt, wird Heliodor aus dem Bann gelöst; die jungen Männer erscheinen ihm wieder und befehlen ihm, Onias dankbar zu sein und die gewaltige Macht Gottes zu verkündigen (2  Makk 3,33f.). Heliodor überzeugt seinen König von der Unangreifbarkeit des Jerusalemer Heiligtums (2 Makk 3,39). Doch die Epiphanie, das Zu-Boden-Stürzen des Verfolgers, seine Blendung, tagelange Apathie und Wiederherstellung durch Gott betreffen als Parallelen weitgehend nur den ersten Teil der lukanischen Erzählung (Apg 9,1-9). Bemerkenswert ist außerdem der Vergleich mit dem hellenistisch-jüdischen Roman »Josef und Asenet« (JosAs 1-21). Ausgehend von Gen 41,45 schildert der Roman, wie Asenet, die Tochter des ägyptischen Priesters, durch die Begegnung mit Josef in ihrer hochmütigen Verachtung der Juden und ihres Gottes erschüttert wird. Durch die Buße und Bekehrung zum wahren Glauben wird sie auch zur Vereinigung mit Josef geführt. Asenet sieht ein »unsagbar großes Licht«, aus dem der Erzengel Michael als Gottesbote hervortritt (JosAs 14,2f.), sie stürzt zu Boden, wird vom Engel mit ihrem Namen angesprochen und antwortet: »Wer bist du? Tu es mir kund!« (JosAs 14,6f.). Während der Zeit ihrer Buße verzichtet sie auf Speise und Trank (JosAs 10,2) und am Ende der Buße nimmt sie Nahrung auf (JosAs 16) und empfängt den Geist (JosAs 19,11). Auch hier gehen die Parallelen nicht über einzelne Motive hinaus. Anders als bei Wundern, die durch Apostel getan werden (z.B. Apg 3,6; 9,34), wird hier der Name Jesu nicht angerufen oder genannt. Die Handauflegung heilt 185

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sogleich. Saulus kann wieder sehen. Es wird erfüllt, was er in der Vision (Apg 9,12) gesehen hat. Er steht auf und lässt sich von Hananias taufen (vgl. Röm 6,3; 1 Kor 12,13). Die Taufe bringt die plötzliche, radikale Lebenswende des Saulus zum Ausdruck.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Die Erblindung des Paulus vor Damaskus und die spätere Wiederherstellung der Sehkraft lassen sich rationalistisch, tiefenpsychologisch, kulturanthropologisch oder kerygmatisch interpretieren. Bei der Suche nach einer rationalistischen Deutung des Damaskuserlebnisses, die der kritischen Vernunft standhält, erfreute sich im 18. und 19. Jh. die Gewitterhypothese großer Beliebtheit (vgl. Reichardt 1999, 18-26). Sie führt die Christusvision auf eine Sinnestäuschung des Paulus während eines schweren Unwetters zurück und betrachtet die vorübergehende Erblindung als Folge eines Blitzschlages. Ebenfalls in den Bereich des Rationalismus gehört der Versuch, die Erblindung des Paulus als Begleiterscheinung eines epileptischen Anfalls zu verstehen. Der plötzliche halluzinatorische Sinneseindruck, der jähe Sturz, die zunächst reglose Position auf dem Boden, dann aber wieder das selbständige Aufstehen – diese Symptomenkombination hat schon im Mittelalter die Vermutung aufkeimen lassen, dass es sich bei dieser Attacke möglicherweise um einen epileptischen Anfall gehandelt hat. Auch die sich anschließende mehrtägige Blindheit des Gestürzten lässt sich zwanglos in ein epileptisches Geschehen einordnen: Die iktale und/oder postiktale Amaurose, also die im oder nach dem Anfall auftretende Blindheit, die Sekunden, Minuten, Stunden oder auch einige Tage anhalten kann, ist für ein epileptisches Geschehen, das im Bereich des Sehzentrums (im hinteren Pol des Großhirns) seinen Ausgang nimmt, nicht ungewöhnlich. Dazu würde auch die optische Halluzination am Beginn des Anfalls (›ein Licht vom Himmel‹) passen (Schneble 2003, 68).

Tiefenpsychologisch lässt sich die vorübergehende Erblindung des Paulus als psychogenes Phänomen im Kontext des katastrophenartigen Durchbruchs einer schweren seelischen Krise erklären. Über die Ursachen der seelischen Zerrissenheit des Paulus gibt es unterschiedliche Theorien. Die tiefenpsychologischen Deutungsmodelle machen wahlweise unter dem Einfluss von Sigmund Freud unterdrückte sexuelle Begierden, im Gefolge von Carl Gustav Jung einen unbewussten Christuskomplex oder in Anlehnung an Erik H. Erikson eine tiefe Identitätskrise des Paulus für das Damaskuserlebnis verantwortlich (vgl. Reichardt 1999, 58-88; Kollmann 2013, 80-90). Carl Gustav Jung, dem zufolge Paulus schon vor seiner Bekehrung unbewusst Christ war, geht bei der Erblindung vor Damaskus von einem psychogenen Nichtsehenwollen des Paulus aus. Im Moment des Damaskusgeschehens habe sich der unbewusste Christuskomplex mit dem Ich des Paulus verbunden. Weil Paulus sich aber immer noch nicht als Christen habe sehen wollen, sei er aus Widerstand dagegen vorübergehend blind geworden und habe nur durch einen Christen davon geheilt werden 186

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Blind werden, um in Wahrheit zu sehen! Apg 9,1-19 (22,1-21; 26,9-23)

können. Dieser Widerstand sei auch später bei Paulus nie ganz erloschen, sondern in seinen Anfällen (vgl. 2 Kor 12,7), die man fälschlicherweise als Epilepsie erkläre, zeitweilig wieder hervorgebrochen (Jung 1990, 115). Diese Hypothese wird beispielsweise von Gerd Lüdemann zustimmend rezipiert (Lüdemann 1994, 110-112). Aus kulturanthropologischer Perspektive wird von Christian Strecker der Versuch unternommen, das Damaskuserlebnis vor dem Hintergrund der rituellen Initiation von Schamanen, Mystikern oder Propheten in seiner tieferen Bedeutung zu erfassen (Strecker 1999, 93-157). Eines der maßgeblichen Kennzeichen der mystischen Initiation ist die Ekstase. Strecker selbst orientiert sich ausschließlich an den Primärzeugnissen aus den Paulusbriefen und äußert sich nicht zu der allein in der Apostelgeschichte belegten Blindheit des Paulus. Allerdings ist aus ethnologischen Studien bekannt, dass die ekstatischen Erlebnisse und Traumvisionen bei der schamanistischen Initiation mit schwerer Krankheit verbunden sein können (vgl. Drewermann 1985, 82 mit Anm. 19). Die zeitweilige Erblindung des Paulus ließe sich folglich kulturanthropologisch als Begleiterscheinung der Initiation zum Apostel erklären. Die kerygmatische Deutung des Damaskuserlebnisses sieht die tiefere Bedeutung der Apg 9,17-19 beschriebenen Heilung in der Überwindung geistlicher Blindheit und im Empfang des Heiligen Geistes. Nachdem ihm Christus im Licht aus Himmelshöhen erschienen ist, werde Paulus nun nicht allein von leiblicher Blindheit geheilt. Die Gabe des Geistes, der ihn zum Christusbekenntnis und zum Leidenszeugnis befähigt, gehe weit über das hinaus, was Paulus in der Vision Apg 9,12 als Sehendwerden angekündigt wurde (Eckey 2011, 291f.). In seiner Ohnmacht und Blindheit wird Paulus zum neuen Leben wiedergeboren. Dieses Leben wird ihm in der Taufe und im Geistempfang geschenkt.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Bekehrung des Paulus ist wegen der Dramatik des Geschehens die bekannteste und populärste Szene aus seinem Leben. Sie wird bei den Kirchenvätern häufig rezipiert, wobei allerdings die Blindenheilung eher selten zur Sprache kommt. Die aus dem 2. Jh. stammende Epistula Apostolorum (31[42]) weiß zu berichten, dass sich die Heilung des Paulus durch Speichel vollzieht, und ist dabei von den Blindenheilungsberichten der Evangelien (Mk 8,22-26; Joh 9,1-7) beeinflusst. Kyrill von Jerusalem betont in seinen Ausführungen über den Heiligen Geist, dass dieser bei Paulus sofort wirkte, indem er seinen erblindeten Augen die Sehkraft und seiner Seele das Siegel der Taufe gab (Cyr. catech. 17,26). Hieronymus zufolge beugte der Christenverfolger als der reißende Wolf aus dem Stamme Benjamin sein Haupt vor dem Lamm Hananias und erhielt das Augenlicht zurück, sobald er seine geistliche Blindheit durch die Taufe geheilt hatte (Hier. ep. 69,30). Der im 6. Jh. lebende Mönch Alexander Monachus betont in der Laudatio Barnabae, dass Paulus vor Damaskus physisch erblindete und gleichzeitig geistlich erleuchtet wurde (Alex. Mon. Laud. Barn. 16f. in Kollmann/Deuse 2007, 91). 187

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Die Bekehrung des Paulus ist ein beliebtes Motiv in der Kunst. Das liturgische Fest der Bekehrung des Apostels Paulus, in Gallien seit dem 8. Jh. bezeugt, hat dazu beigetragen. Neben der Literatur (z.B. A. Strindberg, Til Damaskus, 1898-1904) und Musik (z.B. H. Schütz, Motette »Saul, Saul, was verfolgst du mich?« gg. 1650) ist vor allem die Ikonographie (z.B. Codex Cosmas Indicopleustes, 9 Jh., Rom) zu nennen. In der Renaissance und im Barock sind das scheuende Pferd, von dem der Auctor ad Theophilum schweigt, und der Sturz des geblendeten Saulus beliebte Motive (z.B. G. Bellini, 15 Jh., Pessaro; Michael Engel, Freske in Cappella Paolina, 1542/43, Vatikan; Caravaggio, S. Maria del Popolo, 1601, Rom; Rubens, 17 Jh., Berlin und München). Andrzej Najda

Literatur zum Weiterlesen B. Kollmann, Die Berufung und Bekehrung zum Heidenmissionar, in: F. W. Horn (Hg.), Paulus-Handbuch, Tübingen 2013, 80-90. A. Lindemann, Einheit und Vielfalt im lukanischen Doppelwerk. Beobachtungen zu Reden, Wundererzählungen und Mahlberichten, in: J. Verheyden (Hg.), The Unity of LukeActs, BEThL 142, Leuven 1999, 225-253. A. J. Najda, Der Apostel als Prophet. Zur prophetischen Dimension des paulinischen Apostolats, EHS 23/784, Frankfurt a.M. et al. 2004. Ders., Prophetie und Propheten in der Apostelgeschichte, in: C. G. Müller (Hg.), Licht zur Erleuchtung der Heiden und Herrlichkeit für dein Volk Israel. Studien zum lukanischen Doppelwerk. FS J. Zmijewski, BBB 151, Hamburg 2005, 211-226. M. Reichardt, Psychologische Erklärung der Damaskusvision? Ein Beitrag zum interdisziplinären Gespräch zwischen Exegese und Psychologie, SBB 42, Stuttgart 1999. H. M. Storm, Die Paulusberufung nach Lukas und das Erbe der Propheten. Berufen zu Gottes Dienst, ANTI 10, Frankfurt a.M. et al. 1995.

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Kam, sah, heilte (Petrus in Lydda) Apg 9,32-35 (9,32) Da trug es sich zu, dass Petrus, während er eine Gemeinde nach der anderen bereiste, auch zu den Heiligen hinabkam, die in Lydda wohnten. (33) Er fand dort die Situation vor, dass ein Mann namens Äneas seit acht Jahren zu Bette lag; er war gelähmt. (34) Da sagte Petrus zu ihm: »Äneas, Jesus Christus heilt dich. Steh auf und mach dir dein Bett.« Auf der Stelle stand er auf. (35) Alle Bewohner von Lydda und der Scharonebene sahen ihn; sie kehrten sich zum Herrn.

Sprachlich-narratologische Analyse Mit der Flucht des Saulus aus Jerusalem und seiner Reise nach Tarsus endet die lukanische Ersterzählung von seiner Bekehrung und deren Nachspiel in Jerusalem (Apg 9,1-30). Die summarische Schilderung des friedvollen Wachsens der ›Kirche‹ (ἐκκλησία ekklēsia) in ganz Judäa, Galiläa und Samarien (9,31) fungiert als Abschluss der Episode um Saulus, dessen Verfolgungen diesem friedvollen Wachstum ja gerade entgegengesteuert hatten. Gleichzeitig erstellt sie das Bühnenbild für die folgenden Szenen (Apg 9,35.42; 10,44-46), die den weiteren Erfolgszug des Glaubens erzählen. Die Leser und Leserinnen hatten Petrus zuletzt im Konflikt mit Simon Magus erlebt (Apg 8,9-25). In Gesellschaft des Johannes war Petrus nach einer Verkündigungsreise durch Samarien nach Jerusalem zurückgekehrt und dort seither nicht aus der Gruppe der Apostel herausgetreten. So können sie, die Leserinnen und Leser, an den Eindruck vom Samarienaufenthalt anknüpfen, wenn ihnen Petrus erneut unterwegs, nunmehr auf einer Visitationsreise, vor Augen geführt wird (9,32). Diese Reise wird ihn von dem in Judäa gelegenen Lydda nach dem ebenfalls judäischen Joppe ans Meer und dann nach dem neuen, durch Herodes den Großen in hellenistischem Stil erbauten Cäsarea Maritima führen. Dort wird die Botschaft von Jesus als dem Messias, nachdem sie in Samarien Raum gewonnen hat, einen neuerlichen Quantensprung machen, indem mit dem Haus des Cornelius erstmalig Nichtjuden der neuen Gemeinschaft hinzutreten dürfen. Die Wundererzählungen von der Heilung des Äneas und der Auferweckung der Tabita bilden gewissermaßen den Reisebericht nach Cäsarea, wobei die drei Stationen Lydda, Joppe und Cäsarea narrativ so aneinandergekoppelt sind, dass Petrus jeweils von Gesandten aus der nächsten Stadt an seinem Aufenthaltsort abgeholt wird, zunächst mit einem Dringlichkeitsgesuch und schließlich sogar infolge eines göttlichen Auftrags. Gleichsam mit magnetischer Kraft wird Petrus nach Cäsarea gezogen, was den Wundern in Lydda und Joppe den 189

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Charakter eines Vorspiels verleiht. Dieser klimaktische Verlauf spiegelt sich in der wachsenden Erzähllänge der einzelnen Episoden wider. Im Stil unter anderem der Septuaginta (ἐγένετο egeneto – mit AcI: »es geschah, dass«) führt der Auctor ad Theophilum Petrus (wieder) in die Erzählung ein. Anknüpfend an die Erwähnung der ›Kirche‹ in ganz Judäa, Galiläa und Samarien wird als allgemeiner Kontext partizipial seine Reisetätigkeit rundum mitgeteilt, um in der zentralen Aussage des ersten Satzes das Blickfeld auf Lydda und die dortigen ›Heiligen‹ zu verengen, zu denen Petrus hinabgeht. Erneut fährt die Kamera näher heran; so nah, dass die Gläubigen als Gruppe wieder aus dem Bild verschwinden. Aus der Perspektive des Petrus – er ist Subjekt – erfasst sie in einer einzigen Einstellung die Situation einer Einzelperson: Ein Mann namens Äneas ist seit acht Jahren bettlägerig. Die Diagnose, Lähmung, wird in einem auf die minimale Information verknappten Relativsatz nachgeschoben. Auch die weiteren Handlungsschritte gehen von Petrus als Subjekt aus: Er ergreift das Wort. Seine direkte Rede lässt in gedrängter Form auf den Anruf des Gelähmten eine präsentische Feststellung und zwei aoristische Aufforderungen folgen: Jesus Christus heile den Angesprochenen, er solle aufstehen und seine Liegestätte glattstreichen. Nun erst, im Anschluss an die Worte des Petrus, wird Äneas Subjekt, die Erzählweise verharrt in der erwähnten Kargheit. Lediglich ergänzt durch ein Adverb nimmt das Prädikat mit der Feststellung, dass Äneas augenblicklich aufstand, den ersten Imperativ auf. Damit hat die Begegnung zwischen Petrus und Äneas auch schon ihr Bewenden. Der letzte Satz berichtet von den Folgen der Heilung, die gewissermaßen eine Weitwinkeleinstellung erforderlich machen, betreffen sie doch einen weitaus umfangreicheren Personenkreis und ein weitläufigeres Gebiet als eingangs der Szene erwähnt: Ganz Lydda und die Scharonebene wenden sich dem Glauben zu. Die vier Verse entsprechen damit vier Handlungsschritten: V. 32 stellt die Exposition mit geographischer Situierung und Ankunft des Wundervermittlers dar; V. 33 berichtet die Erstbegegnung zwischen Wundervermittler und Wunderempfänger; V. 34 schildert den Wundervollzug, bestehend aus der Anrede durch den Wundervermittler und der Reaktion des nunmehr Genesenen. V. 35 beschreibt hyperbolisch die Folge des für alle augenscheinlich vollzogenen Wunders. Knappheit und Schlichtheit kennzeichnen die Syntax der Wundererzählung. Es gibt kaum Hypotaxen, wenig attributiven und adverbialen Schmuck. Der hierdurch erzielte und durch die Kürze der Erzählung unterstrichene Eindruck einer Handlungssequenz, bei der die einzelnen Schritte in hoher Geschwindigkeit aufeinander folgen, wird verstärkt durch das aoristische Grundgerüst der Haupthandlungen (hinabkommen – vorfinden – sagen – aufstehen – sehen – umkehren). Nirgends verweilt die Handlung durch ein Imperfektum. Die einzige Ausnahme bildet die erläuternde Situationsbeschreibung von der Lähmung des Äneas. Die Gedrängtheit der Erzählung verlangt der Leser- bzw. Hörerschaft ein selbständiges Anreichern des Erzählgerippes mit nur kontextuell oder implizit gegebener Information ab. Schon zu Beginn muss sie die geographische Ausdehnung der petrinischen Reisetätigkeit aus dem vorausgehenden Vers in die Lydda-Perikope 190

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importieren. Lydda wird als bekannt vorausgesetzt, die Lage der Stadt nicht erläutert, ebenso wie später die Scharonebene. Auch den erzähllogischen Bezug der Ortsangabe ›dort‹ (9,33) auf den Kreis der Heiligen in Lydda – statt, wie theoretisch auch möglich, allein auf die Stadt Lydda – müssen die Rezipienten selbst herstellen. Vorausgesetzt wird ferner die Vertrautheit mit den sozialen Implikationen von Gelähmtheit und der Beschaffenheit der Liegestätte: Die Aufforderung, sich das Bett glattzustreichen, also eine Alltagsverrichtung selbständig auszuführen, erschließt sich in ihrer ganzen Tragweite nur dem, der eine deutliche Vorstellung vom Angewiesensein eines Gelähmten hat.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Acht Jahre soll Äneas auf einem κράβαττος (krabattos) gelegen haben. Während der Auctor ad Theophilum dieses Wort im Lukasevangelium kein einziges Mal gebraucht, sondern es in den von Markus übernommenen Stellen ersetzt (Lk 5,24), umschreibt (Lk 5,25) oder gänzlich weglässt (Lk 5,23), scheint es ihm hier (und in Apg 5,15) der treffende Ausdruck zu sein. Dies könnte mit dem Bild zusammenhängen, das der Verfasser bei einem κράβαττος vor Augen hatte. Denn einen κράβαττος hat man sich wohl nicht in allen Fällen wie in Mk 2,9.11.12; Joh 5,8.9.10.11 und ActPetr 32 als tragbare Liegemöglichkeit vorzustellen. Von den Gelähmten, die im Heiligtum von Epidaurus Heilung suchten, lag nach Ausweis der Inschriften (spätestens 300 v. Chr.) keiner auf einem κράβαττος; ihre Lager hatten andere Bezeichnungen (vgl. Herzog 1931). Die Etymologie (vgl. Frisk 2006, s.v.) könnte eine (Eichen-)hölzerne Beschaffenheit suggerieren, doch da das konkrete Erscheinungsbild eines Gegenstandes sich im Laufe der Zeit von seinem Etymon entfernen kann, ist das nicht zwingend. Sicher ist, dass κράβαττος im 1. und 2. Jh. für eine ortsfeste Schlafstätte in einem Haus verwendet wurde, wie Epiktet bezeugt (diss. 1,24,14) und der Lexikograph Pollux kritisiert (Onomast. 10,35). Erst mit christlichen Texten dringt κράβαττος in die Literatursprache ein, avanciert allmählich zum Normalwort für »Bett«, wie auch das Zeugnis der Papyri bestätigt (Kramer 1995, 213f.), und sogar zum Lehnwort im rabbinischen Hebräisch (bMQ 10b; bQid 70a). Für unseren Text bedeutet das, dass der Auctor ad Theophilum sich den κράβαττος des Äneas vielleicht als Liegestätte im Haus vorgestellt hat (Le Cornu/ Shulam 2003, 531). Damit würde sich die Heilungsszene in dem Haus abspielen, wo Äneas jahrelang gelegen hat. Der Auftrag »Mach dir dein Bett« (στρῶσον strōson) gibt einen weiteren Hinweis auf das Erscheinungsbild eines κράβαττος. Das zugrunde liegende Verb in der Bedeutung »hinbreiten, ausbreiten‚ ebnen« (Frisk 2006, s.v.) wird bereits von Homer ohne Objekt für das Zurechtmachen eines Bettes verwendet (Od. 19,599). Mit demselben objektlosen Imperativ wie in Apg 9,34 bedeutet in einer Anekdote Machons (3. Jh. v. Chr.) ein älterer Herr einer Hetäre, drinnen das Bett zu bereiten (frgm. 17,344). Ein Ausrollen des κράβαττος (Marguerat 2007, 351) kann mit 191

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dem »Hinbreiten« in Apg 9,34 nicht gemeint sein – hat der just Genesene doch acht Jahre auf eben diesem Bett gelegen. Vielmehr wird sich auf dem κράβαττος eine Art Bettzeug, eine Decke o.Ä. befunden haben, das sich über die Liegestätte hinbreiten ließ. Der Schauplatz der Heilung des Äneas, Lydda oder, mit hebräischem Namen, Lod, wird erstmalig im 15. Jh. v. Chr. erwähnt, und zwar in einer Liste kanaanäischer Städte, die durch Thutmosis III. erobert wurden. 1 Chr 8,12 kennt Lod als benjaminitische Stiftung. Nach Esr 2,33; Neh 7,37 und 11,35 ließen sich Rückkehrer aus dem Exil dort nieder. In persischer Zeit und bis zum Jüdischen Krieg spielte das an der Straße von Jerusalem nach Joppe/Jaffa gelegene Lod die Rolle eines zentralen Ortes im gleichnamigen Verwaltungsbezirk (Plin. nat. 5,70; Flav. Jos. Bell. 3,54). Dieser Bedeutung entspricht es, wenn der Legat von Syrien Ummidius Quadratus dort auf dem Weg von Samaria nach Jerusalem zu Beginn der fünfziger Jahre des 1. Jh. eine Gerichtssitzung in einem größeren Konflikt zwischen Juden und Samaritanern abhält (Flav. Jos. Ant. 20,130; Bell. 2,242-244). Zur Zeit des jüdischen Aufstands wurde Lydda von Vespasian eingenommen; in der Zeit danach und bis zum Bar-Kochba-Aufstand war Lod ein Zentrum rabbinischer Gelehrtheit, das Jabne/Jamnia wohl in nichts nachstand; führende Rabbis dieser Zeit haben in Lod gewohnt und gelehrt oder studiert und sich zumindest zeitweilig dort aufgehalten. Zwischen 140 und 180 n. Chr. scheint es diese Rolle eingebüßt zu haben; erst mit Rabbi Jehuda ha-Nasi und der zeitgleich erfolgten Erhebung durch Septimius Severus zu einer Stadt unter dem Namen Diospolis (199/200 n.  Chr.) konnte es zeitweilig an seine alte Bedeutung anknüpfen (Oppenheimer 1988, 118). Die zuvor samaritische Toparchie Lod war nach 1 Makk 11,34 in der Mitte des 2. Jh. v. Chr. auf Betreiben des Jonatan Makkabäus Judäa angegliedert worden. Zur Zeit von Apg 9 dürfte die Bevölkerung Lyddas, das damals zwar die Größe, noch nicht aber den Status einer polis hatte (Flav. Jos. Ant. 20,130), überwiegend jüdisch gewesen sein; jedenfalls fand der Legat von Syrien, Cestius Gallus, als er 66 n. Chr. während des Laubhüttenfestes auf Jerusalem marschierte, die Stadt leer vor; alle waren zum Fest in Jerusalem (Flav. Jos. Bell. 2,515f.). Eine samaritanische Minderheit in Lydda ist nicht gänzlich auszuschließen (Schwartz 1991, 72), doch hat man sich die in Apg 9 erwähnten »Heiligen« in Lydda wohl als Judenchristen vorzustellen. Der griechische Name des Geheilten steht dem nicht entgegen. Sporadisch sind in hellenistischer Zeit Juden mit dem Namen Äneas für den palästinischen Raum bezeugt. Eine Grabinschrift einer Heliodora oder Diodora im antiken Marissa aus dem Jahre 112 v. Chr. nennt vermutlich einen Äneas als ihren Vater (Abel 1925, 270). Josephus erwähnt einen Äneas als Mitglied einer jüdischen Gesandtschaft des Hohepriesters Hyrkan II. (Ant. 14,248) und bei der Belagerung Jerusalems durch Titus einen Überläufer zu den Römern mit demselben Namen (Bell. 5,326-328).

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Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Kürze und die stark lukanische Ausformung der Erzählung reduzieren den Zugang zu Traditionen im Sinne historischer Reminiszenzen hinter Apg 9,33-35 auf Personen- und Ortsnamen als mögliche Ansatzpunkte. Dagegen tritt das traditionelle Motivrepertoire von Wunderheilungen ebenso deutlich zutage wie die (lukanischen) Variationen, die der Äneaserzählung ihr besonderes Gepräge geben. Nach der Ankunft des Wundervermittlers am Ort der bevorstehenden Wunderheilung (9,32) wird der Heilungsbedürftige in einer dem Leser der lukanischen Schriften vertrauten Weise in die Handlung eingeführt, nämlich mit einem Substantiv zur Angabe von Geschlecht, Funktion oder Beruf, einem Indefinitpronomen und einer Namensnennung, eingeleitet durch »mit Namen« (vgl. etwa Lk 1,5; 19,38; Apg 5,1.34; 8,9 u.ö.). Der Name des Heilungsbedürftigen gehört zum fakultativen Inventar von Wundererzählungen (vgl. Suet. Vesp. 7,2; Epidauros); beim Auctor ad Theophilum bleibt etwa der Gelähmte am Jerusalemer Tempel (Apg 3,1-10) ebenso namenlos wie der zu Lystra (Apg 14,8-10). Gängige Elemente sind die Diagnose und die Zeitdauer der Erkrankung. Ersterer verleiht der Verfasser der Apostelgeschichte einen eigenen Ausdruck, denn das Partizip Perfekt des Verbs zur Benennung der Lähmung (παραλελυμένος paralelymenos) gebraucht im Neuen Testament neben dem Zitat Hebr 12,12 er allein; er ersetzt damit andernorts (Lk 5,18) das durch Markus gebrauchte Wort (παραλυτικός paralytikos; Mk 2,3). In den Heilungsberichten aus Epidauros sind alle Gelähmten »lahm« (χωλοί chōloi; Epidauros B35; vgl. Apg 3,2 u.ö.) oder »kraftlos« (ἀκρατεῖς akrateis; Epidauros B37). Die Zeitdauer der Erkrankung – als Ausdruck ihrer Schwere – kann entweder durch die Angabe ihres Beginns (»von Mutterleib an«; vgl. Apg 3,2; 14,8) oder ihrer zeitlichen Erstreckung (»zwölf Jahre« in Mk 5,25; vgl. Epidauros A12, B30) Erwähnung finden. Meist wird die vorliegende Zeitangabe wie in Apg 24,10 im Sinne einer Dauer interpretiert als »seit acht Jahren«, doch ist eine Deutung als Angabe des Erkrankungsbeginns sprachlich nicht unmöglich (»seit seinem achten Lebensjahr«, vgl. Apg 3,2; 14,8). Bemerkenswerterweise folgt auf die Beschreibung der Krankheitssituation unmittelbar das »wunderwirkende Wort« (Theißen 1998, 73f.). Die in den Wundererzählungen der Evangelien häufig anzutreffende Bekundung des Glaubens durch den Erkrankten oder des stellvertretenden Glaubens durch ihm Nahestehende fehlt, wie übrigens auch in der Heilung des Gelähmten an der Schönen Pforte des Tempels (Apg 3). Bei dem ›wunderwirkenden Wort‹ handelt es sich im eigentlichen Sinn gar nicht um ein solches, denn das Wort wirkt das Wunder nicht. Es zerfällt in drei Teile, eine an die Formulierung in Lk 5,17 erinnernde Feststellung (»Äneas, es heilt dich Jesus Christus«) und zwei Imperative (»steh auf«, »mach dein Bett«). Die Feststellung, dass Jesus Christus der eigentliche Heiler ist, gehört zu den vom Auctor ad Theophilum verschiedentlich hervorgehobenen Themen: Auch der Gelähmte an der Schönen Pforte wird im Namen Jesu Christi von Nazareth geheilt (Apg 3,2). 193

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Die Aufforderung aufzustehen gehört gewissermaßen natürlicherweise zu Gelähmtenheilungen und Totenerweckungen. Beide im Griechischen hierfür verwendeten Verben werden auch für die Auferstehung Jesu gebraucht; daher ist ein intendierter Verweis von »steh auf« (ἀνάστηθι anastēthi) auf die Auferstehung sowohl bei Äneas als auch bei Tabita/Dorkas (Apg 9,34.40) nicht auszuschließen (Marguerat 2001, 205; ders. 2003b, 97-106). Der zweite Imperativ (»mach dein Bett«) erfüllt die gleiche Funktion wie in den synoptischen Berichten die Aufforderung, die eigene Liegestätte mitzunehmen (Mk 2,9.11; Mt 9,6; Lk 5,24) oder umherzugehen (Mt 9,5; Lk 5,23): Die Tätigkeit, zu der aufgerufen wird, markiert das Ende der Krankheitszeit, demonstriert den kurzsilbig konstatierten Heilungserfolg: »Auf der Stelle stand er auf«. Die für Wunderheilungen typische abschließende Reaktion der Menge mit Bewunderung, Schreck, Beifall oder Ablehnung macht der Auctor ad Theophilum dem übergeordneten Zweck der Apostelgeschichte dienstbar. Das Werk soll die Ausbreitung des Glaubens zeigen; im konkret vorliegenden Kontext wird von der Bekehrung Lyddas und der Scharonebene berichtet, was den Handlungsfaden geographisch in die Nähe des nächsten großen Zwischenzieles bringt: Cäsarea Maritima (Apg 10-11).

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Die lukanische Diktion der sprachlichen Gestaltung, die absichtsvolle Platzierung im Gesamtaufriss der Apostelgeschichte sowie die lukanischen Züge in Theologie und Geschichtsbild empfehlen nachdrücklich einen redaktionskritischen Zugang. Dieser braucht sich keineswegs darauf zu beschränken, anhand der wohl unter der lukanischen Redaktion liegenden konkreten Informationen zum Ort der Handlung und zum Namen des Geheilten einen historischen Kern in der Episode entdecken zu wollen (Jervell 1998, 299; vgl. Weiser 1989, 241) oder einen solchen gerade zu bestreiten. Vielmehr bietet er Raum für Beobachtungen zur Funktion von Heilungen durch die Apostel bei der Verbreitung des Evangeliums. Er hebt ab auf die von Lukas mittels deutlicher Parallelisierung herausgestellte Kontinuität apostolischer Heilungen mit den Heilungen Jesu in den Evangelien: Auch nach seiner Himmelfahrt ist es Jesus, der heilt. Damit zeichnet sich auch das lukanische Bild von Petrus in den Heilungserzählungen in Apg 9,32-43 ab. Beide »wollen Petrus als Sachwalter der Macht Jesu zeigen, der bevollmächtigt ist, Jesu heilvolle Taten fortzusetzen, durch die Gottes endzeitliche Macht zeichenhaft in diese Welt einbricht« (Roloff 2010, 160). Dass der Geheilte nicht anonym bleibt, sondern einen Namen und eine Geschichte hat, kann auch als Ausgangspunkt für eine sozialgeschichtliche Auslegung dienen. Diese wird die Lebensumstände eines langjährig Gelähmten aus einfachen Verhältnissen im 1. Jh. erhellen, daraus die Bedeutung einer Heilung für seine konkrete Lebensgestaltung ableiten, vor allem aber auf die Erlangung von (womöglich nicht zuletzt wirtschaftlicher) Selbständigkeit abheben. So kann die Heilung des Äneas zu einer beispielhaften Hoffnungsgeschichte werden: In der große Menschen194

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mengen erfassenden Ausbreitung des Glaubens bleibt Raum für die Rückerstattung bislang verwehrter Lebensmöglichkeiten an den Einzelnen. Eine an (tiefen)psychologischen Einsichten orientierte Auslegung wird Äneas’ Erkrankung als psychogene Lähmung deuten. Hinter ihr könnten intensive Erfahrungen sozialer Konstellationen stehen, die zu einer innerlichen – und in der Folge äußerlichen – Erstarrung in Passivität führen. Die Lähmung könnte Zeichen einer Verweigerungshaltung sein gegenüber einem die eigene Autonomie untergrabenden sozialen Druck, einer ängstlichen Zurückweisung der Zuständigkeit für einen selbst verantworteten Ausweg aus der lähmenden Situation. Heilung bedeutete dann Befreiung aus der Starre, Durchbrechen der Weigerung, Gewinnung von Handlungsautonomie, Mut und Zugang zu einem selbst gestalteten und verantworteten Leben. Einen ersten Schritt in diese Richtung nimmt etwa Rudolf Pesch mit seiner Deutung der achtjährigen Lähmung des Äneas als »(psychosomatisches) Streikphänomen«, das durch Petrus »durchschaut und durch sein Heilwort, das den Kranken für Jesus Christus und den Auftrag der Gemeinde im Glauben in Anspruch nimmt und herausfordert, durchbrochen wird« (Pesch 2005, 319).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Eine außerbiblische Überlieferung zur Anwesenheit des Petrus in Lydda und der Heilung des Äneas gibt es nicht. Zwar hat man versucht, in der rabbinischen Tradition von einem gewissen Ben Stada, der in Lod durch seine als heterodox bewerteten Aktivitäten eine Bedrohung für die dortigen Juden dargestellt habe, einen Reflex der Anwesenheit des Petrus in Lydda zu sehen (J. Schwartz 1990). Doch lässt sich über einen historischen Ben Stada keinerlei zweifelsfreie Information gewinnen. Die Form seines Namens ist ebenso unsicher wie die Datierung seines Lebens. Möglicherweise sind in ›Ben Stada‹ selbst Züge mehrerer Personen zusammengeflossen (Maier 1978, 237). Und so gehört diese These eher zur Rezeptionsgeschichte des Textes in der exegetischen Forschung, die in Ben Stada vereinzelt auch Jesus, Simon Magus und andere hat sehen wollen, als zur Rezeption der Anwesenheit des Petrus in Lydda. Um das Jahr 400 geht Johannes Chrysostomus, seinerzeit Erzbischof von Konstantinopel, in seiner 21. Homilie über die Apostelgeschichte auch auf die Aktivitäten des Petrus in Lydda und Joppe ein. Petrus habe sich von der friedlichen Situation nach der Flucht des Paulus aus Jerusalem nicht trügen lassen, sondern sei sich der Notwendigkeit zur Betreuung der Gemeinden vollauf bewusst gewesen. Wie ein Heerführer habe er den Zustand der Gemeinden inspiziert. Für die Tatsache, dass Petrus weder nach dem Glauben des Äneas fragt noch nach seinem Wunsch, geheilt zu werden, führt Chrysostomos zwei Argumente an: Zum einen habe das Wunder (θαῦμα thauma) ›ermahnende‹ Funktion gehabt und tatsächlich seien viele Menschen zum Glauben gekommen, Äneas sei nämlich bekannt gewesen. Zum anderen hätten die Apostel dort ihre Heilungsfähigkeiten noch nicht unter Beweis gestellt, 195

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so dass man Äneas den Glauben hieran nicht abverlangen konnte, genauso wenig wie dies bei dem Gelähmten zu Jerusalem (Apg 3) geschehen sei und auch Christus selbst diese Frage am Anfang seines Wirkens nicht gestellt habe. Martin G. Ruf

Literatur zum Weiterlesen M. Böhm, Samarien und die Samaritai bei Lukas, WUNT 2/111, Tübingen 1999. A. Lindemann, Einheit und Vielfalt im lukanischen Doppelwerk. Beobachtungen zu Reden, Wundererzählungen und Mahlberichten, in: J. Verheyden (Hg.), The Unity of LukeActs, BETHL 142, Leuven 1999, 225-253. D. Marguerat, La Première Histoire du Christianisme (Les Actes des Apôtres), LeDiv 180, Paris/Genf 22003b, 97-100.177-192. A. Oppenheimer, Jewish Lydda in the Roman Era, HUCA 59 (1988), 115-136.

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Stütze der Gemeinde erwacht zu neuem Leben (Die Auferweckung der Tabita) Apg 9,36-43 (9,36) In Joppe aber gab es eine Jüngerin mit Namen Tabita, was übersetzt Dorkas heißt. Diese war reich an guten Werken und Mildtätigkeit, die sie übte. (37) Es geschah aber in jenen Tagen, dass sie krank wurde und starb. Sie wuschen sie aber und legten sie in das Obergemach. (38) Da aber Lydda ganz in der Nähe von Joppe liegt, hörten die Jünger, dass Petrus dort sei, und sandten zwei Männer zu ihm mit der Bitte: »Zögere nicht, zu uns herüberzukommen.« (39) Petrus aber machte sich auf und ging mit ihnen. Bei der Ankunft führten sie ihn in das Obergemach. Und alle Witwen traten zu ihm, weinten und zeigten die Untergewänder und Kleider, die Dorkas gemacht hatte, als sie noch bei ihnen war. (40) Petrus aber schickte sie alle hinaus, kniete nieder und betete. Und an den Leichnam wandte er sich mit den Worten »Tabita, stehe auf!« Sie öffnete aber ihre Augen, und als sie Petrus sah, setzte sie sich auf. (41) Er aber gab ihr die Hand und ließ sie aufstehen. Und nachdem er die Heiligen und die Witwen herbeigerufen hatte, präsentierte er sie lebend. (42) Es wurde aber in ganz Joppe bekannt und viele kamen zum Glauben an den Herrn. (43) Es geschah aber, dass er etliche Tage in Joppe bei einem gewissen Simon, einem Gerber, blieb.

Sprachlich-narratologische Analyse Die Erzählung von der Erweckung der Tabita begegnet in jenem Abschnitt der Apostelgeschichte, der von der vorpaulinischen Verbreitung des Evangeliums durch den Stephanuskreis und Petrus berichtet (Apg 6-12). Sie ist Bestandteil eines Erzählkranzes von Petrusüberlieferungen (Apg 9,32-11,18), in deren Mittelpunkt die missionarischen Aktivitäten des Apostels im palästinischen Küstengebiet stehen. Indem sich der Ortswechsel des Petrus von Lydda über Joppe nach Cäsarea jeweils infolge der Entsendung von Boten vollzieht (9,38; 10,5-8), sind die einzelnen Petruserzählungen kunstvoll ineinander verwoben. Mit der Nachricht von der Herbeiholung des Apostels aus dem nicht weit entfernten Lydda (9,38) schließt sich die Erweckung der Tabita eng an die vorangehende Gelähmtenheilung an. Durch die Notiz, dass Petrus in Joppe bei dem Gerber Simon Quartier genommen hat (9,43), wird die nachfolgende Korneliusgeschichte vorbereitet (vgl. 10,6). Die Tabitaerzählung hält sich durchgängig an die chronologische Ordnung des Geschehens und weist keine narrativen Anachronismen auf. Der zeitliche Rahmen des Erzählgeschehens vom Eintritt des Todes der Tabita über die zeitnahe Herbei197

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holung des Wundertäters bis hin zur sofortigen Wiederbelebung der Verstorbenen umfasst kaum mehr als jene ungefähr sechs Stunden, die der etwa 15 km lange Fußweg zwischen Joppe und Lydda hin und zurück beansprucht. Sprachlich ist die Tabitaerzählung in der Vergangenheitsform gehalten. Während der erste Vers im Präteritum formuliert wird, gibt danach der Aorist als Erzähltempus den Ton an. Zudem ist der Erzählstil von zahlreichen Partizipialkonstruktionen geprägt. Im Blick auf Form und Inhalt erweist sich Apg 9,36-43 als planvoll gestaltete Einheit. Die Geschichte zerfällt kompositorisch in drei Szenen, nämlich Exposition (9,36f.), Vorbereitung und Durchführung des Wunders (9,38-41) und Demonstrationsschluss (9,42f.). In der Exposition wird Joppe als Ort des Geschehens genannt und die Protagonistin der Erzählung eingeführt. Ihr aramäischer Name Tabita zeigt, dass sie von Hause aus Jüdin ist. Mit Dorkas wird auch die griechische Namensform genannt. Beide in der Antike gebräuchlichen Frauennamen bezeichnen eigentlich die weibliche Gazelle, die mit ihrer zierlichen Gestalt, ihrem schlanken Hals und ihrer Behändigkeit in besonderer Weise Grazie und Vitalität verkörpert. Tabita wird als vorbildhafte Frau vorgestellt, die sich durch eine Vielzahl guter Werke und die reichliche Gabe von Almosen auszeichnete. Die detaillierte Charakterisierung der bald darauf selber hilfsbedürftigen Person ist in Wundergeschichten ungewöhnlich und lässt die Rezipienten der Erzählung aufhorchen. Ergänzend ist Tabita als Jüngerin (μαθήτρια mathētria) und damit als Angehörige der christlichen Gemeinde gekennzeichnet. Das im Neuen Testament nur an dieser Stelle belegte Wort μαθήτρια (mathētria) unterstreicht die Bedeutung der Frau und lässt auch an eine Verkündigungstätigkeit denken (Richter Reimer 1992b, 81f.). Vor diesem Hintergrund gewinnt der Tod Tabitas eine besondere Tragik. Es handelt sich um einen äußerst schmerzhaften Verlust für die Gemeinde. Den Leserinnen und Lesern der Apostelgeschichte drängt sich im Horizont des unmittelbar vorangehenden Wunders von Lydda sogleich der Gedanke auf, dass mit Petrus ein möglicher Retter aus der Not in unmittelbarer Nähe weilt. In der Waschung der Toten spiegeln sich jüdische Begräbnisriten wider (mSchab 23,5). Regulär hätte sich unmittelbar danach das Begräbnis angeschlossen. Die stattdessen erfolgende Überführung des Leichnams in das Obergeschoss des Hauses setzt für die Rezipienten der Geschichte das unmissverständliche literarische Signal, dass das Ganze ein gutes Ende nehmen wird (Stipp 1999, 71). Im Zentrum der Erzählung steht die Vorbereitung und Durchführung des Wunders. Zunächst erfolgt die Herbeiholung des Wundertäters, wie sie in Totenerweckungsberichten häufiger vorkommt (2 Kön 4,22-25; Mk 5,22-24; Joh 11,3). Dass Petrus der Grund für seine dringend erforderliche Anwesenheit in Joppe vorenthalten wird, dient der Aufrechterhaltung des Spannungsbogens. Nach der Ankunft in Joppe wird Petrus in das Obergemach des Hauses geführt. Dort halten die Witwen der Gemeinde, die in besonderer Weise von der Wohltätigkeit der Verstorbenen profitiert hatten, die Totenklage. Dass Tabita ebenfalls verwitwet war, lässt sich aus dem Text nicht ableiten. Das Herzeigen der von Tabita gefertigten Kleider demonstriert ihre Wohltätigkeit und die besondere Notwendigkeit des Wunders, hat aber auch eine tiefere symbolische Bedeutung, indem es als Ausdruck von Solidarität die 198

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enge Verbundenheit mit der Verstorbenen zum Ausdruck bringt und als Geste der Gastfreundschaft Petrus willkommen heißt (Erichsen-Wendt 2007, 118-123). Petrus entfernt das Publikum, spricht ein Gebet und wendet sich dann dem Leichnam zu. Das Gebet ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die zur Totenerweckung führende Kraft nicht vom Wundertäter ausströmt, sondern allein von Gott kommt. Anders als Jesus begegnet Petrus bei der Totenerweckung nicht als der Träger, sondern lediglich als der Vermittler der numinosen Macht (Kahl 1994, 114f.). Das Wunder selbst vollzieht sich durch die Worte »Tabita, steh auf!« und tritt sofort ein. Die Verstorbene öffnet die Augen und setzt sich aufrecht, was ihr von Petrus durch das Darreichen der Hand erleichtert wird. Im Demonstrationsschluss wird die zu neuem Leben erweckte Tabita den Gläubigen präsentiert. Begünstigte des Wunders ist nicht nur die Verstorbene, sondern auch die Gemeinde, die ihre Wohltäterin zurückerhält. Mit diesem Erzählmotiv »wird der Stoff zugleich aus dem privaten Rahmen herausgehoben und auf die Gemeinschaft hin entgrenzt« (Stipp 1999, 72). In einer Verbreitungsnotiz ist davon die Rede, dass das Geschehen in ganz Joppe bekannt wurde und der Gemeinde zahlreiche neue Mitglieder bescherte. Die auf Lukas zurückgehende Nachricht vom weiteren Aufenthalt des Petrus in Joppe schließt den Bericht ab und leitet zugleich zur Korneliusgeschichte über.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Die Erzählhandlung spielt in Joppe, dem heutigen Jaffa. Die an der palästinischen Küste gelegene Stadt wird im Neuen Testament nur in der Apostelgeschichte erwähnt. Joppe ist die in neutestamentlicher Zeit gebräuchliche Namensform des alten Hafens Jafo, bei dem es sich ursprünglich um eine Philistersiedlung handelt. Wegen seiner strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung war Joppe seit den Tagen Alexanders des Großen immer wieder umkämpft (Schürer/Vermes 1979, 110-114). Mitte des 2. Jh. v. Chr. gelang es dem Hasmonäerfürsten Simon, die Stadt zu erobern (1 Makk 13,11) und sich damit einen Zugang zum Mittelmeer zu verschaffen. Zu den typischen Merkmalen der aggressiven hasmonäischen Expansionspolitik, bei der sich wirtschaftliche, politische und religiöse Motive miteinander verbanden, zählte die gewaltsame Vertreibung der nichtjüdischen Bevölkerung. Joppe stellte dabei keine Ausnahme dar und wies auch in den Tagen des Petrus noch eine überwiegend jüdische Einwohnerschaft auf. Im Jüdischen Krieg war die Stadt ein Zentrum des Aufstands gegen die Römer (Flav. Jos. Bell. 2,508). In der Darstellung Tabitas als Wohltäterin schlägt sich die vorbildliche Sozialfürsorge im antiken Judentum und deren Fortführung im frühen Christentum nieder. Obwohl sich auch arme Frauen durch die Gabe von Almosen auszeichnen konnten (Mk 12,41-44), erweckt die Erzählung den Eindruck, dass Tabita in Analogie zu Frauengestalten wie Maria (Apg 12,12) oder Lydia (Apg 16,14f.) eine wohlhabendere Gönnerin der Gemeinde war. Da der Name Tabita in der rabbinischen Tradition 199

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häufig in Verbindung mit Sklavinnen belegt ist (Richter Reimer 1992b, 60), könnte es sich um eine Freigelassene gehandelt haben. Spekulationen, dass Tabita als Prostituierte tätig war (vgl. Erichsen-Wendt 2005, 77f.), sind weit hergeholt. Inwieweit der Text bereits die institutionalisierte Witwenversorgung in der christlichen Gemeinde (Apg 6,1; 1 Tim 5,16) widerspiegelt, bleibt unsicher. Am Ende der Erzählung wird mitgeteilt, dass Petrus einige Tage in Joppe blieb und gastliche Aufnahme im Hause des Gerbers Simon fand, der wahrscheinlich ebenfalls zur christlichen Gemeinde zählte. Durch diese Angaben wird die aus 1  Kor 9,5 bekannte Tatsache bestätigt, dass Petrus in Orientierung an den Aussendungsanordnungen Jesu auf seinen Missionsreisen das Recht des Apostels auf Gemeindeunterhalt in Anspruch nahm. Das Haus des Simon lag direkt am Meer (Apg 10,6.32). Das Gerberhandwerk umfasst die Verarbeitung von rohen Tierhäuten zu Leder. Nach dem Häuten der Tiere werden die behaarte Oberhaut und die fleischige Unterhaut entfernt, so dass nur noch die eigentliche Lederhaut übrig bleibt. Durch die Einwirkung von Gerbstoffen wird diese in Leder verwandelt. In der Antike fanden unter anderem Salz, Kalk, Salmiak und Urin als Gerbstoffe Verwendung. Das Handwerk des Gerbers gehörte wegen der damit verbundenen Geruchsbelästigung im antiken Judentum zu den verachteten Berufen (bQid 82a). Nach rabbinischem Recht können Gerber ebenso wie Aussätzige oder Sammler von Hundekot dazu gezwungen werden, ihrer Ehefrau auf deren Verlangen den Scheidebrief auszustellen, auch wenn sie ihr Handwerk bereits bei Eheschließung ausübten (mKet 7,10). Wenn Petrus die Gastfreundschaft eines Gerbers in Anspruch nimmt, wohnt dem eine symbolträchtige Bedeutung inne, die sich mit der Einkehr Jesu bei Zöllnern und Sündern vergleichen lässt.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Tabitageschichte zählt zur Gattung der Totenerweckungen. Die Erzählungen von der Auferweckung Toter sind durch die Rückführung verstorbener Personen in neues irdisches und damit weiterhin vergängliches Leben gekennzeichnet. Sie stellen eine gesteigerte Form von Heilungswundern dar, da die erkrankte Person beim Eintreffen des Wundertäters bereits verstorben ist. Dabei begehren sie gegen den Tod auf und geben mit der Schilderung dessen, wie verstorbene Menschen ins Leben zurückgerufen werden, Hoffnung auf seine Überwindung. Innerhalb der antiken Totenerweckungsberichte lässt sich zwischen einem alttestamentlich-jüdischen und einem hellenistischen Typus unterscheiden (Weinreich 1909, 171-174). Während der Wundertäter im einen Fall ins Haus der verstorbenen Person geholt wird und das Wunder nach Entfernung des Publikums im Verborgenen bewirkt, begegnet er im anderen Fall dem Leichenzug in der Öffentlichkeit und ergreift selbst die Initiative zur Erweckung der verstorbenen Person. Die Erzählung von der Erweckung der Tabita gehört zum erstgenannten Typus, dessen Urbilder die Totenerweckungen der Propheten Elija und Elischa sind, und ist unverkennbar unter Bezugnahme auf die alttestamentlichen Beispiele konzipiert. Im Blick auf den Aufbau, den Hand200

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lungsablauf und die Erzählmotive bestehen enge Übereinstimmungen mit 1  Kön 17,17-34 und 2 Kön 4,18-37, die bis hin zu fast wörtlichen Anklängen reichen (Pesch 2005, 322; Fischbach 1992, 284f.). Daneben sind Berührungspunkte mit der in den Evangelien überlieferten Geschichte von der Erweckung der Tochter des Synagogenvorstehers Jaïrus erkennbar (Fischbach 1992, 280-283), die ebenfalls bereits im vorliterarischen Stadium auf die Tabitaerzählung eingewirkt haben dürfte. Auffällig ist nicht zuletzt das ταλιθά κοῦμ (talitha koum, Mk 5,41) frappierend ähnliche Wort »Tabita, steh auf!«, das im Aramäischen Tabitha koum lauten würde. Vor diesem Hintergrund spricht einiges für die Annahme, dass eine alte Gemeindetradition aus Joppe, die von der Heilung einer Christin namens Tabita durch Petrus erzählte, unter Einfluss der Vorbilder aus dem Alten Testament und der Jesusüberlieferung zu einer Totenerweckung ausgestaltet wurde (vgl. Roloff 2010, 160). Die Tabitaerzählung zeichnet Petrus als legitimen Sachwalter der Wunderkraft Jesu, durch dessen Wirken die bleibende Gegenwart des auferstandenen Herrn bezeugt wird, und proklamiert den Apostel als Heilsbringer, der den großen Wunderpropheten des Alten Testaments in nichts nachsteht. Die Annahme, die Erzählung verarbeite auch die Jonageschichte und den Andromeda-Perseus-Mythos, um das Leben an der Grenze zwischen städtischer Zivilisation und chaotischem Meer zu veranschaulichen (Erichsen-Wendt 2005, 71-74), bleibt spekulativ.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Die Erzählung von der Erweckung der Tabita eröffnet unterschiedliche Interpretationshorizonte. In der neueren Auslegungsgeschichte begegnen kerygmatische, sozialethische und feministisch-sozialgeschichtliche Deutungsmuster. Apg 9,36-43 wird als eine Geschichte gelesen, die von der endzeitlichen Auferstehung der Christusgläubigen, der Wiederbelebung des toten Glaubens zu sozialem Engagement oder der Frauensolidarität mit Ermöglichung neuer Lebensperspektiven handelt. Bei Johannes Kreyenbühl findet sich eine kerygmatische Deutung mit allegorischen Zügen. Er sieht den einzigen geschichtlichen Kern der Erzählung in der Auferstehungspredigt des Petrus in Joppe und versteht das Wunder rein symbolisch als Bild für die endzeitliche Auferweckung aller Gläubigen. Tabita diene der Personifikation der Gemeinde von Joppe und habe als geschichtliche Gestalt nie existiert. Die Wiederbelebung veranschauliche, dass der Messias bei der Parusie seine Gemeinde als eine »Tochter der Auferstehung« vom Tod erwecken werde, indem er sie wie ein schlafendes Mädchen bei der Hand fassen und zum Aufstehen auffordern werde (Kreyenbühl 1909, 269). Im krassen Gegensatz dazu wollte Alphons Steinmann in der Geschichte einen von Petrus schriftlich fixierten Tatsachenbericht erblicken, der Lukas durch Vermittlung von Johannes Markus zu Händen gekommen sei (Steinmann 1934, 102). Rudolf Pesch richtet den Fokus auf die sozialethischen Impulse, die von Apg 9,36-43 ausgehen. Für ihn stellt die Tabitaerzählung ein Muster dafür dar, wie Gläu201

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bige mit dem Tod heilig lebender Schwestern und Brüder umgehen dürfen. Es gehe dabei weniger um Heiligenkult als um eine Aufrüttelung der gesamten Gemeinde, um ein Wachwerden des Glaubens durch die Toten, die auf diese Weise lebendig zur Gemeinde sprächen. In dieser Hinsicht dürfe die Tabitaerzählung nicht nur, aber auch als symbolische Legende gelesen werden, welche dazu verpflichte, sich zum neuen Leben in der Gemeinde erwecken zu lassen, damit niemand in ihr Not leiden muss (Pesch 2005, 326). Ivoni Richter Reimer sieht in ihrer feministisch-sozialgeschichtlichen Deutung die bleibende Bedeutung der Tabitaerzählung vor allem in der Bejahung des solidarischen Lebens einer Jüngerin, das paradigmatisch weiterwirken will. Sie beobachtet in der Apostelgeschichte das Auftreten von Frauengruppen, deren religiöse und berufliche Aktivitäten Signale für einen befreienden Aufbruch geben. Die Jüngerin Tabita und die Witwen in der Gemeinde zu Joppe stellten sich als Gruppe dar, die eine ganzheitliche Diakonie lebe und damit Gottesdienst im Alltag der Welt feiere. Die Herstellung notwendiger Güter in der Gemeinschaft sei auch Glaubenszeugnis, wobei alltägliche Solidarität wie gelebte Spiritualität auf ewig blieben und den Tod überwänden. Indem die Erzählung von der Gegenwart Gottes im Tod und der Ermöglichung von Auferstehung spreche, eröffne sie neue und erneute Lebensperspektiven. Nachdem das Leben und der Tod der Tabita vieles und viele in Bewegung gesetzt hätten, könne ihre Auferweckung in der Gemeinde erneute Kraft zugunsten der sozial Schwächeren mobilisieren (Richter Reimer 1998, 549f.).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Die Erzählung begründet den Ruf des Petrus als großer Totenerwecker, der dann später in den apokryphen Petrusakten mit der Auferweckung nicht nur verstorbener Menschen (ActPetr 25-28), sondern auch eines toten Fisches (ActPetr 26f.) in bunten Farben ausgemalt wird. Johannes Chrysostomos hebt in seiner 21. Homilie zur Apostelgeschichte (PG 60,167-172) die Demut des Petrus hervor, der sich nicht zu schade ist, dem Ruf nach Joppe zu folgen, und dort nach dem Wunder weder bei Tabita noch einer anderen vornehmen Person, sondern bei einem Gerber Quartier nimmt. Der Name Tabitas charakterisiert für den Kirchenvater bestens ihre Wesenseigenschaften, da sie mit der Agilität und Wachsamkeit einer Antilope gute Werke tat. Cyprian von Karthago betrachtet Tabita als Paradebeispiel dafür, dass die Seele durch gute Werke und die Gabe von Almosen vor dem Tod bewahrt wird (Cyp. eleem. 6). In der Apokalypse des Elija aus dem 3. Jh. spielt Tabita als endzeitliche Märtyrerin, deren vergossenes Blut sich als heilvoll erweist, eine prominente Rolle. Sie verfolgt den Antichristen bis nach Jerusalem, wird von ihm ermordet und auf den Tempel geworfen, um dann von den Toten auferweckt zu werden (34,9-35). Dabei ist wohl an die Tabita unserer Erzählung gedacht (gegen Frankfurter 1990, 1325). Der Pilger von Piacenza erwähnt um 570 das Grab der Tabita in Joppe (Donner 2002, 292), das er offenkundig besucht hat. 202

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Stütze der Gemeinde erwacht zu neuem Leben Apg 9,36-43

Unter dem Eindruck von Apg 9,36-43 erfreuen sich Tabita und Dorkas auch heute noch großer Beliebtheit als weibliche Vornamen. Wegen ihrer Verdienste um die innergemeindliche Sozialfürsorge wurde Tabita in der kirchlichen Tradition zur Heiligen. Im Heiligenkalender der römisch-katholischen Kirche ist ihr der 25. Oktober als Gedenktag gewidmet. Die russisch-orthodoxe Kirche, die sich an dem Julianischen Kalender orientiert, gedenkt ihrer am 7. November und begeht zudem am vierten Sonntag nach Ostern das Fest der Heiligen Tabita. Die sozialethischen Implikationen der Tabita-Erzählung sind bis in die Gegenwart hinein wirksam. Schon immer durften im Wirken der Tabita »besonders die christlichen Frauenvereine ihr Vorbild erblicken« (Steinmann 1934, 101). Tabita wurde zur Namensgeberin karitativer Einrichtungen, die sich der Unterstützung sozial bedürftiger Frauen widmen oder Menschen im Trauerprozess begleiten. In Maroua (Kamerun) eröffnet das Ausbildungszentrum Saare Tabitha (»Haus Tabitha«) jungen Frauen ohne Schulabschluss die Möglichkeit einer mehrjährigen Ausbildung, deren Schwerpunkt in Schneiderei, Batik, Stickerei und Handarbeit liegt. In Aachen wird von einer römisch-katholischen Kirchengemeinde das Trauercafé Tabitha betrieben. Bernd Kollmann

Literatur zum Weiterlesen F. Erichsen-Wendt, Tabitha – Leben an der Grenze. Ein Beitrag zum Verständnis von Apg 9,36-43, BN 127 (2005), 67-90. Dies., Tabita. Zur Symbolik der Kleider in Apg 9,39, in: A. M. Hauff (Hg.), Frauen gestalten Diakonie. Bd. 1: Von der biblischen Zeit bis zum Pietismus, Stuttgart 2007, 111-123. B. Kollmann, Totenerweckungen in der Bibel – Ausdruck von Protest und Zeichen der Hoffnung, in: M. Ebner/E. Zenger (Hg.), Leben trotz Tod, JBTh 19, Neukirchen-Vluyn 2005, 121-141. V. Lawson, Tabitha of Joppa. Disciple, Prophet and Biblical Prototype for Contemporary Religious Life, in: R. M. Chennattu/M. L. Coloe (Hg.), Transcending Boundaries. Contemporary Readings of the New Testament, Rom 2005, 281-292. S. Luther, Hafen von Jerusalem, Hafen zur Welt. Jaffa in den Erzählungen der Apostelgeschichte, in: M. Peilstöcker/J. Schefzyk/A. A. Burke (Hg.), Jaffa – Tor zum Heiligen Land, Ausstellungskatalog, Mainz 2013, 70-76. I. Richter Reimer, Die wunderbare Geschichte der Jüngerin Tabitha (9,36-43), in: dies., Frauen in der Apostelgeschichte des Lukas. Eine feministisch-theologische Exegese, Gütersloh 1992b, 55-89. R. Strelan, The Gazelle of Joppa (Acts 9.36-41), BTB 39 (2009), 77-86.

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(Wie) Hilft Beten? (Die Befreiung des Petrus) Apg 12,1-11 (12,1) Zu jener Zeit ließ der König Herodes einige aus der Gemeinde festnehmen, um sie zu misshandeln. (2) Jakobus, den Bruder des Johannes, ließ er mit dem Schwert hinrichten. (3) Als er sah, dass es den Juden gefiel, machte er weiter und ließ auch Petrus verhaften. Das geschah in den Tagen der Ungesäuerten Brote. (4) Nach seiner Ergreifung ließ er ihn ins Gefängnis werfen und übergab ihn vier Wachmannschaften zu je vier Soldaten, um ihn zu bewachen. Nach dem Paschafest wollte er ihn dem Volk vorführen. (5) Petrus wurde also im Gefängnis bewacht, während die Gemeinde beharrlich für ihn zu Gott betete. (6) In der Nacht, bevor Herodes ihn vorführen lassen wollte, schlief Petrus, mit zwei Ketten gefesselt, zwischen zwei Soldaten. Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis. (7) Plötzlich trat der Engel des Herrn ein und Licht erfüllte die Zelle. Er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn auf und sagte: »Schnell, steh auf!« Da fielen ihm die Ketten von den Händen. (8) Der Engel sagte zu ihm: »Binde deinen Gürtel um und zieh deine Sandalen an!« Er tat es. Und er sagt zu ihm: »Wirf deinen Mantel um und folge mir!« (9) Als er hinausging, folgte Petrus ihm, ohne zu wissen, dass es Wirklichkeit war, was durch den Engel geschah. Er meinte, er habe eine Vision. (10) Nachdem sie an der ersten und an der zweiten Wache vorbeigegangen waren, kamen sie an das eiserne Tor, das in die Stadt führt. Das öffnete sich von selbst vor ihnen. Sie traten hinaus und gingen eine Straße weiter und auf einmal verließ ihn der Engel. (11) Da kam Petrus zu sich und sagte: »Jetzt weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel geschickt und mich aus der Hand des Herodes befreit hat, und von allem, was das jüdische Volk erwartete.«

Sprachlich-narratologische Analyse In Apg 11,27-30 berichtet Lukas von der Kollekte aus Antiochien für Jerusalem. Grund dafür ist die Hungersnot unter Kaiser Claudius (11,28). Barnabas und Saulus (Paulus) werden geschickt, um die Kollekte zu überbringen. Apg 12,25 erzählt, dass die beiden nach Antiochia zurückkehren, nachdem sie in Jerusalem ihre Aufgabe erfüllt haben. Zwischen diese beiden Notizen schiebt Lukas eine Erzählung, die von der Hinrichtung des Jakobus, der Befreiung des Petrus und der Vernichtung des Verfolgers handelt. 204

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(Wie) Hilft Beten? Apg 12,1-11

Apg 12,1-2 erzählen denkbar knapp von der Verfolgung einiger Gemeindemitglieder sowie von der Hinrichtung des Apostels Jakobus durch das Schwert. Dieser in seiner Kürze fast lapidar anmutenden Notiz kontrastiert die ausführliche Schilderung von der Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis (V. 3-11). V. 3-5 schildern die Situation: Zunächst erfahren wir, warum Herodes Agrippa I. den Apostel Petrus gefangen setzt: weil »es den Juden gefiel« (V. 3). Das Ganze passiert zur Zeit der »Ungesäuerten Brote«, also während des achttägigen Paschafestes. Jerusalem ist voll von Pilgern. Nach dem Fest will Herodes Petrus dem Volk vorführen und ihn öffentlich aburteilen. Bis zum geplanten Schauprozess lässt er Petrus ins Gefängnis werfen und stellt ihn unter schärfste Bewachung. Insgesamt sechzehn Soldaten bewachen Petrus rund um die Uhr. Mit τετράδιον (tetradion) taucht hier ein militärischer Fachbegriff auf, der eine besonders scharfe Bewachung durch vier Soldaten bezeichnet, die sich alle drei Stunden abwechseln (Kratz 1979, 466). Die Gemeinde betet beharrlich für Petrus zu Gott. V. 6 präzisiert die Situation direkt vor der Befreiung: Es ist Nacht, der Schauprozess steht unmittelbar bevor. Petrus schläft zwischen zwei Soldaten, an die er mit Ketten gefesselt ist. Zwei weitere Soldaten stehen vor der Gefängnistür. Eine Rettung scheint angesichts dieser Bedingungen ausgeschlossen. Vor dem Hintergrund dieser widrigen Umstände erstrahlt die Befreiung des Petrus (V. 7-10). Der Engel des Herrn tritt ohne Probleme ein – wie genau er das macht, muss gar nicht erzählt werden. Licht erhellt die Zelle (vgl. Lk 2,9). Der Engel stößt Petrus in die Seite. Drei Befehle markieren den Befreiungsprozess: »Schnell, steh auf!«, »Binde deinen Gürtel um und zieh deine Sandalen an!« und »Wirf deinen Mantel um und folge mir!«. Die detaillierten Aufforderungen des Engels zeigen, dass Gott alles unter Kontrolle hat (Weaver 2004, 164). Petrus gehorcht, aber er versteht nicht, was mit ihm passiert. Er glaubt, eine Vision zu haben. Der Engel und Petrus passieren ohne Schwierigkeiten die Wachen vor der Tür und gelangen zum Tor, das in die Stadt führt und sich von selbst vor ihnen öffnet. Das Gefängnis befindet sich also außerhalb Jerusalems. In der Stadt verlässt der Engel Petrus – er hat seine Aufgabe erfüllt. Nun erst kommt Petrus zu sich (V. 11). Er wird sich klar darüber, was »wirklich« (ἀληθῶς alēthōs) geschehen ist: Gott der Herr hat seinen Engel gesandt, um den Apostel aus der Hand des Herodes zu befreien. Und auch von den Erwartungen der Juden ist er befreit. Nachdem er zu dieser Einsicht gelangt ist, reagiert er nicht mehr wie eine Marionette, sondern kann wieder selbst agieren. Insofern dient der Vers als Scharnier zu den folgenden V. 12-17, die davon erzählen, dass Petrus zum Haus der Maria geht.

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Die Apg enthält drei Befreiungswunder, die unterschiedliche Akzente setzen: 12,1-11

16,23-40

Betroffene Personen alle Apostel

Petrus

Paulus und Silas

Fokus

Lehre im Tempel

Befreiung

Bekehrung des Kerkermeisters (V. 33f.)

Stellenwert der Befreiung

Keine »echte« Befreiung: Apostel werden vor den Hohen Rat geführt. »Befreiung« dient der Lehre im Tempel  missionstheologische Ausrichtung.

»Echte« Befreiung: Petrus kann entkommen. Befreiung dient der Flucht des Petrus und der Stärkung der Gemeinde.

5,17-26

Keine »echte« Befreiung: Paulus und Silas bleiben im Gefängnis. »Befreiung« dient der Bekehrung des Kerkermeisters  missionstheologische Ausrichtung.

Tab. 6: Befreiungswunder der Apg

Im Vergleich zu Apg 5 und 16 fallen in Apg 12 insbesondere die detaillierte Schilderung der Befreiung, die schrittweise Erkenntnis von Petrus und der Gemeinde sowie die fehlende Erkenntnis und die Vernichtung des Königs auf. Dem Befreiungswunder ist ein Strafwunder angehängt. Anders als in Apg 5 und 16 ist das Befreiungswunder rein innergemeindlich ausgerichtet: Direkt betroffen ist Petrus, er läuft zunächst zu einigen Gemeindemitgliedern und fordert sie dazu auf, »Jakobus und den Brüdern« davon zu erzählen (12,17). Insofern scheint mir fraglich, inwiefern hier in gleichem Maß eine missionstheologische Ausrichtung zu verzeichnen ist wie in Apg 5 und 16 (gegen Kratz 1979, 494). Pragmatisch führt die Erzählung in Apg 5 dazu, dass die Leser von Apg 12 bereits wissen: Gott kann seine Apostel aus dem Gefängnis befreien. Trotzdem ist das Befreiungswunder in Apg 12 für die Leser(innen) der Apg keine Selbstverständlichkeit. Denn zum einen erfahren sie in Apg 12,1f. von der Hinrichtung des Jakobus: Hier tritt kein rettender Engel des Herrn auf, Jakobus stirbt durch das Schwert. Zum anderen macht die ausführliche Schilderung in Apg 12,3-6 deutlich, wie groß die Hindernisse sind, die einer göttlichen Rettung entgegenstehen. Petrus wird scharf bewacht, er ist zudem angekettet. Der Apostel denkt nicht einmal an einen Ausbruchsversuch. Er wartet auch nicht auf einen Engel. Er schläft! Das ist einerseits nicht außergewöhnlich: Nachts ist die typische Zeit zu schlafen. Aber immerhin handelt es sich um die Nacht vor dem Schauprozess, also vielleicht um die letzte Nacht im Leben des Petrus. Wer könnte da schlafen? Die Gemeinde jedenfalls – so erfahren wir – schläft nicht, sondern betet beharrlich zu Gott. Wie wirkt dieser Kontrast auf die Leser? Unterstreicht er, wie »gottergeben« (Eckey 2011, 347) Petrus alles hinnimmt? Geht es darum, die »Situation als eine solche darzustel206

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len, die nach Menschenermessen den Charakter des Unabänderlichen trägt« (Eulenstein 1973, 57)? Oder begegnen wir hier einer antiken Konvention, »die den antiken Lesern anzeigt, dass Petrus sich nun in einer Situation mit unbestimmtem Ausgang befindet: Auf der Seite des Todes wirkt Agrippa I. […] Auf der Seite des Lebens wirkt das Gebet der Gemeinde, welches auf göttliche Wirklichkeit zielt« (Weissenrieder 2006, 78f.)? Der »Schlaf als Zustand zwischen Leben und Tod« (a.a.O., 78; vgl. Weissenrieder/Wendt 2005) unterstreicht, wie offen das Schicksal des Petrus ist: Wird er sterben wie Jakobus, oder wird der Herr ihn (nochmals) aus dem Gefängnis retten? In V. 7 fällt die Entscheidung: Der Engel des Herrn tritt auf. Der Leser weiß: Gott lässt Petrus nicht allein. Die Art, wie der Erzähler von dem Befreiungswunder erzählt, macht allerdings deutlich, dass er keineswegs mit einer »naiv-wundergläubigen« Leserschaft rechnet. Er setzt drei Strategien ein, um das Wunder zu plausibilisieren: 1. Er stellt die Erzählung in einen politisch-historischen Zusammenhang (vgl. Weaver 2004, 204-217) und verknüpft sie mit einem politisch-historischen Faktum: dem auch bei Josephus bezeugten (Ant. 19,343-350), qualvollen Tod des Agrippa (Apg 12,23). 2. Er differenziert in Apg 12,9: Petrus meint (ἐδόκει edokei), eine Vision zu haben, er weiß noch nicht (οὐκ ᾔδει ouk ēdei), dass die Befreiung durch den Engel des Herrn wirklich geschieht. »Der Text unterscheidet ein Wissen von einem bloßen Meinen, eine Vision von wirklich Geschehenem« (Weissenrieder 2006, 80; vgl. Weaver 2004, 170). 3. Er schildert ausführlich, wie sowohl Petrus als auch die Gemeinde um das rechte Verständnis dessen, was geschehen ist, ringen. Die Gemeindemitglieder sind keineswegs einfach »wundergläubig«. Obwohl sie für Petrus beten, rechnen sie offensichtlich nicht damit, dass Gott ihn tatsächlich befreit. Die Gemeinde benötigt nicht nur zwei (wie Petrus), sondern sogar vier Etappen, um zu begreifen, was wirklich geschehen ist: Nachdem sie Rhode zunächst für verrückt gehalten haben (12,15), vermuten sie einen (Schutz-)Engel (12,15; vgl. Weaver 2004, 175), dann irgendeinen Menschen hinter der Tür (Eulenstein 1973, 50) und wundern sich schließlich, dass es tatsächlich Petrus ist. Erst als Petrus vor ihnen steht und ihnen erklärt, was geschehen ist, nämlich dass Gott ihn aus dem Gefängnis geführt habe (12,17), kann die Gemeinde verstehen. Herodes versteht im Gegensatz dazu gar nichts. Er lässt die Wachen abführen, weil sie – seiner Meinung nach – Petrus haben entkommen lassen (12,18f.). Doch sein Unverstand holt ihn bald darauf ein: Der Engel des Herrn schlägt ihn und er stirbt qualvoll (12,23).

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Apg 12 bringt die Geschichte der Gemeinde »in eine unmittelbare Korrelation zur allgemeinen Zeitgeschichte« (Roloff 2010, 185). Erstmals im Verlauf der Apg sind nicht religiöse, sondern politische Führungskräfte die Gegner der Jerusalemer Gemeinde (Fitzmyer 1998, 485). Historischer Hintergrund ist der Konflikt mit König Agrippa I. Lukas bezeichnet ihn hier als »Herodes«. Es handelt sich bei Agrippa I. um den Enkel 207

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von Herodes dem Großen (gest. 4 v. Chr.). Agrippa I. lebte von 10 v. bis 44 n. Chr. Er regierte von 41-44 n. Chr. über Galiläa, Peräa, Judäa und Samaria, also über ein Gebiet, das an Ausdehnung dem Reich von Herodes dem Großen in etwa gleich kam. In diese Zeit muss also auch das hinter Apg 12 stehende Ereignis datiert werden. Die Bezeichnung des Agrippa I. als »Herodes« ist ungewöhnlich. Geläufiger ist die Bezeichnung (Julius) Agrippa. Wahrscheinlich spielt Lukas hier bewusst mit Namen. Herodes Antipas lässt den Täufer Johannes hinrichten, Herodes Agrippa den Jakobus. »The figure of Herod in Acts therefore re-presents the group of Herodian rulers whose violent and impious hostility would be familiar to Luke’s readers« (Weaver 2004, 210). Der Text spricht davon, dass Herodes »einige aus der Gemeinde« verhaften lässt, Jakobus hinrichten lässt und Petrus ins Gefängnis wirft. Die Verhaftung der Gemeindemitglieder und die Hinrichtung des Jakobus werden nicht begründet. Zur Gefangennahme des Petrus heißt es, dass Herodes sich mit dieser Maßnahme bei »den Juden« beliebt machen wollte. Die damit implizierte feindliche Einstellung der Juden gegenüber der Jerusalemer Gemeinde kommt im Verlauf der Apg überraschend (vgl. 4,21). Im Blick auf die hinter diesen Angaben aus Apg 12,1-3 stehenden historischen Ereignisse sind v.a. drei Fragen umstritten: 1. Galten die Maßnahmen des Herodes nur Jakobus und Petrus oder der gesamten Jerusalemer Gemeinde? 2. Warum ging Agrippa gegen Jakobus und Petrus (und weitere Gemeindemitglieder) vor? 3. Welche Rolle spielen die Pharisäer in diesem Zusammenhang? J. Roloff vermutet, dass Agrippa sich durch eine Verfolgung, die »erstmals die gesamte Gemeinde in Mitleidenschaft zog«, die Zuneigung der Pharisäer »und damit auch die des von ihnen beherrschten Volkes« sichern wollte (Roloff 2010, 186): »Wenn Petrus sich tatsächlich, worauf vieles hindeutet (vgl. zu 10,1-11,18), innerhalb der Urgemeinde als Verfechter einer Öffnung gegenüber den Heiden profiliert hatte, so war es ganz natürlich, dass er in erster Linie die Feindschaft der Pharisäer auf sich zog. Agrippa konnte darum hoffen, sich mit einer gegen Petrus gerichteten Aktion bei ihnen populär zu machen (V. 3f.)« (ebd.). Agrippa hätte danach im Dienste der Pharisäer die christliche Gemeinde verfolgt. Diese These impliziert, dass die Pharisäer erheblichen Einfluss im damaligen Judentum hatten und dass Agrippa die Interessen der Pharisäer unterstützt habe. Beides ist in der Forschung umstritten (vgl. Reinbold 2000, 67f.). D. R. Schwartz hält die Bezeichnung »Verfolgung der christlichen Gemeinde« für übertrieben. »We hear of persecution of James and Peter alone […]. While only silence indicates that no others were affected, it is a very loud silence« (1990, 122f.). Er vermutet, dass Agrippa Petrus und Jakobus verhaften ließ, weil sie in politische Unruhen verwickelt waren (a.a.O., 123). Schwartz muss allerdings zur Stützung seiner These entweder mit uns unbekannten politischen Unruhen in Jerusalem rechnen, oder das Claudiusedikt, das die Vertreibung der Juden(christen) aus Rom anordnete und insofern Spannungen mit Rom bezeugt, ungewöhnlich früh, nämlich in das Jahr 41 n. Chr. (statt 49 n. Chr.) datieren (a.a.O., 94-96). 208

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B. Wander vermutet, dass Agrippa I. mit seinem rigorosen Vorgehen gegen Jakobus und Petrus die jüdische Bevölkerung in der Diaspora schützen wollte. Er »konnte die Jerusalemer Gemeinschaft nicht mehr als tolerierbare Bewegung betrachten, wie dies die Pharisäer taten« (1997, 226). Ein weiteres Wachsen der Gemeinde wollte er verhindern, indem er gegen leitende Personen der Gemeinschaft vorging. »Dass dabei fälschlicherweise nicht der Herrenbruder Jakobus, sondern der Zebedaide Jakobus verhaftet wurde, kann ein Zufall gewesen sein […]« (a.a.O., 227). W. Reinbold nimmt an, »Agrippa wäre der (irrigen) Meinung gewesen, er könne durch die Hinrichtung der Kirchenmänner [Jakobus und Petrus] sein Image aufpolieren« (2000, 69). Er habe also aus Opportunismus gehandelt, nicht aber speziell im Dienst der Pharisäer. Diese These rechnet damit, dass Agrippa das Verhältnis zwischen »alt- und christusgläubigen Juden in Jerusalem« falsch eingeschätzt habe (a.a.O., 70). Die Hinrichtung des Jakobus brachte wider Erwarten keinen Imagegewinn, so dass Petrus mit dem Leben davonkam. G. Theißen bezieht in seine historische Rückfrage Mk 10,35-45 mit ein, da die Verse sich auf dasselbe Ereignis wie Apg 12,1-17 beziehen. Die Verfolgung traf »wie immer zunächst die Führungskreise« (1999b, 285). Motiviert war sie u.a. durch die (Selbst-)Stilisierung von Agrippa I. zum Retter des Tempels (Kollmann 2011b, 102) nach der Krise unter Gaius Caligula, der den Tempel zu einer Stätte des Kaiserkults machen wollte, dann aber im Januar 41 ermordet wurde. »In dieser Situation [unter Agrippa I.] musste es allen Tempelkritikern schlecht gehen. Die Christen gehörten zu den Tempelkritikern. Die Tempelweissagung Jesu kursierte unter ihnen [vgl. Mk 14,56-58; Act 6,13-14]« (Theißen 1999b, 279; vgl. Schwemer 2005, 178f.). Die Tötung von Jakobus dem Zebedaiden und die Flucht des Petrus führten dazu, dass die Leitungsmacht in der Jerusalemer Urgemeinde vom bisherigen Führungskreis auf den Herrenbruder Jakobus überging (vgl. Apg 12,17). Die Verfolgung »fördert die Ablösung von charismatischen Autoritäten der Jesuszeit zugunsten einer funktionalen Legitimation von Autorität – und das heißt: zugunsten aller, die die geforderte Funktion des Dienstes ausüben können [vgl. Mk 10,45]« (Theißen 1999b, 288). Mit diesem Führungswechsel »ging eine verstärkte Rückbesinnung des Jerusalemer Christentums auf die traditionellen jüdischen Werte« einher (Kollmann 2011b, 103).

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Apg 12,3-11(-19) ist formkritisch als Wundererzählung, genauer als Befreiungs(Kratz 1979, 351-445), Türöffnungs- (Weinreich 1929) oder Rettungswunder (Theißen 1998, 109.273) einzuordnen. Die Erzählung ist im Wesentlichen stilgemäß aufgebaut (Zmijewski 1994, 456f.). Einleitend werden der Gottesmann (Petrus) und sein Gegenspieler (Herodes) genannt (V. 3). In der Exposition (V. 4f.) werden die Bedingungen der Haft geschildert. Im Zentrum der Erzählung steht die Nachtzeit als szenische Voraussetzung (V. 6), die Epiphanie eines Gottesboten als Lichterschei209

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nung (V. 7), die wunderbare Fessellösung (V. 7) und die wunderbare Türöffnung (V. 10). Als Schlussmotive finden sich einerseits das Außer-sich-Sein der Anhänger (V. 16) und andererseits die Bestrafung der Wachen (V. 18f.). Stilistisch auffällig sind: − die ausführliche Schilderung der Befreiung (V. 7-10), − der allmähliche Erkenntnisprozess des Petrus (V. 9-11). V. 11 kann geradezu als ein erstes Schlussmotiv der Wundererzählung betrachtet werden. − der allmähliche Erkenntnisprozess der Gemeinde (V. 13-16). Als traditions- bzw. religionsgeschichtlicher Hintergrund kommen v.a. zwei Komplexe in Betracht: die jüdische Exodustradition und die hellenistischen Dionysosmysterien, wie sie insbesondere in den Bakchen des Euripides präsentiert werden. Beide handeln (u.a.) davon, dass ein König eine von Gott bzw. göttlich geschützte Gruppe verfolgt. Wie stark diese beiden Traditionsbereiche jeweils auf Apg 12 einwirken, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Das Motiv der wunderbaren Befreiung aus dem Gefängnis »was exclusive to Dionysian myth in the Classical and Hellenistic periods […]. Miraculous prison-escape is not a conventional motif in the exodus mythos« (Weaver 2004, 194). Es ist aber damit zu rechnen, dass sich beide Traditionskomplexe zur Abfassungszeit von Apg bereits vermischt haben, z.B. im dritten Buch der Makkabäer und in der nur fragmentarisch erhaltenen Schrift des Artapanos »Über die Juden« (a.a.O., 193f.202; vgl. Holladay 1983). J. Hintermaier betont die Unterschiede zwischen der hellenistischen Tradition und Apg 12: »Die Hilflosigkeit des befreiten Apostels hat kaum Vergleichspunkte weder bei Euripides, noch bei Nonnos und auch nicht bei Apollonius. […] In der griechischen Literatur wird […] die Überlegenheit der eingesperrten Personen gezeigt, die zum Teil selbst göttlicher Natur sind, wie es bei Dionysos der Fall ist. Petrus hat dagegen nichts mit übernatürlichen oder wunderbaren Kräften zu tun« (2003, 206). J. Schäfer stellt hingegen fest, »dass die Bezüge zu den Dionysosmysterien bewusst in die Texte [der Berufungs- und Befreiungserzählungen in der Apostelgeschichte] eingearbeitet worden sind« (2010, 217). Dabei habe der Verfasser insbesondere Leser(-innen) im Blick, die »vorrangig in der hellenistischen Kultur« sozialisiert seien. Durch die intertextuellen Bezüge zu den Bakchen erhielten Paulus und Petrus in ihren Augen »außerordentliche Legitimität« (a.a.O., 220). Mehrere Exegeten stellen Parallelen zwischen Apg 12,6-17 und der Exodustradition (nach der LXX) heraus. Die Israeliten sollen sich – wie Petrus – in der »Nacht« (Ex 12,12; Apg 12,6), in aller »Eile« (Ex 12,11; Apg 12,7) und »gegürtet und die Sandalen an den Füßen« (Ex 12,11; Apg 12,8) aufmachen (Strobel 1957/1958, 212f.). Insbesondere der zentrale Vers Apg 12,11 erinnert an die Exodustradition: »Wenn im Wort der Selbsterkenntnis V 11 ›Herodes‹ durch Pharao und ›Judäa‹ durch Ägypter ersetzt wird, dann hat Petrus ein Loblied auf seinen Exodus gesprochen, das dem Lied des Mose und der Mirjam vergleichbar ist (Ex 15,1-21)« (Dormeyer/Galindo 2003, 191; weitere Parallelen bei Radl 1983, 89 und Hintermaier 2003, 223-226). 210

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Verstehensangebote und Deutungshorizonte Aus rationalistischer Perspektive kann man fragen, wie sich die Befreiung des Petrus zugetragen haben könnte, ohne mit einer Durchbrechung von Naturgesetzlichkeiten rechnen zu müssen. V.a. drei Thesen werden dazu in der Forschung diskutiert: 1. Petrus hatte eine Vorladung von Agrippa bekommen, konnte sich dem Schauprozess aber noch rechtzeitig entziehen (Dormeyer/Galindo 2003, 188). 2. Petrus gelang »eine Flucht aus dem Gefängnis unter dramatischen Umständen« (Roloff 2010, 187). Er musste untertauchen und die Leitung der Gemeinde aufgeben, solange Agrippa an der Herrschaft war. Dazu passt die weitere Erzählung der Apg: »Von jetzt ab tritt Jakobus als Sprecher und Leiter der Jerusalemer Gemeinde auf (Act 15,13ff.; 21,18ff.)« (Theißen 1999b, 269). A. M. Schwemer rechnet damit, dass Petrus nach Syrien floh, nach dem Tod Agrippas I. aber zumindest zeitweise nach Jerusalem zurückkehren konnte (vgl. Gal 2,9; Schwemer 2005, 184). 3. Agrippa selbst ließ Petrus wieder frei, »als er sah, dass der Tod des Zebedaiden vom Jerusalemer Volk keineswegs mit Zustimmung aufgenommen wurde« (Reinbold 2000, 71, ähnlich bereits Baur 1866, 184f.). Lukas deutet das Ereignis, das Apg 12,7-11 zugrunde liegt, allerdings eindeutig als göttliche Befreiungstat. Insofern stellt sich – in historisierender Perspektive – die Frage, welchen Stellenwert die Faktizität des Ereignisses für den Text hat. Lukas schreibt sein Doppelwerk, damit Theophilus – und mit ihm die übrigen Leser der beiden Schriften – sich von der »Zuverlässigkeit der Lehre« überzeugen können (Lk 1,4). Welche Rolle spielt die Wundererzählung aus Apg 12 in diesem Zusammenhang? Wir haben bereits gesehen, dass Lukas drei Strategien einsetzt, um die Zuverlässigkeit des Erzählten zu plausibilisieren (s.o.): Die Verknüpfung der Erzählung mit dem Tod des Agrippa I. könnte darauf hindeuten, dass Lukas Wunder als historische Fakten verstanden wissen möchte. Sie haben denselben Wirklichkeitsstatus wie politische Ereignisse und sind – hier kommt der zweite Aspekt ins Spiel – von Visionen (und wohl auch Träumen etc.) deutlich zu unterscheiden. Der dritte Aspekt nötigt allerdings zu einer wichtigen und interessanten Differenzierung: Die Wirklichkeit des Wunders erschließt sich nicht von selbst, die Menschen – auch die Jesusnachfolger einschließlich Petrus – müssen vielmehr um das rechte Verständnis dessen, was sie erleben, ringen. Der König und die Wachen verstehen bis zum Schluss nicht, was da eigentlich passiert ist. Hierin unterscheidet sich das Wunder aus Apg 12 von den im selben Kapitel genannten historischen Ereignissen, etwa der Hinrichtung des Jakobus, der Abführung der Soldaten und dem Tod des Königs. Gerade durch die Betonung des Ringens um die Wahrheit dessen, was geschieht, verdeutlicht Lukas, dass die Gemeinde um Jesus Christus nicht einfach naiv und leichtgläubig ist. Sie ringt vielmehr um eine andere – nach Lukas um die allein richtige – Sicht auf ihre Wirklichkeit. Dabei gibt es durchaus auch Bereiche, die solch eines schwierigen Deutungsprozesses nicht bedürfen. Aber dort, wo Gott direkt eingreift, ist es auch für Glaubende schwer, diese Wirklichkeit angemessen zu erfassen. 211

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Die Erzählung fordert zu einer Stellungnahme heraus: Wie stellen sich die Leser zu dem, was dort geschildert wird? Rechnen sie mit einer Vision, mit Schlamperei durch die Wachen, mit einer unrealistischen Traumwirklichkeit? Oder sind sie bereit zuzulassen, dass der befreiende Exodusgott Petrus in der Not bewahrt (vgl. Kollmann 2011a, 112), indem er einen Engel schickt, um Petrus zu retten? Von einem tiefenpsychologischen Ansatz her liest E. Drewermann das Befreiungswunder als »Bild einer inneren Gefangenschaft«, aus der der Mensch »kraft einer inneren Vision« ausbricht (1985, 339). Interessant ist dabei, dass auch Drewermann mit einem differenzierten Kategoriensystem von Wirklichkeit arbeitet, die Zuordnungen dabei aber z.T. anders ausfallen, als oben ausgeführt: Es ist eine Zeit des Übergangs zwischen Traum und Wirklichkeit, in der Petrus den Kerker der Menschenfurcht und Menschenabhängigkeit verlässt, eine Phase der Umwertung aller Begriffe, in der die vormals so eindeutig festgelegte und sicher gefügte Welt aus Eisen und Stein, aus lähmender Angst und bleierner Müdigkeit, sich rückblickend als böser Spuk erweist, als ein bloßer Alptraum, der im Morgendämmern verfliegt, während doch die neue Wirklichkeit noch wie schemenhaft in Nebelschleiern sich verhüllt, mehr Ahnung noch als schon Gewissheit, mehr aufkeimende Hoffnung als bereits greifbare Erfahrung (Drewermann 1985, 340).

Die Gefangenschaft in ihrer ganzen bedrückenden Macht stellt sich rückblickend als »bloßer Alptraum« heraus. Menschenfurcht und Menschenabhängigkeit, lähmende Angst und bleierne Müdigkeit (Antriebslosigkeit?) erweisen sich als unbegründet. Eine neue Sicht auf die Wirklichkeit bricht sich allmählich Bahn. So gelesen, handelt der biblische Text »unmittelbar von den eigenen seelischen Befindlichkeiten […] und [birgt] zeitlos gültige Bilder der Hoffnung in sich« (Kollmann 2011a, 163). Die Erzählung kann dazu ermutigen, die eigene Lebenswirklichkeit anders, »freier«, wahrzunehmen und einengende Fesseln abzuschütteln. J. Hintermaier vertritt im Kontext der Frage nach der theologischen Kernaussage der Wundererzählung eine typologische Auslegung. Bei der Typologie handelt es sich »um Personen, Einrichtungen oder Ereignisse des Alten Testaments, die als von Gott gesetzte Vorbilder oder Vorausdarstellungen entsprechender Größen der neutestamentlichen Heilsgeschichte angeschaut werden« (Eichrodt 1957, 162). Apg 12,1-17 folgt zwei Typologien: einerseits der Exodustypologie, andererseits der Auferstehungstypologie (Hintermaier 2003, 234). Denn in Apg 12,12-17 finden sich auch Parallelen zu Lk 24, z.B. das Erscheinen im Haus, wo andere versammelt sind (Apg 12,12/Lk 24,36), das Sprechen zu Frauen (Apg 12,14/Lk 24,5-7), das Mitteilen der Nachricht (Apg 12,14/Lk 24,9), der Unglaube der anderen (Apg 12,15/Lk 24,11) usw. (a.a.O., 229). »Das Exodusgeschehen bildet sowohl für Apg 12,6-17 die Grundlage als auch für Lk 24, und diese beiden Stränge laufen in Apg 12,1-17 zusammen. Lukas hat in Apg 12 die Exodustypologie im Hintergrund, doch was das ›Mehr‹ des Antitypus im Vergleich zum Typus ausmacht, ist in unserem Fall die Auferstehung Jesu […]« (a.a.O., 234). In der Auferstehung Jesu findet das Exodusgeschehen seine Fortsetzung: »Petrus, der eingekerkert wurde 212

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und dem dasselbe Schicksal droht wie Jesus, erlebt am eigenen Leib die Rettungstat Gottes, die er für sich und die Gemeinde (Apg 12,11.17) als Eingreifen Gottes deutet. Ein Eingreifen, das nach dem Vorbild des Exodus und der Auferstehung Jesu gestaltet ist« (ebd.). Die Wundererzählung wirft im Kontext des lukanischen Doppelwerks jedoch auch theologische Fragen auf, von denen zwei kurz skizziert werden sollen: 1. In Lk 11,9 heißt es: »Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan«. An mehreren Stellen der Apg stehen Gebet und Wunder bzw. Epiphanie in einem engen Zusammenhang (Apg 4,31; 7,59; 9,40; 10,4.9.31; 11,5; 16,25; 22,17; 28,8; vgl. Green 2001, 183-202). Es ist reizvoll, die Erzählung in Apg 12 vor diesem Hintergrund zu lesen. Die Gemeinde betet für Petrus und kann seine Befreiung doch kaum fassen. Hat das Gebet der Gemeinde Gott dazu bewogen, Petrus zu befreien? Hat sie versäumt, für Jakobus zu beten? Liegt hier der Grund dafür, dass er hingerichtet wurde? Und wofür beten die Gemeindemitglieder? Für die Befreiung des Petrus, an die sie selbst aber kaum glauben können? Dafür, dass sie die schrecklichen Ereignisse durchstehen mögen, ohne den Glauben zu verlieren? Die Art des Zusammenhangs von Gebet und göttlichem Handeln bleibt in Apg 12 ein Geheimnis. Die Dinge sind komplizierter, als Lk 11,9 erahnen lässt. 2. Gott greift nicht immer rettend ein. Jakobus kommt durchs Schwert um. Die kontrastive Gegenüberstellung der Schicksale von Jakobus und von Petrus provoziert die Frage: Warum hilft Gott dem einen, nicht aber dem anderen? Will Lukas den Herodes Agrippa I., der Unschuldige vernichtet, mit Gott kontrastieren, der den König erst vernichtet, nachdem er (an Jakobus) schuldig geworden ist (Eulenstein 1973, 62)? Als Antwort auf die Theodizeefrage bleibt diese These so unbefriedigend wie jede andere. Lukas jedenfalls schafft einen klaren Kontrast: Gottes Engel kommt einmal zur Rettung (12,7-10), einmal zur tödlichen Strafe (12,23) – zu Jakobus kommt er – soweit wir wissen – nicht.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Apg 12,3-6 klingt in der um die Mitte des 2. Jh. entstandenen (Müller 2012, 1065) Epistula Apostolorum 15 an. »Der Text gibt sich aus als Brief des namentlich aufgezählten Apostelkollegiums (11 Personen) an die Kirchen in den vier Weltgegenden. […] In Kap. 13 bis 50 folgt ein Dialog mit den Fragen der Apostel und den Antworten und Belehrungen des Heilandes« (Müller 2012, 1063). In EpAp 15 prophezeit Jesus die Verhaftung und wunderbare Befreiung des Petrus (der nicht namentlich erwähnt wird, dessen Identität aber aus Apg 12,3-6 erschlossen werden kann; vgl. ebd.) am Pascha. In der koptischen Version erhält der befreiende Engel den Namen Gabriel. Zum weiteren Schicksal des Petrus heißt es: »Er geht heraus, kommt zu euch, bringt eine Nacht des Wachens mit euch zu, bleibt bei euch, bis der Hahn kräht [vgl. Mk 13,35]. Wenn ihr aber vollendet das Gedächtnis, das da 213

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ist für mich, und die Agape, so wird er wiederum in das Gefängnis geworfen werden zu einem Zeugnis, bis dass er von dort herauskommt (und) predigt, was ich euch übergeben habe«. Origenes verweist in der Auseinandersetzung mit Celsus auf Apg 12,3-11. Während Celsus die Göttlichkeit Jesu bestritt, weil dieser »gefesselt sich nicht lösen konnte«, betrachtet Origenes die Befreiungswunder des Petrus und Paulus als Beleg dafür, dass Jesus sich am Kreuz hätte retten können, wenn dies sein Wille gewesen wäre (Or. Cels. 2,34). Der Christengegner Porphyrius sah durch das Befreiungswunder in Jerusalem seine Vorbehalte gegenüber der Person des Petrus bestätigt. Anstatt heldenhaft den Tod zu verachten, wie es der christlichen Lehre entsprochen hätte, sei er aus dem Gefängnis geflohen und habe so die wachhabenden Soldaten ans Messer geliefert (Porph. Fr. Hist. 26; vgl. Nestle 1948, 616). Johannes Chrysostomus hat zwischen 397 und 400 nicht weniger als 150 Homilien über die Apostelgeschichte verfasst. Sie »bilden die einzigen schriftlich festgehaltenen Predigten der christlichen Antike über die Apostelgeschichte« (Moreschini/Norelli 2007, 339). In der 26. Homilie kommentiert Chrysostomus Apg 12,1-2. Er wirft die Frage auf, warum Gott es zulasse, dass Jakobus hingerichtet wird. Seine dreifache Begründung lautet: Erstens wollte Gott den Juden zeigen, dass die Apostel sich letztlich durchsetzen, selbst wenn sie hingerichtet werden – wie es auch bei Stephanus war; zweitens wollte er ihnen die Möglichkeit geben, ihre Wut auszuleben, so dass sie sich danach wieder würden beruhigen können; und drittens wollte er den Juden zeigen, dass alles – Tod und Rettung – in Gottes Hand liegt. Die Apostel konnten ihrerseits angesichts des Schicksals von Jakobus nicht sicher sein, selbst gerettet zu werden. Ihr Handeln erforderte Mut und die Bereitschaft zum Märtyrertum. Das Wunder wird nicht kalkulierbar, es bleibt ein Wunder. Hanna Roose

Literatur zum Weiterlesen R. Eulenstein, Die wundersame Befreiung des Petrus aus Todesgefahr, Acta 12,1-23, WuD NF 12 (1973), 43-69. W. Radl, Befreiung aus dem Gefängnis. Die Darstellung eines biblischen Grundthemas in Apg 12, BZ NF 27 (1983), 81-96. H. Roose, ›Petrus wurde durch ein Wunder Gottes zur Rechtfertigung aus dem Gefängnis herausgeführt.‹ Überlegungen zu einer konstruktivistischen Bibeldidaktik am Beispiel der Erzählung von der Befreiung des Petrus (Apg 12,1-23), in: G. Büttner (Hg.), Lernwege im Religionsunterricht. Konstruktivistische Perspektiven, Stuttgart 2006, 84-97. R. Wall, Successors to ›the Twelve‹ according to Acts 12:1-17, CBQ 53 (1991), 628-643. J. B. Weaver, Plots of Epiphany. Prison Escape in Acts of the Apostles, BZNW 131, Berlin/ New York 2004. A. Weissenrieder, ›Er schlief und träumte von der Freiheit.‹ Skizzen konstruktivistischer Theorie und Methode für biblische Exegese am Beispiel der Befreiung des Petrus (Apg

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12,1-23), in: G. Büttner (Hg.), Lernwege im Religionsunterricht. Konstruktivistische Perspektiven, Stuttgart 2006, 71-83.

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Der besiegte Magier (Die Blendung des Barjesus Elymas) Apg 13,6-12 (13,6) Nachdem sie die ganze Insel bis nach Paphos durchzogen hatten, fanden sie einen Magier und jüdischen Lügenpropheten namens Barjesus, (7) der sich beim Prokonsul Sergius Paulus, einem verständigen Mann, aufhielt. Dieser ließ Barnabas und Saulus rufen und verlangte, das Wort Gottes zu hören. (8) Es trat ihnen aber Elymas, der Magier – denn so wird sein Name übersetzt –, entgegen und versuchte, den Prokonsul vom Glauben abzuwenden. (9) Saulus jedoch, der auch Paulus heißt, erfüllt vom Heiligen Geist, blickte ihn scharf an (10) und sagte: »Oh, du, voll aller Hinterlist und aller Bosheit, Sohn des Teufels, Feind aller Gerechtigkeit, willst du nicht aufhören, die geraden Wege des Herrn zu verkehren? (11) Und jetzt, siehe, die Hand des Herrn über dich! Du wirst blind sein und die Sonne eine Zeitlang nicht sehen.« Sofort fiel Dunkel und Finsternis auf ihn. Und während er herumtappte, suchte er Leute, die ihn an der Hand führen. (12) Daraufhin, als der Prokonsul das Geschehene sah, kam er zum Glauben, erschüttert über die Lehre des Herrn.

Sprachlich-narratologische Analyse Die von Lukas in Apg 13,6-12 erzählte Wundergeschichte gehört zur Schilderung der ersten Missionsreise des Barnabas und Paulus, die sie zuerst auf die Insel Zypern führte, bevor sie nach Kleinasien übersetzten. Auf dieser Reise war auch Johannes Markus ihr Reisegefährte, der sich aber nach dem Zypernaufenthalt wieder von ihnen trennte. Ihre Reise begann in Antiochia am Orontes und endete auch dort. Vom Heiligen Geist ausgesandt fuhren die Missionare mit dem Schiff von Seleukia in Syrien nach Salamis, einer Hafenstadt im Osten der Insel (Apg 13,4). In dieser wichtigen Handelsmetropole, wo viele Juden lebten, gab es auch mehrere Synagogen, in denen Paulus und Barnabas das »Wort Gottes« verkündeten (Apg 13,5), ohne dass Lukas etwas über den Erfolg ihrer Predigt mitteilt. Anders als vielfach in der Apostelgeschichte geschildert, entstand in Salamis jedenfalls keine christliche Gemeinde, es wird aber auch von keinerlei Anfeindungen oder gar von Widerstand gegen die Verkündigungstätigkeit der Missionare berichtet. Stattdessen notiert Lukas ihre Weiterreise ohne Zwischenstationen – immerhin ca. 200 km – bis zur Stadt Paphos im Südwesten der Insel, wo der Prokonsul der Provinz Zypern residierte (Apg 13,6f.). An dieser Stelle beginnt die Szene, die in dem Strafwunder (Aune 2006, 415f.) gegen Barjesus Elymas und dem Zum-Glauben-Kommen des Statthalters ihren Abschluss 216

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Der besiegte Magier Apg 13,6-12

findet. Bemerkenswert ist dabei, dass in der Einleitung dieser Szene (Apg 13,6b) von einer Verkündigung des Barnabas und Paulus etwa in der Synagoge von Paphos überhaupt keine Rede ist. Vielmehr »fanden« (εὗρον heuron) sie einen Juden namens Barjesus. Unklar bleibt, warum in Paphos anders als in Salamis keine öffentliche Missionspredigt in einer Synagoge stattfand und wo das Zusammentreffen mit Barjesus erfolgte. Lukas lenkt nämlich den Blick hauptsächlich auf die Charakterisierung des Barjesus als Magier und Pseudopropheten, womit er in der Exposition dieser Passage dessen Frontstellung gegen Barnabas und Paulus vorbereitet. Danach führt er den Prokonsul, vermittelt durch den knappen Hinweis, dass Barjesus zum Gefolge dieses römischen Beamten mit Namen Sergius Paulus gehörte, als weitere Person in seine Erzählung ein. Dabei bezeichnet er ihn als »verständigen Mann«, was den Römer im Vergleich zu Barjesus in ein günstiges Licht rückt. Wichtig ist zudem, dass Sergius Paulus Barnabas und Paulus rufen lässt, weil er »das Wort Gottes« zu hören wünscht. An dieser Stelle übergeht Lukas zum Verständnis entscheidende Informationen. Offen bleiben folgende Fragen: Wie wurde der Prokonsul auf die Missionare und ihre Botschaft aufmerksam? Warum interessierten sie ihn so sehr, dass er, immerhin als höchster Repräsentant des römischen Reiches vor Ort, ihnen die Ehre eines persönlichen Empfangs in seiner Residenz zuteilwerden ließ? Hatte Barjesus, der ja zur Entourage des Prokonsuls zählte, seine Hand im Spiel? Ebenfalls bleibt im Dunkeln, was Paulus und Barnabas Sergius Paulus inhaltlich genau zu sagen hatten. Im Übrigen tritt Barnabas nach Apg 13,7 im Vergleich zu Paulus in den Hintergrund der Erzählung und wird in den nächsten Versen bis Apg 13,43 nicht mehr ausdrücklich erwähnt. Lukas will Paulus offensichtlich in den Mittelpunkt rücken und bereitet so vor, dass er für den Rest seines Buches die Hauptperson bleibt. Das Anliegen des Lukas in der Einleitung der Szene (Apg 13,6b-7) war es wohl, eine Art Dreieckskonstellation zu skizzieren: Paulus steht Barjesus gegenüber, der durch die Stichworte Magie und falsche Prophetie als negative Figur eingeführt wird und sich damit deutlich von dem Apostel abhebt. Als Dritter tritt Sergius Paulus als verständiger Mann in hoher gesellschaftlicher Position hinzu, der sich zwischen den von Barjesus und Paulus vertretenen Positionen entscheiden muss. In der Apostelgeschichte stellt sein Auftreten insofern eine Ausnahme dar, als Paulus sonst nie von einem Prokonsul zu einem vergleichbaren persönlichen Gespräch in privatem Rahmen eingeladen wird, sondern Provinzstatthaltern nur als Angeklagter in ihrer Funktion als Richter gegenübertritt (Apg 18,12-17; 23,24; 24,1f.; 25,6f.). Diese rahmende Einleitung wurde von Lukas sicherlich konzipiert, um beim Leser die Frage hervorzurufen, wie wohl dieses Zusammentreffen ausgehen werde. Die Wundererzählung im engeren Sinne setzt in Apg 13,8 mit dem Widerstand des Magiers gegen die Verkündigungstätigkeit des Paulus und Barnabas vor Sergius Paulus ein, ohne dass Lukas detailliert erklärt, worin diese Opposition bestand. Ob magische Manipulationen eine Rolle spielen, bleibt offen. Es ist lediglich festgehalten, dass es das Ziel des Barjesus gewesen sei, den Prokonsul vom Glauben »abzuwenden« (διαστρέψαι diastrepsai). Damit setzt der Spannungsbogen ein, der in dem Zum-Glauben-Kommen des Prokonsuls in Apg 13,12 (ἐπίστευσεν episteusen) zum 217

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Abschluss kommt. Zwischen diesen beiden Eckpunkten entwickelt sich die Wundererzählung, die schildert, auf welche Weise Paulus mit göttlicher Hilfe den Widerstand des Magiers besiegt. Zunächst bringt Lukas in Apg 13,8f. jedoch den kurzen Hinweis, dass die beiden handelnden Personen noch zwei weitere Namen führen: Barjesus heiße noch Elymas, wobei er Elymas mit Magier übersetzt, und Saulus werde auch Paulus genannt. Dieser abrupte Namenswechsel, insbesondere der von Saulus zu Paulus, erstaunt, verwendet Lukas doch den Namen Paulus für den Apostel mit wenigen Ausnahmen (Apg 22,7 und 26,14) im ganzen folgenden Text bis zum Ende der Apostelgeschichte. Außerdem wirkt er an dieser Stelle recht überflüssig und trägt nichts zum Fortgang der Erzählung bei, sondern könnte den Leser sogar verwirren, zumal der Name Paulus für den Apostel, immerhin die Hauptfigur bis zum Ende des Buches, ziemlich beiläufig und ohne nähere Erläuterung eingeführt ist. Nach dieser retardierenden Bemerkung nimmt Lukas den Erzählfaden wieder auf und unterstreicht, Paulus habe als Geistträger seinen Kontrahenten mit Blicken fixiert. Dann wechselt der Text zur wörtlichen Rede (Apg 13,10f.): Nun spricht Paulus Barjesus Elymas direkt an. Am Anfang seiner wohl rhetorisch gemeinten Frage (Apg 13,10) steht die Anrede des Barjesus Elymas in vierfacher Form. Paulus beschimpft sein Gegenüber in bewusst gesteigerter Form als einen Menschen voll von Hinterlist und Bosheit, als Teufelssohn und als Feind von Gerechtigkeit. Den Kernpunkt der Anklage bildet der Vorwurf in Apg 13,10b, dass der Magier und Pseudoprophet die geraden Wege des Herrn verkehre, d.h. Gottes Plan mit Sergius Paulus zu durchkreuzen suche. Die paulinische Frage, ob Barjesus Elymas sein verderbliches Tun nicht beenden wolle, bleibt unbeantwortet und sollte es wahrscheinlich auch sein. Danach kommt Paulus zum Höhepunkt mit der Interjektion »Und jetzt, siehe« (καὶ νῦν ἰδού kai nyn idou), die in den Ausruf übergeht, der auf die Hand des Herrn, mit der Gott den Magier strafen werde, hinweist. Dabei bedient sich Lukas biblisch gesättigter Sprache. Die strafende Hand des Herrn nimmt beispielsweise eine alttestamentliche Wendung aus 1 Sam 7,13 auf, die Wege des Herrn werden in Hos 14,10 (vgl. auch Lk 3,4) erwähnt, und Formulierungen wie »voll von Hinterlist« (πλήρης δόλου plērēs dolou) begegnen in Sir 1,30; 19,26 oder Jer 5,27. Da in Apg 13,11a aber ein Verb fehlt, bleibt unklar, ob Paulus die Strafaktion der Hand Gottes ankündigt oder sie befiehlt. Deshalb muss m.E. offen bleiben, ob Paulus Barjesus Elymas verflucht hat, was von verschiedenen Auslegern vorgeschlagen wird. Sicher ist aber, dass er ihm sein zeitlich begrenztes Erblinden vorhersagt (Apg 13,11aβ). Danach wird vom augenblicklichen Eintreten der von Paulus angekündigten göttlichen Strafe berichtet (Apg 13,11bα). Ihre Auswirkung illustriert Lukas mit einem einprägsamen Bild: Der erblindete Magier muss orientierungslos herumtappen und nach Menschen suchen, die ihn an der Hand führen können. Dann wendet sich Lukas wieder dem Prokonsul zu, der angesichts dieses Ereignisses zum Glauben findet. Dabei hebt er darauf ab, dass die betont ans Ende von Apg 13,12 gerückte »Lehre« (ἐπὶ τῇ διδαχῇ epi tē didachē) – nicht etwa die überlegene Wundertat, die das völlige Scheitern des Barjesus Elymas bewirkt – Sergius Paulus beeindruckt und den Glauben hervorgebracht habe. In diesem Zusammenhang 218

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Der besiegte Magier Apg 13,6-12

fällt auf, dass Lukas weder von der Taufe des Sergius Paulus noch von der Gründung einer christlichen Gemeinde in Paphos erzählt. Es bleibt bei dem sensationellen Einzelfall, dass sich gleich am Beginn der ersten Missionsreise der höchste Beamte vor Ort zum Christentum bekehrt. Damit endet die Wundererzählung; denn in Apg 13,13 wird nur noch von der Weiterreise der Missionare berichtet, die danach auf das nahe kleinasiatische Festland übersetzen.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Paulus und Barnabas treffen während ihrer Missionsreise mit dem Prokonsul Sergius Paulus in Paphos auf Zypern zusammen, womit Neu-Paphos nahe der Südwestspitze der Insel gemeint ist. Diese Hafenstadt wurde im 4. Jh. v. Chr. von dem letzten einheimischen König Nikokles II. ca. 16 km südöstlich von Alt-Paphos gegründet (Oberhummer 1949, 941; Senff 2000, 285f.). Nachdem Zypern 22 v. Chr. senatorische Provinz geworden war, wurde die Hauptstadt mit dem Amtssitz des Prokonsuls von Salamis nach Neu-Paphos verlegt, was eine größere Nähe zu Italien bedeutete. Zudem befand sich nördlich der Stadt ein römisches Militärlager. Dass Barnabas und Paulus in Neu-Paphos dem Prokonsul Sergius Paulus begegnen konnten, der die Insel verwaltete, ist darum durchaus wahrscheinlich. Wer dieser Römer war, der im Neuen Testament nur in Apg 13,6-12 vorkommt, kann man mit Hilfe außerbiblischer Quellen eruieren: Die Familie der Sergii Pauli tritt durch eine Reihe von Inschriften aus dem Dunkel der Geschichte. Es handelte sich um ein römisches Geschlecht aus dem Senatorenstand, das offenbar in der Gegend von Antiochia in Pisidien Grundbesitz besaß (Mitchell 1980, 1073f.; Breytenbach 1996, 39f.; Kollmann 1998, 43) und in dieser Stadt entsprechende Ämter innehatte (Christol/Drew-Bear 2002, 178-186). Auch Freigelassene der Sergii Pauli lassen sich in der Umgebung Antiochias inschriftlich nachweisen. Möglicherweise ist es daher kein Zufall, dass Paulus und Barnabas nach dem Zusammentreffen mit dem Prokonsul auf Zypern direkt über die Stadt Perge nach Antiochia in Pisidien weiterreisten, wo ihnen die Verbindung zu einer der einflussreichsten Familien der Gegend von Nutzen sein konnte. Sergius Paulus bzw. Paullus, wie der Name auf Inschriften geschrieben wurde, war also eine Person der Zeitgeschichte, die aber im Gegensatz zu anderen Angehörigen der Senatorenfamilie bisher durch keine außerbiblische Quelle sicher für uns fassbar ist. Lediglich auf einer fragmentarischen Inschrift aus Chytroi (IGRR 3,935) erscheint der Name »[Κ]ουίντου Σερ … [K]ouintou Ser …«, wobei es sich um den in der Apostelgeschichte erwähnten Prokonsul handeln könnte. Eine eindeutige Identifizierung ist jedoch wegen des fragmentarischen Zustandes der betreffenden Inschrift nicht möglich, zumal der Name des julischclaudischen Kaisers, nach dem diese Inschrift datiert ist, nicht vollständig erhalten ist. Aus diesem Grund konnte in der Forschung bisher kein Konsens erreicht werden, wann genau sich dieser Quintus Sergius auf Zypern aufgehalten hat (Mitford 1980, 1300; Nobbs 1994, 283f.; Campbell 2005, 11.18). Ein weiterer Senator namens 219

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

L. Sergius Paullus ist uns durch eine Inschrift, die nahe bei Rom am linken Tiberufer gefunden wurde, bekannt (CIL 6,31545 = ILS 5926). Er übte unter Kaiser Claudius das Amt des »curator riparum et alvei Tiberis« aus und hatte sich somit u.a. um die Instandhaltung des Flussbettes des Tibers zu kümmern (Kornemann 1901, 1792). Es ist möglich, dass es sich um dieselbe Person handelt, die auch in Apg 13,7 begegnet. L. Sergius Paullus wäre dementsprechend vom Kurator zum Prokonsul aufgestiegen (Riesner 1994, 123-125; Breytenbach 1996, 38-45; Öhler 2003, 282-285). Mit letzter Sicherheit lässt sich diese in der Forschung verbreitete Annahme allerdings nicht beweisen. Es könnte sich bei L. Sergius Paullus auch um einen weiteren Angehörigen des senatorischen Geschlechts der Sergii Paul(l)i gehandelt haben, vielleicht um einen Bruder des auf Zypern bezeugten Quintus Sergius (so Halfmann 1979, 106; Eck 2001, 456; vgl. ferner Bruce 1988, 248; Hemer 1985a, 109; Christol/Drew-Bear 2002, 188). Mehrfach durch antike Quellen belegt sind ferner die vergleichsweise großen jüdischen Gemeinden auf Zypern (vgl. z.B. Philo legat. 282; Flav. Jos. Ant. 13,284287; Dio Cass. 68,32,2f.). Des Weiteren galt Zypern zumindest nach Plinius d.Ä. als ein Zentrum der Magie, wobei Plinius die Zauberei auf der Insel mit jüdischer Magie vergleicht, die die zypriotische an Alter und d.h. an Erfahrung übertreffe (Plin. nat. 30,2,11; vgl. Taylor 1995, 1195). Man könnte den Juden, Magier und Falschpropheten Barjesus Elymas, dem Paulus und Barnabas in Paphos begegneten, daher als eine Kombination beider Einflüsse, die zu einer Potenzierung der Fähigkeiten führen musste, bezeichnen. Sein erster Name, der in Apg 13,6 mit Barjesus angegeben ist, war ein üblicher jüdischer Name und ist beispielsweise inschriftlich in Jerusalem nachweisbar (CIJ 2,1318). Als sein zweiter Name oder Beiname wird von Lukas Elymas genannt (Apg 13,8), was von ihm als Übersetzung von »Magier« erklärt wird. Diese Ableitung konnte bisher noch nicht völlig geklärt werden. Verschiedene Ausleger leiten diesen Namen vom aramäischen Wort für »Traumdeuter« (‫ חלמא‬haloma’, z.B. Yaure 1960, 305f.) her, andere (Zahn 1904, 197-199; ders. 1927, 419) führen zur Erklärung den jüdischen Magier Atomos an, der aus Zypern stammte und den Josephus in Ant. 20,142 erwähnt. Die Lesart Ἑτοιμας (Hetoimas) statt Elymas im D-Text von Apg 13,8 würde dann vielleicht auf einer sekundären Identifikation mit dem Atomos, von dem uns Josephus berichtet, basieren (vgl. Roloff 2010, 198f.). Außerdem wird als Parallele noch auf den libyschen Königsnamen Αἰλύμας (Ailymas, Diod. Sic. 20,17,1; 17,6) verwiesen. Auf eine weitere Spur führt eine gut erhaltene Grabinschrift aus einer jüdischen Katakombe in Rom, in der der Name Alumas vorkommt (CIJ 1,260; dazu Noy 1995, 234) und die von einem Juden mit diesem Namen für eine gewisse Procla gesetzt worden war. Diese Inschrift dürfte ein Beleg für das Vorkommen des Eigennamens Elymas in der Diaspora sein (Ilan 2008, 259), den Lukas jedoch missverstanden und fälschlich als eine Übersetzung gedeutet hätte. Schließlich lässt sich wohl kaum bestreiten, dass sich in der Tat Magier und astrologische Wahrsager, wie in der Wundergeschichte im Umfeld des Prokonsuls von Zypern dargestellt, öfter im Gefolge bedeutender antiker Politiker nachweisen lassen. Beispielsweise war ein Astrologe aus Alexandria namens Thrasyllos Begleiter und Be220

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rater des Kaisers Tiberius (vgl. u.a. Suet. Aug. 98,4-5; Tib. 14,4; Cal. 19,3), und auch Josephus berichtet – wie schon gesagt – von einem aus Zypern stammenden Juden Atomos, der sich als Magier ausgab. Atomos half dem Prokurator Felix, Drusilla (vgl. Apg 24,24), die mit dem König von Emesa verheiratet war, für sich zu gewinnen (Ant. 20,142). Sie ließ sich daraufhin scheiden und heiratete den Statthalter. Darüber hinaus erfahren wir aus Apg 13,9, dass Saulus auch Paulus geheißen habe. Paulus war, wie Lukas anderswo in der Apostelgeschichte mitteilt, von Geburt an römischer Bürger (Apg 16,37f.; 22,28). Als solcher hatte er drei Namen – praenomen, nomen gentile und cognomen (Rix 2000, 626-629) –, wobei Paulus offenbar sein cognomen war. Praenomen und nomen gentile sind uns leider nicht überliefert, denn sonst ließe sich aus Letzterem etwas über die Umstände erfahren, unter denen die Familie des Paulus das Bürgerrecht erhalten hatte. Freigelassene Sklaven nahmen nämlich das nomen gentile ihres Patrons an, und bei Bürgerrechtsverleihungen an Nichtrömer, die Freie waren, wurde das Gentile desjenigen übernommen, der das Bürgerrecht verschafft hatte (Rix 1998, 922). Es ist bestimmt kein Zufall, dass Lukas den römischen Namen des Apostels an dieser Stelle einführt, an der auch eine weitere Figur, nämlich der Prokonsul, mit Namen Paulus in seiner Erzählung vorkommt. Ein historischer Zusammenhang zwischen dem Apostel und der Familie des Statthalters, der sich in dieser Namensgebung widerspiegelt, muss allerdings Spekulation bleiben. Der jüdische Name Saulus war aus römischer Sicht ein zusätzlicher Beiname, ein sog. supernomen oder signum (Harrer 1940, 21; Hemer 1985b, 181f.). Die Eltern des Apostels dürften ihn mit Blick auf den biblischen König Saul ausgewählt haben, der wie sie zum Stamm Benjamin gehörte (1 Sam 9,1f.; Phil 3,5). Außerdem klang er ähnlich wie Paulus und konnte in jüdischer Umgebung bevorzugt verwendet werden. Vergleichbare Doppelnamen lassen sich bei Juden der Zeit öfters nachweisen (vgl. z.B. Johannes Markus in Apg 12,12.25; 15,37).

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund In Apg 13,8-12 greift Lukas auf eine ganze Reihe von Traditionen zurück, die von ihm in seinem Doppelwerk auch sonst vorausgesetzt werden: Dazu gehört an erster Stelle sein Interesse, die Magie mit aller Deutlichkeit zu verurteilen. Dieses Thema wird von anderen neutestamentlichen Autoren gleichfalls aufgegriffen, wobei alles magische Tun stets negativ bewertet wird. Dabei wird meist das Ziel verfolgt, das Christentum als Gegenteil, ja sogar als Gegenmacht zu magischen Manipulationen und Riten zu profilieren. In Apg 13,8-12 erspart sich Lukas allerdings eine Wesensbestimmung von Magie (vgl. den Themenartikel zu Wunder versus Magie/Zauberei in diesem Band). Ebenso fehlen alle Angaben über die gegen die Verkündigung von Paulus und Barnabas gerichteten Aktivitäten des Barjesus Elymas. Lukas assoziiert sie aber mit der schon im Alten Testament erwähnten Pseudoprophetie (vgl. z.B. Jer 27,9), was möglicherweise darauf hinweist, dass Barjesus Elymas Zukunftsschau betrieb, um den Prokonsul zu beeindrucken und für sich einzunehmen. 221

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Wichtiger als die magische Betätigung des Barjesus Elymas genau nachzuzeichnen, ist für Lukas jedoch der Konflikt zwischen Paulus und dem Zauberer, wobei sich der Apostel am Ende durch ein Wunder, das als eine Art Gottesurteil fungiert (Nock 1933b, 185), als überlegen erweist. Hierbei greift Lukas ein bekanntes Motiv auf: Schon Mose hatten die Zauberer des Pharaos letztlich nichts entgegenzusetzen (Ex 7,11.22; 8,3.14f.; 9,11), die eingestehen müssen, dass in den ägyptischen Plagen Gottes Finger am Werk sei (Ex 8,15; vgl. Ps 64,10; 72,18). In durchaus vergleichbarer Weise besiegt Paulus seinen Widersacher mit Hilfe der Hand Gottes (Apg 13,11a). Ähnliche Auseinandersetzungen werden von Lukas an anderer Stelle der Apostelgeschichte beschrieben: Beispielsweise wird geschildert, wie Petrus den Zauberer Simon bzw. Paulus die Söhne des Hohenpriesters Skevas überwinden (Apg 8,18-24 bzw. 19,13-17; vgl. den Themenartikel zu Wunder versus Magie/Zauberei in diesem Band). Später wird diese Motivtradition in den Apostelakten fortgesetzt und im Hinblick auf den Konflikt zwischen Petrus und Simon dem Magier z.B. im Apostelroman der sog. Pseudo-Klementinen breit ausgemalt (vgl. z.B. PsClem H 2,25,4-26,6; 2,32,1-3; 8,3,1-3,4; 20,12,4-17,6; dazu Bauer 1967b, 366f.; Wehnert 2010, 32f. und den Themenartikel zu Wunder versus Magie/Zauberei in diesem Band). Es gibt jedoch noch einen zweiten wichtigen Aspekt, den Lukas mit dem siegreichen Kampf des Paulus gegen den Magier und Pseudopropheten verknüpft hat. Er stellt diesen Konflikt nämlich bestimmt nicht zufällig in einen Zusammenhang mit jüdischer Opposition gegen christliche Missionstätigkeit (Breytenbach 1996, 24-26), denn Barjesus Elymas wird von ihm in Apg 13,6 ausdrücklich als Jude vorgestellt. Die Bekehrung von gottesfürchtigen Heiden ruft auch sonst in der Apostelgeschichte (z.B. Apg 13,48-50; 14,1f.19; 17,4f.12f.) heftigen Widerstand der jüdischen Seite hervor. Diesem Schema entspricht, dass der jüdische Magier nach Apg 13,7 zum Gefolge des Sergius Paulus zählt, der zwar nicht als Gottesfürchtiger bezeichnet wird, aber zumindest über die Person des Barjesus Elymas in Verbindung zum Judentum getreten ist. Außerdem ist der Prokonsul positiv an der christlichen Botschaft interessiert und lässt ähnlich wie der Hauptmann Kornelius (Apg 10,7) die beiden Missionare zu sich rufen, um ihre Botschaft zu hören. Dagegen leistet Barjesus Elymas Widerstand, gegen den sich Paulus erfolgreich zur Wehr setzt und den Heiden von der christlichen »Lehre« überzeugt. Dadurch zeigt sich in dieser Passage, in der sich der Apostel zum ersten Mal auf der Missionsreise den Heiden zuwendet, die künftig erfolgreiche Ausrichtung der Bekehrungsarbeit auf das pagane, dem Judentum nahe Milieu, hinter der sich durchaus historische Sachverhalte verbergen mögen. Letztlich läuft bei Lukas aber alles darauf hinaus, dass sich Paulus als Träger des Heiligen Geistes (Apg 13,9) als der Stärkere erweist. Als Pneumatiker ist er in der Lage, Gegnern seiner Verkündigungstätigkeit die Strafe Gottes auf den Kopf zuzusagen, die dann umgehend eintritt (vgl. auch 1 Kor 14,25). Ausgeführt wird seine Vorhersage durch die strafende Hand Gottes, was alttestamentlichen Vorstellungen entspricht (z.B. Ex 15,12). Dabei steht das Eintreten der Strafe im scharfen Gegensatz zu der Pseudoprophetie des Barjesus Elymas, der dem nichts entgegenzusetzen hat. 222

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Der besiegte Magier Apg 13,6-12

Neben die Worte des Paulus tritt noch eine optische Form der Konfrontation, weil der von Lukas erwähnte Blick des Apostels Teil seiner Befähigung ist, Kraft zu übertragen. Hierbei ist die in der Antike allgemein verbreitete Vorstellung von der aktiven Rolle des Auges beim Vorgang des Sehens vorausgesetzt. Man stellte sich dies so vor, als sende das Auge analog zu einem Speerwurf einen Sehstrahl aus. Diese Emissionstheorie lag dem volkstümlichen Glauben an die schädliche Wirkung des »bösen Blicks« zugrunde, die bis heute nicht nur im Mittelmeerraum nachweisbar ist (Meisen 1950, 144-157). Sie war auch die Voraussetzung der wissenschaftlichen Erörterungen über die Optik in der Antike (vgl. z.B. Plato Tim. 45b; dazu Rakoczy 1996, 23-25). Die Strafe des Erblindens, die Paulus Barjesus Elymas ankündigt und die sofort eintritt, korrespondiert mit vielen antiken Wundergeschichten (Beispiele bei Weinreich 1909, 190-194; Lesky 1954, 438f.). Im Neuen Testament ist Blindheit oft mit Unglauben assoziiert (Mk 10,46-52 par.; Joh 9 dazu Schrage 1969, 288-292). Sogar Paulus erblindet eine Zeitlang im Rahmen seiner Bekehrung vor seiner Taufe (Apg 9,9; 22,11; 26,18; Garrett 1989, 84f.; Heininger 2005, 277).

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Die historisierende Deutung fragt nach dem geschichtlichen Hintergrund des Erzählgeschehens. Ihre Ergebnisse müssen in vieler Hinsicht spekulativ bleiben: Apg 13,6-12 gibt als wohl zutreffenden Sachverhalt wieder, dass es Barnabas und Paulus gelang, mit dem römischen Prokonsul in Kontakt zu treten und ihn für das Christentum zu interessieren (vgl. Öhler 2003, 290f.). Sergius Paulus wird sich zwar kaum zum Christentum bekehrt haben, zumal von einer Taufe keine Rede ist. Vielleicht hat er aber eine gewisse Sympathie erkennen lassen (Stegemann/Stegemann 1995, 265; Öhler 2005, 94). Der historische Hintergrund des Strafwunders bleibt ebenfalls weitgehend im Dunkeln. Denkbar ist, dass Barjesus Elymas aus Furcht, seinen lukrativen Posten als eine Art Hofmagier bzw. -astrologe an der Statthalterresidenz zu verlieren, der christlichen Missionspredigt gegenüber feindselig aufgetreten ist und dies die Entstehung einer Strafwundererzählung evozierte (vgl. Schmithals 1982, 123; Kollmann 1998, 43). Eine kerygmatisch-theologische Deutung des Strafwunders von Paphos kann mit unterschiedlicher Akzentuierung erfolgen. Apg 13,6-12 wird von den Auslegern als Text gelesen, der die Überlegenheit des Evangeliums gegenüber der Magie demonstriert und den möglichen Siegeszug des christlichen Glaubens in die höchsten Gesellschaftsschichten veranschaulicht. Zugleich wird der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Christentum und jeder Form magisch-superstitiöser Betätigung unterstrichen. In Apg 13,6-12 inszeniert Lukas Paulus dementsprechend gezielt als siegreichen Pneumatiker, der in Kontinuität mit alttestamentlichen Gottesmännern wie Mose oder Elija seine Überlegenheit über einen jüdischen Zauberer und falschen Propheten beweist. In diesem Sinne wird geschildert, dass der Apostel, vom 223

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Heiligen Geist geführt, fähig ist, Menschen Heil oder Gericht Gottes anzusagen (vgl. 1  Kor 5,3-5). Das Wunder legitimiert dabei sein Handeln. Es sollte sicherlich als ein ermutigendes Gegenstück zu den in vielerlei Hinsicht von Ablehnung, ja von Verfolgung gekennzeichneten Lebensumständen der christlichen Zeitgenossen des Lukas Wirkung entfalten. Darum ist hervorgehoben, dass die paulinische Missionstätigkeit sofort mit einem triumphalen Erfolg auf höchster gesellschaftlicher Ebene beginnt und sich Paulus im entscheidenden Moment als Pneumatiker durch das Eingreifen Gottes gegen seinen Widersacher durchsetzt. Ferner führt Lukas an dieser Schlüsselstelle seines Doppelwerkes, dem Beginn der Heidenmission außerhalb von Palästina und Syrien, durch die Figur des Sergius Paulus einen Vertreter der senatorischen Oberschicht in einer auffallend positiven Einschätzung ein. Dieser Staatsmann aus der paganen Führungsschicht des römischen Reiches, immerhin im Rang eines Prokonsuls, ist der christlichen Lehre gegenüber in bemerkenswerter Weise aufgeschlossen und wird sogar am Ende dieser Wundergeschichte gläubig. Dies soll wohl anhand eines Einzelfalles belegen, dass sich die christliche Botschaft sogar bei der herrschenden Elite des Reiches durchsetzen konnte. Darin kommt eine Tendenz zum Vorschein, die auch an anderer Stelle der Apostelgeschichte Parallelen hat (z.B. in der Bemerkung des Königs Agrippa in Apg 26,28). Wahrscheinlich verfolgte Lukas damit die Absicht, dem verbreiteten Vorurteil entgegenzuwirken, das Christentum sei ein Glaube der ungebildeten Sklaven und kleinen Leute. Das Zum-Glauben-Kommen des Sergius Paulus schildert Lukas aber nur kurz (allerdings nicht wie die Bekehrung irgendeines »Waschweibes«, Nock 1933b, 187). In seiner Zurückhaltung drückt sich – darauf ist hier hinzuweisen – wohl das Wissen um die Tatsache aus, dass ein Übertritt mit Taufe und Absage an die traditionellen Götter Roms für einen Prokonsul wegen seiner herausgehobenen sozialen Stellung nicht infrage kommen konnte. Außerdem geht es Lukas – wie schon ausgeführt – darum, die christliche Botschaft pointiert und beim ersten Zusammentreffen des Paulus mit einem Repräsentanten des Kaisers gegenüber der Magie abzugrenzen. Dieses Interesse durchzieht auch in anderen Passagen sein Doppelwerk. Es mag apologetisch motiviert sein (Klein 1967, 80f.; Klauck 1996, 65.68; Kilgallen 1997, 232-235), wurde doch schon Jesus der Zauberei im Bündnis mit Beelzebul verdächtigt (Mk 3,22 par.). Später begegnet derselbe Vorwurf bei heidnischen Gegnern wie z.B. Celsus (Or. Cels. 1,28; vgl. den Themenartikel zu Wunder versus Magie/Zauberei in diesem Band) und auch in jüdischen Quellen wie dem babylonischen Talmud (bSan 43a; dazu Maier 1978, 227; P. Schäfer 2010, 144f.). Diese Attacken richteten sich aber nicht allein gegen Jesus: Man darf nämlich nicht übersehen, dass bei der Verfolgung des Christentums durch Kaiser Nero nach dem Brand von Rom, der wohl auch Paulus zum Opfer gefallen sein wird, die Interpretation des Christentums als einer gefährlichen Form von »superstitio«, was man meist mit »Aberglauben« übersetzt, eine Rolle gespielt haben dürfte. Beispielsweise begründet der Historiker Sueton die neronischen Maßnahmen gegen die Christen damit, dass es sich bei ihnen um Menschen gehandelt habe, die einem »neuen und gefährlichen Aberglauben« (superstitionis novae ac maleficae, 224

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Der besiegte Magier Apg 13,6-12

Suet. Nero 16,2; vgl. dieselbe Terminologie im Hinblick auf die Christen bei Plin. ep. 10,96,8f.) anhingen. Bei der Verwendung des Begriffes »superstitio« schwingt für römische Ohren stets eine Nähe zu Magie, Astrologie und Wahrsagerei mit (vgl. z.B. Cic. div. 2,149; dazu Graf/Johnston 1999, 666f.; Frateantonio 2001, 1114). Es liegt durchaus nahe, dass diese Zusammenhänge Lukas sowie seinen Lesern und Leserinnen bekannt waren und er, ohne Nero und seine Verfolgung der angeblichen christlichen »superstitio« direkt beim Namen zu nennen, gegen eine Gleichsetzung der christlichen Verkündigung mit Magie Stellung bezieht. Das Auftreten von Missionaren wie Barnabas und Paulus trägt nach Überzeugung des Lukas vielmehr dazu bei, unterstützt durch die wunderbare Hilfe Gottes, den Umtrieben von Zauberern und falschen Propheten wie Barjesus Elymas einen Riegel vorzuschieben, so dass selbst der römische Senator Sergius Paulus sich von der Wahrheit der christlichen Lehre überzeugen lässt. Diese bisher vorgestellte Deutung bringt die lukanische Wundergeschichte mit einer antiken Debatte über das Christentum als einer möglichen »barbara superstitio« (Pervo 2009, 325) in Zusammenhang. Die Erzählung dient Lukas demnach dazu, im damaligen Umfeld Stellung zu beziehen. Dabei ist und bleibt die Frage gegenwartsrelevant, was das Christentum von der Fülle religiös-magischer Angebote, etwa auf dem bis heute sich andauernder Verbreitung und Beliebtheit erfreuenden Feld der astrologischen Zukunftsschau oder Lebensberatung, unterscheidet. Die Konkurrenz- und Wettbewerbssituation ist jedenfalls in der globalisierten Welt der Moderne mit einem weltweiten ›Markt‹ der Religionen eine andere und sie ist eine der antiken Welt in mancher Hinsicht nähere, als dies in der religiös abgegrenzten und geschlossenen, vormodernen europäischen Gesellschaft der Fall war. Ein klares Nein zu manchen Formen von Neureligiosität und ihren Trägern wird dabei unumgänglich sein (Bock 2007, 447), zumal wenn sich mit deren Werben, wie wahrscheinlich schon bei Barjesus Elymas im Gefolge des römischen Statthalters, ein am Profit orientiertes Interesse verbinden sollte. Ein solches Verständnis der Wundergeschichte ist auch einer dem Schema von Strafe, Buße und anschließender Vergebung verpflichteten Interpretation gegenüberzustellen, die einen weiteren Aspekt einer kerygmatisch-theologischen Deutung darstellt. Eine derartige Exegese wurde seit der patristischen Exegese immer wieder ins Feld geführt: Schon Origenes interpretierte die Blendung als der Reinigung von den Sünden dienendes Gnadengericht, infolge dessen Barjesus Elymas später nicht nur physisch, sondern auch geistlich die Sonne sieht (Or. philoc. 27,8, SC 226,296f.; ähnlich Chrys. hom. in Ac. 28, PG 60,210; Beda Ven. Ac. Apost. 13, PL 92,974; vgl. auch Calvin 2001 [1552], 372; Brenz 1588, 240). Wie von anderen Auslegern wird auch von Rudolf Pesch die Härte des durch Paulus herbeigeführten Erblindens als »Läuterungsstrafe zur Umkehr« (Pesch 2003, 25) abgemildert, die keinesfalls ein definitives Gericht darstellte, sondern den Magier lediglich zur Buße zwingen sollte. Dass Lukas eine zeitliche Begrenzung der Blindheit des Barjesus Elymas andeutet (Apg 13,11ab), impliziert vielleicht, dass dieser noch eine Chance haben könnte, bedeutet aber gerade nicht, dass bei seiner Bekehrung automatisch Besserung ein225

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treten wird. Die Perikope schließt vielmehr mit dem drastisch-ironischen Bild des hilflos herumtappenden Barjesus Elymas, der einen anderen ihn nun geleitenden Menschen suchen muss.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Trotz der angesprochenen Versuche, die Blendung des Barjesus Elymas als der Läuterung dienendes Gnadengericht zu verstehen, dominiert bei den Kirchenvätern die Vorstellung, dass der Magier seine gerechte Strafe empfing. Tertullian erwähnt ihn in einem Atemzug mit Simon Magus als Widersacher der Apostel, der wegen seiner magischen Praktiken mit dem Verlust des Augenlichts gestraft wurde (Tert. an. 57, Reifferscheid/Wissowa 1980, 392; Tert. idol. 9 und 39). Hieronymus geht sogar davon aus, dass Barjesus Elymas für immer erblindete, und stellt dies auf eine Stufe mit der Tötung von Hananias und Sapphira durch Petrus. In beiden Fällen handele es sich nicht um Grausamkeit, sondern die für Gott geschehenden Strafen seien Ausfluss einer frommen Gesinnung der Apostel (Hier. ep. 109; Hier. ad Rip. Presb. 3; Hilberg 1912, 354; ähnlich Tert. pudic. 21,4; Micaelli/Munier 1993, 270f.). Alexander Monachus stellt die Blendung des Barjesus Elymas und die Erleuchtung des Sergius Paulus antithetisch gegenüber (Alex. Mon. Laud. Barn. 21; Kollmann/Deuse 2007, 90f.). Johannes Chrysostomus stilisiert Barjesus Elymas zum Antitypus des Paulus, die beide den vorübergehenden Verlust des Augenlichts erlitten. Während aber der eine danach den Blick zum Himmel richtete, habe sich der andere wieder dem Bösen zugewandt (Chrys. laud. Paul. 4,2; Piédagnel 1982, 184f.). Eine zentrale Rolle nimmt Barjesus Elymas in den apokryphen Barnabasakten ein, die in legendarischer Form den Märtyrertod des Barnabas auf Zypern schildern. Barjesus Elymas hetzt die Juden der Insel gegen Barnabas auf (ActBarn 18-20) und ist in Salamis maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Apostel ergriffen und verbrannt wird (ActBarn 23). Auch eine auf dem Hintergrund der Geschichte der Kirche und ihres Verhältnisses zum Judentum durchaus problematische Deutung von Apg 13,6-12 soll hier nicht übergangen werden: In der Auslegung der Wundergeschichte ist wiederholt eine antijüdische Tendenz unverkennbar. Diese Interpretation stützte sich darauf, dass Barjesus Elymas von Lukas in Apg 13,6 u.a. als Jude identifiziert wird. Er wurde deshalb von Exegeten zum Exponenten »der unwahren, verkehrten, im Dunkeln tappenden Religion« (Holtzmann 1892, 372) gemacht, womit das Judentum gemeint ist, dessen die christliche Mission störender Einfluss von Paulus zurückgedrängt worden sei (vgl. ferner de Wette/Overbeck 1870, 195; Loisy 1920, 516f., Jervell 1998, 347f.). Doch steht Barjesus Elymas nicht für das Judentum an und für sich, vielmehr scheint er eine bestimmte synkretistische Religiosität auf der Grenze von Juden- und Heidentum zu repräsentieren (Barrett 1994, 613), wie sie uns mitunter auch in den antiken Zauberpapyri entgegentritt (z.B. PGM III,263-275). Niclas Förster 226

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Der besiegte Magier Apg 13,6-12

Literatur zum Weiterlesen S. Al-Suadi, Magie und Apokalyptik im Zentrum lukanischer Geschichtsschreibung. Historizität am Beispiel von Apg 13,6-12, NTS 61 (2015), 482-504. C. Breytenbach, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien. Studien zu Apostelgeschichte 13f.; 16,6; 18,23 und den Adressaten des Galaterbriefes, AGJU 38, Leiden et al. 1996. D. A. Campbell, Possible Inscriptional Attestation to Sergius Paul[l]us (Acts 13:6-12), and the Implications for Pauline Chronology, JThS 56 (2005), 1-29. H.-J. Klauck, Magie und Heidentum in der Apostelgeschichte des Lukas, SBS 167, Stuttgart 1996. R. Metzner, Die Prominenten im Neuen Testament. Ein prosopographischer Kommentar, NTOA 66, Göttingen 2011, 408-415. M. Öhler, Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte, WUNT 156, Tübingen 2003, bes. 272-291. L. Tosco, Pietro e Paolo Ministri del Giudizio di Dio. Studio del genere letterario e della funzione di At 5,1-11 e 13,4-12, RivBib Suppl. 19, Bologna 1989.

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Einfach nur göttlich (Die Heilung des Gelähmten in Lystra) Apg 14,8-13 (14,8) In Lystra saß ein an den Füßen kraftloser Mann. Er war vom Mutterleib an lahm und hatte noch nie gehen können. (9) Dieser hörte zu, wie Paulus redete. Der blickte ihn gespannt an und als er sah, dass er den Glauben hatte, gerettet zu werden, (10) rief er mit lauter Stimme: »Stell dich aufrecht auf deine Füße!« Da sprang er auf und ging umher. (11) Als die Volksmenge sah, was Paulus getan hatte, erhob sie ihre Stimme und sagte auf Lykaonisch: »Die Götter sind in Menschengestalt zu uns herabgestiegen.« (12) Sie nannten den Barnabas Zeus, den Paulus aber Hermes, weil er der Wortführer war. (13) Und der Priester des Zeus(tempels) vor der Stadt brachte Stiere und Kränze an die Tore und wollte mit der Volksmenge opfern.

Sprachlich-narratologische Analyse Die durchweg im Aorist oder Präteritum gehaltene und viele Partizipialkonstruktionen aufweisende Erzählung spielt in Lystra, das nach Ikonion die nächste Station von Barnabas und Paulus während der sogenannten Ersten Missionsreise war. Die Ereignisse in Lystra (Apg 14,8-20) zählen zu den dramatischen Höhepunkten der Apostelgeschichte und zerfallen in drei Szenen (Eckey 2011, 395f.). Der Wunderbericht Apg 14,8-13 bildet den Auftakt der Szenenfolge, indem er die Heilung eines Gelähmten und die überschwängliche Reaktion darauf schildert. Dies dient als Vorbereitung oder Präludium für die zweite Szene (Apg 14,14-18), welche die entsetzte Gegenreaktion der Missionare auf ihre Vergöttlichung und einen Aufruf zum biblischen Monotheismus beinhaltet, um den Zeuspriester und die Menschenmenge von ihrem Opfervorhaben abzubringen. Den Abschluss bildet eine dritte Szene (Apg 14,19f.) mit Zügen eines Rettungswunders. Sie berichtet von einem an Paulus betriebenen Steinigungsversuch, den dieser aber überlebt, so dass er mit Barnabas nach Derbe weiterziehen kann. Die im Fokus unserer Betrachtung stehende erste Szene trägt die stilgemäßen Züge einer Heilungswundergeschichte, deren Rahmen am Ende durch die in bunten Farben ausgemalte Akklamation und Admiration gesprengt wird. Zunächst erfolgen die Präsentation des namenlos bleibenden Hilfsbedürftigen und die Beschreibung seiner Notlage. Mit der Notiz, dass sein Leiden von Geburt an besteht (vgl. Joh 9,1), wird die Schwere des medizinisch im Grunde genommen aussichtslosen Falles unterstrichen und die übersteigerte Reaktion der Volksmenge auf die Heilung vorbereitet. Der Gelähmte sitzt, wie es sich aus dem weiteren Erzählverlauf erschließt, an einem Ort mit viel Publikumsverkehr. Antike Hörerinnen und Hörer der Geschichte dürften ihn sich als Bettler vorgestellt haben. Wie der Mann, der noch nie in sei228

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Einfach nur göttlich Apg 14,8-13

nem Leben gehen konnte, dorthin gekommen ist, bleibt anders als in Apg 3,2 offen. In jedem Fall wird er Zeuge der paulinischen Missionspredigt. Da es in Lystra keine Synagoge gibt, verkündigen die Missionare das Evangelium auf einem öffentlichen Platz, vermutlich dem Markt. Auffällig ist, dass der Mann nicht von sich aus um Heilung bittet, sondern der Wundertäter nach visueller Kontaktaufnahme mit dem Gelähmten selbst die Initiative ergreift. Als Träger des Gottesgeistes kann Paulus dem Mann ins Herz sehen und erkennt mit seinem prophetisch-charismatischen Blick, dass der Gelähmte den zur Rettung notwendigen Glauben in sich trägt (Eckey 2011, 398). Der Glaube (πίστις pistis) meint das Vertrauen in den Wundertäter, lässt die Adressaten aber auch an den spezifisch christlichen Glauben denken. Das heilende Befehlswort »Stell dich aufrecht auf deine Füße!« nimmt wörtlich Ez 2,1 auf. Durch das sofortige Aufspringen und Umhergehen des vormals Gelähmten erfolgen stilgemäß die Feststellung und augenfällige Demonstration des eingetretenen Wunders. Wie häufig in Wundergeschichten kommt es abschließend zu einer von Staunen gekennzeichneten, in eine Akklamation einmündenden Reaktion der Anwesenden, die hier aber in einzigartiger Weise gefüllt ist und zum nachfolgenden Geschehen überleitet. Die Volksmenge huldigt den Aposteln als Göttern in Menschengestalt. Warum Barnabas mit Zeus als höchstem Gott des griechischen Pantheons identifiziert wird, bleibt offen. Als Begründung wird von Kommentatoren in Anlehnung an Johannes Chrysostomus (hom. in Ac. 30) gern seine mutmaßlich stattliche Gestalt und ehrwürdige Haltung angeführt (Zahn 1927, 472; Bauernfeind 1939, 182). Die Erläuterung, Paulus sei wegen seiner Wortführerschaft für Hermes gehalten worden, wirkt überzeugend, da Hermes in antiken Quellen als Gott der Rede (Diod. Sic. 1,16) oder als das Wort führender Gott (Iamb. myst. 1,1) begegnet. Dass die Akklamation in lykaonischer Sprache erfolgt, verleiht der Erzählung Lokalkolorit und erhöht den Spannungsbogen. Die Leserinnen und Leser sind den Protagonisten einen Schritt voraus. Sie wissen bereits, dass die Apostel als Götter verehrt werden, und sind gespannt, wie sie sich aus ihrer prekären Lage herauswinden, während diese noch rätseln, was um sie herum vorgeht. Erst als Vorbereitungen zu einer Opferhandlung getroffen werden, erschließt sich Barnabas und Paulus die Tragweite des Geschehens und sie beginnen zu intervenieren. Dass die Bewohner Lystras zwei gewöhnliche Menschen zu Göttern hochstilisieren und der Zeuspriester sofort ein rauschendes Opferfest in Gang setzt, trägt unterhaltsame Züge, denn »viel grotesker hätte Lukas die Heiden Lystras nicht darstellen können« (Öhler 2003, 339).

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Schauplatz des Wundergeschehens ist Lystra unweit des heutigen Ortes Hatun Saray. In unmittelbarer Nähe befinden sich die Felshöhlen von Kilistra. Ein verödeter Siedlungshügel ist alles, was von Lystra übrig blieb. Die Stadt lag in der wasserarmen Landschaft Lykaonien, deren Bewohner sich vor allem von der Schafzucht ernährten. Etwa 30 km nördlich von Lystra erstreckte sich mit Ikonion die Hauptstadt Lykaoniens (Strab. 229

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geogr. 12,6,1). Die wirtschaftlich schwache, aber strategisch nicht unbedeutende Region blickte in den Tagen von Paulus und Barnabas auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Bis zur Schlacht von Magnesia, bei der Antiochus III. 190 v. Chr. eine verheerende Niederlage gegen Lucius Cornelius Scipio erlitt und seine kleinasiatischen Besitzungen verlor, gehörte Lykaonien zum Seleukidenreich. Die Römer unterstellten dann Lykaonien zunächst den Attaliden von Pergamon und schlugen es nach dem Untergang des Attalidenreichs der Provinz Kilikien zu. Marcus Antonius nahm im Jahr 36 v. Chr. eine Neuordnung der politischen Verhältnisse in Zentralanatolien vor, indem er Amyntas als Vasallenkönig mit der Herrschaft über Galatien, Pisidien, Lykaonien und Teile Pamphyliens betraute. Dies war aus römischer Sicht eine kluge Entscheidung, da Amyntas in der notorisch unruhigen Region mit ihren rebellischen Bergvölkern für Stabilität sorgte. Nach dem Tod des Amyntas wurde sein Reich in die römische Provinz Galatien umgewandelt. Eine bei Plinius überlieferte Liste der Städte Galatiens zählt auch Lystra mit auf (Plin. nat. 5,147). Im Süden der Provinz Galatien kam es immer wieder zu kriegerischen Grenzkonflikten mit den benachbarten Bergvölkern der Homonadenser und Isaurier, die gegen die römische Herrschaft aufbegehrten. Nachdem Quirinius 6 v. Chr. eine militärische Offensive zur Befriedung der Region erfolgreich zum Abschluss gebracht hatte, wurde Lystra in eine römische Kolonie umgewandelt (Jones 1971, 134). Der vollständige Name der Stadt lautete nun Colonia Iulia Felix Gemina Lustra (CIL 3,6786). Lystra war somit in der Zeit der Ersten Missionsreise eine von sieben Militärkolonien, die der Grenzsicherung im Süden der Provinz Galatien dienten und durch die Via Sebaste miteinander verbunden waren (French 1980, 707). Das römische Bevölkerungselement scheint allerdings in der Stadt nicht dominant gewesen zu sein, da nur 35 der 107 mit Lystra in Verbindung stehenden antiken Inschriften auf Latein abgefasst sind (Taylor 1995, 1217). Die Akklamation der Wundererzählung ist von Lokalkolorit geprägt. Als Reaktion auf die Gelähmtenheilung beginnt die Volksmenge auf Lykaonisch, den Aposteln als Göttern in Menschengestalt zu huldigen. Die Bevölkerung Lystras wird zwar mehrheitlich des Griechischen mächtig gewesen sein, doch hielt sich der hellenistische Einfluss in Grenzen. Die Verwendung der lykaonischen Sprache, eines spätluwischen Dialekts, ist für die Gegend um Lystra bis in das 5. Jh. n. Chr. nachweisbar (Schmitt 1983, 569f.). Der Volkszorn über das geplatzte Opfermahl entlädt sich im Versuch, Paulus zu steinigen (Apg 14,19). Die Steinigung stellte in der Antike eine verbreitete Form der Lynchjustiz dar (Apul. Met. 10,6,3). Juden aus Ikonion waren daran kaum beteiligt. Lukas neigt in problematischer Weise dazu, über die Aussage seiner Quellen hinaus jüdische Gegner als Hauptunruhestifter einzuführen, die Paulus nach dem Leben trachten (vgl. Klauck 1996, 75).

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Heilung des Gelähmten in Lystra ist nicht erst ein Produkt der Erzählkunst des Lukas (gegen Schmithals 1982, 132; Lüdemann 1987, 166), sondern basiert auf einer 230

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vorlukanischen Tradition, die aus der Gemeinde von Antiochia als Ausgangspunkt der Ersten Missionsreise stammen dürfte (Pesch 2003, 56). Lukas hat die Erzählung sprachlich stark an das Petruswunder Apg 3,1-10 angeglichen, um das Wirken von Petrus und Paulus zu parallelisieren (Schneider 1980, 306f.). Zudem muss Barnabas in dem Heilungsbericht ursprünglich zentraler verankert gewesen sein, als die lukanische Darstellung es noch erahnen lässt (vgl. Schreiber 1996, 70f.). Bei einem allein durch Paulus bewirkten Wunder wäre schwer erklärbar, wie die Verehrung des Barnabas als Zeus zustande gekommen sein sollte. Zuweilen wird sogar vermutet, dass es sich bei Apg 14,8-13 ursprünglich um eine reine Barnabaslegende handelte (Roloff 2010, 213). Dabei ist von einem historischen Haftpunkt der Erzählung auszugehen. Charismatische Heilungen Gelähmter stellen einen charakteristischen Zug des Wunderwirkens Jesu und der Apostel dar. Allgemein sind Gelähmtenheilungen in der Antike breit bezeugt, beispielsweise am Asklepiosheiligtum von Epidauros (vgl. Maisch 1971, 57-71). Der Schlussteil der Wundergeschichte spiegelt die religiösen Gegebenheiten im Süden der Provinz Galatien sachgerecht wider. Im isaurisch-lykaonischen Gebiet wurden in hellenistischer Zeit die alten luwischen Gottheiten Tarchu(nt) und Ru(nt) als Zeus und Hermes angebetet. Drei Inschriften aus der Region sind durch eine Verbindung von Zeus und Hermes geprägt und belegen die gemeinsame Verehrung beider Gottheiten in der Gegend um Lystra (Breytenbach 1996, 32f.). Als Folge des Heilungswunders hatte der Priester am Zeusheiligtum vor den Stadttoren Lystras bereits die Vorbereitungen für ein opulentes Stieropfer getroffen (14,13), bevor ihm Paulus mit seiner monotheistischen Missionspredigt einen Strich durch die Rechnung machte. Von einem Zeustempel in Lystra sind zwar ebenso wenig wie von der Stadt selbst archäologische Spuren erhalten. Inschriften aus Pisidien, Isaurien und Lykaonien zeigen allerdings, dass es in der Gegend um Lystra etliche Zeusheiligtümer gab (Breytenbach 1996, 33f.). Am Zeustempel von Lystra war nach der Heilung des Gelähmten ein öffentliches Opfermahl geplant, das für die breite Mehrheit der Bevölkerung eine der seltenen Gelegenheiten zu Fleischgenuss dargestellt hätte. Als Opfertiere standen Stiere bereit, die mit Kränzen oder Girlanden geschmückt waren. Bei solchen Opfern wurde gewöhnlich nur ein Teil des Tieres, vielfach die ohnehin ungenießbaren Innereien, der Gottheit auf dem Altar zugeeignet, während der Rest zum gemeinschaftlichen Verzehr bestimmt war. Damit verband sich der Gedanke einer Mahlgemeinschaft zwischen den Opfernden und der Gottheit, die von derselben Speise aßen. Da in Lystra die »Götter« persönlich vor Ort waren, stand bei dem geplatzten Opfermahl der Aspekt der rituellen Götterbewirtung (Theoxenie) im Vordergrund. Das zum Verständnis der Vorgänge in Lystra zentrale Motiv der in Menschengestalt erscheinenden Götter, die durch die Städte ziehen, wie Fremde aus dem Ausland wirken und die Menschen auf die Probe stellen, findet sich bereits bei Homer (Od. 17,485-487). Im Hintergrund der Wunderakklamation Apg 14,12, wo die Menschenmenge die christlichen Missionare als Zeus und Hermes in Menschengestalt glaubt identifizieren zu können, steht aller Wahrscheinlichkeit nach die von Ovid 231

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(met. 8,620-725) überlieferte Sage von Philemon und Baucis. Schauplatz der Handlung sind die Berge Phrygiens nahe einem sumpfigen See, der sich möglicherweise als der nicht allzu weit von Lystra entfernte Trogitissee identifizieren lässt (vgl. Breytenbach 1996, 34). Die Sage erzählt, wie Zeus und Hermes (römisch Iupiter und Merkur) als müde Wanderer unerkannt über die Erde wandeln, an den Haustüren abgewiesen werden und nur in der bescheidenen Hütte des alten Ehepaars Philemon und Baucis gastliche Aufnahme finden. Diese erkennen die wahre Identität ihrer Gäste, als sich beim bescheidenen Gastmahl der Weinkrug in wunderbarer Weise immer wieder von selbst füllt. Erschrocken bitten sie um Verzeihung für die ärmliche Bewirtung und wollen ihre einzige Gans opfern, was ihnen Zeus und Hermes aber verbieten. Während dann die anderen Menschen in der Gegend zur Strafe einer Wasserflut zum Opfer fallen, wird die gastfreundliche Hütte von Philemon und Baucis von den Göttern in einen prachtvollen Tempel verwandelt, an dem die beiden Alten als Priester wirken. Zwischen dieser alten Volkssage und der von Lukas überlieferten Missionserzählung gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten (vgl. Öhler 2003, 337f.). Beide Erzählungen spielen im selben geographischen Raum, die Protagonisten kommen in menschlicher Gestalt als wandernde Fremde vom Ausland daher, die von Erschrecken begleitete Erkenntnis ihrer Göttlichkeit wird durch ein Wunder herbeigeführt, und es werden die Vorbereitungen für ein besänftigendes Tieropfer getroffen, was die als Götter Erkannten aber strikt unterbinden. Vor dem Hintergrund der alten Volkssage können die Rezipientinnen und Rezipienten der Apostelgeschichte die Reaktion der Volksmenge auf das Wunder bestens nachvollziehen. Die Einwohner von Lystra wollen den Fehler ihrer Vorfahren vermeiden, die Zeus und Hermes nicht erkannten, ihnen die Bewirtung verweigerten und schwer dafür büßten.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Die Erzählung von der Heilung des Gelähmten in Lystra eröffnet unterschiedliche Interpretationshorizonte. Sie lässt sich redaktionsgeschichtlich, kerygmatisch und tiefenpsychologisch verstehen. Die redaktionsgeschichtliche Deutung der Gelähmtenheilung rechnet mit einer bewussten lukanischen Parallelisierung des Wirkens von Paulus und Petrus. Sie wertet die große Ähnlichkeit von Apg 3,1-10 und 14,8-13 als Indiz dafür, dass Lukas beide Erzählungen sprachlich eng aneinander angeglichen oder sogar das Heilungswunder von Lystra ohne jede Traditionsgrundlage als Pendant zur Heilung des Gelähmten an der Schönen Pforte geschaffen hat. Das vorrangige Ziel von Apg 14,8-13 wird vor diesem Hintergrund darin gesehen, Paulus als einen Petrus ebenbürtigen Missionar zu porträtieren, dessen Verkündigung ebenfalls von Zeichen und Wundern begleitet ist (Pesch 2003, 59). Die kerygmatische Deutung richtet den Fokus auf den Glauben, der den Gelähmten gerettet hat (πίστις τοῦ σωθῆναι pistis tou sōthēnai, Apg 14,9). Der 232

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Einfach nur göttlich Apg 14,8-13

Glaube, der in Heilungsgeschichten normalerweise das Vertrauen in die Kraft des Wundertäters bezeichnet, wird im Fall des Gelähmten von Lystra als bewusste Hinwendung zu Christus verstanden. Wie die Formulierung »er hörte Paulus reden« belege, sei der Glaube an die Rettung von der paulinischen Predigt geweckt worden. Folglich habe das Wunder der Heilung nach der lukanischen Darstellung die Verkündigung von Jesus als dem Retter (σωθήρ sōtēr) zur Voraussetzung (Haenchen 1977, 414f.). Ergänzend geht die kerygmatische Deutung davon aus, dass sich die Rettung des Gelähmten nicht nur vordergründig auf die Heilung von dem körperlichen Gebrechen bezieht, sondern auch die Erlangung des Heils miteinschließt (Weiser 1985, 349f.; Jervell 1998, 374). Der tiefere Sinn der Erzählung wird in einem symbolischen Verständnis der Heilung als Glaubenswunder gesehen. Der im Grunde ohnmächtige Mensch suche nach Rettung, die Paulus durch sein zeichenhaftes Handeln ermögliche, indem er ihn zu neuer Selbstständigkeit aufrichte (Oerder 2009, 55.59f.). Auch bei einer tiefenpsychologischen Betrachtung des Wunders von Lystra rückt der Glaube des Gelähmten in den Mittelpunkt. Anders als die kerygmatische Deutung versteht aber der tiefenpsychologische Ansatz unter dem Glauben nicht ein christologisches Bekenntnis, sondern ein die Angst und die Macht der Krankheit überwindendes Vertrauen, dass durch das Zurückfinden zur eigenen Mitte Heilung möglich ist. Eugen Drewermann, der bei seinen diesbezüglichen Ausführungen zum Glaubensmotiv die Textstelle Apg 14,9 zumindest erwähnt (Drewermann 1985, 124), sieht darin ein Charakteristikum schamanistischer Heiltechnik. Diese bemühe sich gerade um die Erweckung solchen Vertrauens und versuche mit allen Mitteln, den Kranken nicht aus der Weltordnung herausfallen, sondern ihn von Neuem die Verbundenheit und Güte des Alls spüren zu lassen. Sie wolle erreichen, dass der Kranke sich selbst im Mittelpunkt der Welt von den eigenen Kräften des Daseins getragen fühle und damit zu seiner eigenen Mitte zurückfinde. Die wunderbare Fähigkeit der Seele, sich in den Schichten ihres Unbewussten dem Geheimnis des Daseins in den ewigen Bildern der Religion zu öffnen, bilde die Grundlage für das Wunder der Heilung in der Kraft des Glaubens (Drewermann 1985, 125-127). Eine Lähmung des Körpers, wie sie Apg 14,8-13 vorliegt, erklärt sich die tiefenpsychologische Bibelauslegung in aller Regel als Folgeerscheinung einer gelähmten Seele. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Wunder von Lystra als Heilung von psychogener Lähmung begreifen, indem der Kranke durch die Begegnung mit Paulus und die von ihm ausgestrahlte Macht des Vertrauens zu seiner eigenen Mitte zurückfand.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Bei der neutestamentlichen Wirkungsgeschichte der Lystraepisode spielt das Heilungswunder keine Rolle. Paulus rekurriert bei der Apologie seines Apostolats auf die gemeinsamen Missionsaktivitäten mit Barnabas (1 Kor 9,6) und erwähnt in sei233

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nem Peristasenkatalog die Steinigung in Lystra (2 Kor 11,25), lässt aber in beiden Fällen über die Gelähmtenheilung nichts verlauten. Auch der Verfasser des pseudepigraphen Zweiten Timotheusbriefs nimmt allein die in Lystra erfahrenen Leiden des Paulus in den Blick (2 Tim 3,11). Ob die altkirchliche Marta-Legende, in der ein von Dämonen besessener Mann nur auf Lykaonisch von seiner Heilung berichten kann, auf Apg 14,8-13 zurückgreift, ist fraglich (vgl. Öhler 2003, 353 Anm. 101). Ausführlicher rezipiert wird das Heilungswunder von Lystra bei Johannes Chrysostomus (hom. in Ac. 30). Der Kirchenvater stellt pointiert den kerygmatischen Charakter der Erzählung in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Die Lähmung habe den Mann nicht daran gehindert, sich geistig zu erheben und zum ernsthaften Hörer der Predigt des Paulus zu werden. Während in anderen Fällen die körperliche Heilung der Vermittlung des Seelenheils vorangehe, sei es bei dem Gelähmten von Lystra genau umgekehrt gewesen. Paulus habe dem Gelähmten in die Seele geschaut und dessen Aufspringen sei der Beleg für die vollkommene Heilung. Eine künstlerische Umsetzung der Lystraepisode verdanken wir dem niederländischen Maler Nicolaes Pieterszoon Berchem (1620-1683), der nicht nur zu den wichtigsten Vertretern der Landschaftsmalerei seiner Zeit zählte, sondern auch religiöse und mythologische Motive auf die Leinwand bannte. Sein 1650 entstandenes Gemälde »Paulus und Barnabas in Lystra« hält fest, wie der Zeuspriester in Lystra vor einer riesigen Zeusstatue das Stieropfer für die Apostel vorbereitet, während diese sich in demütiger Haltung Abb. 18: Nicolaes Pieterszoon gegen die Apotheose verwahren.

Berchem, Paulus und Barnabas in Lystra

Bernd Kollmann

Literatur zum Weiterlesen M. Fournier, The Episode at Lystra. A Rhetorical and Semiotic Analysis of Acts 14:7-20a, New York 1997. H.-J. Klauck, With Paul in Paphos and Lystra. Magic and Paganism in the Acts of the Apostles, Neotest. 28 (1994), 93-108. L. H. Martin, Gods or Ambassadors of God? Barnabas and Paul in Lystra, NTS 41 (1995), 152-156. C. Oerder, Paulus in Lystra. Missionar, Wundertäter, Apostel. Das Paulusbild im Kontext von Apg 13f. mit einem schulpraktischen Ausblick, in: R. Hoppe/K. Köhler (Hg.), Das Paulusbild der Apostelgeschichte, Stuttgart 2009, 43-74. R. Schwindt, Angekommen im heidnischen Land. Barnabas und Paulus in Lystra (Apg 14,820), SNTU.A 39 (2014), 135-158.

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Geschäftsschädigende Intervention (Die Heilung der wahrsagenden Sklavin) Apg 16,16-22 (16,16) Es geschah aber, als wir zur Gebetsstätte gingen, dass uns eine Sklavin begegnete, die einen Geist Python hatte und die ihren Herren viel Verdienst einbrachte, indem sie wahrsagte. (17) Sie lief Paulus und uns hinterher und schrie: »Diese Männer sind Sklaven des höchsten Gottes, diese verkünden euch einen Weg der Rettung.« (18) Dieses tat sie viele Tage lang. Als es aber Paulus zu viel wurde, wandte er sich um und sagte zu dem Geist: »Ich befehle dir im Namen Jesu Christi, aus ihr auszufahren.« Und er fuhr aus zur selben Stunde. (19) Als aber ihre Herren sahen, dass die Hoffnung auf ihren Verdienst ausgefahren war, ergriffen sie Paulus und Silas und schleppten sie auf den Marktplatz zu den Obersten. (20) Und sie führten sie den Richtern vor und sagten: »Diese Männer, die Juden sind, bringen unsere Stadt in Unordnung (21) und verkünden Sitten, die uns, die wir Römer sind, anzunehmen oder zu tun nicht erlaubt sind.« (22) Und die Menge stellte sich gegen sie und die Richter ließen ihnen die Kleider vom Leib reißen und befahlen, sie zu geißeln.

Sprachlich-narratologische Analyse Diese Austreibungserzählung findet sich in dem umfangreichen Abschnitt über die Erlebnisse des Paulus und seines Begleiters Silas in Philippi (Apg 16,11-40). Nach einer detaillierten Beschreibung der Reiseroute und Vorstellung der Stadt (V. 11f.) sowie der Bekehrung und Taufe der Purpurhändlerin Lydia (V. 13-15) folgen mit der Heilung der wahrsagenden Sklavin (V. 16-22) und der Befreiung der Missionare aus dem Gefängnis (V. 23-40) zwei Wundererzählungen direkt aufeinander. Die Heilung der wahrsagenden Sklavin ist gewissermaßen das Scharnier zwischen dem vorausgehenden Lydia-Abschnitt, mit dem sie über die Nennung der »Gebetsstätte« (προσευχή proseuchē) verknüpft ist (V. 13.16), und der folgenden Erzählung über die Haft der Missionare, die eine Folge der Austreibung des Wahrsagegeistes ist. Während die Abgrenzung nach vorn durch den Neueinsatz »es geschah aber« und den mehrfach wiederholten Weg zur Gebetsstätte (V. 16) für die Leser(innen) ersichtlich ist, werden sie ohne eine klare Zäsur unversehens von der einen Wundererzählung in die andere hinübergeleitet. Ausschlaggebend für den hier zugrunde gelegten Einschnitt zwischen V. 22 und V. 23 ist der Ortswechsel der Gefangenen vom Marktplatz in das Gefängnis und damit an den Ort des folgenden Wunders. 235

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Beim Blick auf das Personeninventar dieser Wundererzählung irritiert in den ersten beiden Versen (V. 16f.) das »wir« bzw. »uns«, das bereits in vorangegangenen Versen des Philippi-Abschnittes zu lesen war und auch in anderen Passagen der Apostelgeschichte auftritt (16,10-17; 20,5-15; 21,1-18; 27,1-28,16). Die Erklärung dieser sogenannten »Wir-Abschnitte« ist umstritten, erwogen werden die Verwendung eines Augenzeugenberichts, eines Stationenverzeichnisses (Itinerar) für Reisende oder eines literarischen Stilmittels für Reiseberichte durch den Verfasser der Apostelgeschichte (vgl. grundlegend Wehnert 1989; speziell zu 16,10-17 SterckDegueldre 2004, 15-40). Die Differenzierung von »Paulus und uns« (V. 17) lässt an mindestens drei Personen denken, dennoch ist aber bei der späteren Ergreifung der Missionare durch die Herren der Sklavin lediglich von Paulus und Silas die Rede (V. 19). Timotheus, der auf der sogenannten zweiten Missionsreise (15,36-18,22) mit Paulus und Silas unterwegs ist, bleibt im gesamten Philippi-Abschnitt unsichtbar und wird erst in Beröa, der übernächsten Station, wieder namentlich genannt (17,14). Die Personen, mit denen es die Missionare in dieser Erzählung zu tun haben, wechseln: Zunächst ist es die geistbesessene Sklavin (V. 16-18), dann sind es deren Herren (V. 19-21) in Verbindung mit der Menge und den städtischen Beamten, die nahezu als deren Werkzeuge agieren (V. 22). Alle Beteiligten außer Paulus und Silas bleiben namenlos, selbst die Sklavin, die relativ ausführlich vorgestellt wird. Sie wird über ihren unfreien Status und vor allem über ihre nicht für sie, sondern für ihre Herren einträgliche Wahrsagetätigkeit charakterisiert. Damit deutet sich schon an, dass nicht ihre persönliche Lebensgeschichte und ganz konkret ihre Freiheit, sondern ihre durch den Geist Python mögliche Wahrsagekunst im Fokus steht und die Geistaustreibung für Konflikte mit ihren Herren sorgen wird. Dem entspricht die schlichte Vorstellung ihrer Herren: Sie werden über ihre Sklavin und den ihnen zukommenden Gewinn aus deren Wahrsagetätigkeit definiert. Weitere Informationen über die Besitzer der Sklavin fehlen, nicht einmal ihre genaue Anzahl wird angegeben. Mit dem vollständigen Wechsel der Personen, mit denen Paulus und Silas konfrontiert sind, ist ein starker Einschnitt innerhalb der Erzählung gegeben, der durch den damit verbundenen Ortswechsel vom Weg zur Gebetsstätte auf den Marktplatz (V. 19) verstärkt wird. Die Rolle der Missionare verändert sich dabei aber kaum, denn die Aktivität geht in beiden Abschnitten nicht von ihnen, sondern von den in Philippi beheimateten Menschen aus: Die Sklavin drängt sich ihnen geradezu auf und muss Paulus zu einer Reaktion nötigen, indem sie den Männern »in den Weg tritt« (ὑπαντᾶν hypantan), ihnen »hinterherläuft« (κατακολουθεῖν katakolouthein) und sie »anschreit« (κράζειν krazein); die Herren »ergreifen« (ἐπιλαμβάνειν epilambanein) die beiden Missionare, die nun nicht einmal mehr in Wort oder Tat reagieren, sondern sich während der Ereignisse auf dem Marktplatz völlig passiv verhalten. Dieses zuerst nur reaktive und dann sogar tatenlose Verhalten der Missionare spiegelt sich syntaktisch darin, dass in dem gesamten Abschnitt Paulus lediglich beim Ausfahrbefehl als handelndes Subjekt erscheint (V. 18) und beide Männer ge236

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meinsam ansonsten nur dann Subjekt sind, wenn durch die Sklavin bzw. den pythischen Geist und die Herren der Sklavin in direkter Rede Aussagen über sie gemacht werden (V. 17.20f.). Der zeitliche Rahmen der Erzählung bleibt unklar: In der Exposition des Wunders ist von einer wiederholten Handlung der Missionare die Rede, die mehrfach die Gebetsstätte aufsuchen (V. 16), an der sie zuvor Lydia und weitere Frauen an einem Sabbat angetroffen haben (V. 13f.). Falls dieser Ort jeweils ausschließlich am Sabbat das Ziel der christlichen Missionare ist, hat sich ihr Aufenthalt in Philippi und damit auch die in dieser Erzählung insgesamt beschriebene Zeitdauer bereits über mehrere Wochen erstreckt, bevor es dann zu einer einmaligen und folgenreichen Reaktion des Paulus kommt. Die griechische Partizipialkonstruktion, die im Deutschen am besten mit einem Temporalsatz wiederzugeben ist (»als sie sahen«), lässt offen, wie die Herren der Sklavin von der Austreibung des Wahrsagegeistes erfahren und wie unmittelbar ihre Reaktion darauf erfolgt: Haben sie alle oder einer von ihnen das Geschehen selbst beobachtet? Wer berichtet ihnen wie und wann davon? Wie entscheiden sie sich für ein gemeinsames Vorgehen gegen Paulus und Silas? Wie viel Zeit vergeht so zwischen der Austreibung des Geistes und der Ergreifung der Missionare? Mit dieser Leerstelle korrespondiert das Schweigen des Erzählers über das weitere Ergehen der Sklavin: Ist sie erleichtert über die Geistaustreibung oder entsetzt über den Verlust ihrer besonderen Fähigkeit? Verschlechtert sich jetzt ihre Position, weil sie nun eben nicht mehr ihren Herren Gewinn einbringt? Welche Aufgaben werden ihr in Zukunft gegeben oder wird sie gar baldmöglichst verkauft, weil sie nun wertlos geworden ist? Sowohl die Sklavin als auch ihre Herren finden nur dann die Aufmerksamkeit des Lukas, wenn sie mit Paulus und Silas in Interaktion stehen. Die Vor- und Nachgeschichte ihrer Begegnung mit den Missionaren sind hingegen für den Verfasser der Apostelgeschichte nicht von Belang und deshalb nicht Teil seines auf Paulus und Silas fokussierten Berichts. Die Gattungsbestimmung dieser Erzählung als Exorzismus wird durch Signalwörter im Text impliziert: Das »Schreien« (κράζειν krazein) der Sklavin ist im lukanischen Doppelwerk kein eindeutiges (vgl. κράζειν krazein in Lk 18,39; 19,40; Apg 7,57.60; 14,14 u.a.; ἀνακράζειν anakrazein in Lk 23,18), aber doch ein mehrfach auftretendes Zeichen für Besessenheit (vgl. κράζειν krazein in Lk 9,39; Apg 16,17; ἀνακράζειν anakrazein in Lk 4,33; 8,28). Vor allem aber ist in diesem Text dreimal von »Ausfahren« (ἐξέρχεσθαι exerchesthai) die Rede: Zunächst wird es zweimal geradezu klassisch in Bezug auf den Geist, den die Sklavin »hat« (ἔχειν echein), verwendet, und zwar im Ausfahrbefehl und für den Vollzug des Ausfahrens (V. 18), dann aber in ungewohnter Weise bei der Interpretation des Geschehens aus der Sicht der Herren der Sklavin: Für sie ist nicht ein Geist, sondern ihre »Hoffnung auf Verdienst« »ausgefahren« (V. 19). Durch die Wiederholung des »Ausfahrens« werden einerseits beide Abschnitte der Erzählung miteinander verklammert, andererseits wird damit aber auch die unerwartete Wende des Geschehens signalisiert. Die unterschiedlichen Perspektiven auf das Wirken und die Botschaft des Paulus werden auch bei dem zweiten Verb, das in dieser Erzählung zweimal in pointierter 237

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Weise verwendet wird, nämlich »verkündigen« (παραγγέλειν parangelein), deutlich: Die Sklavin bzw. der aus ihr sprechende pythische Geist nennt als Inhalt der Verkündigung der Missionare den »Weg der Rettung« (V. 17), die Herren hingegen werfen ihnen vor, antirömische Sitten zu verkünden (V. 21). Diese Erzählung ist die erste und einzige narrativ ausgestaltete erfolgreiche Austreibung innerhalb der Apostelgeschichte (summarisch zuvor Philippus in 8,7 und später Paulus in 19,12; gescheiterter Exorzismus durch jüdische Exorzisten in Ephesus in 19,13-16). Von den typischen Elementen eines Exorzismus sind in dieser Erzählung jedoch nur wenige enthalten: Auf die Aussage des Geistes über die Missionare (V. 17b) folgen der Ausfahrbefehl (V. 18c) und dessen Vollzug (V. 18d). Es fehlen in dieser Exorzismuserzählung die Schilderung einer Notlage und die Bitte um Hilfe durch die besessene Person ebenso wie ein Bericht darüber, wo der ausgetriebene Geist seine neue Wohnung nimmt. Stattdessen überrascht der Text seine Leser(innen) damit, dass der Ausfahrbefehl erst »nach vielen Tagen« (V. 18a), also nach mehreren Begegnungen und langem Zögern, aus dem Überdruss des Paulus erfolgt, der das ständige Nachrufen der Sklavin nicht mehr erträgt (V. 18b). Und die Abweichungen vom gängigen Schema setzen sich fort: Anstelle des zu erwartenden Lobes des Wundertäters oder der hinter ihm stehenden göttlichen Macht oder zumindest des Staunens und der Furcht der Zeugen erntet der Wundertäter hier harsche Kritik (V. 19-21), die ihm und seinem Begleiter körperliche Züchtigung (V. 22) und sogar Gefängnis (V. 23-39) einbringt. Niemand kommt durch die Austreibung dieses Geistes zum Glauben, vielmehr wird das Einschreiten des Paulus als geschäftsschädigende Intervention und Gefährdung der öffentlichen Ordnung und der römischen Sitten ausgelegt.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Die makedonische Stadt Philippi ist für einen solchen Zusammenstoß griechischer, römischer, jüdischer und christlicher Religion und die Betonung des dort wehenden römischen Geistes, wie es Lukas in Apg 16,16-22 schildert, geradezu prädestiniert. Wechselnde Herrscher und dadurch ausgelöste Zuzüge von neuen Bewohnerinnen und Bewohnern sorgen in dieser Stadt in religiöser Hinsicht für ein breites Spektrum und für ein starkes Bewusstsein der eigenen Herkunft und der politisch geltenden Normen: Die ursprünglich von Thrakern bewohnte Siedlung Krenides wird 356 v. Chr. vom makedonischen König Philipp II., dem Vater Alexander des Großen, eingenommen und in Philippoi (Φιλίπποι) umbenannt. Nach dem Zerfall des Weltreiches Alexanders führen makedonische Könige Kriege gegen die Römer, die 167 v. Chr. mit der Absetzung des makedonischen Königtums und der Umwandlung seines Gebietes in vier Bezirke (μερίδες merides) enden, worauf Lukas anspielt, wenn er Philippi – allerdings textkritisch unsicher (vgl. Pilhofer 1995, 159-165; SterckDegueldre 2004, 50-54) – »eine Stadt des ersten Bezirks von Makedonien« nennt (V. 12). Nach einem Aufstand wird Makedonien 146 v. Chr. römische Provinz. Das 238

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Geschäftsschädigende Intervention Apg 16,16-22

bis dahin unbedeutende Philippi rückt 42 v. Chr. in das Licht der Weltöffentlichkeit, als die Caesar-Mörder Brutus und Cassius in einer Doppelschlacht in unmittelbarer Nähe der Stadt Antonius und Octavian, dem späteren Augustus, unterliegen. Einige der römischen Veteranen werden von Antonius in Philippi angesiedelt, welches zu einer römischen colonia, also einer »Tochterstadt« Roms mit römischem Verwaltungs- und Rechtssystem wird, wie auch Lukas mit dem Lehnwort κωλονία (kōlonia) in seiner Vorstellung der Stadt vermerkt (V. 12). An der Spitze der philippischen Beamten stehen die duumviri iure dicundo (»Zwei-Männer-Kommission für die Rechtsprechung«), die in dem Philippi-Abschnitt der Apostelgeschichte unter ihrer griechischen Bezeichnung στρατηγοί (stratēgoi) erscheinen (V. 20.22.38); ihnen untergeordnet sind die lictores (»Rutenträger«), die als ῥαβδοῦχοι (rhabdouchoi) begegnen (V. 35.38; vgl. ῥαβδίζειν rhabdizein für die Geißelung in V. 22). Zur Erinnerung an den bei Philippi errungenen militärischen Erfolg trägt die Kolonie zuerst den Namen colonia Victrix Philippensis. Nach der Schlacht bei Actium will der siegreiche Octavian die Verbundenheit der Kolonie mit seinem Widersacher Antonius auflösen. Er vollzieht deshalb 30 v. Chr. eine Neugründung der Kolonie, die einen neuen Beinamen erhält, der den »Familiennamen« des Octavian aufnimmt: In Anlehnung an die gens Iulia, die Familie der Julier, heißt sie nun colonia Iulia Augusta Philippensis. Die Kolonie wächst nochmals durch die Ankunft einer größeren Zahl neuer Bewohner(innen) aus Italien. Die römische Prägung der Stadt Philippi wird durch die erneute Ansiedlung ehemaliger Soldaten weiter gefestigt. Bereits der kurze Durchgang durch die Geschichte Philippis macht plausibel, dass in der Stadt und ihrer Umgebung Menschen mit thrakischen, griechischen und römischen Wurzeln und dementsprechend vielfältigen Religionen zusammenleben (vgl. Pilhofer 1995, 95-113). Archäologische Hinweise auf eine Synagoge in Philippi für das 1. Jh. n. Chr. fehlen. Allerdings spricht Lukas von der gottesfürchtigen Lydia (V. 13-15) und einer »Gebetsstätte« (V. 13.16: προσευχή proseuchē). Wenn er damit historisch zutreffende Verhältnisse spiegelt, gibt es in Philippi zu dieser Zeit zumindest einen gewissen Bevölkerungsanteil, der vermutlich nicht jüdisch ist, aber starke Sympathien zum Judentum aufweist und wohl vorrangig aus Frauen besteht. Das Aufsuchen der jüdischen »Gebetsstätte« durch die Missionare (nach Lukas ein bewährter Ausgangspunkt für ihre Verkündigung an einem neuen Ort; vgl. das Aufsuchen von Synagogen in Apg 13,5.14; 14,1; 17,1f.10.17; 18,4.19; 19,8), die Unkenntnis der neuen christlichen Lehre und vor allem eine bei Römern stark vertretene antijüdische Haltung machen verständlich, warum Paulus und Silas als Juden und nicht als Christen, die unrömische Sitten verkünden, angeklagt werden (V. 20f.). Durchgängig ist in dieser Erzählung im Plural von »Herren« (κύριοι kyrioi) der Sklavin die Rede (V. 16.19). Entgegen dem bekannten jesuanischen Wort »Niemand kann zwei Herren dienen« (Mt 6,24 par. Lk 16,13) ist ein gemeinschaftlicher Besitz einer Sklavin oder eines Sklaven in der griechisch-römischen Welt keine Seltenheit (vgl. Taubenschlag 1930, 148.152-154; Richter Reimer 1992a, 164f.194f.; Avemarie 2003, 552-554). Eindrücklich illustriert dieses Phänomen ein Papyrus, der im ägyptischen Oxyrhynchos gefunden wurde und auf das Jahr 186 n. Chr. datiert ist (P.Oxy. 239

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716; vgl. Mitteis 1906, 252f.; Ebel 2013, 85-87): Der Sklave Sarapion gehört zur Hälfte den minderjährigen Brüdern Dionysios und Thaesis, zu einem Sechstel deren ebenfalls minderjähriger Halbschwester Eudaimonis und zu einem Drittel einem weiteren Halbbruder namens Diogenes. Da der Letztgenannte Sarapion freigelassen hat, versuchen die Vormünder der drei anderen anteiligen Besitzer(innen) des Sklaven nun, die verbleibenden zwei Drittel im Rahmen einer öffentlichen Versteigerung zu verkaufen, um Komplikationen zu verhindern. Der gemeinsame Besitz dieses Sklaven durch Verwandte verschiedenen Grades macht es sehr wahrscheinlich, dass es sich hier um eine Erbengemeinschaft handelt. Eine ähnliche Situation könnte auch bei der wahrsagenden Sklavin in Philippi zu einer Mehrzahl an Besitzern geführt haben. Da sie als παιδίσκη (paidiskē), also als junge Sklavin, bezeichnet wird (V. 16), könnte sie eine im Haus geborene Sklavin sein, die als Kind einer Sklavin automatisch auch Sklavin ist. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ihr ursprünglicher Besitzer gestorben ist und sie nun seinen Erben gemeinsam gehört. Da sie allerdings ihren Besitzern beachtlichen finanziellen Gewinn (ἐργασία πολλή ergasia pollē) einbringt, könnte es sich bei diesem geteilten Besitz alternativ auch um eine gezielte gemeinsame Investition von nicht zwangsläufig verwandtschaftlich verbundenen Menschen handeln, die allein auf wirtschaftlichen Profit zielt. Ein Beispiel für einen solchen Fall liefert Ciceros Rede Pro Quinto Roscio comoedo: Der Schauspieler Quintus Roscius Gallus besitzt einen Anteil am Sklaven Panurgus als Gegenleistung für erteilten Schauspielunterricht. Da der wertvolle Sklave aber von einem Flavius ermordet wird, droht ein Verlustgeschäft. Um dieses abzuwenden, einigt sich Roscius mit dem Mörder für die begangene »Sachbeschädigung« auf eine Entschädigung für seinen Anteil an Panurgus. Roscius erhält ein Grundstück, an dem dann auch der Miteigner Gaius Fannius Charea beteiligt werden will. Die zweite Hälfte des daraufhin vereinbarten Geldbetrags will jedoch Roscius nicht zahlen, weshalb Fannius vor Gericht zieht und Roscius Cicero zu seiner Verteidigung engagiert. Das Beispiel des Sklaven Panurgus deutet an, was Paulus droht, wenn er den Geist austreibt, welcher der Sklavin in Philippi die Fähigkeit zum Wahrsagen verleiht: Zwar handelt es sich in diesem Fall nicht um Körperverletzung oder gar Tötung einer Sklavin, die – entsprechend der antiken Vorstellung von Sklavinnen und Sklaven als »Sache« – als Sachbeschädigung gelten und zivilrechtlich belangt werden könnte, sondern gewissermaßen um »Geistbeschädigung«, aber gerade deshalb um die Zerstörung genau der Fähigkeit, die den Wert der Sklavin für ihre Herren ausmacht (V. 16). Folgerichtig könnten die Herren der Sklavin Paulus wegen der »Wertminderung« ihrer Sklavin verklagen, nicht aber wegen der Störung der öffentlichen Ordnung und der Verkündung unrömischer Sitten, wie sie es nach dem Bericht des Lukas tun (V. 20f.). Zur Debatte stünde in einem solchen Fall, wie ebenfalls aus Ciceros Rede Pro Roscio zu ersehen ist, der genaue Geldbetrag, der als Schadensersatz vom »Sachbeschädiger« zu leisten wäre, niemals aber dessen Bestrafung durch körperliche Züchtigung (V. 22) oder Gefängnis (V. 23-39), wie es Paulus und dem an der Geistaustreibung gar nicht aktiv beteiligten Silas in Philippi widerfährt (vgl. Richter Reimer 1992a, 190-195). 240

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Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Während die Geister, die Jesus austreibt und seine Jünger austreiben sollen, von den Evangelisten als Dämonen (δαίμονες daimones: Mt 8,31; δαιμόνιον daimonion: Mk 3,15.22 u.a.; Mt 9,33f. u.a.; Lk 4,33.35 u.a.) oder als »böse« (πονηρός ponēros: Mt 12,45; Lk 7,21 u.a.; Apg 19,12) oder »unreine« (ἀκάθαρτος akathartos: Mk 1,23.26f. u.a.; Mt 10,1; 12,43; Lk 4,33.36 u.a.; Apg 5,16; 8,7) Geister (πνεύματα pneumata) klassifiziert werden, trägt dieser Geist (πνεῦμα pneuma) einen Eigennamen (sonst nur Mk 5,9: Legion): Er heißt »Python« (πύθων pythōn) und ruft damit bei antiken Leserinnen und Lesern umgehend das Orakel von Delphi (vgl. Giebel 2001; Rosenberger 2001) in Erinnerung. Der Mythos besagt, dass Python eine drachenähnliche Schlange war, die in Delphi eine Erdspalte bewachte und von Apollon erschlagen wurde, als dieser den Ort für sich beanspruchte. In Erinnerung an diese Tat und den verfaulenden (πύθειν pythein) Kadaver der Schlange erhielt der Gott den Beinamen Python und trägt die Priesterin des Heiligtums den Namen Pythia. Auch wenn die Blütezeit des delphischen Apollon-Heiligtums und seines Orakels zur Zeit des Lukas vorüber ist, ist es noch immer der Inbegriff eines Orakels. Mit ihrer Wahrsagefähigkeit (μαντεύεσθαι manteuesthai) erscheint die vom Geist Python besessene Sklavin in Philippi gewissermaßen als »eine Art Pythia im Kleinen, als delphisches Orakel im Westentaschenformat« (Frenschkowski 2002, 157). Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer institutionellen Einbindung und des Ansehens ihrer Orakelsprüche (vgl. a.a.O., 140-150.154-158) lassen sich neben dem Geschlecht noch weitere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Frauen, die in Delphi und Philippi Ratsuchenden Auskunft geben, ausmachen: Die Dienstleistungen beider Frauen sind nur für Geld zugänglich, das jeweils nicht in ihrem eigenen Besitz bleibt: Lukas schreibt von dem beträchtlichen Gewinn, den die Sklavin ihren Herren einbringt (V. 16). Inschriftliche Zeugnisse belegen, dass in Delphi eine Gebühr an das Heiligtum zu entrichten war, die für Einzelpersonen und offizielle Delegationen unterschiedlich hoch war (Rosenberger 2001, 49.51). In Delphi fehlen Namenslisten der Priesterinnen. Die Frauen, die nacheinander und in der Blütezeit des Orakels sogar zu mehreren gleichzeitig das Priesterinnenamt innehatten, sind lediglich als Pythia bekannt (Fauth 1963, 518f.). Ebenso ist auch die Sklavin aus Philippi namenlos und es wird in Apg 16,16-20 lediglich der Name des Geistes genannt, den sie »besitzt« (ἔχειν echein), nämlich Python. Die genaue Form des eigentlichen Wahrsageaktes ist in beiden Fällen ein Geheimnis: Es ist nicht einmal klar, ob es in Delphi zu einem direkten Kontakt zwischen Pythia und den Ratsuchenden kommt (vgl. Rosenberger 2001, 52-58) und welche Rollen Pythia und die sie umgebenden männlichen »Propheten« bei der Orakelverkündung einnehmen (vgl. Schnurr-Redford 2000). Auch Lukas gibt keine exakten Details zur Art und Weise des Wahrsagens der philippischen Sklavin an. Da »Python« neben dem genannten Bezug auf Apollon und Delphi auch einen Bauchredner bezeichnen kann, wäre es möglich, dass die wahrsagende Sklavin sich dieser Technik bedient. Eine solche Form »›abgesunkener‹ Religion« (Frenschkowski 2002, 141), die auf Marktplätzen zu Hause und mit 241

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Streben nach finanziellem Gewinn verbunden ist, wird von kritischen Zeitgenossen in einem Atemzug mit Fehlentwicklungen des Orakelwesens genannt. So wendet sich Plutarch zugleich scharf gegen Bauchredner und gegen falsche Orakelpriester: Es ist lächerlich und geradezu kindisch zu glauben, dass der Gott selbst – wie die Bauchredner, einst eurykleis, nun aber pythones genannt – in die Körper der Propheten hineingehe und (aus ihnen) spreche, indem er ihre Münder und ihre Stimmen als Werkzeuge gebraucht (de def. or. 9).

Der pagane Kritiker steht mit seiner ablehnenden Haltung in einer Linie mit alttestamentlichen Aussagen über Lügenpropheten und Totenbeschwörer, die dort entschieden von echten Propheten abgegrenzt werden. Das eindrücklichste Beispiel für solche zu verurteilenden Praktiken ist das Aufsuchen der Totenbeschwörerin von En-Dor durch Saul: In der griechischen Fassung der Septuaginta wird die Totenbeschwörerin als »Bauchrednerin« (ἐγγαστρίμυθος engastrimythos) bezeichnet (1 Sam 28,7) und das »Befragen« des Totengeistes (1 Sam 28,8) mit demselben Wort wie das »Wahrsagen« der Sklavin in Philippi ausgedrückt (μαντεύεσθαι manteuesthai). Was aber ist von der Aussage der Sklavin bzw. des aus ihr sprechenden Geistes Python über Paulus und Silas zu halten? Die Missionare werden wiederholt lauthals als Sklaven des »höchsten Gottes« (θεός ὑψίστος theos hypsistos) bezeichnet, die einen Weg der Rettung verkünden (V. 17). Für die dem Christentum zugewandten Leser(innen) der Apostelgeschichte liegt es auf der Hand, wer der höchste Gott ist und auf welchem Weg Rettung zu erlangen ist, so dass sie der Aussage der Sklavin mit Blick auf den einen Gott zustimmen könnten. Weitet man jedoch den Blick auf weitere antike Zeugnisse aus, wird die Schwierigkeit der hier gebrauchten Gottesbezeichnung deutlich: »Der Höchste« als Bezeichnung Gottes wird im griechischen Alten Testament sehr oft verwendet, seltener die Kombination »höchster Gott«. In Anlehnung daran gebraucht auch Lukas mehrfach die Bezeichnung »Höchster« (Lk 1,32.35.76; 6,35; Apg 7,48), aber die Bezeichnung »höchster Gott« nur dann, wenn Dämonen sprechen (Lk 8,28 par. Mk 5,7) oder eben der Geist Python (Apg 16,17). Obgleich der »höchste Gott« sich in zahlreichen Inschriften jüdischer Herkunft oder in Kreisen, die mit dem Judentum sympathisieren, besonderer Beliebtheit erfreut, ist es keinesfalls eine exklusiv der alttestamentlich-jüdischen Tradition vorbehaltene Gottesprädikation (vgl. Trebilco 1989, 51-58). Der Superlativ »höchster« kann dabei einerseits einen Bezug auf das Wohnen »in der Höhe« haben, aber andererseits auch ein Hinweis darauf sein, dass im Hintergrund keine monotheistische Gottesvorstellung steht, sondern eine Pluralität von Gottheiten, unter denen eine in besonderer Weise heraussticht. So wird beispielsweise Zeus häufig als »höchster Zeus« betitelt – und das nicht zuletzt in Makedonien, also im Umfeld von Philippi (vgl. Pilhofer 1995, 182-188). Auch andere pagane Gottheiten werden als »höchster Gott« verehrt und angerufen. Folglich ist das in Philippi hinausgeschriene Zeugnis über Paulus und Silas nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint, zumal es durch einen Geist namens Python aus dem Mund einer heidnischen Sklavin kommt und in einer von religiöser Vielfalt geprägten Stadt gesprochen wird. In dieser Mehrdeu242

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tigkeit der Aussage könnte der Grund dafür liegen, dass Paulus sich nach tagelangem Zögern zum Austreiben des Geistes Python entschließt: Der Apostel verhindert so eine Verwechslung des Gottes, in dessen Auftrag er als Verkündiger unterwegs ist, mit anderen Göttern, die den Beinamen »Höchster« tragen, und eine eventuelle Missdeutung der Botschaft, die er verkündet (vgl. Trebilco 1989, 58-65; Klauck 1996, 81-84). Die Austreibung des Geistes durch Paulus erfolgt »im Namen Jesu Christi« (V. 18: ἐν ὀνόματι Ἰησοῦ Χριστοῦ en onomati Iēsou Christou). Der Missionar steht damit in der Linie der Jünger, die von Jesus ausdrücklich damit beauftragt wurden, in seinem Namen Dämonen auszutreiben (vgl. Lk 9,1), und gehört so innerhalb der lukanischen Darstellung gemeinsam mit Philippus zu dem über die Apostel hinaus erweiterten Kreis, der diesen Auftrag auch nach Ostern weiterführt (vgl. Apg 5,16; 8,7; 16,16-18; 19,12). Die Berufung auf Jesus Christus im Ausfahrbefehl macht deutlich, dass Paulus bei diesem Exorzismus ebenso wie Petrus bei seinen Heilungen (vgl. Apg 3,6; 9,34) nicht der eigentliche Wundertäter ist, sondern eine von Jesus Christus verliehene Gabe weisungsgemäß einsetzt (zur illegitimen Verwendung dieser Formel vgl. Apg 19,13-16). In diesem Sinne bekommt die Aussage des Geistes, dass Paulus und Silas »Sklaven des höchsten Gottes« seien (V. 17), einen tieferen Sinn – wenn denn mit dem »höchsten Gott« der Gott des Alten und des Neuen Testaments gemeint ist: Die Austreibung des Dämonen ist Teil des Sklavendienstes, den die beiden Missionare für ihren Herrn erfüllen. Wenn mit dem »höchsten Gott« ein anderer als der biblische Gott gemeint ist, trägt der dezidierte Verweis auf Jesus Christus dazu bei, die bestehende Uneindeutigkeit aufzuheben und Paulus und Silas auf dem antiken Markt der religiösen Möglichkeiten klar zu positionieren.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Auf den ersten Blick bietet sich eine feministisch-sozialgeschichtliche Deutung dieser Wundererzählung an, welche das Geschlecht der Sklavin und ihren unfreien Status in den Mittelpunkt stellt: Es ist eine Frau, die vom Geist Python besessen ist und ohne eigenen Gewinnanteil für den Verdienst gleich mehrerer Herren sorgen muss. Neben Sapphira (Apg 5,8) und Lydia (Apg 16,15) gehört die Sklavin zu den wenigen sprechenden Frauen der Apostelgeschichte. Die Geistaustreibung ist das einzige als Erzählung ausgestaltete Wunder des Paulus an einer Frau (vgl. für Petrus die Auferweckung der Tabita in Apg 9,36-42). Auf den zweiten Blick wird jedoch die Schwierigkeit dieser feministisch und sozialgeschichtlich orientierten Auslegung deutlich: Es ist nicht die Frau selbst, sondern der Geist Python, der aus der Frau spricht. Die Sklavin hat Paulus nicht um diese Geistaustreibung gebeten, weder war sie durch den Geist in einer Notlage noch wurde sie von körperlichen Schmerzen geplagt. Im Gegenteil: Gerade durch ihre vom Geist vermittelte Wahrsagekunst hatte sie für ihre Herren einen besonderen Wert und erfuhr deshalb vermutlich eine bessere Behandlung als andere Sklavinnen und Sklaven. Sie wird durch die Austreibung des Geistes 243

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nicht aus der Sklaverei befreit, sondern wegen des Verlusts ihrer finanziell lukrativen Besonderheit droht ihr in der Folgezeit eine deutliche Verschlechterung innerhalb ihrer ohnehin schon unfreien Situation, indem sie etwa verkauft oder für harte körperliche Arbeit eingesetzt werden könnte. Eine tatsächliche äußere Befreiung der Sklavin könnte lediglich dann vorliegen, wenn ihr Freikauf durch die christliche Gemeinde von Philippi in Betracht gezogen wird, für die es am Text allerdings keinen Anhalt gibt (Richter Reimer 1992a, 197-201). Vor diesem Hintergrund erstaunt es auch nicht, dass die Geistaustreibung, die im Namen Jesu Christi geschieht, bei der Sklavin keinen Glauben an diesen weckt. Deshalb kann weder von einer äußeren noch von einer inneren Befreiung (so jedoch Eckey 2011, 459) gesprochen werden. Eine Deutung dieser Wundererzählung als Befreiungsgeschichte für Frauen und für Sklavinnen und Sklaven ist somit äußerst fragwürdig. Da das Augenmerk des Lukas nur bedingt auf der Person liegt, an der das Wunder geschieht, bietet sich eine theologische Deutung dieser Wundererzählung im Blick auf den Wundertäter an (Schreiber 1996, 95-99.146-158; Avemarie 2003, 570-573; Avemarie 2009, 551-556): Mit der Geistaustreibung setzt Paulus das fort, was Jesus getan hat (vgl. Lk 8,26-39; 9,37-43; 11,14f.; 13,10-17), und weiß sich dabei, wie der Ausfahrbefehl (V. 18) belegt, ganz an den gebunden, in dessen Vollmacht er handelt. Obwohl Lukas Paulus den Aposteltitel nicht zugesteht (Ausnahme: Apg 14,4.14), steht dieser durch sein Tun gleichberechtigt neben den Jüngern, die zu Lebzeiten Jesu mit diesem unterwegs waren und von ihm direkt zur Austreibung von Dämonen beauftragt worden sind (vgl. Lk 9,1). Die direkte Konfrontation der christlichen Missionare mit mantischen Praktiken und ihr letztlich vernichtendes Vorgehen gegen diese legen zusätzlich eine missionstheologische Deutung der Wundererzählung nahe, die einen sozialethischen Impetus aufweist: Nach dem Bericht des Lukas in der Apostelgeschichte stellt sich Paulus im Rahmen seines missionarischen Wirkens der Auseinandersetzung mit vielfältigen Formen heidnischer Religion – und zwar besonders dann, wenn dabei geschäftliche Interessen im Spiel sind: In Ephesus gerät er in Konflikt mit dem dort alteingesessenen und von einer ganzen Stadt gestützten Artemis-Kult, weil die Devotionalienhändler durch die christliche Verkündigung ihren Absatz gefährdet sehen (Apg 19,23-40), in Philippi treibt er einer Wahrsagerin am Wegesrand den Geist Python aus und nimmt so den gemeinsamen Herren einer einzelnen Sklavin ihre Finanzquelle. Sein langes Zögern vor dieser Austreibung (V. 18) verrät, dass es nicht das ureigenste Anliegen des Paulus ist, gegen andere Religionen und gegen die Verquickung von Religion und ökonomischen Interessen vorzugehen, aber hier wie dort schreitet er letztlich gegen »eine durch die öffentliche Ordnung geschützte Allianz von paganer Religiosität und Geschäftstüchtigkeit« (Avemarie 2003, 567) ein. Sowohl die etablierte als auch die marginalisierte Form der heidnischen Religion muss die Überlegenheit der neuen christlichen Botschaft und ihrer Vertreter anerkennen und der Vermarktung von Religion, die keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der einzelnen Menschen nimmt, wird durch das Wunderwirken des Paulus entschlossen ein Ende gesetzt: »Wo das Religiöse in zynischer Weise vermarktet wird, da gilt auch 244

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Geschäftsschädigende Intervention Apg 16,16-22

der einzelne Mensch nur als Objekt zur Befriedigung des Gewinnstrebens. Die hier dargestellte Mentalität soll im Sinne des Erzählers als repräsentativ für die religiöse Situation der heidnischen Gesellschaft gelten« (Roloff 2010, 246).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Bei den Kirchenvätern hat Apg 16,16-22 vereinzelt Nachhall gefunden. Johannes Chrysostomus richtet den Fokus auf den Sachverhalt, dass Paulus den Dämon austreibt, obwohl dieser in den Missionaren Diener des höchsten Gottes erkennt, die Rettung verkünden. Er sieht darin einen Beleg dafür, dass Paulus sich vom Teufel nicht durch Schmeicheleien betören lässt (hom. in Ephes. 10). Bei dem Dämon habe es sich um einen Heuchler gehandelt, der vom Exorzismus verschont zu werden glaubte, wenn er dasselbe wie Paulus predigte (hom. in Ac. 35). Theodoret berichtet in seiner Kirchengeschichte, wie der Arianer Lucius die Aszeten aus der ägyptischen Wüste auf eine gottlose Insel vertreibt. Dort werden sie bei ihrer Ankunft ähnlich wie die Missionare in Philippi von einem Dämon, der nach Vorbild des pythonischen Geistes in eine Priestertochter eingefahren ist, als Diener Christi begrüßt (Thdt. h.e. 4,21). Besucht man heute die Überreste des antiken Philippi, fällt auf, dass dort gerade keine Erinnerung an die Austreibung des Geistes Python gepflegt wird. Unübersehbar ist der Kontrast zu den Nachwirkungen des vorangehenden und nachfolgenden Abschnittes des lukanischen Berichts über Philippi, in denen die Begegnung von Paulus und Silas mit Lydia (Apg 16,13-15.40) und der kurze Gefängnisaufenthalt der Missionare (Apg 16,23-39) geschildert werden: Die vermeintliche Taufstelle Lydias erfreut sich bis heute großer Beliebtheit: Für zahlreiche Taufen wurden dort eigens ein kreuzförmiger Zugang zum Wasser und aufsteigende Sitzbänke sowie in unmittelbarer Nähe eine Taufkapelle errichtet; die moderne Nachfolgesiedlung trägt sogar den Namen der ersten Christin der Stadt. Auch das angebliche Gefängnis des Paulus kann in den Ausgrabungen besichtigt werden. Nichts aber gibt es, was vor Ort auf die geistbesessene Sklavin und das Einschreiten des Paulus hinweist. Eine Erklärung für die nicht vorhandene lokale Wirkungsgeschichte der Geistaustreibung liegt sicherlich darin, dass durch diese Wundertat des Paulus niemand zum Glauben kam und mit diesen Ereignissen – im Gegensatz zur Taufe der Lydia, dem Befreiungswunder und der folgenden Taufe des Gefängniswärters – kein weiterer Grundstein für die Gemeinde der Christinnen und Christen in Philippi gelegt wurde. Eva Ebel

Literatur zum Weiterlesen F. Avemarie, Warum treibt Paulus einen Dämon aus, der die Wahrheit sagt? Geschichte und Bedeutung des Exorzismus zu Philippi (Act 16,16-18), in: A. Lange/H. Lichtenberger/K. F. Römheld (Hg.), Die Dämonen. Die Dämonologie der israelitisch-jüdischen und

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frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt/Demons. The Demonology of Israelite-Jewish and Early Christian Literature in Context of their Environment, Tübingen 2003, 550-576. M. Frenschkowski, Religion auf dem Markt. Schlangenbeschwörer, Traumdeuter, inspirierte Bauchredner als Träger ›abgesunkener‹ Religion in paganer und christlicher Antike. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte religiöser Berufe, in: M. Hutter/W. Klein/U. Vollmer (Hg.), Hairesis, FS K. Hoheisel, JAC.E 34, Münster 2002, 140-158. M. Giebel, Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte. Griechisch/Deutsch, Reclam UB 18122, Stuttgart 2001. B. Heininger, Im Dunstkreis der Magie. Paulus als Wundertäter nach der Apostelgeschichte, in: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tübingen 2005, 271-291. I. Richter Reimer, Frauen in der Apostelgeschichte des Lukas. Eine feministisch-theologische Exegese, Gütersloh 1992a. V. Rosenberger, Griechische Orakel. Eine Kulturgeschichte, Darmstadt 2011. C. Schnurr-Redford, Weissagung und Macht. Die Pythia, in: T. Späth/B. Wagner-Hasel (Hg.), Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis, Darmstadt 2000, 132-146. S. A. Strube, Eine Frau als Wirtschaftsfaktor – die wahrsagende Sklavin in Philippi. Bibelarbeit zu Apg 16,16-18, in: S. Bieberstein (Hg.), Frauen und Geld, Stuttgart 2008, 60-67.

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Die Tür zur Rettung steht offen (Paulus und Silas im Gefängnis) Apg 16,19-40 (16,19) Als nun ihre Herren sahen, dass (auch) ihre Hoffnung auf Verdienst ausgefahren war, ergriffen sie Paulus und Silas und schleppten sie auf den Marktplatz vor die Behörden (20) und führten sie den obersten Beamten vor und sagten: »Diese Menschen wiegeln unsere Stadt auf. Sie sind Juden (21) und verkünden Sitten, die wir als Römer weder gutheißen noch ausüben dürfen.« (22) Da erhob sich die Volksmenge ebenfalls gegen sie und die obersten Beamten ließen ihnen die Kleider herunterreißen und befahlen, sie auszupeitschen. (23) Nachdem sie ihnen viele Schläge hatten versetzen lassen, warfen sie sie ins Gefängnis und wiesen den Gefängnisaufseher an, sie sicher zu verwahren. (24) Dieser warf sie auf diese Anordnung hin in das innere Gefängnis und schloss ihre Füße in den Holzblock. (25) Gegen Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und priesen Gott in Lobliedern, während die anderen Gefangenen ihnen zuhörten. (26) Plötzlich aber ereignete sich ein starkes Erdbeben, so dass die Grundmauern des Gefängnisses erschüttert wurden. Und sogleich öffneten sich alle Türen und die Fesseln aller lösten sich. (27) Als aber der Gefängnisaufseher aus dem Schlaf aufwachte und die Gefängnistüren offen stehen sah, zog er sein Schwert und wollte sich töten, weil er annahm, die Gefangenen seien entflohen. (28) Paulus aber rief mit lauter Stimme und sprach: »Tu dir nichts an, denn wir sind ja alle noch hier!« (29) Da forderte er Fackeln, stürzte hinein und fiel zitternd vor Paulus und Silas nieder. (30) Dann führte er sie hinaus und sprach: »Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?« (31) Sie aber sprachen: »Glaube an den Herrn Jesus, dann wirst du gerettet werden, du und dein Haus!« (32) Und sie sagten ihm das Wort des Herrn samt allen in seinem Haus. (33) Und er nahm sie noch in jener Nachtstunde zu sich, wusch ihre Wunden und ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen. (34) Dann führte er sie hinauf in das Haus, setzte ihnen ein Mahl vor und jubelte mit seinem ganzen Haus darüber, dass er zum Glauben an Gott gekommen war. (35) Nach Tagesanbruch aber sandten die obersten Beamten die Amtsdiener und ließen sagen: »Lass jene Leute frei!« (36) Der Gefängnisaufseher aber überbrachte Paulus diese Worte: »Die obersten Beamten haben gesandt, dass ihr freigelassen werden sollt. So geht nun hinaus und zieht in Frieden!« (37) Paulus aber sprach zu ihnen: »Sie haben uns ohne Urteilsspruch öffentlich schlagen lassen, obwohl wir römische Bürger sind, und ins Gefängnis geworfen, und jetzt wollen sie uns heimlich 247

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abschieben? So nicht, vielmehr sollen sie selbst kommen und uns hinausführen!« (38) Die Amtsdiener meldeten diese Worte den obersten Beamten. Sie erschraken aber, als sie hörten, dass sie Römer seien, (39) und sie kamen und redeten ihnen zu, führten sie hinaus und baten sie, aus der Stadt fortzugehen. (40) Als sie aber das Gefängnis verlassen hatten, gingen sie zu Lydia hinein; und als sie die Brüder gesehen und sie ermutigt hatten, gingen sie weg.

Sprachlich-narratologische Analyse Die in 16,19-40 berichteten Geschehnisse ereignen sich im Erzählverlauf der Apostelgeschichte während des Gründungsaufenthalts des Paulus in Philippi (16,11-40). Die Erstmission in Europa wird sehr breit und als erzählerische Einheit geschildert, insofern die Einzelszenen miteinander verklammert sind. So wird beispielsweise die Erstbekehrte Lydia (vgl. V. 13-15) abschließend nochmals in V. 40 erwähnt, und die Anklage und Gefangennahme der Missionare in V. 19-22 werden als Folge des Exorzismus in V. 16-18 dargestellt. Erst in 17,1 beginnt mit der Reise nach Thessaloniki ein neuer Erzählstrang. Die gleitende Kompositionstechnik erschwert eine eindeutige Abgrenzung und Gliederung der Befreiungswundererzählung. Die V. 19-24 können jedoch als deren Einleitung bzw. situative Einbettung angesehen werden, wobei zunächst in V. 19-21 der Anlass der Ergreifung der Missionare geschildert wird, nämlich deren Anklage vor den römischen Behörden durch die Halter (κύριοι kyrioi – Herren) der Sklavin. Diese Szene ereignet sich in der Öffentlichkeit, da Paulus und Silas auf den Marktplatz (V. 19: εἰς τὴν ἀγοράν eis tēn agoran) geschleppt werden. Die Beamten werden – stets im Plural – in V. 19 als ἄρχοντες (archontes – Behörde), im Folgenden (V. 20.22.35f.38) dann durchweg als στρατηγοί (stratēgoi – oberste Beamte) bezeichnet. Damit sind nicht verschiedene Personengruppen gemeint, sondern vielmehr im Ausdruck variiert, wobei der zweite Titel spezifischer ist als der erste. Die Anklage in V. 20b-21 steht in wörtlicher Rede. In ihr werden die Missionare der Unruhestiftung als Juden sowie der Verbreitung von Sitten beschuldigt, die für Römer unzulässig sind. Hier schwingen sowohl ein antikes antijudaistisches Stereotyp als auch Ironie mit, insofern Paulus sich später in der Erzählung sogar auf sein Recht als römischer Bürger beruft (V. 37). An dieser Stelle wird er jedoch völlig passiv dargestellt und unternimmt keine Anstalten, sich zu verteidigen. Anstelle der zu erwartenden näheren Untersuchung durch die Behörden schildern die anschließenden V. 22-24 den Unmut der Volksmenge (V. 22a) sowie die Anordnung der Auspeitschung (V. 22b-23a) und Inhaftierung (V. 23b-24) der Angeklagten. Die obersten Beamten werden hier als Befehlshaber charakterisiert, wodurch u.a. das Befreiungswunder vorbereitet wird, insofern dem Gefängnisaufseher in V. 23 ausdrücklich die sichere Verwahrung der Gefangenen aufgetragen und die Ausführung dieses Befehls in V. 24 geschildert wird: Er sperrt Paulus und Silas in den inneren Bereich des Gefängnisses und fixiert 248

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zusätzlich ihre Füße, um jede Möglichkeit einer Flucht auszuschließen. Dies steigert nicht nur die Dramatik der folgenden Ereignisse, sondern lenkt auch den Fokus auf den Gefängniswärter, der in der Wundererzählung im engeren Sinne (V. 25-34) zusammen mit Paulus und Silas zu den Hauptfiguren gehört, wohingegen die obersten Beamten erst wieder in V. 35 in Erscheinung treten. Handlungsort ist das Gefängnis bzw. das Haus des Aufsehers, was einen Kontrast zur Öffentlichkeit der vorangehenden Szene markiert. Der neue Abschnitt wird durch die Zeitangabe »gegen Mitternacht« (V. 25) eingeleitet und knüpft damit unmittelbar an die in V. 24 beschriebene Situation an. Diese wird zusätzlich dadurch charakterisiert, dass die Missionare zu Gott beten, während die Mitgefangenen ihnen dabei zuhören. Diese Szene erfüllt unterschiedliche Funktionen: Erstens wird durch das Gotteslob indirekt die Anklage aus V. 20f. widerlegt, die Missionare seien Unruhestifter. Zweitens bereitet die Ausweitung des Personeninventars die Sorge des Aufsehers vor, alle Inhaftierten seien entflohen (vgl. V. 27). Schließlich stellt das Wachsein der Gefangenen einen Gegensatz zum Schlaf des Gefängnisaufsehers dar. V. 26 enthält in knapper und stereotyper Form das eigentliche Türöffnungswunder: Durch ein plötzliches Erdbeben werden die Gefängnismauern erschüttert, die Türen springen auf, und die Fesseln aller lösen sich. Die wundersamen Ereignisse münden jedoch nicht – wie zu erwarten wäre – in die Befreiung der Gefangenen, sondern dienen ausschließlich als Anlass für die in V. 27-34 ausführlich und aus dessen Perspektive dargestellte Bekehrung des Gefängnisaufsehers, auf der deshalb das Hauptgewicht der ›Wunder‹-Erzählung liegt. »Ziel des Rettungswunders ist nicht die Rettung (= Befreiung) der Apostel, sondern die Rettung (= Bekehrung) des Kerkermeisters« (Kratz 1979, 486). Dementsprechend weisen V. 25-34 auch etliche Parallelen zur Bekehrung der Lydia in V. 12-15 auf (vgl. Hintermaier 2003, 257-261). Aufgrund der fälschlichen Annahme, die Gefangenen seien geflohen, will der Gefängnisaufseher sich selbst töten (V. 27), was Paulus durch sein entschlossenes Eingreifen (V. 28a) verhindern kann. So »wird der eben ›gerettete‹ Paulus seinerseits zum ›Retter‹« (Kratz 1979, 485). Die Vergewisserung, alle seien noch da (V. 28b), ist zugleich die erste wörtliche Rede des Apostels in diesem Erzählstrang (zuletzt V. 18). Der Gefängnisaufseher eilt daraufhin zu Paulus und Silas in die Zelle und wirft sich ihnen ehrfürchtig zu Füßen (V. 29). Die Erzählung ist nicht am Schicksal der anderen Gefangenen interessiert, da deren Funktion die Steigerung des Wunders war. Die Anrede als »Herren« (V. 30: κύριοι kyrioi; vgl. V. 19) und die vermeintlich unvermittelte Frage des Gefängnisaufsehers, wie er gerettet werden könne (V. 30: τί με δεῖ ποιεῖν ἵνα σωθῶ ti me dei poiein hina sōthō; vgl. δεῖ ποιεῖν dei poiein in 9,6 im Kontext der Bekehrung des Paulus), dient den Missionaren als Anlass zur Verkündigung. Diese wird zunächst in direkter Rede mit der imperativischen Aufforderung, an den »Herrn Jesus« zu glauben (V. 31: πίστευσον ἐπὶ τὸν κύριον Ἰησοῦν pisteuson epi ton kyrion Iēsoun), dann summarisch als »Wort des Herrn« (V. 32: ἐλάλησαν αὐτῷ τὸν λόγον τοῦ κυρίου elalēsan autō ton logon tou kyriou) dargestellt und bezieht jeweils den gesamten Hausstand des Gefängnisaufsehers mit ein. Die zwei249

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malige Verwendung des Kyriosbegriffs im Zentrum der Erzählung stellt klar, dass Christus der eigentliche Herr ist, nicht die Sklavenhalter (V. 19) oder Missionare (V. 30). Nach der Reinigung der Wunden der Gefangenen empfangen der Aufseher und seine Angehörigen die Taufe (V. 33). Obwohl bereits die vorangegangenen Verse die Anwesenheit des Hausstandes des Gefängnisaufsehers vorausgesetzt haben, wird erst in V. 34 explizit von einem Ortswechsel in dessen Privathaus berichtet, wo die Missionare bewirtet werden und die Bekehrung gefeiert wird. Die V. 35-40 berichten von der Freilassung und Ausweisung der Missionare. Sie sind zwar durch die Zeitangabe »nach Tagesanbruch« (V. 35) lose mit den nächtlichen Geschehnissen verbunden, setzen diese jedoch inhaltlich nicht voraus, sondern nehmen den in V. 25 verlassenen Handlungsstrang wieder auf. Ohne nähere Begründung befehlen (ἀπόλυσον apolyson) nämlich die obersten Beamten den Gerichtsdienern die Freilassung der Gefangenen (V. 35), was wiederum der Gefängnisaufseher zusammen mit der Weisung abzureisen ausführt (V. 36). Anders als bei seiner Anklage und Verhaftung verhält sich Paulus nun aktiv und beschuldigt die Behörden in einer langen direkten Rede der unzulässigen Behandlung der Missionare, da diese Römer seien. Er fordert statt der heimlichen Ausweisung ein offizielles Geleit durch die obersten Beamten (V. 37). Der Gefängnisaufseher übermittelt dies den Behörden, die erschrecken, als sie erfahren, dass die Missionare römische Bürger sind (V. 38), und umgehend der Bitte des Paulus nachkommen (V. 39). V. 40 knüpft mit der Erwähnung der Lydia wieder an die Rahmenhandlung an (vgl. V. 14f.) und beschließt die Philippierzählung. Die Adressaten und Adressatinnen der Apostelgeschichte haben im Verlauf der bisherigen Erzählung schon zweimal von einer wundersamen Befreiung von Aposteln aus dem Gefängnis gehört. Dementsprechend dürften sie in dieser Szene erhoffen, dass Paulus und Silas ebenso wie zuvor die Apostelgruppe in Apg 5,1726 und Petrus in Apg 12,1-11 durch das rettende Eingreifen eines Engels aus ihrer zu Unrecht erlittenen Haft befreit werden. Diese Erwartung wird in doppelter Weise durchbrochen, denn Gott greift nicht in Gestalt eines Engels, sondern in Form eines Erdbebens ein. Es handelt sich dabei nicht um eine Gebetserhörung, da die Gefangenen nicht um ihre Rettung gebetet haben (vgl. Eckey 2011, 468). Weitaus überraschender dürfte für die Adressaten und Adressatinnen allerdings sein, dass die Gefangenen die offenen Türen nicht zur rettenden Flucht nutzen, sondern im Gefängnis verharren. Dadurch wird die Aufmerksamkeit auf den Gefängnisaufseher gelenkt: Das eigentliche (Türöffnungs-)Wunder tritt in den Hintergrund, und die Möglichkeit der Rettung wird als Zum-Glauben-Kommen des Gefängniswärters aktualisiert. Entgegen dem schlechten Ruf seines Berufsstandes (s.u.) wird die anonyme männliche Gestalt somit für die Adressaten und Adressatinnen zu einer positiven Identifikationsfigur und bietet zusammen mit der gottesfürchtigen Lydia zu Beginn der Philippierzählung (vgl. 16,13-15.40) ein (geschlechter-)komplementäres Beispiel der Bekehrung eines ganzen Haushalts zum Christusglauben (vgl. Pervo 2009, 401). Die durch die Bekehrungsszene zurückgestellte Frage nach dem Schicksal der Apostel wird am Ende der Erzählung nochmals aufgegriffen, wenn die obersten Be250

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amten unvermittelt deren Freilassung anordnen. Die mangelnde Begründung für diesen Schritt mag für die Adressaten und Adressatinnen unbefriedigend sein, entspricht aber vermutlich ihren persönlichen Erfahrungen mit der Willkür staatlicher und lokaler Behörden. Zugleich wird durch die Szene eine wichtige Voraussetzung für den späteren Prozess des Paulus geschaffen, in dem das römische Bürgerrecht eine zentrale Bedeutung spielt (vgl. 22,25-29; 23,27; 25,10-12; dazu Omerzu 2002).

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Die Erzählung spiegelt das Lokalkolorit der römischen Kolonie Philippi wider, in der römische Beamte für Recht und Ordnung verantwortlich waren (vgl. zum Folgenden Omerzu 2002, 122f.). Die Bezeichnung der Behörden als ἄρχοντες (archontes) in V. 19 ist unspezifisch, und der Ausdruck begegnet in den Quellen für Ämter aller Art. Der Terminus στρατηγοί (stratēgoi) (V. 20.22.35f.38) ist sowohl für zivile als auch militärische Befehlshaber bezeugt, dürfte in der Philippierzählung jedoch nicht – wie häufig in Kommentaren zu lesen – für lateinisch praetor stehen, da dieses Amt für Philippi nicht belegt ist, während auf etlichen Inschriften der Titel duumviri iure dicundo begegnet. »Dieses Zweimännerkollegium stand seit der späten Republik an der Spitze von Kolonien und Munizipien« (Omerzu 2002, 143). Zu seinen Aufgaben gehörten neben der städtischen Verwaltung u.a. auch die Zivil- und Kriminalgerichtsbarkeit. Es ist daher anzunehmen, dass Apg 16 mit στρατηγοί (strategoi) diese obersten städtischen Beamten bezeichnet, was zumindest für Korinth epigraphisch und literarisch nachgewiesen ist (vgl. Pilhofer 1995, 196f.). Sowohl der in V. 23 eingeführte Gefängnisaufseher (δεσμοφύλαξ desmophylax; lat. carcerarius; vgl. auch V. 27.29.36) als auch die in V. 35 erwähnten Gerichtsdiener (ῥαβδοῦχοι rhabdouchoi; lat. lictores; wörtlich: »Rutenträger«) werden mit den üblichen griechischen Entsprechungen der lateinischen Amtsbezeichnungen benannt, so dass ein anschauliches Bild römischer Hierarchie von den leitenden Behörden bis hin zu deren Vollzugsorganen entsteht (vgl. Pilhofer 1995, 195). Die antiken Quellen stellen Gefängniswärtern ein äußerst negatives Zeugnis aus; sie galten als brutal und korrupt und die Gefangenen waren ihrer Willkür ausgeliefert. Nach Johannes Chrysostomos könne es nichts »Schlechteres und Grausameres als einen Gefängniswächter geben« (hom. in Ac. 36,2 [PG 60,259]; zit. nach Krause 1996, 306). Im Falle der Flucht von Gefangenen wurde oft der Verdacht der Begünstigung gegen die Wächter gehegt. Wurden sie der Beihilfe zur Flucht überführt, konnten sie im schlimmsten Fall zum Tod verurteilt, zumindest aber degradiert werden (vgl. Krause 1996, 313-315). Dies erklärt den Wunsch des philippischen Gefängnisaufsehers, sich selbst zu töten. Der Schauplatz der Verhaftung ist die Agora, womit im Falle der römischen Kolonie Philippi das Forum gemeint sein wird, das u.a. als Gerichtsstätte diente. Die Anklage der Apostel in V. 20f. zielt wohl auf das Delikt der Unruhestiftung (tumultus oder turba; dazu Omerzu 2002, 125f.) ab, wofür auf der Erzählebene auch die Polizeimaßnahmen (coercitio) der Geißelung und kurzfristigen Inhaftierung sprechen (a.a.O., 145-152). 251

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Das römische Recht kannte nämlich de jure keine dauerhafte Gefängnisstrafe, sondern lediglich eine vorübergehende Untersuchungs-, Exekutions oder Koerzitionshaft. Die uns zur Verfügung stehenden literarischen Zeugnisse über römische Gefängnisse lassen den lukanischen Bericht als plausibel erscheinen (vgl. zum Folgenden Krause 1996, 271-304; Wansink 1996, 27-95). So werden u.a. die Dunkelheit, Enge und Überfüllung der Kerker sowie deren Aufteilung in innere und äußere Bereiche angesprochen. Ketten und Fesseln waren nicht zwingend, aber sehr gebräuchlich, und sie »trugen in besonderem Maße zur Verschlechterung der Lage der Gefangenen bei« (Krause 1996, 286). Die Historizität des paulinischen Gefängnisaufenthalts in Philippi ist umstritten. Paulus selbst bezeugt, dass er mehrfach inhaftiert (vgl. 2  Kor 6,5; 11,23) und ausgepeitscht wurde (2 Kor 11,25: ῥαβδίζω rhabdizō; vgl. Apg 16,35: ῥαβδοῦχοι rhabdouchoi als Bezeichnung der Gerichtsdiener), macht aber keine Angaben über den Ort dieser Geschehnisse. 1  Thess 2,2 erwähnt er, dass ›sie‹ in Philippi gelitten hatten und misshandelt wurden. Der Plural dürfte Silvanus einschließen, der in 1 Thess 1,1 u.a. als Mitabsender erwähnt wird und der dann in der Apostelgeschichte unter dem Kurznamen Silas auftritt. Das Befreiungswunder und die Bekehrung des Gefängniswärters werden ausschließlich von Lukas überliefert, der wohl zumindest für Letzteres ein Traditionsstück verwendet haben wird.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Die Gefängnisbefreiung in Philippi ist das dritte Befreiungs- bzw. Türöffnungswunder innerhalb der Apostelgeschichte (vgl. 5,17-26; 12,1-11). Zwar sind die absolut notwendigen gattungstypischen Züge (vgl. zum Motivrepertoire Kratz 1979, 440445) vorhanden, doch »eigenartig sterotyp (sic!) und schablonenhaft, geradezu katalogartig aneinandergereiht« (a.a.O., 483) und auf wenige Verse konzentriert. Im Einzelnen handelt es sich dabei um (vgl. a.a.O., 444f. und 483): − − − − − − −

Gefangennahme und sichere Verwahrung der Apostel (V. 23f.) Angabe der Nachtzeit (V. 25) Gebete und Hymnen der Hilfsbedürftigen (V. 25) Erdbeben, das die Gefängnismauern erschüttert (V. 26a) wunderbare Türöffnung und Fessellösung (V. 26b) Furchtreaktion und Tötungsabsicht des Gefängnisaufsehers (V. 27) Bekehrung (V. 28-34)

Dass die Gefangenen nicht die Flucht ergreifen, sondern vielmehr das formgeschichtlich untergeordnete Bekehrungsmotiv unverhältnismäßig breit ausgestaltet ist, zeigt, dass auf der Bekehrung und nicht auf der Befreiung der Gefangenen das Hauptgewicht der ›Wunder‹-Erzählung liegt. Diese kann daher auch als »Exposition der Bekehrungsgeschichte« (a.a.O., 483f.) charakterisiert werden. 252

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Trotz der Konzentration der Befreiungswundermotive auf nur wenige Verse finden sich sowohl in griechisch-hellenistischer als auch in alttestamentlich-jüdischer Literatur etliche Analogien zur lukanischen Türöffnungserzählung. Bereits Origenes (Cels. 2,34) erwähnte die Ähnlichkeit zwischen den Bakchen des Euripides und Apg 12 und 16, doch insbesondere seit der umfassenden religionsgeschichtlichen Studie Otto Weinreichs ist sogar wiederholt eine literarische Abhängigkeit des Lukas vom euripideischen Dionysosmythos angenommen worden (vgl. Weinreich 1929, 326-341; zustimmend Seaford 1997 und Becker 2006, 185-190; unentschieden Pervo 2009, 410). Dabei wird besonders auf die wundersame Befreiung der Bakchen aus dem Gefängnis (Eurip. Ba. [443-]447f.: »automatische« Lösung der Fesseln und Öffnung der Türriegel »ohne Menschenhand«) sowie die Selbstbefreiung des Dionysos aus dem Kerker des Pentheus verwiesen (Eurip. Ba. 576-619: z.B. Dunkelheit, Gesang der Bakchen, Erdbeben; vgl. Seaford 1997, 141f.). Motivische Parallelen finden sich aber u.a. auch in Lukians Toxaris (27-34, bes. 32f.; vgl. Weinreich 1929, 324f.; Pervo 1987, 23f.; ders. 2009, 411 Anm. 94; Weaver 2004, 223f.) und Philostrats Vita Apollonii (7,34-38; vgl. für diese und weitere Parallelen bes. Kratz 1979, 351439), wo die Gefangenen ebenfalls nicht die ihnen grundsätzlich mögliche Flucht aus dem Kerker ergreifen (vgl. aber vit. Ap. 8,30 die Selbstbefreiung des Apollonius vor seiner Entrückung), sondern statt dessen auf ihrer offiziellen Rehabilitierung durch die römischen Behörden insistieren. Unter den jüdischen Schriften enthalten u.a. der Mose-Roman des Artapanos (vgl. Frgm. 3,23f. = Eus. praep. 9,27,23f. Übers. Walter 1976, 133f.), das 3. Makkabäerbuch (dazu Weaver 2004, 78-91) und die Abraham-Legende des Pseudo-Philo (vgl. Lib. Ant. 6; dazu Kratz 1979, 430-433; Übers. Dietzfelbinger 1979, 114-117) gattungstypische Züge, wobei die Stellen teilweise, aber nicht durchgehend von Euripides abhängig sein dürften. Darüber hinaus weisen auch Einzelmotive des lukanischen Berichts reiche Parallelen auf (vgl. zum Folgenden Conzelmann 1972, 44.78.101; Weiser 1985, 437; Pervo 2009, 408-412), so z.B. die sichere Verwahrung (vgl. Apg 12,6), Rettung in der Nacht (vgl. Philostr. vit. Ap. 8,30; Flav. Jos. Bell. 6,293; Apg 5,19; 9,25; 12,6f.), Lobgesang statt Klage (vgl. Dan 3,24LXX; TestJos 8,5; Plato Phaid. 60d; Epict. diss. 2,6,26; D.L. 2,42; Philostr. vit. Ap. 4,36), Erdbeben/Erschütterung als epiphaniales Begleitmotiv (vgl. Ex 19,18; Ov. met. 9,782-784; 15,671f.; Verg. Aen. 3,89f.; Stat. Theb. 7,65; Luc. philops. 22), Verbindung von Türöffnung und Fessellösung (Eurip. Ba. 447f.; Ov. met. 3,699f.), Bekehrung als Ausdruck der Admiration (Jona 1,16).

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Die drei Studien von Weinreich (1929), Kratz (1979) und Pervo (1987), die sich im vergangenen Jahrhundert eingehend den Befreiungswundern in der Apostelgeschichte gewidmet haben, sind im Wesentlichen komparativ ausgerichtet und mehr an literarischen und formgeschichtlichen Analogien zu Apg 16,19-40 interessiert als an der eigentlichen Interpretation der Wundererzählung (vgl. den forschungsge253

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schichtlichen Überblick bei Weaver 2004, 11-22). Alle drei lassen sich jedoch dem am weitesten verbreiteten, missionstheologischen Deutungsmuster der Türöffnungserzählung in Apg 16 zuordnen (vgl. u.a. Kratz 1979, 499; Pervo 2009, 410f.). Der lukanische Bericht zeugt demnach davon, dass »Gott die Mission der Kirche lenkt und sie sich deshalb allen Widerständen zum Trotz durchsetzt« (Zmijewski 1994, 615). »Die drei Befreiungswunder der Apostelgeschichte sind missionstheologisch ausgerichtete Legenden, Meilensteine auf dem Weg zum ἀκωλύτως [akōlytōs; ungehindert; H.O.] am Ende des Buches« (Kratz 1979, 499). Ihr Sitz im Leben ist die Missionspropaganda, insofern sie dazu auffordern, »in die Akklamation für die mächtige Gottheit, die ihre Anhänger nicht in der Verfolgung und Kerkerhaft lässt, sondern ihnen Rettung, Befreiung schenkt, mit einzustimmen« (a.a.O., 494). Dass der Wunsch nach Befreiung bzw. Rettung nahezu eine religionsgeschichtliche Universalie ist, erklärt laut Pervo, »why it was a constituent element in the Dionysiac myth and why other ›missionary‹ religions (and/or ›religions of salvations‹) embraced it« (Pervo 2009, 410). Der Gattung Befreiungswunder eigne u.a. eine apologetische Stoßrichtung, die sich auch in Apg 16 widerspiegele: »Following a venerable pattern about the introduction of a new cult, the author shows the defeat of one ancient God (Apollo), evokes equality with another (Dionysus), and refutes charges against the Jesus movement, whose proponents, it transpires, are no less than true Romans« (a.a.O., 415; vgl. ähnlich bereits Weinreich 1929, 202f.). Teilweise überschneidet sich dieser Interpretationsansatz mit redaktionsgeschichtlichen Deutungen, die insbesondere auf die dreimalige Erwähnung von Gefängnisbefreiungen innerhalb der Apostelgeschichte abheben. Dabei wird zum einen ein steigerndes Prinzip erkannt, insofern Apg 16 die umfangreichste und »stärkste Form des Befreiungswunders« (Weinreich 1929, 322; vgl. Weiser 1985, 428) darstellt. Zum anderen wird die Parallelisierung von Petrus und Paulus in Apg 12 und 16 hervorgehoben. Dieser Befund kann jedoch sowohl im Sinne der Gleichstellung (vgl. Kratz 1979, 497; Schmithals 1982, 152; Pesch 2003, 118) als auch der Kontrastierung der beiden Apostel gedeutet werden. Denn während Petrus durch einen Engel aus dem Gefängnis geleitet wird (vgl. 12,7), erfolgt die Rehabilitierung des Paulus durch die römischen Behörden. Dies suggeriert laut Pervo, »that more confidence may be placed in Roman justice than in the Israelite authorities« (Pervo 2009, 415). Eine andere Erklärung, warum die dritte Gefängnisbefreiung ›virtuell‹ (vgl. dazu Reimer 2003) bleibt, insofern die Inhaftierten nicht die Möglichkeit zur Flucht ergreifen, bietet Weaver. Indem das Gefängnis in Apg 16 vorübergehend zu einem Ort der Gottesverehrung und Verkündigung wird, werde die Haft des Paulus in Apg 21-28 vorbereitet, welche nicht in eine Befreiung mündet. Auf diese Weise werde die Gefangenschaft »a means – and not a hindrance – to the Gospel mission, miraculous release is no longer required« (Weaver 2004, 287). Darüber hinaus finden sich typologische und allegorische Interpretationen sowohl der gesamten Wundererzählung als auch ihrer Einzelzüge. Laut Klaus Kliesch werden in Apg 16 »Erfahrungen mit dem Gott der Befreiung verdichtet, Lebensprozesse von der Unselbständigkeit zur Selbständigkeit, von der Ausweglosigkeit zu 254

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neuer Lebensbefähigung« (Kliesch 1986, 115; zit. nach Zmijewski 1994, 615). Dass der Gefängniswärter im Schlaf von dem Wunder überrascht wird (V. 27), »erscheint wie ein Symbol für die nunmehr erfolgende Lebenswende, die ihm durch die Boten Gottes geschenkt wird« (Zmijewski 1994, 616). Dementsprechend können die Fackeln, die er verlangt, bevor er zu Paulus und Silas in die dunkle Zelle eilt (V. 29), zugleich als Ausdruck der Erkenntnis gedeutet werden: »Nach dem ›Erwachen‹ braucht er ›Licht‹, um richtig mit dem Auge und dem Herzen ›sehen‹ zu können« (Dormeyer/Galindo 2003, 255). Nach Pervo symbolisiert die buchstäbliche Bewahrung des Aufsehers vor Tod und Schande dessen spirituelle Erlösung. Die offenen Gefängnistüren verweisen auf den ungehinderten Zugang von Heiden zum Glauben (Pervo 2009, 415). Der Aufstieg des Gefängniswärters »mit den Missionaren vom Kerker […] bis hinauf in seine Wohnung (vgl. V. 34a) versinnbildet den ›Weg‹, den er bei seinem Christwerden zurücklegt: auf das glaubende Hören auf die (noch im Kerkerverlies stattfindende) Verkündigung ›des Wortes des Herrn‹ (V. 32) folgt […] die Taufe (V. 33), der sich dann […] das Freudenmahl anschließt, das Zeichen christl. Gemeinschaft (vgl. 2,46), in die er nunmehr aufgenommen ist« (Zmijewski 1994, 616).

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Auf dem Ausgrabungsgelände der antiken Stadt Philippi befinden sich an der Seite der sog. Basilika A die Überreste einer römischen Zisterne, die der Legende nach als »Gefängnis des Paulus« gilt (vgl. Elliger 1990, 70f.; Koukouli-Chrysantaki 1998, 19.48). Auch wenn sich diese Identifikation nicht wissenschaftlich bestätigen lässt, bezeugt sie doch die Bedeutung, die das Befreiungswunder für das Selbstverständnis der Christen in Philippi hatte. Literarische Spuren hat die Türöffnungstradition – in spiritualisierter Form – u.a. in den apokryphen Apostelakten hinterlassen (vgl. zum Folgenden Peterson 1959c, 189-194; Pervo 2009, 408f. Anm. 79). In ActPl 9,18-21 (P.Hamb. 3,1-4,5; Übers. Schneemelcher in Schneemelcher/Kasser 1997, 229) kommen Artemilla und Eubula zu Paulus, kurz bevor er den wilden Tieren vorgeworfen werden soll, und bieten an, einen Schlosser zu rufen, damit Paulus sie als freier Mann taufen kann. Paulus lehnt dies ab, da er auf Gott vertraut, der die Welt von ihren Fesseln befreit hat. In der folgenden Nacht (auf Sonntag!) betet er zu dem als Gott bezeichneten Jesus Christus, dass die Fesseln an seiner Hand zerrissen werden. Prompt erscheint dem Paulus ein Jüngling und befreit ihn von seinen Fesseln, und er verlässt die kleine, dunkle Gefängniszelle, um Artemilla zu taufen. Paulus nutzt diese Gelegenheit aber offensichtlich nicht zur Flucht, da im Anschluss berichtet wird, wie er den Löwen vorgeführt und der Tierkampf schließlich durch einen heftigen Hagelsturm vereitelt wird. Das Befreiungswunder hat Entsprechungen in den Thomasakten, wo in 118f. und 150f. (Übers. Drijvers 1997, 349f.360f.) Anhänger des Thomas die Gefängniswärter bestechen, um zum Apostel zu gelangen, und dieser auf wundersame 255

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Weise den Kerker verlässt, um sie zu taufen. In ActThom 106f. wird Thomas ins Gefängnis geworfen. Als die Mitgefangenen ihn beten sehen, bitten sie ihn, für sie zu beten. Daraufhin trägt Thomas das sog. Perlenlied vor, das von einer spiritualisierten Form von Rettung handelt (108-113; Übers. Drijvers 1997, 343). Origenes (Cels. 2,34; s.o.) geht im Zusammenhang mit Jesu Passion kurz auf Apg 16,24f. ein und sieht in den Befreiungswundern der Apostelgeschichte den Beweis dafür, dass Jesus sich vor der Kreuzigung hätte retten können, wenn dies sein Wille gewesen wäre. Johannes Chrysostomos widmet der Gefängnisbefreiung in Philippi eine ganze Homilie (hom. in Ac. 36 zu Apg 16,25f.). Darin kommt er allerdings kaum auf das Türöffnungswunder zu sprechen, sondern interpretiert die Rettung und Bekehrung des Gefängniswärters als das eigentliche Wunder. Heike Omerzu

Literatur zum Weiterlesen D. Dormeyer/F. Galindo, Die Apostelgeschichte. Ein Kommentar für die Praxis, Stuttgart 2003. J. Hintermaier, Die Befreiungswunder in der Apostelgeschichte. Motiv- und formkritische Aspekte sowie literarische Funktion der wunderbaren Befreiungen in Apg 5,17-42; 12,1-23; 16,11-40, BBB 143, Berlin et al. 2003. R. Kratz, Rettungswunder. Motiv-, traditions- und formkritische Aufarbeitung einer biblischen Gattung, EHS.T 123, Frankfurt a.M. et al. 1979. R. I. Pervo, Acts. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis 2009. J. B. Weaver, Plots of Epiphany. Prison-Escape in Acts of the Apostles, BZNW 131, Berlin/ New York 2004.

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Die unbeholfenen Zauberlehrlinge in Ephesus (Die Söhne des Skevas) Apg 19,11-17 (19,11) Durch die Hände des Paulus tat Gott auch nicht alltägliche Wunder, (12) so dass man sogar die Schweißtücher und Gürtel, die seinen Körper berührt hatten, den Kranken auflegte, und die Krankheiten wichen von ihnen und die bösen Geister fuhren aus. (13) In der Gegend wirkten jüdische Exorzisten, von denen einige versuchten den Namen Jesu anzurufen, um Besessene zu heilen: »Ich beschwöre euch bei Jesus, den Paulus verkündet.« (14) Es waren die sieben Söhne eines gewissen Skevas, eines jüdischen Oberpriesters, die es taten. (15) Der böse Geist aber antwortete ihnen: »Ich kenne Jesus und weiß von Paulus, wer seid aber ihr?« (16) Dann fiel der Mann, in dem der böse Geist war, sie an und überwältigte sie alle. Er verprügelte sie so sehr, dass sie nackt und verwundet aus dem Haus flohen. (17) Dies wurde allen in Ephesus wohnenden Juden und Griechen bekannt. Furcht fiel auf sie alle und sie lobten den Namen des Herrn Jesus.

Sprachlich-narratologische Analyse Wunder und Magie stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels der Apostelgeschichte, das über den zweijährigen Aufenthalt des Paulus in Ephesus berichtet. Unmittelbar nach seiner Ankunft tauft Paulus zwölf Jünger des Johannes (des Täufers). Wenn er ihnen die Hände auflegt, kommt der Heilige Geist auf sie (V. 6). In der Synagoge predigt Paulus drei Monate lang; nachdem er aber dort auf starken Widerstand stößt, zieht er in die Schule des Tyrannus um, wo er das Wort des Herrn »allen Bewohnern« der römischen Provinz Asien lehrt (V. 7-10). In den restlichen dreißig Versen des Kapitels berichtet der Autor von den außerordentlichen Wundern, die Gott durch die Hände des Paulus bewirkt, und über die Reaktionen, die diese Wundertaten auslösen. Zunächst lesen wir darüber, wie die Bevölkerung die Schweißtücher und Gürtel des Paulus zu den Kranken trägt (V. 12). Danach berichtet Lukas von den Auswirkungen der Wundertaten des Paulus auf die religiöse Landschaft der Stadt. Eine der betroffenen Gruppen ist eine Gruppe jüdischer Exorzisten, welche die Dämonenaustreibungen des Paulus nachzuahmen suchen (V. 13-16). Das spektakuläre Scheitern dieser Exorzisten löst Furcht aus, viele bekennen ihre Taten (worunter wir wahrscheinlich das Treiben der Magie verstehen müssen), und Bücher im Wert von 50.000 Silberdrachmen werden öffentlich verbrannt (V. 17-20). Nach den Reiseplänen des Paulus und der Aussendung des Timotheus und Erastus nach Mazedonien (V. 21f.) erfahren wir vom Aufruhr in der Silberschmiede in Ephesus (V. 23-40). In 257

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diesem Zusammenhang berichtet der Autor, dass der Erfolg des Paulus die Existenz der von Devotionalien lebenden Handwerker gefährdete, insbesondere das Geschäft der Silberschmiede, die Statuetten des Artemistempels herstellten. Im Theater versammelt sich eine Volksmenge, die »mit einem Mund« zwei Stunden lang »Groß ist die Artemis von Ephesus« schreit, bis der Stadtschreiber (γραμματεύς grammateus) sie beruhigt. Der Erzählstil der Episoden ist farbig und spannend, was übrigens für das ganze Buch der Apostelgeschichte gilt (Pervo 1987, 2-85). Die Begegnung mit den Jüngern des Johannes, der Umzug aus der Synagoge in den Lehrsaal des Tyrannus, die wunderbaren Heilungen anhand der Schweißtücher, der komische Unfall der fremden Exorzisten, die Verbrennung der Zauberbücher, und die spottende Geschichte der chaotischen Volksversammlung folgen in schnellem Wechsel. Der bunte Stil dient aber nicht nur dazu, die Aufmerksamkeit des Lesers zu erregen, sondern auch dazu, die Botschaft der Überlegenheit des Paulus sowie seiner Lehre und Taten zu unterstreichen. Was Paulus tut und sagt, ist interessant und faszinierend; was andere sagen, ist dagegen komisch und ungeschickt. Der scherzhafte Charakter der Episode der jüdischen Exorzisten steht außer Frage (vgl. Schille 1984, 379f.). Sie verlassen die Szene, indem sie nackt und blutend aus dem Haus fliehen, eine Erniedrigung, die die ursprüngliche Leserschaft an das Schicksal der Antagonisten der Komödien erinnern konnte. Die Menge im Theater wird ebenfalls lächerlich gemacht; die meisten wissen gar nicht, warum sie überhaupt zusammengekommen sind (V. 31). Diesem Zweck dient auch die Warnung des Stadtschreibers, dass man statt des Paulus auch die Bürger selbst wegen ihrer chaotischen und lärmenden Versammlung anklagen könne. Die Kritik konnte die Leserschaft des Buches auch auf den Artemiskult übertragen und als Religionskritik auffassen: Das sind die Verehrer der großen Artemis. Es ist aber zu bemerken, dass der Text die Göttin selbst nicht verspottet – obwohl die Verspottung griechischer Götter bei späteren christlichen Autoren wie z.B. Tatian (orat. 10), der in der Mitte des 2. Jh. schrieb, nicht unbekannt ist. Die spannenden Ereignisse werfen ein ganz anderes Licht auf Paulus: Er steht im Zentrum des Interesses, er bringt den Johannesjüngern den Heiligen Geist, seine Kleidung vermittelt heilende Kräfte, und seinen Namen (neben dem Namen Jesu) verwenden die Exorzisten. Er will auch an den Ereignissen im Theater persönlich teilnehmen, vermutlich um die Menge zu beruhigen, oder gar zu bekehren, wird aber von den Jüngern und von seinen Freunden aus den höchsten Kreisen (s.u.) zurückgehalten. Ein vertrautes Stilelement der Apostelgeschichte ist die hyperbolische Verwendung von Statistiken. Es wird in Ephesus nicht einfach eine unbestimmte Menge Zauberbücher verbrannt: Wir werden vielmehr informiert, dass jemand sich darum kümmerte, den Preis der verbrannten Bücher exakt hochzurechnen, und auf die Summe von 50.000 Silberdrachmen kam (V. 19). Das ist der Preis von 10.000 Büchern in Luxusausgabe (Cavallo 1997, 809-816), wohl ein Drittel des Bestands der Bibliotheca Ulpia, die bedeutendste römische Bibliothek unter dem Kaiser Traian (Vössing 1997, 643-647). Eine andere Übertreibung besteht darin, dass die Menge im Theater den Namen der Artemis »fast zwei Stunden« lang schreit. 258

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Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Wir dürfen uns durch die anekdotische und humoreske Ausgestaltung dieser Episoden nicht irreführen lassen. Zwar geht es um farbige Geschichten, die sich kaum mit den wichtigen Themen und Problemen der Paulusbriefe berühren, doch enthüllen sie trotzdem interessante sozialgeschichtliche Aspekte der Verbreitung des Christentums. An erster Stelle ist die Wirkung von Missionaren und Amtsträgern unterschiedlicher Religionen nebeneinander zu bemerken. Es wird schon lange betont, dass die gute Infrastruktur des römischen Reichs und die tolerante Haltung gegenüber neuen Religionen die Verbreitung des Christentums überhaupt ermöglichten (Harnack 1906b, 17-20). Natürlicherweise begünstigten diese Verhältnisse nicht nur das Christentum, sondern auch andere hellenistische Religionen, von denen viele schon vor den Anfängen des Christentums den Mittelmeerraum eroberten (Martin 1987; Nock 1933a). Für die meisten Religionen verursachte dieser Pluralismus kaum starken Konkurrenzkampf: Es war nämlich durchaus möglich, sich in mehrere Kulte einweihen zu lassen. Rivalität ist nur entstanden in dem Sinn, dass die Anzahl reicher Patrone begrenzt war, deren Unterstützung die unterschiedlichen Kulte und Vereine zu gewinnen versuchten (Harland 2002, 385-408). Ganz anders sah die Situation aber für das Judentum und das Urchristentum aus, die die Teilnahme ihrer Mitglieder an anderen Kulten als unerwünscht betrachteten. Deswegen wurde die Polemik gegen andere Religionen zu einem wichtigen Thema in den christlichen Texten, und es mehrten sich Erzählungen über Auseinandersetzungen mit Anhängern anderer Religionen in der frühchristlichen Literatur (s.u.). Die Verbreitung des Christentums schaffte umgekehrt eine bislang unbekannte Konkurrenz für antike Religionen. Ephesus war die Hauptstadt der römischen Provinz Asien im Westen der heutigen Türkei und eine der wichtigsten multikulturellen Metropolen des römischen Reichs (Scherrer/Wirbelauer/Höcker 1997). Zur Zeit des Paulus residierten hier der Statthalter (Prokonsul) von Asien und die sogenannten Asiarchen. Während der Prokonsul aus der Kreis der consules für ein Jahr per Los gewählt wurde (Christol/ Drew-Bear 1997), stammten die Asiarchen aus dem einheimischen Adel und hatten eine wichtige kultische Rolle inne (Friesen 1993, 92-113), vielleicht als Oberpriester des Kaiserkults (Mehl 1997). Dass Paulus mit diesen Mitgliedern der lokalen Elite besonders befreundet gewesen wäre, ist zwar historisch unwahrscheinlich (auch wegen ihrer mit den Zielen der christlichen Mission schwer zu vereinbarenden religiösen Funktion), passt aber gut zu der Erzählstrategie des Autors, der den Apostel immer wieder in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen auftreten lässt. Wer war aber der »jüdische Oberpriester Skevas« (Σκευᾶς Ἰουδαίος ἀρχιερεύς Skeuas Ioudaios archiereus)? Will der Autor uns mitteilen, dass der Vater der Exorzisten, Skevas, ein jüdischer Hohepriester war, ähnlich wie Hananias (Apg 23,2f.), Hannas (Apg 4,6) und die anderen im Buch mit oder ohne Namen erwähnten Hohepriester? Die bekannten Quellen vermelden keinen jüdischen Hohepriester unter dem Namen Skevas (Schürer/Vermes 1979, 227-236). Wenn Skevas über259

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haupt eine historische Gestalt war, könnte er vielleicht in Wirklichkeit ein Oberpriester (ἀρχιερεύς archiereus) des Kaiserkults gewesen sein (vgl. Fitzmyer 1998, 650; Liddell/Scott/Jones 1996, 252). Sein Name wäre dann am besten vom lateinischen scaevus abzuleiten; es war ein verbreiteter Familienname, den man vielleicht mit dem günstigen Vorzeichen im Himmel (bona scaeva) assoziierte (Lewis et al. 1975). Den Namen konnte der Autor oder schon die ihm vorliegende Überlieferung mit den Exorzisten verbinden. Die oft vertretene Lösung (vgl. Johnson 1992, 340; Pesch 2003, 173; Schille 1984, 380), dass Exorzisten in Ephesus sich einen exotisch klingenden, angeblich jüdischen Künstlernamen zugelegt hätten, oder dass es sich um eine legendarische Figur handelt, ist ebenfalls nicht auszuschließen. Die vielen Textvarianten zu diesem Vers beweisen, dass die Identität des Skevas und seiner Söhne schon die ersten Rezipienten interessierte. In der westlichen Textüberlieferung, deren Hauptzeuge der berühmte Codex Bezae ist (der in der Apostelgeschichte etwa 15 Prozent von anderen Textüberlieferungen abweicht), wird Skevas einfach als »Priester« bezeichnet. Wichtiger als die historische Identität des Skevas und seiner Söhne ist die Tatsache, dass sie in der mehrheitlichen Überlieferung der Erzählung nicht als pagane Priester erscheinen. Unabhängig von der Erklärung des Namens und Titels der sieben Exorzisten, Textvarianten mitgerechnet, bleibt ihre Rolle in der Geschichte eindeutig: Sie befinden sich unter den »umherziehenden« jüdischen Exorzisten (V. 13). Jüdische Magie als Topos kommt nicht nur in der Apg vor (vgl. Elymas in 13,6), sondern auch bei Strabo (geogr. 16,2,39 und 43), Plinius dem Älteren (nat. 30,2,11) und Apuleius (apol. 90). Josephus (Bell. 8,42-49) hebt die jüdische Tradition des Exorzismus hervor. Wie wir es schon gesehen haben, sind die höheren (nichtjüdischen) Beamten der Stadt eher als Verbündete denn als Gegner des Paulus dargestellt – ähnlich wie eigentlich an allen Orten, wo Paulus in der Apostelgeschichte auftritt. Die beiden Kleidungsstücke in Apg 19,12 werden im griechischen Text mit lateinischen Wörtern genannt (σουδάρια soudaria, σιμικίνθια simikinthia). Nach traditioneller Auffassung geht es um Kleider, die Paulus zu seiner Arbeit als Zeltmacher (σκηνοποιός skēnopoios, vgl. Apg 18,3) trug (Bruce 1988, 356): Die σουδάρια (soudaria) seien Schweißtücher gewesen, die er um sein Haupt gebunden trug; die σιμικίνθια (simikinthia) dagegen Schurze oder vielleicht schmale Gürtel (Leary 1990), getragen um seine Taille. Im Rahmen der Erzählwelt der ganzen Episode scheint aber eine alternative Lösung überzeugender (Strelan 2003). Wie wir nämlich schon gesehen haben, stellt Apg 19 Paulus nicht als Handwerker, sondern als bewunderten Lehrer und ehrenvollen Bürger dar. Seine Wundertaten in Ephesus werden unmittelbar nach der Notiz über seine Lehre in der Schule des Tyrannus beschrieben. Schweißtücher (sudaria), nicht um das Haupt gebunden, sondern um den Hals getragen, gehörten zur Tracht der Rhetoriker, die mit diesen ihre Stirn theatralisch abzuwischen pflegten (Quint. inst. 11,3,148; Apul. apol. 53,3; weitere Belege bei Strelan). Eine solche Auslegung wird weiter durch Apg 21,40 und 26,1 unterstützt, wo Paulus eine typische Gebärde des Redners macht (Czachesz 2007b, 260

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71). In V. 12 geht es also nicht einfach um irgendwelche Handtücher, sondern um die Attribute eines charismatischen Lehrers.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Inschriften aus Ephesus belegen die wichtige Rolle der Stadt in der Welt der antiken Magie (Lampe 1992). Der Dämonenaustreibung dienten die berühmten »Ephesischen Buchstaben« (ephesia grammata; Graf 1997b). Die Szenen der Auseinandersetzung mit den jüdischen Exorzisten und der Verbrennung der magischen Bücher spielen also keineswegs zufällig in dieser Stadt. Ephesus bietet die passende Kulisse zu dem spektakulären Wettbewerb des Paulus und symbolisch auch des Urchristentums mit seinen Konkurrenten aus dem Bereich der Magie. Es ist auch alles andere als Zufall, dass in Ephesus gerade die zwei genannten Kleidungsstücke des Paulus zu Heilungszwecken Verwendung fanden. Während der Rhetoriker das Schweißtuch (sudarium) um das Hals trug und es mit seiner Stimme, Eloquenz und Intellekt in symbolischer Verbindung stand, berührte sich der Gürtel (cintium, semicintium) mit dem Bereich des Bauchs und der Genitalien und hatte eine symbolische Bedeutung vor allem im Bereich der Zeugung und der Geburt (Plin. nat. 28,9). Neben der allgemeinen Symbolik des Gürtels kann man auch eine Assoziation mit dem Kult der Artemis nachweisen. Die Gürtel der Frauen hatten symbolische Bedeutung bei der Trauung und Entbindung (Strelan 1996, 48f.). Artemis wurde Λυσίζωνος (Lysizōnos – Löserin des Gürtels) genannt: Sie schützte (als ewige Jungfrau unter den Göttern) Frauen bei der Geburt, und in ihrem Tempel ließen sie ihre Gürtel nach der Entbindung zurück. Für die ursprüngliche Leserschaft der Apostelgeschichte muss es eindeutig gewesen sein, dass die Gürtel des Paulus die durch ihn wirkende, göttliche Kraft symbolisieren. Die Aufmerksamkeit für die Kleidung des Paulus steht weiter in starkem Kontrast zu der erniedrigenden Nacktheit der jüdischen Exorzisten. Die Auswahl der Kleidungsstücke liegt also in ihrer in der Antike bekannten Symbolik begründet. Ihre Verwendung bei der Heilung der Kranken und bei der Austreibung der Dämonen folgt dagegen einem sehr verbreiteten, wohl universalen magischen Prinzip: der Übertragung von Eigenschaften durch Berührung. Kommentare berufen sich auf unterschiedliche Kategorien, indem sie den religionsgeschichtlichen Hintergrund der Wunder beschreiben: z.B. »thaumaturgische Assoziation« (Johnson 1992, 350) oder »Mana-Vorstellung« (Pesch 2003, 172). Der analytische Nutzen dieser Konzepte bleibt aber begrenzt, weil sie wenig darüber sagen, wie wir uns die Wirkung der Heilkräfte in der Geschichte vorstellen müssen. Hilfreicher erweist sich das Konzept der »Übertragungsmagie« (Frazer 1911, 11-48): Dieser Vorstellung nach bleiben Dinge, die einmal miteinander verbunden waren, auch verbunden, nachdem sie körperlich voneinander getrennt werden. Exegeten weisen mit Recht auf die Ähnlichkeit dieser Episode mit der Heilung der blutflüssigen Frau hin, die den Saum des Gewandes Jesu berührte (Mk 5,25-43 par.). Nach 261

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Mk 5,30 und Lk 8,46 fühlte Jesus, dass Kraft von ihm ausgegangen war. Ein wichtiger Unterschied besteht trotzdem zwischen den beiden Erzählungen. Bei den Synoptikern trägt Jesus das Gewand, während die Frau es berührt. Das Gewand steht hier pars pro toto für Jesus selbst, wohingegen in Apg 19,12 die verwendeten Kleidungsstücke nicht mehr in körperlichem Kontakt mit Paulus sind. Nachdem seine Kraft einmal auf sie übergesprungen ist, bleibt sie auch in ihnen. Das in Apg 19,12 beschriebene Verfahren lässt sich als »transformative magische Handlung« (Sørensen 2007, 95-139) verstehen: In magischen Handlungen dieser Art werden essentielle Eigenschaften von einer Person oder einem Objekt auf andere Personen oder Objekte übertragen. Die Vorstellung, dass Gegenstände durch Berührung mit einer Person ihre Qualität verändern und diese Veränderung auch dauerhaft bewahren, scheint über die Kulturkreise hinweg verbreitet und nicht ausschließlich mit der Magie verbunden zu sein. In unterschiedlichen Experimenten zeigte es sich, dass Menschen den Umgang mit Objekten vermeiden, die einmal mit Abscheu erweckenden Insekten oder Substanzen in Berührung waren, auch wenn sie inzwischen gründlich sterilisiert worden sind (Nemeroff/Rozin 2000; Rozin/Millman/Nemeroff 1986). Hinter dieser Reaktion steckt wahrscheinlich eine adaptive Funktion, indem es Menschen nützt, unterschiedliche Quellen von Infektion oder Vergiftung vermeiden zu können, auch wenn sie nichts von den zugrunde liegenden biologischen Mechanismen wissen (Boyer 2002; Boyer/Liénard 2006). Interessanterweise ist aber das Prinzip der »Ansteckung« auch in anderen Domänen, darunter in der moralischen vorhanden. So vermieden Teilnehmer in Experimenten körperlichen Kontakt mit Menschen, die angeblich in einem Test über Moralität negativ evaluiert worden waren (Lenfesty 2011). Direkt relevant für unsere Wundergeschichte sind vor allem Experimente, in denen Teilnehmer gefragt wurden, ob sie ein (gründlich gewaschenes) Hemd oder einen Sweater anziehen würden, die vorher von anderen Menschen getragen wurden (Nemeroff/Rozin 1994; Rozin/Millman/Nemeroff 1986). Die Teilnehmer haben das Ansinnen abgewiesen, das Kleidungsstück einer unbeliebten oder moralisch negativ beurteilten Person (wie z.B. Hitler) anzuziehen. Den Sweater einer beliebten oder moralisch guten Person hätten sie dagegen gerne getragen. Beispiele solcher »positiven Ansteckung« wurden in unterschiedlichen Kulturen gefunden (Meigs 1978; dies. 1984). Diese Intuition kann auch der schon in der Frühkirche sehr verbreiteten Sammlung und Verehrung der Reliquien zugrunde liegen (Uro 2013). Reliquien waren nicht unbedingt Teil des Körpers eines Heiligen; zu diesem Zweck konnten auch Gegenstände dienen, die mit dem Körper des Heiligen in Berührung kamen (Brown 1981, 88). Ähnliche Vorstellungen »positiver Ansteckung« befinden sich weiter im verbreiteten Motiv, dass die Berührung des Gewandes großer Persönlichkeiten Teilhabe an deren Glück gewährt. Dieses Motiv ist aus sowohl christlichen (ActJoh 62; vgl. Mk 5,25-34) als auch griechisch-römischen (Arr. An. 6,13; Plut. Sull. 15,3-4) Quellen bekannt (Kollmann 1996, 230f.). Nach einer verbreiteten antiken Vorstellung, die in den griechischen und koptischen magischen Papyri vielfach bezeugt ist, erwirbt der Magier durch Initiati262

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on einen sogenannten πάρεδρος (paredros), d.h. »Beisitzer« oder »Assistent« (Graf 1996, 85-89; ders. 2002; Graf/Fowler/Nagy 2005, 289f.). Der Parhedros kann unterschiedliche Formen annehmen: er kann sich (zeitweilig) als Mensch manifestieren; sich zu einem Gott assimilieren (z.B. Eros als Assistent); als Objekt (z.B. ein mit homerischen Zitaten versehenes Plättchen) oder Dämon erscheinen (Pachoumi 2011; Scibilia 2002). Nach seiner Initiation kann der Magier zwischen der göttlichen und menschlichen Welt vermitteln, aber nur sofern ihm vom Parhedros geholfen wird, z.B. indem er seinen Namen ruft (a.a.O., 72-75). Im Rahmen der antiken Theorie lässt sich die Rolle des Heiligen Geistes in der Apostelgeschichte als die eines Parhedros interpretieren, der den Aposteln hilft, Wunder im Namen Jesu zu wirken. Wie Apg 19,11 betont, ist es schließlich Gott selbst, der durch die Hände des Paulus die vermeldeten Wunder tut. Auch die Schweißtücher und Gürtel des Paulus können als Manifestationen des Parhedros funktionieren, vielleicht in den Händen der Gläubigen, die selbst schon den Geist empfangen haben. Aus den antiken Vorstellungen von der Rekrutierung und dem Wirken des Parhedros folgt logischerweise, warum die jüdischen Exorzisten es nicht schafften, im Namen Jesu Dämonen auszutreiben. Ihnen fehlte nämlich das benötigte Verhältnis zum Parhedros, dessen Namen sie anzurufen versuchten. Die Dämonen erkennen, dass die Exorzisten kein besonderes, nur durch Initiation erwerbliches Verhältnis zu Jesus haben, und wissen darum, dass die Exorzisten sich auf keine göttliche Hilfe stützen können. Das Motiv des unbeholfenen Zauberlehrlings war in antiker Literatur bekannt (vgl. Berger/Colpe 1987, 63). Klassische Beispiele sind bei Lukian (philops. 33-36) (der vermutlich auch Goethe beeinflusste) und Apuleius (Met. 3) zu finden. Während in der erstgenannten Episode die Unterhaltung dominiert (die von sich aus wirkenden Gefäße setzen das Haus unter Wasser), hat schiefgegangene Magie bei Apuleius schwere Konsequenzen, indem das Dienstmädchen Fotis den Protagonisten zufällig in einen Esel verwandelt. Mit weniger dramatischen Konsequenzen taucht das Motiv bei den Synoptikern auf: Die Jünger versuchen vergeblich, einen Mondsüchtigen zu heilen, was aber Jesus unmittelbar gelingt (Mk 9,17-28 par.; Mt 17,14-18; Lk 9,38-42). In Apg 19,13-16 sind die komischen Übertöne deutlich fassbar. Exegeten bemerkten öfter die Profanität der Episode (Shauf 2005, 114), und G. Schille vermutete, dass der Autor hier eine »profane Burleske« verarbeitet habe (Schille 1984, 370). Im Gesamtbild der frühchristlichen Literatur ist die Verwendung komischer Elemente nicht überraschend (Czachesz 1998; ders. 2000; ders. 2012). In den antiken Komödien waren Prügelszenen ein vertrautes Motiv (z.B. Ar. Eq. 240-496; Ra. 605-675), und die Mengen kannten solche Szenen vor allem aus dem populären, teils improvisierten Mimus (Wiemken 1972, 127-134.167). Die Episode bietet ein Beispiel des bislang wenig erkannten Einflusses der antiken Komödie auf die frühchristliche Literatur, wo burleske Elemente vor allem als polemisches Stilmittel verwendet wurden. So wird z.B. Simon Magus in den apokryphen Petrusakten mehrmals zusammengeschlagen (ActPetr 14.32). Prügelszenen waren keineswegs ausschließlich »profan«. Bei Platon lesen wir, wie jemand, der aus dem Tartarus frühzeitig freikommen woll263

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te, von »wilden und feurig aussehenden Männern« verprügelt und zurückgeworfen wird (Plato rep. 10,615f.). Lukian erzählt, dass im Hades die Könige und Satrapen dieser Welt wie Sklaven geprügelt werden (Icar. 17). Auch in der ersten christlichen Beschreibung der Hölle verprügeln die Verdammten einander (ApkPetr 33). In der jüdischen und christlichen Tradition werden Episoden gescheiterter Magie sowie Prügelszenen in der Regel verwendet, um fremde Götter und ihre Diener zu verspotten. Aus dem AT ist vor allem die Geschichte der Baal-Propheten aus 1 Kön 18 zu nennen, die vergebens zu ihrem Gott um Feuer beten, und am Ende auf Befehl des Elija getötet werden. Im Zusammenhang des jüdischen und christlichen Monotheismus erhält auch der gescheiterte Exorzismus in Apg 19 einen besonderen polemischen Akzent. In der Septuaginta werden die Götter anderer Völker »Dämonen« (δαίμων daimōn) genannt (u.a. Ps 95,5LXX; 105,37LXX; Dtn 32,17; Jes 65,11). Im NT ist die Interpretation fremder Götter als Dämonen (δαιμόνια daimonia) bei Paulus (1 Kor 10,20f.) und der Offenbarung des Johannes (Offb 9,20) vorhanden. Der in Apg 19 verwendete Ausdruck »böser Geist« (πνεῦμα πονηρόν pneuma ponēron) kommt in der Bibel weniger vor, wird aber z.B. in Lk 8,2 mit »Dämon« gleichgestellt (vgl. Tob 6,8). Angesichts der dämonologischen Interpretation fremder Götter ist es kein Zufall, dass der Exorzismus eines der wichtigsten Kennzeichen des Frühchristentums war (Brown 1990; Kollmann 2008), und ein großer Teil neutestamentlicher Wunder Exorzismen sind (vgl. Poplutz, Dämonen in Bd. 1 des Wunderkompendiums). Warum löst der Bericht des Scheiterns der Exorzisten »Furcht« (φόβος phobos) unter den Einwohnern der Stadt aus? Der Schluss der Episode unterscheidet sich von den üblichen Reaktionen der Zuschauer in den Wundergeschichten, da es in unserem Fall um einen erfolglosen Exorzismus geht. Fürchten sich vielleicht die Epheser vor den Dämonen? Oder wird die Episode als Strafwunder aufgefasst? Im Rahmen des ganzen Kapitels müssen wir eher darauf schließen, dass der Schluss die polemische Funktion der Wundergeschichte unterstreicht. Furcht ist in der antiken Literatur die Reaktion des Menschen auf göttliche Epiphanie (Czachesz 2007b, 231234; Graf 1997c; Versnel 1987) und hat diese Funktion auch in der Apostelgeschichte (Apg 5,5.11) sowie in den Evangelien (z.B. Mt 14,26, 17,6; 28,4; Lk 1,12.65). In der Septuaginta wird die Wendung »Furcht fiel auf sie« oft verwendet, um die Reaktion des Menschen auf die Enthüllung der souveränen Macht Gottes zu beschreiben (Neh 6,16; Jdt 2,28, 15,2; Ps 104,38LXX; Dan 4,5; 10,7; vgl. 2 Chr 17,10). Der Autor macht den antiken Lesern auf diese Weise deutlich, dass sich in der Episode Gott offenbarte, während seine Gegner scheiterten.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Kognitive Deutung: Die Idee der sympathischen Magie und das universale kognitive Schema moralischer Ansteckung sind in keiner anderen neutestamentlichen Wundergeschichte so direkt fassbar wie in der Erzählung von den Schweißtüchern des Paulus. Zugleich bietet die Episode eine kulturelle Bearbeitung dieser Vorstellungen, 264

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indem die gewählten Objekte die Wunder des Paulus symbolisch mit dem antiken Bildungsideal sowie mit kulturspezifischen religiösen Vorstellungen verbinden. Da wir modernen Menschen diese Intuition mit den antiken Christen weitgehend teilen, liegen unterschiedliche Formen der Reliquienfrömmigkeit auch uns nicht fern. Berührung mit heiligen Objekten und Aufenthalt an heiligen Orten beeinflusst uns – wenn nicht magisch, dann wenigstens psychologisch. Anderseits lädt die wissenschaftliche Erklärung solcher Phänomene zur bewussten Reflexion über unsere eigene Intuition ein: Eine kritische Auseinandersetzung mit den vormodernen Elementen der modernen Religiosität ist unvermeidbar. Sozialgeschichtliche Deutung: Der freie Markt der Religionen im römischen Reich war eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg des Christentums. Dieser Erfolg stellte aber gerade das Prinzip des freien Markts infrage. Die Geschichte (zusammen mit dem Rest des Kapitels) bietet eine stilisierte Darstellung dieses gesteigerten Konkurrenzkampfs in einer der multikulturellen Metropolen der Zeit. In diesem Rahmen konnte das Strafwunder als Warnung für nichtchristliche Exorzisten davor gelesen werden, sich des Namens Jesu zu bedienen. Dass die Verwendung des Jesusnamens durch vermeintlich nicht dazu befugte Wundertäter ein komplexes Problem war, lässt sich aus Mk 9,38-40 erschließen, wo Jesus den in seinem Namen wirkenden fremden Exorzisten nicht verurteilt. Ferner kann man bemerken, dass in der Antike konkurrierende Formen des Christusglaubens nebeneinander existierten. Das Bild von Juden, die sich zu Unrecht des Namens Jesu bedienen, konnte auch als rhetorische Aussage in der innerchristlichen Auseinandersetzung dienen. Literarkritische Deutung: Die Episode ist weiter als Darstellung der Überlegenheit des Christentums zu interpretieren. Zu diesem Zweck kombiniert der Autor das rhetorische Mittel der Übertreibung mit Elementen der populären Gattung des Mimus. Spottende Äußerungen über fremde Götter gehörten schon zur Rhetorik des Alten Testaments (z.B. Jes 44,9-20) und die Kirchenväter setzten diese Tradition fort (z.B. Tat. orat. 10). Unser Text liefert Ansatzpunkte für eine problembehaftete antijüdische Auslegung, was man z.B. auch beim Kirchenvater Johannes Chrysostomus (347-407) spüren kann (s.u.). Moderne Theologen, Religionsphilosophen und praktizierende Christen entdecken dagegen die Gemeinsamkeit der Erscheinungsformen der religiösen Frömmigkeit und denken differenzierter über die Unterschiede. Religionsgeschichtliche Deutung: Im Rahmen der antiken Religionsgeschichte lässt sich die Episode als eine Fabel über den göttlichen Parhedros deuten. Auf der einen Seite manifestiert sich die Macht Gottes in Paulus. Er wurde von Hananias schon in Apg 9,12 initiiert, indem er durch Handauflegung den Heiligen Geist empfing, ähnlich wie die Johannesjünger in Ephesus. Auf der anderen Seite versuchen die Exorzisten ohne solche Initiation vergeblich, den Namen Jesu anzurufen. Historische Deutung: Es ist nicht auszuschließen, dass die Kleidungstücke von Paulus schon zu seinen Lebzeiten magisch verwendet wurden. Das würde mit dem frühen Interesse an Reliquien im Christentum auch gut zusammenpassen. Theodor 265

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Zahn (1927, 681f.) zieht in Erwägung, dass man von der Hauswirtin Schnupftücher von Paulus vorübergehend entliehen haben könnte.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Frühchristliche Autoren betrachteten Exorzismen als ein Kennzeichnen des Christentums. Justin der Märtyrer (gest. 165) schreibt von den großen Erfolgen christlicher Exorzisten im Namen (κατὰ τοῦ ὀνόματος kata tou onomatos) Jesu Christi und vom Scheitern der anderen Exorzisten, Zauberer und Kräutermischer (2  apol. 6), wobei sich allerdings eine direkte Abhängigkeit von Apg 19 nicht feststellen lässt. Die Apostolischen Konstitutionen nennen die Söhne des Skevas als Beispiel dafür, dass nicht jeder, der Dämonen austreibt, auch ein Heiliger ist (ConstAp 8,2). In seiner Homilie über Apg 19 (PG 60,287-294) erklärt der Kirchenvater Johannes Chrysostomus (347407), dass der Dämon den Namen Jesu bekennt, um den falschen Eindruck zu vermeiden, dass er ihn nicht fürchte. Es war nämlich nicht der Name Jesu, der scheiterte, sondern es lag an dem »Betrug« (ἀπάτη apatē) der Exorzisten. Chrysostomus grenzt die wandernden Söhne von den wandernden Aposteln ab: Die jüdischen Exorzisten waren nicht unterwegs, um die gute Nachricht zu verbreiten, sondern wegen ihres »Geschäftes« (ἐμπορία emporia). Die Exorzisten und die Dämonen stellt Chrysostomus als Verbündete dar. Wenn aber selbst die Dämonen nicht mehr mitmachen, bleibt für die Exorzisten keine andere Möglichkeit, als zu bekennen. István Czachesz

Literatur zum Weiterlesen I. Czachesz, Magic and Mind. Toward a Cognitive Theory of Magic, with Special Attention to the Canonical and Apocryphal Acts of the Apostles, ASEs 24 (2007d), 295-321. B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, FRLANT 170, Göttingen 1996. P. Lampe, Acta 19 im Spiegel der ephesischen Inschriften, BZ 36 (1992), 59-76. C. Nemeroff/P. Rozin, The Making of the Magical Mind. The Nature and Function of Sympathetic Magical Thinking, in: K. S. Rosengren/C. N. Johnson/P. L. Harris (Hg.), Imagining the Impossible. Magical, Scientific, and Religious Thinking in Children, Cambridge/New York 2000, 1-34. A. Scibilia, Supernatural Assistance in the Greek Magical Papyri. The Figure of the Parhedros, in: J. N. Bremmer/J. R. Veenstra (Hg.), The Metamorphosis of Magic from Late Antiquity to the Early Modern Period, Groningen Studies in Cultural Change 1, Leuven/Dudley 2002, 71-86. S. Shauf, Theology as History, History as Theology. Paul in Ephesus in Acts 19, BZNW 133, Berlin/New York 2005. R. Uro, From Corpse Impurity to Relic Veneration. New Light from Cognitive and Psycho-

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logical Studies, in: I. Czachesz/R. Uro (Hg.), Mind, Morality and Magic. Cognitive Science Approaches in Biblical Studies, London 2013.

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Ein tröstlicher Zwischenfall (Eutychus in Troas) Apg 20,7-12 (20,7) Als wir uns am ersten Tag der Woche versammelt hatten, um das Brot zu brechen, redete Paulus zu ihnen, weil er am nächsten Morgen abreisen wollte, und er dehnte die Wortverkündigung bis Mitternacht aus. (8) Es waren aber zahlreiche Lampen in dem Obergemach, wo wir versammelt waren. (9) Da wurde ein junger Mann mit Namen Eutychus, der am Fenster saß, von tiefem Schlaf ergriffen, weil Paulus so lange redete, und stürzte, von dem Schlaf überwältigt, aus dem dritten Stockwerk hinab und wurde tot aufgehoben. (10) Paulus aber ging hinunter, warf sich über ihn und umarmte ihn und sprach: »Beunruhigt euch nicht länger, denn seine Seele ist in ihm!« (11) Danach ging er wieder hinauf, brach das Brot, aß und redete, noch lange (mit ihnen) bis zum Tagesanbruch, und dann machte er sich auf den Weg. (12) Sie führten den Jüngling aber lebendig herbei und wurden nicht wenig getröstet.

Sprachlich-narratologische Analyse Die Episode von Eutychus in Troas ist eine kuriose Geschichte. Stilistisch und inhaltlich fällt die Erzählung aus dem Rahmen. Sie ist die einzige Totenerweckungsgeschichte, in der Paulus als Wundertäter auftritt. In der Apostelgeschichte ist ihr nur noch die Episode von der Auferweckung der Tabita in Joppe durch Petrus (Apg 9,36-43) vergleichbar. Legt Apg 20,7-12 auf den ersten Blick nahe, als Wundererzählung verstanden werden zu wollen, so fällt gleichzeitig auf, dass nicht wenige Motive, die bei einer Totenerweckungsgeschichte zu erwarten wären, fehlen. Es verwundert deshalb nicht, dass unsere Erzählung durchaus unterschiedliche Auslegungen erfahren hat, sie den einen als eine klassische Totenerweckungsgeschichte gilt, während andere in ihr eine Bewahrungsgeschichte erblicken, die vom Sturz und dem wundersamen Überleben des Eutychus erzählt. Auch der anekdotische und komische Charakter der Erzählung wird immer wieder betont. Martin Dibelius nahm an, dass es sich »ursprünglich um eine profane Anekdote, wahrscheinlich mit einem Unterton von Komik« gehandelt habe, die später auf Paulus übertragen worden sei (Dibelius 1968, 23). Unter den Wundergeschichten der Apostelgeschichte nehme sie eine Sonderstellung ein, da man sie »nur unter völliger Nichtachtung stilistischer Gesichtspunkte mit der Tabitha-Legende parallelisieren« könne (a.a.O., 22). So sehr Dibelius insbesondere im Blick auf seine Behauptung des »profanen« und »unerbaulichen« Charakters der Erzählung widersprochen worden ist (exemplarisch Pervo 2009, 512f.; Zmijewski 1994, 730), 268

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so wenig hat seine Feststellung des eigenwilligen Charakters dieser Geschichte an Bedeutung verloren. Das zeigt sich bereits bei der Bestimmung der Struktur der Erzählung. Einige Ausleger bestimmen die Strukturelemente nach dem Formschema einer Wundergeschichte und sehen deshalb in V. 7 bzw. V. 8-9 die Exposition der Erzählung, die das Auftreten des Wundertäters und des Hilfsbedürftigen schildere (Kowalski 2005, 28; Schreiber 1996, 110f.; Zmijewski 1994, 723). Der Text selbst legt allerdings eine andere Gliederung nahe, denn das zweimal genannte Verb συνάγεσθαι (synages-thai – sich versammeln) verklammert V. 7 und 8 und macht diese als Exposition der Erzählung kenntlich. Damit wird die Zusammenkunft der Gemeinde zum »Brotbrechen« (κλάσαι ἄρτον klasai arton) als Ausgangssituation markiert, zu der die Erzählung am Ende wieder zurückkehrt (V. 11.12). Der Sturz des Eutychus aus dem »Obergemach« im dritten Stock durchbricht demnach jäh die Versammlung der Gemeinde, bei der Paulus das Wort ergreift und bei der offensichtlich das Herrenmahl gefeiert wird (vgl. Apg 2,42.46; 1  Kor 10,16). Auch wenn weder der Inhalt der Rede des Paulus expliziert, noch die angedeutete Mahlhandlung erzählt wird, so signalisiert der Erzähler seinen Leserinnen und Lesern doch durch geprägte Termini wie κλάσαι ἄρτον (klasai arton – Brot brechen), διαλέγεσθαι (dialegesthai – reden, predigen), συνάγεσθαι (synagesthai – sich versammeln) und das absolut gebrauchte ὁ λόγος (ho logos – das Wort), dass es sich hier um eine gemeindliche Zusammenkunft mit gottesdienstlichem Charakter handelt, die durch die Elemente der Wortverkündigung und der Mahlhandlung bestimmt ist. Dass diese Zusammenkunft »am ersten Tag der Woche«, womit hier der Sonntag gemeint ist, stattfindet, erinnert die Leserinnen und Leser an den Tag der Auferstehung Jesu und der Ostererscheinungen (Lk 24,1-51). Da Anfangs- und Schlussabschnitt aufeinander Bezug nehmen, macht die Erzählung einen in sich geschlossenen Eindruck. Hier sind insbesondere einige Inklusionen entscheidend (vgl. Kowalski 2005, 24f.). Dazu gehört vor allem der Hinweis in V. 11, dass Paulus das in V. 7a bereits angesprochene »Brotbrechen« nun durchführt. Zudem wird die Ankündigung, dass Paulus am nächsten Morgen aufbrechen möchte, nach Abschluss der Mahlhandlung verwirklicht (V. 7ab: »weil er am nächsten Morgen abreisen wollte« – V. 11b: »dann machte er sich auf den Weg«). V. 12 lässt sich als ›stilgerechter‹ Abschluss einer Wundererzählung lesen: Der Knabe, der V. 9 zufolge »tot aufgehoben« worden war, wird nun zur Demonstration des Wunders lebendig herbeigeführt. Mit einer Litotes wird abschließend festgestellt, dass die Gemeindeglieder in Troas dadurch »sehr« getröstet werden (οὐ μετρίως ou metriōs – wörtlich: »nicht wenig«; zur Litotes siehe BDR § 495.2 mit Anm. 9; gemeint ist also nicht: »in hohem Maße« im Sinne von »nicht ganz«, wie Pesch 2003, 190; Zmijewski 1994, 726 meinen). An dieser Stelle wird die Pragmatik der Erzählung besonders deutlich erkennbar: Das Wunder in Troas soll in seiner tröstenden Funktion verständlich gemacht werden. Die Termini, die sich an die Leserinnen und Leser der Apostelgeschichte richten, machen deutlich, dass es diese Funktion nicht nur damals für die Gemeindeglieder in Troas, sondern auch in der Gegenwart hat. 269

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In welcher Weise das der Fall ist, wird damit als eine entscheidende Frage der Interpretation unserer Erzählung aufgeworfen. Die angesprochene Verklammerung zwischen den V. 7f. mit dem Abschnitt 11f. lässt V. 9f. als Mittelstück der Erzählung erkennbar werden. An der Auslegung dieser beiden Verse entscheidet sich die eingangs angedeutete Alternative zwischen Totenerweckungserzählung und Bewahrungsgeschichte. Nach der relativ ausführlichen Schilderung des Einschlafens und Hinabstürzens des Eutychus stellt V. 9 fest, dass Eutychus tot ist (»er wurde tot aufgehoben«). Dass damit ein ›objektives‹ Urteil des Erzählers und nicht nur eine subjektive Meinung der Leute gemeint ist, macht neben der Opposition zu V. 12 (νεκρός nekros – tot versus ζῶντα zōnta – lebendig) auch die Formulierung in Apg 5,10 (»sie fanden sie tot«) wahrscheinlich, wo diese Bedeutung unstrittig ist. Dadurch entsteht eine Spannung zwischen Apg 20,9 und 20,10, da das Wort des Paulus (»beunruhigt euch nicht länger, denn seine Seele ist in ihm«) als Diagnose gelesen werden kann. Paulus erweckt den Eutychus demnach nicht, sondern er stellt lediglich – zur Beruhigung der Gemeinde – fest, dass er am Leben ist (V. 10). Man kann deshalb fragen, ob hier überhaupt eine Totenerweckung erzählt wird. Daran entscheidet sich das Verständnis der V. 9 und 10: Meint V. 9, dass die Gemeindeglieder in Troas fälschlicherweise angenommen hatten, Eutychus habe den Sturz aus dem Fenster nicht überlebt (das erwägt Pesch 2003, 191)? Oder setzt V. 10 voraus, dass Paulus die Auferweckungshandlung bereits durchgeführt hat und nun der Gemeinde von ihrem Erfolg berichtet (so Barrett 1998, 955; Schneider 1982, 287)? Oder aber lässt die Erzählung die Wunderfrage bewusst »offen« (Dibelius 1968, 22) und überlässt damit den Leserinnen und Lesern die Entscheidung darüber, inwiefern sich in Troas ein Wunder ereignet hat? Ein auffälliges Merkmal der Erzählung ist die Verwendung der ersten Person Plural in V. 7f., die sie als Teil der berühmten ›Wir-Stücke‹ der Apostelgeschichte (Apg 16,10-17; 20,5-15; 21,1-18; 27,1-28,16) ausweist. Einige Ausleger sehen eine Spannung darin gegeben, dass das ›Wir‹ am Ende der Erzählung nicht wieder aufgenommen wird (vgl. Zmijewski 1994, 724). Diese Tatsache könnte sich aber einfach aus der Aussageintention des Textes heraus erklären. Geht es hier doch darum, die Funktion des Geschehens für die Gemeinde in Troas und nicht primär für die Begleiter des Paulus zu schildern. Damit kommt die Funktion von Apg 20,7-12 im literarischen Kontext der Apostelgeschichte in den Blick. Durch den einleitenden Hinweis, dass Paulus am nächsten Morgen »hinausgehen«, also Troas verlassen möchte, und die Inklusion mit V. 11 wird die Episode als eine Abschiedsszene erkennbar. Insbesondere zu der im direkten Kontext erzählten Abschiedsrede des Paulus in Milet (Apg 20,17-38) zeigen sich enge inhaltliche Berührungen (repräsentativ für viele Ausleger Kowalski 2005, 31f.; Schreiber 1996, 109). Hier bringt der lukanische Paulus den Sinn seiner Sendung resümierend zur Sprache (Apg 20,24-28) und signalisiert, dass seine Missionsreisen mit der Ankunft in Jerusalem abgeschlossen sind, ihm dort Gefangenschaft und vielleicht sogar der Tod drohen (20,22-24, vgl. 21,10-41). Die Ältesten von Ephesus werden ihn nie wiedersehen (20,25.38) und sind darüber zutiefst 270

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betrübt (20,37f.). Bereits unmittelbar nach der Eutychus-Erzählung wird auf das Ende der dritten Missionsreise (Apg 18,23-21,17) angespielt. Apg 20,16 blickt mit der Nennung Jerusalems als Ziel dieser Reise, die Paulus – anders als die beiden ersten Missionsreisen – nicht wieder zurück nach Antiochien führt, voraus. Das Wunder in Troas hat seine Funktion innerhalb dieser Abschiedssituation. Es erhellt in ganz grundsätzlicher Weise die Bedeutung, die die Verkündigung des Paulus für die Gemeinde in Troas und für die nachapostolische Gemeinde hat. Auf diese Weise verdeutlicht der Erzähler die theologische Bedeutung der in Apg 20,7-12 geschilderte Wortverkündigung, die im Zusammenhang mit dem Mahlgeschehen stattfindet.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Die Frage nach dem Charakter der in Apg 20,7f.11 beschriebenen Zusammenkunft, die sich für die Auslegung der Erzählung als zentral erwiesen hat, wird auch in historischer und sozialgeschichtlicher Perspektive diskutiert. Lässt sich unserem Text ein Hinweis darauf entnehmen, dass bereits zur Zeit des Paulus der Sonntag zum christlichen Feiertag geworden war, wie auch von 1 Kor 16,2 her nahegelegt wird? Ihre Bedeutung erhält die christliche Sonntagsfeier durch die Erinnerung an den Sonntag als Tag der Auferstehung Jesu (Mk 16,1f. parr.), der deshalb feiernd begangen (Barn 15,9) und im christlichen Kontext schon bald als »Herrentag« bezeichnet wird (Offb 1,10, vgl. Did 14,1; IgnMagn 9,1). Während nicht wenige Exegeten Apg 20,7-12 als Hinweis auf einen solchen Brauch ansehen, hat Norman H. Young davor gewarnt, zu voreilig »our own tradition of Sunday as a day of Christian meeting back into the NT« zu lesen (Young 2003, 112, gegen Llewelyn 2001). Vor allem fehle jede Betonung des christlichen Sonntags in Abgrenzung gegenüber dem Sabbat (a.a.O., 119f.). Umstritten ist zudem, ob unser Erzählstück für die Zeit des Paulus aussagekräftig sein kann. Selbst solche Ausleger, die in Apg 20,7-12 eine Sonntagsfeier belegt sehen, weisen darauf hin, dass damit nur über den zur Zeit des Lukas üblichen Brauch etwas ausgesagt werde, nicht aber darüber, was bereits zur Zeit des Paulus galt (Haenchen 1977, 562; Weiser 1985, 562f.). Für die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, wie die Herkunft der ›Wir-Stücke‹ bestimmt wird. Nach wie vor vertreten Ausleger die von Ernst Haenchen und vor ihm von Adolf von Harnack und Martin Dibelius formulierte These, dass die ›Wir-Stücke‹ nicht als Hinweis auf eine von Lukas verarbeitete Quelle zu verstehen seien, sondern dass sich hier Lukas selbst zu erkennen gebe (Dibelius 1968, 170.172). So hat Eckhard Plümacher das »wir« als bewusste Fiktion im Kontext der »mimetischen Geschichtsschreibung« gedeutet (Plümacher 2004e, 98). Votiert man an dieser Stelle anders, wie es die quellenkritisch ausgerichtete ältere Acta-Forschung tat (vgl. aber auch Marguerat 2006, 50), dann wird man die Annahme für möglich halten, dass wir es hier mit dem Bericht eines Augenzeugen zu tun haben, den der Verfasser des Doppelwerkes – der folglich nicht mit dem Paulusbegleiter Lukas identisch ist! – vorgefunden und in sein Werk aufgenommen hat. Die Szene könnte demnach historisch authentisch sein und tat271

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sächlich einen Einblick in den zur Zeit des Paulus bereits üblichen Brauch geben. Die Quellenkritik ist für die Auslegung von Apg 20,7-12 auch hinsichtlich der Frage entscheidend, ob das von Eutychus erzählte Ereignis ein historisches Geschehen widerspiegelt oder ob es als Legende charakterisiert werden kann. Darauf wird noch einmal zurückzukommen sein. Die in unserem Text verwendete Terminologie deutet darauf hin, dass der Verfasser der Apostelgeschichte eine christliche Sonntagsfeier voraussetzt, deren Elemente sich klar greifen lassen. Aufschlussreich ist vor allem die Bezeichnung »Brot brechen« (κλάσαι ἄρτον klasai arton), die von der Mehrzahl der Ausleger als terminus technicus für »die eucharistische Brot- und Kelchhandlung« angesehen wird (so etwa Weiser 1985, 563, siehe dazu Jeremias 1967, 113f.). Die Formulierung »Brot brechen« (τὸν ἄρτον κλᾶν ton arton klan) ist in der Septuaginta einmal belegt (Jer 16,7; vgl. Klgl 4,4). Im Neuen Testament wird sie immer im Zusammenhang »mit dem Mahlritus des Brotbrechens« verwendet (Wanke 1992, 729f.), ohne dass dabei stets mit einer Anspielung auf das Herrenmahl zu rechnen ist. Nach Apg 2,42 gehört das »Brotbrechen« zu den Identitätsmerkmalen der urchristlichen Gemeinde (vgl. 1 Kor 10,16), deren Glieder sich in den Privathäusern treffen, um »Brot zu brechen« (Apg 2,46). Da die Zusammenkunft der Gemeinde in Troas ausdrücklich zu dem Zweck erfolgt, »Brot zu brechen« (20,7), dürfte auch hier an eine Abendmahlsfeier gedacht sein (Wanke 1992, 731). Das bereits angesprochene Verb συνάγεσθαι (synagesthai – sich versammeln) ist ein Terminus für die gottesdienstliche Zusammenkunft (Apg 4,31; Mt 18,20; 1 Kor 5,4; 1 Clem 34,7; Did 16,2, vgl. Roloff 2010, 298) und legt deshalb nahe, dass in Apg 20,7 an eine solche gedacht ist. Schwieriger zu entscheiden ist die Frage, ob auch die von Paulus in V. 7 geschilderte Rede als Element des Gottesdienstes im Sinne der Wortverkündigung verstanden werden kann. Dafür spricht zunächst das hier verwendete Verb διαλέγεσθαι (dialegesthai). Der Verfasser der Apostelgeschichte verwendet das Verb, das sowohl die wechselseitige Unterredung als auch einfach »reden«, »sprechen« oder »predigen« heißen kann (Bauer 1988, 371; vgl. Barrett 1998, 951), häufig von der Synagogenpredigt des Paulus, bei der dieser die grundlegenden Aspekte des Christusgeschehens erläutert (Apg 17,2.17; 18,4.19; 19,8.9; vgl. 24,12.25). Auch die Verwendung des absolut gebrauchten ὁ λόγος (ho logos – das Wort) könnte darauf hinweisen, dass in Apg 20,7 Mahlhandlung und Wortverkündigung als die beiden wesentlichen Elemente der gottesdienstlichen Zusammenkunft geschildert werden. Zwar kann der Ausdruck ὁ λόγος (ho logos) auch einfach »die Rede« meinen, er wird im urchristlichen Sprachgebrauch aber auch präzise auf die Missionspredigt bezogen (so etwa Mk 4,14-20; Apg 4,4; 1 Thess 1,6; Kol 4,3 u.ö.). Im lukanischen Doppelwerk werden die Apostel als die grundlegenden Träger der Wortverkündigung gekennzeichnet (Lk 1,2; Apg 6,4). Sie verbürgen als »Zeugen« den Inhalt der nachösterlichen Verkündigung, der sich der Selbsterschließung des Auferstandenen verdankt (Apg 1,3-8). Da Paulus für Lukas in Kontinuität zu den Aposteln steht und selbst Empfänger einer »Ostererscheinung« ist (Apg 22,6-11; 26,12-18, vgl. Burchard 1970, 135f.), steht auch er in seiner Verkündigungstätigkeit in besonderer Weise für diesen 272

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Rückverweis auf das Osterzeugnis. Offensichtlich beschreibt Apg 20,7 Mahlhandlung und Wortverkündigung als Elemente des christlichen Sonntagsgottesdienstes. Unsere Erzählung beleuchtet diesen Brauch durch die Verbindung mit dem wundersamen Ereignis um Eutychus. Zu klären ist in diesem Zusammenhang auch, wie die in V. 11 mit dem Verb ὁμιλεῖν (homilein) bezeichnete Handlung des Paulus zu verstehen ist. Die übrigen Belegstellen im Neuen Testament, die sich ausschließlich im lukanischen Doppelwerk finden (Lk 24,14.15; Apg 24,26), lassen es als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass ὁμιλεῖν (homilein) hier die Bedeutung »predigen« hat und mithin synonym zu διαλέγεσθαι (dialegesthai) aufzufassen wäre (erwogen bei Zmijewski 1994, 728). V. 11 meint dann aber wohl nicht, dass Paulus nach der Mahlhandlung seine in V. 7 begonnene Predigt fortsetzt, sondern dass er sich mit den Gemeindegliedern in Troas nach dem Mahl unterhält (siehe dazu Roloff 2010, 298f.). Demnach geht die Wortverkündigung dem Mahl voraus. Apg 20,7-12 belegt somit, dass »zur sonntäglichen Feier des Herrenmahls die Wortverkündigung gehörte« (Weiser 1985, 563).

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Gegen die Annahme von Dibelius, bei der Eutychus-Erzählung handele es sich ursprünglich um eine profane Legende, ist in der Auslegung immer wieder auf die engen Berührungen zu den Totenerweckungsgeschichten hingewiesen worden, wie sie im Alten Testament von Elija (1 Kön 17,17-24) und Elischa (2 Kön 4,8-36) erzählt werden (Pervo 2009, 512f.). Nicht selten wird die Erzählung deshalb vor diesem Hintergrund interpretiert (exemplarisch Schreiber 1996, 111; Stipp 1999, 73-75). Inwieweit diese traditionsgeschichtliche Zuordnung überzeugen kann, hat eine formgeschichtliche Analyse zu klären. Lässt sich bereits die Nennung des »Obergemachs« in Apg 20,8 als eine Anspielung auf die Elija-/Elischatradition verstehen? Immerhin wird dieses sowohl dort (3 Kön 17,19.23LXX; 4 Kön 4,10f.LXX) als auch in der Petruserzählung (Apg 9,37.39) als Ort der Totenerweckung genannt (Stipp 1999, 74, vgl. 71). Im Gegensatz zu den genannten Erzählungen findet die Auferweckung des Eutychus allerdings gerade nicht innerhalb, sondern außerhalb des Obergemachs statt (vgl. Fischbach 1992, 297 mit Anm. 19). Es handelt sich bei dem Obergemach schlicht um den Versammlungsraum der christlichen Gemeinde, der etwa auch in Apg 1,13 genannt wird. Anders als in den angesprochenen Totenerweckungserzählungen wird Paulus in Apg 20,7-12 nicht als Wundertäter herbeigerufen. Vielmehr ereignet sich das Geschehen als Unfall, der die Tätigkeit des Paulus unterbricht. Dementsprechend fehlt die Schilderung einer Krankheit, und auch über die Person des Eutychus wird nur wenig mitgeteilt. Wir erfahren lediglich, dass er ein »junger Mann« (V. 9; V. 12) ist und einen sprechenden Namen, »Eutychus« (»Glückspilz«), hat. Könnte man diese Aspekte noch als Abweichungen innerhalb des Gattungsschemas ansehen, so ist doch auffällig, dass die an Gott gerichtete Bitte des Wundertäters (1  Kön 17,20f.; 273

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2  Kön 4,33; Apg 9,40) ebenso fehlt wie ein Auferweckungswort und eine ausgeführte Auferweckungsgeste. Erwogen wird, ob V. 10a eine solche Geste schildert. Hermann-Josef Stipp sieht in der Umarmung des Paulus eine Anspielung auf den sogenannten »Synanachrosis-Akt« (Weinreich 1935), der in 2 Kön 4,34 (vgl. V. 35) und im Masoretischen Text auch in 1  Kön 17,21 geschildert wird. Dieser besteht darin, dass sich »ein Heiler derart über einen Kranken breitet, dass seine Körperteile genau die entsprechenden Glieder des Leidenden bedecken, eine Technik magischer Energieübertragung« (Stipp 1999, 55). So heißt es in 4 Kön 4,34LXX (= 2 Kön 4,34MT): »Und er [sc. Elischa] legte sich auf den Jungen und legte seinen Mund auf dessen Mund und seine Augen auf dessen Augen und seine Hände auf dessen Hände, und er beugte sich über ihn und das Fleisch des Jungen wurde warm.« Möglicherweise in Anspielung auf diese ältere Erzählung heißt es in 1 Kön 17,21MT: »Und er streckte sich drei Mal über den Knaben hin«, woraufhin Elija sich betend an Gott wendet und diesen um die Auferweckung des Jungen bittet. Kann man allerdings wirklich von einer quasi-rituellen Handlung in Apg 20,10 sprechen, zumal die damit notwendig verbundenen Elemente von Auferweckungsgebet und Auferweckungswort fehlen? Paulus wirft sich über Eutychus (ἐπέπεσεν αὐτῷ epepesen autō – er warf sich über ihn) und »umfasst« ihn (συμπεριλαβών symperilabōn), ähnlich wie Elischa dies nach der Heilungsgeste tut, und wendet sich daraufhin nicht an Eutychus, sondern an die Gemeinde. Dass sein Wort an die Gemeinde als Diagnose zu verstehen ist, wird im Kontrast zu 1 Kön 17,21 (= 3 Kön 17,21LXX) besonders deutlich. Während in 3 Kön 17,21LXX formuliert wird: »Es kehre doch die Seele dieses Knaben in ihn zurück!«, heißt es in Apg 20,10: »Beunruhigt euch nicht länger, denn seine Seele ist in ihm«. Dass die Seele des Eutychus diesen bereits verlassen habe und nun wieder in ihn zurückgekehrt sei, wird in Apg 20,10 gerade nicht gesagt. ›Stilgerecht‹ ist lediglich der Abschluss in V. 12, die Demonstration des Wunders (vgl. 1 Kön 17,23; 2 Kön 4,36f.). Die Formulierung ἤγαγον δὲ τὸν παῖδα ζῶντα (ēgagon de ton paida zōnta – und sie führten den Jüngling lebendig herbei) ist als direkter Kontrast zu καὶ ἤρθη νεκρός (kai ērthē nekros – und er wurde tot aufgehoben) gewählt und hat zudem eine direkte Parallele in Apg 9,41, erinnert aber auch an die Formulierungen in Lk 24,5 und Apg 1,3. Auch wenn die Erzählung form- und traditionsgeschichtlich nur schwer einzuordnen ist, so will der Verfasser des Doppelwerkes offensichtlich eine Totenerweckung erzählen, gerät damit aber in Spannung zu der ihm vorliegenden Tradition. Auch Beispiele aus dem hellenistischen Umfeld werden zum Vergleich herangezogen, wie Plut. Per. 8,7f. (Fischbach 1992, 297-299), wo eine göttliche Bewahrung dargestellt wird. In diesem Umfeld ist zudem zuweilen von der Wiederbelebung von Scheintoten die Rede (Schreiber 1996, 111f.). Im Anschluss an einen Hinweis von Dibelius wird in der neueren Forschung auf Philostrat, vit. Ap. 4,45, verwiesen, wo von der Erweckung eines römischen Mädchens durch Apollonius von Tyana die Rede ist (Dibelius 1968, 22f.; Pesch 2003, 192, Anm. 22; Schreiber 1996, 111). Dort nimmt Philostrat – ganz wie von Lukian von Samosata von einem kritischen Geschichtsschreiber bzw. Biographen gefordert (hist. conscr. 60) – ausdrücklich eine 274

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distanziert-kritische Haltung zu dem Ereignis ein, wenn er bemerkt: »ob er einen Lebensfunken in ihr fand, der den Ärzten unbemerkt geblieben war, […] oder ob er das erloschene Leben wieder anfachte und zurückrief, dies zu ermitteln ist nicht nur mir, sondern auch den Augenzeugen unmöglich«. Das Wunder bleibt demnach in der Schwebe, es wird den Leserinnen und Lesern überlassen, ob sie nach einer rationalen Erklärung für das Geschehen suchen oder ob sie in dem Ereignis das Wunder einer Totenerweckung erblicken wollen, auch wenn die kritische Distanz des Erzählers zu einer solchen Erklärung deutlich zu spüren ist. Versteht man die Formulierung in Apg 20,9 »und er wurde tot aufgehoben« vor dem Hintergrund einer solchen Erzählung, dann lässt sich mit Dibelius von einer »rationalisierten Wunderbeschreibung« in Apg 20,9f. sprechen. Auch für diese Deutung finden sich allerdings kaum Anhaltspunkte am vorliegenden Text. In Apg 20,7-12 tritt der Erzähler an keiner Stelle – ebenso wie in der gesamten Apostelgeschichte (Apg 1,1f. ist eine Ausnahme) – als vermittelnde Instanz in den Vordergrund. Dies geschieht auch nicht durch das in V. 7f. genannte »Wir«, das literarisch äußerst blass und unvermittelt bleibt. Die Spannung zwischen V. 9 einerseits, dass Eutychus tot ist, und V. 10 andererseits, dass Paulus die Lebendigkeit des Eutychus konstatiert, bleibt in unserer Erzählung bestehen und dürfte am ehesten literarkritisch zu erklären sein. Gegenüber den alttestamentlichen Totenerweckungsgeschichten ist das Wunder in Apg 20,9f. äußerst zurückhaltend geschildert. Die Erzählung endet nicht mit einem ›Chorschluss‹, der das wunderhafte Ereignis dokumentieren würde (vgl. etwa Lk 5,26; 7,16). Auch eine missionarische Wirkung des Wunders, wie in Apg 9,42 berichtet, ist in Apg 20,12 nicht im Blick. Das Wunder wird vielmehr auf die christliche Gemeinde hin konzentriert, für die es seine Bedeutung gewinnt.

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Es ist deutlich geworden, dass unsere Erzählung unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten eröffnet. Die unterschiedlichen Interpretationsansätze stimmen darin überein, dass sie in dem Zusammenhang von Sonntagsfeier bzw. Mahlhandlung und Wunder die eigentliche Pointe der Erzählung erblicken. Eine ›rationalistische‹ Auslegung unserer Erzählung könnte an dem oben erörterten Verständnis von V. 10 anknüpfen. Die Episode von Eutychus in Troas ließe sich dann als eine Bewahrungsgeschichte verstehen, die davon erzählt, wie Eutychus stürzt und wider alle Erwartung am Leben bleibt. Der Gottesdienst wird durch das Ereignis unterbrochen, aber der Tod gewinnt keine Macht über Eutychus. Insofern wäre mit dieser Interpretation dann auch eine theologische Aussage verbunden: Wo der auferstandene Jesus Christus im Wort, das ihn verkündigt, und im Mahl, in dem die Gemeinde die Gemeinschaft mit dem auferstandenen Herrn feiert, gegenwärtig ist, da hat der Tod keinen Platz. Auch wenn hier nicht an ein Wunder im supranaturalistischen Sinne gedacht wäre, bestünde ein Wunder doch darin, dass Gott Eutychus vor etwas bewahrt hat, was eigentlich zu erwarten gewe275

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sen wäre (Marshall 1980, 327). In diesem Sinn hat das Ereignis einen ›wunderhaften‹ Charakter. Die zahlreichen Einzelelemente der Erzählung, angefangen bei dem sprechenden Namen »Eutychus« (»Glückspilz«), bieten Anknüpfungspunkte für eine symbolische Deutung (vgl. Pervo 2009, 513f.). So sind beispielsweise die in V. 8 genannten »Lampen«, die das »Obergemach« hell erleuchten, häufig symbolisch ausgelegt worden, wie exemplarisch die Auslegung von Gerhard Schneider (Schneider 1982, 285; vgl. Trémel 1980; Weiser 1985, 564 u.a.) zeigt: »Der Ort des Lichtes, der Raum, in dem die Gemeinde das Wort hört, ist der Raum des Lebens, und der Raum, wo das Wort nicht vernommen wird, ist der der Finsternis.« Auch das Motiv des Schlafs steht in enger Berührung zur Todesthematik und provoziert eine symbolische Deutung. Semiotische Ansätze können hieran anknüpfen und weitere Einzelelemente der Erzählung symbolisch ausdeuten (Bulley 1994). Der historische Bezugspunkt der Geschichte rückt damit in den Hintergrund. So wenig eine symbolische Deutung der Erzählung grundsätzlich von der Hand zu weisen ist, wird sie durch eine zu starke Allegorisierung wohl überstrapaziert. Es legt sich deshalb am ehesten eine historisch-kritische Deutung nahe, die gleichzeitig den kerygmatischen Charakter der Erzählung erschließt. Die in V. 8 genannten »Lampen« könnten schlicht deutlich machen, dass es bereits dunkel ist, als die Gemeindeversammlung beginnt (Barrett 1998, 951), oder auch andeuten, dass sie für schlechte Luft sorgen, das Einschlafen des Eutychus provozieren und ihn am Fenster nach Erfrischung suchen lassen (Pesch 2003, 190). Die in der Auslegung notierten Spannungen und die nur ansatzweise durchgeführte Stilisierung der Erzählung als Wundergeschichte (vgl. a.a.O., 193) machen es sehr unwahrscheinlich, dass wir es hier mit einer ›Legende‹ oder auch mit einer symbolischen Erzählung zu tun haben. Sehr viel plausibler ist, dass ein historisches Ereignis im Hintergrund steht, das sich während des Aufenthaltes des Paulus in Troas zugetragen hat. Der Verfasser des Doppelwerkes hätte diese Erzählung dann aus der ihm vorliegenden ›Wir-Quelle‹ aufgenommen und redaktionell bearbeitet. Durch die Hinzufügung von V. 12 (vgl. Schmithals 1982, 185) wird sie mit der Totenerweckungsgeschichte, die von Petrus bereits erzählt worden war (Apg 9,36-42), parallelisiert. Erst dadurch entsteht die vermeintliche Nähe zu den alttestamentlichen Totenerweckungserzählungen. Auch bei dieser Deutung, die sich literarkritisch und redaktionsgeschichtlich untermauern ließe, ist der Zusammenhang von Mahlgeschehen und Wunder entscheidend. Deutlicher zu akzentuieren ist aber wohl das Moment der Wortverkündigung des Paulus, vor allem im vorfindlichen literarischen Kontext. Die Miletrede, auf deren Bedeutung für die Eutychus-Erzählung im Kontext der Apostelgeschichte bereits hingewiesen wurde, sieht das Entscheidende des Wirkens des Paulus darin, dass er »das Evangelium von der Gnade Gottes« bezeugt hat (20,24), und die Ältesten aus Ephesus werden daran erinnert, dass er sich bei ihnen »die Gottesherrschaft verkündigend« aufgehalten hat (κηρύσσων τὴν βασιλείαν kēryssōn tēn basileian; 20,25). Dass Lukas dies als das Entscheidende der gesamten Wirksamkeit des Paulus ansieht, erhellt der Schluss der Apostelgeschichte, die mit genau jenen Worten endet: κηρύσσων τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ ἀκωλύτως (kēryssōn tēn 276

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basileian tou theou akōlytōs – er verkündigte die Gottesherrschaft ungehindert; Apg 28,31). Damit wird eine Inklusion zum Anfang der Apostelgeschichte hergestellt, wo Lukas die Selbsterschließung des Auferstandenen vor den Aposteln mit der Wendung λέγων τὰ περὶ τῆς βασιλείας (legōn ta peri tēs basileias – er redete die die Gottesherrschaft betreffenden Dinge; Apg 1,3, vgl. 28,23.31) umschreibt. Das Entscheidende an Paulus ist für Lukas, dass dieser das auf Jesus selbst zurückgehende Osterzeugnis, das die heilschaffende Bedeutung seines Lebens, Sterbens und Auferstehens benennt, als »dreizehnter Zeuge« (Burchard 1970, vgl. Apg 22,15; 26,16) bis in das Zentrum der damaligen Welt gebracht und so seine Ausweitung bis »an das Ende der Erde« (Apg 1,8; vgl. 13,47; Jes 49,6) initiiert hat. Die gegenwärtige Gemeinde lebt insofern vom paulinischen Zeugnis, als sie darin an der lebenschaffenden Kraft des Christusgeschehens auch nach dem Tod der Osterzeugen teilhat. Es gibt der Wortverkündigung der christlichen Gemeinde ihren Grund und benennt den Sinn des eucharistischen Mahles, in dem die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen feiernd begangen wird. Die Auferweckung des Eutychus in Troas wird so zum Zeichen für das im Zeugnis präsente Christusgeschehen. Das Wunder, das Lukas in Apg 20,7-12 erzählt, entsteht aus einem Zusammenspiel von Tradition und Redaktion, das sich als ein Prozess theologischer Interpretation verstehen lässt. Sie enthebt den Sturz des Eutychus dessen, ein kurioses Faktum der Vergangenheit zu sein, und lässt den »Zwischenfall« zur Anrede an die Gemeinde werden, die sich durch diesen an das Osterzeugnis erinnern lässt.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Wie deutlich geworden ist, könnte hinter der Erzählung von Eutychus in Troas ein historisches Ereignis stehen, das von Lukas zu einer Wundererzählung behutsam ausgedeutet und für eine theologische Aussage dienstbar gemacht worden ist. Eine Aufnahme dieser Erzählung könnte in den Paulusakten vorliegen (Bovon 1981, 150; MacDonald 1994b, 10f.), die wohl in das letzte Drittel des 2. Jh. zu datieren sind. Im Bericht über das Martyrium des Paulus (MartPl 1) wird davon erzählt, wie Paulus in einer Scheune in Rom in einer christlichen Versammlung predigt. Zu dieser kommt auch ein Mann namens Patroklus, der als Mundschenk des Kaisers vorgestellt wird und sich aus Platzmangel an ein »hohes Fenster« setzt, »da er das Wort Gottes hören wollte«, und von dort herabstürzt (griechischer Text und deutsche Übersetzung bei Zwierlein 2010b, 426-431). Die Erzählung fährt fort: Da aber der böse Teufel eifersüchtig war auf die Liebe zum Herrn und auf die Rettung der Brüder, nickte Patroklus schläfrig ein, fiel vom Fenster hinab und gab seinen Geist auf, so dass sogleich von den Dienern sein Tod dem Nero gemeldet wurde. Aber Paulus verfolgte das Geschehen im Geiste mit und sprach: ›Männer, Brüder, es hat der Böse eine Gelegenheit gefunden, uns zu versuchen. Gehet hinaus und ihr werdet dort einen Diener finden, der zu Tode gestürzt ist und gerade sein Leben aushaucht. Ihn bringt zu mir.‹ Und sie gingen hinaus und brachten ihm den Diener. Bei seinem Anblick wurde die Menge erschüttert. Und Paulus sprach: ›Nun soll unser Glaube offenbar werden. Wohlauf, wir alle wollen zu unserem Herrn Jesus Christus unter Tränen flehen, dass

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dieser lebe und wir unbehelligt bleiben.‹ Und als alle zum Herrn beteten, erstand der Jüngling vom Tod und empfing seinen Lebensodem wieder. Sie richteten ihn auf und entließen ihn zusammen mit den übrigen Besuchern aus dem Haus des Kaisers (MartPl 1,4-7, Übersetzung nach Zwierlein 2010b, 427.429.431).

Ob sich eine literarische Abhängigkeit von der Eutychus-Erzählung annehmen lässt, ist umstritten (Schneemelcher 1964a, 249; Rordorf 1988, 234f.). Immerhin lässt sich auf einige Gemeinsamkeiten hinweisen, die bis zu bestimmten Formulierungen reichen (MacDonald 1994b, 10; vgl. ebd., Anm. 16). Auffällig ist, dass die Patroklus-Episode eine ganz ähnliche Spannung zwischen Totenerweckung und Bewahrungswunder aufweist, wie sie sich in Apg 20,7-12 beobachten ließ. So wird zunächst erzählt, dass Patroklus »seinen Geist ausgehaucht« habe, d.h. gestorben sei. Wenig später wird dann aber formuliert, dass er lediglich »bereits im Begriff« sei, »sein Leben auszuhauchen«. Die Schilderung der Auferweckung und vor allem das im folgenden Abschnitt formulierte Bekenntnis, dass Jesus Christus den Patroklus »vom Tode auferweckt« habe, lassen aber keinen Zweifel daran, dass hier eine Totenerweckung erzählt wird. Die Auferweckung des Patroklus wird zur Demonstration der Überlegenheit Jesu Christi, des »Königs der Äonen«, über den römischen Kaiser. Der Ort des Geschehens, die Person des Geheilten und auch die argumentative Ausrichtung der Erzählung sind gegenüber der Eutychus-Erzählung verändert. Dennoch lässt sich darauf hinweisen, dass die Patroklus-Episode einige »Leerstellen« von Apg 20,7-12 ausfüllt (zum Folgenden MacDonald 1994b, 10f.). So wird der Sitzplatz des jungen Mannes am Fenster damit begründet, dass dieser wegen der Volksmenge nicht zu Paulus hineingelangen konnte, und für den Sturz des Patroklus ist nicht der Schlaf verantwortlich, sondern der eifersüchtige Teufel. Auch die in der Auslegung der Eutychus-Geschichte diskutierte Frage, wohin der Auferweckte gebracht wird, wird geklärt: Er wird mit den anderen Leuten aus dem Haus des Kaisers fortgeschickt. Auffällig ist auch, dass nun das in Apg 20,7-12 fehlende Element des Gebets um Rettung eingefügt wird. Im Zusammenhang unserer Auslegung ist besonders prägnant, dass die möglicherweise inhaltlich unscharf bleibende Beschreibung der Rede des Paulus als »Wort« (ὁ λόγος ho logos) mit der Formulierung »das Wort der Wahrheit lehren« deutlich als Verkündigung der christlichen Heilsbotschaft gekennzeichnet wird. Tradiert wird hier nicht das historische Ereignis in Troas, sondern das Wunder der Auferweckung, das an das Ereignis eines ›Fenstersturzes‹ anknüpft. Die theologische Intention der Erzählung hat sich dabei deutlich verschoben. Wir haben von der Eutychus-Episode offensichtlich keine von Lukas unabhängigen historischen Erinnerungen. Als Ereignis der Vergangenheit bleibt sie im Dunklen, sie wird – wie schon bei Lukas, so erst recht in den Acta Pauli – zum Mittel einer theologischen Aussage, der das Wunder der Totenerweckung dienstbar gemacht wird. Weist sie für Lukas auf die lebensspendende Kraft des Osterzeugnisses hin, so wird sie im Kontext des Martyriumsberichtes des Paulus zur Demonstration der Überlegenheit Jesu Christi über die weltlichen Machthaber. Martin Bauspiess 278

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Literatur zum Weiterlesen C. Berthold, Eutychos, in: M. Keuchen et al. (Hg.), Die besten Nebenrollen. 50 Porträts biblischer Randfiguren, Leipzig 2006, 257-262. A. D. Bulley, Hanging in the Balance. A Semiotic Study of Acts 20,7-12, Église et Théologie 25 (1994), 171-188. S. M. Fischbach, Totenerweckungen. Zur Geschichte einer Gattung, fzb 69, Würzburg 1992, bes. 289-301. J. A. Glavic, Eutychus in Acts and in the Church. The Narrative Significance of Acts 20:6-12, BBR 24 (2014), 179-206. B. Kowalski, Der Fenstersturz in Troas (Apg 20,7-12), SNTU.A 30 (2005), 19-37. D. R. MacDonald, Luke’s Eutychus and Homer’s Elpenor: Acts 20:7-12 and Odyssey 10-12, The Journal of Higher Criticism 1 (1994b), 5-24. H.-J. Stipp, Vier Gestalten einer Totenerweckungserzählung (1Kön 1,17-24; 2Kön 4,8-37; Apg 9,36-42; Apg 20,7-12), Bib 80 (1999), 43-77. B. Trémel, A propos d’Actes 20.7-12. Puissance du thaumaturge ou de témoin?, RTP 112 (1980), 359-369.

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Schlange, Schuld und Schutz (Das Schlangenwunder auf Melite) Apg 28,1-6 (28,1) Und als wir gerettet waren, da erfuhren wir, dass die Insel Melite heißt/genannt wird. (2) Und die Barbaren bereiteten uns eine nicht gewöhnliche Menschenfreundlichkeit, denn nachdem sie ein Feuer angezündet hatten, holten sie uns alle heran wegen des einsetzenden Regens und wegen der Kälte. (3) Als aber Paulus eine Menge Reisig zusammenraffte und auf das Feuer legte, kam eine Schlange aus der Wärme heraus und biss sich an seiner Hand fest. (4) Als aber die Barbaren das von seiner Hand herabhängende Tier sahen, sagten sie zueinander: Gewiss, ein Mörder ist dieser Mensch, den, obwohl gerettet aus dem Meer, die Dike nicht leben lassen wollte. (5) Nachdem der aber nun das Tier ins Feuer abgeschüttelt hatte, erlitt er nichts Übles. (6) Die aber erwarteten, dass er anschwellen oder plötzlich tot umfallen werde. Als sie aber lange warteten und sahen, dass nichts Ungewöhnliches an ihm geschah, veränderten sie sich und sagten, dass er ein Gott sei.

Sprachlich-narratologische Analyse Sieben Erzählabschnitte oder Sequenzen lenken durch die Wundererzählung. Ineinandergreifende Satzanschlüsse mit Zeitadverbien und Diskursmarkern verleihen dem Text syntaktische Kohäsion. Semiotische Signale sorgen für semantische Kohärenz. Der Textauftakt mit dem Pronomen »wir« (V. 1) eröffnet dem (impliziten bzw. modellhaften) Leser sogleich die gewohnte Identifikation mit den bekannten Helden der Wir-Gruppe des Makrotextes »Taten der Apostel« (Apg 16,10 u.ö.). Steigt der Leser erst hier in den Text ein, wird die Identifikationsbindung durch Sympathie mit Geretteten erzielt. Mit den Barbaren wird eine bisher unbekannte Aktantengruppe unvermittelt eingeführt (V. 2). Zeitgenössisch ist die Bezeichnung ›Barbar‹ überwiegend negativ besetzt (s.u.). Daher muss die rhetorisch betonte »nicht gewöhnliche Menschenfreundlichkeit« auf den Leser verstörend wirken. Er kann überraschend in den Barbaren die Helferrolle erkennen. Zudem bleibt die Frage ihrer Heldenrolle noch offen. Paulus ist den Wir-Helden zugehörig und somit als Identifikationsangebot klar aufgebaut. Die Plotentfaltung unterstützt diese Identifikation, indem sie das gesamte Geschehen aus der Perspektive des Ich-Erzählers als Teil der Wir-Gruppe beleuchtet. Mit ihm sieht und hört der Leser, was die Aktanten tun oder was ihnen geschieht. In V. 3 legt der Lesende den Blick auf Paulus. Dessen Handlung des Feuerholzsammelns verstärkt die Sympathielenkung. Ein solcher Mensch führt nichts 280

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Böses im Schilde. Das Gegenteil gilt für die Schlange, die unter ihrer spezifischen Gattungsbezeichnung ἔχιδνα (echidna, V. 3) in die Handlung tritt. Sie drängt sich aufgrund starker negativer Assoziationen hinsichtlich der Giftigkeit beim Leser für die Gegnerrolle auf. Der Angriff der Schlange kommt völlig überraschend und konterkariert die bisherige Harmonie des Geschehens. Der Text legt dem Leser eine natürliche Erklärung des Schlangenangriffs nahe und gibt die Hitze des Feuers als Flucht- bzw. Angriffsursache des Tieres an. Mit dem Lexem ἔχιδνα (echidna) wird dem Leser nun das Signal einer bestimmten und damit nach allgemeiner antiker Vorstellung gewiss besonders giftigen Schlangenart angezeigt. Bevor dieser aber eine Unheilserwartung für das Leben des Helden vollständig aufbauen kann, springt die Erzählperspektive auf die Barbaren. Die mimetische Darstellung der direkten Rede steht im Zentrum des Plots und provoziert eine hohe Aufmerksamkeit (V. 4). Der Leser sieht sich nun mit den Äußerungen der Barbaren konfrontiert, die ein weiteres eigenes Nachsinnen über die Wirkung des Bisses zurücktreten lassen. Die entehrende Bezeichnung »Mörder« steht dem Bild des Lesers von Paulus diametral entgegen und die mythische Interpretation des Schlangenangriffs steht im Kontrast zur natürlichen Fluchtbzw. Angriffsbewegung des Tieres. Die Rede der Barbaren baut eine deutliche Distanz zum Leser auf. Der ›Barbar‹ erhält wieder seine negative Zuschreibung, gilt er doch nach antiker stereotyper Gruppenzuweisung als der Inbegriff des ungastlichen Fremden (Strab. geogr. 17,1). Die zunächst überraschende und verstörende Helferrolle der Barbaren ist zeitlich und situativ begrenzt und endet in V. 4. Der Leser wird nun nicht mehr wie die Barbaren den Tod des Helden erwarten. V. 5 entspricht dieser Lenkungsstrategie. Paulus schüttelt die Schlange einfach ab und bleibt unversehrt. Die Narratio entfaltet keinen spektakulären Wundervorgang. Kein Heilungsgestus, keine dämonische Beschwörungsformel im Namen Jesu werden geschildert. Die Situation am Strand von Melite stellt sich für den Leser so dar, dass er das Heilbleiben des Paulus nach dem Schlangenbiss zwar als wundersam einstufen kann, den Wundervorgang selbst aber nicht als etwas völlig Unerwartetes und als den eigenen Vorstellungen und Erwartungen widersprechenden Akt aufnehmen muss. Auf eine solche Erwartungshaltung trifft er aber bei den Barbaren. Deren Deutungen des Schlangenangriffs (V. 4) und des Unversehrtbleibens des Helden (V. 6) zeugen davon, dass sie den Vorgang als ein alle Erwartungen und Vorstellungen durchkreuzendes Wunder wahrnehmen. Der Leser ist so vor allem ein Beobachter fremden Staunens. Zusammen mit der Wir-Gruppe wird er den Reden und dem Staunen der Barbaren distanziert bzw. ablehnend begegnen. Sein eigenes mögliches Erstaunen ist somit auf den V. 5 begrenzt und mit ihm abgeschlossen. Anders die Barbaren. Das Heilbleiben des Helden durchbricht für sie sicher geglaubte Erfahrungsmuster und Vorstellungen von der Weltordnung. Ihr Erstaunen wird deshalb über den V. 6 narrativ gedehnt, in dem sie sich immer noch an ihre Erwartungen klammern. Zuletzt erfolgt dann der Meinungsumschwung. Er ist Ausdruck dafür, dass das Geschehen etwas so Wundersames repräsentiert, dass es nur mit der Präsenz einer verwandelten Gottheit in Gestalt des Paulus erklärt wer281

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den kann. Mit dem Blick auf die Barbaren endet der Plot. Der Leser erfährt das kommentarlose Hinnehmen der Akklamation durch Paulus an der Seite der WirGruppe. Die indirekte Rede hält ihn auf Distanz. Dies ist ein Signal dafür, dass die Akklamation nicht die Meinung der Wir-Helden widerspiegelt. Ein Harmonisierungsversuch wie in Lystra (Apg 14,15-17) bleibt aus. Es erfolgt kein diskursives Ringen um die richtige Wunderdeutung und damit auch keine Verkündigung des Evangeliums. Unmittelbarer Textbeginn und offen gehaltenes Ende verweisen den Leser an den rahmenden Makrotext. Das wundersame Heilbleiben ist auf Gottes Vorsehung zurückzuführen. Paulus erfährt die Bestätigung, dass er unter dem Schutz des einen Gottes steht. Die ihm in Visionen zugesagte Notwendigkeit, das Evangelium nach Rom zu tragen (Apg 27,24), erfüllt sich auf wunderbare Weise in der Gegenwart des Heils der angebrochenen Königsherrschaft Gottes.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Die Erzählabfolge des Plots rahmt das Wunderereignis des Heilbleibens des Helden (V. 5.6) mit zwei Deutungsmomenten, die den Barbaren zugeschrieben werden (V. 4.6). Als Barbaren galten in der Antike alle Menschen, die weder Griechisch noch Latein sprachen. Der von Lukas nur hier verwendete Terminus gibt realistisch das Lokalkolorit von Melite, dem heutigen Malta, wieder. Die These, dass Paulus in Wirklichkeit auf der westgriechischen Insel Kephallenia gestrandet sei (Warnecke 2000), konnte sich zu Recht nicht durchsetzen (Baslez 2009, 65). Bei den Barbaren handelte es sich um die ursprüngliche Punisch sprechende Bevölkerung der Insel. Latein war im 1. Jh. n. Chr. der römischen Oberschicht vorbehalten. Griechisch hingegen wurde auch im Volk gesprochen. Die fehlende Reaktion der Wir-Gruppe auf die Äußerungen der Barbaren (V. 6) ließe sich so mit der Sprachbarriere erklären. Allerdings funktionalisiert die Narratio das Schweigen der Wir-Helden für die Leserlenkung der Distanzierung und zeigt mit der Notiz des Nennens des Inselnamens in V. 1 eine durchaus mögliche Kommunikation mit den Barbaren an. Die Deutungen der Barbaren erhellen den paganen Dämonen- und Götterglauben des antiken Mittelmeerraumes. Für den heidnischen Menschen wird der βίος (bios) einer Person von zwei Größen bestimmt: der tugend- oder lasterhaften Lebensführung und dem Wirken des Schicksals. Für das Schicksal sind Dämonen zuständig. Als Wesen der himmlischen Sphäre treten sie dem Menschen zur Seite und beeinflussen seinen Lebenslauf zum Guten und zum Schlechten. Genau in diesem Gefälle des wechselhaften Geschicks interpretieren die Barbaren das Zubeißen der Schlange. Sie ist ein Werkzeug des Gerechtigkeitsdämons, der Dike (V. 4). Zuvor noch hat dämonisches Einwirken Paulus aus Seenot gerettet, nun stellt die personifizierte Gerechtigkeit mittels einer Schlange das Gleichgewicht durch Rächen der Schuld wieder her. Von der Wirksamkeit eines Schlangenangriffs war man allgemein überzeugt, galten Schlangen doch insgesamt als giftig. Über die physiologischen Wirkungen des Giftes auf den Menschen besaß die Antike fundierte Kenntnisse. 282

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Lukas beschreibt in V. 6 medizinisch zutreffend die von den Barbaren erwarteten Reaktionen beim Einsetzen des Giftes. Der Begriff ἔχιδνα (echidna, V. 3) weist zudem auf besondere Giftigkeit hin, wenn damit die nordafrikanische Sandrasselotter (Echis carunatis) gemeint ist. Sie könnte durchaus mit den Handelswaren auf die Insel gelangt sein (Apg 28,11), auf der ansonsten keine Giftschlangen heimisch sind. Das Heilbleiben des Paulus wird dann unter Rückgriff auf Vorstellungen von umherwandernden Göttern gedeutet. Ebenso wie mit der ständigen Möglichkeit des Eingreifens von Dämonen rechnete der pagane Mensch mit auf Erden wandelnden Göttern in Menschengestalt, die es zum eigenen Wohl zu erkennen galt. Als Metamorphose einer Gottheit konnte Paulus so in den Augen heidnischer Beobachter als der gegenüber Dämonen und ihren giftigen Werkzeugen Stärkere verstanden werden.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Lukas bettet das im historischen Raum-Zeit-Gefüge angesiedelte Ereignis vom Schlangenbiss in seine jesajanisch-deuteronomistische Geschichtstheologie von Heil und Unheil ein. Auf der Folie der Theolegumena von der ›erfüllten Zeit‹ und der ›angebrochenen Königsherrschaft Gottes‹ demonstriert das Wunder einmal mehr das seit der Geisttaufe Jesu (Lk 3,22) in der Gegenwart wirkende Heil. Anders als Johannes der Täufer zur Zeit seiner Bußpredigt (Lk 3,7; Mt 3,7) muss Paulus in der Verheißung der Vollmacht über Schlangen ihr Gift nicht mehr fürchten (Lk 10,19; Mk 16,18). Die Erzählung steht mit der formalen Motivkette Schiffbruch, Rettung an Land und Begegnung mit einer Giftschlange zudem in der Traditionslinie der griechischen Periplus-Literatur (Anth. Graec. 7,290), die vom Argonautenepos und der Odyssee begründet wurde (Kollmann 2000a, 91f.). Zahlreiche hier gebildete Topoi können als inhaltliche Analogien festgemacht werden: Inseln als Orte unfreiwilligen Aufenthalts des Helden (Hom. Od. 10,48f.), Gottheiten als Urheber des Aufenthaltes (Hom. Od. 10,563; 12,447f.), Inseln als Orte von Gefahren (Hom. Od. 10,236.290: Giftgebrauch!), Schutz der Götter vor diesen Gefahren (Hom. Od. 12,445), Inseln als Orte von Heil und Unheil (Hom. Od. 10,269), gegenläufige Interessen von Held und Inselbewohner (Hom. Od. 13,30) und göttliche Bestimmung des Helden vs. Verbleib auf der Insel (Hom. Od. 10,505; 13,121). Auf der Folie der Pythagorastradition grenzt Lukas Paulus von charismatischen Wundertätern der heidnischen Antike ab, deren Umgang mit Giftschlangen zum Erweis ihrer göttlichen Physis diente (Iamb. vit. Pyth. 28,142). Die Traditionslinie zu zeitgenössischen Wundertätern des Judentums wie Chanina ben Dosa wird durch die Herausnahme der Gebetshandlung zum Überstehen eines Schlangenbisses neu gestaltet (vgl. Kollmann 1996, 142f.).

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Die Interpretation einer antiken Wundererzählung ist das Produkt einer aktiven Tätigkeit des Lesers. Ihm stehen für den Dialog mit dem Text verschiedene Deutungshorizonte zur Verfügung. Im Folgenden soll ein Blick auf die rationalistische, mythische und religionsgeschichtlich-kerygmatische Verstehensmöglichkeit geworfen werden. Zur rationalistischen Deutung: Die narrative Analyse des Plots zeigte, dass das Überleben bzw. Heilbleiben des Paulus nach dem Schlangenbiss den Leser nicht zum aktiven Bestaunen eines Wunders führen muss. Er kann in der distanzierteren Beobachterrolle bleiben. Das Auslassen von Redeformeln oder Heilungsgesten seitens des Helden, die an anderen Stellen der Apostelgeschichte den Wundervorgang umreißen (z.B. Apg 14,9f.), unterstützt eine rationalistische und natürliche Deutung des Geschehens. Bereits die Ursache des Schlangenangriffs öffnet solche Interpretationslinien. Die Hitze des Feuers führte zur natürlichen Fluchtreaktion des Tieres. Paulus stellte sich beim Nachlegen des Brennholzes der Schlange arglos in den Fluchtweg, worauf diese in einem Verteidigungsverhalten zubiss und die ihr zugestreckte Hand des Helden erfasste. Dieser muss nun zumindest einen stechenden Bissschmerz verspürt haben, als er die Schlange an seiner Hand hängen sah. Daher schüttelte er sie mit einer für diese Situation völlig natürlichen Bewegung ab. Ganz anders als die zuschauenden Barbaren ordnete er das Geschehen als Unfall ein, wie er sich in der freien Natur bei Begegnungen mit wilden Tieren ergeben konnte. Auch geriet Paulus nicht in Panik oder nahm irgendeine Schutzmaßnahme wie das Absaugen oder Abbinden der betroffenen Stelle vor. Er ging offensichtlich nicht von einer Giftinjektion aus. Die Schlange biss sich zudem an seiner Hand fest, was ein Hinweis auf eine ungiftige Schlangenart ist. So stand für den Helden die Beseitigung des Bissschmerzes im Vordergrund, indem er die Schlange – was nahe lag – zurück ins Feuer schleuderte, so dass sie auch keinem weiteren Menschen Schmerz zufügen konnte. Genau wie die erste Reaktion der Barbaren (V. 4) lässt Paulus auch deren Meinungsänderung (V. 6) kommentar- und widerspruchslos verstreichen, weil er aufgrund seiner eigenen natürlichen Deutung des Schlangenangriffs keine Erklärungen oder Richtigstellungen für nötig hielt. Er wusste, dass hier kein Wirken des Heiligen Geistes stattfinden musste, und brauchte deshalb auch nicht als Zeuge des Evangeliums Gottes aufzutreten. Die Stärke der rationalistischen Deutung liegt für den Leser im Harmonisierungseffekt von narrativen Angeboten und kritischdistanziertem Wunderverständnis. Die Erzählung lässt sich sinnstiftend als Teil der erfolgreichen Geschichte der jungen Kirche lesen, ohne dem Leser die Aktivierung eines Wunderglaubens abzufordern. Zur mythischen Deutung: Wie bereits die Verwendung von Proömien zur Eröffnung der zusammenhängenden Schriften ›Evangelium‹ und ›Taten der Apostel‹ zeigt, tritt Lukas im Selbstverständnis eines hellenistischen Schriftstellers auf. Er wählt bewusst die Gattungen »bios« und »historia« als Analogiefolien für die Darstellung des Lebens Jesu im Evangelium (Wördemann 2002, 49) und der Ausbrei284

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tung des Evangeliums in der Apostelgeschichte (Holzbach 2006, 296). Obwohl wir es mit der Absicht zu tun haben, somit auch den Text Apg 28,1-6 als geschichtliches Ereignis zu lesen, schließt sich eine mythische Wunderinterpretation des Überlebens des Schlangenangriffs nicht aus. Für die Antike läuft der Mythos auch nach der Erfindung der pragmatischen Geschichtsschreibung nicht ins Leere. Als »didaktischer Logos« (Schmitt 2002, 309) erklärt er nicht im Modus der Fiktivität, sondern der Fiktionalität. Der mit der deuteronomistischen Geschichtstheologie des AT vertraute Leser sieht ebenfalls keine Opposition von Historie und Mythos. So verweist in unserem Text die wundersame Heilung des Paulus auf die theologische Dimension der Geschichte, die Lukas in Weiterführung der deuteronomistischen Linie (Taxacher 2010, 147) als Verbreitung des Wortes Gottes entfaltet (z.B. Apg 13,49). Bildspender ist sicherlich Jesaja: »Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist« (Jes 11,8f.). Paulus erfüllt den Willen Gottes. Die prophetische Zusage des Heils kann sich daher an ihm erfüllen. Die weitere Entfaltung des göttlichen Plans (Apg 27,24) ist für die Generation nach den Aposteln gesichert. Die Heilsgeschichte im Evangelium Gottes erweist sich auch im Handeln des Paulus. Gelenkt von Visionen und vom Heiligen Geist und daher im strengen Kontrast zur Deutung der Barbaren (V. 4) ohne Verbrechen braucht er von der Natur gestellte Gefahren nicht mehr zu fürchten. Nicht das für die Antike im Allgemeinen unzweifelbare Faktum des todbringenden Giftes einer Schlange bestimmt über den Verlauf der Geschichte, sondern die im Heiligen Geist wirkende Kraft des einen Gottes, die hier auf Melite ihre immer wieder mögliche Wirkung und Fortsetzung erfährt. Die mythische Interpretation kann den Leser im Umfeld von offenkundig natürlich und eben totsicher eintretenden Ereignissen und Wirkungen auf die Möglichkeit hin befragen, ob er der Heilszusage Gottes eine solche Prozesse durchkreuzende Kraft zutraut. Zur religionsgeschichtlich-kerygmatischen Deutung: Formgeschichtlich gehört die Schlangenszene in den hellenistischen Kontext. Sie zeigt das dreiteilige Episodenschema antiker Wundererzählungen (V. 3.5.6), wobei sie durch die Verse 1.2.4 und 6 so erweitert wurde, dass nicht der Wundervorgang das thematische Zentrum bildet, sondern dessen Deutungen im Fokus stehen (Dibelius 1968, 15). Die Erzählung dient dem lukanischen Paulusbild (Mußner 1999, 155). Es gehört zum Standardrepertoire antiker literarischer Porträts idealer Menschen wie Philosophen oder Staatsmänner, dass sie beim Verfolgen ihrer Ziele auch unter größten Gefahren in wunderbarer Weise Heil erfahren, weil eine Gottheit oder ein Dämon ihnen Schutz bietet, sofern sie gerecht und tugendhaft leben (Dormeyer 1999, 123-157). Der erzählerische Umschwung der Deutung des Schlangenbisses durch die Barbaren erhellt diese Hintergründe. So ist auch für Lukas selbstverständlich, dass sein Held Paulus sich mit wundertätigen paganen Gestalten messen kann und durch das Schlangenwunder seine Gerechtigkeit und die Wirksamkeit seiner Schutzinstanz beweist. Die sparsame Narratio des Heilungsgeschehens lässt erahnen, dass es beim 285

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Erzählen des Wunders auf dessen Verweischarakter ankommt. Es manifestiert die Schuldlosigkeit des Helden und die Verlässlichkeit des Glaubens an den von dem einen Gott zugesagten Schutz beim Verfolgen des göttlichen Geschichtsplans (anders Dibelius 1968, 15: »eine religiöse Pointe […] fehlt völlig«). Die religionsgeschichtlich-kerygmatische Interpretation der Wundererzählung öffnet den Leser für den Verstehenshorizont des Verfassers. Die hinweisende Funktion des Wunders auf die Rechtschaffenheit des Evangelium Gottes und seiner Verkünder befragt den Leser, inwieweit er dieses Vertrauen auf Gottes Zusage auch seinen Wegen zugrunde legt.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte Der Schlangenbiss auf Melite hinterließ nur eine geringe Wirkung auf die inhaltliche und formale Gestaltung späterer christlicher Literatur. Irenäus von Lyon (2. Jh.) stellt in seiner »Entlarvung und Widerlegung der falschen Gnosis« die Glaubwürdigkeit des lk Reiseberichts heraus und erwähnt in diesem Kontext die Menschenfreundlichkeit der Einwohner Melites. Auf den Schlangenangriff geht er nicht ein (Iren. haer. 3,14,20-25). Die Acta Pauli des griechischen Papyrus Hamburgensis (300) greifen zwar Motive der lukanischen Romreise auf, lassen jedoch sowohl den Schiffbruch als auch den Schlangenbiss aus (ActPl 12,2; P.Hamb. 6,16-20). Cyrill von Jerusalem († 386) führt in seinen Katechesen für die Taufbewerber die Unversehrtheit des Paulus »trotz eines Natternbisses« auf das Wirken des Heiligen Geistes zurück (Cyr. catech. 17,31), ohne das Ereignis explizit als Wunder zu bezeichnen. In der die Gattung ›Heiligenlegende‹ prägenden Vita S. Antonii von Athanasius (295-373) wird ein Schlangenangriff zum Topos der Versuchungsgeschichte in Form eines Dämonenkampfes. Als verwandelter Dämon des Satans prüft die Schlange die Glaubensstärke des Helden (Ath. vit. Ant. 9,89-91): »Denn leicht ist es für den Teufel, alle möglichen Gestalten der Sünde anzunehmen […] Dazu verwandeln sich die Dämonen in die Gestalten von […] Schlangen«. Die Metamorphose des Dämons als Testfall für die Lebensführung des Helden wird aufgegriffen. Wie Paulus übersteht auch Antonius den Angriff »ohne Zittern« (Ath. vit. Ant. 9,89-91). Das Altarbild des Isenheimer Altars zeigt diesen Kampf in einer Landschaft von Chaos, Gewalt und Zerstörung. Die Perspektive ist nun christlich. Aus dem heidnischen Blick auf den externen Überraschungsangriff des Rachedämons der Dike wird ein Sinnbild des inneren Willenkampfes mit dem Bösen selbst (Dassmann 2011, 58). Aufgrund der einer dämonologischen Interpretation der Schlange durchaus entgegenwirkenden Narratio von Apg 28,1-6 bot sich eine Begegnung mit dem natürlichen Tier als Topos für die Wundererzählungen der Heiligenvita aber offenbar nicht an. Da der Schlangenbiss die visuell eindrucksvollste Episode des Apg 28,1-10 geschilderten Maltaaufenthalts von Paulus darstellt, wurde er im 16. und 17. Jh. angesichts seiner dramatischen Qualitäten zu einem beliebten Motiv von Malern und Buchillustratoren (Freller 2004, 149-151). In den Predigten des Johannes Chrysostomos (344/54-407) zur Apostelgeschichte schiebt sich – stärker als bei Irenäus – die »nicht gewöhnliche Menschen286

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freundlichkeit« (V. 2) der Barbaren in den Vordergrund (Chrys. hom. in Ac. 54). Die Unversehrtheit des Paulus merkt Chrysostomos in antiker Vorstellung von der Giftigkeit einer Schlange fast beiläufig als Wunder an. Im Zentrum der Predigt steht die Hervorhebung der Barbaren als Vorbilder einer bedingungslosen Hilfsbereitschaft, die sogar Christen beschämen könne. Insbesondere setzten sie sich darin aber von den Juden und paganen Philosophen ab. Gegenüber den Juden zeichne sie aus, dass sie Paulus nicht mit Bedrohung und Verfolgung begegnen. Den Philosophen haben sie voraus, dass sie immer und überall mit Gottes wirkender Gegenwart rechneten. So spreche auch die Verurteilung des Paulus als Mörder nicht gegen ihre Menschenfreundlichkeit, weil sie ihren Grund in der Vorstellung einer göttlichen Vorsehung habe. Selbst die Vollstreckung der Vorsehung durch den Schlangenbiss haben sie ruhig abgewartet, ohne Paulus etwas anzutun. Ihre Akklamation der Göttlichkeit des Paulus kommentiert Chrysostomos knapp als Ausschweifung. Der Schlangenangriff auf Melite war neben der eher naturalistischen Darstellung des Lukas möglicherweise auch durch diesen narrativ offen gehaltenen Plotausgang zur Ausgestaltung des Wundertäterprofils des Paulus weniger geeignet. Dirk Wördemann

Literatur zum Weiterlesen M.-F. Baslez, Paulus auf Malta. Zwischen Utopie und Hoffnung, WUB 1 (2009), 65-67. J. Börstinghaus, Sturmfahrt und Schiffbruch. Zur lukanischen Verwendung eines literarischen Topos in Apostelgeschichte 27,1-28,6, WUNT 2/274, Tübingen 2010. J. Clabeaux, The Story of the Maltese Viper and Luke’s Apology for Paul, CBQ 67 (2005), 604-610. T. Freller, ›(...) Et cum evasissemus, tunc cognovimus quia Melita insula vocabatur.‹ Der Schiffbruch des Hl. Paulus auf ›Melita‹ und die Installation eines Kults, ZKG 115 (2004), 117-163. M. Hesemann, Paulus von Tarsus. Archäologen auf den Spuren des Völkerapostels, Augsburg 2008, 206-220. J. W. Jipp, Divine Visitations and Hospitality to Strangers in Luke-Acts. An Interpretation of the Malta Episode in Acts 28:1-10, NT.S 153, Leiden 2013. H. Warnecke, Paulus im Sturm. Über den Schiffbruch der Exegese und die Rettung des Apostels auf Kephallenia, Nürnberg 22000.

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Der jüdische Häftling und der edle Römer (Die Heilungen im Hause des Publius auf Malta) Apg 28,7-10 (28,7) In der Nähe jenes Ortes lagen Ländereien, die dem Ersten der Insel namens Publius gehörten. Der empfing uns und gewährte uns gütig drei Tage Gastfreundschaft. (8) Der Vater des Publius lag unter Fieberanfällen verbunden mit Durchfall danieder. Zu dem ging Paulus hinein, betete, legte ihm die Hände auf und machte ihn gesund. (9) Nachdem dies geschehen war, kamen auch die Übrigen, die auf der Insel Krankheiten hatten, und sie wurden geheilt. (10) Die nun ehrten uns mit vielen Ehrerweisen und als wir aufbrachen, gab man uns das, was wir benötigten.

Sprachlich-narratologische Analyse In Apg 28,1-10 sind zwei Wunderepisoden in den Bericht von der Verschleppung des Paulus nach Rom eingebettet. Innerhalb dieses Abschnittes erfolgt mehrfach der Wechsel von der 3. Pers. Sg. zur 1. Pers. Pl. (28,1f.7.10). Der Leser oder die Leserin erhält den Eindruck, dass der Erzähler an der Reise beteiligt ist und während der Wunderepisoden als Zeuge berichtet (Eisen 2006, 97). Harnack (1906a, 11f.) identifizierte den Erzähler mit Lukas, dem Arzt (Kol 4,14), der auf Malta gemeinsam mit Paulus die Heilungen vorgenommen habe. Der Text selbst will nicht den Eindruck erwecken, dass ein anderer als Paulus selbst die Heilungen bewirkt hätte (Conzelmann 1972, 157; Schille 1984, 473). Der erläuterte Befund erlaubt eine plausible quellenkritische Deutung. In den Romreisebericht (Apg 27,1-28,31), dessen Grundbestand womöglich eher auf den Reisebegleiter und Mithäftling Aristarch (Apg 27,2) als auf Lukas zurückgeht (Roloff 2010, 358f.365), wurden zwei Wunderepisoden integriert (Rahmen: 28,1f.7*.10b; Episoden: 28,3-6.7*-10a), die wiederum aus maltesischer Lokaltradition stammen könnten (Zmijewski 1994, 869). Der ganze Abschnitt 28,1-10 wurde aber auch intensiv überarbeitet, worauf einige lukanische Vorzugsvokabeln und die Übereinstimmungen mit Lk 4,38-41 hinweisen (Kirchschläger 1979, 511f.; Pesch 2003, 296; Weiser 1985, 667f.). Formgeschichtlich kann man noch zwischen der Fieberheilung (Apg 28,8) und dem Heilungssummar (Apg 28,9) unterscheiden. Die erste Episode ist durch die Motive Strandung und Schlangenbiss so dramatisch gestaltet, dass man hier die gesteigerte Freude am Wunderbaren erkennt, die für die apokryphen Apostelakten charakteristisch ist (Pervo 1987, 65). Der Beginn der zweiten Wunderepisode ist durch den Orts- und Personenwechsel vom Strand in die Villa und von den Barbaren zu dem römischen Inselnotablen deutlich markiert. Sie 288

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ist zwar in ihrem Plot, in dessen Zentrum eine Fieberheilung durch Handauflegung und Gebet steht, weniger dramatisch, sie zieht aber die Aufmerksamkeit der antiken Leser(innen) und Hörer(innen) aus der Jesusgemeinschaft dadurch auf sich, dass sie die sozialen Rollen der Erzählfiguren in einen scharfen Kontrast zueinander stellt. Auf der einen Seite steht der jüdische Häftling Paulus, der gerade erst der doppelten Lebensgefahr durch Schiffbruch und Schlangenbiss entronnen ist (Apg 27,44; 28,3), auf der anderen Publius, der Angehörige der römischen Provinzialelite, der »Erste der Insel Melite«, und dazwischen die übrigen Kranken der Insel. Der Titel des Publius ist inschriftlich belegt für die Zeit des Tiberius in IG XIV 601: πρῶτος Μελιταίων καὶ πάτρων (prōtos Melitaiōn kai patrōn ‒ der Erste [= Edelste] und der Patron der Bewohner von Melite; Ashby 1915, 26) und CIL 10,7495: municipi Melitensium primus omnium. Dieser »Erste« (primus bzw. πρῶτος prōtos) war der Repräsentant der provinzialrömischen Elite (zum Elitebegriff vgl. Goodman 2007, 330-365) und stand an der Spitze der insularen Oberschicht (honestiores ‒ Vornehme). Der »Erste« der römischen Bürgergemeinschaft der Meliter erhielt diesen Titel mit Zustimmung des Prokonsuls der römischen Provinz Sizilien, zu der die Insel seit 218 v. Chr. gehörte, und hatte besondere Loyalitätserweise gegenüber dem römischen Imperium zu erbringen, was sich nicht zuletzt in der Wahrnehmung kultischer Funktionen im Kaiserkult ausdrückte, wie ebenfalls inschriftlich belegt ist, IG XIV 601: ἀμφιπολεύσας θεῷ Αὐγουστῳ; amphipoleusas theō Augoustō ‒ »er diente [als Priester] dem Gott Augustus« (Ashby 1915, 26f.; Schille 1984, 472; Suhl 1992, 220-224). Publius besaß offensichtlich ausgedehnte Ländereien (χωρία chōria), die man sich als Landgut mit einer zentralen villa vorstellen muss (Safrai 1994, 82) und für die es auf Malta zahlreiche Beispiele gibt (Claridge 1976, 569). In einer solchen villa lebte er vermutlich zu den Zeiten, in denen seine Anwesenheit am gleichnamigen zentralen Ort der Insel Melite nicht nötig war. Der primus gehörte nun auch derjenigen Gesellschaftsschicht an, von der man Freigebigkeit für die Insel und deren Bewohner erwartete, auf die diese dann wiederum mit Ehrerbietungen und Statusprivilegien antworteten. Dieser »Euergetismus« gilt als eine der grundlegenden reziproken Sozialbeziehungen antiker Gesellschaften (Veyne 1992, 22; vgl. Pervo 2009, 672). Publius begegnete dem schiffbrüchigen Paulus und seinen Begleitern (»uns«) als ein solcher Euerget (Wohltäter), indem er ihnen »gütig« (φιλοφρόνως philophronōs) Gastfreundschaft gewährte (ξενίζειν xenizein), von einem Zwang zu einer solchen Handlung ist nicht die Rede (vgl. Riemer 2005, 253f.). Die den Status des Wohltäters bestätigende reziproke Handlung war der Dank und die Beteuerung, dass man sobald als möglich diese Wohltat erwidern werde (Bormann 1995, 173f.). Paulus nun reagierte auf die Gastfreundschaft mit der Heilung des Vaters. An die Heilung schließt sich ein Sammelbericht an: Alle Inselbewohner, die Krankheiten hatten, kamen zu Paulus und wurden geheilt. Auf diese Wohltat des Paulus wiederum reagierten die Kranken der Insel, möglicherweise die ganze Inselgemeinschaft (Harnack 1906a, 43), im Rahmen der reziproken Sozialbeziehung mit Ehrerweisen. Die Formen, in denen sie Paulus »mit vielen Ehrungen ehrten« 289

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Die Wundererzählungen in der Apostelgeschichte

(πολλαῖς τιμαῖς τιμᾶν pollais timais timan) oder gar »huldigten«, werden nicht näher geschildert. An die Stelle des primus der Insel als Euerget und Empfänger von Huldigungen treten Paulus und seine Begleiter (»uns«). Der schiffbrüchige Jude verlässt als der wahre Euerget die Insel. Die kurze Erzählung ist zwar auf die wunderbaren Heilungen fokussiert, aber die soziale Konstellation, die die Wunderhandlung rahmt, ist ebenso bedeutsam. Die »Ehre« (τιμή timē), die eigentlich dem Edelsten (πρῶτος prōtos) der Insel zukommt, erhalten nun die Schiffbrüchigen. Die soziale Ordnung wird neu strukturiert. Schließlich ist auch noch darauf zu verweisen, dass die Episoden im Horizont der Gesamterzählung der Apostelgeschichte an einem besonderen Ort stehen. Malta ist die letzte näher geschilderte Zwischenstation, bevor Paulus über Syrakus, Rhegium und Puteoli nach Rom gelangt. Die Heilungen auf Melite stellen damit das letzte Wunder des Paulus in der Apostelgeschichte dar.

Sozial- und realgeschichtlicher Kontext Ein wichtiger Deutungshintergrund der Erzählung ist die Philoxenie, die soziale Konvention der Gastfreundschaft (Pervo 2009, 672). Die Frist der »drei Tage« entspricht einer ihrer Grundregeln (Hiltbrunner 2005, 11.31). Die Leser(innen) und Hörer(innen) der Apg wissen zwar, dass Paulus beständig Interesse bei den Vertretern der provinzialen Elite weckt (von Sergius Paulus bis Berenike), aber der Erweis »gütiger« Gastfreundschaft durch einen Angehörigen der römischen Elite für einen Häftling ist auch für sie neu. Ein schiffbrüchiger Gefangener gehört nicht in das Haus eines Vertreters der römischen Elite, schon gar nicht als ein geehrter Gast. Damit nicht genug, Paulus macht nun auch noch dem Edelsten der Insel den ersten Rang im Rahmen des römisch-hellenistischen Euergetismus streitig, indem er selbst zum Wohltäter an allen Kranken der Insel wird. Die Gastfreundschaftsszene als Motiv der antiken Literatur erzeugt eine Lesererwartung, mit der bereits in Homers Odyssee mehrfach kunstvoll gespielt wird (Reece 1993, 189-206). Der gestrandete Odysseus findet Aufnahme und nach der Befriedigung seiner elementarsten Bedürfnisse steht die Erwartung im Raum, dass der zum Gast gewordene Fremde nun auch etwas von sich preisgibt, indem er erzählt. Der Erzähler der Apostelgeschichte ersetzt den an dieser Stelle zu erwartenden Reisebericht des Fremden durch eine Wunderhandlung. Er nutzt dabei die Technik der Mimesis, der kreativen Nachahmung, die bereits in der Odyssee begegnet. Die sich wiederholenden Szenen stehen zueinander in Beziehung und werden imitierend und kontrastierend weiterentwickelt. Die durch eine Gastfreundschaftsszene gerahmte Heilung eines fieberkranken Familienangehörigen mit anschließendem Heilungssummar in Apg 28,8-10 steht in Beziehung zu Lk 4,38f., der gastlichen Aufnahme Jesu im Haus des Petrus mit der Heilung der an Fieber erkrankten Schwiegermutter des Petrus, und zu dem Summar in 4,40f. In der Exegese wird immer wieder vermerkt, dass der dreimonatige Aufent290

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halt auf Malta keine Notiz über eine Verkündigung durch Paulus enthält. Auf Malta entsteht keine Gemeinde (Bauernfeind 1939, 276; Roloff 2010, 367). Das fällt umso mehr auf, als in der Aussendungsrede Lk 10,3-12 und in den entsprechenden narrativen Passagen des lukanischen Schrifttums die gastfreundliche Aufnahme des Wandermissionars und die Annahme seiner Botschaft sachlich und terminologisch miteinander verbunden sind (Tannehill 1986, 235). Als Erklärung für diesen Sachverhalt dienen entweder die bloße Historizität (Roloff 2010, 367; Pesch 2003, 300) oder der für die Apostelgeschichte leitende missionstheologische Gesichtspunkt, nach dem Paulus das Evangelium immer erst an Juden verkündige (Jervell 1998, 617), oder aber der Gedanke, es solle die universale Fürsorge auch gegenüber Ungläubigen betont werden (Pervo 2009, 676). Von einer Heilung durch Gebet und Handauflegung wird im Neuen Testament an keiner anderen Stelle berichtet. Die Einzelmotive, Gebet und Berührung, sind allerdings alles andere als ungewöhnlich (Mk 1,41; Mt 17,21 u.ö.). Die Bezeichnung der Krankheit als Fieber (πυρετός pyretos), verbunden mit Diarrhoe/Durchfall (δυσεντερία dysenteria) weist im antiken Kontext mit größerer Wahrscheinlichkeit auf eine nicht akut lebensbedrohliche Krankheit hin (Leven 2005, 222). Das verwendete Wort δυσεντερία (dysenteria) kann aber auch eine Darmerkrankung meinen, die mit Durchfall, Geschwürbildung im Darm und blutigen Exkrementen verbunden ist und »häufig tödlich und in allen Fällen langwierig« war (Leven 2005, 238). Für die Erzählung ist die Art der Erkrankung nicht von besonderer Bedeutung, wie ja auch ihr Fortgang deutlich macht. Nach der Heilung des Vaters des Publius kommen schließlich alle übrigen Inselbewohner mit ihren vielfältigen Erkrankungen (ἀσθένεια astheneia) zu Paulus und werden geheilt.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund Für eine Heilung durch Gebet und Handauflegung gibt es auch in der hebräischen Bibel kein direktes Vorbild (Fitzmyer 1998, 784). Die nächste Parallele bietet die Septuagintafassung der Totenerweckung durch Elisa in 2 Kön 4,33f., die die gleichen Verben verwendet wie Apg 28,8. Elisa sei »hineingegangen« (εἰσέρχεσθαι eis-erchesthai), habe »gebetet« (προσεύχεσθαι proseuchesthai) und habe Mund, Auge und Hände auf die des toten Knaben »aufgelegt« (τιθέναι ἐπί tithenai epi). Im Genesis-Apokryphon, einer parabiblischen Schrift, die die Erzählungen der Genesis eigenständig neu erzählt (Becker 2010, 101), findet sich etwas Vergleichbares (Becker 2002, 146148; Koskenniemi 2005, 181). Dort wird von Abraham berichtet, er habe den Pharao auf diese Weise geheilt: »… Und ich [Abram] betete für ihn zu seiner Heilung und legte meine Hände auf sein Haupt, und die Plage wurde von ihm entfernt und der böse Geist ihm ausgetrieben und er wurde wiederhergestellt« (1QApGenar 20,28-29 nach Beyer 1984, 177). Der babylonische Talmud wiederum erzählt von Hanina ben Dosa, einem der galiläischen Wunderrabbis, er habe durch ein Gebet ohne Kontakt zu dem Fieberkranken die Heilung bewirkt (bBer 34b). Der spätere Rabbinismus 291

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machte aus den souveränen charismatischen Einzelgestalten Beter, deren Macht auf der Gebetserhörung durch Gott beruhte (Becker 2002, 435). Eine ähnliche Tendenz wird man auch in Apg 28,8 sehen dürfen. Durch das Gebet wird Paulus rückgebunden an Gott und es wird der Eindruck vermieden, dass hier eine autonome besondere Kraft am Wirken sei. Das Gebet sozialisiert das Wunder, weil es die Wundermacht nicht auf den Wundertäter, sondern auf Gott zurückführt, der von jedem im Gebet angerufen werden kann (Becker 2002, 220-222).

Verstehensangebote und Deutungshorizonte Rationalistische Deutungen neutestamentlicher Wundererzählungen machen auf Sachverhalte aufmerksam, die dem berichteten Geschehen einige historische und medizinische Plausibilität verleihen. Die Heilungen von Fieber, Durchfall und vielen anderen Krankheiten, die hier durch Paulus vollzogen werden, sind ohne Zweifel erstaunlich, andererseits sprengen sie aber nicht den Rahmen des Vertrauten. In Gesellschaften ohne wissenschaftliche Medizin und bei Krankheiten, für die es keine wirksamen Therapieformen gibt, vertrauen bis heute viele Menschen auf die Wirkung von Handauflegung und Gebet. Die Annahme psychosomatischer Ursachen, Spontanheilungen und der Placebo-Effekt, unterstützt vom Vertrauen in die heilende Kraft der Hände des Apostels, reichen als Erklärungen für die Heilungen aus (Weiser 1985, 670; Zmijewski 1994, 871f.; Kollmann 2000a, 95). Eine Deutung, die an der Faktizität des Geschehens festhalten möchte, kann dann noch die Vermutung ergänzen, dass Lukas, der Reisebegleiter des Paulus und Arzt, bei der Heilung der »übrigen« Kranken mitgewirkt habe (Harnack 1906a, 11f.). Die Formgeschichte hingegen betont, dass die berichteten Wunderhandlungen durch die literarische Gestaltung zu Wundererzählungen werden, die als Erzählungen wiederum eigene Ziele verfolgen, nämlich Ausdruck des Selbstverständnisses einer religiösen Gemeinschaft zu sein. In der religionsgeschichtlichen Perspektive wiederum deutet man die Wundererzählungen als eine Form der antiken religiösen Propaganda. Dabei spielte in der älteren Forschung das Konzept des »göttlichen Menschen« (theios aner) eine große Rolle (Conzelmann 1963, 157; Roloff 2010, 365). Paulus werde gerade in der Apostelgeschichte an die antike Vorstellung des außergewöhnlichen, nämlich »göttlichen« Menschen angepasst. Diese Helden der antiken Religionsgeschichte überzeugten durch ihre religiöse Leistungsfähigkeit. Das Gebet des Paulus ist dann nicht als Rückbindung an Gott, sondern als intensive Gebetskraft des Apostels zu interpretieren. Das Ausbleiben der Verkündigung unterstreicht nochmals das Motiv, nach dem der »göttliche Mensch« nicht durch eine Botschaft, sondern durch wunderbare Fähigkeiten beeindruckt. Untersuchungen, die stärker den jüdischen Kontext des lukanischen Schrifttums hervorheben, erklären das Fehlen der Predigt damit, dass in der Apostelgeschichte das Evangelium grundsätzlich zunächst an Juden, dann an all diejenigen Nichtjuden, die mit dem Judentum sympathisieren, und nur in diesem Zusammenhang auch an Nichtjuden 292

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verkündigt wird. Der Paulus der Apostelgeschichte predigt keinen »reinen Heiden« (Jervell 1998, 617). Apg 28,7-10 wirft aber auch sozialgeschichtliche Fragen auf. Zunächst sticht der berichtete Statuswechsel ins Auge, der im Rahmen des römisch-hellenistischen Euergetismus, dessen soziale Funktion ja eigentlich in der Statusbestätigung der Elite besteht, vollzogen wird. Diese soziale und politische Dimension ist für den »postcolonial biblical criticism« von besonderer Bedeutung (vgl. Segovia/Sugirtharajah 2007). Der »postkoloniale Blick« (Sugirtharajah 2003, 168: »postcolonial gaze«) als exegetische Perspektive interessiert sich vor allem für das subversive Potenzial biblischer Texte. Subversion meint mehr als Kritik: »subversion means a state of war and a determination of eliminating the enemy – or at least his power« (Sugirtharajah 2003, 177). Nun wird das lukanische Schrifttum oft als apologetisch, jenseitsorientiert und sozialaffirmativ interpretiert (Schnelle 2007, 473-476; Wolter 2006, 176). Tatsächlich integriert es beständig Vertreter/innen der antiken Eliten in seine erzählte Welt und erfüllt dadurch deren Erwartung auf Statusbestätigung (Pervo 2009, 672). Es zeichnet aber gerade so das breite Spektrum zwischen Kollaboration und Widerstand nach, durch das auch moderne Gesellschaften charakterisiert sind. Die lebensgeschichtlichen Ambivalenzen, die durch die Überschreitung kultureller, religiöser und politischer Grenzen entstehen und die zu sogenannten hybriden Existenzen führen, werden exemplarisch in der Biographie des römischen Bürgers, beschnittenen Juden und Apostels Jesu Christi, Paulus, thematisiert. Diese Thematisierung ist die Voraussetzung für die subversive Inszenierung des Politischen im Sinne einer besonderen Qualität des Handelns autonomer Subjekte (Bormann 2011, 107f.), die für das lukanische Schrifttum charakteristisch ist (Burrus 2007, 139). Für Apg 28,710 bedeutet das: Die durch Krankheiten marginalisierten Inselbewohner ersetzen den vom römischen Prokonsul eingesetzten und durch seinen Besitz legitimierten »Ersten der Insel« durch den von Gott eingesetzten und durch die Ehrerweise der Geheilten legitimierten Apostel.

Aspekte der Parallelüberlieferung und Wirkungsgeschichte J. Roloff nennt das letzte Wunder des Paulus in Apg 28,7-9 ein »Spiegelbild des ersten Wunders Jesu« in Lk 4,38-41 (Roloff 2010, 366). Tatsächlich stehen sich die beiden Heilungen im Rahmen praktizierter Gastfreundschaft in Aufbau und Wortlaut sehr nahe, aber die Unterschiede sind ebenso bedeutsam. Es handelt sich um eine kreative Nachbildung (Mimesis) und nicht um ein Spiegelbild. Zum Verständnis von Lk 4,38-41 kann man die Parallele in Mk 1,29-31, die im Rahmen der Zweiquellentheorie als Vorlage gilt, heranziehen. Ohne auf die Details hier eingehen zu können, sei zumindest der wichtigste Unterschied hervorgehoben. In Lk 4,38-41 wird gegenüber Mk 1,29-31 die Bedeutung der fremden Macht gesteigert. Jesus »bedroht« das Fieber und im Summar 4,41 ist davon die Rede, dass viele Dämonen ausfahren. Führt man 293

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diese Diskrepanz zwischen Mk und Lk auf die redaktionelle Tätigkeit des Verfassers zurück, dann fällt besonders auf, dass Lukas in Apg 28,7-9 einen anderen Weg der Überarbeitung der Tradition geht. Weder ist irgendeine der genannten Krankheiten von Dämonen verursacht, noch spielen Dämonen überhaupt eine Rolle (Kirchschläger 1979, 516-521). Vielmehr wird die Heilungserzählung durch das Motiv des Gebets in ein besonderes Licht gestellt. An die Stelle des vollmächtigen Exorzisten Jesus tritt der Apostel Paulus, der die Wirkkraft seiner Hände durch das Gebet und das heißt von Gott erhält. Die Wunderepisode ermutigte die ersten Christen, Gebet und Handauflegung als heilende Gesten zu praktizieren (Leven 2005, 375f.). Die Kirchenväter stützen sich bei ihren Aussagen über den Maltaaufenthalt des Paulus ausschließlich auf die Apostelgeschichte. Irenäus von Lyon (ca. 135-200) erwähnt den Maltaaufenthalt kurz im Rahmen seiner Nacherzählung dieses biblischen Buches, die wiederum dem Ziel dient, nachzuweisen, dass Lukas ein »unzertrennlicher« (inseparabilis) Reisebegleiter des Paulus gewesen sei (Iren. haer. 3,14). Cyrill von Jerusalem (313-386) stellt den paradoxen Charakter der Maltaepisoden heraus: Paulus, der doch durch den Schlangenbiss Schaden hätte erleiden sollen, heilte die Kranken der Insel von ihren Krankheiten (Cyr. catech. 17,31). Ambrosius von Mailand (339397) interessiert sich dafür, dass Paulus mit gebildeten Heiden disputiert und diese dann »wie den prokonsularischen Legat Paulus und den Princeps Publius« überzeugt habe (Ambr. patr. 12,57). Auch Johannes Chrysostomos (350-407) ist vom hohen sozialen Status des Publius fasziniert. Er stellt den »reichen« Princeps der Insel als einen ehrenwerten Mann vor, der Paulus aus reiner Menschlichkeit aufgenommen habe. Publius habe nichts von den wunderbaren Ereignissen rund um den Schiffbruch gewusst. Er habe als Belohnung für seine edle Gesinnung die Heilung seines Vaters erfahren, eine Wohltat, die dann auf alle Kranken der Insel ausgeweitet worden sei. Johannes, der selbst aus einer Familie der Oberschicht stammte, sah die Ereignisse auf Malta aus der Perspektive der Reichen (Chrys. hom. in Ac. 54). Publius wurde ihm zu einem Beispiel dafür, dass der christliche Glaube und ein hoher sozialer Status vereinbar sind. Der Aufenthalt des Paulus gilt den Maltesen bis heute als eines der größten Ereignisse in der Geschichte der Insel. Auf den vorgelagerten Paulusinseln soll der Apostel gestrandet sein. Dort steht eine weiße Paulusstatue aus dem Jahr 1845. Oberhalb der Paulusbucht findet sich die kleine Paulus-Kapelle, die am Ort des Zusammentreffens von Paulus und Publius errichtet worden sein soll. Ausgrabungen belegen drei Vorgängerkapellen und eine römische Villa, die als die des Publius vorgestellt wird. Ein frühes Zentrum der Paulusverehrung auf Malta war Rabat. Dort befindet sich neben eindrucksvollen Pauluskatakomben (evtl. 3.-6. Jh.) auch die Paulusgrotte, die dem Apostel der späteren Legende zufolge während seines dreimonatigen Maltaaufenthalts als Wohnort gedient haben soll (Freller 2004, 117-119.133-142). In Valletta, der Hauptstadt von Malta, gibt es neben einer Publiuskirche eine Paulusstraße, eine Paulus-Kathedrale (1842) und die Kirche St. Paul’s Shipwrek (1629), in der »Knochen des rechten Handgelenks des heiligen Paulus« als Reliquie verehrt werden (Bussmann 2010, 80). Lukas Bormann 294

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Literatur zum Weiterlesen R. von Bendemann, Elementar feurige Hitze. Zur Krankheitshermeneutik frühjüdischer, hellenistisch-römischer und frühchristlicher Fieberheilungen, in: B. Kollmann/R. Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen, WUNT 339, Tübingen 2014, 231-262. L. Bormann, Der Politikbegriff der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland, in: E. Reinmuth (Hg.), Politische Horizonte des Neuen Testament, Darmstadt 2010, 28-49. V. Burrus, The Gospel of Luke and the Acts of the Apostles, in: F. F. Segovia/R. S. Sugirtharajah (Hg.), A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings, The Bible and Postcolonialism 13, London 2007, 133-155. T. Freller, ›(...) Et cum evasissemus, tunc cognovimus quia Melita insula vocabatur.‹ Der Schiffbruch des Hl. Paulus auf ›Melita‹ und die Installation eines Kults, ZKG 115 (2004), 117-163. J. W. Jipp, Divine Visitations and Hospitality to Strangers in Luke-Acts. An Interpretation of the Malta Episode in Acts 28:1-10, NT.S 153, Leiden 2013. W. Kirchschläger, Fieberheilung in Apg 28 und Lk 4, in: J. Kremer (Hg.), Les Actes des Apôtres. Traditions, rédaction, théologie, BETHL 48, Leuven 1979. R. Metzner, Die Prominenten im Neuen Testament. Ein prosopographischer Kommentar, NTOA 66, Göttingen 2011, 550-555.

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II. Die Wundererzählungen in den Johannesakten

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Hinführung zu den Wundererzählungen in den Johannesakten Da die griechisch überlieferten Johannesakten wohl spätestens ab dem 4. Jh. unserer Zeitrechnung (vgl. Eus. h.e. 3,25,6) als häretisch galten, sind uns heute nur noch umfangreiche Passagen des Gesamttextes (zum Teil als Abschnitte in den späteren Akten des Pseudo-Prochorus) überliefert. Die ursprüngliche Abfolge des Texts – erhalten sind wohl etwa zwei Drittel des Originals – muss deswegen rekonstruiert werden. Eine Sonderstellung innerhalb der erhaltenen Abschnitte nehmen ActJoh 87-105 ein, die man als ein aus der Sicht des Johannes erzähltes »Evangelium« mit Konzentration auf die Ereignisse um den Tod Jesu bezeichnen kann. Viel deutlicher als der Rest des erhaltenen Textes zeigt dieser Abschnitt allerdings einen klar »gnostischen« Einschlag (weiterführend Luttikhuizen 1995) und wird deswegen wohl mit Recht gerne als separat entstandener, den Johannesakten hinzugefügter Text gesehen. Wo und wann die Johannesakten entstanden sein mögen, bleibt umstritten – diskutiert wird Ägypten, Syrien und Kleinasien, wobei Ephesus selbst wegen der mangelhaften Kenntnisse des Autors von dieser Stadt wohl ausfällt; die besten Argumente sprechen wohl für Alexandrien in Ägypten (Junod/Kaestli 1983; Czachesz 2007b, 120-122). Bei der Datierung ist man vor allem auf innere Kriterien angewiesen; insgesamt aber wird eine Einordnung in die Mitte bzw. zweite Hälfte des Jahrhunderts nicht allzu falsch liegen (so etwa Klauck 2005, 32). Da das Evangelium der ActJoh 87-105 für die Frage nach »Wundern der Apostel« nicht relevant ist, kann die Frage nach seinen Entstehungsumständen hier ausgeklammert werden. Der erhaltene Teil der Johannesakten wiederum bietet im Grunde – mit Ausnahme des Evangeliums der ActJoh 87-105 – eine Aneinanderreihung von sieben Erzählungen, die sich um Wunder des Apostels drehen und schließlich in die Erzählung von seinem Tod münden. Die Frage, inwiefern ihr Ablauf tatsächlich eine graduelle Entwicklung des Plots der Erzählung widerspiegelt (Bolyki 1995, 16f.), ist nicht ganz einfach zu beantworten: Es liegt uns ja kein Original der Johannesakten mehr vor, und zudem stellt sich die Frage, ob etwa das in ActJoh 60f. erzählte Wunder von den gehorsamen Wanzen – vom Text selbst als παίγνιον (paignion – kurzes, leichtes Stück; vgl. παῖς pais – Knabe, Kind!) bezeichnet – wirklich gegenüber dem Vorherigen einen Fortschritt in der Handlung markiert oder eher ein Intermezzo darstellt, das vor den dramatischeren Abschnitt um Drusiana und Kallimachos (ActJoh 63-84) eingefügt ist (zum Genre des Abschnitts Bolyki 1995, 28).

Wundererzählungen in den Johannesakten Folgende grundsätzlichen Beobachtungen scheinen interessant: Noch deutlicher als etwa die in den Evangelien des Neuen Testaments berichteten Machttaten und Zeichen Jesu stehen die Wunder der Johannesakten in 299

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Zusammenhang mit der Mission bzw. werden sie mit Konversionen verknüpft. Als sichtbare Machttaten Gottes bzw. Christi überwältigen die hier erzählten Wunder geradezu. Dies ist allerdings nicht ganz ungebrochen: Der Text muss zugeben, dass nicht alle Zeugen der Wunder des Apostels angemessen reagieren, und wirft etwa den Artemisanhängern von Ephesus vor, trotz aller durch den Apostel gewirkten Wunder und Heilungen weiterhin an einer verkehrten Frömmigkeit festzuhalten (ActJoh 39). Anders als die häufig nur recht knapp erzählten und auf die entscheidenden Formelemente reduzierten Wundererzählungen etwa der Evangelien des Neuen Testaments sind die in den Johannesakten erzählten Wunder nicht einfach isolierte Perikopen, sondern meist in größere, zum Teil recht komplexe Erzählzusammenhänge eingebettet. Eine große Rolle spielen dabei immer wieder recht ausführliche Gebete und Reden des Apostels, die das Geschehene theologisch deuten (weiterführend Herczeg 1995). So bieten die ActJoh 19-24 zwei ineinander verwobene Erzählungen von Tod und Auferweckung eines Ehepaares. In der (aus Sicht des Textes zu geringem Vertrauen in den Apostel entspringenden) Klage um seine seit Tagen leblose Ehefrau – der Text lässt lange in der Schwebe, ob sie wirklich als »tot« einzustufen ist – stirbt Lykomedes, worauf zunächst seine Frau Kleopatra und dann erst er auferweckt werden. Doch nicht nur die eigentliche Auferweckung der beiden kann an sich als wunderhaft gelten: Lykomedes kommt Johannes bereits auf dessen Weg nach Ephesus entgegen und fällt vor ihm nieder, da er bereits durch eine nicht näher beschriebene Gestalt Vorwissen darüber hat, dass Johannes seine Frau retten wird (ActJoh 19). Als er seine Frau offenbar tot vorfindet, spricht er davon, dass ihn das »Auge seiner Feinde«, also offenbar der »böse Blick«, getroffen habe – ganz offenbar setzt er einen Schadenszauber voraus. Auch die Erzählung von der Heilung der alten Frauen in Ephesus (ab ActJoh 30) zieht sich über mehrere Paragraphen hin. So erbittet Johannes schon laut ActJoh 30 von Jesus die Gnade, die kranken alten Frauen zu heilen, und in ActJoh 31 kündigt er ein Zeichen der Macht Gottes an, so dass sich die Erwartung der Leserin und des Lesers bereits auf eine Heilungsgeschichte richtet. Die ActJoh 33-36 jedoch zerreißen den Erzählfaden durch eine ausführliche Rede des Apostels, nach der es zur Heilung aller Krankheiten kommt. Wie dieser dann wieder aufgenommen wird, ist leider nicht mehr rekonstruierbar, da ab ActJoh 37 ein Stück fehlt. Überaus ausführlich erzählt ist auch die Erzählung um Drusiana und Kallimachos (ActJoh 63-84), in deren Verlauf es gleich zu mehreren wunderbaren Taten und Ereignissen kommt, dabei aber neben »menschlichen« Figuren der Erzählung auch ein Engel und eine Schlange auftreten. So erzählen die Johannesakten natürlich Wundergeschichten, diese jedoch stehen im Dienst eines Plots, dem es um die Durchsetzung der Macht Gottes (bzw. Christi) in einer unter der Macht des Bösen stehenden paganen Welt geht. Dieser Plot zeigt romanhafte Züge, dies jedoch heißt nicht, dass dabei die theologische Aussage total zurücktritt. Vielmehr verlangt die antiken Romanen verwandte Form der Johannesakten einen Umgang mit dem er300

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Hinführung

zählten Material, wie hier beschrieben. Die Möglichkeiten, in diesem Rahmen narrativ Theologie zu entfalten, sind damit nicht geringer als etwa in den synoptischen Evangelien. Unter den in den Johannesakten begegnenden Formen von Wundergeschichten nehmen Erzählungen von der Wiederbelebung bzw. Auferweckung Verstorbener eine überraschend breite Rolle ein, wobei vor allem in der ersten Szene dieser Art, der Erweckung der Kleopatra und des Lykomedes (ActJoh 19-24), die Grenzen zwischen todesähnlichem Zustand und Tod verwischen. Hinzuzufügen wären die in ActJoh 46-47 erzählte Auferweckung eines Artemispriesters, die Erweckung eines von seinem ungehorsamen Sohn getöteten Vaters (ActJoh 51-52) und die Auferweckung der Drusilla und des Kallimachos (sowie die im Grunde scheiternde Auferweckung des Fortunatus; ActJoh 63-86). Auch hier geht es dem Text natürlich darum, die Macht Gottes bzw. Christi zu erweisen, wie etwa am Ende von ActJoh 46 deutlich wird, wo Johannes die Auferweckung des toten Artemispriesters mit den folgenden Worten ankündigt: »Unser Herr ist Jesus Christus, der seine Macht (δύναμις dynamis) an deinem toten Verwandten erweisen wird, indem er ihn auferweckt«. Mit diesen Machterweisen aber soll der Apostel nicht einfach als »göttlicher Mensch« dargestellt werden, der mit Hilfe seines Gottes Tote lebendig machen kann. Es geht diesen Erzählungen jeweils um den Beginn eines neuen Lebens, das mit der Bekehrung zu Christus einhergeht. Götzendiener wie die Anhänger der Artemis dagegen sind, obwohl lebend, im Grunde als »tot« anzusehen (ActJoh 39). Besonders schön – durchaus mit einer Prise Humor gewürzt – zeigt sich dieser Gedanke etwa in ActJoh 52, wo der auferweckte Greis sich geradezu darüber beschwert, dass er nun wieder in ein Leben voller Lieblosigkeit zurückgerufen werde. Johannes stimmt ihm nur teilweise zu: »Wenn du (nur) dazu auferstehen würdest, wäre es besser für dich, tot zu sein. Zu Besserem erstehe!« Noch auf dem Weg in die Stadt kommt es zur Bekehrung des alten Mannes: Sein nun geschenktes Leben hat im Glauben eine neue Qualität bekommen. Sehr deutlich bringt dies auch die Auferweckung des verstorbenen Artemispriesters zum Ausdruck. Dieser wird zwar im Auftrag des Johannes durch seinen eigenen Verwandten ins Leben zurückgerufen, damit aber ist das Entscheidende noch nicht vollbracht. Als Johannes ihn sieht, sagt er: »Obwohl du auferstanden bist, lebst du jetzt (noch) nicht, da du noch nicht Teilhaber und Erbe des wahren Lebens bist. Willst du zu dem gehören, durch dessen Namen und Macht du auferstanden bist? So glaube nun, und du wirst in alle Ewigkeit leben« (ActJoh 47). Dieser Gedanke wird auch in der langen Szene um Drusiana und Kallimachos (ActJoh 63-86) bestätigt und weitergeführt. Die gläubige und, obwohl mit Andronikus verheiratet, asketisch lebende Drusiana stirbt zutiefst unglücklich, weil sich ein Mann, der zunächst nur als »Abgesandter des Satans« (ActJoh 63) beschrieben ist, in sie verliebt, obwohl sie selbst mit ihrem Ehemann keinen Verkehr hat. Vom Satan besessen, versucht ihr immer noch nicht namentlich genannter Liebhaber, unter Mithilfe des Verwalters ihres Ehemanns, Fortunatus, schließlich ihre Leiche zu schänden (ActJoh 70); beide werden aber im letzten Moment durch eine Schlange daran gehindert. Als Johannes und die Trauernden am dritten Tag nach dem Tode Drusianas das Grab mit 301

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Die Wundererzählungen in den Johannesakten

Hilfe eines Türöffnungswunders betreten, finden sie dort nicht nur einen Engel, sondern den durch den Biss einer Schlange getöteten Fortunatus sowie ihren Liebhaber, jetzt als Kallimachos bezeichnet, der unter der riesigen Schlange liegt (ActJoh 72f.). Kallimachos, bei dem erst jetzt klar wird, dass er tot ist, wird von der Schlange befreit und ins Leben zurückgerufen. Nicht die Schlange, sondern der Engel habe ihn mit den Worten »Stirb, damit du lebst« (ActJoh 76) getötet. Sein neues Leben sei wiederum erst nach seiner Bekehrung zu Christus möglich. Dass der Text hier im Grunde narrativ in (durchaus unterhaltsame) Wundererzählungen gekleidete Tauftheologie zu vermitteln sucht, zeigt sich auch in der Fortführung der Erzählung: Auch Drusiana wird von den Toten erweckt und bittet nun auch um die Rettung des Fortunatus. Tatsächlich wird auch dieser – vom Text als noch schlimmer als Kallimachos beschrieben – (durch Drusiana) auferweckt, er aber kommt zu keinem Bekenntnis, sondern flieht aus der Grabkammer. Während die Geretteten noch in der Grabkammer gemeinsam das Brot brechen, stirbt Fortunatus draußen auf eine Weise, die an den bei Papias von Hierapolis beschriebenen Tod des Judas erinnert. Entscheidend sind daneben Exorzismen und Heilungen, in denen es weniger um die nach außen erkennbare Veränderung des Zustands eines Geheilten als um den vollzogenen Machtwechsel geht – der Geheilte wechselt aus der Macht des Teufels bzw. dämonischen Mächten in den Machtbereich Christi, der es auch ist, welcher ihn heil macht. Die einzige Ausnahme ist Fortunatus, der als »Teufelskind« (ActJoh 86) deswegen unmittelbar nach seiner Erweckung erneut zu Tode kommt. Dieser Gedanke zeigt sich auch in der (nicht vollständig überlieferten) Erzählung von der Heilung der alten Frauen in Ephesus. Als Johannes erfährt, dass nur vier der alten Frauen in Ephesus bei guter Gesundheit sind, führt er dies unmittelbar auf den Einfluss des Teufels zurück (ActJoh 30). Noch klarer wird dies beim Exorzismus der Söhne des Antipatros in Smyrna (ActJoh 56f.), die seit ihrer Geburt unter dem Einfluss von Dämonen leben. Während Antipatros in seiner Verzweiflung schon daran denkt, die beiden zu vergiften, macht der Apostel nicht nur ihre Heilung möglich, sondern tauft sie und ihren Vater. Dass es dem Text um die in wunderbaren Ereignissen demonstrierte Macht des einen mit Christus identifizierten Gottes gegen die Vielfalt der Götter der heidnischen Umwelt ankommt, zeigt sich auch in dem die Machtlosigkeit der Artemis demonstrierenden Wunder der Zerstörung von Altar und Tempel der Artemis von Ephesus (ActJoh 37-45). Im Anklang an die Auseinandersetzung des Elija mit den Baalspriestern (1  Kön 18) schlägt Johannes zunächst einen Gebetskampf vor, bei dem beide Seiten jeweils ihren Gott anrufen, den anderen zu töten. Als die Anhänger der Artemis aus Angst vor dieser Auseinandersetzung zurückschrecken (ActJoh 40), bittet Johannes Gott darum, den an diesem Ort lebenden Dämon – Artemis – zu vertreiben, worauf Altar und Tempel zerbersten und die vorher ungläubige Volksmenge zu folgendem Bekenntnis kommt: »Jetzt haben wir uns bekehrt, da wir deine Wunder sehen« (ActJoh 42). Man könnte im Grunde also auch diese Szene als einen Exorzismus bezeichnen, einen Exorzismus aber, der an einem Ort – dem Heiligtum der Artemis – durchgeführt wird. 302

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Hinführung

Interessanterweise kann anders als in den kanonischen Evangelien oder der Apostelgeschichte die Fähigkeit, Wunder zu tun, vom Apostel auf andere Personen übertragen werden (so auch Bolyki 1995, 19; vgl. aber auch die Thomasakten). Bereits in ActJoh 22-25, am Ende der Szene um Kleopatra und Lykomedes (in Ephesus), wird deutlich, dass das eigentliche Wunder »im Namen Jesu Christi« geschieht (ActJoh 22). Dabei spricht Johannes geradezu in Christi Namen (ActJoh 23). Und als schließlich Kleopatra auf Geheiß des Apostels ihren geliebten Mann zurück ins Leben ruft, bleibt sie jedoch ganz »Werkzeug« und »Stimme« des Apostels, erfüllt an ihrem Mann genau das, was der Apostel von ihr verlangt (ActJoh 24), worauf Lykomedes das Geschehene weiterhin als ein Wunder des Apostels im Namen seines Gottes (ActJoh 25) deutet. Stattdessen erweckt die eben erst wiederbelebte Drusiana »auf eigene Faust«, jedoch ganz mit der Erlaubnis des Apostels, den Fortunatus zum Leben. Als Gläubige richtet sie ein Bittgebet an Christus, den »Gott der Äonen« bzw. »Gott der Wahrheit, der […] mir Wunder und Zeichen zu sehen gewährt« hat, dass dieser, wie er an ihr gehandelt hat, nun auch Fortunatus zum Leben erweckt. Dieser ersteht tatsächlich, bleibt aber im Unglauben, flieht und kommt durch einen Schlangenbiss zu Tode. So ist zwar der Apostel in besonderer Weise Vertreter Christi; die Möglichkeit jedoch, von dem Leben spendenden Christus Wunder zu erbitten, ist letztlich jedem Glaubenden zugänglich. Eigenartig ist die Szene von den »gehorsamen Wanzen« in ActJoh 60f., eines der merkwürdigsten Tierwunder, die sich in apokryphen Apostelakten finden. Es handelt sich im Grunde um ein Intermezzo, das, wie bereits angedeutet, vom Text selbst als »Paignion«, d.h. als »scherzhafte« Szene, eingeordnet wird, womit sicherlich eine gewisse Distanz zum Erzählten ausgedrückt ist. Als der Apostel mit seinen Gefährten in einer verlassenen Herberge nächtigt, finden sich dort zahllose Wanzen. Auf Befehl des Apostels verlassen diese jedoch den Raum, warten die Nacht über an der Tür und kehren erst am Morgen, als der Apostel seinen Schlaf beendet hat, in den Raum zurück. Dies mag aufgrund des im Griechischen möglichen Wortspiels zwischen »Wanzen« und »jungen Mädchen«, die sich vom Bett des Apostels fernhalten sollen, durchaus als ein Indiz für die enkratitischen Tendenzen des Textes zu deuten sein (vgl. Klauck 2005, 39f.; weiterführend Spittler 2008, 96-109). Den theologischen Schlüssel für die Szene bildet aber sicherlich ihr Schluss: »Dieses Lebewesen hörte die Stimme eines Menschen, bleibt für sich und übertritt (den Befehl) nicht. Wir aber, die wir die Stimme Gottes hören, sind seinen Geboten ungehorsam und leichtfertig – wie lange (wohl) noch?« (ActJoh 61).

Theologie der Wundererzählungen Die in den Johannesakten erzählten Wundererzählungen ordnen sich in ein größeres Ganzes ein, das dem Leser immer wieder ins Gedächtnis gerufen wird: Obwohl wir den Plot der Johannesakten nicht mehr im Detail rekonstruieren können, wird 303

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Die Wundererzählungen in den Johannesakten

doch klar, dass es dem Text darum geht zu erzählen, wie die Großtaten Gottes durch den Apostel in einer durch Dämonen geknechteten Welt geradezu im Siegeszug von Ort zu Ort gelangen und dabei, wie sich besonders in der Szene von der Zerstörung des Artemistempels (ActJoh 37-45) zeigt, die Macht der Götzen und Dämonen zerbricht, ja selbst ihre Anhänger sich nun dem wahren Gott zuwenden und damit zum Leben gelangen (ActJoh 46f.). In den Wundern, die immer mit Gebeten zu Gott bzw. Christus verbunden werden, erweist sich die Macht des Gottes, den der Apostel verkündet und der immer wieder direkt mit Christus identifiziert wird (zur Christologie vgl. Lalleman 1998a, 153-215). Die Erzählungen illustrieren Konversion (z.T. vor dem Hintergrund von bleibender, zum Tode führender Ablehnung). Ohne auf eine direkte literarische Abhängigkeit zu pochen, könnte man sie geradezu als narrative Umsetzung der in 1 Thess 1,9 (im Hinblick auf die Thessalonicher) formulierten Bekehrung von den Götzen zum lebendigen und wahren Gott verstehen. Dies zeigt sich etwa in ActJoh 31, wo Johannes dazu einlädt, ins Theater von Ephesus zu kommen, um anhand der Heilung der kranken alten Frauen von Ephesus die Macht Gottes »sehen« zu können. Ähnlich spricht auch ActJoh 43 davon, dass in der Zerstörung des Artemistempels die »unsichtbare Macht Gottes« offenkundig geworden sei. Zumindest einige der Wundererzählungen der Johannesakten illustrieren zudem ethische Grundanliegen des Textes (vgl. ähnlich die Thomasakten), wobei die stark enkratitische Haltung des Textes auffallend ist: Besonders deutlich wird dies in der Erzählung von Drusiana und Kallimachos (ActJoh 63-86), aber auch in der Bekehrung des jungen Mannes, der seinen Vater umbrachte, weil der ihn ermahnte, ein keusches Leben zu führen (ActJoh 48-54), während die Wanzenszene zur (erbaulich-scherzhaften) Illustration der Idee des Gehorsams gegenüber Gottes Wort ausgebaut wird. Tobias Nicklas

Literatur zum Weiterlesen Textausgaben und Übersetzungen E. Junod/J.-D. Kaestli, Acta Iohannis, 2 Bde., CChr.SA 1-2, Turnhout 1983. E. Junod/J.-D. Kaestli, Actes de Jean, in: F. Bovon/P. Geoltrain (Hg.), Écrits apocryphes chrétiens, Paris 1997, 973-1037. R. A. Lipsius/M. Bonnet, Acta Apostolorum Apocrypha, Bd. 2/1, Hildesheim 1959, 151-216 (Nachdr. der Ausgabe von 1898). R. I. Pervo, The Acts of John, ECA 6, Salem 2015a. K. Schäferdiek/R. Uiginn, Johannesakten, in: W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen, Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61997, 138-193.

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Hinführung

Weitere Literatur J. Bolyki, Miracle Stories in the Apocryphal Acts of John, in: J. N. Bremmer (Hg.), The Apocryphal Acts of John, SAAA 1, Kampen 1995, 15-35. J. N. Bremmer (Hg.), The Apocryphal Acts of John, SAAA 1, Kampen 1995a (mit umfangreicher Bibliographie). I. Czachesz, Commission Narratives. A Comparative Study of the Canonical and Apocryphal Acts, SECA 8, Leuven 2007b. P. Herczeg, Sermons in the Acts of John, in: J. N. Bremmer (Hg.), The Apocryphal Acts of John, SAAA 1, Kampen 1995, 153-170. H.-J. Klauck, Apokryphe Apostelakten. Eine Einführung, Stuttgart 2005 (mit Bibliographie). P. J. Lalleman, The Acts of John. A Two Stage Initiation into Johannine Gnosticism, SAAA 4, Leuven 1998a. G. P. Luttikhuizen, A Gnostic Reading of the Acts of John, in: J. N. Bremmer (Hg.), The Apocryphal Acts of John, SAAA 1, Kampen 1995, 119-152. J. A. Snyder, Language and Identity in Ancient Narratives. The Relationship between Speech Patterns and Social Context in the Acts of the Apostles, the Acts of John and Acts of Philip, WUNT 2/370, Tübingen 2014. J. E. Spittler, Animals in the Apocryphal Acts of the Apostles. The Wild Kingdom of Early Christian Literature, WUNT 2/247, Tübingen 2008.

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Tabelle: Wunder in den Johannesakten Nr. ActJoh-Faden

Titel

davon kommentiert im Kompendium

1

ActJoh 19-24

Die ersten Machttaten Gottes in Ephesus (Die Heilung der Kleopatra und die Auferweckung des Lykomedes)

ActJoh 19-24; Hinführung ActJoh

2

ActJoh 30-36

»Girls Day« (Die Heilung der alten Frauen in Ephesus)

ActJoh 30-36; Hinführung ActJoh

3

ActJoh 37-45

Lebens-entscheidender Wettstreit der Götter (Heilung vieler Krankheiten in Ephesus; Prodigium vor Artemisstatue)

ActJoh 37-45; Hinführung ActJoh

4

ActJoh 46f.

Bekehrung praktisch: Verwandtschaft mit Jesus (Totenauferweckung des Artemispriesters)

ActJoh 46f.; Hinführung ActJoh

5

ActJoh 48-54

Die fatalen Folgen eines Ehebruchs (Totenauferweckung des ermordeten Vaters)

ActJoh 48-54; Hinführung ActJoh

6

ActJoh 56f.

Bargeld nicht akzeptiert (Die Heilung der Söhne des Antipatros)

ActJoh 56f.; Hinführung ActJoh

7

ActJoh 60f.

Der Herr der Wanzen (Die gehorsamen Wanzen)

ActJoh 60f.; Hinführung ActJoh

8

ActJoh 63-86 (insb. 74-84)

»Stirb, damit du lebst!« (Die Totenauferweckungen des Kallimachos, der Drusiana und des Fortunatus)

ActJoh 63-86; Hinführung ActJoh

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Die ersten Machttaten Gottes in Ephesus (Die Heilung der Kleopatra und die Auferweckung des Lykomedes) ActJoh 19-24 Die erste Wundererzählung im erhaltenen Textbestand der Johannesakten ist im Zusammenhang des Eintreffens des Johannes und seiner Reisebegleiter in der Stadt Ephesus verankert, es ist die erste der ephesinischen Episoden (ActJoh 18-55) und daher mit gewisser Wahrscheinlichkeit tatsächlich der Beginn des ›Zyklus‹ von Wundertaten des Apostels. Vorher (ActJoh 18) wird erzählt, dass Johannes mit vier Reisebegleitern (Dämonikus, Aristodemus, Kleobius, der als sehr reich bezeichnet wird, und der Frau des Markellus) nach Ephesus zieht. Eine Vision soll diese Reise veranlasst haben, daher hat es Johannes eilig und lässt sich ungern aufhalten. Auf dem Weg zwischen Milet und Ephesus hören er und seine Begleiter eine Himmelsstimme, die verheißt, dass Johannes seinem Herrn (d.h. Christus) in Ephesus Ruhm verschaffen solle, und dass einige durch ihn zum Glauben kommen werden. Johannes drückt in einem schlichten Gebet seine Bereitschaft aus, Christi Werkzeug zu sein: »Herr, sieh, in deinem Willen gehe ich. Es geschehe, was du willst«. Nach dieser narrativen ›Vorbereitung‹ beginnt die Episode. (19) Als wir uns der Stadt näherten, kam uns Lykomedes, der Strategos der Epheser, ein wohlhabender Mann, entgegen und fiel Johannes zu Füßen und bat: »Ist Johannes dein Name? Der Gott, den du verkündigst, hat dich gesandt zu einer Wohltat an meiner Frau, die schon sieben Tage gelähmt ist und unheilbar daliegt. Doch nun verherrliche deinen Gott dadurch, dass du sie heilst, aus Mitleid mit uns! Denn als ich schon in Betracht zog, dem Rechnung zu tragen, trat jemand zu mir und sagte: ›Lykomedes, lass ab von dem Gedanken, der gegen dich kämpft, denn er ist schlecht. Unterwirf dich ihm nicht. Denn ich habe mich erbarmt über meine Magd Kleopatra und aus Milet einen Mann namens Johannes gesandt, der sie aufstehen lassen und dir gesund wiedergeben wird‹. Nun säume nicht, Knecht des Gottes, der dich mir offenbart hat, sondern eile zu meiner Frau, die eben noch Atem hat.« Da ging Johannes sofort zusammen mit den Brüdern, die bei ihm waren, und Lykomedes vom Tor zu dessen Haus. Kleobius sagte aber zu seinen Dienern: »Geht zu meinem Verwandten Kallippus und lasst euch von ihm eine angenehme Unterkunft geben – denn ich komme mit meinem Sohn dahin –, so dass wir alles vorbereitet vorfinden.« (20) Als aber Lykomedes mit Johannes in das Haus kam, in dem die Frau lag, fasste er erneut seine Füße und sprach: »Sieh, Herr, die verwelkte Schönheit, sieh die Jugend, sieh die berühmte Blüte meiner un307

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Die Wundererzählungen in den Johannesakten

glücklichen Frau, derentwegen ganz Ephesus außer sich geriet! Man hat mich Unglücklichen beneidet, man hat mich gedemütigt, das Auge der Feinde hat mich getroffen! Niemals habe ich, obwohl ich doch viele hätte schädigen können, jemandem Unrecht getan, weil ich gerade dies vor Augen hatte und mich vorsah, damit ich nicht etwas Böses oder ein derartiges Unglück sehen möge. Was hat es nun genützt, Kleopatra, dass ich so achtsam war? Welchen Wert hatte es, bis heute als ein Frommer gegolten zu haben? Ich leide Schlimmeres als ein Gottloser, da ich dich, Kleopatra, so daliegen sehe. Die Sonne soll mich nicht mehr sehen bei ihrem Lauf, wenn du nicht mehr mit mir in Verbindung stehst. Ich will dir zuvorkommen, Kleopatra, und mich selbst vom Leben lösen. Ich will mein Wohlergehen nicht schonen, obwohl ich noch so jung bin. Ich will mich vor Dike verantworten, da ich (ihr) gerecht gedient habe, wenn es statthaft ist, dass mit ihr gerechtet wird, denn sie richtet ungerecht. Ich werde sie zur Verantwortung ziehen, wenn ich als (bloßes) Trugbild des Lebens hinkomme (zu ihr). Ich werde zu ihr sagen: Du hast mich des Lichtes beraubt, da du mir Kleopatra entrissen hast. Du hast mich zum Toten gemacht, da du veranlasst hast, dass mir so geschieht. Du hast mich genötigt, gegen die Vorsehung zu handeln, da du meine Zuversicht zunichte gemacht hast.« (21) Und noch mehr sagte Lykomedes zu Kleopatra, trat an ihr Bett und klagte schreiend. Doch Johannes zog ihn fort und sprach: »Lass ab von diesen Klagen und deinen unangemessenen Worten! Es schickt sich nicht für dich als einen Schauenden, ungläubig zu sein. Du sollst ja deine Lebensgefährtin zurückbekommen. So tritt nun hin mit uns, die wir um ihretwillen gekommen sind, und bete zu dem Gott, den du gesehen hast, wie er sich dir durch Träume gezeigt hat! Nun – was ist, Lykomedes? Wache selbst aus dem Schlaf auf und öffne deine Seele! Wirf den tiefen Schlaf von dir ab! Bitte den Herrn, rufe ihn an für deine Lebensgefährtin und sie wird aufstehen.« Doch er fiel zu Boden und klagte aus ganzer Seele. Da sprach Johannes unter Tränen: »Ach, neuer Verrat des Gesichtes! Ach, neue Versuchung, die mir bereitet ist! Ach, neuer Plan dessen, der arglistig gegen mich handelt! Hat die Stimme vom Himmel, die auf dem Wege an mich ergangen ist, dieses mit mir unternommen? Hat sie mir dies angekündigt, das, was hier geschehen soll, da sie mich einer solchen Menge von Bürgern ausliefert wegen Lykomedes? Der Mann liegt leblos da, und ich weiß wohl, dass man mich nicht lebendig aus dem Haus gehen lassen wird. Warum zauderst du, Herr? Warum hast du uns deine gütige Verheißung entzogen? Nein, ich bitte dich, Herr, gib nicht dem, der an fremdem Unglück Lust hat, Anlass, fröhlich zu springen; gib nicht dem, der uns immer verlacht, Anlass zu tanzen! Vielmehr eile dein heiliger Name und dein Erbarmen: Erwecke die beiden Leichname, die durch ihren Tod Anlass zur Feindseligkeit gegen mich geworden sind!« 308

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Die ersten Machttaten Gottes in Ephesus ActJoh 19-24

(22) Und da Johannes noch solche Worte ausrief, lief die Stadt der Epheser zusammen zum Haus des Lykomedes (in der Annahme), er sei gestorben. Als aber Johannes die große Menge sah, die zusammengekommen war, sprach er zum Herrn: »Jetzt ist die Zeit der Erquickung und der Zuversicht zu dir, Christus. Jetzt ist für uns Müde die Zeit der Hilfe von dir, Arzt, der du umsonst heilst. Bewahre meinen Eingang hierher frei von Spott: Ich bitte dich, Jesus, verhilf einer so großen Menge dazu, zu dir zu kommen, dem Gebieter über das All. Sieh die Bedrängnis: Sieh die Daliegenden! Rüste du auch von denen, die darum zusammengekommen sind, heilige Werkzeuge für deinen Dienst zu, wenn sie deine Gabe gesehen haben. Denn du selbst, Christus, hast gesagt: ›Bittet, und es wird euch gegeben!‹ Wir bitten dich nun, König, nicht um Gold, nicht um Silber, nicht um Besitz, nicht um Schätze noch um irgendetwas von dem, das auf Erden ist und vergeht, sondern um zwei Seelen, durch die du diejenigen, die glauben werden, zu deinem Weg bekehren wirst, zu deiner Unterweisung, zu deiner Zuversicht, zu deiner vornehmsten Verheißung. Denn einige von ihnen werden, wenn sie deine Macht durch die Auferweckung der Entseelten begriffen haben, gerettet werden. So verleihe auch selbst Hoffnung auf dich! Darum will ich nun zu Kleopatra hingehen und sagen: ›Stehe auf im Namen Jesu Christi!‹« (23) Und er ging hin, berührte ihr Gesicht und sagte: »Kleopatra, so spricht zu dir der, den jeder Machthaber und jede Kreatur, jede Gewalt, sowohl jeder Abgrund als auch jede Finsternis, der freudlose Tod, die Höhen der Himmel und die Krümmungen der Hölle, die Auferstehung der Toten und das Gesicht der Blinden, die gesamte Gewalt des Weltherrschers und der Hochmut des Machthabers fürchten: Steh auf und werde nicht zum Vorwand für viele, die nicht glauben wollen, und zur Bedrängnis der Seelen, die zu hoffen und gerettet zu werden vermögen!« Da rief Kleopatra sogleich mit lauter Stimme: »Ich stehe auf, Gebieter, rette deine Kleopatra!« Als sie aber aufgestanden war nach sieben Tagen, wurde die Stadt der Epheser aufgewühlt über den unbegreiflichen Anblick. Kleopatra aber fragte nach ihrem Mann Lykomedes. Da sagte Johannes zu ihr: »Kleopatra, behältst du deine Seele unerschütterlich und unveränderlich, so wirst du deinen Lebensgefährten Lykomedes auf der Stelle hier bei dir stehen haben, wenn du dich nämlich durch das, was geschehen ist, nicht erschüttern noch erregen lässt, da du gläubig geworden bist an meinen Gott, der ihn (dir) durch mich lebendig (wieder) schenken wird. Komm mit mir in dein anderes Schlafzimmer, und du wirst ihn als Gestorbenen sehen, aber durch die Kraft meines Gottes als Erstandenen.« (24) Und als Kleopatra mit Johannes in ihr Schlafzimmer kam und Lykomedes sah, gestorben um ihretwillen, verschlug es ihr die Stimme, sie knirschte mit den Zähnen, biss sich auf die Zunge, schloss ihre Augen und ließ Tränen hervorströmen, und still wandte sie (ihre Aufmerk309

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Die Wundererzählungen in den Johannesakten

samkeit) dem Apostel zu. Johannes aber hatte Mitleid mit Kleopatra; als er sah, dass sie nicht von Sinnen ist noch außer sich geriet, rief er das vollkommene und nicht überhebliche Erbarmen an und sprach: »Herr Jesus, du siehst, was (sie) bedrängt; du siehst die Not; du siehst, wie Kleopatra in ihrer Seele laut aufschreit durch ihr Schweigen; denn sie behält in sich das unerträgliche Rasen (ihres Schmerzes). Meine Seele erahnt es, Gebieter. Ich weiß aber, dass um Lykomedes willen auch sie noch sterben wird.« Und sie sagte leise zu Johannes: »Das erwäge ich, Gebieter, und sonst nichts.« Da trat der Apostel ans Lager, auf dem Lykomedes lag, ergriff Kleopatras Hand und sprach: »Kleopatra, der Menge wegen, die dabeisteht, und wegen deiner Verwandten, die hinzugekommen sind, sprich mit lautem Geschrei zu deinem Mann: ›Steh auf, preise den Namen Gottes, denn er schenkt Toten Tote.‹« Und als sie hinzutrat und zu ihrem Mann sprach, wie ihr gelehrt war, da erweckte sie ihn zugleich. Er aber stand auf, fiel zu Boden und küsste die Füße des Johannes. Doch der hob ihn auf und sagte: »Nicht meine Füße küsse, Mensch, sondern die des Gottes, durch dessen Macht ihr beide aufgestanden seid!« (25) Lykomedes aber sagte zu Johannes: »Ich bitte dich und beschwöre dich bei dem Gott, in dessen Namen du uns erweckt hast, bei uns zu bleiben gemeinsam mit allen, die mit dir sind.« Ebenso berührte auch Kleopatra seine Füße und sagte dasselbe. Johannes aber sagte zu ihnen: »Morgen werde ich bei euch sein.« Doch jene sprachen wieder zu ihm: »Wir haben (ja noch) keine Hoffnung auf deinen Gott; vielmehr wären wir umsonst auferweckt, wenn du nicht bei uns bliebest.« Auch Kleobius gemeinsam mit Aristodemus sowie Dämonikus sagten, in der Seele betroffen, zu Johannes: »Lasst uns bei ihnen bleiben, damit sie unanstößig beim Herrn bleiben.« Und er blieb dort mit den Brüdern.

Sprachlich-narratologische Analyse Textstruktur und Erzählgefüge: Die vorliegende Episode kennt als handelnde Personen den Apostel Johannes sowie Lykomedes, ein »Strategos der Epheser«, d.h. ein hoher städtischer Beamter, und seine Frau Kleopatra, die unheilbar krank daliegt. Die Stadtbewohner von Ephesus treten nur am Rande als Zeugen auf. Auch die Reisebegleiter des Johannes bleiben Statisten. Die Frau des Marcellus wird nicht mehr erwähnt, als die anderen drei am Ende der Erzählung wieder genannt werden (ActJoh 25). Aus einer kurzen Zwischennotiz (ActJoh 19) geht hervor, dass Kleobius offenbar noch von seinem Sohn und Dienern begleitet wird und eine gute Unterkunft der Gruppe bei einem Verwandten namens Kalippos organisiert. Die Handlung ist relativ übersichtlich: Lykomedes kommt Johannes aus Ephesus entgegen und bittet ihn zu seinem Haus, wo seine Frau krank darniederliegt. An ihrem Bett klagt er über ihre Krankheit und will sich vor Gram und Enttäuschung 310

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Die ersten Machttaten Gottes in Ephesus ActJoh 19-24

das Leben nehmen. Johannes fordert ihn auf, zu glauben und für sie zu beten, doch er bricht in Trauer tot zusammen. Daraufhin klagt Johannes, der angesichts des Todes des Lykomedes um sein Leben fürchtet, Gott seine Enttäuschung und Not. Als sich die Stadtbürger in der Meinung, Lykomedes sei gestorben, vor seinem Haus versammeln, bittet Johannes Gott um die Auferweckung der beiden »Leichname« als Zeichen der Macht Gottes. Er tritt zu Kleopatra und gebietet ihr aufzustehen, und als dies geschieht, geraten die Stadtbürger in staunende Erregung. Als Kleopatra nach ihrem Mann fragt, ermahnt Johannes sie, aufgrund ihres neuen Glaubens standhaft zu sein. Er führt sie in sein Gemach, und sie lässt sich nicht von ihren Gefühlen hinreißen, sondern bleibt im Anblick des Toten dem Apostel zugewandt. Johannes hat Mitleid mit ihr, betet für sie und weist sie an, ihren Mann aus dem Tod zu erwecken. So ruft sie selbst Lykomedes zum Leben. Dieser steht auf und möchte zunächst Johannes verehren, doch jener mahnt ihn, Gott allein anzubeten. Am Ende drängen die beiden Johannes, in ihrem Haus zu bleiben, damit er ihnen die Hoffnung auf seinen Gott, d.h. den Glauben, weiter vermittle. Johannes und seine Begleiter ändern ihre Pläne, verzichten auf das bereitete Quartier und bleiben bei Lykomedes. In seinem Haus, wo Johannes dann vor einer großen Menge predigt, geht die Erzählung weiter mit der Episode um das von Lykomedes in Auftrag gegebene Bildnis des Johannes (ActJoh 26-29). Im weiteren Erzählverlauf begegnen Lykomedes und Kleopatra als Helfer des Apostels (ActJoh 30), später sogar als seine Reisebegleiter (ActJoh 59). Die Handlung ist durch ausführliche Reden und Gebete auffällig gedehnt. Dadurch wird die erzählerische Spannung erhöht und zugleich – v.a. in den Worten des Johannes – die Deutung des Geschehens vermittelt (vgl. Sirker-Wicklaus 1988, 38 und 24-39): − − − − − −

die Rede des Lykomedes an Johannes (ActJoh 19), die Klage des Lykomedes angesichts seiner kranken Frau (ActJoh 20), die Ermahnung des Johannes an Lykomedes und die Klage des Johannes angesichts der Kraftlosigkeit des Lykomedes und der vermeintlichen Erfolglosigkeit seiner Mission (ActJoh 21), das Gebet des Johannes um die Manifestation der Macht Gottes in der Auferweckung der beiden (ActJoh 22), das Machtwort des Johannes an Kleopatra zu ihrer Heilung und seine Ermahnung an sie (ActJoh 23), das Gebet des Johannes angesichts der Trauer der Kleopatra um ihren toten Mann (ActJoh 24).

Erst gegen Ende (ActJoh 24f.) werden die wörtlichen Reden kürzer und die Handlung dichter. Es handelt sich hier um das erste Wunder der ActJoh, die erste Tat des Johannes in Ephesus. Dabei geht es zunächst auch um den Anfang der Mission: Johannes findet bei Lykomedes schließlich Unterkunft und die Basis für seine weitere Missionsarbeit. So ist es kompositionell begründet, wenn hier noch nicht die gesamte (v.a. ethisch-asketische) Botschaft der ActJoh zu finden ist, auf die das Werk dann hinführt und die in den späteren Episoden (v.a. der Drusiana-Episode, ActJoh 311

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Die Wundererzählungen in den Johannesakten

63-86) ausgeführt wird (vgl. Bolyki 1985, 16f.). Im Vergleich mit kanonischen Texten erscheint die Episode relativ lang und komplex, innerhalb der apokryphen Apostelakten finden sich freilich noch ausgedehntere Episoden wie z.B. die Erzählung um Drusiana und Kallimachos (ActJoh 63-86). In der komplexen Verschränkung von Figuren und Erzählmotiven zeigen sich Züge des antiken Romans. Ein beliebtes Schema antiker Literatur ist das Motiv »paralleler Offenbarungen an zwei verschiedene Personen(kreise)«, das hier (ActJoh 18) aufgenommen ist (vgl. Wikenhauser 1948, 100; vgl. neben Apg 9,10-16 und 10,1-11 noch ActThom 29-34). Des Weiteren sind im vorliegenden Zusammenhang zwei Figuren (mit parallelen Handlungen und z.T. gegensätzlichem Verhalten) und zwei Wunder verschränkt (Junod/Kaestli 1983, 439): Erst tritt Lykomedes mit Johannes in das Haus, wo seine Frau todkrank darniederliegt (ActJoh 20f.), wenig später tritt Kleopatra mit Johannes in das Zimmer, wo ihr Mann tot daliegt (ActJoh 24). Beide drücken ihren Schmerz intensiv aus, und Johannes begegnet dem mit der Aufforderung an Lykomedes, für seine Frau zu beten, bzw. an Kleopatra, ihren Mann zu erwecken. Doch während der Mann trotz der vorherigen Vision über die Hilfe durch Johannes in Schmerz versinkt und stirbt, bleibt die Frau in ihrem Schmerz stark und beherrscht. Während er angesichts ihrer Krankheit stirbt, erhält sie angesichts seines Todes sogar die Kraft, ihren Mann zum Leben zu erwecken. »Johannes ist nicht auf eigene Initiative unterwegs, eine höhere Macht lenkt seine Schritte und führt ihn an die Orte seiner Mission« (Plümacher 2004a, 207). Er selbst ist Werkzeug und Sendbote Gottes, gesandt zur Mission an den Ephesern, und bereit, seinem Willen zu dienen. So ist auch das erzählte Geschehen eingebettet in ein Gefüge göttlicher Zeichen, die das Geschehen letztlich in Gottes Plan verankern: Vorab (ActJoh 18) wird von einer Vision des Johannes berichtet, die seine Reise veranlasste, und einer zusätzlichen Audition auf dem Weg nach Ephesus, worauf er später in seiner Klage zurückverweist (ActJoh 21). Auch Lykomedes berichtet von einer Erscheinung, in der »jemand« zu ihm trat, wohl im Traum (Klauck 2009, 91), und ihm sagte, er habe einen Mann namens Johannes gesandt, der ihm seine Frau gesund wiedergeben werde. Wer dieser »jemand« ist, Gott oder Christus, bleibt offen. Doch kann Lykomedes zu Johannes sagen: »Der Gott, den du verkündigst, hat dich gesandt …« (ActJoh 19), wenngleich er nachher in seiner Trauer diese Botschaft nicht mehr fassen kann. Das erzählte Geschehen wird insofern von Anfang an als providentiell gekennzeichnet und auch im weiteren Verlauf von göttlichen Weisungen und Zeichen begleitet und gelenkt. Alles was geschieht, geschieht zur Förderung der Mission. Die Erzählung ist stark von Emotionen und Gesten geprägt. Der reiche Lykomedes fällt zu Beginn in seiner Bitte (ActJoh 19) Johannes zu Füßen. Er fasst seine Füße, als er über die Krankheit der Kleopatra klagt (ActJoh 20), und will später aus Dankbarkeit über seine Auferweckung Johannes erneut fußfällig verehren und die Füße küssen (ActJoh 24). Auffällig ist v.a. der Ausdruck von Klage und Trauer. Lykomedes klagt laut schreiend am Bett seiner Frau und bricht schließlich in Trauer tot zusammen (ActJoh 21). Auch Kleopatra zeigt heftige körperliche Zeichen des Schmerzes beim Anblick 312

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des toten Gatten: Zähneknirschen, Beißen auf die Zunge, Tränen (ActJoh 24). Sie gesteht, dass auch sie angesichts des toten Gatten nur sterben wolle (ActJoh 24). Auch darüber hinaus spielen Aspekte der Leiblichkeit im Lauf des Geschehens eine bedeutende Rolle: Johannes berührt Kleopatras Gesicht, als er zu ihr spricht (ActJoh 23), und fasst ihre Hand am Lager des Lykomedes (ActJoh 24). Demgegenüber ist auffällig, dass Kleopatra ihren Mann mit einem bloßen Befehlswort erwecken soll (ActJoh 24), und auch ihre Heilung erfolgt durch ein bloßes Machtwort. Die Klage (θρῆνος thrēnos) ist in der ersten Hälfte der Episode beherrschend: Nicht nur Lykomedes klagt über den Verlust der Geliebten, sondern auch Johannes weint und klagt, dass die Vision, die ihn hergebracht hat, trügerisch gewesen sei; er fürchtet um sein Leben, da er für den Tod des Lykomedes verantwortlich gemacht werden wird, und bittet Gott um sein Eingreifen, freilich nicht ohne den Hinweis, dass es letztlich nicht um die Rettung und Ehre des Johannes, sondern um Gottes Ehre und die Beschämung des Feindes (im Singular, also wohl des Teufels) geht, von dem gesagt wird, dass er »uns immer verlacht« (ActJoh 21) und am Leid des Johannes bzw. dem Misserfolg seiner Mission Freude haben, ja »fröhlich springen« und »tanzen« könnte (ActJoh 21). Thematische Beobachtungen: Zwei Auferweckungen? Erzählerisch bleibt relativ lange unklar, ob Kleopatra ›nur‹ krank oder sogar tot ist. »Diese Ambivalenz ist beabsichtigt und durchzieht den ganzen Text. Kleopatra tut in der Beschreibung des Lykomedes gleichsam ›ihren letzten Atemzug‹« (Klauck 2009, 91), in seiner intensiven Klage erscheint die Kranke wie tot, und Lykomedes kann sich auch selbst schon einen Toten nennen. Auch der Apostel spricht in seinem Gebet von der »Auferweckung der Entseelten« bzw. »Leichname« im Plural (ActJoh 22). Auch im Blick auf Lykomedes ist nicht sofort klar, ob er, als er zusammenbricht, wirklich tot oder ›nur‹ zu Tode verzweifelt ist. Erst als Johannes betet, der Mann liege ›entseelt‹ da, und als die Stadtbürger als Trauerbesucher zum Haus kommen (ActJoh 22), wird seine Situation deutlicher. Auch die Heilung der Kleopatra ist mit Zügen einer Auferweckung geschildert: Die Heilung erfolgt durch ein Machtwort im Namen Gottes, doch auch hier bleibt zweideutig, ob der Befehl »steh auf« (ἀνάστηθι anastēthi, ActJoh 22,20 und 23,6) an eine todkrank Daliegende (vgl. Apg 3,6) oder an eine Tote ergeht. Implizit ist damit auch die Heilung von unheilbarer Krankheit als eine Auferweckung vom Tod gezeichnet und zugleich einer symbolisch-spirituellen Deutung der Rettung vom Tod zum Leben geöffnet. Die Wunderhaftigkeit des Geschehens ist evident. Kleopatra ist unheilbar krank, Lykomedes tot. Die Auferweckung bietet dabei gegenüber der ›bloßen‹ Heilung noch eine Steigerung auch darin, dass diese durch die eben vom Krankenlager erweckte Kleopatra erfolgt. Auf unterstützende oder ›magische‹ Mittel wird in beiden Fällen konsequent verzichtet: Die Heilung erfolgt auf ein Gebet des Apostels hin, das schlicht auf Mt 7,7 verweist, und durch ein machtvolles Wort der Anrede an die Todkranke im Namen des Schöpfers und Weltherrschers. Lykomedes wird erweckt, als Kleopatra auf Geheiß des Johannes das ihr mitgeteilte Befehlswort ausspricht. Dass Johannes dazu Kleopatras Hand fasst, sich also nicht selbst dem Toten 313

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zuwendet, ist als eine Art Kraftübertragung zu verstehen (Sirker-Wicklaus 1988, 40). Kleopatra kann nun selbst – als Geheilte und (in ihrer Selbstbeherrschung erkennbar) Glaubende – das Wunder tun. Dabei geht es natürlich nur um diese eine Tat, nicht um eine fortgesetzte Wundertätigkeit, und weder die Wundertätigkeit der Kleopatra noch die Wunderkraft des Johannes werden eigens betont, vielmehr ist das Wunder allein Erweis der Macht Gottes, zu seinem Preis und zum Zeichen für die Nicht-Glaubenden: Kleopatras Heilung führt die ephesischen Stadtbürger zur Erregung über den unbegreiflichen Anblick, und auch die Auferweckung des Lykomedes geschieht zum Zeichen für die Menge (ActJoh 24). Das Wunder ist evident und völlig unzweideutig, eine Argumentation für seine ›Tatsächlichkeit‹ ist nicht erforderlich, wenngleich natürlich nicht alle (und nicht einmal Lykomedes sofort) aufgrund des Wunders glauben. Das ›Wunder‹ hat mehrere Wirkungen bzw. Folgen: Es versetzt in Staunen (und kann so bei einigen Glauben auslösen), es wehrt den Spott der Heiden ab und rettet auch Johannes selbst aus Lebensgefahr, vor allem aber dient es der Verherrlichung des Namens Gottes (ActJoh 18): Später wird dann berichtet, dass die Volksmenge wegen Johannes im Haus des Lykomedes zusammenkommt (ActJoh 26), womit der ›propagandistische‹ Effekt der Wunder und damit ihre zentrale Funktion in der hier geschilderten Mission noch einmal bekräftigt wird. Die Deutung des Geschehens erfolgt v.a. in den Worten des Johannes: Durch die Machttat Gottes soll Spott vermieden und dem Unglauben kein Vorwand geliefert werden, vielmehr sollen »Entseelte« (ActJoh 22) auferweckt, »Leichname« (ActJoh 21) zum Leben gebracht werden, und dadurch sollen auch einige, die davon erfahren, »gerettet« und als »Werkzeuge« für den Dienst Christi zubereitet werden (ActJoh 22). So bitten am Ende auch Lykomedes und Kleopatra um weitere Einweisung, wenn ihre Auferweckung nicht vergeblich sein soll (ActJoh 25), und Johannes bleibt mit seinen Begleitern bei ihnen, damit sie »beim Herrn bleiben« (ActJoh 25) können. Auffällig ist die Klage des Lykomedes, die sich um die Diskrepanz zwischen seiner Situation und seinem Verhalten in der Vergangenheit und der jetzt eingetretenen Situation dreht (Sirker-Wicklaus 1988, 44-47). Prominent ist dabei das Motiv der Gerechtigkeit: Angesichts des Glücks, die schöne Frau zu haben, wurde Lykomedes beneidet, gedemütigt und angefeindet; zugleich beteuert er, niemals anderen Unrecht getan zu haben. Die eingetretene unheilbare Krankheit der Kleopatra lässt ihn aber an der Gerechtigkeit verzweifeln, die nun personifiziert, als Göttin Dike, angesprochen wird: Lykomedes will sich Dike stellen und sie zur Verantwortung ziehen, da sie sein Leben zunichte gemacht hat. Darin zeigt sich – durchaus dem Genre des antiken Romans entsprechend – ein paganes Schicksalsverständnis, nach dem die Göttin nach wie vor sein Verhalten steuert und der Mensch der göttlich gesetzten Ordnung oder eben auch Willkür unterworfen ist (Sirker-Wicklaus 1988, 46). Dies steht im größeren Zusammenhang der Darstellungsweise dieses Textes: »Noch nicht Bekehrte bleiben in den Johannesakten auch dann, wenn ihnen die Wohltaten des von Johannes verkündeten Gottes bereits verheißen oder gar schon 314

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zuteilgeworden sind, noch ganz den Gewohnheiten jener Welt verhaftet, der sie bislang angehörten« (Plümacher 2004c, 270). Lykomedes beklagt daher sein Los »ganz so, wie es pagane Romanhelden in vergleichbarer Situation zu tun pflegen« (Plümacher 2004c, 270; vgl. Junod/Kaestli 1982, 516f.), er ist trotz der ihm zuvor zuteilgewordenen Erscheinung nicht in der Lage, die Worte des Zuspruchs zu fassen, und bricht in Trauer zusammen; als Auferweckter will er vor Johannes niederfallen und ihn anbeten, und später (ActJoh 26) lässt er im Unverstand ein Bildnis des Johannes malen, als wäre dieser eine pagane Gottheit oder ein irdischer Wohltäter, und wird dafür von Johannes getadelt. Sein ›Glaube‹ ist mit seiner Auferweckung noch keineswegs geformt, ja, in ActJoh 25 können er und seine Frau sogar sagen, dass sie (noch) keine Hoffnung auf den von Johannes verkündigten Gott haben und weitere Begleitung und Unterweisung benötigen. Interessant ist daher, wie in diesem Abschnitt von Glaube und Hoffnung gesprochen wird (vgl. analog zu den Phänomenen in den ActPlThecl auch Nicklas/ Niederhofer 2017). Zunächst spricht die vorausgehende Himmelsstimme (ActJoh 18) von denen, »die dort durch dich [sc. Johannes] glauben werden«, die maßlose Klage des Lykomedes wird als »ungläubig« getadelt (ActJoh 21), Krankheit und Tod gelten als »Vorwand für viele, die nicht glauben wollen« (ActJoh 23), und zu Kleopatra sagt Johannes, sie sei »gläubig geworden« an seinen Gott (ActJoh 23). Dabei ist noch unklar, worin dieser Glaube besteht; man kann hier an die Zuwendung zum Apostel und den Gehorsam gegenüber seinem Wort denken, vor allem auch an die selbstbeherrschte Unterdrückung der Trauer – im Unterschied zu dem sich »ungläubig« verhaltenden Lykomedes. Neben dem Glauben steht die Hoffnung: ›Christen‹ werden mit dem Ausdruck »Seelen, die zu hoffen und gerettet zu werden vermögen« (ActJoh 23) bezeichnet, und am Ende stellen Kleopatra und Lykomedes fest, dass sie noch »keine Hoffnung« (ActJoh 25) auf den Gott des Johannes haben, was wohl heißt, dass sie nach der Erfahrung des Wunders noch keine wirklich Glaubenden sind. Kleopatra wird auch nicht wegen des Glaubens ihres Mannes, noch gar aufgrund ihres eigenen Glaubens geheilt, sondern nach der Heilung bittet sie noch: »Rette deine Kleopatra!« (ActJoh 23). Das Wunder ist erst Anlass und Anfang ihrer Rettung, ebenso wie die Auferweckung des Lykomedes noch nicht unmittelbar seinen Glauben zur Folge hat. »Glaube« ist hier also einerseits als Frucht der Mission des Johannes verstanden und das Zum-Glauben-Kommen ist als ein längerer (Lern-)Prozess erfasst, doch bleibt der Glaube in diesem Text inhaltlich relativ unbestimmt: Es ist weder Glaube an die Möglichkeit des Wunders, noch Vertrauen auf das Heil in Christus, vielmehr ist Glaube formal zunächst als »Ausrichtung auf den Apostel« charakterisiert (Sirker-Wicklaus 1988, 15), auf sein Wort und sein Beispiel, und dann vor allem ethisch im Sinne der Unerschütterlichkeit angesichts von Krankheit und Tod gefasst. Kleopatra bleibt dem Apostel zugewandt und gehorcht seiner Anweisung. Das Wunder der Heilung bzw. Auferweckung ist hier nicht, wie in den Synoptikern, Frucht des vertrauenden Glaubens, sondern primär ein Zeichen, das bei den Erweckten selbst wie auch bei ihren Bekannten und den Stadtbürgern zu Glauben führen soll. Ohne diesen hinzutretenden Glauben wäre auch 315

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die Erweckung des Lykomedes und seiner Frau »umsonst« (ActJoh 25). Nach der Erfahrung des Wunders bedarf es deshalb der Unterweisung durch den Apostel, um diese Hoffnung wirklich zu erfassen und »beim Herrn [zu] bleiben« (ActJoh 25). Erst in der folgenden Episode, in der Lykomedes ein Bild des Johannes malen lässt (ActJoh 26f.), ist dann von seinem Glauben und seiner Gotteserkenntnis die Rede (ActJoh 26), wobei gleichzeitig sein Versuch, ein Bild des Johannes malen zu lassen und es in seinem Gemach geschmückt aufzustellen, von Johannes als eine heidnische Verehrungsweise getadelt wird (ActJoh 28). Schließlich erhält Lykomedes die Aufforderung, »ein guter Maler« zu werden und in seinem Leben den Apostel nachzuahmen (ActJoh 29). Interessanterweise ist im gesamten Zusammenhang dieser Missions- und Bekehrungsgeschichte nicht von Taufen die Rede, doch fehlt die Erwähnung der Taufe auch in den anderen Bekehrungsgeschichten der ActJoh (ActJoh 46f. und 48-53), ja mit Ausnahme des möglichen Einschubs ActJoh 57 in den ActJoh überhaupt (Klauck 2005, 32; Schäferdiek 1998, 582). Stattdessen ist nur von einer Initiation durch Handauflegung die Rede (ActJoh 46). Ebenso fehlen in den ActJoh auch dort, wo Spuren einer christlichen Gemeinschaftsbildung durchscheinen, wesentliche Züge einer kirchlichen Ämterordnung. Diese treten hinter der Gestalt des Johannes als des alles beherrschenden charismatischen ›Amtsträgers‹ zurück (Schäferdiek 1998, 581f.) Trauer und Seelenruhe. Dem Glauben stehen in der Erzählung v.a. die hoffnungslose Trauer und Klage gegenüber: Gleich zu Beginn sagt Lykomedes, dass er die Konsequenz aus der Krankheit seiner Frau ziehen wollte, womit wohl ein Suizid angedeutet ist, aber durch die Erscheinung davon abgehalten wurde. Obwohl er den Apostel gefunden und in sein Haus geführt hat, bricht er dann in seiner Trauer zusammen und stirbt (wenngleich nicht durch Suizid), weil er die ihm vorab vermittelte und durch Johannes erneut zugesagte Hoffnung nicht fassen kann. Auch Kleopatra würde in ihrer heftigen Trauer über seinen Tod am liebsten sterben, doch bleibt sie, wie betont wird, dem Apostel zugewandt und hält sich an seine Weisung, nicht außer sich zu geraten und gefasst zu bleiben. Hier zeigt sich eine auffällige Differenz zwischen den beiden Ehepartnern: Kleopatra ist die Beherrschtere, sie fasst Vertrauen zu Johannes, ist bereit, die Worte des Johannes nachzusprechen, und darf ihren Mann selbst aus dem Tod rufen. In ihrer Beherrschtheit bzw. der Kraft, in der Trauer nicht außer sich zu geraten, zeigt sich ein Reflex des stoischen Ideals der Seelenruhe, der Überwindung der Leidenschaften, speziell der Trauer, das zwar hier nicht direkt mit dem Glauben verbunden wird, aber doch als ethische Qualität gilt. Kleopatras Beherrschung im Leid löst bei Johannes Mitleid aus und motiviert ihn, ihr zu helfen; zugleich erweist sie sich darin als Schülerin des Apostels, die ihm gehorcht und seinem Vorbild nachfolgt, was dann auch Lykomedes aufgetragen wird, wenn er – nach der Bild-Episode – die Aufforderung bekommt, ein »guter Maler« zu werden (ActJoh 29), d.h. in der Nachahmung des Apostels zu leben. Der Gott Jesus Christus: Auffällig unklar ist die Christologie im vorliegenden Abschnitt: Offen bleibt, wer der ›jemand‹ ist, der im Traum zu Lykomedes spricht, 316

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und der ›Gott‹ ist, den Johannes verkündigt: Er selbst verwendet in seinen Gebeten zu Christus verschiedene Titel: κύριος (kyrios – Herr), Ἰησοῦς (Iēsous), Χριστός (Christos), βασιλεῦς (basileus – König) und auch Ἰησοῦς Χριστός (Iēsous Christos) in Verbindung (ActJoh 22). Auch der eher weltliche Begriff »Arzt« (ἰατρός iatros, ActJoh 22) tritt auf, in ActJoh 24 begegnet die Anrede Κύριε Ἰησοῦ (Kyrie Iēsou) und der Titel δεσπότης (despotēs – Gebieter). Mehrfach wird zudem der Ausdruck »Name« (ὄνομα onoma) im Blick auf Gott wie auf Christus gebraucht (ActJoh 21f. und 24). Im Ganzen bleibt das Verhältnis von Gott und Christus unklar, ebenso das Verhältnis des gegenwärtig Machttaten wirkenden Gottes Jesus Christus zu dem Jesus, dessen Worte (aus der Bergpredigt) immerhin im Gebet zitiert werden.

Sozial- und realgeschichtlicher Hintergrund Ephesus: Die Erzählung spielt im römischen Ephesus, das der Tradition nach als Zentrum der Mission des Johannes gilt. Lykomedes ist ein Angehöriger der städtischen Oberschicht, dessen Tod in Gegenwart des Johannes diesen zugleich in Verdacht und in Lebensgefahr bringen könnte. Bei bzw. in seinem Haus kommt eine große Menge zusammen, auch später, als Johannes dort predigt. Die Szenerie ist jedoch ganz allgemein gehalten, ohne dass eine nähere Kenntnis der Stadt Ephesus deutlich würde. Ein spezifisches Lokalkolorit und ein mehr als allgemeines Wissen um die Stadt ist hier wie auch in den anderen Episoden der ActJoh nicht erkennbar, weshalb eine Abfassung dort unwahrscheinlich ist. D.h., ein Autor, der die Gegend nicht kennt, bringt die machtvollen Anfänge der Mission in Ephesus zur Darstellung (wobei interessanterweise nicht vorausgesetzt ist, dass dort bei der Ankunft des Johannes schon verschiedene Gruppen von Jesusnachfolgern lebten, wie dies aus den Paulusbriefen bzw. der lukanischen Apostelgeschichte zu folgern wäre; 1Kor 15,29; 16,8; Apg 18,19-20,16; vgl. Frey 2013). Johannes und Ephesus: Die ActJoh übernehmen die in der 2. Hälfte des 2. Jh. ausgebildete kirchliche Johannestradition (Schäferdiek 1983, 258-260), derzufolge der Apostel Johannes, Sohn des Zebedäus, einer der von Jesus zuerst berufenen Jünger (Mk 1,16 etc.), der ›Lieblingsjünger‹ (Joh 13,23) und Autor des Johannesevangeliums (Joh 21,22-24), bis zur Zeit Trajans in Kleinasien gelebt (Iren. haer. 2,22,5; 3,3,4) und als Letzter der Evangelisten in Ephesus sein Evangelium verfasst hat (3,1,1), von dort nach Patmos verbannt wurde (Clem. Al. Div. 42,2; Tert. praesc. 36), wo er die Apokalypse geschrieben haben (Iust. dial. 81,4) und schließlich in Ephesus eines natürlichen Todes gestorben sein soll (Polykrates v. Ephesus bei Eus. h.e. 3,31,3). Die Weihe des Märtyrers bekommt er nach der kirchlichen Johannestradition nur durch zwei unbeschadet überstandene Martyrien, ein Ölmartyrium in Rom (Tert. praesc. 36; Hipp. demonstr. 36) und einen Giftbecher-Anschlag in Ephesus (Aug. sol. 22; vgl. Zahn 1880, cxvii und 237), doch spielt dies in den ActJoh keine Rolle. Während in der vorliegenden Episode der erste Besuch des Johannes und das erste Wirken in Ephesus geschildert wird, bildet der Tod des Johannes den Abschluss des 317

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Werks: Der greise Apostel lässt sich sein Grab ausheben und legt sich hinein (ActJoh 111-115). Neben dieser sehr einflussreich gewordenen Tradition vom natürlichen Tod gibt es freilich noch eine Konkurrenztradition in einem verstreut überlieferten Zitat des kleinasiatischen Sammlers Papias von Hierapolis, demzufolge der Zebedaide Johannes wie sein Bruder Jakobus »von den Juden getötet worden« sein soll (vgl. zu den Belegen Hengel 1993, 88-92). Diese Tradition, die nicht allein aus Mk 10,39 deduziert sein kann, wurde wohl durch die einflussreiche Tradition über den alten Johannes in Ephesus verdrängt, ist aber historisch durchaus ernst zu nehmen. Ob es sich bei dem alten Johannes in Ephesus um den Jesusjünger, Zebedaiden und Apostel handelt und ob Letzterer jemals tatsächlich in Ephesus war, ist daher historisch ausgesprochen zweifelhaft. Auch die (erst bei Dionysios v. Alexandrien, nach Eus. h.e. 7,25,16 erwähnte) Tradition von den zwei Johannesgräbern in Ephesus ist historisch kaum verifizierbar und deutet eher darauf hin, dass hier verschiedene Überlieferungen miteinander verschmolzen sind, die Tradition eines in Ephesus bzw. der Umgebung wirksamen und einflussreichen Lehrers (der presbyteros Johannes, nach Papias, bei Eus. h.e. 3,39,3) und des Apostels (Schäferdiek 1983, 257f.; Hengel 1993, 92-95; ausführlich Frey 2015). Die rätselhafte Verfasserangabe in 2 Joh 1 und 3 Joh 1 führt aber am ehesten zur Verbindung des Corpus Johanneum mit dem presbyteros, während die Annahme, dass das Evangelium vom Zebedaiden und Apostel verfasst ist, am ehesten aus Joh 1,39f. erschlossen werden konnte: Wenn man die ›Leerstelle‹ des ungenannten Jüngers als erste Erwähnung des sonst erst ab Joh 13,23 auftretenden ›Lieblingsjüngers‹ liest und – auf dem Hintergrund der Synoptiker – den Namenlosen mit einem der Erstberufenen aus Mk 1,16 verbindet, legt sich nur Johannes nahe. Obwohl also der Zebedaide Johannes höchstwahrscheinlich mit der Abfassung des Johannesevangeliums nichts zu tun hat und vermutlich nie in Ephesus war, hat die im 2. Jh. ausgebildete kirchliche Tradition das Evangelium und die Briefe und (unabhängig davon zuerst bei Justin) auch die Apokalypse dem ›alten Apostel Johannes von Ephesus‹ zugeschrieben. Der historische Wert der in den ActJoh berichteten Ereignisse wie überhaupt der Mission des Apostels Johannes ist insofern minimal. Oberschicht? Neben dem einflussreichen Lykomedes wird auch einer der Reisebegleiter, Kleobius, ausdrücklich als sehr reich charakterisiert. Er besorgt für Johannes und seine Begleiter ein angenehmes Quartier bei einem Verwandten (ActJoh 19), das diese dann allerdings (ActJoh 25) auf Bitten von Lykomedes und Kleopatra, d.h. aus missionsbezogenen Gründen, nicht aufsuchen. Insgesamt zeigt sich, dass der Apostel in den Johannesakten mehr in den Kreisen der lokalen städtischen Eliten verkehrt, zu denen neben Lykomedes auch Andronikos (ActJoh 31,7f.; 37,4f.), Antipatros (ActJoh 56,3) und Kallimachos (ActJoh 73,10) gehören (Plümacher 2004c, 229). Dabei wird über den bloßen Wohlstand hinaus bei diesen Eliten auch die Prägung durch pagane Religiosität (wie z.B. die Rede von der Göttin Dike zeigt) und durch Ideale der hellenistischen Philosophie (wie z.B. das stoische Ideal der Seelenruhe) zur Darstellung gebracht. Diese Figuren der Oberschicht erfahren – wie hier Lykomedes – eine Hilfe aus einer für sie schweren Notlage durch den von Johannes verkündigten Gott. Es ist unsicher, ob das Christentum zur Zeit der Ab318

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fassung der Akten tatsächlich schon so stark in diesen Kreisen verbreitet war oder nicht. Deutlich ist, dass der Verfasser offenbar auch diese Eliten ansprechen (Plümacher 2004c, 233) und den christlichen Glauben als eine angesehene, auch für diese Eliten attraktive Religion zeichnen will.

Traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergrund In vielen Einzelzügen weist die Episode sprachliche und motivische Entsprechungen zu biblischen Texten auf. Besonders wichtig ist dabei die Apostelgeschichte, aber auch die Evangelien und z.T. speziell das Johannesevangelium bieten Material, das hier aufgenommen wird. Das Motiv der Doppelvision, mit dem die Episode eingeleitet zu sein scheint, hat Parallelen in der kanonischen Apostelgeschichte. Dort erfährt nicht nur Hananias eine Vision, er solle Paulus nach seiner Christusbegegnung aufsuchen, um ihm die Hände aufzulegen (Apg 9,10-22), sondern auch in Apg 10 erfahren Petrus und Kornelius korrespondierende Visionen, so dass Kornelius Petrus in sein Haus bittet und Petrus dieses aufsucht. Die vorliegende Episode folgt diesem Schema, das auch in der antiken Romanliteratur belegt ist (Wikenhauser 1948; vgl. Söder 1969, 171180). Wie in der Kornelius-Episode wirft sich auch hier der Heide dem Apostel zu Füßen (Apg 10,25f.; vgl. ActJoh 19 und 25), doch muss hier keine direkte Abhängigkeit vorliegen. Hier zeigt sich nur analog ein Zug paganer Religiosität (Junod/Kaestli 1983, 443). Eine andere Erzählung der Apostelgeschichte hat stärkere Spuren hinterlassen: ActJoh 22 bezieht sich in einigen Zügen sprachlich deutlich auf die Erzählung der Heilung des Lahmen und die folgende Predigt des Petrus in Apg 3 zurück. Offenkundig klingt der Satz »Jetzt ist die Zeit der Erquickung (καιρὸς ἀναψύξεως kairos anapsyxeōs)« in ActJoh 22,4 an die Wendung καιροὶ ἀναψύξεως (kairoi anapsyxeōs) in Apg 3,20 an, und das seltene Wort lässt eine bewusste Anspielung vermuten, wenngleich es hier nicht wie in Apg 3,20 im eschatologischen Sinn gebraucht, sondern auf den gegenwärtigen Moment bezogen ist (Lalleman 1998a, 93). Die Rede von Silber und Gold in ActJoh 22,12f. greift ebenfalls deutlich auf das Wort des Petrus in Apg 3,6 zurück. Der Befehl »Steh auf im Namen Jesu Christi!« (ActJoh 22,20) entspricht leicht modifiziert dem Befehl des Petrus an den Lahmen »Im Namen Jesu Christi, steh auf und geh umher!« in Apg 3,6, und auch die Rede vom »Zusammenlaufen« (συντρέχειν syntrechein) einer großen Menge in ActJoh 22,1f. hat eine Entsprechung in Apg 3,11. So sehr die Erzählung auch ohne die Wahrnehmung dieser Bezüge verständlich ist, erscheint sie doch strukturell von Apg 3 beeinflusst, was umso mehr plausibel ist, als ja in Apg 3 Johannes zusammen mit Petrus auftritt und somit als stiller Zeuge eben dieses Wunders gelten kann (Lalleman 1998a, 94). Zu beachten sind auch die biblischen Totenerweckungen – durch Jesus wie durch Apostel gewirkt –, die sachlich den Hintergrund für die apokryphen Toten319

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erweckungserzählungen bilden. Lykomedes fällt vor Johannes nieder wie Jaïrus vor Jesus (Mk 5,22), er bittet ihn in sein Haus wie der Hauptmann zu Kafarnaum (Lk 7,1-10), Petrus gebietet Tabita aufzustehen (Apg 9,40) wie Jesus die Tochter des Jaïrus (Mk 5,40f.) Doch sind diese Motive eher indirekt aufgenommen. Kaum zufällig findet sich die einzige echte Parallele in der johanneischen Erzählung von der Erweckung des Lazarus: Wo Johannes Kleopatra beauftragt, ihren Gatten zum Leben zu erwecken, wird gesagt, sie soll dies »der Menge wegen, die dabeisteht« (διὰ τὸν περιεστῶτα ὄχλον dia ton periestōta ochlon, ActJoh 24) und wegen ihrer Verwandten tun. Damit klingt Joh 11,42 an, freilich ist es dort das Gebet Jesu, das lediglich wegen der Menge und zum Zeugnis für sie laut ausgesprochen wird, was angesichts seiner Einheit mit dem Vater nicht erforderlich wäre (Frey 2000, 441f.). Dieser Aspekt, der im Evangelium die christologische Würde und Einzigartigkeit Jesu herausstellt, hat in der vorliegenden Erzählung keinen Platz, die Wendung ist aus ihrem Kontext herausgebrochen und bezeichnet hier nur die Zeugnisfunktion des Wunders für die Menge. Dennoch ist dieser Anklang an die einzige johanneische Totenauferweckung kaum zufällig. Andere kleinere biblische Anklänge lassen sich feststellen. Dass Gott Toten Tote wiedergibt (ActJoh 24), erinnert an das (dort negativ gewendete) Jesuswort »Lass die Toten ihre Toten begraben« (Mt 8,22 par.), und in seinem Gebet (ActJoh 22) zitiert Johannes explizit das Jesuswort »Bittet, so wird euch gegeben« (Mt 7,7 par.). Andererseits sind die Anklänge an die kanonische Apostelgeschichte wie auch an andere Texte im Gesamten der relativ ausgedehnten Episode doch eher spärlich, was zeigt, dass der Autor sehr klar einen eigenen Text schreiben wollte, und zwar in sprachlicher und theologischer Hinsicht (Lalleman 1998a, 96). Literarisch steht neben den biblischen Erzählungen insbesondere die Formenwelt des antiken Romans im Hintergrund (Sirker-Wicklaus 1988, 41). Zu erwähnen sind hier das Motiv der Offenbarung des göttlichen Willens durch Träume und Visionen, die ausgedehnte Klage des Lykomedes am Bett seiner Frau, der eine ebenfalls auffällig emotionale Klage des Johannes folgt, und das Motiv des Suizids aus Verzweiflung über den Tod der bzw. des Geliebten, das bei Lykomedes wie auch bei Kleopatra (ActJoh 24) begegnet. Damit ist aber zugleich der Kontext der paganen Umwelt zu betrachten, in der sich die christliche Botschaft nun ausbreitet. Hier stehen Anknüpfung und Abgrenzung eng nebeneinander: Die Adressaten der Erzählungen scheinen den Wundern keineswegs skeptisch gegenüberzustehen. Zumindest wird kaum für die ›Tatsächlichkeit‹ der Wunder argumentiert, vielmehr werden Wunder erbeten, erwartet und gewirkt, und dennoch bringen sie dann die Menge zum Staunen, stellen den Apostel ins Licht der Aufmerksamkeit und ziehen Bekehrungen nach sich. Das Wunder demonstriert die Macht und Ehre des von Johannes verkündeten Gottes, der damit auch in Singularität neben die paganen Götter tritt: Kleopatra und Lykomedes kann nur noch dieser eine Gott bzw. Jesus Christus helfen. Alle anderen Götter sind diesem einen Gott offenkundig unterlegen (wie insbesondere die Episode um den Artemistempel, ActJoh 39-44, verdeutlicht). Im vorliegen320

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den Rahmen steht der helfende Gott des Johannes dem Vertrauen auf die pagane Schicksalsgöttin Dike (ActJoh 20,14-19) ebenso wie dem Vertrauen auf irgendeine andere Heilgottheit wie z.B. Asklepios (ActJoh 22,5f.) exklusiv entgegen (Lalleman 1998a, 49). Die Heilung bzw. Auferweckung mit dem schlichten Machtwort lässt auch alle Formen magischer Intervention obsolet werden, und in der anschließenden Bild-Episode wird auch die Verehrung von Götter- oder auch WohltäterBildern (dazu Bremmer 1995b, 40f.) als letztlich unangemessen verworfen. Andererseits tritt der christliche Gott in den Wundern des Apostel in den Bereich des Sichtbar-Manifesten, ja, angesichts der Fülle der Wunder nahezu in den Bereich des »stets Verfügbaren und Greifbaren« (Sirker-Wicklaus 1988, 130), so dass die Anstößigkeit des unsichtbaren Gottes und seiner bildlosen Verehrung für paganes Denken erkennbar abgemildert ist. Eine deutliche Anknüpfung an pagane Philosophie und Ethik findet sich in der starken Betonung des Ideals der ›stoischen‹ Gelassenheit und der Zurückdrängung der Leidenschaften, hier v.a. der Trauer, als Zeichen des Glaubens. Ἡσυχάζειν (hēsychazein) ist ein terminus technicus zur »Beschreibung eines bestimmten Seelenzustandes: des Abgekehrtseins von aller durch weltliche Passionen hervorgerufenen Emotion und Ambition« (Plümacher 2004b, 188). Diese Tugend des Verzichts auf Leidenschaften, zu der Kleopatra ermahnt wird, ist einerseits als Folge und Inhalt des Glaubens verstanden, zugleich aber auch als notwendiges Zeichen christlicher Lebenshaltung. Damit sind – wie schon vorchristlich bei Philo (Abr. 216; sobr. 50) – Züge eines verbreiteten Philosophenbildes aufgenommen (Plümacher 2004b, 188). Noch stärker zeigt sich die Aufnahme philosophischer Topoi dann in der anschließenden Episode um das Portrait des Johannes (dazu Junod/Kae