Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme: Methodenrechtliche Analyse und Fortentwicklung der Theorie der »beweglichen Systeme« (Wilburg) [1 ed.] 9783428489367, 9783428089369

Mit der vorliegenden Arbeit über den Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme bindet der Autor die Methoden

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Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme: Methodenrechtliche Analyse und Fortentwicklung der Theorie der »beweglichen Systeme« (Wilburg) [1 ed.]
 9783428489367, 9783428089369

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LOTHAR MICHAEL

Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

Schriften zur Rechtstheorie Heft 178

Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme Methodenrechtliche Analyse und Fortentwicklung der Theorie der „beweglichen Systeme" (Wilburg)

Von Lothar Michael

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Michael, Lothar: Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme : methodenrechtliche Analyse und Fortentwicklung der Theorie der „beweglichen Systeme" (Wilburg) / von Lothar Michael. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 178) Zugl.: Bayreuth, Univ., Diss., 1995/96 ISBN 3-428-08936-7 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-08936-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Meinen Eltern

Vorwort

Die vorliegende Arbeit lag der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth im Wintersemester 1995/96 als Dissertation vor. Literatur und Rechtsprechung konnten vereinzelt bis August 1996 verarbeitet werden. Danken möchte ich zunächst meinem verehrten Lehrer und Doktorvater Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Häberle fur seine vorbehaltslose Unterstützung schon während meines Studiums. Er hat mich immer wieder herausgefordert und ermutigt. Er hat mir einerseits viel Freiheit gelassen und hat mir andererseits jederzeit seine Hilfe angeboten. Dank gebührt auch dem Zweitgutachter der Arbeit, Herrn Prof. Dr. Wilfried Berg, fur seine weiterführenden Anregungen. Er hat mein besonderes Augenmerk auf den praktischen Nutzen rechtstheoretischer Untersuchungen gelenkt. Herrn Prof. Dr. h. c. Norbert Simon danke ich für die Aufnahme der Arbeit in das Verlagsprogramm von Duncker & Humblot. An dieser Stelle danke ich auch der Studienstiftung des deutschen Volkes für ihre Förderung schon während des gesamten Studiums. Für ihr Verständnis und ihre Unterstützung danke ich meiner Freundin Ingrid Bergner, die meine Arbeit während ihres eigenen Rechtsreferendariats mit offenem Ohr und offener Kritik begleitet hat. Ein besonderer Dank gebührt auch ihrem Bruder, Herrn Klaus Bergner, fur seine Hilfestellung in Fragen der Textverarbeitung. Schließlich danke ich meinen Eltern, die mich stets unterstützt haben und die mir beim Korrekturlesen und bei der Erstellung des Stichwortverzeichnisses geholfen haben.

München, September 1996

Lothar Michael

Inhaltsverzeichnis

Α. Vorbemerkungen zu Thema und Gliederung

17

B. Bestandsaufnahme zur allgemeinen Methodenlehre

21

I. Der Gegenstand der Methodenlehre

21

II. Der Inhalt der Methodenlehre

22

III. Die Reichweite der Methodenlehre

25

C. Verfassungsrechtlicher Ansatz: Was ist mit „Methodennorm" und „Methodenrecht" gemeint? 29 I. Die Funktionen der Methodenlehre: Zum Begriff der „Methodennorm"

29

1. Die Methodenlehre als beschreibende Wissenschaft?

29

2. Die Methodenlehre als normative Wissenschaft? Gibt es Methodennormen?

30

3. Gerechtigkeitsanspruch der Methodenlehre?

34

II. Das Bedürfnis nach Legitimation von Methodennormen: Zum Begriff des „Methodenrechts"

39

III. Das Verfassungsrecht als „Quelle" des Methodenrechts

44

D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme" und verwandter Lehren 50 I. Wilburgs sogenannte „bewegliche Systeme" 1. Eigenschaften, Wesensmerkmale

50 50

a) Ranggleichheit der „beweglichen" Elemente

52

b) Wechselseitige Austauschbarkeit der „beweglichen" Elemente?

54

10

Inhaltsverzeichnis

c) Verzicht auf abschließende Tatbestandsbildung?

55

2. Erkenntnisfunktion „beweglicher Systeme"

55

3. „Bewegliche Systeme" als Alternative zu starren Tatbeständen?

57

4.

69

„Bewegliche

Systeme" als Auslegungsalternative de lege lata?

a) Tatbestandsmerkmale als „bewegliche Elemente"

71

b) Konkretisierung von Tatbestandsmerkmalen durch „bewegliche Systeme"

71

c) Umdeutung starrer Tatbestandsmerkmale in „bewegliche" Elemente?

74

II. Das sog. „Sandhaufentheorem" als Beispiel aus der Rechtsprechung - methodenrechtliche Schranken für „bewegliche Systeme"

76

1. Die Struktur des § 138 Abs. 2 BGB

76

2. Das „Sandhaufentheorem" als „bewegliches System" des § 138 Abs. 2 BGB

78

a) Erstes Argument: Systematische Auslegung des § 138 Abs. 1 und Abs. 2 BGB

79

b) Zweites Argument: Rechtsvergleichung

80

c) Drittes Argument: Übergesetzliche Grundnormen - Zum Unterschied zwischen Regelbeispielen und „Insbesondere"-Tatbeständen

82

d) Gesamtwürdigung des „Sandhaufentheorems"

85

3. Lösungsalternativen? § 138 Abs. 1 BGB als „bewegliches System"?

85

4. Das Verhältnis dieser Lösungsalternativen zu der Rechtsprechung des BGH

89

III. Die Topikdiskussion seit Viehweg — Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich zu den „beweglichen Systemen"

92

IV. Die Lehre von den Rechtsprinzipien von Esser bis Alexy

95

1. Kollisionsfahigkeit (Abwägbarkeit) der Rechtsprinzipien . . .

96

2. Graduelle Wertigkeit der Rechtsprinzipien („dimension of weight")

98

3. Rechtsprinzipien als Optimierungsgebote

99

a) Die Kategorie des „idealen Sollens"

99

Inhaltsverzeichnis

b) Die Möglichkeit der Über- und Untererfüllung von Rechtsprinzipien 100 4. Harte oder weiche Trennung zwischen Regel und Rechtsprinzip?

102

5. Normqualität von Rechtsprinzipien

104

6. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Lehre von den Rechtsprinzipien und Wilburgs „beweglichen Systemen" . 105 V. Der Typusbegriff

106

1. Die Ursprünge der Typuslehre bei Hempel und Oppenheim . . 107 2. Die heutige Typuslehre

109

a) Der „normative Realtypus"

109

b) Der „rechtliche Strukturtypus"

111

c) Der „Falltypus"

113

£. Einführung in die Theorie der komparativen Systeme

115

I. Begriffswahl

115

II. Merkmale: Was ist unter komparativen Elementen, komparativen Systemen und komparativen Normen zu verstehen?

117

1. Komparative Elemente

118

2. Komparative Systeme

118

3. Komparative Normen

119

III. Bedürfnis nach einer allgemeinen Theorie der komparativen Systeme 122 E Die Funktionen der komparativen Systeme

125

I. Erkenntnisfunktion: Komparative Systeme als Strukturprinzip des Rechts

125

II. Rechtsgewinnungsfunktion (Rechtsetzungsmethoden)

127

1. Gesetzgebungs- und Rechtsfortbildungsfunktion komparativer Systeme

127

a) Die komparative Gewinnung komparativer und starrer Tatbestände

127

b) Zur komparativen Struktur der Analogie

128

12

Inhaltsverzeichnis

c) Komparative Strukturen der Güterabwägungen im Verfassungsrecht

133

(1) Verfassungsrechtsgüter als komparative Elemente . . .

133

(2) Verhältnismäßigkeit i. e. S. und praktische Konkordanz

137

(3),Abwägungsenthusiasmus" oder »Abwägungsskeptizismus"?

141

2. Bildung komparativer Normen als Alternative zu starren Normen?

144

a) Zivilrecht: Zu den Beispielen des Mitverschuldens und der Sittenwidrigkeit 147 b) Strafrecht: Die Strafzumessungslehren und Interessenabwägungen bei den Rechtfertigungsgründen

147

(1) Strafzumessungslehre

147

(2) Gesetzliche Regelung

148

(3) Methodische Strukturen bei der Strafzumessung . . . .

150

(4) Beispiele für komparative Systeme im Strafrecht....

151

(5) Überprüfung strafgerichtlicher Ermessens- und Abwägungsentscheidungen

158

c) Verwaltungsrecht: Die Lehren vom Ermessen und vom unbestimmten Rechtsbegriff 160 (1) Nur begriffliche oder auch rechtliche Unterscheidung zwischen Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff?

160

(2) Darf und soll die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte hinter der verwaltungsrechtlichen Bindung der Behörden zurückbleiben?

162

(3) Auf welche Maßstäbe kann die gerichtliche Kontrolldichte beschränkt bzw. verlagert werden?

165

(4) Keine Unterscheidung zwischen Rechtsfolgenermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff hinsichtlich der Kontrolldichte

169

(5) Komparative Strukturen als Differenzierungskriterium zur Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte . . .

173

d) Exkurs: Die Struktur der Abwägungsgebote im Planungsrecht am Beispiel des § 1 Abs. 5 und 6 BauGB

178

Inhaltsverzeichnis

(1) Das Verhältnis des § 1 Abs. 5 und 6 BauGB zum Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriff sowie zu den „beweglichen Systemen" (2) Einzelaspekte der gerichtlichen Kontrolldichte nach § 1 Abs. 5 und 6 und § 214 ff. BauGB

178 180

(3) Das Abwägungsgebot des § 1 Abs. 5 und 6 BauGB als Optimierungsgebot 182 III. Rechtsfindungsfunktion (Rechtsanwendungsmethoden): Komparative Systeme als Auslegungsalternative de lege lata 1. Keine komparative Anwendung starrer Tatbestände

186 188

a) Die komparative Bestimmung von Beweislast und Beweismaß

188

(1) Beweislast im öffentlichen Recht: „In dubio pro ratione legis" (Berg) als komparatives System

192

(2) Beweislast im Strafrecht: „In dubio pro reo"

195

(3) Beweislast im Zivilrecht: Komparative Abweichungen von der Normentheorie

197

(4) Komparative Systeme des Beweismaßes?

200

b) Zur Struktur der Auslegungsmethoden: Der Kanon der Auslegungsmethoden als komparatives System

205

c) Exkurs: Die „fünfte Auslegungsmethode" der Rechtsvergleichung als Rechtsgewinnungs- und Rechtsfindungsmethode

209

2. Keine starre Anwendung komparativer Systeme a) Ermessensreduzierung auf Null als Ausnahme?

213 213

b) Keine starre Bindung durch Verwaltungsvorschriften und Selbstbindung der Verwaltung — Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften als komparative Systeme 214 G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme . . . 223 I. Ungleichheit als gemeinsamer Anknüpfungspunkt für verschiedene Bindungsmaßstäbe des Gleichheitssatzes

223

II. Drei Differenzierungsmaßstäbe des Art. 3 Abs. 1 GG: Unterscheidung zwischen Differenzierungsverboten, -erlaubnissen und -geboten 228

14

Inhaltsverzeichnis

1. Das Gleichbehandlungsgebot als Summe von Differenzierungsverboten

228

2. Ermessensbereich des Art. 3 Abs. 1 GG als komparatives System - Zur Reduktion der Kontrolldichte im Verfassungsrecht. 230 3. Bedarf es eines Differenzierungsgebotes?

235

4. Differenzierungsgebot und Differenzierungsverbot als Reduzierungen des Ermessensbereichs auf Null

242

III. Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG als notwendige Voraussetzung des Art. 3 Abs. 1 GG

244

1. Warum und fur wen sind Differenzierungskriterien geboten, erlaubt bzw. verboten? Art. 3 Abs. 1 GG als Selbst- und Fremdbindungsnorm 246 2. Exkurs: Die Rechtsqualität der Verwaltungsvorschriften und der Selbstbindung der Verwaltung 249 3. Exkurs: Methodenrechtliche Überlegungen zum „Richterrecht" 252 a) Gesetzgeberische, wissenschaftliche, berufungs- bzw. revisionsgerichtliche sowie verfassungsgerichtliche Kontrolle richterlicher Rechtsfortbildung

254

b) Zur Bindungswirkung des „Richterrechts": Selbst- und Fremdbindung der Gerichte? 257 4. Art. 3 Abs. 1 GG als Gebot der Vergleichung - Bedarf es eines „allgemeinen" Willkürverbotes aus Art. 3 Abs. 1 GG? 261 IV. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als komparative Struktur des Art. 3 Abs. 1 GG

262

1. Zwei Dimensionen der Verhältnismäßigkeit

263

2. Zur Herleitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips 3. Exkurs: Zum allgemeinen Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitsprinzip im Europarecht

267 268

V. Art. 3 Abs. 1 GG als Methodennorm zur Rechtsgewinnung (Rechtsetzung) und Rechtsfindung (Rechtsanwendung) 271 1. Legitimation der Bildung komparativer Systeme durch Art. 3 Abs. 1 GG

272

2. Methodenrechtliche Maßstäbe für die Anwendung komparativer Systeme - Art. 3 Abs. 1 GG als Ermessensmethodennorm . 274 VI. „Systemgerechtigkeit" komparativer Systeme?

275

Inhaltsverzeichnis

VIIKontrollmaßstäbe des Gleichheitssatzes: Überlegungen zur Kontrolldichte des Art. 3 Abs. 1 GG

284

1. Verschiedene Kontrollmaßstäbe

284

a) Beschränkung auf die Willkürkontrolle?

285

b) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Kontrollmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG?

285

c) Eigener Ansatz

287

2. Funktionellrechtliche Beschränkungen der Ermessenskontrolle

288

3. Beruftmgs- und revisionsgerichtliche Kontrolle der Bildung komparativer Systeme

292

H. Methodenrechtliche Schranken bei der Bildung komparativer Systeme

295

I. Das Postulat der Vorhersehbarkeit im Methodenrecht

295

II. Exkurs: Die Rechtsprechung des BVerfG zu den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an Normen und deren Auslegung

296

III. Komparative Systeme und Bestimmtheits- bzw. Vertrauensprinzip — Zur Vertretbarkeitstheorie

298

Thesen

306

Literaturverzeichnis

315

Sachwortverzeichnis

327

Α. Vorbemerkungen zu Thema und Gliederung

Eine Arbeit über Methodenrecht und den Gleichheitssatz als Methodennorm ist zugleich der Methodenlehre und dem Verfassungsrecht verpflichtet. Es ist keineswegs üblich, daß juristische Methodenlehre als Verfassungsrecht verstanden wird. Das liegt an der Dominanz der Zivilrechtler auf dem Feld der Methodenlehre.1 Ihnen sind weit fortgeschrittene Untersuchungen über die Fragen nach gebräuchlichen und möglichen Rechtsmethoden zu verdanken. Die Antwort auf die Frage der rechtlichen Grenzen möglicher Methoden müßte das Verfassungsrecht beantworten. Deshalb sollte sich das öffentliche Recht in die allgemeine Methodenlehre vermehrt einschalten. Die Methodenlehre soll hier nicht als eine Wissenschaft „über dem Recht" verstanden werden, sondern als Rechtswissenschaft: Sie ist die Lehre von den Methodennormen2, und Methodennormen sind Rechtsnormen. Die Methodenlehre soll deshalb die Lehre vom Methodenrecht 3 sein. Zu wenig werden Rechtsmethoden als Methodenrecht untersucht.4 Dabei ist zu fordern, daß die Methodenlehre von Zivil-, Straf- und Öffentlichrechtlern als gemeinsame Aufgabe behandelt wird, wobei der Aspekt des Methodenrechts inbesondere von den Verfassungsrechtlern zu klären ist. Methodenrecht im hier verstandenen Sinn ist wesentlich Verfassungsrecht 5. Aus der Vielzahl der in Betracht kommenden (verfassungsrechtlichen) Methodennormen soll hier der Gleichheitssatz untersucht werden. Dabei ist es not-

1 So noch kürzlich Häberle, Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen - ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127, 128 m. w. N. 2 Hierzu ausfuhrlich unter C I (Die Funktionen der Methodenlehre: Zum Begriff der „Methodennorm"), S. 29 ff. 3 Siehe unter C II (,£>as Bedürfnis nach Legitimation von Methodennormen: Zum Begriff des „Methodenrechts" ), S. 39 ff. 4 Insoweit grundlegend Gern, Die Rangfolge der Auslegungsmethoden von Rechtsnormen, Verwaltungs-Archiv 80 (1989), S. 415 ff. 5 Zum Verfassungsrang der Auslegungsmethoden in der Schweiz und im allgemeinen vergleiche Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303, 350 f.

2 Michael

18

Α. Vorbemerkungen zu Thema und Gliederung

wendig, auf dessen Verhältnis zu Art. 20 Abs. 3 GG einzugehen. Der Gleichheitssatz gebietet die wertende Abwägung und setzt methodenrechtliche Maßstäbe. Eine Arbeit über Abwägung ist eine Arbeit über rechtliche Wertungen. Gemeint sind nicht nur die verfassungsrechtlichen Abwägungen, sondern auch alle einfachrechtlichen Abwägungen. Diese Abwägungen sind im Zivil-, Straf- und Verwaltungsrecht gleichermaßen Wertungsfragen. Diese Wertungsfragen jenseits des Subsumtionsmodells rücken in den Mittelpunkt der Methodenlehre. Die Fragen an die Methodenlehre beginnen sozusagen erst da, wo das Subsumtionsmodell starrer Bindung versagt. Eine Arbeit über Methodenrecht muß im wesentlichen eine Arbeit über Abwägungen sein. Umgekehrt sollte eine Arbeit über Abwägungen eine Arbeit über das Methodenrecht sein: Die inhaltliche Unbestimmtheit der Rechtsbindung bei Abwägungsfragen kann durch die Bestimmtheit methodenrechtlicher Bindungen „kompensiert" werden. Auf der Suche nach den Methoden der Abwägung stößt man auf eine zivilrechtliche Lehre, nämlich auf Wilburgs sog. „bewegliche Systeme"6. Seine Idee soll hier in Anlehnung an Ottes Terminologie7 zur Theorie der komparativen Systeme weiterentwickelt werden. Dabei werden die Lehre von den Rechtsprinzipien sowie straf- und öffentlich-rechtliche Ansätze, insbesondere die Abwägungslehre in die allgemeine Methodenlehre integriert. Diese Arbeit ist deshalb stark von Übertragungen zivilrechtlicher und strafrechtlicher Strukturen auf das öffentliche Recht und umgekehrt geprägt. Wie wichtig es ist, Berührungsängste zwischen Zivilrecht und öffentlichem Recht in Methodenfragen zu überwinden, kann nicht genug betont werden: Die Öffentlichrechtler haben sich von der Dominanz der Zivilrechtler in der Methodenlehre zu lange „einschüchtern" lassen, als könne dieser Rückstand nicht aufgeholt werden. Die Zivilrechtler haben sich deshalb (zu Recht) als einzig berufene Anwälte der großen Tradition der Methodenlehre verstanden. Das öffentliche Recht hat Abwägungslehren, die Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff und vom Ermessen entwickelt, die mit den „beweglichen Systemen" Wilburgs frappierende strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Als Hill auf der Staatsrechtslehrertagung 1988 die Lehre Wilburgs für das Verfassungsrecht zur Bewältigung der Leistungsgesetzgebung vorschlug8, gab es Reaktionen, 6

Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts, 1941; ders., Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, Rede zur Inauguration als Rector magnificus der Karl-Franzens-Universität in Graz am 22.11.1950; ders., Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346 ff. 7 Otte, Komparative Sätze im Recht; Zur Logik eines beweglichen Systems in Jahrbuch fur Soziologie und Rechtstheorie Band 2 (1972), S. 301 ff. Vergleiche hierzu unten Fußnote 10 auf S. 117. 8 Hill, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL Heft 47 (1989), S. 172 ff., S. 180 ff. Vergleiche jetzt auch ders., Strategische Erfolgsfaktoren

Α. Vorbemerkungen zu Thema und Gliederung

19

die deshalb kaum überraschen mögen: Es wurden weniger Bedenken gegenüber dem ,Fremdkörper österreichischer Zivilistik" geäußert, als vielmehr die Frage gestellt, ob Beweglichkeit" (im öffentlichen Recht) eigentlich etwas Neues in der Gesetzgebung, Gesetzesauslegung und -konkretisierung darstelle.9 Diese Frage kann nur stellen, wem die Wertungen des öffentlichen Rechts selbstverständlicher sind als die vermeintlich herrschende „allgemeine Methodenlehre". Denn die „klassische", zivilistisch besetzte Methodenlehre hat „ihren" Wilburg als Revolutionär behandelt. Sie hat seine Lehre bis heute nicht integriert. 10 Aber es werden immer mehr Stimmen laut, die dies fordern. Wilburg hat provokativ formuliert, daß das Privatrecht erst am Beginn seiner Entwicklung stehe.11 Es ist deshalb zu prüfen, ob sich durch „bewegliche Systeme" die Methodenlehre und mit ihr das Privatrecht weiterentwickeln läßt. Erstmals könnte dem öffentlichen Recht dabei eine Vorreiterrolle in der Methodenlehre zukommen, wenn nämlich dort „bewegliche Systeme" bereits geübte Praxis sind. Dabei gilt es, auch die methodenrechtlichen Schranken der Beweglichkeit" zu verdeutlichen. Endlich kann die Rechtswissenschaft damit zu einer gemeinsamen Methodenlehre gelangen, die die Wertungsprobleme des öffentlichen Rechts adäquat behandelt und die nicht weniger im Zivilrecht zu überzeugenden Lösungen und zu gesteigerter Methodenklarheit führt. Die vielbeklagte Praxisferne der Methodenlehre liegt vielleicht schon daran, daß sie diese gemeinsamen Fragen der Wertung nicht „mit vereinten Kräften" angeht. Die hier vorgelegte Theorie komparativer Systeme ist als Beitrag zu diesem „Schulterschluß" der Rechtswissenschaft konzipiert. Der Begriff ,System" kommt von griechisch systema und bedeutet dort „aus mehreren Teilen zusammengesetztes Ganzes"12. Dieses „Ganze" kann im Falle der komparativen Systeme aus einer einzelnen Norm (i. e. komparative Norm) oder aus einem umfassenderen Regelungsbereich bestehen. Die „Teile" sind hier die rechtlichen Elemente oder Gesichtspunkte, aus denen das „Ganze" komparativ zusammengesetzt ist.

in der öffentlichen Verwaltung in Hermann Hill, Helmut Klages (Hrsg.), Qualitäts- und erfolgsorientiertes Verwaltungsmanagement, 1993, S. 29. 9 Breuers Diskussionsbeitrag W D S t R L Heft 47 (1989), S. 245. 10 Eine Zusammenstellung dieser Vorbehalte findet sich bei Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 93 Fußnote 455. 11 Westerhoff resümiert, daran habe sich bis heute nichts geändert; vergleiche ebenda S. 94 Fußnote 458 m. w. N. 12 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 2. Auflage 1989; zum Systembegriff in der Rechtswissenschaft vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 11 ff. m. w. N. sowie Peine, Das Recht als System, 1983, S. 125. 2*

20

Α. Vorbemerkungen zu Thema und Gliederung

,Komparativ" bedeutet als deutsches Fremdwort sowohl „vergleichend" als auch „steigernd"13, das lateinische comparare auch „ausgleichen". Tatsächlich erlauben und erfordern die komparativen Systeme die Vergleichung ihrer Elemente. Bei komparativen Systemen wird das Recht vergleichend aus den je relevanten Elementen gewonnen. Tatsächlich bestehen die komparativen Systeme aus Elementen, deren Gewichtung nicht starr feststeht, sondern mit Hilfe von Steigerungsformen (,je mehr ..., desto ...") gewonnen wird. Und tatsächlich ist es möglich, mit Hilfe der komparativen Systeme das Recht durch einen Ausgleich jener steigerungsfähigen Elemente zu gewinnen. Was komparative Systeme im einzelnen sind, soll in dieser Arbeit schrittweise deutlich gemacht werden. Dabei wird zunächst offengelegt, an welche Entwicklungen der Methodenlehre anzuknüpfen ist und inwieweit ihnen mit den komparativen Systemen entgegentreten werden soll (dazu im Teil B). Dabei wird der verfassungsrechtliche Ansatz eines Methodenrechts anstelle der überkommenen Methodenlehre herausgearbeitet (dazu unter C). Sodann werden Wilburgs Idee von den „beweglichen Systemen" und ihr verwandte Lehren analysiert (dazu im Teil D). Dies fuhrt zu einer gemeinsamen Theorie der komparativen Systeme (dazu im Teil E). Die Erörterung der Funktionen komparativer Systeme (dazu im Teil F) führt zu mehreren In- und Exkursen. Es werden einige Anwendungsfelder für komparative Systeme beispielhaft herausgegriffen. Damit soll der praktische Stellenwert komparativer Systeme verdeutlicht werden. Diese Beispiele stellen ein Bindeglied zwischen der oft beklagenswert isolierten Theorie und der bisweilen methodisch unreflektierten Praxis dar. Meines Erachtens ist es wichtig, daß die Methodenlehre und mehr noch das Methodenrecht die Brücken zur Praxis selbst schlägt.14 Hierbei wird ein Schwerpunkt auf das öffentliche Recht und das Strafrecht gelegt.15 Mehrere zivilrechtliche Beispiele werden hingegen bereits im Rahmen von Wilburgs und Benders Theorien (im Teil D) erörtert. Neben der praktischen Relevanz der Theorie der komparativen Systeme wird aber auch deren theoretische Bedeutung für die Auslegungsmethoden behandelt. Daran schließt sich ein Beitrag zur Methodik der Rechtsvergleichung an. Der (verfassungsrechtlichen) Legitimation der Theorie der komparativen Systeme ist ein eigener Abschnitt gewidmet (dazu im Teil G). Die Theorie der komparativen Systeme führt dabei zu einem klar gestuften Verständnis des Art. 3 Abs. 1 GG, das Antworten auf zahlreiche zur Zeit sehr umstrittene Fragen geben kann. Nach der methodenrechtlichen Legitimation der komparativen Systeme sollen zuletzt auch deren methodenrechtliche Schranken erörtert werden (dazu im Teil H). 13

Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 2. Auflage 1989. Vorbildlich ist in dieser Hinsicht etwa Pawlowski, Methodenlehre fur Juristen, 2. Auflage 1991, z. B. S. 44 ff. und 139 ff. 15 Damit soll lediglich der klassischen Dominanz der Zivilrechtler in der Methodenlehre entgegengewirkt werden. Im übrigen sei diese Arbeit (wie jene) als Beitrag zur allgemeinen Methodenlehre verstanden. 14

Β. Bestandsaufnahme zur allgemeinen Methodenlehre

I. Der Gegenstand der Methodenlehre Gegenstand der juristischen Methode ist das Recht. Doch was ist Recht? Muß die Lehre vom Begriff des Rechts als eine eigene Disziplin der Methodenlehre vorgelagert sein? Dies erscheint geradezu zwingend, da Methode (von griechisch methodos = Weg, Gang) nur beschreibbar ist als Methode eines bestimmten Vorgangs, hier des Denkvorgangs der Rechtserkenntnis. Eine Methodenlehre setzt ihren Gegenstand voraus. Allerdings steht das Recht als Gegenstand nicht nur am Anfang, sondern auch am Ziel dieses Weges1, der juristischen Methode. Damit ist zweierlei gemeint: Erstens kann dieser Weg vom abstrakten Recht der Normen zum konkreten Recht der Fallentscheidung fuhren. Zweitens kann und muß die Methodenlehre darüber hinaus den Weg zur rechtsschöpfenden Gewinnung und Fortbildung des (abstrakten und konkreten) Rechts weisen. Die Methodenlehre des Rechts zeigt also Wege „vom" und „zum" Recht. Sowohl die Methodenlehre als auch die Lehre vom Rechtsbegriff 2 muß sich dieses Dilemmas bewußt sein: Rechtsbegriff und Methode bedingen sich gegenseitig. Ein vergeblicher Versuch, dem Dilemma zu entkommen, ist die Vorstellung, die Rechtserkenntnisfließe aus der „Rechtsquelle"3. Zwar verbildlicht dieser Begriff, daß es einen Anknüpfungsgegenstand der Methode gibt und geben muß. Meines Erachtens erschöpft sich jedoch der Wert des Rechtsquellenbegriffs in

1 Bydlinski, der sich in Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 179 ff. beide Fragen ausdrücklich stellt, fordert das Primat der Methode, aus der der Rechtsbegriff erst gewonnen werde. 2 Vergleiche hierzu bereits Bierling, Juristische Prinzipienlehre in 5 Bänden, 18941917, Band I, S. 3 ff, 19; zum Problem des positivistischen Rechtsbegriffs vergleiche Dreier, Der Begriff des Rechts NJW 1986, 890 ff. einerseits und andererseits Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus NJW 1986, 2480 ff. 3 Zum Problem der Rechtsquelle vergleiche jetzt auch Häberle, Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen - ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127 ff

22

Β. Bestandsaufnahme zur allgemeinen Methodenlehre

dieser Veranschaulichung. Der „Weg" zur Rechtserkenntnis darf nicht auf die Methode der Auslegung und Anwendung anerkannter „Rechtsquellen" beschränkt werden., Anerkannt" sind zwar auch das Richter-4 und das Gewohnheitsrecht als Quellen. Nicht erklären kann das Bild der Rechtsquelle jedoch deren Entstehung und Anerkennung, die sich als ein ständiger Prozeß darstellen.5 Bildlich gesprochen müßte der „Quellstrom zur Quelle zurückfließen" können. Die Rechtsquelle ist keine geeignete rechtliche Größe, auf die man alles Recht zurückfuhren könnte, sondern bestenfalls Arbeitshypothese, die auf dem Weg zum Recht überwunden werden muß. Das bedeutet nicht, daß jede Rechtserkenntnis im Sinne eines Kreislaufs das abstrakte Recht erweitert. Aber im Rahmen von Selbstbindungsmechanismen wird die dem kontinentaleuropäischen Recht zugrundeliegende Aufgabenteilung von Gesetzgebung einerseits und Gesetzesanwendung durch Rechtsprechung und Verwaltung andererseits vor Erstarrung bewahrt. Mit gutem Grund deuten schon die genannten Begriffe für unsere Staatsgewalten darauf hin, daß der Gesetzgeber weniger ist als das Monopol einer ,,Rechtsgebun£' und die Rechtsprechung mehr als „Gesetzsprechungf'. Der Rechtsquellenbegriff muß entweder mit angreifbaren Vereinfachungen und Verkürzungen den Gegenstand der Methodenlehre beschreiben oder sich in einer Weise öffnen, die ihn jeglicher Anschaulichkeit beraubt. Es bleibt nur das Eingeständnis des genannten Dilemmas und so wird der Gegenstand der Methodenlehre im folgenden Undefiniert vorausgesetzt.6 Die Beschäftigung mit der Grundsatzfrage, ob das Recht der Methode vorgehe oder umgekehrt, erinnert an das Gedankenspiel des Primats von Henne oder Ei. Möglicherweise läßt sich die Weisheit des Satzes, der Weg sei das Ziel, auf das Dilemma der Methode der Rechtserkenntnis übertragen. Die Methodenlehre sollte eine Rechtslehre sein, genauer gesagt, die Lehre vom Methodenrecht.

II. Der Inhalt der Methodenlehre Inhalt der rechtlichen Methodenlehre sind Denkvorgänge juristischer Tätigkeit. Doch welcher Art sind die Denkvorgänge, die der Jurist leistet? Welchen Grenzen unterliegt seine Tätigkeit? Die Methodenlehren weichen bereits in dieser Frage, also thematisch-inhaltlich erheblich voneinander ab. Sie ergänzen sich dadurch teils gegenseitig, verschieben aber auch Schwerpunkte oder widersprechen sich offen. 4

Hierzu Esser, Richterrecht, Gerichtsgebrauch und Gewohnheitsrecht, in ders., Wege der Rechtsgewinnung (hrsg. von Häberle und Leser), 1990, S. 160 ff. 5 Zur Kritik am Rechtsquellenbegriff vergleiche zuletzt ebenda, S. 138 f. 6 Ebenso Pawlowski, Methodenlehre fur Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 4 m. w. N.

II. De

h t der Methodenlehre

23

Larenz bezeichnet im Vorwort zur 1. Auflage seiner 1960 erschienenen Methodenlehre7 den Typus der heutigen deutschen Rechtswissenschaft als „vornehmlich am Gesetz oder doch am 'Rechtssatz' orientiert, nicht am vorentschiedenen Fair. Dem entspricht als Inhalt der Methodenlehre die Gesetzesanwendung, allgemeiner gesagt die Regelanwendun,g 8 bzw. Rechtsanwendung 9. Allerdings erschöpft sich der Inhalt der Methodenlehre hierin nicht. Die Methodenlehre beschränkt sich nicht auf die reine Gesetzesanwendung. Es entstand der allgemeinere Begriff der Rechtsfindung 10. Aber auch dieser Begriff wurde nicht allgemein konsensfahig. Es wird nämlich heftig bestritten, daß der Charakter juristischer Methode mit der „Findungf4 (vorgegebenen) Rechts typischerweise beschrieben wird. 11 Diese Kritik deckt sich weitgehend mit der Anzweiflung des Subsumtions- und Deduktionsmodells. Inzwischen ist anerkannt, daß sich die Methodenlehre nicht in diesen Modellen erschöpft. 12 Die Frage ist also die, ob juristische Methode überhaupt je (vergleichbar einem naturwissenschaftlichen Erkenntnisvorgang) vorgegebenes Recht enthüllt, d. h. durch Auslegung und Anwendung findet. Dem widersetzt sich ein Modell, das die juristische Methode als einen Vorgang der Rechtsgewinnung beschreibt.13 Danach muß die juristische Tätigkeit vom Fall, nicht vom Text der Norm ausgehen.14 Auch wenn nach dieser Vorstellung das Recht selbst erst in bezug zum Fall entwickelt und gewonnen wird, soll damit freilich weder die Existenz der abstrakten Norm geleugnet, noch die juristische Arbeit als freie Rechtsschöpfung von den Normvorgaben gelöst werden. Vielmehr erfolge die Rechtsgewinnung durch Normkonkretisierung 15. Sogar wird Rechtsgewinnung als Oberbegriff für Auslegung und Rechtssatzergänzung definiert. 16 Letztlich handelt es sich bei der Verdrängung des Begriffs der Rechtsfin7

Siehe Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. IX. Perelmann, Über die Gerechtigkeit, 1945, übersetzt ins Deutsche von Viehweg, 1967, S. 132 ff. 9 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 11. Zu seiner Kritik sogleich. 10 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 6. 11 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 11 m. w.N. 12 Vergleiche Schreiner, Die Intersubjektivität von Wertungen, 1980, S. 11. 13 So Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 11 im Anschluß an Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912. Vergleiche auch den Titel des Sammelbandes von Esser, Wege der Rechtsgewinnung, 1990 herausgegeben von Häberle und Leser. (Allerdings benutzt Esser selbst in seinem Werk „Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Auflage 1972, auch den Begriff „Rechtsfindung^ 4. 14 Vergleiche Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Auflage 1976, S. 159. 15 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 11. 16 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Auflage 1976, S. 13. 8

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Β. Bestandsaufnahme zur allgemeinen Methodenlehre

dung durch den der Rechtsgewinnung um eine Verschiebung des RechtsbegrifFs. Ist Recht die abstrakte Vorgabe, die Summe der Normen, oder ist Recht nur auf den Fall bezogen beschreibbar? Es ist eine neue Variante des bereits oben aufgeworfenen Problems, ob das Recht vorgegebener Gegenstand oder erklärtes Ziel der Methodenlehre ist. Die Rechtsfindung scheint der Idee der „Rechtsquelle", der Notwendigkeit ableitbaren, abstrakten Rechts verhaftet zu sein. Die Rechtsgewinnung hingegen konzentriert sich einseitig auf die Entstehung konkreten Fallrechts. Nicht die Trennung17, aber die Unvereinbarkeit beider Vorstellungen muß überwunden werden, da der Begriff des Rechts dreifach verwendbar sein sollte: Der Rechtsbegriff wird sowohl im Bereich des Gegenstandes der Methode, ζ. B. als Qualifizierung der Norm als Rechts-Satz (abstraktes Recht), als auch zur Charakterisierung des konkreten Rechts als Ziel der Methode und schließlich zur Beschreibung der Wechselwirkungen beider Aspekte bei der Entstehung von Richter- und Gewohnheitsrecht gebraucht. Wer erst und allein der Methodenlehre den qualitativen Sprung auf die Stufe des Rechts aufbürdet, überfordert sie. Wer die schöpferische Leistung der Gewinnung (konkreten und abstrakten) Rechts aus der Methodenlehre ausklammert, unterfordert sie. Vielmehr läßt sich die Zielrichtung der Methode (nämlich auf das Recht hin) in eine Art Kreislauf bzw. Spirale einbinden: Gegenstand und Ausgangspunkt sowie deren Ziel und Ergebnis ist nur mit dem Rechtsbegriff zu erfassen. 18 Tatsächlich läßt sich so auch der sonst schwer faßbare Begriff der Rechtsfortbildung ]9 einordnen. Rechtsfindung und Rechtsgewinnung ergänzen sich in einer so verstandenen Methode des Rechts, sie schließen sich nicht aus. Es mag hier offen bleiben, ob es einerseits eine „reine" Rechtsfindung geben kann oder ob die Nichtidentität der Fälle mit abstrakten Rechtssätzen oder Präjudizien stets (auch) einen Rechtsgewinnungsprozeß erfordert und ob andererseits die „reine" Rechtsgewinnung ohne Anknüpfung an vorgegebenes Recht zur Aufgabe des Juristen gehört. Wenn die Trennung von Gegenstand und Ziel der Methodenlehre überwunden wird, muß dies nicht den Preis haben, jegliche Klarheit zu verlieren, wenn beide Modelle als Arbeitshypothesen weiterverwendet werden. Neutral zum Rechtsbegriff verhalten sich hingegen Bezeichnungen wie Entscheidungs-findung 20 bzw. -gewinnung. Damit weichen sie dem Rechtsbegriff

17

Hierzu noch auf S. 145 f. Das liegt u.a. an der Offenheit des „objektiven Systems" in der Jurisprudenz; vergleiche Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, § 3. 19 Für alle Pawlowski, Methodenlehre ftir Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 8 m. w. N. 20 Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992, S. 19. 18

III. Die Reichweite der Methodenlehre

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und letztlich dem Anspruch der Rechtswissenschaft jedoch aus.21 Treffender erscheint deshalb der Begriff der Rechtserkenntnis 22, der sich neutral zur „Richtung", nicht jedoch zum Recht als Inhalt der Methodenlehre verhält. Erwähnt seien hier noch Bestrebungen, die an die Sprachlichkeit des Rechts anknüpfen 23 oder die juristische Argumentation 24 und Begründung 25 untersuchen. Diese Arbeiten haben die Methodenlehre in jüngerer Zeit wesentlich bereichert. Sie dürfen nicht als Ersatz26, sondern als Ergänzung zur Methodenlehre verstanden werden. Die Methodenlehre muß sich den Fragen der Erkenntnis und der Begründung27 getroffener Entscheidungen stellen. So kann sie zur Richtigkeit und Nachvollziehbarkeit, gegebenenfalls zur Nachprüfbarkeit und Revisibilität von Entscheidungen beitragen.

III. Die Reichweite der Methodenlehre Bislang war vom Recht nur allgemein ohne Eingrenzung oder Differenzierung die Rede. Obwohl es sich um eine „Metawissenschaft" handelt, muß auch die Methodenlehre räumliche Grenzen zur Kenntnis nehmen. Diese Grenzen, d. h. die des nationalen Rechts und sogar des unseres kontinentaleuropäischen Rechtskreises, sind freilich nicht unüberwindlich. Die Vergleichung wurde durch Esser28

21

Radbruch stellt dem § 4 (Der Begriff des Rechts) seiner Rechtsphilosophie, Gesamtausgabe Band 2, Rechtsphilosophie II, herausgegeben und bearbeitet von Arthur Kaufmann, Heidelberg 1993, S. 255 das Goethe-Zitat voran „Wer sich vor der Idee scheut, hat auch zuletzt den Begriff nicht mehr." (Aus Goethes „Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik"; Nachweis ebenda im Editionsbericht, S. 569). 22 Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, insbesondere Randzeichen 423, 540, unterscheidet zwischen Rechtserkenntnis im engeren und weiteren Sinne. 23 Etwa die rechtslinguistische Untersuchung von Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989. 24 Bereits von Perelmann, Über die Gerechtigkeit, 1945, übersetzt ins Deutsche von Viehweg, 1967, S. 135 gefordert; von Alexy, insbesondere in seiner Theorie der juristischen Argumentation, 2. Auflage 1991, eingelöst. 25 Hierzu etwa Schreiner, Die Intersubjektivität von Wertungen, 1980, S. 15. 26 Solche Tendenzen finden sich aber etwa bei Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 25, wenn er etwa die Canones einzig zur Rechtfertigung von Ergebnissen für tauglich hält. 27 Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992 S. 19 hält im Gegensatz zu Schreiner, Die Intersubjektivität von Wertungen, 1980, S. 15 Entscheidungsfindung und -begründung für nicht voneinander trennbar. 28 Insbesondere im 3. und 5. Teil von Grundsatz und Norm, 4. Auflage 1990, S. 141 ff. und 336 ff.

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Β. Bestandsaufnahme zur allgemeinen Methodenlehre

und Fikentscher29 fur die Wissenschaft fruchtbar gemacht. Da die Methodenlehre nicht mit universalen Gerechtigkeitstheorien verwechselt werden darf, bedarf es erst der Rechtsvergleichung, um methodenrechtliche Erkenntnisse einzuordnen und gegebenenfalls zu übertragen. Da in dieser Arbeit in besonderem Maße an positivem deutschen Recht30 angeknüpft werden soll, gilt dies erst recht für deren Ergebnisse. Die Rechtsvergleichung sollte dem Gebiet der Methodenlehre eine Vorrangstellung einräumen, weil sich einerseits die Grundsätze des Rechts und methodische Prinzipien besonders zur Vergleichung eignen und weil andererseits eine Methodenvergleichung geradezu Voraussetzung für eine sinnvolle Vergleichung speziellen Rechts darstellt. Neben den räumlichen Grenzen sind es aber auch inhaltliche Differenzierungen, mit denen sich die Methodenlehre auseinandersetzen muß und die sie soweit wie möglich zu überwinden sucht. Während wissenschaftliche Rechtsdogmatik nach dem Weg, der Methode zur Lösung je einzelner Rechtsprobleme forscht, 31 sucht die Methodenlehre nach Erkenntnissen, die nicht nur für einen einzelnen Fall, eine Norm, ein Regelwerk, ein Rechtsgebiet gelten. Niemand wird bestreiten, daß sich die Methoden je nach Umgang mit verschiedenen Rechtsgebieten32 sowie nach Art 33 und Funktion34 verschiedener Normen und Normanwender35 unterscheiden können und müssen. Das macht die Suche nach „größten gemeinsamen Nennern" weder unmöglich noch überflüssig. Wichtig ist dabei nur, daß Autoren und Leser sich bewußt machen, daß es hier um einen „vor die Klammer gezogenen allgemeinen Teil" der Rechtswissenschaft geht, der der Konkretisierung fähig und bedürftig ist. Das Abstraktionsniveau derartiger allgemeiner Teile ist dem Juristen aus dem BGB, dem StGB sowie etwa den Verwaltungsverfahrensgesetzen geläufig. Daß es sich hierbei nicht allein um eine gesetzgeberische

29

Grundlegende Gedanken finden sich in Fikentscher, Gedanken zu einer rechtsvergleichenden Methodenlehre, Festschrift 150 Jahre Heymann-Verlag, 1965, S. 141 ff. Eingelöst hat Fikentscher seine dort formulierten Forderungen in seinem fünfbändigen Werk Methoden des Rechts, 1975-1977. 30 Wozu auch das europäische Gemeinschaftsrecht gehört. 31 Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 9 und 715. 32 Vergleiche zu den Besonderheiten im öffentlichen Recht etwa Pawlowski, ebenda Randzeichen 356, 508, 690 ff sowie im Strafrecht ders., ebenda Randzeichen 356, 508. 33 Vergleiche zur Rechtsprechung des BGH über Besonderheiten etwa der Auslegung von Verfahrensnormen, Ausnahmevorschriften, Präklusionsvorschriften oder IPRNormen Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992, S. 210 f. 34 Pawlowski, Methodenlehre fur Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 508. 35 Zur Differenzierung nach Tätigkeitsbereichen vergleiche Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 510.

III. Die Reichweite der Methodenlehre

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Vorgabe, sondern um den Ausdruck einer originär juristischen Neigung zu Abstraktionen36 handelt, beweist die dogmatische Herausbildung des allgemeinen Verwaltungsrechts, deren positive Normierung - ganz im Sinne Häberles Textstufenparadigmas 37 - erst die Folge war. Die allgemeine Methodenlehre steht auf dem hohen Abstraktionsniveau eines „allgemeinen Teils aller Rechtsgebiete"38. Methodenrechtliche Elemente eines solchen „allgemeinen Teils aller Rechtsgebiete" sind in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen sowie im Verfassungsrecht zu suchen. So wie die „Rechtsphilosophie als Verfassungslehre" (und umgekehrt) zu begreifen ist,39 so muß auch die „Methodenlehre als Verfassungslehre" verstanden werden. Denn das materielle Verfassungsrecht 40 und die allgemeinen Rechtsgrundsätze wirken prägend in der ganzen Rechtsordnung. Sie werden durch das einfache Recht konkretisiert, so wie die besonderen Teile eines Gesetzbuches deren allgemeine Teile konkretisieren.

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Dies gilt jedenfalls für das deutsche Recht. Mayer-Hayos, Einleitungsartikel des schweizerischen ZGB, S. 11 f. gibt der größeren Volkstümlichkeit des Fehlens eines derartigen abstrakten allgemeinen Teils im ZGB (unter Hinweis auf das Laienrichtertum) für die Praxis den Vorzug und betont, daß die methodischen Einleitungsartikel kein allgemeiner Teil zum ZGB sind. Dem ist insofern zuzustimmen, als die Art. 1-10 ZGB den allgemeinen Teil des BGB nicht ersetzen, sondern vielmehr noch allgemeinere Vorfragen regeln. 37 Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 ff.; ders., Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in Festschrift fur Partsch, 1989, S. 555 ff.; ders., Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten - eine vergleichende Textstufenanalyse in Festschrift für Pedrazzini, 1990, S. 105 ff.; ders., Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierungen des Verfassungsstaates, VRÜ 1990, S. 225 ff.; ders., Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, Die Verwaltung 1991, S. 169 ff. (172 f.); ders., Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. (270), jetzt auch in ders.; Europäische Rechtskultur, 1994, S. 33; ders., Die Entwicklung des Föderalismus in Deutschland — insbesondere in der Phase der Vereinigung, in Kramer (Hrsg.), Föderalismus zwischen Integration und Sezession, 1993, S. 201 ff.; ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. und passim; ders., Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen - ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127 ff. 38

Zur Notwendigkeit eines „allgemeinen Teils des Rechts" vergleiche Schilcher, Gesetzgebung und bewegliches System, in Bydlinski (Hrsg.), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 287 ff, S. 310 f. 39 Häberle, Verfassungsentwicklungen in Osteuropa - aus Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, AöR 117 (1992), 169 ff; vergleiche auch ders., Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen - ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127, 128. 40 Insbesondere die Artikel 1 bis 20 GG.

28

Β. Bestandsaufnahme zur allgemeinen Methodenlehre

Der Geltungsvorrang des Verfassungsrechts zwingt dazu, Funktion und Reichweite solcher Prägungswirkung festzulegen. Meine verfassungsrechtlichen Untersuchungen der Methodenlehre konzipieren weniger ein Methodenrecht „fiüi" das Verfassungsrecht als vielmehr ein allgemeines Methodenrecht „aus" dem Verfassungsrecht.

C. Verfassungsrechtlicher Ansatz: Was ist mit „Methodennorm" und „Methodenrecht" gemeint?

I. Die Funktionen der Methodenlehre: Zum Begriff der „Methodennorm" Die Frage nach den Funktionen der Methodenlehre in der Rechtswissenschaft kann an das Selbstverständnis der Autoren anknüpfen: Welche Aufgabe stellt sich die Methodenlehre? a) Will sie die Rechtsmethoden beschreiben? b) Stellt sie „normativ" Forderungen auf? Gibt es Methodennormen? c) Welchen ,Anspruch" erhebt die Methodenlehre? Welchen Stellenwert hat sie in der Rechtswissenschaft? Welche Lehren kann und muß die Methodenlehre aus der Vergangenheit der NS- und der DDR-Zeit ziehen? 1. Die Methodenlehre als beschreibende Wissenschaft? Die Methodenlehre reflektiert die Rechtswissenschaft, sie beschreibt deren Methoden und lehrt sie zu verstehen.1 Von diesem Ausgangspunkt hat sich die Literatur immer weiter entfernt. Untersuchungen darüber, wie Juristen tatsächlich methodisch vorgehen, sind bedauerlicherweise selten.2 Die Scheu der Rechtswissenschaftler hiervor liegt wahrscheinlich in dem Anspruch der Rechtswissenschaft, eine normative und keine empirische Wissenschaft zu sein.3 Trotzdem

1

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. IX (Vorwort zur 1. Auflage). 2 So Hilgendorf, NJW 1993, S. 716 in seiner Rezension der in dieses Feld vorbildlich vorstoßenden Arbeit Seilers, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992. Ausdrücklich unterscheidet Seiler, ebenda, S. 25 zwischen deskriptiven und präskriptiven Theorien. 3 So bezeichnete Kelsen, Über die Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, 1911, S. 5 den Gegensatz zwischen Soziologie (Sein) und Jurisprudenz (Sollen) als methodologischen. Dagegen ließe sich einwenden, die deskriptive juristische Methodenlehre handele vom „Sein der Sollenswissenschafit".

30

C. Verfassungsrechtlicher Ansatz

dürfen wir den Wert derartiger Untersuchungen nicht geringschätzen. Sie eröffnen mitunter Chancen, Brücken zu schlagen zwischen Theorie und Praxis, die sich gerade in Methodenfragen immer weiter voneinander zu entfernen scheinen.4 Solche Chancen sollten ernst genommen werden. Beschreibung, Analyse und Kritik der Methodenpraxis können die Korrekturfunktion der Wissenschaft beleben und im Idealfall einen Dialog zwischen Theorie und Praxis auch auf diesem „theoriebelasteten" Feld vorbereiten.5 Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es zu den originär wissenschaftlichen Aufgaben zählt, Methoden zu entwickeln und nicht allein die Praxis zu rezipieren. 2. Die Methodenlehre als normative Wissenschaft? Gibt es Methodennormen? Tatsächlich ist die wissenschaftliche Methodenlehre in erster Linie normativ geprägt, d. h. sie erklärt, wie die Praxis methodisch verfahren soll. 6 Jedoch werden auch ihre Forderungen von der Praxis weitgehend ignoriert 7, obwohl die Fülle der Literatur auf ein großes Bedürfnis nach gesicherten Regeln hindeutet.8 Für diesen Widerspruch gibt es zwei mögliche Erklärungen: Erstens könnte dieses Bedürfnis ein rein wissenschaftliches sein, während die Praxis nicht daran interessiert ist, methodische Unsicherheiten aufzuklären. Mancher mag eine solche „anarchistische" Tendenz der Praxis vermuten, wenn diese auch von ihr selbst anerkannte und proklamierte Methoden nicht immer offenlegt noch konsequent umsetzt.9 Ein derartiger Ungebundenheitswille der Praxis darf jedoch nicht allein als Ignoranz verurteilt werden. Vielmehr ist es nicht Aufgabe der Praxis und daher auch nicht wünschenswert, den wissenschaftlichen Methodenstreit zu „entscheiden", sich festzulegen, möglicherweise gar zu binden. Und der Nachweis, daß „die Praxis" Ideen der Methodenlehre nicht doch durch die Verknüpfung von Wissenschaft und Lehre - und sei es um eine Generation verschoben - aufnimmt und bewußt oder unbewußt10 verinnerlicht, ist nicht gefuhrt. Die Unterstellung, das Bedürfnis nach gesicherten Methoden ende mit dem Ab4

Vergleiche hierzu Ryffel, Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 55. 5 Etwa Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979 oder ζ. B. Geis, Die pragmatische Sanktion der „verfassungskonformen Analogie" als methodische Kritik an BVerfG, NJW 1992, S. 2947 in NJW 1992, S. 2938. 6 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Auflage 1976, S. 21. 7 Ebenda. 8 Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 2. 9 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 308 bringt dies auf die Formel, „daß die Gerichte nicht tun, was sie sagen, aber auch nicht sagen, was sie tun". 10 Hilgendorf, Rezension von Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992 in NJW 1993, S. 716 spricht im Anschluß an Seiler von impliziten Auslegungsgrundsätzen.

I. Die

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der Methodenlehre

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schluß der Ausbildung und schlage dann ins Gegenteil um, ist überzogen. Richtig ist vielmehr, daß gerade die Praxis stets um Rechtssicherheit bemüht ist, zu der notwendig auch die Methodensicherheit gehört. Zweitens könnte das also bestehende Bedürfnis nach Methodensicherheit bislang unbefriedigt geblieben sein.11 Hierfür kommen folgende Gründe in Betracht: - Die Literatur ist von Zweifeln geprägt, d. h., es werden mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben.12 - Die Methodenlehre wurde zur „Geheimwissenschaft im Elfenbeinturm", die wirklichkeitsfremd ist und nur noch von Spezialisten verstanden wird. 13 - Die Literatur differenziert ihre Forderungen nicht genug danach, welche Regeln angewendet werden müssen, sollen oder dürfen 14 und mit welchem Selbstanspruch15. - Die Literatur hat ihre Forderungen und ihren Geltungsanspruch nicht legitimiert 16. Während die ersten beiden Gründe zu den ständigen (Selbst-)Kritikpunkten der Methodenlehre gehören und in kaum einem Vorwort der einschlägigen Werke fehlen (ohne daß sich etwas ändert), soll sich die vorliegende Arbeit den beiden letzten Punkten näher zuwenden. Zunächst ist zu erörtern, ob die Methodenregeln tatsächlich Normen und gegebenenfalls Rechtsnormen sind. Schon ein Blick auf das Wesen der Methodenlehre als normative Disziplin innerhalb einer Normwissenschaft kann die Art ihrer möglichen Verbindlichkeit und damit auch ihren Praxisanspruch erhellen. Soweit sich die Methodenlehre mit Regeln an die Juristen wendet, die davon handeln, wie man zu methodengerechten 11

So Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 2 m. w. N. So stellte bereits Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Auflage 1976, S. 13 fest, daß kaum ein einziger Satz der überlieferten Lehre noch unangefochten gilt. 13 So Hilgendorf, Rezension von Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992 in NJW 1993, S. 716. Ein Problem, das bereits auf dem Feld der dogmatischen Wissenschaft und Lehre, namentlich zum Bereicherungsrecht, zu scharfen Auseinandersetzungen führte. Vergleiche Horst Heinrich Jakobs, Die Rückkehr der Praxis zur Regelanwendung und der Beruf der Theorie im Recht der Leistungskondiktion, NJW 1992, 2524 versus Martinek, Noch einmal: Die Rückkehr der Praxis zur Regelanwendung und der Beruf der Theorie im Recht der Leistungskondiktion, NJW 1992, 3141 sowie Canaris, Überforderte Professoren?!, NJW 1992,3143. Freilich darf die Wissenschaft das Ideal genialer Klarheit nicht der unzulässigen Vereinfachung opfern. 14 Hierzu sogleich. Für die „Rechtsquellen" im schwedischen Recht unterscheidet in diesem Sinne Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, 1983, S. 60 ff. 15 Hierzu C I 3, S. 34 ff. 16 Hierzu unter C H , S. 39 ff. 12

32

C. Verfassungsrechtlicher Ansatz

Ergebnissen gelangt, soweit sie m. a. W. klärt, wie Juristen arbeiten sollen, soweit sind m. E. die juristischen Methodenregeln im Anschluß an Esser als Normen 17 zu bezeichnen. Ob und wie sich solche Methodennormen herleiten lassen, ob es sich bei den Methodennormen etwa um itec/tfsnormen handelt, sei dabei zunächst offengelassen. Dies ist die Frage ihrer Legitimation, der hier ein eigener Abschnitt gewidmet ist 18 . Obwohl die Rechtswissenschaft eine Normwissenschaft ist, d. h. Normen (nämlich Rechtsnormen) zum Gegenstand hat, bedient sich die Methodenlehre bislang nur ansatzweise und keineswegs systematisch unterschiedlicher Normkategorien, wie sie allgemein für Rechtsnormen herausgearbeitet wurden.19 Dabei liegt es gerade im Bereich der Methodik nahe, durch die Einteilung der Methoden in Gebote, Verbote und Ermessensregeln Klarheit zu schaffen. Der Methodenlehre wird gelegentlich vorgeworfen, daß sie nicht in der Lage sei, noch sein könne, die Fragen der Rechtserkenntnis erschöpfend durch ein System „absolut verbindlicher" Gebote und Verbote zu regeln. Mit solchen Vorwürfen läßt sich der Sinn der Methodenlehre nicht ernstlich in Frage stellen, denn ein solches System absolut verbindlicher Gebote und Verbote kann es weder in der Methodenlehre noch in anderen Bereichen unserer Rechtsordnung geben. Die Methodenlehre würde bei einer Differenzierung nach Geboten, Verboten und Ermessensnormen die mögliche Klarheit schaffen. Wir brauchen Ermessensnormen, Rechtsprinzipien, Abwägungen und Wertungen in allen Bereichen unseres Rechts. Kein rechtsstaatlich Denkender wird deshalb den Verbindlichkeitsanspruch unseres Rechts bestreiten. Nichts anderes soll fiir die Methodenlehre und deren Normen gelten. Stattdessen lassen sich folgende drei Arten oder Grade der Verbindlichkeit von (Methoden-) Normen unterscheiden: 1. Absolute Verbindlichkeit beanspruchen nur die Gebote und Verbote. Tatsächlich gibt es einzelne Methodennormen, die einschränkungslose, absolute Verbindlichkeit beanspruchen. Als Beispiel sei hier das Analogieverbot zuungunsten des Täters im Strafrecht genannt. Es ist irreführend, diesen höchsten, nämlich einschränkungslosen, absoluten Verbindlichkeitsgrad als Maßstab für jegliche Verbindlichkeit von Methodennormen bzw. von Normen überhaupt zu fordern. Vor diesem Hintergrund müssen Stimmen in der Literatur, es gäbe keine „letztver17

Von lateinisch norma = Winkelmaß, Regel. Einen Hinweis auf die Normqualität der Methodik finden wir bereits bei Esser, Grundsatz und Norm, 4. Auflage 1990, S. 121 in Fußnote 122. Kritisch hierzu für den Aspekt der privatrechtlichen „Auslegungsnormen" für Rechtsgeschäfte (§§ 133, 157 BGB) aus erkenntnistheoretischen Gründen: Vollmer, Auslegung und,Auslegungsregeln", 1990, S. 168 ff., 200 ff. 18 Hierzu unter C II, S. 39 ff. 19 So etwa besonders klar Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, 1983, S. 61.

I. Die

i e

der Methodenlehre

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bindliche Auslegungsmethode"20 oder die Methoden könnten nicht als „eindeutige Anweisungen21 für Entscheidungen angesehen werden, relativiert werden. 2. Relative Verbindlichkeit beanspruchen Ermessens- oder Sollensvorschriften bzw. Rechtsprinzipien22. Sie gebieten „nur" eine Wertung, Abwägung oder eine bestimmte Argumentation.23 Daß solches Ermessen ausgeübt werden muß, ist dabei sogar ein absolut verbindliches Gebot. Lediglich der inhaltliche Anweisungsgehalt von Ermessensnormen ist „relativ", ihre „Rechtsfolge" tritt nicht „ohne weiteres" ein. Dennoch ist auch diese relative, inhaltsbezogene Verbindlichkeit eine normative. Der Normcharakter von Soll- und Ermessensvorschriften sowie Rechtsprinzipien erschöpft sich nicht24 in der absoluten Verbindlichkeit, überhaupt ein Ermessen auszuüben. Vielmehr geben Ermessensnormen auch inhaltliche Direktiven vor. Dabei kann auch die verhältnismäßige Optimierung 25 der ins Ermessen gestellten Inhalte geboten sein. Nicht nur der Nichtgebrauch, sondern auch der fehlerhafte, unverhältnismäßige Gebrauch des Ermessens kann als Normverstoß aufgefaßt werden. Die Rechtswissenschaft und mit ihr die Methodenlehre ist ständig zu Wertungen gezwungen. Die Methodenlehre kann und soll derartige Wertungsvorgänge gar nicht durch ein geschlossenes System absolut verbindlicher Methodennormen ersetzen. 16 Es gilt vielmehr, die Wertungsfindung/-gewinnung und -begründung zu ordnen. Die „Lösungf' von Methodenproblemen ist nicht deren ,Auflösung^. Ein wesentlicher Teil der Methodennormen kann als Ermessensvorschriften mit relativer Verbindlichkeit aufgefaßt werden.27 3. Generelle Verbindlichkeit beansprucht ein System von Methodennormen als solches. Selbst wenn etwa das Verhältnis verschiedener Methoden zueinander 20

Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Band I 1976, S. 22 ff., S. 25. 21 So Schreiner, Die Intersubjektivität von Wertungen, 1980, S. 11 m. w. N. 22 Hierzu ausführlich unter D IV, S. 95 ff. 23 Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, Beiheft 25 (1985) zu ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), S. 13 ff, S. 22 m. w. N. 24 Dies unterschätzt Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVdStRL 20 (1963), S. 53 ff. (62). 25 Vergleiche Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in Krawietz u. a. (Hrsg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Beiheft 1 (zur Zeitschrift für) Rechtstheorie (1979), S. 59 ff, S. 80. Zum Begriff des Optimierungsgebots noch ausführlich unter D I V 3, S. 99 ff 26 Umgekehrt kann auch die Abwägung nicht die Interpretation ersetzen; vergleiche hierzu Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 209. 27 Siehe unter F III 1 b (Zur Struktur der Auslegungsmethoden: Der Kanon der Auslegungsmethoden als komparatives System), S. 205 ff. 3 Michael

34

C. Verfassungsrechtlicher Ansatz

keinen starren Regeln unterworfen werden kann,28 schließt das nicht aus, den gesamten Kanon der Methoden als solchen für verbindlich zu erklären. Ein Modell dafür, daß die Verbindlichkeit eines solchen Methodensystems ohne starre Regeln möglich ist, soll die Theorie der komparativen Systeme bereitstellen.29 4. Keine Verbindlichkeit haben Empfehlungen, denen jeder folgen darf und kann, die aber niemand beachten muß oder (im normativen Sinne) „soll". Es gibt freilich auch unverbindliche Hinweise der Methodenlehre, die nicht als Methodennormen bezeichnet werden dürfen. Solche nützlichen Ratschläge, die sich etwa in manchen Prüfungsschemata oder sonstigen Fallösungstechniken niederschlagen, mögen wertvoll sein und erfreuen sich didaktisch größter Beliebtheit. Auch sie entspringen dem berechtigten Wunsch nach Methodensicherheit. Sie fördern die Nachvollziehbarkeit und Vergleichbarkeit verschiedener Lösungen. Dennoch dürfen solche Empfehlungen nicht mit Sollvorschriften verwechselt werden, da nur letzteren eine wenigstens relative Verbindlichkeit zukommt. Die Methodenlehre muß diese Unterscheidung klar treffen und klären, ob etwa dem Kanon der Auslegungsmethoden lediglich Empfehlungswert oder relative bzw. generelle Verbindlichkeit zukommt.

3. Gerechtigkeitsanspruch der Methodenlehre? Kann die Einhaltung von Methodennormen Recht und Gerechtigkeit fördern? Oder aber hat die Methodenlehre lediglich einen von materiellen Rechtsinhalten zu trennenden formalen Richtigkeitsanspruch? Dieses Thema ist (auch) historisch von höchster Brisanz und Gegenstand aktueller rechtshistorischer sowie methodischer Forschung.30 Schon die Rechtsoder besser Rechtsbeugungs-Methoden der NS-Zeit gäben Anlaß genug für diese Auseinandersetzung. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit kann und muß zu dieser Diskussion jedoch weiteres Material liefern. Das Problem „Totalitarismus und Unrecht"1 ist nunmehr doppelt aktuell. Die Rechtswissenschaft ist diesem Thema doppelt verpflichtet. Folgende rechtshistorische These Rüthers' muß als belegt oder jedenfalls unwiderlegbar gelten: Für das Unrecht nationalsozialistischer Justiz sei nicht allein die positivistische, inhaltsblinde Anwendung Unrechter NS-Gesetze, sondern auch und vor allem die ideologische Auslegung vornationalsozialistischer 28

So für die Rangordnung der Auslegungskriterien anstatt aller Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 7 a. E. m. w. N. 29 Siehe unter F III 1 b, S. 205 ff. 30 Vor allem durch zwei Arbeiten Rüthers': Die unbegrenzte Auslegung - Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 4. Auflage Heidelberg 1991 sowie Ideologie und Recht im Systemwechsel, München 1992.

I. Die Funktionen der Methodenlehre

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Normen verantwortlich. 31 Eine weitere These, daß die ideologische Bindung der Justiz an den „NS-Zeitgeisf' den Anforderungen einer naturrechtlich geprägten Methodenlehre standhält, hat Widerspruch hervorgerufen. 32 Der rechtshistorische Gehalt dieser Aussagen ist nicht Thema der vorliegenden Arbeit. Die Behauptung der „Untauglichkeit der Methodenlehre als Schranke gegen totalitäre Rechtsperversion"33 ist hingegen ein Angriff auf die Methodenlehre. Mit dieser Behauptung wird aus der rechtshistorischen Untersuchung nämlich eine allgemeingültige These gewonnen. Diese These muß sich auch der „unhistorischen" Diskussion stellen. So wünschenswert das Bemühen des Historikers um zeitlose Schlüsse, um die „Lehre aus der Vergangenheit" ist, die Behauptung ihrer Allgemeingültigkeit bedarf der „unhistorischen" Überprüfung. Selbst wenn solche Behauptungen den Widerspruch herausfordern, sind sie ernstzunehmende und begrüßenswerte Herausforderungen. Ist die Methodenlehre tatsächlich nicht als Schranke gegen Rechtsperversion geeignet? Einigkeit besteht zwar darüber, daß die Methodenlehre alleine nicht Garant für Gerechtigkeit sein kann; sie ist kein hinreichender Schutz gegen Rechtsperversion durch den Gesetzgeber. Unabhängig von der Frage, ob es absolute Gerechtigkeit überhaupt geben kann, bietet jedenfalls keine Gesetzgebung und keine Methodenlehre hierfür ein vor jeglichen Irrtümern schützendes,34 geschlossenes System. a) Zunächst ist die mögliche Rolle der Methodenlehre gegenüber Ungerechtigkeit in Gesetzen zu diskutieren. Selbst gegenüber ungerechten Gesetzen kann die Methodenlehre die Gerechtigkeit fördern, wenn auch nicht garantieren. Zwar gebietet die Rechtssicherheit der Methodenlehre grundsätzlich die Anwendung aller Gesetze. Dies ist eine notwendige Folge der Objektivität der Gesetzesbindung, die es nicht zuläßt, daß jeder Anwender sich sein eigenes Urteil über die Qualität einer Norm und damit über deren Bindungskraft bildet. Dieser Rechtssicherheitsanspruch wird auch nicht durch die verschiedenen Normenkontrollverfahren undrichterlichen Verwerfungskompetenzen aufgelöst oder durch die Radbruchsche Formel 35. Diese sind zwar Schranken gegenüber der Bindung an 31

Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung - Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 4. Auflage Heidelberg 1991, S. 98 f., 175 ff. 32 Luig, Macht und Ohnmacht der Methode, NJW 1992, S. 2536 ff. 33 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung - Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 4. Auflage Heidelberg 1991, S. 442. 34 A u f die menschliche Irrtumsanfâlligkeit verweist in dieser Frage Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 569, Fußnote 41. 35 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946), S. 105 ff, S. 107 = ders., Rechtsphilosophie (herausgegeben von E. Wolf, H.-P. Schneider), 9. Auflage 1983, S. 339 ff, S. 345 = Gesamtausgabe Band 2 Rechtsphilosophie III, hrsgg. von Arthur Kaufmann und Winfried Hassemer, Heidelberg 1990, S. 83 ff, S. 89: „Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit dürfte 3*

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C. Verfassungsrechtlicher Ansatz

ungerechte Gesetze, sind aber selbst Ausdruck des Prinzips der Rechtssicherheit, indem sie den Geltungsanspruch von Normen nur in Sonderfällen durchbrechen. So sind Normenkontrollverfahren auf die Überprüfung (methodisch unüberwindlicher) Widersprüche zwischen manchen Normen und bestimmten höherrangigen Normen beschränkt. Die Idee der Radbruchschen Formel greift nur in Fällen unerträglicher Ungerechtigkeiten.36 Man muß zugunsten der Rechtssicherheit darauf verzichten, jede gesetzgeberische Ungerechtigkeit durch Anwendungsschranken zu überwinden. Dieser Preis der Rechtssicherheit leuchtet ein, da doch die Rechtssicherheit selbst eigenen Gerechtigkeitswert hat.37 Die Methodenlehre hat eine wichtige rechtssystematisierende Funktion gegenüber möglichen Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten der Gesetze: Sie soll diese zunächst offenlegen und in einem zweiten Schritt unter weiteren Voraussetzungen gegebenenfalls korrigieren oder ausgleichen. Ζ. B. im Hinblick auf die Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG kann und muß die Methodenlehre die Grenze zwischen der Möglichkeit verfassungskonformer Auslegung und der Notwendigkeit einer Nichtigerklärung klären.38 Man mag einwenden, die Funktion der Methoden sei mitunter als „Brücke vom abstrakten Recht zum konkreten Recht" beschrieben worden.39 Dies widerspreche jedoch ihrem Anspruch, auch vom Unrecht zum Recht führen zu können. Aber das ist die positive Seite des Dilemmas, daß sich der Jurist auf keine „Quelle des Rechts" unreflektiert verlassen kann und darf. Nur wenn der Jurist Normen und Methoden in den Dienst der Gerechtigkeit stellt, indem er die Methodenlehre als Indikator für Systemgerechtigkeit bzw. Normungerechtigkeiten begreift, wird er dem Dienst an Gesetz und Recht gerecht. Andererseits sollte er die Methodenlehre in ihrem Gerechtigkeitsgehalt am normativen System unserer Rechtsordnung messen. Es sollte eine Wechselwirkung zwischen Methode und Recht entstehen, indem die Methode das Recht überwacht und das Recht die Methode. Die Methodenlehre soll dabei an das Naturrecht anknüpfen, aber auch an positivrechtliche Maßstäbe wie den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz und die Bindung des Richters an Gesetz und Recht. Sie kann damit einen Beitrag dazu dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat." 36 Vergleiche Fußnote 35. 37 Hierzu besonders deutlich Radbruch, ebenda, der auf den Gerechtigkeitswert der Rechtssicherheit selbst hinweist, der stets mit der Einzelfallgerechtigkeit abzuwägen ist: „Daß das Recht sicher sei, daß es nicht heute und hier so, morgen und dort anders ausgelegt und angewandt werde, ist zugleich eine Forderung der Gerechtigkeit." 38 Hierzu insbesondere Geis, Die pragmatische Sanktion der „verfassungskonformen Analogie" als methodische Kritik an BVerfG, NJW 1992, S. 2947 in NJW 1992, S. 2938. 39 Oben Β I, S. 21 ff.

I. Die

i e

der Methodenlehre

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leisten, solche Werte über die Schranke des Art. 79 Abs. 3 GG hinaus „festzuschreiben", d. h. gegen das Unrecht zu „sichern", nämlich durch die Schaffung eines entsprechenden Methodenbewußtseins und Rechtsbewußtseins. Freilich ist dabei die Methodenlehre nur Indikator fur Unrecht und nimmt dem Juristen nicht die oben genannten Entscheidungen über eine eventuelle Normkorrektur ab. Deshalb kommt der institutionellen Absicherung der Methodenlehre, d. h. der Frage, wer zur Kontrolle über den Methodengebrauch berufen ist, eine zentrale und leider bislang vernachlässigte Rolle zu.40 Gegenüber ungerechten Gesetzen kann die Methodenlehre damit eine gerechtigkeits fördernde Rolle einnehmen, indem sie Norm- bzw. System Widersprüche 41 als Ungerechtigkeiten anzeigt und damit inhaltliche Diskussion, im Extremfall auchrichterliche Normkorrektur erst möglich macht. b) Das Problem des Totalitarismus ist nicht nur die „blinde" Anwendung ungerechter Gesetze, sondern auch die „sehende" Nichtanwendung oder Pervertierung an sich gerechter Gesetze. Welchen Beitrag kann die Methodenlehre zur Verhinderung ungerechter Rechtsprechung leisten, die durch Korrektur gerechter Gesetze unter Berufung auf einen perversen „Zeitgeist" entsteht? Die gerechtigkeitsfördernde, gegen Systemwidersprüche sensibilisierende Funktion der Methodenlehre gegenüber ungerechten Normen gilt erst recht gegenüber der Gefahr, daß durch Auslegung und richterliche Rechtsfortbildung Unrecht entsteht (wie in der NS-Zeit durch die Perversion vornationalsozialistischer Normen, etwa des BGB). Zwar können Restriktion, Normenkontrolle sowie der Wandel von Richterund Gewohnheitsrecht als Instrumente der Methodenlehre mißbraucht werden und sind in der NS-Zeit mißbraucht worden. Unrechtes Richterrecht scheut42 jedoch die Offenlegung von Prämissen und die Klarheit systematischer Einordnungen durch den Vergleich. Deshalb soll die Methodenlehre für Methodenklarheit eintreten, indem sie die Methodenschritte differenziert offenlegt und gleiches von den Juristen einfordert, damit die Methodik nachprüfbar und gegebenenfalls revisibel ist. Mit dem Argument, die Methodenlehre könne mißbraucht werden, mag man ihr eine Schrankenfünktion versagen, wenn man unter Schranke letztlich eine„Garantie" gegen Unrecht versteht. Wichtiger und dienlicher erscheint jedoch ein entschiedener Hinweis darauf, daß die Methode„Filter" und„Indikator" für prämissenlose und widersprüchliche Entscheidungen sein kann und muß.

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Dazu sogleich. Ein „perfekt", d. h. widerspruchsfrei ungerechtes, geschlossenes System ist praktisch ebenso undenkbar wie die absolute Gerechtigkeit. 42 Luig, Macht und Ohnmacht der Methode, NJW 1992, S. 2536 ff, S. 2538 sieht die Verdunkelung der Prämissen als Indiz für methodisch nachweisbares Unrecht: „Eine Entscheidung ist dann nicht methodisch einwandfrei gewonnen, wenn ihre ratio decidendi auf einer Abstraktionshöhe genereller Prinzipien zu einer Maxime führt, die der Argumentierende selbst nicht gelten läßt." 41

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C. Verfassungsrechtlicher Ansatz

Je mehr es gelingt, die Juristen zur Klarheit ihrer Argumentation zu „erziehen", je deutlicher sich Überprüfungsmaßstäbe für Methodennormen formulieren lassen, desto höher wird die Hemmschwelle zur Rechtsbeugung sein. Die Verpflichtung, Prämissen darzulegen, schreckt den potentiellen Rechtsbeuger vor dem offenkundigen und vorsätzlichen Unrechtsurteil ab. Gerechtigkeit läßt sich geradezu daran messen, inwieweit die Entscheidungsverantwortlichen bereit und dazu in der Lage sind, ihre Gründe und Prämissen klar und allgemeingültig darzulegen. Ziel der Methoden ist die Eingrenzung von unbegründeten Entscheidungen, von Willkür. 43 Ob in der NS- oder DDR-Justiz derartige Willkür in Form von Methodenlosigkeit ein entscheidender Faktor des Unrechts gewesen ist, ist eine rechtshistorische Frage, die auch die Vorfrage des Standes der Methodenlehre der jeweiligen Zeit aufwirft. 44 Die Macht der Methode ist groß,45 d. h. von Methodennormen hängt das Ergebnis - nicht nur die Begründung - von Entscheidungen vielfach ab. Die Auseinandersetzung mit diesen entscheidungsausschlaggebenden Normen muß der Gerechtigkeit verpflichtet sein. Rüthers versteht unter Methodenlehre eine „Theorie der formalen Verwirklichung ihrer vorgegebenen Wertentscheidungen"46. Er hat das Versagen einer solchen Methodenlehre im Unrechtsstaat in der Tat eindrucksvoll belegt. Niemand - am wenigsten Rüthers - will bei dieser Bestandsaufnahme stehenbleiben; das belegt das inzwischen engagierte Ringen um die Folgen der Vergangenheit. Auch die Methodenlehre darf nicht vor „Enthüllungen" resignieren, sondern muß diese erst recht als Herausforderungen begreifen. Ein denkbarer Weg ist der, Unrechtsurteile als willkürliche, d. h. prämissenlose oder -widrige und somit schon als formal unmethodische oder methodenwidrige Akte nachzuweisen.47 Es gilt jedoch, darüber hinauszugehen und (statt Rüthers zu widersprechen) eine Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen, die unabhängig davon ist, wie die Unrechtsurteile im NS- und DDR-Regime »formal-methodisch" zu beurteilen sind. Die Herausforderung der Methodenlehre kann in drei Thesen zusammengefaßt werden: 1. Die Methodenlehre muß sich über die formalen Fragen48 hinaus der (überpositiven) Gerechtigkeit verpflichten. 49 43

Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 24. Hierzu für die NS-Zeit jetzt Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus, 1994. 45 Luig, Macht und Ohnmacht der Methode, NJW 1992, S. 2536 ff. 46 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung - Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 4. Auflage, 1991, S. 443. 47 Ob dies gelingt, wie Luig, Macht und Ohnmacht der Methode, NJW 1992, S. 2536 ff., gegenüber Rüthers meint, ist eine Frage der rechtsgeschichtlichen Methodenbeschreibung. 48 Hierzu I I a). 49 Hierzu I I b). 44

II. Das Bedürfnis nach Legitimation von Methodennormen

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2. Die Methodenlehre muß versuchen, an das positive Recht anzuknüpfen, insbesondere an die verfassungsrechtliche Bindung an Gesetz und Recht sowie den Gleichheitssatz (hierzu II c), um die Wechselwirkung zwischen Recht und Methode „in guten Zeiten" naturrechtlich und positivrechtlich zu verfestigen. Dies ist die Forderung nach Methodennormen als Rechtsnormen. 3. Die Verletzung von Methodennormen als Rechtsnormen muß unter bestimmten Voraussetzungen Rechtsmittelgrund sein.50 Hierfür gibt es bereits im geltenden Recht genug Anhaltspunkte, etwa § 550 ZPO bzw. § 337 Abs. 2 StPO (fehlerhafte Rechtsanwendung)51. Auch die Verfassungsbeschwerde (Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG bzw. Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) ist in Betracht zu ziehen. Die institutionelle Absicherung muß in den Vordergrund der Methodenlehre rücken, will sie sich in der Praxis besser behaupten und damit auch institutionelle Hemmung gegen Unrecht bewirken. Der Gleichheitssatz und die „Gesetz und Recht"-Formulierung des Art. 20 Abs. 3 GG können als Inbegriff naturrechtlicher und positiver Gerechtigkeit gelten und sind in besonderer Weise geeignet, Diskriminierungen anzuzeigen und totalitäre Tendenzen zu hemmen. Die Anknüpfung am verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz entspricht inhaltlich der Positivierung des Methodenrechts (These 2). Die damit verbundene Eröffnung ordentlicher und außerordentlicher Rechtsbehelfe vermag zur institutionellen Absicherung (These 3) beizutragen. Damit ist die Legitimation der Methodenlehre und ihrer Methodennormen angesprochen, deren Bedürfnis (auch) der Forderung nach Geschichtsbewußtsein, nach Lehren aus der Vergangenheit entspringt: II. Das Bedürfnis nach Legitimation von Methodennormen: Zum Begriff des „Methodenrechts" Soweit sich die Methodenlehre normativ versteht52 und Forderungen aufstellt, muß sie sich fragen lassen, wie und woraus sie solche Methodennormen legitimiert. 53 Methodennormen haben nur dann einen (rechtlichen) Sinn, wenn sie (rechtliche) Geltung tatsächlich beanspruchen können. Die Vernachlässigung der Legitimationsfrage ist m. E. eine wesentliche Ursache dafür, daß sich die Praxis nicht veranlaßt sieht, Methodenlehren bewußt zu rezipieren. Die Praxis versteht 50

Vergleiche Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 80. Auch eine Parallele zur Revisibilität der Vertragsauslegungsmethoden ist vorgeschlagen worden: Hierzu vergleiche Graben: Über die Normen zur Gesetzes- und Vertragsinterpretation, 1993, S. 162 ff., 166 ff, 170 (Fußnote 23). 51 Hierzu Esser, Grundsatz und Norm, 4. Auflage 1990, S. 112. 52 Siehe oben C I 2. 53 Zum Begriff der Legitimation vergleiche Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2. Auflage 1989, S. 28.

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C. Verfassungsrechtlicher Ansatz

die Methodenlehre als unverbindliche, weil nicht (rechtlich) legitimierte Theorie über die Methode des Rechts und erkennt in ihr kein verbindliches Recht der Methode 54. Die Fragen, ob und warum Normen Geltung beanspruchen und wie der Verstoß gegen legitimierte Regeln gegebenenfalls sanktioniert wird, sind zentrale Fragen der Jurisprudenz und der Rechtsphilosophie. Die Legitimationsfrage der Methodenlehre hängt eng mit der soeben erörterten Funktionsfrage zusammen. Je nach der Natur und dem Anspruch der jeweiligen Methodennorm ist auch ihre eventuelle Geltungskraft unterschiedlich herzuleiten: aus der Logik (a), aus vorpositiven Rechtsprinzipien (b) und aus positivem Recht (c). a) Die logischen Regeln in der Methodenlehre haben sich zu einer selbständigen Disziplin entwickelt.55 Die Legitimation liegt hier in der allgemeinen Sprachlogik als philosophischem Gedankengut.56 Jene philosophischen Erkenntnisse sind für die juristische Argumentation ein fruchtbarer Beitrag zur Annäherung an Widerspruchsfreiheit, Stringenz und Klarheit rechtlicher Gedanken. Auch in der Praxis spielt das Argument der Logik eine große Rolle.57 Jedoch vermag Logik alleine nicht inhaltliche Sachgerechtigkeit zu leisten.58 Das bedeutet aber nicht, daß der Sachgerechtigkeitsanspruch der gesamten Methodenlehre fremd ist. Die Rechtslogik soll als Teil der Methodenlehre diese ergänzen, statt sie zu ersetzen. b) Der (Sach-)Gerechtigkeitsanspruch von Methodennormen wird häufig mit dem Hinweis auf vorpositive59 Rechtsprinzipien legitimiert. Es wird versucht, die Verbindlichkeit der Methodenlehre mit ihrer Verwurzelung in obersten Rechtsprinzipien60 zu begründen. Die Hinweise auf Tradition 61, Naturrecht und

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So bereits Gern, Die Rangfolge der Auslegungsmethoden von Rechtsnormen, Verwaltungs-Archiv 80 (1989), S. 415 ff. 55 Vergleiche die Arbeiten von Klug, Juristische Logik, 4. Auflage 1982; Tammelo, Logische Verfahren der juristischen Begründung, 1976. 56 Klug, ebenda, z. B. S. 139. 57 Als Beispiel für rechtslogische Regeln in der Rechtsprechung nennt Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Band I 1976, S. 22 ff., S. 26 f. etwa das Verbot der Verallgemeinerung von Ausnahmen. Vergleiche auch die Untersuchungen der argumenta e contrario bzw.a maiore ad minus von Klug, Juristische Logik, 4. Auflage 1982; S. 137 ff, 147. 58 Tammelo, Zur Philosophie der Gerechtigkeit, 1982, S. 65 f. sowie ders., Logische Verfahren der juristischen Begründung, 1976, S. V. 59 Statt aller Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 80. 60 Bydlinski, ebenda S. 82. 61 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Auflage 1976, S. 21; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 81 spricht von „Erfahrungsregeln".

II. Das Bedürfnis nach Legitimation von Methodennormen

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Rechtstheorie62 sowie die Rechtsidee als solche63 zeigen die Tiefe solcher Rückgriffsmöglichkeiten. Bleibt man bei ihnen stehen und verläßt man sich alleine auf diese pauschalen Hinweise, kommt dies einer Kapitulation vor der Nachprüfbarkeit der Methoden anhand rechtlicher Maßstäbe gleich.64 c) Deshalb sollte sich die Methodenlehre vordringlich, d. h. zusätzlich und vor allem auf positivrechtliche Maßstäbe zur Entwicklung und Handhabung von Methodennormen besinnen. Das ist keine „positivistische Tendent": Methodenlehre soll nicht den reichen Fundus ihrer vorpositiven Bereicherungen und Verwurzelungen aufgeben. Sie soll aber auch nicht nach der Überwindung des Positivismus einer Scheu, ja Blindheit gegenüber dem positiven Recht erliegen. Auch und gerade die methodische Grundlagenwissenschaft ist gut beraten, ihre Forschung nicht nur über oder neben der positiven Rechtsordnung anzuknüpfen. Zum positiven Recht gehört neben dem geschriebenen Gesetzesrecht auch das Richter- bzw. Gewohnheitsrecht. Bevor jedoch die Frage geklärt werden kann, wo im einzelnen der rechtliche Ort des Methodenrechts zu suchen ist, müssen zunächst zwei Einwände überwunden werden: 1. Es ist nämlich keineswegs selbstverständlich, sondern vielfach bestritten, daß eine solche Anknüpfung der Methodenlehre an das positive Recht überhaupt denkbar und möglich ist.65 Das logische Argument, die Methodennormen seien den positiven Gesetzen denknotwendig vorgelagert, läßt sich nicht zwingend damit begründen, daß Normen nicht ihre eigene Auslegung regeln können.66 Denn auch eine positive (geschriebene oder ungeschriebene) Norm kann ohne weiteres die Auslegung anderer positiver Normen regeln. Normen unterschiedlicher gedanklicher Ebenen, auch unterschiedlichen Ranges, können innerhalb des gesetzlichen Regelungssystems einander ergänzen. Dazu können auch Hilfsnormen 67 bzw. Methodennormen zählen.

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Kriele, ebenda. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 455. 64 Bydlinski, ebenda S. 82 fordert deshalb eine Konkretisierung ein. Gern, Die Rangfolge der Auslegungsmethoden von Rechtsnormen, Verwaltungs-Archiv 80 (1989), S. 415 ff., S. 431 möchte „über- und außerrechtliche Maßstäbe" hingegen gar nicht anerkennen. Dem ist im Hinblick auf die Konstituierung des Methodenrechts (verstanden „nui" als einen Teil der Methodenlehre) zuzustimmen. Vergleiche aber auch die viel weiter gehenden Ausführungen ebenda, S. 433 unten. 65 Vergleiche bereits die oben in Fußnote 17 auf Seite 32 erwähnten Bedenken von Vollmer, Auslegung und,Auslegungsregeln", 1990, S. 168 ff, 200 ff. 66 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 80 m. w. N. 67 Eckhoff, Sunby, Rechtssysteme, 1988, S. 85 f., 90 zählt ζ. Β. Qualifikationsnormen, wie „x ist als y anzusehen" zu den Hilfsnormen. 63

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C. Verfassungsrechtlicher Ansatz

2. Damit verschieben sich die Methodenfragen auch keineswegs lediglich auf das Problem der Auslegung eben solcher positiven Methodennormen. Zwar ist die Frage der Auslegung der Auslegungsnormen, die Frage der Methode der Methode berechtigt. Aber dieses Problem ist unabhängig davon, ob Methodennormen dem positiven Recht entspringen oder einer Theorie im vorpositiven Bereich zugeordnet werden. Auch ist es denkbar, daß zu seiner Lösung weitere (positive) Normengreifen. Deswegen ist es tunlich, Methodennormen soweit möglich als positives Recht, nämlich als Methodenrecht zu behandeln.68 Darum geht es, wenn hier solche methodischen Fragen nicht (nur) mit vorpositiven Theorien beantwortet werden sollen, deren Kern im positiven Recht (bereits) greifbar ist. Bevor nach „Quellen" des Methodenrechts gefragt wird, soll hier geklärt werden, was genau vom Methodenrecht im hier verstandenen Sinne69 umfaßt wird. Dazu ist es erforderlich, die überkommene Zweiteilung des Rechts in materielles Recht einerseits und formelles Verfahrensrecht andererseits zu überwinden, besser: zu erweitern. Das Recht läßt sich nämlich in drei Kategorien unterscheiden; in das materielle Recht, das Verfahrensrecht und das Methodenrecht. aa) Das materielle Recht umfaßt nicht nur alle Normen, die selbst unmittelbar Rechtsinhalte wiedergeben (Sachrecht), sondern auch solche Hilfsnormen, die die Anwendbarkeit anderer materiellrechtlicher Normen klären. Solche Verweisungsnormen gehören nicht zum Methodenrecht, da sie lediglich die Wiederholungen paralleler Vorschriften vermeiden und inhaltliche Zusammenhänge aufzeigen. Allerdings können Verweisungsnormen besondere methodenrechtliche Auswirkungen haben, wenn sie etwa eine „entsprechende" (i. e. nicht wörtliche) Anwendung vorschreiben. Das methodenrechtliche Problem der „entsprechenden" Anwendung wird durch diese Verweisungsnormen aber nicht geregelt, 68

Insoweit grundlegend Gern, Die Rangfolge der Auslegungsmethoden von Rechtsnormen, Verwaltungs-Archiv 80 (1989), S. 415 ff. Verfassungsrechtliche Argumente in der Methodenlehre finden sich auch bei Hassold, Strukturen der Gesetzesauslegung, in Festschrift für Larenz II, 1983, 211, 217, 238 und Müller, Juristische Methodik, 3. Auflage 1989, S. 175 ff, Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 179 ff., Schlehofer, Juristische Methodologie und Methodik der Fallbearbeitung, JuS 1992, 572,573,575, Deckert, Die Methodik der Gesetzesauslegung, JA 1994,412,414 und Bleckmann, Spielraum der Gesetzesauslegung und Verfassungsrecht, JZ 1995, 685 ff. (hierzu ausführlich am Ende der Arbeit S. 295 ff.). 69 Insofern ergeben sich bereits Abweichungen von Gerns Ansatz, ebenda S. 431, der das „Methodenrecht" als die Klärung der MethodenwaA/ und des /te«gproblems der Auslegungsmethoden versteht. Hier soll es in erster Linie um Methodeninhalte und -grenzen und erst in zweiter Linie um deren Verhältnis zueinander gehen. Unter das Methodenrecht im hier verstandenen Sinne fallen insbesondere Gerns Ansätze, ebenda S. 432. Jedoch soll hier das Methodenrecht von den ebenda, S. 435 unter cc) und ee) genannten Rechtsnormen abgegrenzt werden.

II. Das Bedürfnis nach Legitimation von Methodennormen

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sondern erst aufgeworfen. Ebenso gehören deshalb auch die Kollisionsnormen des internationalen Privatrechts zum materiellen Recht im hier verstandenen Sinne. bb) Das Verfahrensrecht regelt die formellen Anforderungen an die staatliche Durchsetzung des Rechts, sei es im Verwaltungs- oder im Gerichtsverfahren. cc) Das Methodenrecht klärt die Frage, auf welchem Wege der Inhalt des materiellen Rechts und des Verfahrensrechts zu ermitteln und zu konkretisieren ist. Das Methodenrecht umfaßt ausschließlich Metanormen. Nicht zum Methodenrecht, sondern zum materiellen Recht bzw. zum Verfahrensrecht gehören hingegen solche Normen, die im Rahmen der systematischen Auslegung den Inhalt einer anderen Norm beeinflussen. Nicht jede Norm mit inhaltlicher,Ausstrahlungswirkungf' (Welche Norm läßt sich überhaupt nicht zu irgendeiner systematischen Argumentation heranziehen?) soll hier als Methodennorm begriffen werden. Selbst Normen des Verfassungsrechts, die als vorrangiges Recht in besonderer Weise auf die Auslegung einfachen Rechts Einfluß haben, gehören nicht schon deshalb zum Methodenrecht im hier verstandenen Sinne.70 Die sogenannte verfassungskonforme Auslegung ist deshalb kein Beispiel oder Beweis für die methodenrechtliche Dimension des Grundgesetzes.71 Bei der verfassungskonformen Auslegung geht es um die inhaltliche, nicht um die methodische Beeinflussung eines Auslegungsergebnisses durch das Verfassungsrecht. Freilich ist es ein auch methodisches Problem, wenn auf diese Weise Rechtsprinzipien die Auslegung des Rechts steuern. Aber die methodische Dimension dieses Vorganges ist keine andere als die der systematischen, auf die Einheit der Rechtsordnung angelegten, Auslegung.72 Die Besonderheit der verfassungskonformen Auslegung liegt darin, daß hier Verfassungsprinzipien aufgrund ihres Vorrangs inhaltlichen Einfluß auf die Auslegung einfachen Rechts gewinnen. Der methodenrechtliche Kern liegt in Art. 1 Abs. 3 GG bzw. dem (ungeschriebenen) all-

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Dies ist jene Funktion der Grundrechte, des Sozialstaatsprinzips oder des Grundsatzes von Treu und Glauben, die Gem, ebenda S. 435 unter cc) und ee) im Zusammenhang mit dem Methodenrecht anführt. Wenn inhaltliche, nicht methodische Prinzipien letztlich über die Konfliktfalle gegenläufiger Auslegungsergebnisse entscheiden sollen (vergleiche ebenda, S. 436 unter (6)), dann ist mit dem Methodenrecht in dieser Frage nichts wesentlich Neues gewonnen. Denn daß zur Begründung eines Auslegungsergebnisses inhaltliche /tec/zttprinzipien herangezogen werden, ist gängige Praxis. 71 Mißverständlich Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, 1988, S. 38. 72 Als Unterfall der systematischen Auslegung wird die verfassungskonforme Auslegung etwa auch von Gern, ebenda S. 418 m. w. N. gesehen. Vergleiche auch Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 437, Fußnote 51.

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C. Verfassungsrechtlicher Ansatz

gemeinen Anspruch des Grundgesetzes auf vorrangige Geltung.73 Die Normenhierarchie selbst besitzt als ein von Inhalten losgelöstes Prinzip methodenrechtlichen Charakter. Sowohl die systematische Auslegung, als auch die verfassungskonforme Auslegung können als gesichert, als allgemein anerkannt gelten. Eine tatsächlich neue Dimension von (Verfassungs-) Rechtsnormen stellt es hingegen dar, wenn rein methodische Normen als „Methodenrechf ς begriffen werden.

III. Das Verfassungsrecht als „Quelle" des Methodenrechts Nun stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls wo sich Normen des geschriebenen oder ungeschriebenen74 positiven Rechts finden lassen, die entweder selbst Methodennormen sind oder von denen jedenfalls Methodennormen abgeleitet werden können. Im deutschen Recht gibt es zwar keine explizite Methodengesetzgebung75. Sie sollte auch nicht vermißt werden, selbst wenn sich in anderen Rechtsordnungen solche Vorstöße bewährt haben. Berühmtheit hat etwa der § 1 des schweizerischen ZGB erlangt.76 Zu nennen wären auch die §§ 6 ff. des österreichischen ABGB 77 oder der einzigartige Art. 139 der Verfassungs von Äquatorial Guinea78. Inwieweit derartige gesetzgeberische Vorgaben die Methodik wirksam bereichern, soll hier nicht untersucht werden. Das hier ins Auge gefaßte positive deutsche Methodenrecht kann aber an bereits existierendes (insbesondere Verfassungs-)Recht sowie an Richterrecht anknüpfen. 73

Vergleiche jetzt auch Häberle, Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen - e i n Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127, 128 f unter Hinweis auch auf Art. 19 Abs. 2 GG, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 79 Abs. 1 GG. 74 Gern, ebenda S. 431 möchte wegen Art. 20 Abs. 3 GG ungeschriebenes Recht nur „ausnahmsweise" heranziehen. Meines Erachtens gebietet die Gesetzes- und Äec/ztebindung des Art. 20 Abs. 3 GG jedoch gerade die Berücksichtigung auch ungeschriebenen (positiven) Rechts. 75 Das strafrechtliche Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG und des § 1 StGB mag hier eine Ausnahme sein, wobei man sogar darüber streiten könnte, ob das Analogieverbot, das ja nur zu Lasten des Täters greift, nicht erst aus der Formulierung „wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt Wal*' abgeleitet werden muß. 76 Vergleiche Häberle, Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen — ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127, 129. 77 Hierzu vergleiche Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 79 m. w. N. 78 Hierzu zuletzt Häberle, Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127, 132 f.

III. Das Verfassungsrecht als „Quelle" des Methodenrechts

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Die Frage nachrichterlichem Methodenrecht kann hier nur angedeutet werden.79 Manches spricht dafür, aus der originären Funktionszuständigkeit der Gerichte für die Rechtsanwendung einen Auftrag sowie die Legitimation für richterliche Entwicklung von Methodennormen zu suchen.80 Freilich muß in dieser Frage die Möglichkeit der (Selbst-) Bindung der Rechtsprechung geklärt werden. Jedenfalls sind die Gerichte institutionell dazu berufen, die Einhaltung solcher Methodennormen zu gewährleisten, die tatsächlich geschriebenes oder ungeschriebenes positives Recht sind, die also als Rechtsnormen Geltung beanspruchen und als solche nach rationalen Kriterien nachprüfbar sein müssen. Dies zeigt die institutionelle Norm des § 550 ZPO (bzw. § 337 Abs. 2 StPO81), die eine revisible Rechtsverletzung82 ausdrücklich darin sieht, daß „eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist". Diese Norm ist nicht nur entscheidend für die institutionelle Absicherung des Methodenrechts und für die entscheidende Rolle der Revisionsinstanzen hierbei. Vielmehr beweist die Formulierung der §§ 550 ZPO und 337 Abs. 2 StPO, daß unser Prozeßrecht wie selbstverständlich davon ausgeht, daß Methodenfehler itecteverletzungen sein können. Was soll daran hindern, darin nicht nur den Hinweis auf einzelfallbezogenes konkretes Methodenrecht zu sehen, sondern vielmehr auch einen Auftrag, nach abstrakten Anwendungsnormen als Rechtsnormen zu forschen? Was spricht dagegen, diesen Gedanken von der Rechtsanwendung auf alle Methodennormen, also auf Normen der Rechtsfindung und -gewinnung zu erstrecken? Auf der Suche nach positiv geltendem Methodenrecht muß neben dem Prozeßrecht vor allem das Verfassungsrecht befragt werden, dessen Allgemeinheit, Überordnung und Geltungsanspruch hierfür geradezu prädestiniert ist. Rechtsvergleichend fallt auf, daß die schweizerischen und österreichischen einfachgesetzlichen Methodennormen83 als mittelbarer Gesetzesinhalt des Verfassungsrechts qualifiziert werden.84 Die hier erhobene Forderung, Methodennormen als Rechts79 Vergleiche hierzu etwa die empirische Untersuchung von Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992. 80 Vergleiche Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, 1983, S. 64, dessen Untersuchungen auch außerhalb des schwedischen Rechts Beachtung verdienen. 81 Siehe oben Fußnote 51 auf S. 39. 82 An eine gesetzespositivistische Grundhaltung anknüpfend formulierte der Gesetzgeber 1877 (§ 510 CPO, RGBl. 1877, S. 83) so: „Das Gesetz ist verletzt . . . " (Hervorhebung nicht im Original). Noch heute lautet § 550 ZPO gleich, spricht also nicht von einer Rechts-, sondern von einer Gesetzesverletzung. 83 §§ 1 ff. ZGB und § 6 ABGB. 84 Richtigerweise bezeichnet Mayer-Hayos, Einleitungsartikel des schweizerischen ZGB, S. 8 die Methodenfragen des § 1 Absatz 2 ZGB unabhängig von ihrem Regelungsort und Regelungszusammenhang als Verfassungsrecht. Zum Verfassungsrang der Auslegungsmethoden in der Schweiz und im allgemeinen vergleiche Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303, 350 f. Esser, Grundsatz und Norm, 4. Auflage 1990, S. 121

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C. Verfassungsrechtlicher Ansatz

normen zu begreifen und die Methodenlehre als Lehre vom Methodenrecht zu erweitern, kann folgendermaßen präzisiert werden:85

Methodenrecht ist in erster Linie Verfassungsrecht. Bedenken gegen die Methodenrelevanz des Grundgesetzes86 beruhen auf der bereits oben erörterten Skepsis dagegen, die Methodenlehre zu „positivieren". Wer die Methodennormen jedoch „freischwebend" 87 läßt, verschleiert deren faktischen Quasi-Verfassungsrang 88. Daß die „Verfassungsentfaltungf' insoweit noch weitgehend ungeklärt ist, liegt an der Zivilrechtsdominanz in der Methodenlehre.89 Die verschiedenen Dimensionen des Verfassungsrechts fur das Methodenrecht können hier nur angedeutet werden. Als Normen unseres Grundgesetzes mit unmittelbarem Methodengehalt fallen besonders folgende Normen ins Gewicht: - Art. 1 Abs. 3 GG und der (ungeschriebene) allgemeine Vorrangigkeitsanspruch der Verfassung sind der methodenrechtliche Kern der verfassungskonformen Auslegung. - Von den Gleichheitssätzen des Art. 3 GG ist vor allem Art. 3 Abs. 1 GG eine zentrale Norm des Methodenrechts. Im Gegensatz zu den anderen Grundrechten ist der allgemeine Gleichheitssatz nicht dem materiellen Recht, sondern dem Methodenrecht zuzuordnen, da er selbst keine Rechtsinhalte verbürgt, sondern regelt, wie (d. h. mit welcher Methode) rechtliches Ermessen auszuüben ist. 90 spricht von den Rechtsfindungsregeln als „"Verfassungsrecht" judizieller Normsetzung". Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 307 nennt die Gesetzesbindung eine methodenbezogene Norm des Verfassungsrechts. Für das österreichische Recht vergleiche Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 79 m. w. N. in Fußnote 194: „mittelbarer Gesetzesinhalt des Verfassungsrechts". 85 Zu der parallelen Idee der „Rechtsphilosophie als Verfassungslehre", die hier zur „Methodenlehre als Verfassungslehre" fortentwickelt wird, vergleiche schon oben S. 27 und Fußnote 39. 86 Meyer-Hesemann, Methodenwandel in der Verwaltungswissenschaft, 1981, S. 136 ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Auflage 1976, S. 35. 87 Geis, Die pragmatische Sanktion der „verfassungskonformen Analogie": Kritische Anmerkung zur neuesten „Lebenslänglich-Entscheidung" des BVerfG, NJW 1992, S. 2938 ff., S. 2940. 88 Geis, ebenda unter Hinweis auf das Sondervotum von Mahrenholz, NJW 1992, S. 2955. 89 Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W d S t R L 20 (1963), S. 53 f.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. V; Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung—Verfassungskonkretisierung als Methoden- und Kompetenzproblem, 1969, S. 20. 90 Hierzu ausführlich unter G („Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme"), S. 223 ff.

III. Das Verfassungsrecht als „Quelle" des Methodenrechts

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- Art. 19 Abs. 2 GG, verstanden als Garantie des relativen Wesensgehalts91 sowie der verfassungsrechtlich nachweisbare Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind die wichtigsten methodenrechtlichen92 Normen aller (verfassungsrechtlichen93) Abwägungsvorgänge. - Art. 20 Abs. 3 GG enthält das methodenbegründende und methodenbegrenzende Gebot der Bindung an Gesetz und Recht.94 Dies ist der Ausgangspunkt der Rechtsfindung. Methoden der Korrektur von Normen, die Restriktion sowie die Analogie müssen sich an diesem rechtlichen Maßstab messen. Neben dem Rechtsstaatsprinzip ist auch das Demokratieprinzip methodenrelevant.95 - Die Art. 19 Abs. 4 Satz 1, 97 Abs. 1 GG gehören zwar primär zum Verfahrensrecht, können aber auch die Rolle des Richters, die in der Methodenlehre immer wieder hinterfragt wird, erhellen. - Art. 93 GG läßt als ebenfalls verfahrensrechtliche Norm Schlüsse darauf zu, welche Rolle das Bundesverfassungsgericht bei der Einhaltung verfassungsrechtlicher Methodennormen spielt. - Art. 100 Abs. 1 GG setzt die Grenze zwischen (verfassungskonformer) Auslegung und Normkorrektur durch Nichtigerklärung voraus. - Art. 103 Abs. 1 GG hat nicht nur unmittelbare verfahrensrechtliche Bedeutung, sondern betrifft auch die Frage der Ausstrahlungswirkung und Drittwirkung (gerichtlicher) Entscheidungen. Das spielt für die Methodenlehre dort eine Rolle, wo es um Entstehung von Richterrecht und um Selbstbindungsmechanismen geht. - Art. 103 Abs. 2 GG ist die Verfassungsnorm, die zwar nur in einen spezifischen Teil der Methodenlehre eingreift, aber dort umso konkretere Auswirkungen hat. Sie setzt die Abgrenzung zwischen extensiver Auslegung und Analogie voraus. Diese Abgrenzung ist zwar unmittelbar nur im Strafrecht in dieser Form verfassungsrechtlich geboten, hat aber Auswirkungen auf die gesamte Auslegungslehre.

91

Hierzu ausfuhrlich Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Auflage 1983. 92 Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 77 bezeichnet die Verhältnismäßigkeit zutreffend als „formales Prinzip" m. w. N. auch zur Gegenansicht. 93 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit spielt auch außerhalb des Verfassungsrechts eine zentrale methodenrechtliche Rolle. 94 Hierzu Gern, Die Rangfolge der Auslegungsmethoden von Rechtsnormen, Verwaltungs-Archiv 80 (1989), S. 415 ff., S. 433. 95 Hierzu ebenda, S. 432 f. Zur Bedeutung des Demokratieprinzips für die historische Auslegung vergleiche auch Schlehofer, Juristische Methodologie und Methodik der Fallbearbeitung, JuS 1992, 572, 575.

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C. Verfassungsrechtlicher Ansatz

In dieser Arbeit soll der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und sein Verhältnis zu Art. 20 Abs. 3 GG im Vordergrund stehen. Tatsächlich spielt der Gleichheitssatz auch in der zivilrechtlichen Methodenlehre eine wachsende Rolle. Dies gilt längst nicht mehr ausschließlich fur die Legitimation der Analogie (als Gleichbehandlung des wesentlich Gleichen)96 und der Restriktion (als Ungleichbehandlung des wesentlich Ungleichen)97. Vielmehr durchdringt der Gedanke der Gleichbehandlung bereits alle Aspekte der Methodik.98 Das liegt am Wesen der„Idee vom Recht" in unserem Rechtskreis99 und gilt somit nicht allein für den deutschen Juristen. Gerade weil die moderne Methodik so tief verwurzelt ist, erscheint deren Anbindung an den positiv-verfassungsrechtlichen Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG überfällig. Der Gleichheitssatz beinhaltet als Methode ein Gebot der Vergleichung. Denn nur wer vergleicht, kann wesentlich Ungleiches unterscheiden und die gebotene rechtliche Behandlung gewährleisten. Der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG wird hier als Maßstab einer verfassungsrechtlichen Methodennorm herangezogen. So gelangt man zu einem verfassungsrechtlichen Gebot der Vergleichung, das sich an alle staatlichen Gewalten gleichermaßen richtet. Diese positivrechtliche Anbindung verschafft der Methodik den unmittelbaren Geltungsanspruch des Art. 1 Abs. 3 GG und eröffnet gegebenenfalls ordentliche und verfassungsgerichtliche Rechtsbehelfe. Außerdem verspricht eine gegenseitige Befruchtung der bislang „aneinander vorbeigeschriebenen" Literatur zur Methodenlehre und zum Grundrecht auf Gleichbehandlung Gewinn. Ein wesentlicher Teil dieser Vergleichungsvorgänge und der damit verbundenen Wertungen soll auf der Ebene der Gesetzgebung stattfinden. Der Gesetzgeber soll durch die Formulierung gesetzlicher Tatbestände bereits Werungen treffen. Die Tatbestandsgrenzen offenbaren nämlich Entscheidungen des Gesetzgebers darüber, was wesentlich ungleich ist. Aufgrund der gesetzlichen Vorgabe muß der Richter „ohne Ansehung der Person" den subsumierbaren Fällen die jeweils gleiche, ebenfalls gesetzlich festgelegte Rechtfolge zuordnen. Kraft Gesetzesbindung darf der Richter also nicht hiervon abweichen. Auf diese Weise wird der Gleichheitssatz durch ,formelle Gleichbehandlung", d. h. durch Rechtsfolgenschluß aufgrund einer Gesetzessubsumtion verwirklicht. Soweit der Gesetzgeber mit seiner Regelung auch „materiell" den Anspruch des Art. 3 Abs. 1 GG erfüllt, geht der Gleichheitssatz für die vollziehende und rechtsprechende Gewalt in der Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) auf. 96 Hierzu ausführlich Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 381 ff. 97 Ebenda S. 391 ff. 98 A m deutlichsten und ausdrücklich bei Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, durchgängig. 99 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 455.

III. Das Verfassungsrecht als „Quelle" des Methodenrechts

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Jedoch nicht nur im Falle des gesetzgeberischen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG sind eigene Wertungen - hier: korrigierend im Rahmen von Normenkontrollverfahren - geboten. Schon wenn das Subsumtionsmodell an seine (schnell erreichten) Grenzen stößt, muß die zweite und dritte Gewalt eigene hier: ergänzende — Wertungen treffen. Dieser Vorgang steht im Zentrum jeder Methodenlehre100 und betrifft gleichermaßen die in Art. 1 Abs. 3 GG ausgespochene Bindung aller Staatsgewalt101 an Art. 3 Abs. 1 GG.

Damit ist der Gleichheitssatz als Methodenrecht, als Methodennorm des Verfassungsrechts qualifiziert. Deshalb soll der methodenrechtliche Charakter des Art. 3 Abs. 1 GG im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen. Dabei wird es vor allem um Methoden rechtlicher Abwägungen gehen. Es wird sich zeigen, daß Art. 3 Abs. 1 GG, genauer betrachtet, die Methodennorm komparativer Systeme ist. Um dies zu nachzuweisen, muß nun zunächst die Theorie der komparativen Systeme, die an Wilburgs „bewegliche Systeme" angelehnt ist, entwickelt werden.

100

Vergleiche Göpfert, bewegliche Systeme" zur Bewältigung von Ähnlichkeiten am Beispiel der ,3ürgschaftsfälle" des BGH, JuS 1993, S. 655 ff., S. 655. 101 Die Anerkennung der Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz folgte historisch sogar der Geltung für den Normanwender nach, vergleiche Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), S. 174 ff. 4 Michael

D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme" und verwandter Lehren

I. Wilburgs sogenannte „bewegliche Systeme" 1. Eigenschaften, Wesensmerkmale Begriff und Entdeckung sog. „beweglicher Systeme" sind dem österreichischen Zivilrechtler Walter Wilburg1 zu verdanken. Er entwickelte seine Idee am Beispiel des Schadensrechts2. Die Voraussetzungen für außervertragliche Schadensersatzhaftung stellt er dabei als eine Kombination fünf „beweglicher Elemente" dar:3 „1. Inanspruchnahme fremden Gutes oder dessen Gefährdung; 2. Vorwurf eines Mangels, der der Rechtswidrigkeit nahesteht, aber auch das Verschulden in seinen verschiedenen Graden umfaßt; 3. Intensität der Verursachung; 4. Abwägung der Vermögenslage, die hier allerdings, wie Mayer-Maly mit Recht einwendet, nicht außer Zweifel steht. 5. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Idee der Konzentration von Vorteil und Gefahr in einem Unternehmen." Diese fünf Elemente sind nicht kumulative, notwendige Bedingungen der Haftung. Sie konkretisieren nicht etwa eine Generalklausel als Quasi-Tatbestandsvoraussetzungen nach dem Modellschluß „Wenn 1 und 2 und 3 und 4 und 5, (nur)

1

Er lebte von 1905-1991. Zu seiner Person vergleiche Steininger, Walter Wilburg als Lehrer und Forscher in der Erinnerung seiner unmittelbaren Schüler und die beweglichen Systeme im Gesamtgefüge der Wissenschaften in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 1 ff. und den Nachruf von Canaris in JZ 1992, S. 409. 2 Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts, 1941 sowie ders., Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, Rektoratsrede Graz 1951. 3 Hier werden die fünf Elemente in der späten erweiterten Fassung von Wilburg, Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346 ff. zitiert.

I. Wilburgs sogenannte „bewegliche Systeme"

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dann gilt die Rechtsfolge". Sie stellen auch nicht fünf voneinander unabhängige, alternative Tatbestände dar, die je fur sich hinreichende Bedingungen für die Haftung festlegen sollen nach dem Modellschluß „Wenn 1 oder 2 oder 3 oder 4 oder 5, dann gilt die Rechtsfolge". Von diesen beiden Modellschlüssen, die die Regelfälle in unserer Rechtsordnung darstellen, unterscheidet sich Wilburgs Ansatz bereits strukturell: Die fünf Elemente stellen zwar die relevanten „Gesichtspunkte"4 dar, die kumulativ oder auch alternativ die Haftung begründen können; dies richtet sich jedoch im Gegensatz zu den herkömmlichen Modellen nicht nach starren Voraussetzungen („Wenn ..."), sondern nach Stärkegraden, die pro Element von Fall zu Fall in unterschiedlichen „beweglichen" Kombinationen auftreten können. Anstelle der „Wenn-dann-Beziehun^4 zwischen Tatbestand und Rechtsfolge tritt die ,Je-desto-Verknüpfung' der Elemente mit der Rechtsfolge. Die Beweglichkeit" der Elemente ist also eine dreifache: Erstens handelt es sich um graduell erfüllbare Merkmale. Dies für sich genommen ist jedoch keine Neuigkeit; Begriffe wie Verschuldens-, Verursachungsund Gefahrdungsintensität gehören zum gängigen Repertoire auch herkömmlicher, „unbeweglicher" Haftungssysteme. Zweitens muß die Verknüpfung von Voraussetzung und Rechtsfolge bei den „beweglichen Systemen" gradueller Natur sein. Der Unterschied zu gewöhnlichen Tatbeständen liegt also nicht im Wesen der Voraussetzungen, sondern in der Art der Verknüpfung mit der Rechtsfolge. Diese Verknüpfung kann auch bei graduell erfüllbaren Merkmalen „starr" oder „beweglich" sein. In „beweglichen Systemen" müssen die Elemente aus graduell erfüllbaren Merkmalen bestehen. In starren Systemen können sie aus graduell erfüllbaren Merkmalen bestehen. Hingegen muß die Rechtsfolge auch in „beweglichen Systemen" nicht graduell abstufbar sein. Ist sie es nicht, entspricht die Verknüpfung dem Muster , Je ..., desto eher/wahrscheinlicher...". Drittens wird der Grad ihrer Erfüllung nicht an einem starren Grenzwert zwischen rechtlicher Relevanz bzw. Irrelevanz gemessen, sondern im Zusammentreffen mit dem jeweiligen Stärkegrad der Erfüllung anderer Merkmale. Das hat zur Folge, daß die rechtliche Relevanz erst nach der, Addition" der Stärkegrade aller Elemente festgestellt wird und somit die Merkmale untereinander graduell ersetzbar und sogar gegebenenfalls völlig austauschbar sind. So soll etwa im Falle der Gefährdungshaftung der besondere Grad der Gefährlichkeit eines Verhaltens die Voraussetzung - besser: das Element-des Verschuldens des Haftenden gänzlich ersetzen.5

4

Vergleiche die Formulierung des fünften Elementes. Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, Rektoratsrede Graz 1951, S. 13. 5

4*

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D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

Canaris6 hat die „beweglichen Systeme" durch drei Merkmale charakterisiert: „iGrundsätzliche Ranggleichheit (hierzu a) und wechselseitige Austauschbarkeit (hierzu b) der maßgeblichen Prinzipien oder Gerechtigkeitskriterien ... bei gleichzeitigem Vezicht auf eine abschließende Tatbestandsbildung (hier er 1· a) Ranggleichheit der „beweglichen" Elemente

Die geforderte Ranggleichheit der Elemente soll die gegenseitige Austauschbarkeit aller Merkmale gewährleisten und verhindern, auch nur einen einzigen Gesichtspunkt als notwendige Bedingung „absolut" zu nehmen. Um dem Phänomen, das hinter den „beweglichen Systemen" steht, umfassend gerecht zu werden, sollte das Merkmal der Ranggleichheit der Elemente allenfalls als Idealfall verstanden werden. Hält man an der Ranggleichheit als Voraussetzung fest, so werden die „beweglichen Systeme" selbst zum Idealfall eines methodischen Phänomens. Es ist nämlich durchaus denkbar und sinnvoll, den Elementen unterschiedliches Gewicht zuzuordnen, ohne dadurch die „bewegliche" Struktur der Systeme zu zerstören8. Dann würden die im Einzelfall festgestellten Stärkegrade der Elemente - mathematisch gesprochen - vor ihrer, Addition" mit einem jedem Element fallunabhängig zugeordneten „Faktor multipliziert". Diese mathematischen Ausdrucksweise dient freilich nur der Einführung in die komplizierten Strukturen „beweglicher Systeme" und deren Veranschaulichung. Zur Klarstellung sei deshalb angemerkt, daß sich zwei „bewegliche Elemente" wie etwa das Verschulden und die Gefährdungsintensität ebenowenig wie ,Äpfel und Birnen" im mathematischen Sinne addieren lassen.9 Zwar ist es möglich,,Äpfel und Birnen" unter einem Oberbegriff (Früchte) zu addieren. So gibt es den Versuch, durch den gemeinsamen Maßstab 100%iger Erfüllung auch verschiedene rechtliche Gesichtspunkte durch den Ausgleich etwa 50%iger Untererfüllung mit 150%iger Übererfüllung zu kompensieren,10 um gleichsam rechnerisch Gerechtigkeit walten zu lassen. Aber auch diese Überlegung geht nicht über die Veranschaulichung des Problems hinaus, sofern sich die graduelle 6

Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 75. Hervorhebungen im Original. 8 Vergleiche auch Schilcher, Gesetzgebung und bewegliches System, in Bydlinski (Hrsg.), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 287 ff., S. 312 f. 9 Vergleiche hierzu auch Otte, Komparative Sätze im Recht; Zur Logik eines beweglichen Systems in Jahrbuch für Soziologie und Rechtstheorie Band 2 (1972), S. 301 ff., S. 316 f. Vergleiche auch Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 1983, S. 32 ff. 10 So Benders „Sandhaufentheorem"; vergleiche OLG Stuttgart NJW 1979,2409,2412. Hierzu im einzelnen unter D II. 7

I. Wilburgs sogenannte „bewegliche Systeme"

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Erfüllung von Merkmalen nicht ohne weiteres quantifizieren läßt. Es bedarf wertender und nicht rechnerischer Feststellungen, um zu klären, was „halbes" oder „doppeltes" Verschulden ist. In dieser Wertung und nicht in der Rechenoperation liegt gegebenenfalls die Gerechtigkeit einer Lösung begründet. Darin liegt freilich keine spezifische Besonderheit oder Schwäche der „beweglichen Systeme": Denn schon bei der Festlegung des Maßstabes 100%iger Erfüllung eines Merkmals ist eine derartige Wertung erforderlich. Und diese Wertung ist der Normalfall der Bestimmung der Schwelle rechtlicher Relevanz bei jedem graduell erfüllbaren bzw. „unbestimmten" Tatbestandsmerkmal, etwa - um bei dem Beispiel zu bleiben - dem Verschuldensbegriff in § 276 BGB. Die „beweglichen Systeme" sind weder Gewinn noch Verlust rechnerisch ermittelbarer Rechtsfolgen. Fest steht damit auch, daß weder die behauptete Gleichwertigkeit der „beweglichen Elemente", noch die von mir geforderte gegebenenfalls unterschiedliche Gewichtung letztlich mathematisch verstanden werden darf. Zurück zur Frage, ob die Gleichwertigkeit der „beweglichen Elemente" ein sinnvolles Wesensmerkmal „beweglicher Systeme" ist: Bereits Wilburg selbst hat bei seiner prototypischen Untersuchung des Schadensrechts Zweifel an der (gleichwertigen) Berechtigung seines vierten Merkmals zugelassen.11 Warum sollte dies als Durchbrechung oder Schwäche seines theoretischen Ansatzes gedeutet werden? Schon die Formulierung der Elemente 1., 2. und 5. ist nämlich eine Kombination mehrerer Untergesichtspunkte, die alternativ12 bzw. kumulativ 13 gelten und somit - für sich genommen jedenfalls - nicht gleichwertig sind, sondern eine Struktur der Unter- und Überordnung erkennen lassen. Auch Canaris14 selbst sieht, daß die geforderte Gleichwertigkeit der Elemente nicht strikt durchzuhalten ist. Es wäre m. E. viel gewonnen, wenn dieses vermeintliche Strukturmerkmal deshalb aufgegeben würde. Die Gleichwertigkeit der Elemente stellt dann lediglich den Idealfall der „Beweglichkeit" dar. Indes wird in der „Gleichrangigkeit" häufig - insbesondere im Verfassungsrecht15 - die Voraussetzung der Abwägung gesehen. Dann wird aber mit Ungleichrangigkeit der Fall gleichgesetzt, in dem es gar nicht um Abwägung, son11

Wilburg, Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346 ff. im Anschluß an Mayer-Maly. 12 „odei" in Nr. 1 sowie „aber auch" in Nr. 2 der ebenda aufgelisteten fünf „beweglichen Elemente". 13 „und" in Nr. 5. 14 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 77, Fußnote 19 unter Hinweis auf Wilburg, Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346 Fußnote 2; Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, Rektoratsrede Graz 1951, S. 15. 15 Hierzu vergleiche vor allem die Analyse bei Schmitt Glaeser, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 113 (1988), S. 52, 92 f.

54

D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

dem um abstrakte Regelkollision,16 d. h. um den abstrakten Ausschluß eines nachrangigen Elementes geht. Meines Erachtens sollte aber die Rangfrage von der Struktur des Elementes unterschieden werden. Eine andere Möglichkeit wäre es, begrifflich zwischen Gleichwerrigkeit und Gleichrartgigkeit zu unterscheiden. Die unterschiedliche Gewichtung der „beweglichen Elemente" würde ermöglichen, daß im Einzelfall nur ein erheblicher Stärkegrad der Übererfüllung eines untergeordneten Gesichtspunktes die Untererfüllung eines entsprechend schwerwiegenden anderen Elementes kompensieren könnte. Das unterschiedliche Gewicht verschiedener Gesichtspunkte und die besondere Bedeutung einzelner Kriterien bei rechtlichen Wertungen bzw. Abwägungsvorgängen ist auch eine gebräuchliche, ja häufig zufindende Struktur der juristischen Methode. Auch ist es möglich und sinnvoll, Systeme zu bilden, bei denen ein besonders wichtiges Element erst durch mehrere andere - nur zusammengenommen gleichwertige Elemente ausgeglichen werden kann.17 Damit stellt sich die Frage der wechselseitigen Austauschbarkeit:

b) Wechselseitige Austauschbarkeit der „beweglichen" Elemente?

Tatsächlich ist die Kompensation der Unter- mit der Übererfüllung der verschiedenen „beweglichen Elemente" deren wesentliches Strukturmerkmal. Doch auch eine Modifizierung ist denkbar. Die Ersetzbarkeit jedes „beweglichen Elements" durch jedes andere innerhalb eines Systems stellt wieder nur den Idealfall der Beweglichkeit" dar. Wie soeben gezeigt, sind hier Einschränkungen bzw. Zusatzbedingungen - etwa die Notwendigkeit des Zusammentreffens mehrerer Elemente denkbar, ohne daß ein System von Gesichtspunkten dadurch „unbeweglich" würde. Darüberhinaus ist es denkbar, die „beweglichen Elemente" mit notwendigen, nicht austauschbaren Bedingungen18 zu kombinieren. Dabei kann es sich etwa um Tatbestandsmerkmale handeln, die schon begrifflich der Graduierung nicht zugänglich sind.19 Oder aber der Mindestgrad einer Voraussetzung 16 Zur strukturellen Unterscheidung zwischen Regel und Prinzip ausführlich unter 1 („Kollisionsfähigkeit (Abwägbarkeit) der Rechtsprinzipien"), S. 96 ff. 17 Vergleiche Fußnote 13 auf S. 53. 18 Dies gilt selbst für Wilburgs Beispiel aus dem Schadensrecht: Es ist nämlich kaum vorstellbar, das 1. Element der Schädigung für eine Schadenshaftung gänzlich zu ersetzen. 19 In Wilburgs Beispiel aus dem Schadensrecht läßt sich auch dies zeigen: Auch wenn die Rechtsfähigkeit der haftenden natürlichen oder juristischen Person nicht in den fünf Elementen, aus denen sich die Haftung ergeben soll, erscheint, ist sie - nämlich selbstverständlich - notwendige, „unbewegliche" Bedingung. Ein „bewegliches Element" nach dem Muster „Je mehr der Verursacher des Schadens rechtsfähig ist, desto eher bzw. mehr haftet ei" kommt nicht in Frage.

I. Wilburgs sogenannte „bewegliche Systeme"

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ist durch kein anderes Element ersetzbar.20 Freilich ist dann ein „bewegliches System" in bezug auf solche Elemente „unbeweglich". Wie schon Wilburgs prototypisches Beispiel des Schadensrechts gezeigt hat,21 sind jedoch derartige Mischformen, wenn nicht idealtypisch, so doch der Regelfall. Die Theorie sollte sich deshalb von dem „Ideal der totalen Beweglichkeit" lösen. c) Verzicht auf abschließende Tatbestandsbildung?

Sogar der Verzicht auf jegliche starre Tatbestandsbildung sollte lediglich als Ausgangshypothese gelten, über die es hinauszugelangen gilt. Zunächst wurde gezeigt,22 daß die „beweglichen Elemente" mit notwendigen, nicht austauschbaren, d. h. starren Tatbestandsvoraussetzungen kombiniert werden können. Darüber hinaus wären „bewegliche Systeme" geeignet, gerade die Bildung der (starren) Tatbestände methodisch zu erhellen. Zu denken ist hier an die Methoden der Rechtsfortbildung 23. Insofern sollte Wilburgs Idee bzw. ihr methodischer Kern nicht länger als unverträglicher Gegensatz zu starren Tatbeständen verstanden werden, sondern als deren Ergänzung und Bereicherung in unser Rechtssystem und die Methodenlehre einfließen. Erst wenn man komparative Strukturen in allen denkbaren Variationen und Mischformen analysiert und nicht an der „reinen" idealen Form der „beweglichen Systeme" festhält, kann man deren vielfache Bedeutung für die Methodenlehre erfassen, die weit über das hinausgeht, was ihr Entdecker Wilburg selbst beabsichtigte. Festzuhalten bleibt, daß die „beweglichen Systeme" in der von Canaris postulierten Form den Idealfall komparativer Strukturen darstellen, bei dem „totale Beweglichkeif' besteht. Um über die Wilburgsche Idee und den Idealfall „beweglicher Systeme" hinauszugelangen, soll hier eine Theorie der komparativen Systeme entworfen werden. Zunächst sollen jedoch im Rahmen der Bestandsaufnahme die (ursprünglich beabsichtigten) Funktionen beweglicher Systeme" dargestellt werden: 2. Erkenntnisfunktion „beweglicher Systeme" Die Erkenntnis, daß im Falle der sogenannten Gefährdungshaftung der extrem hohe Grad der Gefährlichkeit eines Verhaltens es rechtfertigt, eine verschuldensunabhängige Haftung zu begründen, leuchtet unmittelbar ein. Das „bewegliche System" Wilburgs zum Schadensrecht liefert hierfür ein überzeugendes Be20

Dies ist im Beispiel Wilburgs etwa für das 3. Element der Intensität im Sinne einer Mindestzurechenbarkeit anzunehmen. 21 Siehe die vorangegangenen Fußnoten. 22 Unter D I 1 b. 23 Hierzu vergleiche F II 1.

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D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

gründungsmuster: In der oben beschriebenen Weise vermag hier eine extreme Übererfüllung des Merkmals abstrakter Gefährlichkeit das Element des Verschuldens gänzlich zu kompensieren. Dies ist der Fall bei der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung. Jedoch stellt die völlige Kompensation eines Elementes nur den Extremfall der Beweglichkeit" der Elemente dar: Auch Teilkompensationen lassen sich mit Hilfe „beweglicher Systeme" stufenlos darstellen. Die „bewegliche" Verknüpfung der Elemente läßt sich in unserem Beispiel so ausdrücken:, Je größer die abstrakte Gefährlichkeit eines Verhaltens ist, desto geringer muß der Grad des (nachzuweisenden) konkreten Verschuldens des Haftenden sein, um die Haftung zu begründen". Auch diese Erkenntnis wird leicht Zustimmungfinden. Sowohl die teilweise wie auch die völlige Kompensation des Verschuldenserfordernisses durch die besondere bzw. extreme Gefährlichkeit eines Verhaltens lassen sich nämlich schon im geltenden (deutschen) Schadensrecht vielfach nachweisen.24 Die Beispiele fur Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr25, die Haftungstatbestände für vermutetes Verschulden, die vielfältigen Anforderungen an den „Entlastungsbeweis" sowie die inzwischen zahlreichen Tatbestände der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung sind nicht weniger als eine Bestätigungen des Prinzips und Rechtsgedankens, der in Wilburgs „beweglichen System" allgemein formuliert ist. Für die Frage der möglichen Funktionen „beweglicher Systeme" bedeutet dies zweierlei: a) ,Je-desto-Strukturen" finden sich bereits in unserer Rechtsordnung. Bewegliche Systeme" sind geeignet, solche Strukturen offenzulegen. Sie sind deshalb ein wertvoller Beitrag zur Erkenntnis der Zusammenhänge"26. Ihr didaktischer Wert kann gar nicht überschätzt werden. Methodische Bedenken oder Einschränkungen sind für diese Erkenntnisfunktion nicht zu diskutieren. (Selbst eine methodische Einschränkung wie das Analogieverbot ist kein Erkenntnisverbot 21. Im Gegenteil: Gerade die Erkenntnis des Analogieschlusses vermag erst die Grenzen zur erlaubten Auslegung sichtbar zu machen und letztlich zur Vermeidung verdeckter-Analogien beitragen.) Der Erkenntnis von Strukturen des Rechts dienen mit wachsender Bedeutung und Beachtung bereits die Rechtsvergleichungs-

24

Zur neueren Entwicklung der Dogmatik vergleiche Deutsch, Das neue System der Gefährdungshaftungen: Gefährdungshaftung, erweiterte Gefahrdungshaftung und KausalVermutungshaftung, NJW 1992, 73 ff. m. w. N. 25 Vergleiche hierzu Schmidt-Salzer, Verbraucherschutz, Produkthaftung, Umwelthaftung, Unternehmerverantwortung, NJW 1994, S. 1305 ff, S. 1308 m. w. N. aus der Rechtsprechung des BGH. 26 Wilburg, Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346 ff, S. 379. 27 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 564.

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Wissenschaft und Rechtsgeschichte. Deshalb soll der mögliche Beitrag „beweglicher Systeme"28 zur Methode dieser Wissenschaften noch untersucht werden.29 b) Auch „unbewegliche" Rechtssysteme — hier: das deutsche gesetzlich normierte undrichterlich fortgebildete 30 Schadensrecht31 - sind geeignet, die Rechtserkenntnis des „beweglichen Systems" im Ergebnis umzusetzen. Das geltende Recht bestätigt nicht nur die inhaltliche Richtigkeit der von Wilburg erkannten „beweglichen" Zusammenhänge. Umgekehrt bestätigen auch die überzeugend als „beweglich" dargestellten Elemente den Gerechtigkeitsgehalt der geltenden „unbeweglichen" Einzelnormen. Wilburg beabsichtigte mit seiner Idee jedoch mehr als die Erkenntnis bereits bestehender rechtlicher Zusammenhänge und das Gegenteil der Bestätigung des geltenden „unbeweglichen" Systems von Einzeltatbeständen: 3. Bewegliche Systeme" als Alternative zu starren Tatbeständen? Wilburgs Darstellung des Schadensrechts ist zu verstehen als ein Alternatiworschlag de lege ferenda. 32 Die besondere Berechtigung bzw. Kritikwürdigkeit dieses Vorschlags speziell für das Schadensrecht soll als zivilrechtlich-dogmatisches Problem dabei außer Betracht bleiben.33 Hier soll nur die Struktur „beweglicher Systeme" interessieren. Die Frage ist also, welche Konsequenzen sich ergäben, wenn der Gesetzgeber nicht mehr starre Tatbestände formulierte, sondern stattdessen lediglich die relevanten Gesichtspunkte vorgäbe. Dem Richter obläge dabei, im Einzelfall zu entscheiden, ob der Grad der Erfüllung der Gesichtspunkte, d. h. das Zusammenwirken der Elemente für die maßgebliche 28

Vergleiche bereits Posch, Die Bedeutung des Beweglichen Systems für die Rechtsvergleichung und das Einheitsprivatrecht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986,253 ff. 29 Siehe unten F I I I 1 c („Exkurs: Die „fünfte Auslegungsmethode" der Rechtsvergleichung als Rechtsgewinnungs- und Rechtsfindungsmethode") S. 209 ff. 30 Zu weit in die zivilrechtliche Dogmatik hinein würde die allerdings aufschlußreiche Frage führen, welchen Anteil die richterliche Rechtsfortbildung daran hat, daß Beweislastumkehrungen bzw. Beweiserleichterungen die Elemente „Gefährdung und „Verschulden" tatsächlich differenziert ausgleichen. 31 So hat ζ. B. Schmidt-Salzer, Verbraucherschutz, Produkthaftung, Umwelthaftung, Unternehmerverantwortung, NJW 1994, S. 1305 ff, S. 1315, daraufhingewiesen, daß der Verbraucherschutz „kein absolutes Prinzip" ist, sondern ein europarechtlich verbindlich festgeschriebenes hochrangiges(l) „Wertebekenntnis". 32 Göpfert, Bewegliche Systeme" zur Bewältigung von Ähnlichkeiten am Beispiel der Bürgschaftsfälle" des BGH, JuS 1993, S. 655 ff, S. 657. 33 Hierzu vergleiche etwa die Rezensionen von Esser, AcP 151, S. 555 ff. und RabelsZ 18 (1953), S. 165 ff sowie die differenzierende Betrachtung bei Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 80 f.

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D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

Rechtsfolge hinreicht. Die Wesensverschiedenheit eines solchen Rechts liegt auf der Hand: Herkömmlicherweise stellt sich dem Richter diese selbständige Frage nach der Rechtsfolge nicht, wenn er die Voraussetzungen einer Norm festgestellt hat. Deren Hinreichen für die Rechtsfolge hat der Gesetzgeber zwingend vorgegeben („wenn ..., dann ..."). Da es sich um ein Abweichen von überkommenen Mustern handelt, ist zu fragen, ob und gegebenenfalls wann ein Bedürfnis besteht, die Rollenverteilung zwischen Gesetzgeber, Verwaltung34 und Richter in dieser Weise neu zu bestimmen. Ein solches Bedürfnis bemißt sich nach der Schwäche des überkommenen Systems „unbeweglicher" Tatbestände. Dabei kann es sich erstens um eine absolute Schwäche handeln: Dem Gesetzgeber ist es unmöglich, ein System starrer Tatbestände zu formulieren. Das könnte zunächst an einer unüberwindlichen Beweglichkeit" der zu normierenden Verknüpfung von tatbestandlichen Voraussetzungen mit der Rechtsfolge liegen. Hierbei ist jedoch Zurückhaltung geboten. Dies ist nicht schon dann der Fall, wenn die Voraussetzungen aus graduell erfüllbaren Begriffen bestehen. Diese (ζ. B. „Verschulden") können auch Elemente „unbeweglicher" Tatbestände sein.35„Je-desto-Strukturen" können sogar, wie das Beispiel des Deliktsrechts36 zeigt, auch in starren Einzeltatbeständen Niederschlag finden. Dies hat jedoch Grenzen. Solche „unbeweglichen" Einzeltatbestände stellen nur beispielhafte, punktuelle Verwirklichungen der dahinterstehenden „beweglichen" Struktur dar. Sie sind bildlich gesprochen Blitzlichter" auf eine „fließende Bewegung^ oder ,zweidimensionale Einzelansichten" eines „dreidimensionalen Gegenstandes". Der Vorteil ihrer „Schärfe" wird mit dem Verlust einer (im Bild: „zeitlichen" bzw. „räumlichen") Dimension erkauft. In der Regel wird es möglich sein, rechtliche Strukturen durch „zweidimensionale Blitzlichtaufnahmen" erkennbar darzustellen. Der Preis der Vergröberung läßt sich durch eine entsprechende Vielzahl von Blitzlichtern", d. h. durch kasuistische Differenzierungen vermindern. Unersetzlich ist somit die ,»Dimension der Beweglichkeit" bei der Tatbestandsbildung nicht. Dennoch gibt es Fälle, in denen sich für den Gesetzgeber die Formulierung einer Norm als „bewegliches System" geradezu aufdrängt, weil auch die Rechtsfolge graduell abhängig von den Voraussetzungen variieren soll. Es gibt eben Grenzen, bildlich gesprochen eine „bewegliche Struktur*' durch eine Vielzahl einzelner „starrer Blitzlichtaufnahmen" darzustellen.

34 35 36

Hierzu noch ausführlich bei der Erörterung komparativer Systeme unter F I I 2 c. Siehe oben unter D i l . Siehe oben unter 2 b).

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Hierzu ein Beispiel: § 254 BGB wird zu Recht immer wieder als Prototyp eines bereits existierenden, gesetzlich normierten „beweglichen Systems" zitiert. 37 In derartigen Fällen38 ist eine absolute Schwäche „unbeweglicher" Tatbestände anzunehmen. Zu denken ist auch an neue, unüberschaubare Problembereiche, in denen der Gesetzgeber die Fülle möglicher Fälle (noch) nicht ermessen kann. Hier ist es erwägenswert, daß der Gesetzgeber - statt untätig zu bleiben - wenigstens die ihm wichtig erscheinenden rechtlichen Gesichtspunkte als „bewegliches System" normiert. Den Gerichten käme dann (nur) deren Konkretisierung zu. Bevor jedoch aus diesem Bedürfnis auf die Lösung durch „bewegliche Systeme" zu schließen ist, muß folgendes geklärt werden: - Ist es dem Gesetzgeber tatsächlich leichter möglich, „bewegliche Systeme" zu formulieren? Das ist anzunehmen, wenn lediglich die Art der Fallgestaltungen zu unabsehbar ist, um abstrakte Tatbestände zu bilden. Sind nämlich die Wertungsgesichtspunkte bereits greifbar, können sie bereits als „bewegliche Systeme" formuliert werden. Dies wird von Fall zu Fall zu prüfen sein. - Ist es nicht besser, wenn der Gesetzgeber die Entwicklung des Rechts in derartigen Fällen gänzlich den Gerichten überläßt? Dabei kann er entweder durch eine Generalklausel hierzu einen ausdrücklichen Auftrag erteilen, oder die Entwicklung von Richterrecht - vorübergehend oder auch dauerhaft—schlicht dulden. Der Unterschied solcher richterlicher Rechtsfortbildung zum gesetzlichfixierten „beweglichen System" besteht darin, daß im ersten Fall nicht nur die Abwägung gesetzlich vorgegebener Gesichtspunkte, sondern auch die Entwicklung der entscheidungsrelevanten Elemente der Rechtsprechung überlassen bleibt. Das traditionelle Verständnis der Rollen-, d. h. Gewaltenverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung geht mit guten Gründen davon aus, daß der Gesetzgeber die grundsätzlichen Wertungen selbst treffen soll. Das läßt sich schon mit den ihm zur Verfügung stehenden anderen Erkenntnisverfahren 39 sowie mit dem politischen Charakter dieser Fragestellungen begründen. Diese Überlegungen40 gehen jedoch bereits über Wilburgs Konzept „beweglicher Systeme"

37 Vergleiche etwa Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 78. 38 Zur besonderen Problematik der (verwaltungsrechtlichen) Ermessensnormen vergleiche unter F II 2 c. 39 Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 232. 40 Hierzu noch ausführlich unter Η (,Methodenrechtliche Schranken bei der Bildung komparativer Systeme"), S. 295 ff.

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hinaus. Denn sein Beispiel des Schadensrechts ist jedenfalls kein Beispiel, in dem der Gesetzgeber untätig „absolute" Schwäche offenbart hätte. Auch in Fällen, in denen „unbewegliche" Voraussetzungen starren Rechtsfolgen zugeordnet werden können, ist alternativ die Formulierung „beweglicher Systeme" möglich. Hier stellt sich also nicht nur die Frage, ob „bewegliche Systeme" das sonst gesetzgeberisch nicht lösbare Problem überhaupt bewältigen können, sondern ob sie eine nach überkommenen Mustern lösbare Rechtsfrage besser oder zumindest akzeptabel normieren können. Die Beantwortung dieser Frage hängt wesentlich vom Vorverständnis herkömmlicher Methodenlehre ab, d. h. von der Beurteilung der relativen Schwäche „unbeweglicher" Systeme. Die Vorund Nachteile „beweglicher Systeme" im Vergleich zu starren Tatbeständen sind entsprechend heftig umstritten. Im Zentrum dieser Diskussion steht die Rechtssicherheit, genauer die Vorhersehbarkeit der jeweiligenrichterlichen Entscheidungen. Anders gefragt: Wird das Ergebnisrichterlicher Entscheidungen unsicherer, wenn der Richter an „bewegliche Systeme" gebunden wird anstatt an ein System starrer Tatbestände? Die Kritiker „beweglicher Systeme" warnen vor einer Aufopferung der starren Tatbestände, die in unserer Rechtsordnung als Garanten der Rechtssicherheit gälten. Die Befürworter hingegen sehen gerade in „beweglichen Systemen" eine Chance zur Erhöhung der Rechtsgewißheit41. Die Meinungen über Wilburgs Idee reichen somit von der Befürchtung, denrichterlichen Entscheidungsspielraum bis zur Willkür 42 zu erweitern, bis zur Hoffnung, dierichterliche Entscheidungslast mindern zu können 4 3 Derart konträre Positionen beruhen meistens auf unterschiedlichem Vorverständnis. Wie bereits angedeutet, ist hier deshalb die Vorfrage zu diskutieren, welche Rechtssicherheit ein System „unbeweglicher" Normen gewährleistet. So viel steht fest: Soweit in einem solchen System tatsächlich Entscheidungsergebnisse durch Deduktion bzw. Subsumtion abgeleitet werden können, ist ein Höchstmaß an Rechtssicherheit gewährleistet. Denn tatsächlich erlaubt das „Wenn-dann-Modell" zwingende Schlüsse. Die Bindung des Richters an ein solches System macht das Recht insoweit sicher,44 als die Rechtsfolge nicht von Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff, S. 284 f. Vergleiche auch Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 72. 42 So Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 230, als der vielleicht schärfste Kritiker. 43 Göpfert, Bewegliche Systeme" zur Bewältigung von Ähnlichkeiten am Beispiel der Bürgschaftsfälle" des BGH, JuS 1993, S. 655 ff, S. 659. 44 Damit steht fest, daß das Argument der Rechtssicherheit in diesen Fällen tatsächlich gegen „bewegliche Systeme" spricht. Hier wird zu überlegen sein, ob andere mögliche Argumente dieses (starke) Argument aufwiegen können.

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einerrichterlichen Abwägung mehrerer Gesichtspunkte abhängt, sondern durch die abstrakte, d. h. vom Einzelfall unabhängige Entscheidung des Gesetzgebers feststeht. Somit spricht das Argument der Rechtssicherheit in diesen Fällen tatsächlich gegen „bewegliche Systeme". Hier wird zu überlegen sein, ob andere mögliche Argumente dieses (starke) Argument aufwiegen können. Unbestritten ist aber auch, daß in keinem Rechtssystem alle Entscheidungen aus einem geschlossenen System von Normen durch Subsumtionsschlüsse abgeleitet werden können.45 Gerade deshalb gibt es Methodenlehren und deshalb kommen diese nicht mit logischen Subsumtionsanleitungen aus. Tatsächlich und notwendigerweise gibt es also Wertungsfragen im Recht, die nicht durch zwingende Schlüsse deduktiv gelöst werden (können). Das heißt jedoch nicht, daß es sich dabei stets um „bewegliche Systeme" handelt.46 Es geht also nicht nur darum, das Phänomen der rechtlichen Wertung und Abwägung aufzudecken und zu analysieren, sondern um die Diskussion einer Möglichkeit, mit diesem Phänomen umzugehen. Es ist also die Frage, ob „bewegliche Systeme" als Modell zur Lösung von Wertungsfragen - im Gegensatz zu Einordnungsfragen — die Rechtssicherheit notwendiger Abwägungen erhöhen oder gefährden. Bedenken grundsätzlicher Art gegen „bewegliche Systeme" hat besonders Pawlowski47 in aller Schärfe angemeldet. Seine Argumente sollen deshalb hier im einzelnen diskutiert werden: a) Pawlowski charakterisiert die „beweglichen Systeme" als offene Systeme, verwendet die Begriffe „beweglich" und „offen" geradezu synonym48. Jedoch darf die Eigenschaft der Elemente („Beweglichkeit"49) nicht mit der Frage, ob 45

Für alle Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 479. Von einem weiteren Begriff des „beweglichen Systems" geht Otte, Komparative Sätze im Recht; Zur Logik eines beweglichen Systems in Jahrbuch für Soziologie und Rechtstheorie Band 2 (1972), S. 301 ff., S. 319 aus: „Das Faktum, daß man von gleichen Entscheidungsgrundlagen ausgehend gleichwohl zu unterschiedlichen Resultaten gelangen kann, ist nur mit dem Modell eines beweglichen Systems erklärbar." Richtig ist an dieser Feststellung, daß es sich hier um Wertungen nach dem, Je-desto-Mustei"1 handelt. Ein System besteht jedoch m. E. aus mindestens zwei Elementen; von einem „beweglichen System" sollten wir deshalb erst sprechen, wenn sich mindestens zwei Elemente nach dem, Je-desto-Mustei" gegenseitig ergänzen. 47 Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 230-233. 48 Vergleiche ebenda, Randzeichen 230. Ähnlich auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Randzeichen 36 ff. 49 Das mag mitunter wegen der unglücklichen Wahl des Begriffes „beweglich", der hier — wie bei den meisten Autoren - aus diesem Grunde stets in Anführungszeichen benutzt wird und durch „komparativ" ersetzt werden soll, naheliegen. Zur Verwendung des Begriffes Beweglichkeit" (vor und nach) Wilburg vergleiche Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 74 Fußnote 1 und S. 75 Fußnote 9 m. w. N. Vergleiche auch Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 46

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ihre Anzahl bzw. Existenz unbestimmt ist („Offenheit" 50) verwechselt werden. Auch „bewegliche" Elemente können in enumerative Kataloge gefaßt werden. Ihre Beweglichkeit" besteht in ihrer Handhabung. Auch die Tatsache, daß es sich nicht um notwendige, sondern um mögliche, gegebenenfalls hinreichende Gesichtspunkte handelt, also die Rechtsfolge auf unterschiedliche Elemente gestützt werden kann, hat nichts mit „offener Wertungf' 51 zu tun. „Offen" ist in einem untechnischen, weiten Sinne52 freilich jede Wertung - nämlich in ihrem Ergebnis. Aber diese Wortbedeutung hat Pawlowski nicht gemeint und eine solche Verwendung des Offenheitsbegriffs entspräche auch nicht der Fachterminologie. Denn Offenheit 53 bedeutet in der rechtswissenschaftichen Fachsprache, daß jederzeit neue (nicht notwendig „bewegliche") Gesichtspunkte hinzutreten können. Canaris hat das auf folgende prägnante Form gebracht: „... ein bewegliches System kann also offen oder geschlossen, ein offenes System beweglich oder unbeweglich sein."54 Damit ist aber nur gezeigt, daß Pawlowskis Charakterisierung der „beweglichen Systeme" als „offen" nicht zwingend ist.55 Pawlowski hat nämlich Recht, daß „bewegliche Systeme" tatsächlich bisweilen als zugleich offene Systeme gefordert wurden.56 Deshalb muß geklärt werden, ob „bewegliche Systeme" auch offen sein sollen und ob gegebenenfalls Pawlowskis Kritik an gleichzeitig „offenen" und „beweglichen" Systemen berechtigt ist. In einer Theorie der komparativen Systeme muß hierzu eine differenzierte Lösung gefunden werden. Pawlowski hat selbst daraufhingewiesen, daß wir unsere Rechtsordnung als offene begreifen müssen, um den notwendigen Wandel 230 und Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Randzeichen 36 ff. 50 Zu dieser Unterscheidung äußert sich besonders klar Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 74 ff. 51 Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 230. 52 In diesem Sinne scheint Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 479, Fußnote 92a (a. E.) den Begriff zu verwenden. 53 A u f die Offenheit werde ich noch im Zusammenhang mit der Topik unter D I I I zu sprechen kommen. 54 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 76. 55 Insofern bedarf es also nicht des Widerspruchs, sondern nur der Klarstellung. 56 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 76 Fußnote 10, hat daraufhingewiesen, daß Wilburg selbst sein „bewegliches System" wohl als offenes verstand: Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, Rektoratsrede Graz 1951, S. 14. Da sich Wilburg selbst nicht explizit zum Begriff der Offenheit bekannte, sondern das Hinzutreten neuer Elemente in seine Idee vom „beweglichen System" integrierte, findet Pawlowski bei ihm Bestätigung. Um so mehr ist im Anschluß an die Unterscheidung von Canaris eine theoretische Methodenanalyse wünschenswert, die Wilburg in diesem Punkt korrigiert. Zum Unglück der begrifflichen Verwirrung vergleiche auch Fußnote 49 auf S. 61 sowie Fußnote 52 auf S. 62.

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des Rechts zu erklären. 57 Diese Erkenntnis sagt aber noch nichts darüber aus, wie die Rechtsordnung mit ihrer Offenheit umgehen muß. Pawlowski mahnt zu Recht die Notwendigkeit an, »genauer zu bestimmen, wo der richtige systematische Ort dieser Offenheit anzusetzen ist — oder anders ausgedrückt: wer (welche Instanz) diese offene Stelle des Systems besetzen kann und soll" 58 . Auch und gerade eine Theorie der komparativen Systeme, die an Wilburgs Begriff der Beweglichkeif' anknüpft, muß diese Worte ernst nehmen. Die Entdeckung der Offenheit der Rechtsordnung darf kein Freibrief dafür sein, Gesetzesbindung und Methode zu überwinden. Im Gegenteil ist die Methodenlehre herausgefordert, zu klären, wo Offenheit nutzbar ist und wo sie nicht tragbar ist. Deshalb ist zwischen den verschiedenen Funktionen „beweglicher Systeme" zu differenzieren. Diese Funktionen sind gleichzeitig unterschiedlichen „systematischen Orten" im Sinne Pawlowskis zugeordnet: Die Erkenntnisfunktion „beweglicher Systeme" eröffnet dem Gesetzgeber lediglich Möglichkeiten. Für den Gesetzgeber ist die Offenheit kein Rechtsproblem. Wenn der Gesetzgeber die „beweglichen" Elemente vorgibt, bestehen gerade keine Bedenken; die Offenheit ist vielmehr an eine unbestritten politische Instanz verwiesen. Insofern gibt Pawlowski also wichtige und weiterführende Hinweise zur Korrektur der Ideen Wilburgs, die in eine Theorie der komparativen Systeme einfließen müssen. Das gilt auch für weitere Bedenken Pawlowskis, die auf seinem (und Wilburgs) Verständnis der „bewegliche Systeme" als offene Orte basieren: b) Pawlowski hält „bewegliche Systeme" für eine Kapitulation vor der .Erkennbarkeit des Rechts"59. Richtig ist, daß ein „bewegliches System" keine deduzierbaren „Erkenntnisse" ermöglicht. Aber dies ist-wie soeben gezeigt-kein spezifischer Mangel „beweglicher Systeme", sondern die Konsequenz aus der unbestrittenen Tatsache, daß Rechtserkenntnis nur begrenzt durch Deduktionsschlüsse möglich ist. Aber deduzierbare Normen sind nicht die zwingende Voraussetzung für „Erkennbarkeit des Rechts". Bewegliche Systeme" wollen gerade die Erkennbarkeit von Wertungs- und Abwägungsmethoden erhöhen, indem sie wenigstens deren Gesichtspunkte vorgeben 60. Damit ist das Problem der Erkennbarkeit des Rechts also nicht mit der Beweglichkeif ' verknüpft. Meines Erachtens kann das Recht auch in Wertungsfragen erkennbar sein bzw. muß es werden. Das Problem (und die Chance) der „Offenheif ' der Rechtsordnung hingegen stellt

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Pawlowski, Methodenlehre fur Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 230. Ebenda. 59 Ebenda m. w. N. 60 Der Vorwurf des Mangels der Erkennbarkeit des Rechts kann nur mit Pawlowskis Identifikation von „beweglich" und „offen" erklärt werden. 58

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sich für „bewegliche Systeme" wie für alle Normen mit der Frage, wer zu ihrer Formulierung bzw. Erweiterung berufen ist.61 c) Pawlowski erklärt 62 „bewegliche Systeme" für ein Einfallstor der Willkür. Es fragt sich, ob dieser schärfste Vorwurf die „beweglichen Systeme" auch dann treffen würde, wenn diese nicht als offene Orte begriffen werden. Pawlowski bezeichnet die unbegründete Entscheidung als Willkür. Dem ist zuzustimmen. Sind Entscheidungen aufgrund „beweglicher Systeme" willkürliche Entscheidungen, weil sie nicht begründet oder besser: nicht begründbar sind? Die Frage stellen heißt sie verneinen. Die Elemente „beweglicher Systeme" liefern gerade die Gesichtspunkte, um Wertungen und Abwägungen rechtlich überzeugend begründen zu können; sie zwingen den Anwender, sich die Gründe seiner Abwägung bewußt zu machen und fördern in besonderer Weise die Begründbarkeit und Nachvollziehbarkeit solcher Entscheidungen. Ob freilich die Praxis ihre Entscheidungen tatsächlich in der geforderten Art und Weise begründet, hängt davon ab, ob sie sich an die gesetzgeberischen Vorgaben (seien sie nun „beweglich" oder „unbeweglich") und die von der Methodenlehre entwickelten Anforderungen hält. Wenn Pawlowski vorsichtiger formuliert, „bewegliche Systeme" böten „ auch die Möglichkeit zur Rechtfertigung von Willkür" 63 , so scheint ihm Otte recht zu geben, indem er zu bedenken gibt, die Unbestimmtheit, die (auch) „beweglichen Systemen" innewohne, schließe deren „willkürliche Handhabung freilich nie ganz aus"64. Dennoch muß Pawlowski auch insoweit widersprochen werden: Nicht das Modell der „beweglichen Systeme" als Lösungsvorschlag für Wertungsfragen, sondern schon das Problem der Wertung bzw. Unbestimmtheit birgt die Gefahr des Mißbrauchs. Solche Wertungen lassen sich nicht immer umgehen bzw. durch den Gesetzgeber vorwegnehmen. Auch die Unbestimmtheit ist nicht allein Merkmal „beweglicher Systeme" 65 . Wirfinden sie ebenso in den unbestimmten Rechtsbegriffen „unbeweglicher" Tatbestände. Das Willkür-Argument, besser: die Forderung nach der Begründbarkeit von Entscheidungen kann die Idee nur bekräftigen, dort wo Abwägungen ohnehin stattfinden, wenigstens „bewegliche" Elemente als die relevanten Gesichtspunkte zu definieren. Zu Recht bezeichnet Otte „bewegliche Systeme" auch als geeignete Alternative zur „willkürlichen Rigidität quantitativer Normen nach der Art der alt61

Hierzu aus methodenrechtlicher Sicht noch unter H auf S. 295 ff., insbesondere S. 305. 62 Vergleiche Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 230. 63 Ebenda Randzeichen 233 m. w. N., Hervorhebung nicht im Original. 64 Otte, Komparative Sätze im Recht; Zur Logik eines beweglichen Systems in Jahrbuch für Soziologie und Rechtstheorie Band 2 (1972), S. 301 ff., S. 317. 65 Otte, ebenda, spricht von komparativen Normen.

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fränkischen Sühnegeldkataloge"66. Es ist deshalb zufragen, ob denn die subsumtionsfahigen Normen die Probleme abschließend regeln und ob sie es differenziert genug tun und vertretbar übersichtlich. Gerade in der „Unbeweglichkeif' eines Regelungssystems kann Willkür liegen, wenn nämlich wesentlich Ungleiches nicht differenziert - sei es „beweglich" oder „unbeweglich" - behandelt, sondern „über einen Kamm geschoren" wird. Rechtssicherheit um jeden Preis ist nicht im Dienste der Gerechtigkeit. Und auch die Rechtssicherheit einer Rechtsordnung bemißt sich nicht allein nach dem Bestand seiner positiven Normen: Eine Rechtsordnung, die sich vor den schwierigen Problemen rechtlicher Einzelfallwertungen normativ verweigert, weil sie notwendige Unsicherheiten bei der Methode scheut, schafft allerdings nicht nur rechtsunsichere, sondern rechtsfreie Räume. Sogar ist fraglich, ob die (Schein-)Bindung an starre Tatbestandsvoraussetzungen, die von der Praxis durch methodische Kunstgriffe aufgeweicht wird, die von Beweiserleichterungen über Vermutungen bis zu Fiktionen reichen, wirklich mehr Rechtssicherheit vermittelt.67 Deshalb wendet sich Wilburg mit seiner Alternative gegen Scheinbegründungen68. Ihm ist beizupflichten, daß die »Auslegung4 starrer Tatbestände den Richter bisweilen an die Grenze zur Loslösung von einzelnen Tatbestandsmerkmalen fuhrt, an eine Grenze also, die mit den „beweglichen Systemen" bewußt überschritten wird: Selbst wenn alle — im Subsumtionsmodell eigentlich hinreichenden („wenn" )-TatbestandsVoraussetzungen nachgewiesen sind, machen Gerichte bisweilen die (im Subsumtionsschluß „dann" an sich zwingende) Rechtsfolge von einer „Gesamtwürdigung der Umstände" abhängig. Auch im umgekehrten Fall, daß notwendige Voraussetzungen nicht (nachweisbar) vorliegen, gebietet eine entsprechende Wertung ausnahmsweise die Rechtsfolge. Derartig freier Umgang mit dem „unbewegliche^ !)" Gesetz fuhrt im ersten Fall durch die Formulierung zusätzlicher Bedingungen zur Restriktion und Reduktion, im zweiten Fall durch den Verzicht auf den Nachweis einer Voraussetzung zur Extension und Analogie der gesetzgeberischen Rechtsfolgenanordnung. Nun mag man auch dies mit dem Argument der Rechtssicherheit und Gesetzesbindung als methodisch unsauber kritisieren. 69 Tatsache ist jedoch, daß ein Bedürfnis besteht, rechtliche Wertungen nicht nur dort zu treffen, wo das Gesetz eine Abwägung oder Ermessensausübung ausdrücklich vorsieht, d. h. selbst vorschreibt. Wertungen greifen vielmehr immer wieder auch in „unbewegliche" 66

Ebenda. Hierzu ausführlich unter F I I I 1 a („Die komparative Bestimmung von Beweislast und Beweismaß") S. 188 ff. 68 Wilburg, Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346 ff., S. 379. 69 Vergleiche hierzu die Unterscheidung bei F III 1. 67

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

Tatbestandsvoraussetzungen - in deren Auslegung und prozessuale Anwendung ein. Das Bild vom wertenden Richter, der sich nie allein auf inhaltsblinde formallogische Subsumtion verläßt, kann heute als unangefochten gelten.70 Einzelfallgerechtigkeit darf freilich nicht zu Lasten der Rechtssicherheit verabsolutiert werden. Vielmehr stehen diese beiden Prinzipien der Gerechtigkeit in einem Spannungsverhältnis, das durch abwägende Optimierung beider Gesichtspunkte zu lösen ist. Soweit eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls einer solchen Abwägung mit der Rechtssicherheit entspringt und standhält, ist sie nicht als Willkür zu verurteilen. Bewegliche Systeme", in denen die relevanten Wertungsgesichtspunkte verbindlich vorgegeben sind, lassen sich erst recht gegen den Vorwurf der Willkür(-anfälligkeit) verteidigen. Bisweilen wird die Berücksichtigung „allei" Einzelfallumstände nicht als Beispiel71, sondern als Gegensatz zu „beweglichen Systemen" gesehen.72 Bewegliche Elemente" seien nämlich gerade nicht alle, sondern lediglich solche relevanten Kriterien, die über den Einzelfall hinaus immer wiederkehren.73 Meines Erachtens sollte man noch einen Schritt weiter gehen: Es ist nicht nur zwischen der (vermeintlichen) Berücksichtigung aller Einzelfallumstände und den „beweglichen Systemen" zu unterscheiden. Vielmehr sollten soweit wie möglich „bewegliche Systeme" an die Stelle einer Einzelfallrechtsprechung treten, die nicht einmal die relevanten Kriterien abstrakt festlegt. Die Berücksichtigung aller Einzelfallumstände" darf ohnehin nicht wörtlich genommen werden: Zum einen darf es sich dabei stets nur um rechtserhebliche und nie um sachferne oder sachwidrige Erwägungen handeln. Die Berücksichtigung „aller" Umstände erlaubt also ohnehin nur solche „Sonderbehandlungen", die einem rechtlichen Differenzierungsgrund74 (aus Art. 3 Abs. 1 GG) entsprechen. Solche Umstände sollten aus Gründen der Rechtssicherheit aber stets soweit wie möglich abstrakt formuliert werden.75 Die Häufigkeit der Umstände sollte dabei keine allein entscheidende, einschränkende Rolle spielen. Rechtliche Relevanz läßt sich nicht an der tatsächlichen Häufigkeit messen. Andernfalls müßte die „Offenheit" der Kriterien unnötig überstrapaziert werden. Rechtserhebliche Umstände müssen nach graduell und klassifikatorisch erfüllbaren Kriterien unterschieden werden. Erstere sind typisch für die Fälle, in denen die Rechtsprechung die Abwägung der Einzelfallumstände zuläßt oder fordert. Bewegliche" Elemente werden sich hier aber stets herausbilden lassen. So wie die Verwaltung 70

Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 214 ff. Vergleiche Westerhoff, Methodische Wertung im Recht, 1974, S. 233 im Hinblick auf den Gleichheitssatz, was noch problematischer erscheint. Vergleiche hierzu unten G. 72 Vergleiche Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Auflage 1994, § 80 II 5b (S. 509) und I I I l b (S. 518). 73 Ebenda. 74 Hierzu ausführlich unter G II 3. 75 Auch das Verfassungsrecht fordert dies. Hierzu unter G V 1. 71

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auch innerhalb eingeräumter Ermessensspielräume an bewährte Gesichtspunkte gebunden wird (Selbstbindung der Verwaltung76), so darf auch die zivilrechtliche Dogmatik nicht bei der Schaffung von Spielräumen der Einzelfallgerechtigkeit stehen bleiben. Es ist also nicht nur zwischen der Berücksichtigung „aller" Einzelfallumstände und den „beweglichen Systemen" zu unterscheiden. Vielmehr gebührt der Herausbildung „beweglicher Systeme" der Vorrang. d) Schließlich wirft Pawlowski den „beweglichen Systemen" einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz vor 77 . Ein Defizit konsequenter Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes sieht er folgerichtig schon darin, daß er die Erkennbarkeit des Rechts im Falle „beweglicher Systeme" bestreitet.78 Wenn die Erkenntnis des Rechts mitunter darin besteht, zu erkennen, was kraft Normsetzung gleichzubehandeln und was zu differenzieren ist und wenn „bewegliche Systeme" für diese Frage keine Kriterien bereitstellen, dann wäre dem Gleichheitssatz tatsächlich nicht Genüge getan. Dieser Vorwurf entfällt jedoch, wenn man „bewegliche Systeme" für geeignet hält, Abwägungen zu normieren, d. h. Wertungsvorgänge zu steuern. Denn mit der Vorgabe der rechtlich relevanten Gesichtspunkte ist das Recht nicht nur erkennbar, gleichzeitig sind dann auch die Wertungskriterien für den Gleichheitssatz festgelegt. Pawlowski führt aber noch einen zweiten Grund für seine Bedenken an: Er unterscheidet zwischen dem Fortschritt der Rechtserkenntnis, der auch in richterlicher Rechtsfortbildung Niederschlagfinden kann, einerseits und dem Fortschritt in außerrechtlichen Erkenntnissen79 andererseits. Letzterer kann nach Pawlowski allenfalls Motiv für den Gesetzgeber werden, ein Gesetz zu ändern. Es sei nämlich allein Sache des Gesetzgebers, mit seinen besseren Erkenntnisverfahren 80 —und mit der entsprechenden demokratischen und politischen Legitimation - das Recht an die geänderten Lebensverhältnisse anzupassen. Zustimmung verdient auch Pawlowskis Bezug dieser Differenzierung auf den Gleichheitssatz. Der Gesetzgeber reagiert nämlich tatsächlich mit seiner Normänderung gegebenenfalls auf entstandene Ungereimtheiten, um aus dem Gleichheitssatz „die Konsequenz zu ziehen"81. Aber diesen Anforderungen genügen „bewegliche Systeme" ohne weiteres in der hier diskutierten Funktion und Form. Die Kritik aus dem Argument des Gleichheitssatzes bezieht Pawlowski wiederum aus der Annahme, „bewegliche Systeme" seien „offene Orte". Damit wird nur bestätigt, wie dringlich die Klarstellung ist, daß es möglich und notwendig ist, „bewegliche Systeme"

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Hierzu noch ausführlich unter F I I I 2 b. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 230. Siehe oben unter b). Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 231. Ebenda, Randzeichen 232. Ebenda, Randzeichen 231.

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(auch) als nicht offene Orte zu bilden. Dies gilt jedenfalls in den Funktionen, in denen gegen Offenheit Bedenken bestehen. Auch Canaris hat sich im Zusammenhang mit „beweglichen Systemen" zum Gleichheitssatz geäußert. Er meint, aus dem Gleichheitssatz ergebe sich „die generalisierende Tendenz des Gerechtigkeitsgebots"82. Dieser Tendenz entsprächen am ehesten starre Tatbestände, die es gebieten, möglichst viele Fälle unabhängig von ihren Einzelumständen gleich zu behandeln. Canaris sieht „bewegliche Systeme" in einem Konflikt 83 zu dieser Tendenz und damit zum Gleichheitssatz: Bewegliche Systeme" seien nämlich auf Differenzierung und maximale Berücksichtigung der Einzelfallumstände ausgerichtet. Damit entsprächen sie einer anderen, polar entgegengesetzten84, nämlich der individualisierenden Tendenz zur Gerechtigkeit85. Diese beiden Prinzipien müßten gegeneinander abgewogen werden. Zustimmung verdient sowohl diese Abwägung, als auch das Urteil, das Canaris durch sie über „bewegliche Systeme" gewinnt. Diese stellen zwar die individualisierende Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls in den Vordergrund, werden aber durch die generalisierende Festlegung von Inhalt und Anzahl der „beweglichen" Elemente auch dem Gegenprinzip gerecht. Zwar sind auch kasuistische Differenzierungen starrer Tatbestände gegebenenfalls Annäherungen an das Individualisierungsprinzip der Gerechtigkeit86. Nicht weniger stellen aber „bewegliche Systeme" einen „besonders glücklichen Kompromiß"87 zwischen Individualisierung und Generalisierung, zwischen dem Ungleichbehandlungsgebot und dem Gleichbehandlungsgebot dar.

Dem ist allerdings hinzuzufügen, daß es sich bei diesem Ausgleich eines Spannungsverhältnisses um einen typisch verfassungsrechtlichen Vorgang handelt. Aus Sicht des Verfassungsrechts ist deshalb zu überprüfen, ob sich tatsächlich eine „Generalisierungstendenz der Gerechtigkeit" aus dem Gleichheitssatz ableiten läßt. Weiter ist zu fragen, ob auch das Gegenprinzip, die Individualisierungstendenz verfassungsrechtlich nachweisbar ist, ob es m. a. W. ein verfassungsrechtliches Differenzierungsgebot gibt. Muß die Tendenz zur Einzelfallgerechtigkeit tatsächlich gegenüber dem Gleichheitssatz und nicht vielmehr mit Hilfe des Gleichheitssatzes (als Differenzierungsgebot) gerechtfertigt werden? Ist nicht das Spannungsverhältnis zwischen Generalisierung und Individualisierung ein dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz immanentes Spannungsverhä nisl 82

Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 83. Vergleiche auch hierzu Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 67. 84 Henkel, Recht und Individualität, 1958, S. 16 ff. 85 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 83 f. 86 Ebenda, S. 83. 87 Ebenda, S. 84. 83

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Damit wäre der von Canaris herausgearbeitete Kompromiß nicht eine Abwägung gegenüber, sondern innerhalb des Gleichheitssatzes. Dann wären „bewegliche Systeme" also nicht trotz, sondern wegen des Gleichheitssatzes legitim.88 Dies muß im einzelnen, d. h. für die verschiedenen Funktionen „beweglicher Systeme" sowie für die jeweilige Regelungsmaterie verfassungsrechtlich überprüft werden. Dabei muß sowohl die Frage geklärt werden, welche Legitimationskraft gegebenenfalls einem verfassungsrechtlichen Dijferenzierungsgebot die Bildung „beweglicher Systeme" zukommt, als auch die Möglichkeit, das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot als Begrenzung, Schranke und Ko trollmaßstab für die Bildung und Anwendung „beweglicher" Elemente heranzuziehen. Mit diesen Fragestellungen wird bereits die zentrale methodische, besser: methodenrechtliche Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG sichtbar.89 Als vorläufige Stellungnahme soll an dieser Stelle nur folgendes festgehalten werden: Weder die Rechtssicherheit noch der Gleichheitssatz ist geeignet, „bewegliche Systeme" bei der Normierung von Wertungsfragen als Alternative zu starren Tatbeständen grundsätzlich auszuschließen. Vielmehr ist zu untersuchen, inwieweit „bewegliche Systeme" sowohl der Rechtssicherheit als auch dem Gleichheitssatz sogar in besonders hohem Grade gerecht werden können und wo diese beiden Prinzipien methodenrechtliche Einschränkungen (auch) für „bewegliche Systeme" gebieten.

4. Bewegliche Systeme" als Auslegungsalternative de lege lata? Während Wilburg die „beweglichen Systeme" zunächst als Alternative für die Gesetzgebung-also de lege ferenda—entworfen hat,90 sind seither immer wieder Versuche unternommen worden, seine Idee bei der Auslegung - also de lege lata — fruchtbar zu machen.91 Diese Ansätze sollen in dieser Bestandsaufnahme zu „beweglichen Systemen" behandelt werden, auch wenn sie über Wilburgs Idee hinausgehen und nur ζ. T. ausdrücklich auf seine Theorie zurückgehen. In die88

Ebenso Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 67 f., der die „beweglichen Systeme" als eine Verwirklichung „materialer Gleichheit" versteht. In diesem Sinne hat sich auch Hill, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL Heft 47 (1989), S. 172 ff., S. 184 (zögernd) geäußert: „Die komparative Konkretisierung erlaubt auch eher die adäquate Durchführung des Gleichheitssatzes." Obwohl die Staatsrechtslehrertagung 1988 in Tübingen als erstes Thema den Gleichheitssatz behandelt hat (während Hill die „beweglichen Systeme" im Rahmen des zweiten Themas vorschlug) ist diese Parallele nicht weiter verfassungsrechtlich verfolgt worden. 89 Zu diesen Fragen siehe eingehend unter G. 90 Göpfert, Bewegliche Systeme" zur Bewältigung von Ähnlichkeiten am Beispiel der Bürgschaftsfälle" des BGH, JuS 1993, S. 655 ff., S. 657. 91 Nachweise ebenda.

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

ser Bestandsaufnahme sollen bereits solche Ansätze erörtert werden, die später Eingang in die allgemeine Theorie der komparativen Systeme finden. Diese mögliche dritte Funktion, nämlich bei der Auslegung, muß von den beiden soeben erörterten Funktionen „beweglicher Systeme" unterschieden werden. Unter 2 ging es um die rein theoretische Erkenntnis rechtlicher Zusammenhänge (Rechtserkenntnis i. w. S.), die nicht die Auslegung von Normen betreffen muß. Betrifft sie die Auslegung, ist sie als wissenschaftliche Erkenntnis theoretisch möglicher Auslegungen noch nicht an methodenrechtliche Schranken gebunden. Die praktische Frage, welche Auslegungsmethoden richterlich zulässig sind, ist hingegen an das Recht, d. h. an methodenrechtliche Grenzen gebunden. Nun ist die Erkenntnis des theoretisch Möglichen aber wesentlicher Faktor der Auslegung und deshalb geht die„Rechtserkenntnis" in der Regel in der Auslegung (als Rechtserkenntnis i. e. S.) einerseits und der Gesetzgebung (als Rechtserkenntnis i. w. S.) andererseits auf. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe der rechtlichen Methodenlehre und des Verfassungs- und Verfahrensrechts, die Schwelle deutlich zu machen, an der jedwede mögliche Erkenntnis erst zur rechtlichen Größe (fur Rechtsprechung und Verwaltung bzw. fur die Gesetzgebung) erwächst. Es wird also im folgenden um die Frage gehen, ob und gegebenenfalls inwieweit die Idee „beweglicher Systeme" auch als Auslegungsmethode für die Rechtsprechung und Verwaltung mit der Gesetzesbindung vereinbar ist. Die Unterscheidung von der unter D I 3 erörterten Funktion ist nur auf den ersten Blick eindeutig. Dort ging es um die Schaffung „beweglicher Systeme" durch den Gesetzgeber - hier wird es um ihre Bedeutung für Rechtsprechung und Verwaltung gehen. Diese beiden Fragestellungen verschwimmen jedoch bei der keineswegs selbstverständlichen Unterscheidung, wo der Gesetzgeber selbst tatsächlich ein „bewegliches System" normiert hat und wo eine „unbewegliche" Norm erst durch die Bildung „beweglicher" Elemente ausgelegt wird. Es wird nämlich oft zur Rechtfertigung der möglichen Auslegungs-Funktion „beweglicher Systeme" behauptet, die auszulegende Norm sei ein „bewegliches System". Es muß deshalb geklärt werden, wann die geschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm per se „bewegliche" Elemente darstellen (D 14 a) und wo hingegen „bewegliche" Elemente ein unbestimmtes Tatbestandsmerkmal konkretisieren sollen (D 14 b). Dabei müssen die Fälle herausgearbeitet werden, in denen versucht wird, mehrere geschriebene „unbewegliche" Voraussetzungen einer Norm zu „beweglichen" Elementen umzudeuten (D 14 c).

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a) Tatbestandsmerkmale als „bewegliche Elemente"

Als bereits de lege lata existierendes, vom Gesetzgeber geschaffenes Beispiel für „bewegliche Systeme" wird immer wieder § 254 BGB genannt.92 Zu Recht: In § 254 Abs. 1 BGB hat der Gesetzgeber zwei „bewegliche" Elemente normiert, nämlich den Verursachungsgrad 93 des Schuldners einerseits und des Beschädigten andererseits. Vom Zusammenspiel der Erfüllung dieser beiden Gesichtspunkte hängt die Rechtsfolge ab („... hängt... davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teile verursacht worden ist." 94 ). Die bewegliche Verknüpfung der Elemente mit der Rechtsfolge ist in diesem Fall sogar ebenfalls eine graduelle, da nicht nur „die Verpflichtung zum Ersätze" sondern auch „der Umfang des zu leistenden Ersatzes" vom graduellen Zusammenspiel der Verursachungsgrade (und Verschuldensgrade95) abhängt. Es liegen also hier die beiden typischen Strukturen der „beweglichen" Verknüpfung vor: „Je mehr ..., desto eher..." sowie „Je mehr..., desto mehr...". Bemerkenswert ist auch, daß dieses Zusammenspiel der Elemente im Gesetz die Konkretisierung („insbesondere") einer ausfüllungsbedürftigen Formulierung („von den Umständen") darstellt. Daß es sich dabei gerade um die Voraussetzung der Umstände handelt, zeigt, wie sehr „bewegliche Systeme" auf die differenzierende Einzelfällbetrachtung ausgerichtet sind. b) Konkretisierung von Tatbestandsmerkmalen durch „bewegliche Systeme"

Der Unterschied zwischen der „Beweglichkeit"' in geschriebenen (D I 4 a) und ungeschriebenen (D 14 b) Normen läßt sich ebenfalls am Beispiel des Mitverschuldens anschaulich zeigen: Was wäre, wenn der Gesetzgeber auf die Benennung der beiden „beweglichen" Elemente verzichtet hätte. Dann würde § 254 Abs. 1 BGB so lauten:,flat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt, so hängt die Verpflichtung zum Ersätze des Schadens sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen ab." In diesem Falle hätten wir es bereits nicht mehr mit einem gesetzlich fixierten „beweglichen System" (D I 4 a) zu tun, sondern mit einer Norm, die durch die beiden „unbeweglichen" Merkmale „Verschulden des Beschädigten" und „von den Umständen" geprägt wird. Der Unterschied ist offensichtlich. Zwar ist das Verschulden ein gradueller Begriff, zwar ist die Verweisung auf die Umstände des Einzelfalls unbestimmt und auslegungsbedürftig. Aber die Norm würde dann 92

Vergleiche hierzu bereits Fußnote 37 auf S. 59. Der Verschuldensgrad hat erst in zweiter Linie Bedeutung, kann aber zu den sonstigen, nicht „insbesondere" genannten Umständen zählen; vergleiche Grunsky in Münchener Kommentar, 3. Auflage 1994, zu § 254 BGB Randzeichen 60 f. m. w. N. 94 Hervorhebung nicht im Original des Gesetzestextes. 95 Vergleiche Fußnote 93. 93

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

selbst nichts darüber aussagen, ob der Verschuldensgrad des Beschädigten eine „bewegliche" Bedeutung hat. Vielmehr wäre dann lediglich gesagt, daß ein (zu bestimmender) Mindestgrad des Mitverschuldens rechtlich relevant ist. Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Rechtsprechung durch Auslegung zu derselben „beweglichen" Berücksichtigung des Mitverschuldens gelangt wäre, 96 die der Gesetzgeber in diesem Fall durch Normierung so überzeugend festgelegt hat. Selbst wenn eine Regelung des Mitverschuldens gänzlich fehlte, könnte § 242 BGB („venire contra factum proprium") diese Lücke auffangen. Auch nach geltendem Recht wird die Regelung des § 254 BGB vielfach auf § 242 BGB zurückgeführt. 97 Einen „unbeweglichen", totalen Ausschluß der Haftung in Fällen des Mitverschuldens sah noch die gemeinrechtliche Culpakompension vor. 98 Entsprechend unflexible Regelungen enthält das (noch99) geltende Recht in den §§ 122 Abs. 2; 179 Abs. 3 Satz 2; 307 Abs. 1 Satz 2 und 839 Abs. 3 BGB als Ausnahmen zum differenzierteren § 254 BGB. Die Rechtsprechung tendiert dazu, diese Ausnahmen restriktiv, § 254 BGB hingegen extensiv zu handhaben.100 Die Qualität der Gesetzgebung, die in § 254 Abs. 1 BGB die „beweglichen" Elemente selbst entwickelt hat, spricht für sich. Wäre nun aber eine derartige Entwicklung eines „beweglichen Systems" durch die Rechtsprechung in dem hypothetischen Beispiel methodenrechtlich zu beanstanden, wenn es § 254 BGB nicht gäbe? Nein: Ein solches Vorgehen ließe sich mit dem Hinweis darauf rechtfertigen, der Gesetzgeber habe die Berücksichtigung der Einzelfallumstände erlaubt, ja geboten. Hätte der Gesetzgeber die 96 Das Maß der Freiheit, das sich die Rechtsprechung in diesen Fragen der Schadensrisikoverteilung nimmt, zeigt sich besonders deutlich im Arbeitsrecht. Entsprechend groß ist hier die Bedeutung richterrechtlicher Konkretisierungen. Dazu gehören die Grundsatzentscheidungen des BAG sowie die des Gemeinsamen Senats der obersten Bundesgerichte, die als Instrumente zur Beschränkung der Freiheiten der unteren Instanzen große Bedeutung erlangt haben. Vergleiche zur zunehmenden Bedeutung des § 254 BGB in der Frage der Verteilung des Schadensrisikos zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber Hanau, Rolfs, Abschied von der gefahrgeneigten Arbeit, NJW 1994, 1439, 1440 f. 97 Für alle Medicus in Staudinger zu § 252 BGB, Randzeichen 2-4 m. w. N. 98 Vergleiche Rother, Haftungsbeschränkung im Schadensrecht, 1965, S. 30 ff. Die bewußte Abkehr hiervon belegen die Materialien (Motive II 23 f., bei Mugdan II 13). 99 Die Schuldrechtskommission schlägt bereits die Aufhebung von § 307 BGB vor und bestätigt durch die Normierung der culpa in contrahendo (für die ja § 254 BGB gilt) die Tendenz zur „beweglichen" Berücksichtigung des Mitverschuldens in § 254 BGB; vergleiche die Änderungsvorschläge, abgedruckt in Münchener Kommentar, 3. Auflage 1994, Einleitung zu Band 2, vor § 241 BGB Randzeichen 103; vergleiche hierzu auch Medicus, Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts: Das allgemeine Recht der Leistungsstörungen, NJW 1992,2384,2386 f. 100 Medicus in Staudinger zu § 252 BGB, Randzeichen 18.

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Umstände, die der Richter zu berücksichtigen hat, nicht schon zum Teil(!) bestimmt, müßte die Rechtsprechung die rechtlich relevanten Gesichtspunkte selbst konkretisieren. Dies könnten nun sowohl „bewegliche" als auch „unbewegliche" Kriterien sein. Die Gesetzesbindung ließe der Rechtsprechung mangels Festlegung jedenfalls die Freiheit, auch bewegliche Gesichtspunkte zu entwickeln, wofür im Beispiel ohnehin die Sachgerechtigkeit spricht. Alternative wäre etwa die Bildung von Fallgruppen. In anderen Fällen mag dies rechtssicherer und sachgerechter sein, im vorliegenden Beispiel des Mitverschuldens würde es jedoch an „den Umständen" vorbeigeheen. Wenn also - hier wäre es durch Gesetz - die Berücksichtigung der Einzelfallumstände geboten ist, liegt darin eine Ermächtigung der Rechtsprechung (und Verwaltung) zur Bildung beweglicher Systeme". Bereits an dem zivilrechtlichen Beispiel des Mitverschuldens mag sich andeuten, welche zentrale Rolle die hier angeprochene Auslegungs- oder besser: Konkretisierungsfunktion „beweglicher Systeme" im öffentlichen Recht bei der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe bzw. bei der Bestimmung rechtlich zulässiger Ermessensgesichtspunkte zukommt.101 Dabei sei daraufhingewiesen, daß es sich in den typischen Fällen, in denen der Gesetzgeber die Gesichtspunkte zur Ausübung des Ermessens der Verwaltung überläßt, nicht um gesetzlich bereits normierte „bewegliche Systeme", sondern um komparative Konkretisierungen durch die Verwaltung handelt. Das hypothetische Beispiel hat gezeigt, wie die Befugnis zur Entwicklung „beweglicher Systeme" zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung verteilt werden kann. Damit ist auch der Unterschied zwischen der „Beweglichkeit" ungeschriebener und geschriebener Normen deutlich geworden. Die geltende Regelung des Mitverschuldens in § 254 BGB kennt beide Formen: Ungeschriebene „bewegliche" Elemente stellen die Verschuldensgrade dar, die die geschriebenen Verursachungsgrade ergänzen.102 An dieser Stelle ist noch einmal auf die Frage zurückzukommen, die schon unter 3 aufgeworfen wurde: Welchen Grad der Bestimmtheit und Rechtssicherheit haben „bewegliche Systeme" im Vergleich zu „unbeweglichen" Normen? Vergleicht man das „bewegliche System" des § 254 Abs. 1 BGB mit der Fassung des hypothetischen Beispiels, so ist offensichtlich, daß dem Original die größere Bestimmtheit und Rechtssicherheit zukommt. Das liegt daran, daß in dem Beispiel die Festlegungen des Gesetzgebers um die „beweglichen" Elemente reduziert wurde, die den denkbar unbestimmten Begriff der „Umstände" konkretisieren.

101

Daraufhat schon Korinek, Das Bewegliche System im Verwaltungsrecht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 243 if. für das österreichische Recht hingewiesen. Ausführlich hierzu s. u. c, S. 160 ff. 102 Vergleiche Fußnote 93 auf S. 71.

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

Der Vergleich mag „unfair" erscheinen, da in dem erfundenen Beispiel Tatbestandsmerkmale ersatzlos gestrichen wurden. Wer sich deshalb nicht überzeugen lassen will, sei erstens daran erinnert, daß sich derselbe Gesetzgeber in unzähligen anderen Fällen auf unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln beschränkt hat, ohne diese mit „Insbesondere"-Regelungen103 zu „beweglichen Systemen" näher zu konkretisieren. Wer dennoch die Unbestimmtheit und Rechtsunsicherheit „beweglicher Systeme" anmahnt, möge zweitens versuchen, die „beweglichen" Elemente der Verursachungsgrade durch unbewegliche Tatbestandsmerkmale zu ersetzen. Ein Alternatiworschlag, der das Mitverschulden in konkreteren, „unbeweglichen" Voraussetzungen sachgerecht regelt, 104 ist m. E. nicht ersichtlich. Schließlich sei nochmals darauf hingewiesen, daß die Rechtsprechung im Falle des Mitverschuldens über das gesetzliche „bewegliche System" der Verursachungsgrade hinaus die „beweglichen" Elemente der Verschuldensgrade entwickelt. Der Vergleich „beweglicher Systeme" mit „unbeweglichen" Normen hängt wesentlich vom Grad der Bestimmtheit der „unbeweglichen" Norm ab: Je unbestimmter eine „unbewegliche Voraussetzung^ ist, desto konkreter wird ein „bewegliches System" ihr gegenüber erscheinen. Insofern kommt den „beweglichen Systemen" eine „Zwischenstellung zwischen festem Tatbestand und Generalklausel" 105 zu.

c) Umdeutung starrer Tatbestandsmerkmale in „bewegliche" Elemente?

Hiervon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen der Gesetzgeber konkrete, feste Tatbestandsmerkmale geschaffen hat, bei denen es also nicht (wie bei b) der Konkretisierung eines unbestimmten Merkmals bedarf. Hier bleibt für einen Ausgleich der Über- bzw. Untererfüllung verschiedener Merkmale nach der Struktur „beweglicher Systeme" grundsätzlich kein Raum. Die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen herkömmlicher „unbeweglicher" Normen sind notwendige, gegebenenfalls alternative Bedingungen für die Rechtsfolge. Sie dürfen also nicht zu bloßen Gesichtspunkten degradiert werden. Eine Einzelfallwertung und Abwägung verschiedener „beweglicher"1 Elemente ist hier nicht dem Normanwender überlassen. Vielmehr hat der Gesetzgeber durch eine klare „Wenn-dann-Struktur" 103

Schon Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 161 hat gefordert, daß der Gesetzgeber „ein Optimum (kein Maximum) an Normierung der maßgebenden einzelnen Gesichtspunkte^) öff. Interessen" (Hervorhebung nicht im Original) erreicht und meint, daß ihm das mit „Insbesondere-Tatbeständen" auch „meist vorbildlich" gelungen sei. Vergleiche hierzu noch Fußnote 116 auf S. 78. 104 Nach Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 79, ist in diesem Fall jede „feste Tatbestandsbildung... nicht möglich". 105 Canaris, ebenda, S. 82.

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eine vom Einzelfall unabhängige Verknüpfung zwischen Tatbestand und Rechtsfolge festgelegt. Die Gesetzesbindung verbietet die Aufweichung der gesetzlichen Fixierungen. Keine Theorie darf gesetzliche „Wenn-dann-Strukturen" in, Je-desto-Strukturen" unter dem Deckmantel der Auslegung umdeuten. Medicus hat das mit den Worten einprägsam zugespitzt: „Der Richter hat Rechtsnormen anzuwenden und keine Theoreme."106 Dieser Punkt kann nicht deutlich genug betont werden. Leider ist diese Grenze nicht immer erkannt worden, was in der Begeisterung fur den Erkenntniswert „beweglicher Systeme" verständlich sein mag, aber deren methodenrechtliche Schranken verkennt. Umgekehrt lehnt mancher Kritiker jegliche Bedeutung „beweglicher Systeme" fur die Auslegung und Methodenlehre vorschnell mit dem Hinweis auf den Umdeutungsfall (c) ab, ohne weiter auf ihre mögliche Konkretisierungsfunktion (b) einzugehen. Auch dies ist verständlich als Gegenreaktion auf einzelne methodenrechtswidrige Vorstöße, die der Entwicklung einer Theorie der „beweglichen Systeme" mehr hinderlich als forderlich sind. Um so mehr ist eine solche Theorie gefordert, die zwar die Bedeutung „beweglicher Systeme" herausarbeitet, sich aber nicht von deren Erkenntniswert blenden läßt, sondern gleichzeitig die Vereinbarkeit der Methode mit dem Gesetz anmahnt. Hier bedarf die Methodenlehre der Ergänzung durch das Methodenrecht. Diese Ergänzung kann teils die Legitimation, teils eine Einschränkung einzelner Methoden bedeuten. So fruchtbar „bewegliche Systeme" zur Erkenntnis und Darstellung einer ratio legis, des legislatorischen Leitgedankens107 sind (Erkenntnisfunktion, D I 2), so sehr muß davor gewarnt werden, die ratio legis durch eine ratio iudicis zu ersetzen. Niemand darf die legislatorischen Leitgedanken mit eigenen Theoremen verwechseln. Zwar läßt sich mit der Idee „beweglicher Systeme" der systematische Zusammenhang108 „unbeweglicher" Normen ermitteln. Das darf aber nicht dazu verleiten, die Normen , denen ein „bewegliches" Prinzip systematisch zugrunde liegt, durch das gewonnene Prinzip zu ersetzen. Das vermeintliche Telos einer Norm darf nie zu ihrer Auflösung fuhren.

106

Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 6. Auflage, 1992, Randzeichen 711 zum „Sandhaufentheorem". Hierzu im einzelnen sogleich. 107 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 478. 108 Wilburg, Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346 ff., S. 379.

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

II. Das sog. „Sandhaufentheorem" als Beispiel aus der Rechtsprechung methodenrechtliche Schranken für „bewegliche Systeme" Der Vorwurf, das Gesetz durch ein Theorem zu ersetzen, ist gegen Benders sog. „Sandhaufentheorem" 109 zu § 138 BGB erhoben worden, das sich weder in der Rechtsprechung110 noch in der Literatur 111 durchsetzen konnte. Das Beispiel ist hier zu erörtern, da sich an ihm die Chancen ebenso wie die Grenzen „beweglicher Systeme" zeigen lassen. Dabei soll es keine Rolle spielen, daß Bender in seinem, Alleingang^112 nicht auf die Theorie Wilburgs und den Begriff der „beweglichen Systeme" Bezug nimmt.113 Denn in der Sache ist das Urteil des OLG Stuttgart 114 nichts anderes als die Umdeutung „unbeweglicher" gesetzlicher Tatbestandsmerkmale in „bewegliche" Elemente. 1. Die Struktur des § 138 Abs. 2 BGB Die Struktur des Wuchertatbestandes (§138 Abs. 2 BGB) ist kompliziert und soll zunächst am Wortlaut des Gesetzes verdeutlicht werden: § 138 Abs. 2 BGB enthält ein subjektives Merkmal (.Ausbeutung"), d. h. ein Tatbestandsmerkmal, das sich auf den inneren Willen des Wucherers bezieht. Dieses subjektive Merkmal kann in vier Varianten auftreten, die typische Eigenschaften der Person des Wucheropfers kennzeichnen. Es kann sich namentlich um die Ausbeutung „der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder(!) der erheblichen Willensschwäche eines anderen" handeln. Unstreitig muß nur eine der vier Varianten vorliegen, da es sich um eine OderVerknüpfung des Gesetzgebers handelt. Bei dem „Sandhaufentheorem" geht es aber nicht um die Frage, ob sich diese vier Varianten in ein „bewegliches System" umdeuten lassen, ob etwa eine wirtschaftliche Bedrängnis unterhalb der Schwelle der „Zwangslage" durch eine Willensschwäche, die ebenfalls unterhalb der Schwelle zur „erheblichen Willensschwäche" liegt, ergänzt werden könnte.

Vielmehr geht es hier um das Verhältnis des subjektiven Merkmals als ganzem zu dem objektiven Tatbestandsmerkmal (Jn einem auffälligen Mißverhältnis z 109 Bender, Ein Beitrag zur Regelungstechnik in der Gesetzgebungslehre, Gedächtnisschrift für Rödig, 1978, S. 34 ff.; OLG Stuttgart NJW 1979, S. 2409 ff., S. 2412. 110 BGHZ 80, 153,159 f. = NJW 1981,1206,1207. 111 Für alle Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 6. Auflage, 1994, Randzeichen 711. 112 Vergleiche Fußnote 109: Aus Benders Feder ist auch das Urteil des OLG Stuttgart. 113 Mayer-Maly, Renaissance der laesio enormis?, Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, 1983, S.395 ff., S. 406 bescheinigt Bender deshalb, er habe die „beweglichen Systeme" ,glicht ohne eine gewisse Naivität wiederentdeckt". In diesem Sinne auch Bydlinski, Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 22 f. 114 NJW 1979,2409,2412.

II. Methodenrechtliche Schranken für „bewegliche Systeme"

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der Leistung"), das wiederum in vier alternativen Varianten („verprechen oder gewähren läßt" und zwar jeweils „sich oder einem Dritten") vorliegen kann. Das subjektive und das objektive Tatbestandsmerkmal stehen zueinander nicht (wie ihre jeweiligen Varianten) in einem Oder-Verhältnis. Vielmehr ist das subjektive Merkmal der Ausbeutung auf das objektive Mißverhältnis bezogen. Das kommt im Wortlaut der Norm durch die Formulierung „unter Ausbeutung^' zum Ausdruck. Die Tatsache, daß die subjektive Willensrichtung des Wucherers auf das objektive Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung bezogen ist und also von jenem abhängt, rechtfertigt es noch nicht, diese Verknüpfung als „bewegliche" Ergänzung zu interpretieren. Das Verhältnis der beiden Tatbestandsmerkmale läßt sich vielmehr so umschreiben: Nur wenn ein objektives Mißverhältnis festgestellt worden ist, kann der gleichzeitige, hinzukommende Aspekt der subjektiven Ausbeutung rechtsrelevant werden. Die Formulierung „unter Ausbeutung ... gewähren läßt" könnte in die weniger substantivische Fassung „gewähren läßt und dabei... ausbeutet4' übersetzt werden. Die beiden Tatbestandsmerkmale des § 138 Abs. 2 BGB sind also (ungeachtet ihrer jeweiligen alternativen Varianten) kumulativ miteinander verknüpft. Soweit ist die Binnenstmktur des Wuchertatbestandes klar durch den Gesetzeswortlaut geprägt. Das bisher Gesagte bietet keinen Anhaltspunkt dafür, ein „bewegliches System" in die Tatbestandsmerkmale zu „installieren", ohne die Grenze der Gesetzesbindung zu überschreiten. Jedoch kann § 138 Abs. 2 BGB nicht allein durch seine Binnenstruktur erklärt werden. Es handelt sich vielmehr um eine Regelung, die nur im Zusammenhang mit einer allgemeineren Norm, nämlich § 138 Abs. 1 BGB ganz verstanden werden kann. Dieser Zusammenhang ist ebenfalls durch den Wortlaut des Gesetzes hergestellt: Während § 138 Abs. 1 BGB generalklauselhafit die Nichtigkeit sittenwidriger Rechtsgeschäfte normiert, beschreibt § 138 Abs. 2 BGB in den oben erläuterten Tatbestandsmerkmalen, in welchen Fällen dies ,insbesondere" anzunehmen ist. Es handelt sich bei dem Wort „insbesondere" um eine Formulierung, die in § 254 Abs. 1 BGB auftaucht. Sie wurde bei der Erörterung des Mitverschuldens als „bewegliches System" nicht näher untersucht, da bereits die anschließende Formulierung des § 254 Abs. 1 BGB („inwieweit... vorwiegend") eine graduelle Verknüpfung klarstellt. An einer solchen Klarstellung fehlt es in § 138 Abs. 2 BGB. Diese Klarstellung gilt freilich auch bei § 254 Abs. 1 BGB ausdrücklich nur für die Verursachungsgrade; daß die Verschuldensgrade „beweglich" zu berücksichtigen sind, was niemand bezweifelt, beruht auch dort auf der „insbesondere"-Formulierung 115. Freilich kann sich eine derartige Praxis darauf stützen, daß der Gesetzgeber im gleichen Zusammenhang „bewegliche" Elemente ausdrück115

Vergleiche Fußnoten 93 auf S. 71 und 102 auf S. 73.

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

lieh normiert hat. Außerdem ist die Konkretisierung der „Umstände", um die es beim Mitverschulden ausdrücklich geht, in besonderer Weise zur Beweglichkeif 4 prädestiniert. Immerhin zeigt die „Insbesondere"-Regelung zum Mitverschulden, wie bedenkenlos, ja geradezu selbstverständlich die Rechtsprechung „bewegliche" Elemente zur Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen herausbildet.116 Verbirgt sich auch hinter der „insbesondere"-Formulierung des § 138 BGB ein „bewegliches System"? § 138 Abs. 2 BGB ist eine gesetzlichfixierte Ausprägung des allgemeineren und unbestimmteren § 138 Abs. 1 BGB. Die „insbesondere"Formulierung stellt klar, daß Sittenwidrigkeit auch angenommen werden kann, wenn die kumulative Erfüllung der Tatbestandsmerkmale des § 138 Abs. 2 BGB nicht vorliegt. Es ist sogar anerkannt, daß man auf § 138 Abs. 1 BGB zurückgreifen kann, wenn der Wucher lediglich am Nachweis der Ausbeutung scheitert. Denn die Voraussetzungen des § 138 Abs. 2 BGB und ihre Verknüpfung sind keine abschließende, sondern eine beispielhafte Regelung. 2. Das „Sandhaufentheorem" als „bewegliches System" des § 138 Abs. 2 BGB Tatsächlich hatte das OLG Stuttgart einen Fall zu entscheiden, bei dem einerseits das subjektive Element der Ausbeutung nicht in dem für § 138 Abs. 2 BGB maßgeblichen Grad feststellbar war. 117 Die Schwelle zur rechtlichen Relevanz, die hier als (richterrechtlich) fixiert vorauszusetzen ist, war also unterschritten, das subjektive Tatbestandsmerkmal graduell untererfüllt. Das andererseits besonders auffällige objektive Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung bewog das Gericht dazu, das Verhältnis insgesamt für sittenwidrig zu erklären. Diese Wertung hat der BGH 118 im Ergebnis bestätigt. Folgt man dem BGH, hätte das OLG jedenfalls den Sittenwidrigkeitsrahmen nicht über die vom Gesetzgeber gesteckten Grenzen hinaus erweitert. Hiervon soll im folgenden ausgegangen werden. Umstritten ist nämlich lediglich die Frage, ob sich das Ergebnis, wie Bender (das OLG) meint, auf eine „bewegliche" Auslegung des § 138 Abs. 2 BGB stützen läßt, oder aber, wie es der BGH entschied, allein auf den Auffangstatbestand des § 138 Abs. 1 BGB. Benders Argumente für die „bewegliche" Interpretation von Tatbestandsmerkmalen (nicht nur des § 138 Abs. 2 BGB) sind teleologischer Natur: Nur, wenn 1.6

In ganz anderem Zusammenhang bezeichnet Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 161 den „Insbesondere-Stil" des Gesetzgebers als Möglichkeit für einen „beweglichen(l) Einsatz des öff. Interesses als Interpretationsmittels der Verwaltung^ (Hervorhebung nicht im Original). Zur vielfältigen Verwendung des Begriffes der Beweglichkeif 4 in der Rechtswissenschaft vergleiche Fußnote 6 auf S. 116. 1.7 Siehe Fußnote 114 auf S. 76. 118 BGHZ 80, 153 = NJW 1981, 1206.

II. Methodenrechtliche Schranken für „bewegliche Systeme"

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es „dem Normzweck entspricht" 119, könne ein Ausgleich zwischen Über- und Untererfüllung der Voraussetzungen stattfinden. Daß § 138 Abs. 2 BGB diesem Anspruch gerecht wird, begründet Bender mit drei Argumenten:

a) Erstes Argument: Systematische Auslegung des § 138 Abs. 1 und Abs. 2 BGB

Den wesentlichen Normzweck entnimmt Bender im Fall des § 138 Abs. 2 BGB dessen Zusammenhang mit § 138 Abs. 1 BGB. Dabei geht er von Prämissen aus, vor denen der BGH möglicherweise mehr zurückschreckt als vor der Idee „beweglicher" Tatbestände als solcher. Bender meint, für § 138 Abs. 1 BGB reiche als objektive Bedingung ein besonders grobes Mißverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung allein aus. § 138 Abs. 1 BGB enthalte somit im Gegensatz zu § 138 Abs. 2 BGB kein notwendiges subjektives Element. Dieses besonders grobe Mißverhältnis wird im römischen Recht als laesio enormis (übermäßiges, absichtliches Reizen des Gegners) behandelt.120 Benders systematisches Argument hieraus ist schlüssig: Wenn nämlich einerseits § 138 Abs. 1 BGB tatsächlich kein subjektives Element enthielte, sobald es sich um ein besonders auffälliges objektives (100%iges) Mißverhältnis handelt und soweit § 138 Abs. 2 BGB die Sittenwidrigkeit für ein lediglich halb so großes (50%iges) Mißverhältnis an ein subjektives Element knüpft, liegt es nahe, „dazwischen" einen „beweglichen" Ausgleich von subjektivem und objektivem Element zuzulassen: Je näher das objektive Mißverhältnis der 100%-Schwelle kommt, desto mehr träte das subjektive Merkmal zurück. Doch vor der Frage nach der methodenrechtlichen Zulässigkeit einer solchen Argumentation, ist die Richtigkeit der Prämissen zu erörtern, die Bender der Bedeutung des § 138 Abs. 1 BGB entnimmt. Mit seiner Deutung setzt er sich — ohne dies kritisch offenzulegen - in Widerspruch zum geläufigen (in Rechtsprechung121 und Literatur 122 vertretenen) Verständnis des § 138 Abs. 1 BGB. Zwar spricht nach der herrschenden Auffassung in Fällen eines besonders groben Mißverhältnisses eine Vermutung für die verwerfliche Gesinnung als subjektives Element. Mit der Vermutung kommt aber gleichzeitig zum Ausdruck, daß es im Grundsatz bei der kumulativen Verknüpfung eines subjektiven und eines objektiven Elementes bleibt - und zwar sowohl in § 138 Abs. 2 BGB als auch bei der Auslegung des § 138 Abs. 1 BGB. 119

OLG Stuttgart NJW 1979,2409,4. Leitsatz sowie S. 2412. (unter Β I) Hierzu vergleiche Fußnoten 130 auf S. 81. 121 BGH W M 1969, 1255, 1257.; zuletzt NJW 1994, 1275 unter I I 2. 122 Statt aller Mayer-Maly in Münchener Kommentar zum BGB, 3. Auflage, 1993, zu § 138 BGB, Randzeichen 22. 120

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

Die Gründe, die Bender für sein abweichendes Verständnis des § 138 Abs. 1 BGB anführt, sind angreifbar: Soweit er sie „aus demrichtigenVerständnis des § 138 Abs. 2 BGB" 123 erschließt, befindet er sich in einem Zirkelschluß. Zwar ist es zulässig, die Auslegung von § 138 Abs. 1 BGB an § 138 Abs. 2 BGB als dessen gesetzlicher Konkretisierung („Insbesondere"-Tatbestand) zu orientieren. Dies darf aber nicht die Beweglichkeit" des § 138 Abs. 2 BGB voraussetzen, wenn gerade diese erst mit Hilfe des Zusammenhangs gerechtfertigt werden soll. Erstes Zwischenergebnis: Unabhängig von der Möglichkeit, § 138 Abs. 1 BGB systematisch im Hinblick auf § 138 Abs. 2 BGB auszulegen,124 ist es jedenfalls unzulässig, hieraus Rückschlüsse auf die ,gichtige Interpretation" des § 138 Abs. 2 BGB zu gewinnen. b) Zweites Argument: Rechtsvergleichung

Als zweites Argument für das „Sandhaufentheorem" zieht Bender die Rechtsvergleichung heran. So meint er, aus der vergleichenden Betrachtung des österreichischen § 934 ABGB, der auf ein subjektives Element verzichtet, „gewichtige Gründe" 125 für seine Auffassung gewinnen zu können. Sofern es hier tatsächlich um eine Frage geht, zu der das letztlich anzuwendende deutsche Recht keine Antwort kennt, sofern m. a. W. der unbestimmte Begriff der Sittenwidrigkeit in § 138 Abs. 1 BGB keine hinreichend konkrete Norm ist, die den Richter bindet und sofern solche Konkretisierung auch nicht durch Richterrecht 126 bereits geprägt ist, 127 ist ein solches Argument nicht schlechthin unzulässig.128 Richtig ist auch Benders Ansatz, zu fragen, ob denn die Rechtsvergleichung insofern „adäquat" sei, wenn nämlich der österreichische Rechtskreis dem deutschen hinreichend „verwandt' ist. 129 Entscheidend kommt es aber außerdem und letztlich darauf an, ob sich der rechtsvergleichend gewonnene konkrete Rechtsgedanke in das anzuwendende deutsche Recht einfugt bzw. integrieren läßt. Im vorliegenden Fall ist jedoch die römischrechtliche laesio enormis, also ein Sittenwidrigkeitstatbestand für ein 100%iges objektives Leistungsmißverhältnis 123

OLG Stuttgart NJW 1979,2409, 2410. Siehe unten 3 („Lösungsalternativen? § 138 Abs. 1 BGB als „bewegliches System"?'). 125 OLG Stuttgart NJW 1979, 2409, 2410 unter A II 3. 126 Hierzu vergleiche unten G I I I 3, S. 252 ff. 127 Hier ergeben sich bereits Bedenken im vorliegenden Fall, die dadurch verstärkt werden, daß Bender sich mit der abweichenden Rechtsprechung des BGH nicht wirklich auseinandersetzt. Bender meint nämlich nur am Rande, die „bisherigen Entscheidungen des BGH sprechen nicht unbedingt gegen" seine Auslegung; ebenda A II 4. 128 Mayer-Maly, Renaissance der laesio enormis?, Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, 1983, S. 395 ff., S. 401. 129 OLG Stuttgart NJW 1979,2409, 2410 unter A II 3. 124

II. Methodenrechtliche Schranken für „bewegliche Systeme"

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dem deutschen Recht im Gegensatz zum österreichischen wesensfremd 130. Die Berufung auf den römischrechtlichen Ursprung hat seine Grenze in der bewußten(!) 131 Abgrenzung des deutschen BGB-Gesetzgebers132 hiervon. Jede nationale Gesetzgebung verlöre ihren Sinn, wenn derartige gesetzgeberischen Grundsatzentscheidungen durch die Vergleichung mit dem Recht eines Nachbarstaates wieder verwässert würden. Rechtsvergleichung darf nie zur blinden Adaption fuhren, bei der sich ein Richter an einen Rechtsgedanken „anlehnt"133, den der Gesetzgeber bewußt aus dem geltenden Recht verbannt hat. Denn die (räumlich bezogene) Rechts vergleichung als, »fünfte Auslegungsmethode"134 darf der (zeitlich bezogenen) historischen Auslegung zwar ergänzend zur Seite stehen. Der Richter ist jedoch methodenrechtlich nicht darin frei, die Wertungen seines Gesetzgebers durch eine ihm gerechter erscheinende Norm einer anderen Rechtsordnung zu korrigieren. Zweites Zwischenergebnis: Auch die Rechtsvergleichung kann Benders Interpretation von § 138 Abs. 1 BGB nicht rechtfertigen. Benders Verständnis des § 138 Abs. 2 BGB beruht auf seiner nicht überzeugend begründeten abweichenden Interpretation des § 138 Abs. 1 BGB. Damit ist das „Sandhaufentheorem" — um im Bild zu bleiben — „auf Sand gebaut4'. Bender hat dem BGH keine hinreichend schwerwiegenden Gründe dafür genannt, seine Rechtsprechung zu § 138 Abs. 1 BGB aufzugeben. Deshalb sah sich der BGH auch nicht veranlaßt, auf die „bewegliche" Interpretation des § 138 Abs. 2 BGB näher einzugehen. Er stellt unter Berufung auf das Schrifttum vielmehr lapidar und zutreffend fest: „Ein wucherisches Rechtsgeschäft i. S. des § 138 Abs. 2 BGB liegt nur vor, wenn alle Tatbestandsmerkmale erfüllt sind." 135 . 130

Mayer-Maly, Renaissance der laesio enormis?, Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, 1983, S.395 ff. 131 Vergleiche auch BGHZ 80, 153, 157 = NJW 1981, 1206. 132 Interessant ist der historische Vergleich mit den Regelungen der Sittenwidrigkeit eines Kaufvertrags im preußischen ALR von 1794: § 58 I 11 „Der Einwand, daß der Preis mit dem Werthe der Sache in keinem Verhältnisse stehe, ist für sich allein den Vertrag zu entkräften nicht hinreichend." § 59 I 11 „Ist jedoch das Mißverhältnis so groß, daß der Kaufpreis den doppelten Betrag des Werths der Sache übersteigt, so begründet dieses Mißverhältniß, zum Besten des Käufers (Verbraucherschutz!) die rechtliche Vermuthung(!) eines den Vertrag entkräftenden Irrtums." Bemerkenswert ist hieran nicht nur die Anlehnung an die römischrechtliche laesio enormis, sondern auch die Vermutungswirkung, die (hier kraft Gesetzes — heute nach der Rechtsprechung) an das objektive Mißverhältnis geknüpft wird. 133 OLG Stuttgart NJW 1979,2409, 2410 unter A I I 3. 134 Grundlegend Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat - Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfter* 4 Auslegungsmethode, JZ 1989, 913 ff.; jetzt auch ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1993, S. 27 ff. 135 BGHZ 80, 153, 160 = NJW 1981, 1206, 1207 Hervorhebung im Original. 6 Michael

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

c) Drittes Argument: Übergesetzliche Grundnormen - Zum Unterschied zwischen Regelbeispielen und „Insbesondere"-Tatbeständen

Ein drittes Argument formuliert Bender allgemein, d. h. unabhängig von § 138 Abs. 2 BGB. Bender möchte das „Sandhaufentheorem" immer dann anwenden, „wenn mehrere einzelne Normen (die die gleiche Rechtsfolge aussprechen) in Wirklichkeit nur als „regelbeispielhafte" Einzelausprägungen einer höherrangigen (im Gesetz nicht explizit formulierten) Grundsatznorm zu deuten sind." 136 Auf den ersten Blick ist dieser Gedanke methodisch verlockend und der Begriff des „ Regelbeispielhaften" scheint auch methodenrechtliche Bedenken auszuräumen, da doch bloße Regelbeispiele eine „freiere Handhabung gestatten als andere Tatbestände. Der Begriff des Regelbeispiels ist jedoch nur mit höchster Vorsicht — zumal im Zusammenhang mit § 138 Abs. 2 BGB 137 — zu gebrauchen. Bender setzt ihn in Anfuhrungsstriche und ich möchte zur Vermeidung von Mißverständnissen hierauf eingehen. Unter Regelbeispielen138 versteht man Tatbestände, die weder notwendige noch hinreichende Voraussetzungen für eine bestimmte Rechtsfolge sind. Sie sind nicht mehr und nicht weniger als zulässige Wertungskriterien zur Bestimmung einer Norm. So ist es etwa möglich, die verschärfte Rechtsfolge des § 243 StGB abzulehnen, obwohl eines der dort genannten Beispiele vorliegt, da diese nur „in der Regel" einen besonders schweren Fall des Diebstahls ausmachen.139 Umgekehrt ist es möglich, die StrafVerschärfung in Fällen vorzunehmen, die nicht von den Beispielen erfaßt sind.140 Es handelt sich um einen gesetzlich vorgesehenen, vom Richter zu füllenden „offenen Ort" für Wertungsgesichtspunkte. Jnsbesondere"-Regelungen haben demgegenüber einen höheren Festlegungsgehalt. Sie normieren nämlich hinreichende141 Voraussetzungen, bei deren Vorliegen die Rechtsfolge feststeht. Der Rückgriff auf die Generalnorm ist zwar möglich, wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen, aber er ist entbehrlich, wenn sie vorliegen. Die Jnsbesondere"-Tatbestände sind eigenständige Normen, die eine verbindliche Rechtsfolgenanweisung enthalten. 136

OLG Stuttgart NJW 1979, 2409,2412 unter Β I. Ebenda unter Β II. 138 Hierzu noch ausführlich unter 4. 139 Vergleiche statt aller Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, Grundlagen, der Aufbau der Verbrechenslehre, 2. Auflage 1994, § 9 IV, Randzeichen 15 mit einer Aufzählung der zahlreichen(!) Regelbeispiele im StGB. 140 BGHSt 29, 322. 141 Genau dies leugnet Bender, Ein Beitrag zur Regelungstechnik in der Gesetzgebungslehre, Gedächtnisschrift für Rödig, 1978, S. 34 ff., S. 38: „Grundsätzlich nennen nur Normen auf mittelhohem Abstraktionsniveau - die also weniger konkret sind als die meisten Jnsbesondere"-Tatbestände (Anmerkung nicht im Original) - notwendige (und ausreichende) Bedingungen der Rechtsfolge." Hervorhebung im Original. 137

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Umgekehrt sind Regelbeispiele aussagekräftiger bei der Frage der Auslegung und Konkretisierung der Generalnorm. Während der Einfluß der „Insbesondere" Regelung auf den Grundtatbestand von Rückgriffssperre und bloßer Mindestfestlegung bis zum Richtwert, also von der Ausnahme- bis zur Regelwirkung reichen kann, gibt das Regelbeispiel stets („bewegliche" oder „unbewegliche") Anhaltspunkte zur Ausfüllung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Somit können „Insbesondere"-Regelungen eine „regelbeispielhafte", d. h. Regelbeispielen ähnliche Ausstrahlungswirkung entfalten, ohne dabei ihren eigenen Festlegungsgehalt zu verlieren. 142 Insofern enthält Benders Theorie einen weiteren fruchtbaren Gedanken. Bender selbst setzt sich jedoch dem Vorwurf aus, statt den Festlegungsgehalt der „Insbesondere"-Regelung zu erweitern, statt ihn um eine Ausstrahlungsfunktion zu ergänzen, die Grenzen des § 138 Abs. 2 BGB (und entsprechender anderer Tatbestände) jeglicher Verbindlichkeit zu berauben. Denn er ersetzt letztlich die Anwendung der Tatbestandsmerkmale durch die vagen Voraussetzungen einer imaginären ,,höherrangigen(!) (im Gesetz nicht(!) explizit formulierten)" Norm. Er entnimmt auch - wie dies nur bei tatsächlichen gesetzlichen Regelbeispielen erlaubt ist - die „Rechtsfolge der Grundsatznorm" 143. Überhaupt steht Bender möglichst konkreten Tatbestandsmerkmalen im geschriebenen Gesetz äußerst skeptisch gegenüber.144 Allgemein behauptet Bender: „Rechtsnormen unterhalb eines mittelhohen Abstraktionsniveaus haben grundsätzlich den Charakter von Regelbeispielen. Sie haben diesen Charakter um so mehr, je konkreter sie ausdifferenziert sind."145 Damit verkennt er die richterliche Bindung an („insbesondere"-)Tatbestände. Dabei trennt er nicht klar zwischen anregender Kritik am Gesetzgeber de lege ferenda und der Möglichkeit der richterlichen Korrektur de lege lata.146 Das führt zu bedenklichen Überschreitungen derrichterlichen Gesetzesbindung. Zwar gibt es ungeschriebene Rechtsprinzipien und Normen, doch diese dürfen nicht die geschriebenen Tatbestände soweit überlagern, daß das Verhältnis von Grundsatz und Norm in sein Gegenteil verkehrt wird: In dem „Sandhaufentheorem" wird die gesetzliche Norm des § 138 142 Hierzu s. u. D II 3 („Lösungsalternativen? § 138 Abs. 1 BGB als „bewegliches System"? 4 ), S. 85 ff. 143 OLG Stuttgart NJW 1979, 2409, 2412 unter Β I. 144 Bender, Ein Beitrag zur Regelungstechnik in der Gesetzgebungslehre, Gedächtnisschrift fur Rödig, 1978, S. 34 ff., S. 41: „Wo keine verfehlte Gesetzgebungstechnik hindernd im Wege steht, hat die Praxis intuitiv Rechtsregeln entwickelt, die zumindest im Ansatz den in den hier formulierten Thesen aufgestellten Postulaten bereits entsprechen." 145 Bender, ebenda S. 38. 146 In der eben zitierten Stelle akzeptiert er wenigstens die „hinderliche" Schranke des Gesetzes und empfiehlt dem Gesetzgeber, „mehr darauf zu schauen, was die Praxis tut." In seinen Thesen 3 und 4, ebenda, S. 38 f. hingegen sprengt er die richterlichen Fesseln.

6*

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

Abs. 2 BGB zum bloßen Grundsatz, ein übergesetzlicher Grundsatz hingegen zur Norm. Zwar ist es nichts Ungewöhnliches, daß einzelne Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen auf gleichzubehandelnde Fälle übertragen werden. Die Methodenlehre nennt diesen Vorgang Analogie und hat hierfür zahlreiche Voraussetzungen und Einschänkungen entwickelt.147 Deshalb müßte Bender zur Rechtfertigung seiner Theorie (abgesehen von den methodischen und methodenrechtlichen Besonderheiten „beweglicher" Elemente) zunächst die Voraussetzungen der Analogie prüfen. 148 Für eine derartige Analogie fehlt aber bereits das Bedürfnis 149, denn die Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB ist ja „offen" für Fälle, die nicht schon unter § 138 Abs. 2 BGB fallen. Das gilt nicht nur, weil der BGH im fraglichen Fall tatsächlich das Ergebnis des OLG bestätigt hat. Fiele der Fall nicht unter § 138 Abs. 1 BGB, dürfte auch keine übergesetzliche Norm aus Gründen der Sittenwidrigkeit dieses Ergebnis korrigieren. Denn Sittenwidrigkeit im Sinne des Privatrechts ist nicht allgemeiner oder weiter als in der Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB erfaßbar. Es soll hier nicht (wie bei § 254 BGB) das hypothetische Beispiel gebildet werden, was wäre, wenn es diese Generalklausel nicht gäbe. Denn die Voraussetzungen der Analogie würden wesentlich davon abhängen, warum der Gesetzgeber die dann entstehende sogenannte „Lücke" offenließe. Hier soll nur der allgemeine Hinweis genügen, daß die Entwicklung „beweglicher Systeme" unter den zusätzlichen Voraussetzungen der Analogie auch zur richterlichen Rechtsfortbildung geeignet ist. 150 Aus methodenrechtlicher Sicht bestehen hiergegen nicht mehr und nicht weniger Bedenken als gegen Rechtsfortbildung und Analogie im allgemeinen. Dieser (äußerst wichtige!) methodische Ansatz von Benders „Sandhaufentheorem" kann übernommen werden. Drittes Zwischenergebnis: Die Berufung auf eine übergesetzliche Grundnorm neben der Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB ist unzulässig und führt am Gesetz vorbei.

147

Zur Analogie vergleiche auch „ Zur komparativen Struktur der Analogie" F II 1 b. In seinem Aufsatz erwähnt Bender, Ein Beitrag zur Regelungstechnik in der Gesetzgebungslehre, Gedächtnisschrift fur Rödig, 1978, S. 34 ff., S. 38 immerhin die Analogie als methodische Grundlage seiner These 3. 149 Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 5. Auflage, 1992, Randzeichen 711. 150 A u f die mögliche Lückenschließungsfunktion „beweglicher Systeme" hat schon Wilburg, Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346 ff., S. 347 hingewiesen.Vergi auch Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 64. 148

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d) Gesamtwürdigung des „Sandhaufentheorems"

Bei der Erörterung des „Sandhaufentheorems" deutet sich an, daß sowohl die systematische Auslegung als auch die Rechtsvergleichung sowie die Rechtsfortbildung wesentliche Elemente einer Theorie der komparativen Systeme sein müssen. Bender hat mit seinem Vorstoß den Nerv der Probleme und Chancen einer derartigen Methode und ihrer Funktion de lege lata getroffen. Bedauerlich ist, daß Bender über diesenrichtige Kern soweit hinausgegangen ist, daß ihm zu Recht widersprochen wurde. Leider ist über all der im Ergebnis berechtigten Kritik m. E. derrichtige Kern der Theorie übersehen worden. Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Rezeption Wilburgs. Der Methodenlehre stellt sich um so mehr die Aufgabe, eine Theorie zu erarbeiten, deren Entdecker Wilburg und Wiederentdecker Bender nicht nur unglückliche Beispiele gewählt haben, sondern auch methodenrechtlich unhaltbare Konsequenzen gezogen haben. 3. Lösungsalternativen? § 138 Abs. 1 BGB als „bewegliches System"? Indes ist gerade die Sittenwidrigkeit als unbestimmter Rechtsbegriff des § 138 Abs. 1 BGB einer „beweglichen" Konkretisierung zugänglich.151 So hat MayerMaly 152 es in ausdrücklicher Anlehnung an Wilburgs „bewegliche Systeme" vorgeschlagen. Dieser Ansatz ist den zahlreichen Bedenken, die gegen das „Sandhaufentheorem" sprechen, nicht ausgesetzt: Ein solches „bewegliches System" zu § 138 Abs. 1 BGB würde den festen Tatbestand des § 138 Abs. 2 BGB unberührt lassen. Die Entwicklung „beweglicher*' Elemente würde sich innerhalb der gesetzlichen Grenzen, nämlich als Konkretisierung eines unbestimmten Rechtsbegriffes darstellen. Die Voraussetzungen der Analogie entfielen. Die Eliminierung des subjektiven Elementes (wie sie die laesio enormis erlaubt) würde allenfalls den Extremfall der „Beweglichkeit", nicht hingegen den typischen Fall des § 138 Abs. 1 BGB bedeuten. Löst man sich wie hier 153 vorgeschlagen das „Ideal der totalen Beweglichkeif', so ließe sich der Fall der laesio enormis auch ausschließen.154 Vor allem die systematische Einbeziehung der „Insbesondere"-Regelung in die Konkretisierung der Generalklausel stützt diese Auslegung des § 138 Abs. 1 BGB: Auf der Suche nach der ratio legis des Sittenwidrigkeitstatbestandes ist 151

Diese Möglichkeit fällt systematisch unter die oben in D I 4 b („Konkretisierung von Tatbestandsmerkmalen durch „bewegliche Systeme"") auf S. 71 ff. erörterten Fälle. 152 Mayer-Maly in Münchener Kommentar zum BGB, 3. Auflage, 1993, zu § 138 BGB, Randzeichen 23. 153 Vergleiche oben D I 1 b („Wechselseitige Austauschbarkeit der „beweglichen" Elemente?4), S. 54. 154 Hierzu noch am Ende dieses Abschnitts.

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

es richtig, Anhaltspunkte aus der gesetzlichen Konkretisierung des § 138 Abs. 2 BGB zu gewinnen. Denn die Gesichtspunkte der Sittenwidrigkeit müssen so beschaffen sein, daß ihnen die Tatbestandsbildung des § 138 Abs. 2 BGB in besonderer Weise („insbesondere") entspricht. Nun ist es zwar nicht möglich, logisch zwingend vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen. Aber Anhaltspunkte und Argumente lassen sich immerhin aus der systematischen Auslegung gewinnen. Es ist davon auszugehen, daß die „inbesondere"-Formulierung typische Fälle und keine Ausnahmen regelt. Damit ist die Ausfüllung des unbestimmten Begriffs der Sittenwidrigkeit in § 138 Abs. 1 BGB freilich nicht auf Kriterien beschränkt, die schon in § 138 Abs. 2 BGB genannt werden. Denn § 138 Abs. 1 BGB würde gegenstandslos, wenn man zu seiner Konkretisierung an den Tatbestandsmerkmalen und der Art ihrer Verknüpfung in § 138 Abs. 2 BGB festhielte. Andererseits würde aber § 138 Abs. 2 BGB gegenstandslos, wenn die Art der Verknüpfung seiner Tatbestandsmerkmale, die dem Gesetzgeber doch etwas bedeutet haben muß, durch ein ε gegenläufige Auslegung des § 138 Abs. 1 BGB umgangen würde. Die Tatbestandsmerkmale des § 138 Abs. 2 BGB wären dann in keiner Weise mehr Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit bzw. Nichtigkeit eines Rechtsgeschäftes. Dieses Dilemma entsteht vor allem in Fällen, in denen die „Insbesondere"-Regelung mehrere Tatbestandsmerkmale enthält und diese kumulativ verknüpft sind. Es gibt drei Auswege aus diesem Dilemma der „insbesondere"Formulierung:

1. Der Jnsbesondere"-Tatbestand hat gegenüber der Generalklausel eine Sperrwirkung, und bewirkt ein Verbot des Rückgriffs auf die Generalklausel. D Konkretisierung des § 138 Abs. 2 BGB wäre dann eine Art ,Ausnahmetatbestand", der seine Voraussetzungen bzw. deren Verknüpfung verbindlich und abschließend regelt. Dann könnten in § 138 Abs. 1 BGB nur solche („bewegliche" oder „unbewegliche") Kriterien zur Konkretisierung der Sittenwidrigkeit herangezogen werden, die nicht bereits in § 138 Abs. 2 BGB genannt sind. Jedenfalls müßte mindestens ein weiterer Gesichtspunkt zu den in § 138 Abs. 2 BGB genannten hinzutreten. Dann hätten Generalklausel und Konkretisierung eine maximale jeweils eigenständige Bedeutung. Die Jnsbesondere"-Regelung würde den Generaltatbestand minimal prägen, ihr „typischei" Charakter bliebe als systematisches Argument unberücksichtigt. Diesen Weg geht soweit ersichtlich niemand; auch der BGH ist nicht bereit, sich in dieser Weise an die Grenzen des § 138 Abs. 2 BGB zu binden und somit § 138 Abs. 1 BGB auf „ganz andere" Fälle zu beschränken. Hätte der Gesetzgeber der Jnsbesondere"-Regelung ein Rückgriffsverbot beimessen wollen, hätte er statt eine Generalklausel voranzustellen, §138 Abs. 2 BGB als Grundtatbestand formulieren können und das Sittenwidrigkeitsurteil in „sonstigen" oder besser: „anderen gleichwertigen" Fällen zulassen können.

II. Methodenrechtliche Schranken für „bewegliche Systeme"

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Ein entsprechendes „Rückgriffsverbof' kennen wir hingegen aus dem Verfassungsrecht: Wenn der Schutzbereich eines speziellen Grundrechts eröffnet ist (und eine Grundrechtsverletzung nicht festgestellt werden kann), ist der Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 GG bzw. auf Art. 3 Abs. 1 GG versperrt. 155 2. Die Konkretisierung soll lediglich einen Mindeststandard der Sitten garantieren, bei dessen Vorliegen ein Rechtsgeschäft jedenfalls nichtig ist. Eine Auslegung der Generalklausel, die bereits in weniger krassen Fällen zur Nichtigkeit führte, wäre dann nicht versperrt. Die gesetzlich ausdrücklich genannten besonders schwerwiegende Fälle wären dann dem erheblichen Wertungsspielraum, den der Richter bei der Konkretisierung des § 138 Abs. 1 BGB hat, entzogen. Hat die „Insbesondere"-Regelung lediglich diese Jedenfalls"-Funktion, könnte man auch nicht mehr von deren Aushöhlung oder Umgehung sprechen, selbst wenn die Auslegung des § 138 Abs. 1 BGB an ein „Weniger" an Voraussetzungen gebunden ist. Ohnehin wäre eine spezielle Regel insofern entbehrlich, d. h. ihr Fehlen würde zu keiner Gesetzeslücke führen, als ihr Regelungsgehalt auch von der allgemeineren Norm umfaßt wird. Sie kann dennoch „sinnvoll" sein, indem sie der Rechtsprechung die Möglichkeit nimmt, in den ausdrücklich konkretisierten Fällen eine andere Wertung zu treffen. Außerdem ist jede (mögliche) Präzisierung durch den Gesetzgeber eine Steigerung der Rechtssicherheit. Würde man § 138 Abs. 1 BGB als eine „bewegliche" Kombination subjektiver und objektiver Elemente auffassen, dann würde § 138 Abs. 2 BGB also tatsächlich eine Konkretisierung darstellen, die diese Voraussetzungen insbesondere, nämlich kumulativ verwirklicht. § 138 Abs. 1 BGB wäre „offen" sowohl für die „bewegliche" Berücksichtigung der in § 138 Abs. 2 BGB genannten, dort „unbeweglichen" Merkmale als auch zur Entwicklung ganz anderer („beweglicher" oder „unbeweglicher") Gesichtspunkte. Dann hätte § 138 Abs. 2 BGB vor allem eine klarstellende Funktion: In ihm hätte der Gesetzgeber einen Mindeststandard garantiert und besonders schwerwiegende Fälle, in denen mehrere Elemente kumulieren, demrichterlichen Wertungsspielraum der Generalklausel entzogen. 3. Man könnte ein solches „bewegliches System" auf Fälle beschränken, die denen des § 138 Abs. 2 BGB gleichwertig sind. § 138 Abs. 2 BGB würde dann also keine besonderers schweren Fälle regeln, sondern den Sonderfall, bei dem sowohl subjektive als auch objektive Kriterien einen „mittleren" Grad aufweisen. „Insbesondere" würde dann ,typischerweise" bedeuten und nicht Jedenfalls". § 138 Abs. 2 BGB wäre nicht Mindeststandard der Sitten, sondern ein Richtwert, der es sowohl verbietet, weniger schwerwiegende Fälle des Sittenverstoßes als nichtigkeitsbegründend zu werten als auch gebietet, noch krassere Fälle mit der Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts zu sanktionieren. Im Ergebnis würde dieses 155

Für alle an dieser Stelle Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht I, 11. Auflage 1995, Randnummer 369 f.; auch zu der im einzelnen streitigen Unterscheidung zwischen Regelungs- und Schutzbereich m. w. N.

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

Verständnis dem „Sandhaufentheorem" entsprechen. Denn Bender schlägt vor, eine Untererfüllung des subjektiven Merkmals durch eine entsprechende Übererfüllung des objektiven Merkmals abzugleichen, wobei er diesen Ausgleich am Maß der jeweils 100%igen Erfüllung beider Merkmale, so wie sie in § 138 Abs. 2 BGB normiert sind, orientiert. Diese Wertung erscheint besonders interessengerecht. Sie kommt gleichzeitig dem Sinn der Jnsbesondere"-Regelung vielleicht sogar am nächsten. Auch entspricht diese Beschränkung der „Beweglichkeit" dem Gleichbehandlungsgebot in besonderer Weise: Man könnte nämlich § 138 Abs. 2 BGB nicht nur als eine Entscheidung des Gesetzgebers darüber ansehen, was gleichartig ist, sondern auch darüber, was wesentlich gleichwertig sein soll. Dann bedürfte es zur Abweichung von diesem Maßstab einer besonderen Rechtfertigung, da sie Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem bedeuten würde. Ob freilich § 138 Abs. 2 BGB tatsächlich einen derartigen Festlegungsgehalt hat, ist eine andere Frage. Immerhin ist zu erwägen, so § 138 Abs. 1 BGB als ein begrenzt „bewegliches" System auszulegen bzw. ein methodisch uneingeschränkt „bewegliches" System so methodenrechtlich begrenzen. Eine weitere Begrenzung der „Beweglichkeit" des § 138 Abs. 1 BGB läge nahe. Diese Möglichkeit soll hier gerade deshalb erwähnt werden, da sie über die Theorie Wilburgs einmal mehr hinausgeht. Inwieweit diese Möglichkeit, die Ausgestaltung der „Beweglichkeit" zu begrenzen, dem Sittenwidrigkeitsbegriff dogmatisch mehr oder weniger gerecht würde, ist der zivilrechtlichen Lehre zu überlassen: Man könnte156 die völlige Ersetzung des subjektiven Elementes durch das Maß des objektiven Mißverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung,157 also die laesio enormis ausschließen. Das wäre nur eine Beschränkung und keine Leugnung der „Beweglichkeit" eines Merkmals, so wie es (abweichend vom herkömmlichen Verständnis) für „bewegliche Systeme" gefordert wurde: Ein „beweglicher" Ausgleich könnte dann bis an die Grenze der völligen Ersetzung des subjektiven Elementes stattfinden. Auf diese Weise würde der Absicht des historischen Gesetzgebers, der laesio enormis eine Absage zu erteilen, Sorge ge156 Für das standardisierte Massengeschäft mag etwa der völlige Verzicht auf das subjektive Element einzig sinnvoll sein. Hierzu vergleiche schon Esser, § 138 BGB und die Bankpraxis der Globalzession, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht 135 (1971), 320 ff., jetzt auch ders., Wege der Rechtsgewinnung (herausgegeben von Häberle und Leser), 1990, S. 65 ff., 75, 77, 80 m. w. N. 157 Ähnliches gilt für die Bürgschaftsfälle: Dort ist ein besonders grobes Mißverhältnis zwischen dem Verpflichtungsumfang und der Leistungsfähigkeit des Bürgen alleine ebensowenig hinreichend für § 138 Abs. 1 BGB. Vergleiche hierzu Göpfert, „Bewegliche Systeme" zur Bewältigung von Ähnlichkeiten am Beispiel der ,3ürgschaftsfälle" des BGH, JuS 1993, S. 655 ff und zuletzt BGH NJW 1994, 1278, 1279.

II. Methodenrechtliche Schranken f r „bewegliche Systeme"

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tragen,158 ohne auf die Vorteile und Chancen eines „beweglichen Systems" zu verzichten.

4. Das Verhältnis dieser Lösungsalternativen zu der Rechtsprechung des BGH Schließlich sollen die hier vorgeschlagenen Möglichkeiten, ein differenziert „bewegliches" System zur Konkretisierung des § 138 Abs. 1 BGB zu nutzen, mit der Lösung des BGH verglichen werden, der ja in dem vom OLG Stuttgart entschiedenen Fall zum selben Ergebnis kam. Der BGH hat in ständiger Rechtsprechung in Fällen der Übererfüllung des objektiven Merkmals auf den prozessualen Nachweis des subjektiven Merkmals verzichtet. Der grundsätzlichen Frage, ob ein subjektives Merkmal überhaupt bzw. in welchem Grad Voraussetzung der Sittenwidrigkeit ist, wird durch eine Vermutung 159 9 daß es vorliegt, aus dem Wege gegangen. In der Sache sind es nur noch Nuancen, zwischen den prozessual nachzuweisenden und den materiellen Vorausssetzungen zu unterscheiden: Denn vor dem Richter wird eine Voraussetzung, die nicht zu beweisen ist, solange die Vermutung gilt, nicht Bedingung, nicht Einschränkung der Rechtsfolge behandelt. Das gilt zumindest in Fällen, in denen der Gegenbeweis genausowenig möglich ist. Einerseits kann man solche prozessuale Handhabung „unbeweglicher"' Tatbestandsmerkmale durch Abstufungen der Beweislast, durch widerlegliche Vermutungen bzw. unwiderlegliche Fiktionen, und nicht zuletzt durch die graduelle, ja sogar freie richterliche Beweiswürdigung soweitflexibel gestalten, daß ein Bedürfnis für die „Beweglichkeit" der materiellen rechtlichen Tatbestände nicht mehr besteht. Andererseits kann man diesen Methoden der Rechtsprechung „Verschleierung4 vorwerfen. 160 Tatsächlich ist die Gefahr der Scheinbegründungen 161 groß, wenn Richter nicht den Mut haben, ihren freien prozessualen Umgang mit Tatbeständen als Veränderungen der materiellen Tatbestandsvoraussetzungen offenzulegen. Ein besonders mißlicher Verstoß gegen das „Gebot der Methodenehrlich158 Hierzu vergleiche allerdings die kritischen Ausführungen von Esser, § 138 BGB und die Bankpraxis der Globalzession, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht 135 (1971), 320 ff., jetzt auch ders., Wege der Rechtsgewinnung (herausgegeben von Häberle und Leser), 1990, S. 65 ff., 79 f. 159 Vergleiche Fußnote 121 auf S. 79. 160 Mayer-Maly, Renaissance der laesio enormis?, Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, 1983, S.395 ff., S. 404 entlarvt die Formulierungen des BGH als verschleierte Fiktionen. 161 Wilburg, Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346 ff., S. 379.

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

keif' 162 ist es, daß keine Klarheit über die genaue methodische Bedeutung solcher richterlicher Vermutungen besteht. Die Formulierungen sind in dieser Frage sehr vielfältig, ohne erkennbar in der Sache zu differenzieren. Sie reichen von„hindeutef ' 1 6 3 , über „Wahrscheinlichkeit... weniger naheliegend"164, „kann der Tatrichter in der Regel davon ausgehen"165, „tatsächliche Vermutung^'166 bis zu „Fiktion" 1 6 7 , „zwingend naheliegen"168 und „unwiderleglich zu vermuten" 169. Derartige Unklarheit ist nicht nur unredlich, sondern verwischt auch die Grenzen materieller, richterlicher Gesetzesbindung. Hier ist zu klären, ob es sich tatsächlich um „bewegliche" Grade der Handhabung handelt und ob sich diese Formulierungen systematisieren lassen. Dabei drängt es sich geradezu auf, ein „bewegliches System" prozessualer Handhabung von Tatbestandsmerkmalen zu entwickeln. Deshalb muß die Gerichtspraxis der Beweiserleichterungen in eine Theorie der komparativen Systeme integriert werden. 170 Gleichzeitig müßte die Beweglichkeit" von Voraussetzungen materieller und prozessualer Art an dieselben (strengen) Maßstäbe des Methodenrechts gebunden werden. Dazu gehört es auch, materielle und prozessale Beweglichkeit" in gleicher Weise der (höchst)richterlichen Überprüfung zu unterwerfen. Geeignetes Instrument der Rechtsvereinheitlichung wäre hierbei schon § 550 ZPO (gegebenenfalls i. V. m. § 137 VwGO) bzw. § 337 Abs. 2 StPO, die es erlauben, sowohl prozessuale als auch materielle „Beweglichkeit" als Rechtsfragen 171 an den methodenrechtlichen Maßstäben als revisiblem Recht zu messen. Eine Theorie, die beide Formen der Beweglichkeit" integriert, kann und muß so zur Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit von Entscheidungen beitragen. 162

Mayer-Maly in Münchener Kommentar zum BGB, 3. Auflage, 1993, zu § 138 BGB, Randzeichen 102 mahnt dies gerade im Hinblick auf die Rechtsprechung zu § 138 Abs. 1 BGB an. 163 BGHZ 80, 153, 161 = N J W 1981, 1206, 1207. 164 BGHZ 10, 228,233 = NJW 1953, 1665. 165 BGHZ 80, 153, 170 = NJW 1981, 1206, 1209. 166 BGH NJW 1994, 1275. 167 Mayer-Maly in Münchener Kommentar zum BGB, 3. Auflage, 1993, zu § 138 BGB, Randzeichen 102 Fußnote 321. 168 BGH W M 1969, 1255, 1257; vergleiche auch RGZ 150, 1, 6. 169 OLG Stuttgart NJW 1979, 2409, 2410. Mayer-Maly in Münchener Kommentar zum BGB, 3. Auflage, 1993, zu § 138 BGB, Randzeichen 102 Fußnote 321 hat hingegen eine widerlegliche Vermutung (Beweislastumkehr) herausgearbeitet. 170 Hierzu ausfuhrlich unter F III 1 a („Die komparative Bestimmung von Beweislast und Beweismaß"), S. 188 ff. 171 Offen bleiben kann hier die Frage, ob die Unterscheidung zwischen Tat- und Rechtsfragen überhaupt möglich und außerdem sinnvoll ist (Hierzu vergleiche Walchshöfer in Münchener Kommentar, 1992, zu § 550 ZPO Randzeichen 2 ff. m. w. N.). Denn die Frage, ob und inwieweit Beweis über eine Tatbestandsvoraussetzung zu erheben ist, gehört jedenfalls zu den Rechtsfragen.

II. Methodenrechtliche Schranken für „bewegliche Systeme"

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Tatsächlich wird eine Annäherung der bestrittenen „materiellen Beweglichkeit" an die praktizierte „prozessuale Beweglichkeit44 der richtige Weg sein, auf dem die Methodenlehre den Gerichten entgegenkommen muß. Hierbei ist es ein gutes Zeichen, daß selbst der BGH im Zusammenhang mit § 138 Abs. 1 BGB bisweilen „bewegliche" Argumentationsstrukturen benutzt. Mayer-Maly hat dies nachgewiesen.172 Er zitiert dabei folgende Urteilspassage aus der Rechtsprechung des BGH 173 : „Ist die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung Dritter weniger naheliegend, dann sind Beweggrund und Zweck des Vertrages für das Urteil, ob dieser mit dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht denkenden Menschen vereinbar ist, bedeutsamer." In diesem Beispiel ist die Verwebung der materiellen Beweglichkeit" mit der prozessualen Frage des Nachweises174 besonders deutlich, da der BGH hier mit Wahrscheinlichkeitsgraden175 „beweglich" argumentiert. Auch in dem Revisionsurteil zum Fall des OLG Stuttgart hat der BGH gefordert, „die gesamten sonstigen Geschäfisumstände (...) zusammenfassend zu würdigen." 176 Dabei erhalten die zu berücksichtigenden Gesichtspunkte durchaus unterschiedliches Gewicht, so wie es abweichend von der Idealform der „beweglichen Systeme" oben177 gefordert wurde: „ Besonderes Gewicht kommt dabei dem Verhältnis zwischen dem (...) Zins und (...) der Hauptleistung (...) zu" 1 7 8 . Die „bewegliche" Argumentationsstruktur einschließlich der Gewichtung der Elemente ist nach dieser Rechtsprechung mehr als eine nur zulässige, mögliche Auslegung, sondern verbindliches Recht: ,ßei der gebotenen Berücksichtigung aller den Vertrag kennzeichnenden Umstände kommt es wesentlich auf (...) an, nicht so sehr auf..." 1 7 9 Soweit hier tatsächlich die Berücksichtigung aller konkreten Einzelfallumstände vorgesehen ist, soweit diese Gesichtspunkte also nicht bereits abstrakt vorgegeben sind, handelt es sich hier sogar um ein „offenes" und „bewegliches" System. Sosehr diese Methode des BGH auf Einzelfallgerechtigkeit 172

Mayer-Maly in Münchener Kommentar zum BGB, 3. Auflage, 1993, zu § 138 BGB, Randzeichen 23. 173 BGHZ 10, 228, 233 = NJW 1953, 1665. (Hervorhebungen nicht im Original). 174 Vergleiche hierzu auch die Bemerkungen zur Fiktion und Beweislastumkehr von Mayer-Maly in Münchener Kommentar zum BGB, 3. Auflage, 1993, zu § 138 BGB, Randzeichen 102 Fußnote 321. 175 Zum Wahrscheinlichkeitsbegriff und der Unterscheidung verschiedener Wahrscheinlichkeitsgrade vergleiche Hoyningen-Huene, Boemke, Beweisfragen bei Berufsfortkommensschaden NJW 1994, 1757, 1758 sowie Neil, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 1983, S. 121 ff. 176 BGHZ 80, 153, 161 = NJW 1981, 1206, 1207 unter II. 1. (Hervorhebungen nicht im Original). 177 Vergleiche oben D I 1 a („Ranggleichheit der „beweglichen" Elemente"), S. 52 ff. 178 BGHZ 80, 153, 161 = NJW 1981, 1206, 1207 unter II. 1. a. E. (Hervorhebung nicht im Original). 179 BGHZ 80, 153, 165 f. = NJW 1981, 1206, 1208 unter III. 1. (Hervorhebungen nicht im Original).

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

ausgerichtet ist, finden sich in dem Urteil auch Bemühungen, soweit wie möglich „einen generalisierenden Maßstab anzulegen"180. Auch werden Konkretisierungen mit Formulierungen wie „in der Regel"181 und „insbesondere"182 angestrebt. Wie sich daraus ergibt, hat die Rechtsprechung erkannt, daß die Möglichkeit beschränkt ist, Generalklauseln durch unbewegliche", ungeschriebene Merkmale zu konkretisieren, wozu auch die Bildung von und Einordnung unter Fallgruppen zählt. Denn auch eine Fallgruppenbildung als Alternative zu „beweglichen" Elementen kann jedenfalls nicht immer zu überzeugenden Ergebnissen führen. 183 Dabei ist darauf hinzuweisen, daß sich „bewegliche Systeme" und Fallgruppen ideal ergänzen können und nicht als unversöhnliche Methoden gegeneinander abgewogen werden müssen. So wie der Gesetzgeber die Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe möglichst durch „Insbesondere"-Regelungen ergänzt und konkretisiert, so können Fallgruppen bei der weiterenrichterlichen Konkretisierung die „beweglichen" Elemente und ihre Abwägung184 in typischen Fällen ergänzen und konkretisieren.

III. Die Topikdiskussion seit Viehweg - Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich zu den „beweglichen Systemen" In der Reihe der Anknüpfungspunkte dieser Arbeit ist nach den „beweglichen Systemen" auch die Topikdiskussion kurz zu erörtern, vor allem um die Theorie der komparativen Systeme klar und unmißverständlich von ihr abzugrenzen. Das ist schon deshalb notwendig, da bereits die Theorie Wilburgs oft genug mit der Topik vermengt wurde. 185 Dabei können m. E. gerade die Bedenken gegen die Topik keineswegs gegen die Wilburgs vorgebracht werden, sondern bestätigen vielmehr die Notwendigkeit und Chance komparativer Systeme. Theodor Viehweg definiert seine Topiklehre als „die Techne des Problemdenkens"186. Er will mit seiner Theorie die riesige Lücke füllen, die zwischen 180

BGHZ 80, 153,168 = NJW 1981,1206,1209 unter III. 3. BGHZ 80, 153, 170 = NJW 1981,1206,1209 unter III. 4.b). 182 Ebenda unter IV. 183 Mayer-Maly in Münchener Kommentar zum BGB, 3. Auflage, 1993, zu § 138 BGB, Randzeichen 23 für den Fall des § 138 Abs. 1 BGB. Die dogmatischen Einzelheiten sollen hier nicht interessieren. 184 Zur Konkretisierung des Begriffs der guten Sitten ,4m Wege einer Abwägung' vergleiche Hausmann, Nichteheliche Lebensgemeinschaft und Vermögensausgleich, 1989, S. 62. 185 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Auflage 1974, S. 105 ff. Zur Gegenansicht siehe die Nachweise in den Fußnoten 193 auf S. 94 und 197 auf S. 95, weitere Nachweise bei Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 16, Fußnote 6. 186 Viehweg, ebenda, S. 31. 181

III. Die Topikdiskussion seit Viehweg

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der begrenzten Möglichkeit der Subsumtions- bzw. Deduktionsschlüsse und den tatsächlich notwendigen (und gebräuchlichen) Methoden der Rechtswissenschaft klafft. Darin liegt die Gemeinsamkeit mit den ausgeführten Funktionen „beweglicher Systeme". Es ist ein wichtiges Anliegen der Methodenlehre und namentlich der Topik, nicht an der Grenze logischer Subsumtionsanalyse stehenzubleiben und die Methodik jenseits der Subsumtion nicht der Willkür zu überlassen. Vielmehr ist gerade der Fragenkreis um dierichterliche Wertung und Abwägung, um das Problemdenken bis hin zur Billigkeit 187 ein Thema für Theorie und Praxis. Ein wesentliches Verdienst der Topik liegt also in ihrer Fragestellung, in der Anregung einer Diskussion, der sich die Methodenlehre seither und bis heute stellen muß. Topik ist jedoch längst nicht (mehr) der einzige Ansatz, sondern nur eine Möglichkeit, eine Technik des Problemdenkens188. Was ist also das Besondere des topischen Problemdenkens? Topik ist ganz auf den Einzelfall zugeschnitten.189 Sie ist die Suche „nach dem jeweilig Gerechten" 190 . Sie verschreibt sich damit ganz der Individualisierungstendenz der Gerechtigkeit. Topik ist lebensnah, da sie dem Richter erlaubt, frei nach den fallerheblichen und fallentscheidenden Gesichtspunkten zu suchen. Sie zielt auf einen Konsens zwischen den Streitparteien, den der Richter weniger durch die Verwirklichung des staatlich verbindlichen Rechts herstellen, als vielmehr rhetorisch, d. h. durch Überzeugung im Gespräch erzielen soll. Die Legitimation dieser Methode liegt nicht in der Bindungskraft der Normen, sondern in der individuellen Akzeptanz der Entscheidungsgrundlagen durch den Gesprächspartner. 191 Der große Reiz dieser Lehre liegt auf der Hand. Wie bereits ausgeführt wurde, ist die Individualisierungstendenz des Rechts, die Einzelfallgerechtigkeit ein so hoher Wert, daß kein noch so schlüssiges System sie ersetzen könnte. Freilich darf ebensowenig die Individualisierung oder die Offenheit verabsolutiert werden. Die Unverbindlichkeit des topischen Verfahrens, das nur Anhaltspunkte geben will, 1 9 2 ist zugleich seine Schwäche. Erst die Verbindlichkeit macht das Recht vorhersehbar und „sicher" sowie Entscheidungen überprüfbar. Diese Erkenntnisse sind gewachsene Bestandteile unserer Rechtsordnung.

187

Hierzu vergleiche Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1988. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 139, weist zutreffend darauf hin, daß die Topiklehre das Feld des Problemdenkens nicht für sich allein beanspruchen kann. 189 Ebenda, S. 135 m. w. N. 190 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Auflage 1974, S. 93; Hervorhebung nicht im Original. 191 Ebenda, S. 42. 192 Ebenda, S. 31: „Die Topik will Winke geben . . . " 188

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

Es würde hier zu weit führen zu untersuchen, ob die Erzielung des Parteienkonsenses im topischen Rechtsgespräch praktikabel ist und ob dies dem Wesen der Streitentscheidung durch rechts(!)-staatliche(!) Gerichte gerecht wird. Hier reicht der Hinweis, daß unsere Rechtsordnung auf die Verbindlichkeit genereller Normen angelegt ist und somit in ihrem Wesen keine topische Freiheit duldet. Soweit unser Recht solche Verbindlichkeit erreichen kann, ist die Topik als Alternative ausgeschlossen. Das gilt im gesamten Rahmen der Bindung an Gesetz und Recht. Jede Methode, die ein „mehi" an Verbindlichkeit leisten kann, muß der Topik vorgehen. Das gilt namentlich auch für eine Theorie der hier erörterten „beweglichen Systeme", die darauf baut, daß wenigstens die rechtlich relevanten Gesichtspunkte allgemein verbindlich festgelegt werden. Der hiermit angestrebte Kompromiß zwischen Individualisierung und Generalisierung der Gerechtigkeit wird dem Spannungsfeld des Gerechtigkeitskonzeptes unserer Rechtsordnung in besonderer Weise gerecht.193 Dabei gilt für eine Methode der „beweglichen Systeme" ebenfalls, daß sie sich nicht über starre Bindungen hinwegsetzen darf und gegenüber der Subsumtion unter Normen subsidiär gilt. Sofern auch „bewegliche Systeme" in einer Frage nicht zu überzeugenden Ergebnissen führen, mag ein Restbereich verbleiben, in dem die Topik eine Bedeutung behält. Denn gegenüber der reinen Willkür vermag sie wenigstens die Streitbeilegung zu rationalisieren. 194 Dabei könnte zwischen „beweglichen Systemen" und der Topik die Grenze zwischen Recht und Billigkeit verlaufen. Unproblematisch kann der Richter im Bereich der Billigkeit 195 , in dem er an Recht nicht mehr gebunden ist, eine topische, rhetorische Streitbeilegung versuchen. Rechtliche Streitentscheidung hingegen ist an Normen gebunden, die nicht zu bloßen topoi entkräftet werden dürfen. Die Bindungswirkung des staatlich verbindlichen Rechts ist nicht in das Belieben des rhetorischen Konsenses gestellt.196 Insofern ist die Topik am besten Jenseits" des Rechtsbegriffs anzusiedeln. Deshalb ist es

193

Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff., S. 284 f.: „Diesem Ziel der Rechtsgewißheit weiß sich die Lehre vom beweglichen System verpflichtet, indem sie gegenüber undisziplinierter topischer Argumentation auf der Notwendigkeit beharrt, die für einen Rechtsbereich relevanten Abwägungsgesichtspunkte möglichst abschließend anzugeben und sie klar und satzförmig zu formulieren." 194 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Auflage 1991, S. 43. 195 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 150 f. Zur Billigkeit vergleiche auch Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1988. 196 Ebenda, S. 142: „ . . . die Prämissen werden für den Juristen grundsätzlich durch das objektive Recht, insbesondere durch das Gesetz festgelegt und sind einer 4 Legitimation' durch den 'Gesprächspartner' (welchen?!) weder fähig noch bedürftig."

IV. Die Lehre von den Rechtsprinzipien von Esser bis Alexy

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wichtig, den rechtlichen Festlegungsgehalt „beweglicher Systeme" von der Methode der Topik klar zu unterscheiden.197

IV. Die Lehre von den Rechtsprinzipien von Esser bis Alexy Zur Bestandsaufnahme einer Theorie der komparativen Systeme muß auch die Lehre von den Rechtsprinzipien, insbesondere die Schriften von Esser198 und Alexy 199 gehören. Diese Lehre hat mit den „beweglichen Systemen" frappierende Gemeinsamkeiten. Sie ist geradezu deren „Zwillingsbruder" 200. So wurden Rechtsprinzipien und „bewegliche Systeme" bisweilen201 verwandt betrachtet. Die Ideen von Esser und Wilburg könnten als Bausteine derselben methodischen Struktur begriffen werden. Dies setzt allerdings die Fortentwicklung beider(!) Lehren voraus.202 197 Hierzu vergleiche auch Otte, Zwanzig Jahre Topik-Diskussion: Ertrag und Aufgaben, in Rechtstheorie Band 1 (1970), S. 183 ff., S. 196. 198 Esser, Grundsatz und Norm, 4. Auflage 1990, S. 87 ff. 199 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in: Krawietz u.a. (Hrsg.): Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Beiheft 1 (zur Zeitschrift fur) Rechtstheorie (1979), S. 59 ff. ders., Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, Beiheft 25 (1985) zu ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), S. 13 ff. 200 Die Entwicklung beider Lehren verlief parallel, so daß man hier nicht eine von ihnen als bloße Wiederentdeckung der anderen bezeichnen könnte, zumal die Lehre der „beweglichen Systeme" erst allmählich von Österreich nach Deutschland getragen wurde, während sich die Diskussion um Rechtsprinzipien in Deutschland und im angloamerikanischen Rechtskreis entzündete. 201 Lediglich Otte, Zwanzig Jahre Topik-Diskussion: Ertrag und Aufgaben, in Rechtstheorie Band 1 (1970), S. 183 ff. ist es gelungen, den großen Bogen der strukturellen Gemeinsamkeiten von Rechtsprinzipien (Esser), Topik (Viehweg) und „beweglichen Systemen" (Wilburg) zu schlagen. Zustimmung hat dies etwa bei Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 323 erfahren. Die Parallele zu den Prinzipien zieht auch Hill, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL Heft 47 (1989), S. 172 ff, S. 181 sowie Larenz, Grundformen wertorientierten Denkens in der Jurisprudenz, in Festschrift für Wilburg zum 70. Geburtstag, 1975, S. 217, 222. Kritisch zu der Parallele äußert sich Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 19 f. Hierzu siehe auch unten Fußnote 249 auf S. 105. Dabei geht er jedoch nicht auf die hier genannten Autoren ein, sondern zitiert vorwiegend Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, Beiheft 25 (1985) zu ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), S. 13 ff. Hierzu sogleich ausfuhrlich. 202 Esser selbst hat gegen Wilburgs ursprüngliche Idee eines „beweglichen Systems" im Schuldrecht noch (mit gutem Grund!) äußerst distanziert und skeptisch Stellung bezogen: Vergleiche die Rezensionen von Esser, AcP 151, S. 555 ff. und RabelsZ 18 (1953), S. 165 ff.

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

Die ursprüngliche Intention von Esser203 in Deutschland und Dworkin 204 in Amerika war die Überwindung des Gesetzespositivismus. Die Existenz von Rechtsprinzipien ist längst anerkannt.205 Weniger ist freilich bislang die konkrete Formulierung einzelner Rechtsprinzipien fortgeschritten. 206 Im Vordergrund soll hier jedoch die Frage stehen, wie Rechtsprinzipien methodisch zu handhaben sind. Was das Wesen des Rechtsprinzips (im Gegensatz zur Regel) ist, läßt sich am besten daran erklären, wie mit Rechtsprinzipien einerseits und Regeln andererseits umgegangen wird. Alexy 207 hat drei mögliche Antworten auf diese Frage herausgearbeitet: Entweder Rechtsprinzip und Regel sind einander so ähnlich, daß man eine Unterscheidung gar nicht treffen kann (Ähnlichkeitsthese). Oder es besteht ein klar abgrenzbarer, wesentlicher, grundsätzlicher und qualitativer Unterschied (starke Trennungsthese)208. Schließlich ist es auch denkbar, daß sich (nur) graduelle Unterscheidungskriterien finden lassen (schwache Trennungsthese). Dabei kommen vor allem drei Unterscheidungskriterien zwischen Regel und Prinzip in Betracht: 1. Kollisionsfähigkeit (Abwägbarkeit) der Rechtsprinzipien Dworkin 209 hat in der Durchbrechung des „AHes-oder-nichts-Grundsatzes" das typische Unterscheidungsmerkmal des Rechtsprinzips gesehen. Regeln enthalten eine klare Rechtsfolge, die nur eintreten („alles") oder nicht eintreten (,nichts") kann. In einem System von Regeln (und Ausnahmen210 ) kann man immer zwingend feststellen, ob eine Rechtsfolge eintritt oder nicht. Hingegen lassen Prinzipien einen solchen zwingenden Schluß auf den Eintritt oder Nicht203

Esser, Grundsatz und Norm, 4. Auflage 1990, S. 4 und öfter. Dworkin, Bürgerrechte emstgenommen (Taking Rights Seriously, 1977, übersetzt von Ursula Wolf), 1984, S. 46 ff., 54 ff., 130 ff. 205 Vergleiche für alle Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 421 ff., 474 ff. Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff., S. 277. 207 Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, Beiheft 25 (1985) zu ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), S. 13 ff., S. 14 f. 208 So etwa Esser, Grundsatz und Norm, 4. Auflage 1990, S. 95 und Dworkin, Bürgerrechte emstgenommen (Taking Rights Seriously, 1977 aus dem Englischen übersetzt von Ursula Wolf), 1984, S. 58 f. sowie mit anderer Begründung Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, Beiheft 25 (1985) zu ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), S. 13 ff., S. 15. 209 Dworkin, Bürgerrechte emstgenommen (Taking Rights Seriously, 1977 aus dem Englischen übersetzt von Ursula Wolf), 1984, S. 58. 2,0 Vergleiche Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 385. 204

IV. Die Lehre von den Rechtsprinzipien von Esser bis Alexy

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eintritt einer Rechtsfolge nicht zu. Alexy hält dieses Unterscheidungskriterium fur unbrauchbar, da auch die Ausnahmen von Regeln nie abschließend aufzählbar seien.211 Mit Alexys Einwand ist jedenfalls nachgewiesen, daß es kein geschlossenes Regelsystem gibt. Dennoch ist die Eindeutigkeit, mit der Regeln ihre Rechtsfolgen bestimmen, eine ihrer wesentlichen Eigenschaften. Sie ist ihre Stärke, soweit sich Regeln und Ausnahmen tatsächlich systematisch ergänzen. Sie ist ihre Schwäche, sobald man an die Grenzen des „Systematischen" stößt.

Tatsächlich hat Alexy ein Unterscheidungskriterium vorgeschlagen, das den Vorzug hat, nicht an den letztlich uneinlösbaren Rechtssicherheitsanspruch der Regeln anzuknüpfen. Dieses Kriterium fragt nämlich nicht nach dem Aussagewert der einzelnen Regeln bzw. der einzelnen Rechtsprinzipien, sondern nach deren Verhältnis zueinander. Der eindeutige Festlegungsgehalt einer Regel führt dazu, daß zwei kollidierende Regeln in einem Widerspruchsverhältnis zueinander stehen. Eine der Regeln muß mit ihrer Rechtsfolge zurücktreten, weil die andere Regel eine Ausnahme darstellt oder sogar ihre Anwendung aufgrund eines Vorrangverhältnisses ausschließt. Von zwei einander widersprechenden Regeln muß stets eine ganz zurückweichen, in dem sie entweder im Einzelfall unanwendbar oder generell nichtig ist und damit gar nicht existiert. Über derartige Regelkonflikte entscheiden abstrakte Vorrangverhältnisse. Demgegenüber ist der Konflikt zweier widerstreitender 212 Rechtsprinzipien nicht durch ein abstraktes Vorrangverhältnis213 zu lösen, sondern stellt sich als ein Spannungsverhältnis dar, das durch Abwägung zu lösen ist. Alexy bezeichnet dieses Unterscheidungsmerkmal als „Kollisionstheorem"214. Die Parallele zu den Abwägungen des Verfassungsrechts 215, die Alexy 216 geradezu als Prototypen seiner Lehre von den Rechtsprinzipien im Auge hat, ist aufschlußreich. Insbesondere die Grundrechtsabwägungen sind Schulbeispiele217 der hier gemeinten Argumentationsstruktur. Die klare Unterscheidung verschiedener Arten des Norm- und Anwendungskonfliktes bzw. „Widerspruchs" sind

211 Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, Beiheft 25 (1985) zu ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), S. 13 ff., S. 16. 212 Am besten sollte man das Wort „widersprechen" nur bei Regelkonflikten, „widerstreiten" hingegen bei Prinzipienkonflikten verwenden. 213 Vergleiche BVerfGE 51, 324 (346). 2,4 Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, Beiheft 25 (1985) zu ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), S. 13 ff., S. 17. 215 Hierzu noch ausführlich unter F II 1 c. 216 Hierzu bereits Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in Krawietz u. a. (Hrsg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Beiheft 1 (zur Zeitschrift für) Rechtstheorie (1979), S. 59 ff., S. 82 ff. 217 Ebenda findet sich eine Analyse des Lebach-Urteils BVerfGE 35, 202.

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Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

gerade den Verfassungsrechtlern ein dringendes Bedürfnis. 218 An die Stelle des „Widerspruchs" zweier Regeln tritt im Verfassungsrecht geradezu typischerweise das „Widerstreiten" zweier Rechtsprinzipien. An die Stelle des abstrakten Vorrangverhältnisses zwischen Regeln tritt das konkrete, d. h. im Einzelfall zu ermittelnde Spannungsverhältnis zwischen Rechtsprinzipien. Damit ist auch bereits die erste Parallele zu „beweglichen Systemen" gefunden: Wie diese erfordern auch Rechtsprinzipien eine einzelfallbezogene Abwägung, sobald sie miteinander kollidieren. Das Verhältnis der Rechtsprinzipien untereinander ist dem der „beweglichen" Elemente innerhalb eines „beweglichen Systems" insofern vergleichbar. Die Spannungslage zwischen Rechtsprinzipien ist genauso zu lösen wie der „bewegliche" Ausgleich zwischen zwei einander entgegengesetzten Gesichtspunkten: Je stärker ein Rechtsprinzip im konkreten Fall Geltung beansprucht, desto eher bzw. desto mehr treten andere Rechtsprinzipien gegebenenfalls zurück. Dies führt unmittelbar zu dem zweiten Unterscheidungskriterium zwischen Rechtsprinzipien und Regeln:

2. Graduelle Wertigkeit der Rechtsprinzipien („dimension of weight") Bei der Kollision zweier Prinzipien muß ebenso wie bei der Kollision zweier widersprechender Regeln entschieden werden, welche Norm den Ausschlag gibt. Während zwischen zwei Regeln ein abstraktes Vorrangverhältnis existiert, ist bei der Abwägung zweier Rechtsprinzipien deren Wertigkeit zu gewichten. Das erfolgt in zwei Schritten: a) Zunächst kommt jedem Rechtsprinzip ein einzelfallunabhängiges, abstraktes Gewicht zu. Dieses hängt davon ab, „welchei" Wert betroffen ist. Doch selbst wenn ein Prinzip mit „besonderem" Gewicht zur Abwägung steht, ist damit noch nicht dessen Vorrang prädestiniert, sondern allenfalls indiziert. b) Hinzu kommt nämlich das fallbezogene, konkrete Gewicht. Dies ist die Intensität oder der Grad, mit der ein Rechtsprinzip tatsächlich im Einzelfall berührt ist. Denn Rechtsprinzipien können graduell mehr oder weniger intensiv betroffen sein. Es ist deshalb stets zu fragen, „inwieweit" ein Rechtsprinzip konkret betroffen ist.

218

Vogel hat auf verschiedene „Widerspruchsdimensionen" im Zusammenhang mit der geforderten Widerspruchsfreiheit des Rechts hingewiesen, VVDStRL 50,337 (Zwischenruf): „Wenn wir von Widerspruchsfreiheit sprechen, sollten wir endlich klar unterscheiden zwischen Gebotswidersprüchen und Wertungswidersprüchen."

IV. Die Lehre von den Rechtsprinzipien von Esser bis Alexy

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Auch die graduelle Wertigkeit ist gleichzeitig ein Wesensmerkmal der „beweglichen Systeme"219. Otte hat diese Parallele aufgezeigt 220 und dabei an Alexy 221 Kritik geübt, der eine anderen Weg beschreitet. Ich möchte hier Alexys Ansatz gerade deshalb besprechen, weil er (noch) nicht mit der Struktur der „beweglichen Systeme" argumentiert. Denn seine Überlegungen können den Blick auf die „Beweglichkeit" erweitern und schärfen. Gerade für den Zusammenhang zwischen „beweglichen Systemen" und der Lehre von den Rechtsprinzipien ist es wertvoll, Alexys Anknüpfungen an die Philosophie und an das öffentliche Recht zu integrieren: 3. Rechtsprinzipien als Optimierungsgebote a) Die Kategorie des „idealen Sollens"

In Anlehnung an Moore, v. Wright und Scheler hat Alexy 222 die Kategorien des Jdealen bzw. realen Sollend in die Diskussion eingeführt. Hierzu führt er aus: „Ein ideales Sollen ist jedes Sollen, das nicht voraussetzt, daß das, was gesollt ist, in vollem Umfang tatsächlich und rechtlich möglich ist, das dafür aber möglichst weitgehende oder approximative Erfüllung verlangt. Demgegenüber kann der Gebotscharakter von Vorschriften, die entweder nur erfüllt oder nicht erfüllt werden können, als 'reales Sollen' gekennzeichnet werden." 223 Fraglich ist, ob eine solche Kategorie des „idealen Sollens" in der Rechtsordnung denkbar und sinnvoll ist. Tatsächlich ist es problematisch, letztlich Unmögliches zu fordern, zur Norm zu machen, zu einem rechtlichen Sollen zu erheben. Otte möchte deshalb ganz auf diese Begriffe verzichten: „Ein rechtliches Sollen, welches über das rechtlich und tatsächlich Mögliche hinausgeht, gibt keinen Sinn."224 Aber man darf damit nicht gleich alle Größen oder Rechtsprinzipien verabschieden, denen man sich nur annähern kann, die dabei nicht vollkommen eingelöst werden können. Nicht nur die Gerechtigkeit selbst ist ein „Ideal", das wir nie ganz erreichen können und trotzdem rechtlich fordern müssen. Auch unsere Grundrechte liefern Beispiele dafür, daß Normen einen Sinn auch dann ha2,9

Siehe oben D I 1 („Eigenschaften, Wesensmerkmale der „beweglichen Systeme"). Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff., S. 278 f. Vergleiche auch oben Fußnote 201 auf S. 95. 221 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in Krawietz u. a. (Hrsg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Beiheft 1 (zur Zeitschrift für) Rechtstheorie (1979), S. 59 ff., S. 80 f. 222 Ebenda m. w. N. 223 Ebenda S. 81. 224 Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff., S. 279. 220

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D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

ben, wenn sie nicht absolut, nicht vorbehaltlos gelten. Jedes der Grundrechte ist idealiter „gesollt?4, ohne daß das Gesollte vorbehaltlos „tatsächlich und rechtlich möglich ist". Mehr noch sind gesetzliche Ziel Vorschriften 225 - insbesondere Staatszielbestimmungen226 - derartige Rechtsprinzipien. Alexy charakterisiert das „ideale Sollen" von Rechtsprinzipien damit, daß diese „ Optimierungsgebote enthalten"227. Das bedeutet, daß ihre Geltung durch den Rahmen der Verhältnismäßigkeit 228 , d. h. auch den Rahmen des Möglichen beschränkt wird. Für die Grundrechtskollision sei hier auf die Idee der praktischen Konkordanz verwiesen.229 So verstanden ist Alexys Ansatz sehr wohl sinnvoll, wenngleich der Begriff des „idealen Sollens" leicht mißverstanden werden kann, worauf Alexy selbst hingewiesen hat. 230 Vor allem der Hinweis auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip führt weiter, weil dadurch eine rechtliche Kategorie eingeführt ist, die den Geltungsspielraum von Prinzipien zu lenken vermag. Vielleicht ist es unglücklich, ein „ideales Sollen" durch die Verhältnismäßigkeit einzuschränken, anstatt allein das Mögliche und letztlich Verhältnismäßige als überhaupt rechtlich gesollt zu bezeichnen. Auch ist Ottes Einwand zuzustimmen als Warnung, „bloße" Zielbestimmungen, gar uneinlösliche Grundrechte (Stichwort: Recht auf Arbeit und Wohnung) in das Recht aufzunehmen und damit dessen Geltungsanspruch überzustrapazieren. Tatsächlich muß die Rechtswissenschaft, soweit es irgend möglich ist, das „reale Sollen" bestimmen. Ein möglichst großer Festlegungsgehalt der Regeln ist stets anzustreben. Aber dort, wo man auf Einzelfallabwägungen und Rechtsprinzipien angewiesen ist, wird rechtliches Sollen, werden Normen nicht sinnlos. b) Die Möglichkeit der Über- und Untererfüllung von Rechtsprinzipien

Alexy setzt voraus, daß Regeln, d. h. Gebote des „realen Sollens" nur erfüllbar bzw. nicht erfüllbar, nicht hingegen über- bzw. untererfüllbar seien.231 Otte 225

Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in Krawietz u. a. (Hrsg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Beiheft 1 (zur Zeitschrift für) Rechtstheorie (1979), S. 59 ff., S. 80 führt das Beispiel des § 1 des Stabilitätsgesetzes an. 226 Hierzu Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot: Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989,154 These 4 im Text S. 39-44. 227 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in Krawietz u. a. (Hrsg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Beiheft 1 (zur Zeitschrift für) Rechtstheorie (1979), S. 59 f f , S. 80. 228 Vergleiche ebenda m. w. N. 229 Hierzu noch ausführlich S. 138. 230 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in Krawietz u. a. (Hrsg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Beiheft 1 (zur Zeitschrift für) Rechtstheorie (1979), S. 59 ff., S. 81. 231 Vergleiche oben das Zitat vor Fußnote 223 auf S. 99.

IV. Die Lehre von den Rechtsprinzipien von Esser bis Alexy

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weist auch dies zurück: „Übererfüllbarkeit als solche ist... kein Kriterium für das Vorliegen eines Rechtsprinzips."232 Die graduelle Über- bzw. Untererfullèarfezï ist für sich tatsächlich noch kein hinreichendes Unterscheidungskriterium. Denn auch viele Regeln, d. h. klassifikatorische Normen mit einer starren Rechtsfolgenanordnung könnten gegebenenfalls über- oder untererfüllt werden.233 Insofern ist Alexys Charakterisierung des „realen Sollens", die darauf abstellt, daß Regeln „erfüllt oder nicht erfüllt werden können" 234 zu präzisieren. Entscheidend für die Rechtsprinzipien ist nämlich vielmehr, daß für sie nicht lediglich ein Schwellenwert rechtlicher Relevanz gilt, sondern der Grad ihrer Erfüllung „schwellenlos" in der Abwägung berücksichtigt werden muß. Auch dieses Unterscheidungskriterium für Rechtsprinzipien kennen wir als Wesensmerkmal der „beweglichen Systeme": Für die „beweglichen" Elemente habe ich eine doppelte „ B e w e g l i c h k e i t " gefordert 235, d. h. eine graduelle Erfiillbarkeit und die graduelle Berücksichtigung der Gesichtspunkte. Insofern ist Otte zuzustimmen, da er Rechtsprinzipien als komparative Sätze nach eben diesem Muster („Je mehr-desto mehr/desto ehei") charakterisiert. 236 Dennoch sollte man Alexys Anknüpfung an die graduelle Unter- bzw. Übererfüllung nicht aufgeben, sondern im Sinne der „doppelten Beweglichkeit" ergänzen. Alexy hat Recht, daß Regeln ihrer eventuellen Unter- bzw. Übererfüllung selbst keine Bedeutung beimessen. Das heißt freilich nicht, daß die Über- bzw. Untererfüllung von Regeln überhaupt keine rechtliche Bedeutung haben kann. Otte hat hierfür das Beispiel der teilweisen Erfüllung einer Schuld angeführt. 237 Aber diese rechtliche Bedeutung richtet sich nicht nach der Regel, die die Erfüllung gebietet. Ist etwa der Schuldner zu einer Geldzahlung nach § 433 Abs. 2 BGB verpflichtet, so kann der Gläubiger die Teilleistung nach § 266 BGB zurückweisen. Nimmt er sie an, sorichtet sich die rechtliche Bedeutung dieser Teilleistung nach § 363 BGB 238 . § 433 Abs. 2 BGB selbst sagt nichts über den Fall der Untererfüllung. Leistet der Schuldner zuviel, richten sich die Rechtsfolgen nach Bereicherungsrecht. Dasselbe gilt für Ottes Beispiele der Übererfüllung einer Gattungsschuld: Ob der Schuldner zu gut oder zu früh leistet, spielt für seine Leistungsverpflichtung selbst keine Rolle. In diesen Fällen wird in der Regel soOtte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff., S. 279. 233 Ebenda S. 278. 234 Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in Krawietz u.a. (Hrsg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Beiheft 1 (zur Zeitschrift für) Rechtstheorie (1979), S. 59 ff., S. 81 (Hervorhebung nicht im Original). 235 Siehe oben D I 1 („Eigenschaften, Wesensmerkmale der „beweglichen Systeme"). Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff., S.279. 237 Ebenda S. 278 f. 238 Vergleiche Palandt-Heinrichs, 56. Auflage 1996 zu § 266 BGB Randzeichen 10.

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D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

gar keinerlei rechtliche Bedeutung daran geknüpft; der Schuldner kann solche Übererfüllung meist weder als Schenkung noch als ungerechtfertigte Bereicherung geltend machen.239 Für die Regeln gilt somit folgender Grundsatz: Untererfüllung ist Nichterfüllung, Übererfüllung ist Erfüllung. Eventuelle Bedeutung erlangt der Grad der Erfüllung von Regeln erst durch weitere Normen. Diese können einerseits Regeln sein, bei denen der Grad der Zuviel-/Zuwenig-Leistung nicht ein Tatbestandsmerkmal unter- bzw. übererfüllt, sondern schlicht der Gegenstand ihrer Anknüpfung ist. Die Höhe der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung einer Zuvielleistung („etwas") hängt sozusagen nicht von deren „Grad", sondern schlicht von der ,flöhe" des Betrags ab. Hier geht es nicht um eine graduelle Wertung, sondern um die rechtlich unproblematische Einsetzung eines meßbaren Betrags in den Tatbestand einer Norm, der sich unmittelbar in der Rechtsfolge niederschlägt.240 Es kann sich andererseits auch um Rechtsprinzipien handeln, die einer Über- bzw. Untererfüllung einer Regel rechtliche Bedeutung verleihen — in dem Beispiel (Zuviel-/Zuwenig-/Zu-gut-/Zu-schlecht-Leistung) ist vor allem an das Prinzip von Treu und Glauben in § 242 BGB zu denken. So verstanden ist auch Alexys Begriff des „idealen bzw. realen Sollens" ein geeignetes, ja wesentliches Unterscheidungsprinzip zwischen Rechtsprinzip und Regel: Die Regel normiert nur den Fall ihrer Erfüllung. Nur wenn ihre Voraussetzungen „real" vorliegen, dann tritt ihre(!) Rechtsfolge ein. Wenn eine Regel graduell erfüllbare Tatbestandsmerkmale enthält, dann ist der Grad der Erfüllung allein für die Bestimmung eines Schwellenwertes rechtlicher Relevanz/Irrelevanz entscheidend. Die Regel kann weder Unter- und Übererfüllung „beweglich" ausgleichen, noch selbst graduell sanktionieren. Das „Sollen" einer Regel bemißt sich allein an der Grenze der Erfüllung bzw. Nichterfüllung. Das Rechtsprinzip hingegen ist stets graduell erfüllbar und gibt dem Grad seiner Erfüllung im Einzelfall eine graduelle rechtliche Bedeutung. Da Rechtsprinzipien erst in der Abwägung mehr oder weniger Bedeutung entfalten, hat ihr „Sollen" einen „idealen" Charakter. 4. Harte oder weiche Trennung zwischen Regel und Rechtsprinzip? Weil zwischen Regel und Rechtsprinzip mehrere Wesensunterschiede bestehen, kann man diese Begriffe nicht einfach als ähnlich behandeln. Hingegen ist 239 Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff, S. 279. 240 Das hat nichts mit „beweglichen Systemen" zu tun. Hierzu vergleiche Otte, Komparative Sätze im Recht; Zur Logik eines beweglichen Systems in Jahrbuch für Soziologie und Rechtstheorie Band 2 (1972), S. 301 ff, 312 sowie Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 21.

IV. Die Lehre von den Rechtsprinzipien von Esser bis Alexy

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noch zu klären, ob mit diesen Kriterien eine harte, starke oder nur eine weiche, graduelle Trennung zwischen Regel und Rechtsprinzip gelingt: Die Kollisionsfähigkeit zweier Rechtsprinzipien unterscheidet sich vom abstrakten Vorrangverhältnis zwischen kollidierenden Regeln nicht nur graduell. So hat Alexy sein „Kollisionstheorem" auch als Bestätigung der starken Trennungsthese verstanden. Auch die Abwägbarkeit und Wertung von Gesichtspunkten kann nur möglich bzw. erlaubt oder nicht möglich bzw. verboten sein. Aber schon bei diesem Unterscheidungskriterium ist daran zu zweifeln, ob hier nicht das Subsumtionsmodell überfordert wird, wenn für Regeln jegliche Abwägung, Gewichtung und Wertung ausgeschlossen wird. Brauchen wir diese Methoden nicht wenigstens zur Konkretisierung von Regeln, ohne daß dabei jede Regel an der Grenze des Subsumtionsmodells schon zum Rechtsprinzip würde? Hier müssen zwei Dinge klargestellt werden: Erstens stehen Regeln und Rechtsprinzipien in unserer Rechtsordnung nicht berührungslos nebeneinander. Vielmehr gehört es zu den wesentlichen Funktionen der Rechtsprinzipien, bei der Konkretisierung (von Regeln) einzugreifen. Nicht nur an den „äußeren" tatbestandlichen Geltungsgrenzen von Regeln füllen Rechtsprinzipien Lücken. Auch bei den „inneren" Grenzen der Subsumtionsfahigkeit von Regeln entfalten Rechtsprinzipien ihre Wirkung. So kommt es zu einer komplexen Verflechtung von Regeln und Rechtsprinzipien. Das bedeutet freilich nicht, daß diese Verflechtung zu einer Verschmelzung wird, in der eine starke, harte Trennung nicht möglich ist. Zweitens ist es möglich, daß eine Norm regelhaften Charakter hat und gleichzeitig prinzipienhafte Bedeutung entfaltet, besser: daß ein geschriebener Rechtssatz sowohl eine Regel als auch ein Rechtsprinzip enthält.241 Es gibt Normen, die neben ihrer unmittelbaren Regelbedeutung eine Ausstrahlungswirkung haben. Das sind Regeln, deren „Rechtsgedanke" außerhalb ihres tatbestandlichen Anwendungsbereichs rechtliche Argumente liefert und prinzipienhafte Geltung erlangt. Das zitieren von Rechtsgedanken („arg ex") ist im Zivilrecht eine häufige, der Analogie verwandte Argumentationsfigur. Die starke Trennungsthese ist deshalb als methodische Unterscheidung zu begreifen: Die Bezeichnung einer Rechtsnorm als Regel oder als Rechtsprinzip schließt sich nicht aus. Die Handhabung einer Rechtsnorm als Regel einerseits und als Rechtsprinzip andererseits ist methodisch einer starken, harten Trennung zugänglich. Nicht hingegen lassen sich (insbesondere geschriebene) Rechtsnormen in starker, harter Weise in Regeln und Rechtsprinzipien trennen. Es gibt reine Regeln und reine Prinzipien, aber auch deren mehr oder weniger starke Ausprägung in ein und derselben Rechtsnorm.

241

Vergleiche hierzu F III 1, S. 188 f.

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D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

5. Normqualität von Rechtsprinzipien An dieser Stelle sei auch auf eine Eigenschaft von Rechtsprinzipien hingewiesen, die kein Unterscheidungskriterium, sondern eine Gemeinsamkeit mit Regeln darstellt: die Normqualität von Rechtsprinzipien. Auch wenn ihre Rechtsfolge erst durch eine Abwägung ermittelt werden muß, auch wenn sie sich nicht in jedem Fall in gleichem Maße durchsetzen, haben /tec/tfsprinzipien eine Bindungswirkung: Ihre Beachtung, d. h. die bewußte Durchführung einer Abwägung ist nämlich rechtlich geboten und nicht in das Belieben gestellt. Zur Frage der Verbindlichkeit von Methodennormen wurde oben zwischen absoluter und relativer Verbindlichkeit unterschieden.242 Danach besitzen Rechtsprinzipien relative Verbindlichkeit. Für diese Art der Bindung liefert das Verfassungsrecht geläufige Beispiele: Immer wieder mahnt das Bundesverfassungsgericht die Auseinandersetzung der Fachgerichte mit den Rechtsprinzipien des Verfassungsrechts an. 243 Selbstverständlich geht es hierbei nicht nur um die Begründung von Entscheidungen. Auch das Ergebnis von Entscheidungen muß der richtigen Abwägung von Rechtsprinzipien entsprechen.244 Für die Grundrechte ist die derartige Bindungswirkung in Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich normiert. 245 Alexy hat zutreffend daraufhingewiesen, daß die Bindungswirkung von Rechtsprinzipien schon damit nachgewiesen werden kann, daß sie zu einer bestimmten Argumentation zwingen.246 Die Bedeutung der juristischen Begründung von Entscheidungen ist nicht zu unterschätzen. Erst die Begründung macht ein Urteil rational nachvollziehbar. Das trägt sowohl zur rechtlichen Befriedung der Parteien als auch zur Nachprüfbarkeit und Revisibilität bei. Rechtsprinzipien sind Rechtsnormen. Sie sind mehr als mögliche rechtliche Gesichtspunkte, die der Richter nach reiner Billigkeit berücksichtigen darf. Nicht nur ihre Beachtung ist geboten, sondern auch ihre Optimierung 247, das heißt ihre 242 Siehe oben unter C I 2 („Die Methodenlehre als normative Wissenschaft? Gibt es Methodennormen? 4), S. 30 ff. 243 Ζ. B. BVerfG NJW 1994, 1339 unter II. 3.: Jedoch ist die Verfassungsbeschwerde deshalb offensichtlich^) begründet (§ 93b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG), weil das OLG sich nicht hinreichend mit dem Grundsatz der Schuldangemessenheit von Strafen und strafahnlichen Sanktionen auseinandergesetzt und den Bf. dadurch in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG verletzt hat." (Hervorhebungen nicht im Original). 244 Vergleiche etwa BVerfGE 35, 202, 219 (m. w. N.): „ . . . oder ob das Entscheidungsergebnis selbst ein solches Grundrecht verletzt." (Hervorhebungen nicht im Original). 245 Vergleiche hierzu BVerfGE 7, 189, 206. 246 Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, Beiheft 25 (1985) zu ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), S. 13 f f , S. 22. 247 Siehe oben Fußnote 227 auf S. 100. Das ist der Norm- und Gebotscharakter des „idealen Sollens".

IV. Die Lehre von den Rechtsprinzipien von Esser bis Alexy

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möglichst weite Verwirklichung bis an die jeweilige Grenze entgegenstehender Prinzipien und der Verhältnismäßigkeit.248 So können aus Rechtsprinzipien sogar Ansprüche abgeleitet werden.249

6. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Lehre von den Rechtsprinzipien und Wilburgs „beweglichen Systemen" Die Unterscheidung von Rechtsprinzipien und Regeln hat zahlreiche Parallelen zu der Unterscheidung „beweglicher Systeme" von „unbeweglichen" Normen gezeigt: Rechtsprinzipien sind wie „bewegliche" Elemente kollisionsfähig. Beide ermöglichen und erfordern eine Abwägung, die auf den Einzelfall bezogen ist und die graduell abweichende Intensität verschiedener Gesichtspunkte gewichtet. Auch die „doppelte Beweglichkeit" ist eine Parallele der „beweglichen Systeme" zu den Rechtsprinzipien. Die methodische starke Trennung von Regel und Rechtsprinzip läßt sich auch auf „bewegliche Systeme" übertragen: Denn auch „bewegliche" Elemente unterscheiden sich von „unbeweglichen" Tatbestandsmerkmalen durch die Methode ihrer jeweiligen Handhabung. Schließlich findet sich auch die Möglichkeit, die äußere Geltung und die Auslegung von Regeln durch Rechtsprinzipien zu ergänzen, bei den Funktionen „beweglicher Systeme" wieder (Normkonkretisierungs- und Rechtsfortbildungsfunktion). Und auch die Doppelbedeutung eines Rechtssatzes als Regel und Rechtsprinzip wurde für die „beweglichen Systeme" exemplarisch an § 138 Abs. 2 BGB vorgeführt 250. Auf die Normqualität „beweglicher Systeme" werde ich noch zu sprechen kommen. Deshalb sollen die beiden Lehren in dieser Arbeit parallel behandelt werden. Denn die methodischen Gemeinsamkeiten erlauben eine gemeinsame Theorie für beide Phänomene. Eine Theorie komparativer Systeme, die sich als Beitrag zur Methodenlehre versteht, kann und muß gleichzeitig Theorie der „beweglichen Systeme" und der Rechtsprinzipien sein. 248

Siehe oben Fußnote 230 auf S. 100. Man denke nur an die Grundrechte als Leistungsrechte. Dies erkennt auch Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 20. Aber er wehrt sich gegen diese Bedeutung von Rechtsprinzipien, wenn er auf S. 28 letztlich die Prinzipien als Gründe für Rechtsfolgen ablehnt und deshalb auch die Parallele zu den „beweglichen Systemen" nicht ziehen will. Vielleicht ist dies einer der Punkte, in denen die zivilrechtlich geprägte Methodenlehre sich dem öffentlichen Recht noch öffnen muß. Die übergreifende Theorie Essers, Grundsatz und Norm, 4. Auflage 1990 kann hier als klassisch gewordener gemeinsamer Anknüpfungspunkt helfen, Brücken zu schlagen. 250 Oben D I I 3 („Lösungsalternativen? § 138 Abs. 1 BGB als „bewegliches System"?'), S. 85 ff. 249

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D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

Dabei ist es zwar nicht unerheblich aber überwindlich, daß beide Lehren so unterschiedlichen Ursprung haben. Die Intentionen beider Lehren sind beinahe entgegengesetzt, was sich in Essers Rezensionen zu Wilburgs Schriften zeigt.251 Auch der Gegenstand und Bedeutungsrahmen beider Lehren kann ganz unterschiedlich aufgefaßt werden: Wilburg hat eine Gesetzgebungsalternative für einen dogmatischen Teilbereich unseres Rechts vorgeschlagen. Esser hat die bestehende und mögliche Bedeutung von Rechtsprinzipien in unserer gesamten Rechtsordnung und darüber hinaus in fallrechtlich geprägten Rechtsordnungen analysiert. Auch ist es möglich, etwa den Begriff des Rechtsprinzips auf besonders allgemeine und wichtige Rechtssätze zu beschränken.252 Aber diese Fragen sind nicht methodischer Natur. Es bleibt der Dogmatik und Praxis überlassen, das hier entworfene methodische Gerüst auf Phänomene zu übertragen, die unter den Begriffen „Rechtsprinzip" oder Beweglichkeit" bekannt wurden.

V. Der TypusbegrifF Die Lehre vom Typus geht auf eine Schrift von Carl Hempel und Paul Oppenheim aus dem Jahr 193 6 2 5 3 zurück. Diese grundlegende, nicht nur auf das Recht bezogene wissenschaftstheoretische Arbeit ist für die folgende Untersuchung von doppeltem Interesse: Erstens gelten diese Autoren (zu Recht) als „Entdecker des Komparativs für die wissenschaftliche Methodenlehre"254. Zweitens beruft sich die heutige juristische Typuslehre (zu Unrecht 255 ) auf diesen Ansatz, wenn sie ihre diversen Methoden als „komparative Begriffsbildung" charakterisiert 256. 251

Siehe oben Fußnote 202 auf S. 95. Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 f f , S. 279 Fußnote 17. 253 Hempel, Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neueren Logik, 1936. 254 Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Internationale Zeitschrift für die Theorie des Rechts, 12 (1938), S. 46 = ders, Gesamtausgabe (hrsgg. von Arthur Kaufmann), Band 3 Rechtsphilosophie I I I (bearb. von Winfried Hassemer), 1990, S. 60. Zustimmend Schilcher, Gesetzgebung und bewegliches System, in Bydlinski (Hrsg.), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 287 f f , S. 318 m. w. N. 255 So die berechtigte Kritik von Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977, S. 161, der den Anspruch und das Selbstverständnis der heutigen Typuslehre als „Fehlrezeption" nachgewiesen hat. 256 Hiergegen im Anschluß an Kuhlen auch Schilcher, Gesetzgebung und bewegliches System, in Bydlinski (Hrsg.), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 252

V. Der Typusbegriff

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1. Die Ursprünge der Typuslehre bei Hempel und Oppenheim Bei der Schrift Carl Hempels und Paul Oppenheims handelt es sich um eine „wissenschaftstheoretische Untersuchung zur Konstitutionsforschung und Psychologie"257. Die dort konzipierte Theorie des Typus soll jedoch für alle Wissenschaften gleichermaßen gelten258 und wird von den Autoren sogar als Beweis der Einheit der (Natur- und Geistes-) Wissenschaften verstanden.259 Radbruch260 hat die Bedeutung dieser Theorie für die juristische Methodenlehre herausgearbeitet. Die Bedenken Oppenheims261 gegen die Fruchtbarkeit seiner Theorie für die Rechtswissenschaft wurden so bereits früh ausgeräumt. Hier soll die Frage im Vordergrund stehen, welche Konsequenzen sich aus der allgemeinen Typuslehre für die spezifisch juristischen Methodenfragen ergeben. Hempel und Oppenheim beklagen, daß meist vom „rein klassifikatorischen Charakter aller wissenschaftlichen Begriffe" 262 ausgegangen werde. Diese Kritik an der wissenschaftlichen Begriffsbildung sowie der Hempel-Oppenheimsche Typusbegriff lassen sich am besten erklären, wenn man zwischen der „klassifikatorischen Begriffsbildungf 4 einerseits und der „komparativen Begriffsbildungf andererseits unterscheidet: Klassifikatorische Begriffe bezeichnen Eigenschaften, die nur entweder vorliegen oder aber nicht vorliegen können. Komparative Begriffe sind hingegen „Relationsbegriffe, die Vergleichsfeststellungen im Sinne eines 'mehr oder weniger' ermöglichen"263. Mit ihnen lassen sich verschiedene Elemente nicht nur als „andersartig^ voneinander unterscheiden („klassifizieren"), sondern durch graduellen Vergleich in eine sinnvolle Ordnung bringen. Hempel und Oppenheim gehen davon aus, daß die klassifikatorische Begriffsbildung schnell an Grenzen stößt264, nämlich sobald es um die Erfassung von „graduellen Variationen einer Eigenschaft" 265 geht. Klassifikatorische Begriffe ermöglichen eine Unterscheidung verschiedener Elemente nach Klassen. Komparative Begrif1986, S. 287 ff., S. 318 ff. und Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 545. 257 So der Untertitel von Hempel, Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neueren Logik, 1936. 258 Ebenda, S. 125. 259 Ebenda. 260 Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Internationale Zeitschrift für die Theorie des Rechts, 12 (1938), S. 46 ff, S. 47 = ders., Gesamtausgabe (hrsgg. von Arthur Kaufmann), Band 3 Rechtsphilosophie III (bearb. von Winfried Hassemer), 1990, S. 60 ff, 63 m. w. N. 261 Hempel, Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neueren Logik, 1936, S. 125. 262 Ebenda S. 2. 263 Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977, S. 35 im Anschluß an Stegmüller. 264 Hempel, Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neueren Logik, 1936, S. 6 f. 265 Ebenda, S. 35.

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D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

fe ermöglichen eine graduelle Einordnung, die das Verhältnis verschiedener Elemente zueinander266 beschreibt. Die Parallele zu den „graduell erfüllbaren Merkmalen" „beweglicher Systeme" 267 ist evident. Auch jene zeichnen sich dadurch aus, mehr oder weniger erfüllbar zu sein. Entscheidend fur „bewegliche Systeme" ist die komparative Beziehung zwischen den „beweglichen" Elementen und den Rechtsfolgen. Sie wurde oben zur Veranschaulichung als „doppelte Beweglichkeit" bezeichnet268. Gemeint ist die graduelle Berücksichtigung der graduell erfüllbaren Merkmale. Wenn also die Typuslehre tatsächlich eine „komparative" Theorie in diesem Sinne wäre, dann wären die von Larenz 269 aufgezeigten Parallelen zu den „beweglichen Systemen" schlüssig. Es bestätigt die entscheidende Bedeutung des Komparativs in der Methodenlehre 270, daß genau über dieses Phänomen — wie schon in der Lehre von den Rechtsprinzipien271 - auch in der Typuslehre heftig gestritten wird. 272 Darauf gibt weder die Schrift von Hempel und Oppenheim noch Radbruchs Aufsatz eine Antwort, denn diese Texte enthalten zwar die Forderung einer komparativen Theorie, aber nicht deren Einlösung (für die Rechtswissenschaft).

266 Zu dieser zweiten Dimension der Verhältnismäßigkeit vergleiche unten G I V 1 („Zwei Dimensionen der Verhältnismäßigkeit"), S. 263 ff. 267 Siehe hierzu oben unter D i l . Diese Eigenschaft wurde auch bei den Rechtsprinzipien erörtert; hierzu oben unter D IV. 268 Ebenda. 269 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, 1991, S. 469 f , ders, Grundformen wertorientierten Denkens in der Jurisprudenz, in Festschrift für Wilburg zum 70. Geburtstag 1975, S. 217 f f , S. 223 und 228. Zu den Gemeinsamkeiten vergleiche auch Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 24. 270 Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Internationale Zeitschrift für die Theorie des Rechts, 12 (1938), S. 46 f f , S. 53 = ders, Gesamtausgabe (hrsgg. von Arthur Kaufmann), Band 3 Rechtsphilosophie III (bearb. von Winfried Hassemer), 1990, S. 60 ff, S. 70, nennt es „das vielleicht wichtigste Problem unserer juristischen Methodenlehre". 271 Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 f f , S. 278 f. Hierzu oben unter D IV. 272 Und es bestätigt die Notwendigkeit einer allgemeinen Theorie komparativer Systeme, daß bis heute darum gerungen wird, welche Lehre dieses Phänomen für sich in Anspruch nehmen darf: Die Lehre von den „beweglichen Systemen", die Lehre von den Rechtsprinzipien oder/und die Lehre vom Typus?

V. Der Typusbegrif

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2. Die heutige Typuslehre Es ist nicht leicht, Gegenstand, Anwendungsbereich und Funktion der heutigen Typuslehre zu umreißen. Erst recht ist es schwierig, das methodische Gerüst dieser Lehre zu charakterisieren. Schon der Begriff des Typus ist schillernd und wird mal mit, mal ohne erläuternde Zusätze verwendet.273 Von den zahlreichen möglichen Bedeutungen sollen hier im Anschluß an Larenz 274 nur drei Kategorien eine Rolle spielen: der „normative Realtypus", der „rechtliche Strukturtypus" und der „Falltypus". a) Der „normative Realtypus"

Unter einem „normativen Realtypus" versteht Larenz „einen in der erfahrbaren Realität anzutreffenden Typus, der unter einem bestimmten normativen Gesichtspunkt von Bedeutung ist und danach im näheren abzugrenzen ist." 275 Als Beispiele fuhrt er (aus dem Zivilrecht) den Verrichtungsgehilfen, den Besitzdiener, den leitenden Angestellten, den Tierhalter sowie die mangelhafte Sache an. Aus dem Bereich des Verfassungsrechts wäre hier wohl auch der „Typus Verfassungsstaat" 276 einzuordnen. Für den Bereich des Strafrechts sei hier exemplarisch der „Typus des Teilnehmertatbestandes"277 genannt. Sie alle existieren „real" und haben eine „normative", rechtliche Bedeutung. Was macht sie jedoch zum „normativen Realtypu^l Larenz möchte den Typus als abstufbare 278, wertungsabhängige279 Größe einerseits von der exakten Ztegr/#sbestimmung andererseits 273

Zur Vieldeutigkeit des Typusbegriffs vergleiche Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, S. 239 ff. 274 Larenz, Grundformen wertorientierten Denkens in der Jurisprudenz, in Festschrift für Wilburg zum 70. Geburtstag, 1975, S. 217 ff, S. 219 läßt den Durchschnittstypus und den logischen Idealtypus ausdrücklich unberücksichtigt. Zum Begriff des Idealtypus bei Max Weber und Georg Jellinek vergleiche Heller, Staatslehre (hrsgg. von Niemeyer), 3. Auflage 1963, S. 61. 275 Ebenda, Hervorhebungen nicht im Original. 276 Hierzu vergleiche Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303, 308 und passim; jetzt auch ders, Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen - ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127. 277 Vergleiche Lüderssen, Der Typus des Teilnehmertatbestandes, in Festschrift für Miyazawa, 1995, S. 449 ff.; zum Typusbegriff in diesem Zusammenhang besonders S. 464 m. w. N. 278 Siehe Larenz, Grundformen wertorientierten Denkens in der Jurisprudenz, in Festschrift für Wilburg zum 70. Geburtstag 1975, S. 217 ff, S. 219 zum Beispiel der sozialen Abhängigkeit des Besitzdieners bzw. Verrichtungsgehilfen. 279 Ebenda, S. 220: „Ein solcher Typus ist kein Instrument einer reinen ObjektErkenntnis, sondern bereits eine Form wertorientierten Denkens."

110

D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

abgrenzen. Ist diese Unterscheidung möglich und trifft sie auf die oben genannten Beispiele zu? Gelingt mit der abstufbaren Umschreibung eines Typus der Schritt zu einer komparativen Theorie? Zunächst soll untersucht werden, ob die Exaktheit als Unterscheidungskriterium zwischen Begriff und Typus taugt. Hiergegen läßt sich bereits einwenden, daß Exaktheit selbst ein äußerst vager Begriff ist. Ob ein Begriff exakt ist, läßt sich absolut kaum festlegen, sondern nur im Vergleich. Und hierbei wirkt die Beispielaufzählung nicht exakter Typen wenig überzeugend. Ob etwa der Verrichtungsgehilfe oder Tierhalter repräsentativ für nicht exakte Umschreibungen stehen kann, ist zweifelhaft. Kuhlen hat hiergegen mehrere Bedenken vorgetragen: Schon das Gegensatzpaar exakter Begriff - abstufbarer Typus widerspricht seinem wissenschaftstheoretischen Vorverständnis, das er offengelegt hat 280 : Danach ist zwischen klassifikatorischen Begriffen einerseits und komparativen (i. e. abstufbaren) Begriffen andererseits zu unterscheiden281, wobei letztere sogar eine exaktere, „schärfere Information" 282 vermitteln, weil sie eine zusätzliche Ordnungsdimension besitzen. Während durch Klassifikation nur eine Unterscheidung möglich ist, kann durch Komparation ein (Wert-)Verhältnis ausgedrückt werden. Die beiden Autoren widersprechen sich jedoch in diesem Punkt nur scheinbar. Während Larenz unter Exaktheit eines Begriffs die Schärfe seiner Abgrenzung gegenüber anderen Begriffen meint, zielt Kuhlen auf den Informationsgehalt ab. Eines der Typusbeispiele von Larenz vermag dies deutlich zu machen: Die Bezeichnung einer „Sache" als „mangelhafte Sache" enthält sicherlich eine Präzisierung des Informationsgehalts. Insofern verdient Kuhlen Zustimmung. Dennoch kann es sein, daß die Abgrenzung einer mangelhaften von einer mangelfreien Sache größere Schwierigkeiten bereitet, als die Einordnung eines Gegenstandes als Sache. Dies meint Larenz. Aber richtig und für die Kritik an Larenz entscheidend ist an Kuhlens Untersuchung, daß sich jedenfalls die (klassifikatorischen) Begriffe nicht durch Exaktheit vor den abstufbaren, komparativen auszeichnen müssen. Klassifikatorische Begriffe können ebenso wie komparative, abstufbare Begriffe mehr oder weniger exakt abgrenzbar sein. Die nächste Frage ist, ob denn das Merkmal der Abstufbarkeit zur Charakterisierung des Typus hinreicht. Hieran bestehen schon deshalb erhebliche Zweifel, da Larenz dieses Merkmal selbst nur sehr ungenau verwendet. Von den oben genannten fünf Beispielen sind nämlich nur zwei tatsächlich selbst aus abstufbaren Begriffen gebildet, nämlich der leitende Angestellte sowie die mangelhafte 280 281 282

Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977, S. 34 ff. Hierzu schon oben bei Fußnote 263 auf S. 107. Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977, S. 35.

V. Der Typusbegriff

111

Sache. Hingegen sind Verrichtungsgehilfe, Besitzdiener und besonders der Tierhalter selbst Begriffe klassifikatorischer Natur. Larenz weist zwar zutreffend darauf hin, daß zu deren Konkretisierung abstufbare Begriffe wie der der sozialen Abhängigkeit (fur den Verrichtungsgehilfen und Besitzdiener) eine Rolle spielen.283 Aber es ist eine Schwäche der Typuslehre, gerade diese methodisch wesentlichen Unterschiede zwischen dem tatbestandlichen Begriff und den Merkmalen seiner Konkretisierung im Unklaren zu lassen. Vor allem das Beispiel des Tierhalters ist angreifbar. Zwar verweist Larenz hier auf den zugegebenermaßen abstufbaren Konkretisierungsgesichtspunkt der nicht ganz vorübergehenden unmittelbaren Herrschaft über das Tier 284 . Jedoch stellt Larenz zutreffend fest, daß gerade das entlaufene, also nicht unmittelbar beherrschte Tier die Haftung des Halters begründet. Das abstufbare Kriterium erweist sich somit gerade nicht als Voraussetzung des vermeintlichen Typusbegriffs. Vielmehr sei, so sagt Larenz unter Berufung auf einschlägige Kommentarliteratur, das Entlaufen des Tieres selbst die „typische Tiergefahr" 285. Damit hat sich aber ein klassifikatorischer Begriff zur Konkretisierung des Tierhalters eingeschlichen. Der Begriff und Charakter des Typus läßt sich in diesem Fall letztlich allenfalls auf das umgangssprachliche Wort „typisch" zurückführen. Daran ist nicht nur zu kritisieren, daß ein keineswegs selbstverständlicher Begriff mit sich selbst erklärt wird. Vielmehr deutet sich damit an, daß der Typusbegriff ganz verschiedene Phänomene begrifflicher Unschärfen umschreiben soll und letztlich an der eigenen Unschärfe scheitert. Jedenfalls ist der Typusbegriff bei den Beispielen von Larenz nicht durch das Kriterium der Abstufbarkeit gekennzeichnet. Eine Theorie, die zu Unrecht behauptet, ausschließlich abstufbare, komparative Begriffe zum Gegenstand zu haben, kann nicht für sich beanspruchen, die Methode komparativer Begriffe zu beschreiben. b) Der,rechtliche Strukturtypus"

Der ,rechtliche Strukturtypus" ist nicht auf tatsächliche Lebensverhältnisse, sondern auf Rechtsverhältnisse bezogen, die nicht „begrifflich", sondern nur typischerweise zu fassen sind. Als Beispiele führt Larenz das Anwartschaftsrecht sowie die verschiedenen schuldrechtlichen Vertragsarten („Vertragstypen") an. 286 Meines Erachtens handelt auch diese zweite Dimension der Typuslehre nicht von komparativen Strukturen. Zwar gibt es auf den ersten Blick Gemeinsamkeiten mit den „beweglichen Systemen". So setzen sich Schuldverträge tatsäch283 Larenz, Grundformen wertorientierten Denkens in der Jurisprudenz, in Festschrift für Wilburg zum 70. Geburtstag 1975, S. 217 ff., S. 219. 284 Ebenda. 285 Ebenda m. w. N. 286 Ebenda, S. 220.

112

D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

lieh oft aus Hauptleistungspflichten zusammen, die das BGB im besonderen Teil des Schuldrechts unterschiedlichen Vertragsarten zuordnet. Dabei handelt es sich jedoch um eine klassifikatorische Zuordnung. In Anlehnung an die Typuslehre hat sich hierfür der Begriff der typengemischten Verträge durchgesetzt. In einem umgangssprachlichen Sinne könnte man auch diese mehr oder weniger stark im Vordergrund eines Gesamtvertrags stehenden Leistungspflichten als „bewegliche Elemente"287 bezeichnen. Auch spielt dann in einer Weise das „Gewicht"288 dieser „Elemente" eine Rolle zur Bestimmung der Vertragspflichten und ihrer rechtlichen Einordnung. Aber das Besondere solcher typengemischten Verträge ist nicht, daß eine fragliche Rechtsfolge vom Zusammenspiel der Gewichte und Gegengewichte dieser vertragstypischen Elemente abhängt. Vielmehr geht es um ein Bündel verschiedener Rechtsfolgen, deren jede vom Gewicht (d. h. von einem „Schwellenwert") eines Elementes abhängt. Es geht etwa um die Frage, ob kaufrechtliche Vorschriften ergänzend neben mietrechtlichen Vorschriften Anwendung finden, wenn ein Vertrag sowohl kaufrechtliche als auch mietrechtliche Elemente enthält. Es geht zunächst um eine Kombination verschiedener Elemente miteinander, nicht um deren Abwägung gegeneinander. Das ist methodisch zweierlei. Freilich sei hier zugestanden, daß es bei den Fragen typengemischter Verträge auch zu einer Abwägung verschiedener Elemente kommen kann. Das ist dann und nur dann - der Fall, wenn es um eine Rechtsfolge geht, die erstens für den gesamten Vertrag gelten soll und die zweitens unterschiedlich je nach Vertragsart zu beurteilen ist. Diesen Fall meint Larenz aber nicht einmal, wenn er in seinem Beispiel lediglich danach fragt, „welche der Regeln des Gesellschaftsrechts bei einem Rechtsverhältnis mit ,gesellschaftsähnlichem ' Einschlag angewendet werden können, welche nicht." 289 Hier geht es vielmehr um die Möglichkeit, nur einzelne Regeln aus dem,,Paket" eines Vertragstyps ergänzend anzuwenden. Aber auch das ist nichts besonderes, sondern durch die Nachgiebigkeit weiter Teile des Vertragsrechts zugunsten individualvertraglicher Abreden eine Selbstverständlichkeit. Letztlich ist die Lehre der typengemischten Verträge nur die notwendige Konsequenz und Fortentwicklung der (ergänzenden) Auslegung der Verträge bzw. der Parteiautonomie. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß es zwar Berührungspunkte zwischen dem rechtlichen Strukturtypus und komparativen Strukturen gibt oder ge287

Die Unklarheiten über den theoretischen Gehalt der Typuslehre und ihr Verhältnis zu Wilburgs Lehre sind vielleicht auch durch die unglückliche Begriffswahl bedingt. Wenn Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 469 f. etwa die B e weglichkeif 4 des „Typus" behauptet, dann sind seine Argumente mit dem Begriff der „Beweglichkeif nur schwer zu widerlegen. Hierzu noch unter E I. 288 Larenz, Grundformen wertorientierten Denkens in der Jurisprudenz, in Festschrift für Wilburg zum 70. Geburtstag 1975, S. 217 ff., S. 221. 289 Ebenda, S. 221 f.

V. Der Typusbegriff

113

ben kann, daß aber die Typuslehre gerade diese Gemeinsamkeiten nicht klar von den Unterschieden trennt. Dies erschüttert den theoretischen und methodischen Anspruch der Typuslehre, eine Theorie komparativer Begriffe zu sein.

c) Der,Jalltypus"

Der „Falltypus" ist eine Variante des normativen Realtypus, und zwar „vornehmlich im Rahmen der Konkretisierung ausfüllungsbedürftiger Wertungsmaßstäbe"290. Das Phänomen derrichterlichen Fallgruppenbildung kommt der umgangssprachlichen Bedeutung des Ausdrucks „typischer Fall" sehr nahe.291 Schon deshalb kann es nicht verwundern, daß sich die Lehre vom Typus dem Phänomen des „typischen Falls" widmet.292 Bei der Fallgruppenbildung handelt es sich jedoch weniger um ein Beispiel für komparative Strukturen, als vielmehr um eine Alternative zur abstrakten Benennung komparativer Tatbestandsmerkmale. Meines Erachtens ist es der Lehre vom „Falltypus" nicht gelungen, diese theoretischen Zusammenhänge zu verdeutlichen. Zunächst ist schon die Abgrenzung zum normativen Realtypus zu unscharf. Möglicherweise wäre das Beispiel der Haftung des Tierhalters für ein entlaufenes Tier z. B. hier einzuordnen gewesen. Auch sind die methodischen Besonderheiten derrichterlichen Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe durch den Begriff des Falltypus nicht erfaßt worden: Wenn mit dem Falltypus auch oder nur die Bildung klassifikatorischer Fallgruppen gemeint ist, dann ist damit ein weiteres Mal gezeigt, daß es sich bei der Typuslehre nicht um eine komparative Theorie handelt. Wenn hingegen die Herausbildung komparativer Gesichtspunkte gemeint ist, dann ist dieses Phänomen nicht hinreichend klar umschrieben und methodisch untersucht worden. Denn es bestehen bei der Konkretisierung unbestimmter Begriffe folgende methodisch zu unterscheidende Möglichkeiten: Entweder werden abstrakte Definitionen aus Unterbegriffen oder aber konkrete Fallgruppen gebildet. Beide Möglichkeiten können wiederum mit Hilfe klassifikatorischer oder aber komparativer Methoden erfolgen. Begriffliche Konkretisierungen können sich als „starre" und als „bewegliche" Systeme darstellen.293 Verschiedene Fallgruppen 290

Ebenda, S. 222. Zur begrifflichen Unterscheidung zwischen dem Typus im Sinne der Typuslehre und der „typischen Fälle" einer Fallgruppenbildung vergleiche Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 24 m. w. N. in Fußnote 67. 292 Die Fallgruppenbildung ist eigentlich eine originär gesetzgeberische, induktive Methode. Auf diesen Zusammenhang weist etwa Schilcher, Gesetzgebung und bewegliches System, in Bydlinski (Hrsg.), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 287 ff., S. 316 hin. 293 Siehe oben unter D I 4 b. 291

8 Michael

114

D. Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme"

können sich gegenseitig ausschließen und alternativ ergänzen oder aber überschneiden und gegebenenfalls auch als „bewegliche" Elemente ergänzen. Diese Zusammenhänge verschleiert eine Typuslehre, die zu Unrecht, weil pauschalierend, den Anspruch erhebt, eine komparative Theorie zu sein. Zusammenfassend läßt sich somit die Kritik an der vermeintlichen Unterscheidung zwischen klassifikatorischem Begriff einerseits und dem Typus andererseits, sowie an dem damit verbundenen Selbstverständnis der Typuslehre, eine komparative Theorie zu sein, bestätigen. Die Typuslehre knüpft nämlich nicht einmal ausschließlich an komparative Begriffe an. Außerdem liefert sie, sofern sie sich (auch) auf komparative Begriffe bezieht, auch keine komparativen Verknüpfungen im Sinne der „doppelten Beweglichkeit": Teilweise behandelt die Typuslehre lediglich starre Merkmals- und Rechtsfolgenkombinationen; insofern sind ihre methodischen Folgerungen überhaupt nicht komparativ im hier verstandenen Sinne. Teilweise proklamiert sie die völlige Offenheit der Rechtsfolgenschlüsse und wird dann zu Recht als „allzu beweglich" kritisiert 294. Eine komparative Theorie hingegen müßte erstens ausschließlich komparative Begriffe zum Gegenstand haben und zweitens an diese komparative Rechtsfolgen knüpfen. 295 Im Bereich der Rechtsfindung ist Typologie lediglich eine Variante der teleologischen Auslegung296. Die Begriffsbestimmung des Tierhalters oder die Rechtsfolgen typengemischter Verträge lassen sich - mit und ohne Fallgruppenbildung - durch die klassische teleologische Auslegung ermitteln. Abschließend sei noch kurz auf die Funktion der Typuslehre für die Gesetzgebung hingewiesen297 : Der Gesetzgeber muß zunächst die typischen, regelungsbedürftigen Fälle bilden, um dann abstrakte Tatbestände zu formulieren. 298 Noll hat diesen Vorgang unter dem Stichwort „umgekehrte Subsumtion"299 als Induktionsverfahren beschrieben - im Gegensatz zum Deduktionsverfahren der Gesetzessubsumtion. Aber auch bei der Rechtsetzung müßte exakt zwischen komparativer und starrer Methode unterschieden werden.

294 Schilcher, Gesetzgebung und bewegliches System, in Bydlinski (Hrsg.), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 287 f f , S. 319 m. w. N. 295 In diesem Sinne Otte, Komparative Sätze im Recht; Zur Logik eines beweglichen Systems in Jahrbuch für Soziologie und Rechtstheorie Band 2 (1972), S. 301 f f , S. 302. Zustimmend Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977, S. 161. 296 Schilcher, Gesetzgebung und bewegliches System, in Bydlinski (Hrsg.), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 287 ff, S. 320 m. w. N. 297 Vergleiche Schilcher, ebenda, S. 316. 298 So schon Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts X I I (1938), S. 53. 299 Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 290.

E. Einführung in die Theorie der komparativen Systeme

Die Theorie der komparativen Systeme ist eine Weiterentwicklung und Zusammenfuhrung der im Abschnitt D („ Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme" und verwandter Lehren") erörterten Ansätze. Die komparativen Systeme stellen einerseits eine Erweiterung des „Idealfalls" der „beweglichen Systeme" und andererseits deren methodenrechtliche Einschränkung dar.

I. Begriffswahl Zunächst soll der Begriff „komparative Systeme" erläutert werden. Allein die Weiter- und Fortentwicklung von Wilburgs Lehre würde nicht schon dazu veranlassen, von Wilburgs Begriffswahl „bewegliche Systeme" abzuweichen. Das gilt selbst, wenn sich die „beweglichen Systeme" einerseits als zu eng definiert erwiesen haben1 und andererseits als zu weit2. Auch die Idee, die oben erörterten Lehren unterschiedlichen Ursprungs als Ausprägungen ein und desselben methodischen Phänomens zu begreifen, zwänge allein noch nicht dazu, für die jene Lehren umfassende, übergreifende Theorie einen neuen Begriff zu prägen. Vielmehr läge es nahe, Wilburgs Theorie zu modifizieren, als übergreifende Theorie auszubauen und auch den Namen für diese Theorie von Wilburg zu übernehmen. In diese Richtung weist auch Hill, der die Übertragung bzw. Anwendung von Wilburgs „beweglichen Systemen" für das deutsche öffentliche Recht vorschlug3. Inhaltlich können solche Bestrebungen nur unterstützt werden.

1

Hierzu s. o. unter D i l . Insbesondere hinsichtlich der Unklarheiten bei der Abgrenzung der „Beweglichkeit"1 zur „Offenheit". Hierzu siehe Fußnote 56 auf S. 62. 3 Hill, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL Heft 47(1989), S. 172 ff., S. 180 ff. 2

8*

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E. Einführung in die Theorie der komparativen Systeme

An der Wahl des Begriffes der B e w e g l i c h k e i t " ft r das in Frage stehende allgemeine methodische Phänomen bleiben jedoch Zweifel 4. Die „beweglichen Systeme" stellen lediglich den Jdealfall" des Phänomens dar, fiir das eine allgemeine Theorie erarbeitet werden soll. Diese allgemeine Theorie bedarf auch eines Oberbegriffs, um sich gleichermaßen auf die im Abschnitt D erörteten Lehren zu beziehen. Dieser Oberbegriff wird am treffendsten mit komparative Systeme bezeichnet. Der Begriff des „Komparativen" trifft das bezeichnete Phänomen präziser, obwohl der Begriff der B e w e g l i c h k e i t " s j c h hat, wortverwandt mit dem der , Abwägung zu sein.5 Gegen die begriffliche Anknüpfung an die Beweglichkeit" spricht aber entscheidend, daß Beweglichkeit" im juristischen Sprachgebrauch oft mit „Offenheit" verbunden wird. 6 So wichtig das Problem der Offenheit der Rechtsordnung ist, darf es jedoch nicht mit dem der methodischen Handhabung komparativer Systeme verwechselt werden. Zwar wird im Rahmen der Theorie der komparativen Systeme auch die Rechtsgewinnung und Rechtsfortbildung zu behandeln sein. Dabei soll deutlich werden, daß sich „Offenheit" und Beweglichkeit" ergänzen, aber nicht bedingen oder gar identisch sind. Das Phänomen Beweglichkeit" würde unterschätzt, würde man es auf die Frage der Offenheit reduzieren. Beweglichkeit" ist vielleicht auch deshalb geradezu zum Reizwort geworden, weil die Assoziation von Rechtsunsicherheit undrichterlicher Willkür begrifflich naheliegen.7 Dabei muß und darf die Beweglichkeif 4 rechtlicher Elemente keineswegs beliebig sein. Die Methodenlehre muß vielmehr herausarbeiten, wie wenig „beweglich" die sogenannten „beweglichen Elemente" rechtlich zu hand4

So auch die Reaktion auf Hills Beitrag; vergleiche von Mutius, Diskussionsbeitrag VVDStRL Heft 47 (1989), S. 215: „Ob man hierfür allerdings den Ausdruck „bewegliches System" verwenden sollte, erscheint mir fraglich; hier bedarf es, um überhaupt von Dogmatik und System sprechen zu können, noch einer intensiven methodologischen Verfeinerung." 5 Nach Duden, Deutsches Universal Wörterbuch, 2. Auflage 1989, können sowohl bewegen, als auch wägen auf das althochdeutsche „wegan" = in Bewegung setzen, wiegen zurückgeführt werden. Danach ist auch das Wort „Waage" vom Bild der „beweglichen" Gewichte abgeleitet. 6 So etwa bei Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 230 und Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Randzeichen 36 ff. Vergleiche auch die Verwendung des Begriffes bei Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 161 (hierzu bereits oben Fußnote 116 auf S. 78). Viele weitere Nachweise hierzu bei Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 75, Fußnote 9. Hierzu vergleiche auch S. 61 f. der vorliegenden Arbeit. 7 Auch die höchst problematische Ersetzung der bewährten Tatbestände des Deliktsrechts durch ein „bewegliches System" in Wilburgs Ansatz hat zur Skepsis der Methodenlehre gegenüber dieser Theorie beigetragen.

II. Merkmale

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haben sind. Es muß deutlich werden, welche festgelegten Strukturen „bewegliche Systeme" aufweisen, in welchen durchaus rational erfaßbaren Beziehungen die „beweglichen Elemente" zueinander sowie zur Rechtsfolge stehen. So hat Rabel8 (noch vor Wilburg und in anderem Zusammenhang) lediglich von einem „weichen System" gesprochen. Die von Wilburg ins Auge gefaßten Strukturen und Beziehungen als „beweglich" zu bezeichnen, ist nur die halbe Wahrheit. Hierbei stehenzubleiben wäre methodisch tatsächlich unbefriedigend. Die Methode „beweglicher Systeme" ist gar nicht „allzu beweglich"9. Zwar ist die Verknüpfung der „beweglichen Elemente" mit einer Rechtsfolge nicht „stari"' im Sinne einer „wenn-dann-Struktui"; diesen Gegensatz vermag das Wort „beweglich" auszudrücken. Aber das Wesen der Verknüpfung der „beweglichen Elemente" mit einer Rechtsfolge, nämlich die ,je-desto-Struktui*4 wird erst mit dem Begriff des Komparativen 10 deutlich. Das „Systematische" an den „beweglichen Systemen" ist nämlich deren komparative Struktur. Deshalb soll hier von komparativen Systemen die Rede sein. Als „beweglich" könnten viele Phänomene des Rechts bezeichnet werden, und entsprechend uneinheitlich ist auch die Verwendung dieses Wortes11. Hier soll es allein um solche Phänomene gehen, die mit Hilfe komparativer Strukturen methodisch zu lösen sind.

II. Merkmale: Was ist unter komparativen Elementen, komparativen Systemen und komparativen Normen zu verstehen? Komparative Systeme und komparative Normen bestehen stets aus komparativen Elementen. Deshalb soll mit der Definition der komparativen Elemente begonnen werden. Sie sind als notwendige Bausteine komparativer Systeme bzw. Normen sozusagen die Herzstücke der Theorie der komparativen Systeme: 8

Rabel, Umstellung der Beweislast, insbesondere der prima facie Beweis, Rheinische Zeitschrift für Zivil- und Prozeßrecht 12 (1923), S. 428,442. Hierzu noch unten S. 198. 9 Schilcher, Gesetzgebung und bewegliches System, in Bydlinski (Hrsg.), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 287 f f , S. 319. 10 Den Begriff verwendet insbesondere Otte, Komparative Sätze im Recht; Zur Logik eines beweglichen Systems in Jahrbuch für Soziologie und Rechtstheorie Band 2 (1972), S. 301 ff. Vergleiche auch Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977, S. 35 ff. Vergleiche auch oben Fußnoten 254 auf S. 106 und 256 auf S. 106. 11 Nachweise hierzu bei Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 74, Fußnote 1. Vergleiche auch die schon oben, Fußnote 287 auf S. 112 erwähnten begrifflichen Unschärfen des Typusbegriffs, die mit dem Begriff der „Bewegl ichkeif 4 noch verstärkt werden.

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E. Einführung in die Theorie der komparativen Systeme

1. Komparative Elemente Komparative Elemente sind graduell erfüllbare rechtliche Gesichtspunkte, die eine graduelle Berücksichtigung bei einer rechtlichen Beurteilung finden. Sie sind also rechtlich relevante Voraussetzungen, die sich dadurch auszeichnen, daß die fragliche Rechtsfolge graduell von ihrer jeweiligen graduellen Erfüllung abhängt.12 Diese graduelle Verknüpfung kann sich auf das Ausmaß oder auf die Wahrscheinlichkeit der Rechtsfolge beziehen. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Tatbestandsmerkmalen muß die Erfüllung eines einzelnen komparativen Elements weder notwendige oder hinreichende Bedingung einer Rechtsfolge sein. 2. Komparative Systeme Komparative Systeme sind die graduelle Verknüpfung mindestens zwei verschiedener komparativer Elemente. Die Elemente ergeben zusammen dadurch ein System, daß sich ihre jeweilige graduelle Erfüllung bei der rechtlichen Gesamtbeurteilung gegenseitig graduell ergänzen oder aufheben kann. Die komparativen Elemente müssen dabei, anders als starre Tatbestandsmerkmale nicht zwingend alternativ noch gar kumulativ erfüllt sein.

Die komparativen Elemente können hierbei nebeneinander „in einer Richtung' wirken. Dann kann sich ihre jeweilige graduelle Erfüllung gegenseitig ergänzen: Die besonders gewichtige Erfüllung eines Elementes kann im Einzelfall eine entsprechend schwache Erfüllung eines anderen komparativen Elementes ersetzen. Die Rechtsfolge des komparativen Systems hängt dann von der summarischen Gesamtbetrachtung und -bewertung der Einzelfallumstände, d. h. alle komparativen Elemente ab. Die komparativen Elemente können aber auch gegeneinander „in unterschiedliche Richtung^' weisen. Ihre graduelle Erfüllung führt dann zur teilweisen oder gänzlichen gegenseitigen Kompensation. Die Rechtsfolge des komparativen Systems bestimmt sich hier nach der Abwägung der Einzelfallumstände. Besteht ein komparatives System aus mehr als zwei komparativen Elementen, so können diese teils ergänzend und teils einander aufwiegend zu berücksichtigen sein. Die Gesamtwürdigung der Einzelfallumstände enthält dann summarische und abwägende Vorgänge. Ob die komparativen Elemente einander ergänzen oder gegeneinander abzuwägen sind, ist für jedes komparative System zu bestimmen. Für manche komparativen Systeme läßt sich dies abstrakt bestimmen; die „Richtung^' ihrer Elemente steht dann fest. Es ist aber auch möglich, daß ein und derselbe Gesichtspunkt als komparatives Element mal für und mal gegen die Rechtsfolge spricht. 12

Vergleiche hierzu bereits D i l .

II. Merkmale

119

Dies ist dann der Fall, wenn es eine graduelle Über- bzw. Untererfüllung nicht nur hinsichtlich eines „Normalwertes", sondern auch hinsichtlich eines „neutralen Nullwertes" geben kann. So können sich etwa bei der Strafzumessung 13 die Beweggründe und Ziele des Täters" (§ 46 Abs. 2 Satz 2 StGB) sowohl mildernd als auch verschärfend auswirken. 3. Komparative Normen Komparative Normen sind Normen, die mindestens ein komparatives Element als Voraussetzung ihrer Rechtsfolge enthalten. Es kann sein, daß komparative Normen selbst ein komparatives System darstellen, wenn sie nämlich mindestens zwei komparative Elemente enthalten (Z. B. § 46 Abs. 2 StGB). Es kann auch sein, daß mehrere komparative Normen zusammen ein komparatives System bilden.14 Dabei müssen die komparativen Normen Teil wenigstens eines komparativen Systems sein. Nicht jede graduell erfüllbare Norm ist eine komparative Norm. Es kommt vielmehr darauf an, ob eine Norm in Form eines Rechtsprinzips auch komparativ zu handhaben ist, ob sie mit anderen Worten im Sinne der „doppelten Beweglichkeit" graduell mit einer Rechtsfolge verknüpft ist. Die „beweglichen Systeme" stellen einen Idealfall der komparativen Systeme dar, bei dem alle Elemente ranggleich und ohne Einschränkung gegenseitig ersetzbar sind. Komparative Systeme hingegen können auch Kombinationen von solchen rechtlichen Gesichtspunkten sein, die unterschiedliches Gewicht haben, so daß ein besonders wichtiges Element erst durch mehrere andere — nur zusammengenommen gleichwertige - Elemente ausgeglichen werden kann. Darüberhinaus ist es denkbar, daß die komparativen Elemente mit notwendigen, nicht austauschbaren Bedingungen kombiniert sind. Dabei kann es sich etwa um Tatbestandsmerkmale handeln, die schon begrifflich der Graduierung nicht zugänglich sind. Oder aber der Mindestgrad einer Voraussetzung soll durch kein anderes Element ersetzbar sein. Freilich ist dann das komparative System in bezug auf solche Elemente starr; d. h. es ist nur teilweise komparativ ausgeprägt. Derartige Mischformen aus traditioneller Tatbestandsbildung und komparativen Systemen werden allerdings keineswegs bloße seltene Ausnahmen sein.15 13

Hierzu noch ausführlich unter F II 2 b „Strafrecht: Die Strafzumessungslehren und Interessenabwägungen bei den Rechtfertigungsgründen" S. 147 if. 14 Zu denken wäre etwa an die Grundrechte unseres Grundgesetzes, wodurch auch das Konkurrenzenproblem in einem neuen Licht erschiene. Zur Auslegungsproblematik beim Zusammentreffen mehrerer Grundrechte vergleiche bereits Berg, Konkurrenzen schrankendivergierender Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, 1968, S. 100. 15 Selbst bei § 46 Abs. 2 StGB, der als Prototyp „beweglicher Systeme'4 bezeichnet wurde läßt sich (genau genommen) ein solches Mischelement nachweisen: Die schuldan-

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E. Einfhrung in die Theorie der komparativen Systeme

Sogar der in der Literatur 16 fur die „beweglichen Systeme" geforderte Verzicht auf jegliche starre Tatbestandsbildung sollte lediglich eine Ausgangshypothese sein, über die es hinauszugelangen gilt. Denn gerade komparative Systeme könnten geeignet sein, die Bildung von (starren) Tatbeständen-zu denken ist hier an die Rechtsfortbildung - methodisch zu erhellen. Im Gegensatz zu Wilburgs Idee sollten komparative Systeme nicht als unverträglicher Gegensatz zu starren Tatbeständen verstanden werden, sondern als deren Ergänzung und Bereicherung in unser Rechtssystem und die Methodenlehre einfließen. Erst wenn komparative Elemente in allen denkbaren Variationen und Mischformen analysiert werden und nicht nur in ihrer „ r e i n e n " idealen Form der „beweglichen Systeme", kann deren vielfache Bedeutung für die Methodenlehre erfaßt werden, die weit über das hinaus geht, was ihr Entdecker Wilburg selbst beabsichtigte. Entscheidend für die komparativen Elemente, Systeme und Normen ist allein ein methodisches Phänomen: Anstelle starrer Tatbestandsmerkmale bzw. neben sie treten solche rechtlich relevanten Gesichtspunkte, die zur Rechtsfolge nicht wie jene in einer „Wenn-dann-Beziehungf\ sondern in einer „Je-desto-Beziehung" stehen. Wenn die Rechtsfolge selbst graduell abstufbar ist, steigt ihr Grad entsprechend dem Grad bzw. den Graden der Erfüllung der relevanten komparativen Elemente. Es handelt sich dann um eine Verknüpfung nach dem Muster ,je mehi" (auf der Seite der komparativen Elemente) - „ desto mehr >t (auf der Seite der Rechtsfolge). Ist die Rechtsfolge hingegen selbst nicht variabel, so besteht ihre komparative Beziehung zu den komparativen Elementen darin, daß die Rechtsfolge umso naheliegender oder wahrscheinlicher ist, je mehr die komparativen Elemente erfüllt sind. Auch dies ist eine „Je-desto-Beziehungf\ nämlich nach dem Muster ,je mehr -desto eher/wahrscheinliche^. Abzugrenzen sind komparative Elemente von ,metrischen" Verknüpfungen zwischen Tatbestandsmerkmalen mit einer variablen Rechtsfolge. „Metrische" Normen sind solche Normen, deren Rechtsfolge sich auf einen graduell erfüllbaren Einzelfallumstand bezieht und dabei in identischer Weise nach diesem bemessen wird. Z. B. hängt die Höhe der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung einer Zuvielleistung sozusagen nicht von deren „Grad", sondern schlicht von der „Höhe" des Betrags ab. Hier geht es nicht um eine graduelle Wertung, sondern um die rechtlich unproblematische Einsetzung eines meßbaren Betrags in den Tatbestand einer Norm. Der Betrag schlägt sich unmittelbar in der Rechtsfolge nieder. Statt der Je-desto-Verknüpfung ,je mehr - desto mehr/ehei" gilt hier die Formel „wenn χ dann y mit χ = y". Freilich ist diese metrische Verknüpfung ein Sonderfall der komparativen Systeme und fallt somit eigentlich unter deren oben gemessene Strafe bildet nämlich einen Höchstwert, der auch durch das extreme Zusammentreffen anderer Strafzwecke nicht kompensiert, d. h. nicht überschritten werden darf. Vergleiche etwa BGHSt 20, 264 (267). 16 Vergleiche oben Fußnote 6 auf S. 52 und hierzu unter D I 1 c („Verzicht auf abschließende Tatbestandsbildung?4), S. 55 f.

II. Merkmale

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definierte Fälle. Je größer nämlich χ ist, desto größer ist auch die Rechtsfolge y. Dennoch soll dieser Spezialfall in der Theorie der komparativen Systeme außer Betracht bleiben, da bei ihm die spezifischen methodischen Probleme der Wertung gerade nicht auftreten. 17 Ebenso lassen sich im übrigen die traditionellen „Wenn-dann-Verknüpfungen" zwischen Tatbestandsmerkmalen und Rechtsfolgen als Spezialfall des Musters ,je mehr - desto eher/wahrscheinlichei" auffassen. Denn der zwingende Rechtsfolgenschluß ist nichts anderes als der Spezialfall einer 100%igen Wahrscheinlichkeit. Es ist aus mehreren Gründen bemerkenswert, daß „metrische" Verknüpfungen mathematisch betrachtet Spezialfälle komparativer Elemente darstellen: Erstens lassen sich komparative Elemente im hier verstandenen Sinne deshalb negativ von diesen traditionellen Tatbestandsmerkmalen abgrenzen. Sie sind diejenigen Voraussetzungen, die nicht metrisch und nicht starr sind. Zur positiven Charakterisierung komparativer Systeme ist es deshalb erforderlich, auf den Wertungs- und Abwägungsprozeß bei ihrer Anwendung (d. h. nicht nur bei ihrer Bildung) hinzuweisen. Deshalb soll hier von komparativer Wertung und komparativer Abwägung gesprochen werden. Hinter dem Recht stehen oft auch dann komparative Wertungen, wenn dies in den starren Tatbestandsmerkmalen nicht mehr sichtbar ist. Diese verdeckten komparativen Wertungen werden jedoch sichtbar, wenn man derartige Normen auf ihre Vereinbarkeit mit den ihnen zugrundeliegenden Rechtsprinzipien, insbesondere mit dem allgemeinen Gleichheitssatz überprüft. Komparative Wertungen stehen oft am Anfang eines Rechtsgewinnungsprozesses, an dessen Ende eine starre Tatbestandsbildung steht. Zweitens erleichtert die Erkenntnis, daß die überkommenen, vermeintlich einzigen Rechtsstrukturen Spezialfälle bzw. Fortentwicklungen komparativer Elemente sind, die Einordnung komparativer Elemente in das Recht und in die Methodenlehre: Um komparative Elemente nicht weiter als Fremdkörper im Recht zu begreifen, bedarf es dann nämlich lediglich des Nachweises, daß das Recht nicht erst am Ende des Prozesses starrer Tatbestandsbildung Rechtsqualität gewinnt. Die Grenze zwischen Billigkeit18 und Recht verläuft nicht zwischen komparativen Systemen einerseits und metrischen bzw. starren Tatbeständen andererseits. Auch Vor- und Nachteile komparativer Systeme lassen sich am besten erklären, wenn man sie als die „ursprünglichen" Strukturen des Rechts begreift und umgekehrt die Vor- und Nachteile der metrischen und starren Verknüpfungen ermittelt.

17

Das gilt auch für die Bemessung des nach der Höhe des entstandenen Vermögensschadens zu leistenden Schadenserstatzes. Hingegen nicht metrisch, sondern komparativwertend erfolgt die Bemessung der Nichtvermögensschäden. 18 Hierzu vergleiche Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1988.

122

E. Einfhrung in die Theorie der komparativen Systeme

Drittens lassen sich die vielfaltigen Mischformen, bei denen sich komparative und starre Strukturen ergänzen, besser erfassen, wenn man starre Tatbestandsbildung als Konkretisierung komparativer Systeme und nicht komparative Systeme als Aufweichungen starrer Tatbestände erkennt. Ausgangspunkt jeder dynamischen Rechtsentwicklung19 sollten komparative Systeme sein. Zu starrer Tatbestandsbildung sollte es erst kommen, wenn die hinter ihr stehenden komparative Wertungen geklärt sind. Auch die herkömmlichen starren gesetzlichen Tatbestände erscheinen in diesem Zusammenhang in neuem Licht, nämlich als Ausprägungen komparativer Strukturen, die der Gesetzgeber abstrakt, d. h. über den Einzelfall hinaus „angewendet" hat. Im Falle der starren gesetzlichen Tatbestände ist somit kein grundsätzlich andersartiges Recht entstanden. Die komparative Wertung ist hier nicht etwa entbehrlich, sondern für den Rechtsanwender antizipiert. Das Problem der methodenrechtlichen Zulässigkeit komparativer Systeme stellt sich deshalb in erster Linie als eine Frage desrichtigenOrtes der komparativen Wertung. Es stellt sich hier die Frage der Teilung der staatlichen Gewalten und der Aufgabenverteilung im Bereich der Rechtsfortbildung.

III. Bedürfnis nach einer allgemeinen Theorie der komparativen Systeme Im Abschnitt D (Bestandsaufnahme und Erörterung der „beweglichen Systeme" und verwandter Lehren") wurden methodische und strukturelle Gemeinsamkeiten der unterschiedlichsten Lehren herausgearbeitet. Es muß überraschen, wie wenig diese Lehren trotz aller Parallelen aufeinander Bezug nehmen. Eine gegenseitige Rezeption ist nur in Ansätzen zu erkennen. Dies zeigt, daß nicht nur über die Grenzen der Jurisprudenz hinaus, sondern bereits zwischen deren einzelnen Disziplinen die interdisziplinäre Forschung" so gut wie nicht betrieben wird. Noch deutlicher wird sich das zeigen, wenn die dogmatischen Ausprägungen komparativer Systeme in den einzelnen Rechtsgebieten untersucht werden.20 Diese Defizite sollen hier nicht erklärt werden. Lediglich folgende Fragen seien gestellt: Wird nach „Interdisziplinarität" nur laut gerufen (sie ist geradezu zum Modewort geworden), ohne daß es eine ernsthafte Bereitschaft zu entsprechenden Forschungen gibt? Hilft selbst das Festhalten an der Ausbildung zum „Einheitsjuristen" nicht, um dieses Lehrziel bis in die Forschung zu tragen; versagt hier die viel beschworene Einheit von Forschung und Lehre? Warum leistet selbst die Methodenlehre als übergeordnete Disziplin nicht mehr Beiträge zur interdisziplinären Einheit? 19 20

Hierzu siehe unter D I. Vor allem unter F I I 2.

III. Bedürfnis nach einer allgemeinen Theorie der komparativen Systeme

123

Freilich sei hier eingeräumt, daß interdisziplinäre Forschung sich erst dann als besonders fruchtbar erweist, wenn sich zunächst verschiedene Einzeldisziplinen mit einem Phänomen unabhängig voneinander auseinandersetzen. Oft bereichert es nämlich die Entwicklung möglicher Lösungen, wenn Forschung aus unterschiedlicher Blickrichtung und mit Rezeptionsdefiziten erfolgt. Etwa Benders „Sandhaufentheorem" erwies sich als besonders wertvolle, zwar an Wilburg „vorbeigeschriebene" aber gleichwohl ideenreiche (Wieder-)Ent-deckung21. Auch soll hier nicht letztlich entschieden werden, welcher der Ansätze als der erste den Anspruch auf eine Entdeckung erheben kann. Jedenfalls gebührt nicht allein Wilburg solcher Verdienst. Radbruchs Aufsatz „Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken"22 erschien schon 1938 und bezieht sich auf Hempel, Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neueren Logik, 1936. Auch die Lehre von den Rechtsprinzipien sowie das Strafzumessungsrecht haben eine weit zurückreichende Tradition. Schließlich sei dahingestellt, ob das öffentliche Recht mit Hills Referat 23 Wilburgs Ideen „wiederentdeckt" hat, oder ob nicht umgekehrt die Beweglichkeit" eine „bloße Übertragung' ursprünglich öffentlichrechtlicher Strukturen auf das Zivilrecht ist. Vielleicht sind Wilburgs „bewegliche Systeme" der Wendepunkt in der Methodenlehre, an dem das öffentliche Recht das Zivilrecht „einholt". Vielleicht hat sich die zivilrechtlich dominierte Methodenlehre deshalb so schwer mit der Rezeption Wilburgs getan, weil sie die „beweglichen Systeme" nicht nur als neue, sondern als fremdartige Entdeckung verstand. Vielleicht ist die Methodenlehre aus diesem Grunde den „beweglichen Systemen" nicht gerecht geworden, obwohl „bewegliche" Strukturen in Wahrheit weder neu noch fremdartig sind. Immer wieder ist das Bedürfnis nach einer noch ausstehenden „Einordung des" beweglichen Systems „in die juristische Methodenlehre"24 artikuliert worden. Besonders die unterschiedlichen Funktionen komparativer Systeme bedürfen einer theoretischen Erörterung, namentlich die Auslegungsfunktion 25 de lege lata sowie die Rechtsfortbildungsfunktion 26. Erörtert werden soll auch die Funktion komparativer Systeme als Struktur der Auslegungsmethoden27, d. h. die Erörte21

Hierzu unter D II. Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Internationale Zeitschrift für die Theorie des Rechts, 12 (1938), S. 46 ff. = ders., Gesamtausgabe (hrsgg. von Arthur Kaufmann), Band 3 Rechtsphilosophie I I I (bearb. von Winfried Hassemer), 1990, S. 60 ff. 23 Hill, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL Heft 47(1989), S. 172 ff. 24 Statt aller Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 531. 25 Ebenda. Hierzu siehe unter F III. 26 Ebenda. Hierzu siehe unter F 1. 27 Hierzu siehe unter F I I 2 b. 22

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E. Einfhrung in die Theorie der komparativen Systeme

rung des Prinzips der Wertung, Gewichtung und Abwägung28 bei den Auslegungsmethoden. Im Mittelpunkt der Theorie der komparativen Systeme stehen nicht die einzelnen Übereinstimmungen und Abweichungen der im Abschnitt D erörterten verwandten Lehren, sondern deren gemeinsame nur teilweise verwirklichte Idee. Diese äußert sich in dem Ringen dieser Lehren um komparative Strukturen: Es bestätigt die entscheidende Bedeutung des Phänomens komparativer Strukturen, daß über deren tatsächliche Erfassung etwa in der Lehre von den Rechtsprinzipien29 oder in der Typuslehre30 so heftig gestritten wird. Meines Erachtens wäre die „Abstufbarkeit" 31 nur dann eine mit den „beweglichen" Elementen und den Rechtsprinzipien gemeinsame und vergleichbare Eigenschaft des Typus im Gegensatz zu klassifikatorischen Tatbestandsmerkmalen, wenn sie graduelle Berücksichtigung fände. 32 Erst durch eine entsprechende komparative Verknüpfung zwischen Tatbestand und Rechtsfolge lassen sich diese Vorteile komparativer Begriffe für die normative Rechtswissenschaft nutzen.33 Es bestätigt die Notwendigkeit einer allgemeinen Theorie komparativer Systeme, daß bis heute darum gerungen wird, welche Lehre die Klärung komparativer Strukturen für sich in Anspruch nehmen darf: Die Lehre von den „beweglichen Systemen", die Lehre von den Rechtsprinzipien oder/und die Lehre vom Typus?

28

Bydlinski, Bewegliches System und juristische Methodenlehre in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 21 ff., S. 29. 29 Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff., S. 278 f. 30 Hierzu oben D V. 31 Hierzu vergleiche oben S. 106 ff. 32 Vergleiche Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 25. 33 Otte, Komparative Sätze im Recht; Zur Logik eines beweglichen Systems in Jahrbuch für Soziologie und Rechtstheorie Band 2 (1972), S. 301 ff., S. 302; zustimmend Kuhlen, Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie, 1977, S. 161.

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

I. Erkenntnisfunktion: Komparative Systeme als Strukturprinzip des Rechts Komparative Systeme haben eine nicht zu unterschätzende Erkenntnisfunktion, d. h. sie können zur Erkenntnis denkbarer rechtlicher Zusammenhänge dienen. Auch dort, wo starre Tatbestände das Recht bestimmen, auch dort, wo die Rechtsanwendung durch Subsumtionsschlüsse geprägt ist, stehen Wertungen „hinter" diesen positivrechtlichen Konkretisierungen. Solche Wertungen sind nichts anderes als komparative Systeme, die anerkannten Rechtsgüter bilden deren komparative Elemente. Diese Wertungen spielen im positiven Recht eine dreifache Rolle: Erstens prägen sie die Gesetzgebung und Rechtsfortbildung 1. Zweitens können sie als komparative Normen unmittelbare Anwendung finden. 2 Drittens können sie bei der (teleologisch-systematischen) Auslegung der nicht komparativen Normen eine Rolle spielen.3 Die „reine" Erkenntnisfunktion komparativer Systeme ist diesen drei Funktionen vorgelagert. Komparative Strukturen „zwischen" und „hinter" dem positiven Recht offenzulegen, ist auch dann sinnvoll, wenn es weder um dessen Auslegung, noch um dessen Analogie- bzw. Fortbildung geht. Es ist bereits von hohem wissenschaftlichen und didaktischen Wert, normative Zusammenhänge als komparative Systeme zu verstehen. Die komparativen Systeme, die „zwischen" und „hinter" starren Tatbeständen stehen, können auch als Rechtsprinzipien bezeichnet werden. Viele der Rechtsprinzipien sind im Verfassungsrecht verankert. Das gilt vor allem für Prinzipien des Verwaltungsrechts sowie des Prozeßrechts. Im öffentlichen Recht ist dies seit langem unter dem Stichwort „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht"4 anerkannt. Zwischen speziellen Regeln und allgemeinen Prinzipien bestehen Wechselwirkungen. Einerseits können Regeln als bewußte Konkretisierungen anerkann-

1 2 3 4

Hierzu F I I 1. Hierzu F I I 2. Hierzu F III. Werner, „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht" DVB1 1959,527.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

ter Rechtsprinzipien entstehen. Umgekehrt können Rechtsprinzipien aus dem Zusammenhang verschiedener geltender Regeln heraus entwickelt werden. Beides läßt sich kaum trennen, da konkrete Regeln und ihre Rechtswirklichkeit wiederum bestehende Rechtsprinzipien in immer neuem Licht erscheinen lassen, ja verändern können. Auch ist die dogmatische Herauskristallisierung eines Rechtsprinzips aus bestehenden Regelzusammenhängen selten eine wirkliche Neuschöpfung. Die komparativen Zusammenhänge der Regeln werden selten zufallig sein, sondern sind meist nichts anderes als die Gerechtigkeitserwägungen, die auch bei der Regelentstehung eine Rolle gespielt haben. Mit Hilfe der komparativen Systeme soll auch und vor allem erkannt werden, wie Gerechtigkeit erwogen wird und wie Gerechtigkeitselemente zusammenhängen, die (noch) nicht den Rang eines allgemeinen Rechtsprinzips haben. Die komparativen Systeme können den Gerechtigkeitsgehalt des positiven Rechts offenlegen. Die Gleichbehandlung des wesentlich Gleichen sowie die angemessene rechtliche Differenzierung des wesentlich Ungleichen kann nur vergleichend, abwägend gewonnen werden. Am Anfang der Rechtserkenntnis steht die Abwägung bzw. Vergleichung von Rechtsgütern. Die Waage als Symbol der Gerechtigkeit steht für die Methode der Abwägung. Nicht ein (Gesetz-)Buch, nicht Rechtsinhalte sollen das Recht symbolisieren. Vielmehr steht die Waage fur das Recht, für (ge-)rechtes Richten. Nicht Rechtsinhalte, sondern die Methode ist das Symbol des Rechts. Die Methode der Vergleichung und Abwägung ist (nicht nur symbolisch) seit jeher mit der Idee des Rechts verbunden. Freilich ist das Recht nicht bei dieser Idee stehengeblieben. Vielmehr müssen zwei Entwicklungen als Fortschritt gewertet werden: Erstens wird das Recht inhaltlich immer konkreter, symbolisch gesprochen rückt „das Gesetzbuch" in den Vordergrund. Zweitens führt die Gewaltentrennung zu einer Rollenverteilung, bei der der Richter an die inhaltlichen Konkretisierungen des Gesetzgebers gebunden ist. Im Falle der starren Tatbestände ist die Waage in die Hand des Gesetzgebers und das Buch in die Hand des Anwenders gelegt. Aber diese Entwicklungen haben die Methode der Vergleichung und Abwägung nicht letztlich aus derrichterlichen Tätigkeit verdrängt. Rechtskonkretisierung, Abwägung und Vergleichungfinden auf allen Ebenen statt. Die inhaltliche Konkretisierung des Rechts vollzieht sich gleichzeitig auf den verschiedensten „Textstufen" 5. So wie ein dynamisches Rechts Verständnis zwischen verschiedenen Textstufen unterscheidet, so kann man auch zwischen verschiedenen Methodenstufen" der Rechtskonkretisierung unterscheiden6. Was zunächst durch Ab5 Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. und passim; ders., Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen - ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127 ff. Weitere Nachweise in Fußnote 37 auf S. 27. 6 Zwischen Textstufen und Methodenstufen gibt es Überschneidungen, wenn nämlich die Konkretisierung zu einem starren Tatbestand gleichzeitig eine Konkretisierung in einer

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

127

wägung komparativ gewonnen wird, kann auf einer zweiten Stufe als neue Regel unmittelbar angewendet werden. Es ist unverkennbar, daß sich das Streben nach Rechtssicherheit in der Herausbildung starrer, klassifikatorischer Regeln äußert. Die Wertung und Abwägung wird deshalb oft als zu überwindendes, nur vorläufiges Grundstadium aufgefaßt, die Regelbildung hingegen als erstrebenswertes Ziel.7 Selbst wenn das Recht ursprünglich komparativ ist, tendiert es dazu, klassifikatorisch zu werden. Aber das Recht beginnt nicht erst mit der Klassifikation und endet auch nicht allein in ihr. Komparative Systeme sind gleichzeitig Urform, Durchgangsform und Bauerzustand"8 des Rechts. Der Idealzustand des Rechts ist ein „ Z u s a m m e n s p i e l " 9 komparativer und klassifikatorischer Methodik. Die Theorie der komparativen Systeme soll klären, wo der jeweilig beste und rechtlich zulässige Ort für Wertung und Subsumtion ist.

II. Rechtsgewinnungsfunktion (Rechtsetzungsmethoden) 1. Gesetzgebungs- und Rechtsfortbildungsfunktion komparativer Systeme a) Die komparative Gewinnung komparativer und starrer Tatbestände

Eine komparative Methode der Rechtsgewinnung muß nicht zur Gewinnung komparativer Normen führen. 10 Schon bei der Erkenntnisfünktion komparativer Systeme hat sich gezeigt, daß auch „hinter" starren Tatbeständen komparative Wertungen und Zusammenhänge stehen können. Deshalb soll es in diesem Abneuen Textstufe darstellt, was gar nicht so selten vorkommen wird, wenn auch in der Regel in nicht auf einer höheren, sondern gerade auf einer niedrigeren Textstufe. 7 Vergleiche etwa Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Randzeichen 299: „ Für die Interpretation der Grundrechte war(!) der Gedanke der ,Wertordnung' ein Ansatz und eine Hilfe angesichts einer Lage, in der es noch weitgehend an einer Erarbeitung des konkreten normativen Inhalts und der Tragweite der Einzelgrundrechte, ihres Verhältnisses zueinander und der Voraussetzungen ihrer Begrenzung fehlte. Diese Erarbeitung ist das Werk der seitherigen, kontinuierlichen Rechtsprechung; mit ihr ist ein fester Bestand von Gesichtspunkten und Regeln verfügbar, der es ermöglicht, einzelne Grundrechtsfragen methodisch zuverlässiger zu beantworten und den unvermittelten Rückgriff auf,Werte' weitgehend zu vermeiden." (Hervorhebungen nicht im Original.) 8 Vergleiche innerhalb der Typuslehre bereits Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Internationale Zeitschrift für die Theorie des Rechts, 12 (1938), S. 46, 52 = ders., Gesamtausgabe (hrsgg. von Arthur Kaufmann), Band 3 Rechtsphilosophie III (bearb. von Winfried Hassemer), S. 60, 69. 9 Vergleiche ebenda, S. 53 bzw. 70. 10 Hierzu schon S. 72 und 113.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

schnitt 1 zunächst allgemein um die komparative Rechtsgewinnung gehen. Erst in einem zweiten Abschnitt 2 wird dann danach gefragt, wann diese komparative Rechtsgewinnung auch zur Bildung komparativer Systeme fuhrt. Dort, wo der Gesetzgeber Gerechtigkeit walten läßt, werden es immer wieder komparative Strukturen sein, die seine Erwägungen leiten. Diese Gesetzgebungsfunktion der komparativen Systeme sprengt den Rahmen des Inhalts der klassischen Methodenlehre. Die Methode der Gesetzgebung soll deshalb hier nur am Rande eine Rolle spielen und ist eigentlich ein eigenes Thema. Es sei nur soviel gesagt, daß selbst und gerade dann, wenn das positive Recht starre Normen bereitstellt, diese meist in komparativen Prozessen entstanden oder gewachsen sind. Sowohl die Abwägung von (verfassungsrechtlichen) Rechtsprinzipien, als auch die systematische Einfügung einer neuen Regelung in das bestehende positive Recht ist wesentlich komparativ geprägt. Das gilt unabhängig davon, ob die zu schaffenden Gesetze selbst starre Tatbestandsmerkmale oder komparative Elemente enthalten. Rechtsfortbildung durch die Verwaltung und Rechtsprechung ist hingegen ein Thema, das in keiner Methodenlehre fehlen darf. Im hier verstandenen Sinne läßt sich Anwendung und Fortbildung des Rechts auch gar nicht scharf trennen und soll nur aus Gründen systematischer Übersichtlichkeit getrennt behandelt werden. Das methodisch besondere der Rechtsfortbildung ist die Loslösung oder Entfernung des Richters von den Voraussetzungen und Rechtsfolgen des bereits anerkannten positiven Rechts. Rechtsfortbildung kann in ganzen Rechtsbereichen die parlamentarische Gesetzgebung ersetzen, wie etwa in Teilen des Arbeitsrechts. Sofern es sich um eine Neubildung von Rechtsinstituten handelt, können komparative Systeme dabei die gleiche Funktion wie bei der Gesetzgebung haben.

b) Zur komparativen Struktur der Analogie

Häufig geht es bei der Rechtsfortbildung jedoch lediglich um punktuelle Ergänzungen des positiven Rechts. Bei der Analogie wird der Anwendungsbereich einer Norm über deren Tatbestand hinaus auf eine sogenannte Lücke ausgedehnt. Bei der Reduktion wird der Anwendungsbereich einer Norm beschränkt, ein zu weit gesteckter Tatbestandsrahmen korrigiert. Inwieweit könnten komparative Systeme11 dabei eine Rolle spielen? Die Analogie beruht auf dem Vergleich eines Falles außerhalb eines Tatbestandsbereichs mit den Fällen innerhalb desselben Tatbestandsbereichs. Zwar kann der Analogiefall nicht unter die Merkmale eines normierten Tatbestands subsumiert werden. Er ist im Sinne des Gesetzes nicht gleich artig. Aber die 11

Zur Bedeutung der „beweglichen Systeme" für die Rechtsfortbildung vergleiche Fußnote 150 auf S. 84. Zum Analogiegebot der Regelbeispiele vergleiche S. 154.

II. R e c h t s i n n g s f n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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Gleichwertigkeit12 gebietet es, die analogen Fälle gleich zu behandeln. Die Rechtsfolge einer Norm wird auf den Analogiefall angewendet, ohne daß die Tatbestandsmerkmale der Norm erfüllt sind. Komparative Systeme können hierbei eine wichtige methodische Rolle13 spielen: Je weniger gleichwertig die Fälle sind, desto weniger ist eine Analogie geboten. Je näher der gleichwertige Fall am Wortlaut einer Norm liegt, je mehr also die Gleichwertigkeit auf Gleichartigkeit beruht,14 desto geringere Anforderungen sind an die Gleichwertigkeit zu stellen, desto eher ist eine extensive Auslegung zulässig.15 Ob die Analogie auch inhaltlich komparativen Strukturen entspricht, ist eine andere Frage. Das hängt davon ab, wie die Gleichwertigkeit inhaltlich begründet wird. Der Wertungsvorgang zur Gleichwertigkeit ist komparativ denkbar, auch wenn das Ergebnis des wertenden Vergleichs bei der Analogie kein „Mehr" und kein „Weniger", sondern ein „Genauso" ist.16 In der herkömmlichen Methodenlehre wird zwischen Gesamtanalogie und Einzelanalogie unterschieden: Jedenfalls bei der Gesamtanalogie soll es sich um die Herausarbeitung von Rechtsprinzipien (i. e. komparativer Strukturen) handeln.17 Die Gesamtanalogie (auch Rechtsanalogie18) knüpft an mehrere vergleichbare gesetzliche Tatbestände mit gleicher Rechtsfolge an, während bei der Einzelanalogie (auch Gesetzesanalogie19) die Gleichwertigkeit mit einem einzelnen Tatbestand begründet wird. Bei der Gesamtanalogie wird aus der parallelen Regelung ähnlicher Sachverhalte ein allgemeiner Rechtsgrundsatz gebildet. 12 Die synonyme Verwendung der Begriffe gleichartig und gleichwertig (etwa bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 381) sollte vermieden werden. Auch der Begriff der Ähnlichkeit (vergleiche ebenda) führt m. E. nur im Zusammenhang mit der Gleichwertigkeit weiter. Zur Ähnlichkeit als Voraussetzung der Analogie vergleiche Hagen, Funktionale und dogmatische Zusammenhänge zwischen Schadensund Bereicherungsrecht, in Festschrift für Larenz, 1973, 867, 868. 13 Zur Funktion der komparativen Systeme als Strukturprinzip der Methodik siehe unter F II 1 b. 14 Rössler in Wieczorek, Rössler, Schütze, Kommentar zur ZPO, Band III, 2. Auflage 1988, zu § 550 ZPO Randzeichen Β I I I b 1 spricht von der Beurteilung des Maßes der Ähnlichkeit und Bemessung deren ausreichenden Grades". 15 Allerdings warnt Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1-318, S. 195 zu Recht davor, der tatsächlichen Ähnlichkeit zu großes Gewicht zu verleihen. Die Ähnlichkeit müsse vielmehr „in der „Gleichheit der Interessenlagé 4 bestehen, welche die gleiche Bewertung durch die Rechtsgemeinschaft erfordert." (Hervorhebung im Original). 16 Zum argumentum a majore ad minus sogleich. 17 Hierzu Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 383 ff. 18 Zur Terminologie vergleiche ebenda S. 383 m. w. N. 19 Hierzu ebenda.

9 Michael

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Dieser allgemeine Rechtsgrundsatz findet seine Bestätigung in den gesetzlichen Tatbeständen und wird darüber hinaus kraft Gesamtanalogie auf weitere Fälle angewendet. Die Analogie ist der Rückgriff auf einen allgemeinen Grundsatz, wo dessen spezielle gesetzliche Ausprägungen lückenhaft geblieben sind. Dieser Rückgriff auf den allgemeinen Grundsatz unterliegt freilich strengen methodenrechtlichen Grenzen. Eine andere Frage ist, ob der jeweilige allgemeine Grundsatz komparative Elemente enthält. Sowohl allgemeine Rechtsprinzipien (i. S. komparativer Systeme) als auch allgemeine Rechts regeln (i. S. starrer Rechtssätze20) können durch die Gesamtanalogie gebildet und angewendet werden. Die inhaltlichen Grenzen der Prinzipien werden durch „gegenläufige" 21 Prinzipien22 komparativ bestimmt. Den Regeln stehen hingegen Ausnahmen23 starr gegenüber. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten ist bislang nicht hinreichend unterschieden worden.24 Wenn es sich bei dem allgemeinen Grundsatz um ein komparativ anzuwendendes Rechtsprinzip handelt, so bedeutet die jeweilige Gesamtanalogie nichts anderes als die Anwendung des komparativen Systems, das „hinter" starren Normen steht.25 Ob die Erkenntnis solcher komparativen Strukturen zur Fortbildung des positiven Rechts genutzt werden darf, ist eine Frage des Methodenrechts, insbesondere der Grenze zu den Analogieverboten. Die Unterscheidung zwischen komparativer Prinzipienbildung und starrer Regelbildung bedeutet nicht deren Unvereinbarkeit. Eine wesentliche Funktion haben komparative Systeme auch als Methode der Regelbildung. Oft stehen komparative Erwägungen hinter einerrichterlichen Rechtsfortbildung, die letztlich starre Analogietatbestände hervorbringt. Die Einzelanalogie sollte m. E. strukturell als Sonderfall der eben beschriebenen analogen Grundsatzbildung begriffen werden. Das wird häufig verkannt, was schon damit zusammenhängt, daß die Einzelanalogie als der typische Grund20 Zum Unterschied zwischen widerstreitenden Rechtsprinzipien und einander widersprechender Regeln vergleiche oben D IV; insbesondere unter 1, S. 96 ff. und 4, S. 102 ff. 21 Vergleiche ebenda. 22 Vergleiche Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 385. Hierzu bemerkt Larenz (ebenda S. 386) beispielsweise: „Denn es kommt dabei auf solche, niemals „exakt" zu bestimmende Größen an, wie die Intensität..." 23 Ebenda S. 385: „Regeln des Rechts lassen, anders als Naturgesetze, Ausnahmen zu 24

Larenz, ebenda S. 381 spricht von der ,Ausnahme vom Prinzip". Er verwendet also Prinzip und Grundsatz synonym. Das ist nicht unproblematisch und kann zu Mißverständnissen führen. Zustimmung verdienen hingegen die Verwendung der Ausdrücke „grundsätzlich" und „in der Regel" ebenda S. 385 f. Weitere Kritik an der ansonsten aufschlußreichen und zu Recht als „Klassikertext" häufig zitierten Darstellung des Analogieproblems bei Larenz, ebenda, auch unten in Fußnoten 28 f. 25 Hierzu oben unter F I.

II. Rechtsgewinnungsfunktion (Rechtsetzungsmethoden)

131

fall der Analogie gilt, die Gesamtanalogie hingegen (wenn überhaupt) meist nur am Rande behandelt wird. 26 Das führt dazu, daß die Einzelanalogie als Schluß vom Besonderen auf Besonderes27 erklärt wird. Demgegenüber soll (nur) die Gesamtanalogie den „Umwegf ' über den induktiven Schluß vom Besonderen auf das Allgemeine (und zurück) gehen. Diese Sichtweise geht sogar so weit, daß zwischen (Einzel-)Analogie und induktiver Grundsatzbildung ein Gegensatz gesehen wird. 28 In Wahrheit geht auch die Einzelanalogie über eine „Einzelfall"-Analogie hinaus. Es handelt sich nicht nur um die Ausnahmebildung für konkrete Einzelfalle, sondern gegebenenfalls um abstrakte Rechtsfortbildung. Wird eine Rechtsfolge über den gesetzlichen Tatbestand hinaus analog auch auf bestimmbare gleichwertige Fälle angewendet, dann wird ein neuer Analogie- Tatbestand gebildet. Dieser neue Tatbestand muß zusammen mit dem gesetzlich bestimmten Tatbestand einen allgemeinen Grundsatz bilden.29 Läßt sich ein solcher allgemeiner Grundsatz nicht bilden, dann ist auch die Gleichwertigkeit nicht rational begründbar, dann lassen sich auch keine hinreichenden Analogieargumente finden. Die Einzelanalogie kann auf einem (allgemeinen) Rechtsprinzip, aber auch auf einer (allgemeinen) Rechtsregel beruhen. Dabei wird die Rechtsfolge der normierten Fälle auf die Analogiefalle angewendet. Der Unterschied zur Gesamtanalogie liegt nicht in der Allgemeinheit der Analogiefälle, sondern in der Methode, den allgemeinen Grundsatz festzustellen. Bei der Gesamtanalogie liefert bereits die Bestätigung des Grundsatzes in mehreren Tatbeständen hierfür Indizien. Bei der Einzelanalogie bedarf es hingegen anderer Argumente für die Verallgemeinerbarkeit einer „ratio legis". Dieser Unterschied sollte jedoch keineswegs überschätzt werden. Jede Rechtsfortbildung muß Argumente bereitstellen, die über den Wortlaut des Gesetzes hinausgehen. Das gilt auch für die Gesamtanalogie. Es läßt sich sogar fragen, ob die mehrfache gesetzliche spezielle Ausprägung eines Rechtsgedankens die Bildung eines positivrechtlichen Grundsatzes tatsächlich näher legt als eine vereinzelt gebliebene Ausprägung. Gegebenenfalls läßt sich gerade aus der Vielzahl der Einzelregeln, aus der Regeldichte der Gesamt26

Auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 481 ff. behandelt die Gesamtanalogie erst an zweiter Stelle (S. 483 ff.). 27 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Auflage 1983, S. 97 ff. 28 Hiergegen zutreffend Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 384. An anderer Stelle (S. 381) stellt Larenz jedoch selbst der Analogie den Rückgang „auf ein im Gesetz angelegtes Prinzip" gegenüber. 29 Α. A. jedoch Larenz, ebenda S. 384, der allerdings immerhin eine begrenzte Regelbildung zuläßt. Andererseits heißt es ebenda, S. 388: „Zur Auffindung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes bedarf es im übrigen nicht stets einer „Gesamtanalogie". Mitunter genügt die Klarstellung der einer einzelnen Gesetzesbestimmung zu Grunde liegenden „ratio legis" sowie die Erkenntnis, daß diese ratio legis auf einen weiteren Kreis von Fällen zutrifft als den im Gesetz genannten." *

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

materie der Umkehrschluß ziehen, diese speziellen Regeln seien abschließend. Dann ist die Bildung eines allgemeinen positivrechtlichen Grundsatzes nämlich ausgeschlossen oder jeder nicht geregelte Fall als Ausnahme eines übergesetzlichen Grundsatzes aufzufassen. Ein Sonderfall komparativer Rechtsfortbildung liegt vor, wenn die Gleichwertigkeit nicht nur bezogen auf ein einzelnes (unerfülltes) Tatbestandsmerkmal begründet wird, sondern mit dem komparativen Ausgleich zwischen Über- und Untererfüllung mehrerer an sich starrer Tatbestandsmerkmale. Ein Beispiel für eine derartige komparative Analogie wurde bereits oben30 ausführlich erörtert: Benders „Sandhaufentheorem" hat sich als eine Analogie entpuppt, die mangels Lücke nicht notwendig ist.31 Auch wenn die Untererfüllung eines Tatbestandsmerkmals mit der Übererfüllung eines anderen Merkmals zusammentrifft, ist eine notwendige Bedingung des Tatbestandes nicht erfüllt. An der grundsätzlichen Bedeutung der Tatbestandsmerkmale als notwendige Bedingungen der jeweiligen Rechtsfolge sollte nicht gezweifelt werden.32 Ein Fall, bei dem die Über- und Untererfüllung an sich starrer Tatbestandsmerkmale komparativ ausgeglichen ist, ist nicht gleichartig, kann aber gleich wertig sein. Die Gleichbehandlung ist dann nicht durch Subsumtionsschluß begründbar, sondern gegebenenfalls als Analogie geboten. Im Falle des „Sandhaufentheorems" bedarf es der Analogie zu § 138 Abs. 2 BGB nicht, da § 138 Abs. 1 BGB als Generalklausel die gleichwertigen Fälle erfaßt. Die komparative Methode dient hier also nicht der Analogie, sondern der Auslegung einer Generalklausel. Strukturell ist dies kein Unterschied. Unterschiede ergeben sich aber in methodenrechtlicher Hinsicht. Komparative Strukturen der Rechtsfortbildung werden auch beim Erstrechtschluß", dem argumentum a majore ad minus sichtbar. Der Erstrechtschluß ist der Analogie verwandt. Wie bei der Analogie muß hier ein ungeschriebener allgemeiner Grundsatz gebildet werden, dessen spezielle Ausprägung gesetzlich bereits fixiert ist. Dieser Grundsatz hat eine komparative Struktur: Der gesetzlich geregelte Fall stellt den Intensitätsgrad dar, bei dem eine Rechtsfolge Jedenfalls" gelten soll. In graduell gleichwertigen Fällen ist eine Analogie, in graduell abweichenden Fällen das argumentum a majore ad minus bzw. a minore ad majus denkbar. Sofern es sich um ein komparatives Rechtsprinzip handelt, ist die Analogie33 also der Sonder- oder Grenzfall des Gleichbehandlungsgebotes, der „Erstrechtschluß" hingegen ist der Normalfall einer komparativen Rechtsfortbildung. 30

Siehe oben unter D II. Oben S. 84 f. 32 A. A. Bender (vergleiche hierzu Fußnote 145 auf S. 83) und Teile der Topiklehre (hierzu vergleiche D III). 33 Zur Bedeutung des Gleichheitssatz für die Lückenfeststellung und Analogiebegründung vergleiche Zippelius, Juristische Methodenlehre, 5. Auflage 1990, S. 59 und 62 sowie Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Auflage 1982, S. 29 ff. 31

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Es bleibt somit festzuhalten: Rechtsfortbildung durch Erstrechtschluß und (Gesamt- oder Einzel-)Analogie ist die Herausarbeitung ungeschriebener Grundsätze (Regeln oder Prinzipien), die jeweils allgemeiner als die gesetzlich geregelten Tatbestände formuliert sind. Komparative Systeme spielen dort eine Rolle, wo sich die ungeschriebenen Wertungen als komparative Elemente erweisen. Dies ist namentlich beim Erstrechtschluß der Fall. Aber auch die Analogie kann auf komparativen Rechtsprinzipien beruhen. Von der oben erörterten Erkenntnisfunktion der komparativen Systeme unterscheidet sich die Rechtsfortbildungsfunktion der komparativen Systeme allein in methodenrechtlicher Hinsicht. Ob die Positivierung erkennbarer gesetzlicher Zusammenhänge durch Rechtsfortbildung methodenrechtlich geboten und erlaubt ist, ist eine funktionsrechtliche Frage: Die Aufgabenverteilung zwischen den Gewalten kann (wie etwa im Bereich des Strafrechts durch Art. 103 Abs. 2 GG) den Parlamenten ausschließliche Kompetenzen der Rechtsetzung zuweisen. Dann hat die Erkenntnis komparativer Strukturen „hinter" und „zwischen" den Regeln zwei Konseqenzen: Sie zeigt dem Richter, wo die Grenze zwischen erlaubter Auslegung und verbotener Analogie verläuft und gibt dem Gesetzgeber Anlaß, über eine Lückenschließung nachzudenken. Im Bereich des Analogieverbotes haben komparative Systeme also gleichfalls eine Bedeutung, wenn auch nicht zur richterlichen Rechtsfortbildung.

c) Komparative Strukturen der Güterabwägungen im Verfassungsrecht

Aus zwei Gründen soll die Lehre von der Güterabwägung im Verfassungsrecht an dieser Stelle erörtert werden: Erstens enthält das Verfassungsrecht inhaltliche Vorgaben, an die die Gesetzgebung und Rechtsfortbildung gebunden sind. Die Rechtsgewinnung bzw. Rechtsetzung kommt also am Verfassungsrecht schon inhaltlich nicht vorbei. Zweitens weisen die verfassungsrechtlichen „Gesichtspunkte der Rechtsgewinnun^4 zum Teil selbst komparative Strukturen auf. Soweit Rechtsetzung durch verfassungsrechtliche Inhalte gelenkt wird, hängt die Methode der Rechtsgewinnung von der methodenrechtlichen Struktur dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben ab. Deshalb soll hier gezeigt werden, inwieweit das Verfassungsrecht tatsächlich komparative Elemente und komparative Systeme enthält. (1) Verfassungsrechtsgüter als komparative Elemente

Das Grundgesetz stellt zahlreiche fundamentale Werte bzw. Rechtsgüter unter seinen besonderen, d. h. verfassungsrechtlichen Schutz. Jedes einzelne dieser Verfassungsrechtsgüter reicht in seinem denkbaren Wirkungsbereich jeweils so weit, daß sich immer wieder, ja geradezu typischerweise „Konflikte" zu anderen

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Rechtsgütern ergeben. Óabei streiten Verfassungsgüter sowohl miteinander als auch gegeneinander. Das Verfassungsrecht ist deshalb in besonderem Maße von „Spannungsverhältnissen" geprägt. Insbesondere34 der Konflikt zwischen öffentlichen und privaten Interessen35 ist das Problem, das Spannungsverhältnis des Verfassungsrechts und des gesamten öffentlichen Rechts. Die Lösungen, die das Verfassungsrecht und seine Methoden für seine „Spannungsverhältnisse" bietet, können zur Theorie der komparativen Systeme fortentwickelt werden: aa) Ein erster Ansatz zur Lösung dieses Problems ist die Idee einer „Wertordnungf' 36 des Grundgesetzes. Der Begriff der Wert Ordnung sagt zwar nur, daß die Verfassungswerte geordnet sind. Diese Behauptung einer Ordnung kann aber nur eingelöst werden, indem jeder der Werte im Hinblick auf einen geordneten Zusammenhang aller Werte, also systematisch aufgefaßt wird. Deshalb hat das BVerfG synonym vom „Weltsystem"37 gesprochen. Wesentliche Probleme sind damit jedoch nicht gelöst, sondern erst aufgeworfen 38: Was ist die Struktur dieser Normordnung als PFer/ordnung? Sind diese Werte Elemente eines starren oder eines weichen, gar komparativen Systems? Meines Erachtens gibt der Begriff der Wertordnung, auch nach der Bedeutung, die ihm das BVerfG zumißt,39 auf diese Fragen gar keine - und nicht etwa eine unbefriedigende40 - Antwort. Eine solche Antwort gibt vielmehr die Abwägungslehre:

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Vergleiche aber auch Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht 1992, S. 51 ff. zur „Multipolare(n) Konfliktschlichtung und Grundrechtskollision". 35 Freilich ist auch das Privatrecht mit der Interessenjurisprudenz längst zu einer Wissenschaft des Ausgleichs von „Interessenkonflikten" geworden. Nach Wilburgs Lehre „beweglicher Systeme" wäre auch das Schuldrecht gänzlich durch Abwägungen von Gesichtspunkten geprägt. 36 Ständige Rechtsprechung des BVerfG seit E 7, 198 (205). 37 Ebenda. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Randzeichen 299 trennt Ordnung und System zunächst begrifflich. Es ist tatsächlich möglich, Systeme als Sonderfalle von Ordnungen zu definieren, indem man die bloße Ordnung nicht notwendig als inhaltskonsistent und ganzheitsbezogen (i. e. systematisch) versteht. Hier soll jedoch dem engeren Ordnungsbegriff des BVerfG schon deshalb gefolgt werden, weil sich der Begriff der Wertordnung gegenüber dem des Wertsystems durchgesetzt hat und damit stets eine systematische Ordnung gemeint ist, ohne daß damit die Assoziation eines geschlossenen Systems geweckt würde. Zum Systembegriff vergleiche schon oben Fußnote 12 auf S. 19. 38 Hesse, ebenda, Randzeichen 3.

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bb) Die Abwägungslehre versucht, die Wertkonflikte durch Abwägung der Werte mit- und gegeneinander zu lösen. Solche Abwägung ist komparativ geprägt. Dem einzelnen Wert kommt keine starre, vorbehaltlose Bedeutung zu. Ist ein Verfassungswert betroffen, läßt sich hieraus allein noch nicht der verfassungsrechtlich erreichbare und garantierte Schutz ableiten. Vielmehr wird dieser Schutz erst durch die konkrete, einzelfallbezogene Abwägung mit konkurrierenden Verfassungsgütern ermittelt. Der Schutz desselben Wertes kann danach unterschiedlich ausfallen, je nach Intensität der hinzutretenden und der entgegenstehenden Werte. Dabei kann den einzelnen Werten sowohl abstrakt als auch im Einzelfall unterschiedliches Gewicht zukommen.41 Werte erhalten somit einen relativen Stellenwert. Die so verstandene Wertordnung stellt somit ein Zusammenspiel variabler Gesichtspunkte bzw. komparativer Elemente dar. Die Abwägungslehre ist einzelfallbezogen und knüpft an die Unvereinbarkeit starrer Grenzen mit einer derartig konfliktreichen Ordnung an. Sogar die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG ist auf diese Weise ,relativiert" worden.42 Diese Abwägungslehre hat eine lange Tradition43 und kann sich auch auf Rechtsprechung des BVerfG berufen. 44 Jedoch ist diese Entwicklung bisweilen von Skepsis und Kritik begleitet worden.45 Die Abwägungslehre ist dem Vorwurf ausgesetzt, die Werte aufzuweichen, die es von Verfassungs wegen doch zu schützen, d. h. verfassungsrechtlich zu ga-

39 Hesse, ebenda Randzeichen 299: „.. .daß der Begriff,Werte' vielfach nur zur Kennzeichnung des normativen Inhalts der Grundrechte verwendet wird." (Hervorhebung im Original); danach ist die Bezeichnung der Verfassungsrechtsgüter als „Werte" in erster Linie eine Auszeichnung, nämlich die Betonung ihres Gehalts und nicht dessen Abschwächung. 40 Insofern ist manche Kritik an dem Wertordnungsbegriff übereilt. In diesem Sinne auch Hesse, ebenda Randzeichen 299. 41 Michael Ch. Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 1985, S. 21 spricht von der „Intensität der jeweiligen Tangierung", die desto größer werde, ,je näher die Tangierung an die Wesensgehaltsgrenze heranreicht". 42 Vergleiche hierzu grundlegend Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Auflage 1983, S. 39 ff. 43 Hierzu vergleiche etwa Häberle, ebenda S. 31 ff., Müller, Normstruktur und Normativität, Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, entwickelt an Fragen der Verfassungsinterpretation, 1966, S. 207 f. und Schmitt Glaeser, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Schluß), AöR 97 (1972), S. 276 ff., 281 f. jeweils m. w. N. 44 Exemplarisch sei hier auf BVerfGE 7, 198, 210: „Güterabwägung^ (Lüth) sowie das Lebach- Urteil BVerfGE 35, 202 verwiesen. Hierzu schon Fußnote 217 auf S. 97. 45 Hierzu noch unter 3.

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rantieren gelte. Weil die Verfassung auch eine Schranke gegen staatliche Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) enthält, spricht zwar vieles dafür, in ihr Normen zu suchen, die gerade nicht durch die staatliche verfaßte Gewalt relativiert werden dürfen. Dies gilt für die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte aber auch für jegliche Bestimmung subjektiver Rechte und Ansprüche. Die Vorteile einer starren Wertordnung, die auf eine einzelfallbezogene Wertung und Abwägung verzichten könnte, sind evident. Aber die Konsequenzen einer starren Ordnung der Verfassungswerte sind nicht wünschenswert. Ein starres System vorbehaltloser Verfassungsnormen wäre theoretisch durchaus denkbar: Entweder man zöge die tatbestandlichen Grenzen der Verfassungsnormen so eng, daß die typischen Konflikte nicht mehr als Normkonflikte erscheinen. Dies würde aber zu einer massiven Beschneidung der Verfassungsrelevanz auf Extremfälle führen. Und selbst manche Extremfälle wie etwa die verfassungsrechtliche Beurteilung des sog. „finalen Todesschusses" durch die Polizei, bei dem der Schutz menschlichen Lebens auf Kosten menschlichen Lebens diskutiert werden muß, wären damit keineswegs gelöst. Oder aber man verweist die Abwägungsvorgänge in das einfache Recht, und weist jeden Fall des Wertkonfliktes als verfassungsrechtlich nicht entscheidbar zurück. Auch dieser Weg würde zu einer wesentlichen Schwächung der Verfassungsrelevanz führen. Derartige Radikallösungen der Abwägungsproblematik verbieten sich von selbst, da sie dem Anspruch der Verfassung als einer wirksamen Schranke gegen staatliche Gewalt nichtförderlich sind, sondern im Gegenteil der gebotenen Tragweite der Verfassungsnormen ausweichen. Die gestellte Frage nach der Lösung der Spannungsverhältnisse wäre durch solche Ansätze auch nicht wirklich beantwortet. Vielmehr würden die Spannungsverhältnisse selbst und damit Inhalte aus dem Verfassungsrecht verbannt. Einen dritten Weg stellen die Ansätze Schlinks dar, der lediglich vor einem ,Abwägungsenthusiasmus"46 warnt. Mit diesem Schlagwort hat er die Position Häberles angegriffen. Schlink hält die Abwägungsvorgänge für Einfallstore subjektiver Wertungen, die nicht rationalen, objektiven Maßstäben unterliegen. Deshalb sollen sie „soweit möglich"47 durch andere Prüfungspunkte ersetzt werden. Schlink leugnet nicht jegliche Existenz von Abwägungsfragen und akzeptiert auch die Methode der Abwägung „als letzten Ausweg"48. Jedoch stellt er Reichweite und Ort der Abwägungsvorgänge in Frage. Das Bemühen um rationale und damit nachprüfbare Maßstäbe im Recht und somit Schlinks Intention soll hier keineswegs herabgespielt werden. In der Sache geht es vor allem um die Verhält46 47 48

Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht 1976, S. 127. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 333. Ebenda Randzeichen 655.

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nismäßigkeit i. e. S.49 und um die typischen Grundrechtskollisionen ζ. B. mit der Meinungsfreiheit. Deshalb ist zunächst der Gegenstand von Schlinks Kritik näher zu untersuchen. (2) Verhältnismäßigkeit i. e. S. und praktische Konkordanz

Die Abwägung zwischen dem Zweck eines Grundrechtseingriffs und dem hierzu erforderlichen Mittel wird als Verhältnismäßigkeit i. e. S. bezeichnet. Dieser Abwägung geht die Prüfung der Zulässigkeit des Zwecks und des Mittels (isolierte Überprüfung von Zweck und Mittel), sowie der Geeignetheit und Notwendigkeit des Mittels zur Zweckerreichung voraus. Für die Verhältnismäßigkeit i. e. S. verbleibt eine Angemessenheitsprüfung. Es ist umstritten, welche Dichte diese Angemessenheitsprüfung aufweist. Dabei werden vor allem zwei Maßstäbe diskutiert, die m. E. eine sich gegenseitig ergänzende Berechtigung haben: aa) Angemessenheit im Rechtssinne ist nach der herrschenden Meinung ein auf das Übermaßverbot beschränkter, also „gelockerter" Maßstab, der Spielräume nicht ausschließt. Bei der Angemessenheitsprüfung soll danach nicht nach der einen, nämlich der „besten" Abwägung gesucht werden. Es geht danach nicht um die Lösung, die allen denkbaren Zwecken mit allen denkbaren Mitteln „angemessen" wurde. Die Optimallösung obliegt nach dieser Ansicht vielmehr der Einschätzungsprärogative der staatlichen, gegebenenfalls politisch abwägenden Entscheidungsträger. Die ,ßlickrichtung" der Angemessenheitsprüfung wäre dann weniger weit als die der Erforderlichkeitsprüfung. Zwar ist eine Maßnahme nicht notwendig, wenn derselbe Zweck mit milderen Mittteln gleich gut erreicht werden könnte. Aber sie ist im Rechtssinne sowohl notwendig als auch angemessen, selbst wenn mit (erheblich) milderen Mitteln derselbe Zweck (geringfügig) weniger wirksam erreicht würde. Die Angemessenheit hängt also im Gegensatz zur Erforderlichkeit nicht von Entscheidungsalternativen ab. Verhältnismäßigkeit i. e. S. ist keine vergleichende, sondern eine lediglich abwägende Frage. Damit deutet sich auch bereits an, daß eine so verstandene Verhältnismäßigkeit von der vergleichenden Blickrichtung des Art. 3 Abs. 1 GG grundverschieden wäre.50 Die Optimierung aller denkbaren Zweck-Mittel-Relationen ist weder Inhalt der rechtlichen Notwendigkeitskontrolle noch der Verhältnismäßigkeit i. e. S. Bei der Notwendigkeitsprüfung müssen nämlich alternative, ähnliche Zwecke außer Betracht bleiben. Hier muß eine Wertung des Zwecks unterbleiben. Auch das 49

Zum Verhältnis zwischen Güter- bzw. Interessenabwägung und Verhältnismäßigkeit vergleiche Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 83 ff. 50 Hierzu noch ausführlich unter G IV.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Mittel ist hier nur mit anderen gleich wirksamen Mitteln zu vergleichen. Bei der Kontrolle der Verhältnismäßigkeit i. e. S. muß dann jegliche Erörterung alternativer Mittel unterbleiben. Hier kommt es ausschließlich auf den Vergleich der Schwere des Grundrechtseingriffs durch das gewählte Mittel mit dem verfassungsrechtlichen Gewicht des verfolgten Zwecks an. Vielleicht ist es deshalb besser, im Hinblick auf gerichtliche Kontrollmaßstäbe statt von einer „Angemessenheitsprüfung" nur von der Kontrolle der „UnVerhältnismäßigkeit"51 oder des „Übermaßes"52 zu sprechen. bb) Aber es gibt auch Ansätze, die diese „beschränkte Blickrichtung^ der Verhältnismäßigkeit i. e. S. überwinden und den Angemessenheitsmaßstab auch auf vergleichende Gesichtspunkte erstrecken. Solche Ansätze53 begreifen die komparativen Elemente der Rechtsordnung als Optimierungsgebote. Deren Abwägung muß nicht nur nach einer „erträglichen", sondern nach der besten Alternative suchen. Das Gebot „praktischer Konkordanz im Sinne einer Optimierung aller Verfassungsrechtsgüter, gar aller rechtlich erlaubten Zwecke und Mittel ist die verfassungsrechtliche Ausprägung der Optimierungsgebote54. Optimieren läßt sich die Summe der Verfassungswerte nur, wenn jeweils alle in Betracht kommenden Mittel mit allen durch sie jeweils erreichbaren Zwecken abgewogen werden. Die unterschiedlich weitreichenden Maßstäbe der Angemessenheit haben beide ihre Berechtigung. Sie sollten nicht als unvereinbare Ansätze gegeneinander ausdiskutiert werden, sondern sich als Kontrollmaßstab einerseits und als Wertungsmaßstab andererseits gegenseitig ergänzen. Aus Gründen terminologischer Klarheit ist es dabei wünschenswert, zwischen diesen beiden Maßstäben auch begrifflich zu unterscheiden: Mit „Verhältnismäßigkeit i. e. S." sollte dabei nur die gelockerte Blickrichtung der ÜbermaKontrolle bezeichnet werden. Bei einer darüber hinausgehenden Prüfung der Angemessenheit sollte nicht von Verhältnismäßigkeit i. e. S., sondern von Optimierung oder praktischer Konkordanz gesprochen werden. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Abwägungsentscheidungen ist grundsätzlich auf das Übermaßverbot beschränkt. Ähnliches gilt für die verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Ermessensentscheidungen. Damit ist jedoch noch 51

So bezeichnet Michael Ch. Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 1985, S. 84 f. den Unterschied zwischen Verhältnismäßigkeitsprinzip und praktischer Konkordanz als den Unterschied zwischen einer „positiven" und einer „negative(n) Aussage". 52 Im Anschluß an Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht. Zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit, 1961. 53 Eine Übersicht über den Diskussions- und Rezeptionsstand m. w. N. gibt Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot: Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 57 in Fußnoten 238 f. 54 Vergleiche hierzu schon S. 100.

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nicht gemeint, daß diese Kontrolle in jedem Falle auf grobe, olfensichtliche Mißverhältnisse zu beschränken ist. Ein Beurteilungsspielraum fur den Gesetzgeber bzw. die Verwaltung als kontrollierte Gewalten ergibt sich vielmehr bereits aus der methodenrechtlichen Struktur der gerichtlichen Übermaßkontrolle und nicht erst aus deren inhaltlicher Intensität: Wenn nämlich die Fragestellung nach weniger belastenden, aber gleichzeitig auch weniger wirksamen Mitteln schon methodenrechtlich als gerichtlicher Kontrollmaßstab versperrt ist, dann bleibt schon deswegen der Verwaltung bzw. dem Gesetzgeber eine Bandbreite an Entscheidungsalternativen. Der Idee der „praktischen Konkordanz^4 verbleibt die rechtliche Funktion eines Jfferfa/igsmaßstabs. Dasselbe gilt fur die einfachrechtlichen Ausprägungen55 der Optimierungsgebote. Diese Wertungsmaßstäbe optimieren das jeweilige Mittel-Zweck-Verhältnis der (Verfassungs-)Rechtsgüter. Es handelt sich dabei um (verfassungs-)rechtlich gebotene, aber insoweit nicht gerichtlich überprüfbare Maßstäbe56. Sie können eine erhebliche Rolle im Gesetzgebungs- bzw. Verwaltungsverfahren, aber auch bei der außergerichtlichen Kontrolle spielen. Zu denken ist hier an politische Kontrollinstanzen im Gesetzgebungsverfahren 57 ebenso wie an die verwaltungsinterne Kontrolle im Widerspruchsverfahren. Dort ist der Ort für die Diskussion der optimalen Lösung, der durch ein verfassungsrechtliches Optimierungsgebot eine rechtliche Dimension erhält. „Praktische Konkordanzf4 ist so verstanden eine sinnvolle rechtliche Größe, die jedoch die methodenrechtlichen und gerichtlichen Kontrollmaßstäbe einschließlich der sogenannten Verhältnismäßigkeit i. e. S. oder besser: UnVerhältnismäßigkeit als Übermaßverbot nicht ersetzen, sondern nur ergänzen kann.58 Optimierungsgebote ergänzen das Recht allenfalls um einen außergerichtlichen, aber gleichwohl rechtlichen 55

Hierzu ausführlich unter F II 2 d. Hiergegen Peine, Systemgerechtigkeit, Die Selbstbindung des Gesetzgebers als Maßstab der Normenkontrolle 1985, S. 237. 57 So meint Michael Ch. Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1985, S. 85, die praktische Konkordanz einerseits und das Verhältnismäßigkeitsprinzip andererseits richteten sich an unterschiedliche Adressaten. Die Bedeutung ersterer beschränkt er auf die Gesetzgebung und ihre „politischen Wertungen", während sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Kontrollmaßstab fur die Rechtsprechung (des BVerfG) eigne. Die Bezeichnung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Judikative Spielart des legislativen Prinzips der praktischen Konkordanz^' (ebenda, S. 86) weist m. E. in die richtige Richtung. Dieser Gedanke sollte jedoch zugunsten des Anwendungs- und Adressatenkreises der praktischen Konkordanz verallgemeinert werden: Nicht nur die legislativen, politischen Wertungsspielräume der Gesetzgebung, sondern auch jene Wertungsermächtigungen der Verwaltung und Rechtsprechung sollten dem (gerichtlicher Kontrolle entzogenen) Bindungsmaßstab praktischer Konkordanz unterworfen werden. 58 Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 252 Fußnote 18 hält die „praktische Konkordanz" für „sprachlich sehr hoch gegriffen und jedenfalls als Entscheidungsregel kaum einsetzbai" (Hervorhebung im Original). 56

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Maßstab. Im Falle der „praktischen Konkordanz handelt es sich dabei um einen verfassungsrechtlichen Maßstab. Jedenfalls die verfassungsgerichtliche Kontrolle sollte sich auf die Überprüfung der „Erträglichkeif' von Abwägungsergebnissen beschränken, da das Gericht sonst gezwungen ist, jede Abwägung durch eine eigene Wertung zu ersetzen. Besonders bei Konflikten zwischen verschiedenen Grundrechten spielt die Abwägungslehre eine erhebliche Rolle. Schlink spricht ihr für den Fall der Meinungsfreiheit „dieselbe Bedeutung wie sonst der Verhältnismäßigkeit i. e. S. zu" 59 . Das Beispiel der Meinungsfreiheit ist geeignet, die verschiedenen Wertigkeiten von Verfassungsgütern zu erwähnen, die bei der Abwägung zu berücksichtigen sind und damit den Abwägungsvorgang differenzieren und rationalisieren. Die Skala möglicher Wertigkeiten reicht „von absoluten(l), überragenden, besonders wichtigen"60 bis zu (weniger) wichtigen Werten. Bemerkenswert ist vor allem, daß auch Abwägungslehren absolut vorrangige Werte einbeziehen und anerkennen können. Man könnte vielleicht von einer modifizierten Abwägungslehre sprechen, die in Sonderfallen anstelle einer konkreten oder abstrakten Güterabwägung „eine absolute Vor-Entscheidung"61 zugunsten eines Wertes akzeptiert. Oder man nimmt schlicht Grenzen der Anwendbarkeit der Abwägungslehre an. Beide Ansätze ändern weder an der Berechtigung des Abwägungsmodells, noch an dessen grundsätzlicher Methode etwas. Auch das BVerfG erkennt solche Fälle der Abwägungsentbehrlichkeit an.62 Daß es sich bei derartigen absoluten Werten bzw. Schranken um Ausnahmen in einer grundsätzlich komparativen Struktur handelt, bleibt jedoch festzuhalten. 63 Die Theorie der „beweglichen Systeme" erkennt solche Ausnahmen nicht an.64 59

Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 655. Vergleiche auch oben Fußnote 49 auf S. 137. 60 Vergleiche die Aufzählung ebenda Randzeichen 312. 61 Schmitt Glaeser, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Schluß), AöR 97 (1972), S. 276 ff., S. 278. 62 Etwa BVerfGE 7, 198, 207 f. Hierzu auch Schmitt Glaeser, a. a. O., S. 284. 63 Insofern kann Schlinks Hinweis (Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 655) auf Schmitt Glaeser nicht als Bestätigung seiner Abwägungsskepsis gewertet werden. Schmitt Glaeser, a. a. O., S. 293: „Entgegen einer beachtlichen Meinung in der Literatur sollte man aber diese Entwickung nicht (mit) zum Anlaß nehmen, die Existenz einer Wertrangordnung insgesamt zu verneinen. Falsche Wertung spricht nicht gegen Wertung überhaupt, deren Legitimität überdies gerade im Hinblick auf die hier in Frage stehende Güterabwägung durch die im Grundgesetz nachweisbare Abstufung der Grundrechtsbegrenzungen (insbesondere der Gesetzesvorbehalte) als Indizierung einer Wertigkeit von der Verfassung selbst deutlich gemacht wird." Dem ist nichts hinzuzufügen. 64 Vergleiche oben D I 1 b („Wechselseitige Austauschbarkeit der „beweglichen" Elemente?4) S. 54 f.

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Der Grundsatz komparativer Abwägung gilt - von der Sondergesetzlehre einmal abgesehen-auch und gerade fur die Abwägung der Meinungsäußerungsfreiheit mit konkurrierenden grundrechtlich verbürgten Interessen, etwa dem Ehrenschutz. Hier besteht weniger Anlaß zur Kritik an einem vermeintlichen »Abwägungsenthusiasmus" als vielmehr ein Bedürfnis nach einer immer neuen Überprüfung der Abwägungsgesichtspunkte und ihres jeweiligen Gewichts. So wurde jüngst die mangelnde Berücksichtigung des für die Demokratie (nämlich für die Bereitschaft qualifizierter Leute zu politischer Tätigkeit) konstitutiven Ehrenschutzes bei der Abwägung mit der Meinungsfreiheit angemahnt.65 Dies sind reine (in dieser Form abstrakte) Abwägungsfragen, die die Menschenwürde berühren 66 und unbedingt rechtlicher Natur sind.

(3) ,Abwägungsenthusiasmus" oder,Abwägungsskeptizismus"?

Die Abwägungen erfordern eine einzelfallbezogene Wertung. Die Chance zur Einzelfallgerechtigkeit ist gleichzeitig Gefahr der Willkür. Deshalb ist es eine vorrangige Aufgabe der Methodenlehre, die Wertungs- und Abwägungsprobleme des Rechts zu rationalisieren, d. h. Rechtsfindung und Rechtsgewinnung auch hier nachvollziehbar zu machen. Zu diesem Streben nach Rationalität gehören auch Vorschläge, die Wertungen so weit wie möglich aus der Methodik zurückzudrängen. Dies gilt etwa für Pawlowskis Einwände gegen Wilburgs „bewegliche Systeme"67. Ähnliches läßt sich von Schlinks Kritik an einer Überbetonung der Abwägungslehre sagen: Derartige Stimmen müssen schon deswegen besonders ernst genommen werden, weil sie größere Rationalität für sich beanspruchen. Im Ergebnis kann jedoch weder Pawlowskis Vorschlag noch Schlinks Ansatz das hier vorgelegte Konzept einer Theorie der komparativen Systeme erschüttern. Schlink möchte die Angemessenheitskontrolle weitgehend durch eine Notwendigkeitsprüfung ersetzen68 und damit einem ,Abwägungsenthusiasmus"69 entgegentreten. Die Verschiebung der oben aufgezeigten Grenzen zwischen der Erforderlichkeit (Notwendigkeit) einerseits und der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit i. e. S.) andererseits führt nicht zu größerer Rationalität der Methode. Es dient der von Schlink zu Recht angemahnten Rationalität der Methode, wenn Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit i. e. S. und Optimierungsgebot strikt getrennt werden. Jede dieser Fragestellungen hat eine eigene ^lickrichtungf' und Funktion. Es sollte nicht versucht werden, eine dieser Kategorien durch eine andere zu verdrängen. Das gilt auch für die Bestrebung, die Verhältnismäßigkeitskon65 66 67 68 69

Kriele, Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, NJW 1994, 1897 (1898, 1904). Ebenda, S. 1898. Hierzu ausführlich oben S. 61 ff. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 333. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht 1976, S. 127.

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trolle zugunsten der Notwendigkeitskontrolle zurückzudrängen70. Eine gesunde , Abwägungsskepsis"71 sollte nicht zum „Notwendigkeitsenthusiasmus" verleiten. Wenn etwa die vom BVerfG 72 vorgenommene Prüfung der Angemessenheit eines empfindlichen medizinischen Eingriffs (Mittel) zur Aufklärung einer Bagatellstraftat (Zweck) zwar im Ergebnis akzeptiert wird, aber „vom Kriterium der Notwendigkeit her entwickelt"73 wird, dann verschwimmen die oben aufgezeigten (rationalen!74 ) Methoden der Abwägung. Denn die Notwendigkeitsprüfüng wird damit um den Gesichtspunkt der Notwendigkeit eines Mittels zur Erreichung eines angemessenen Zwecks (im Beispiel: des „Strafzweck(s) der tatschuldangemessenen Übelszufügung" 75) erweitert. 76 Es besteht leicht die Gefahr, daß die Verhältnismäßigkeitsprüfung i. w. S. weit über das hinaus führt, was Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit i. e. S. hier bedeuten sollen und damit zu einer „Vergerichtlichungf' 77 der Optimierungsgebote führt. Gerade dies ist aber nicht wünschenswert. Und eine derartige gerichtliche Kontrolle von Verfassungs wegen brauchen wir auch gar nicht. Die Ausnahmefälle einer „Unerträglichkeitskorrektui" fallen ohnehin unter das Übermaßverbot, denn „unerträglich" sind allenfalls Unangemessenheiten in dem oben gemeinten Sinne. Dennoch hat Schlinks Kritik einen wahren Kern. Es ist richtig, gegenüber den Abwägungen im Recht „skeptisch" im Sinne des griechischen „skeptikos = zum Betrachten, Denken geneigt"78 zu sein und zu bleiben.

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Zur Notwendigkeit eines über die Geeignetheit und Erforderlichkeit hinausgehenden Maßstabes vergleiche Wendt, Der Garantiegehalt der Grundrechte und das Übermaßvebot, AöR 104 (1979), 414,449 ff., 452 ff. 71 Diesen Begriff greift Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Auflage 1983, S. 331 in Erwiderung auf Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht 1976, S. 127 auf. 72 BVerfGE 16, 194 (202). 73 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 316. 74 Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 175 befürchtet eine „Scheinrationalität" bei der Ausdehnung der Erforderlichkeitsprüfung auf Angemessenheitsgesichtspunkte. 75 Vergleiche Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 316: „ . . . weil sie als tatschuldunangemessene Übelszufügung zur Erreichung des Strsiizwecks ungeeignet und unnötig ist." Hervorhebungen nicht im Original. 76 Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 174 hat nachgewiesen, daß diese Erweiterung der Erforderlichkeitsprüfung „mit dem bisherigen Verständnis ... nicht vereinbar ist. 77 Vergleiche Fechtrup, Wiedemeier, Vergerichtlichung der Verwaltung aus kommunaler Sicht; in Festschrift für Menger 1985, 797. 78 Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 2. Auflage 1989.

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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aa) Die Abwägung sollte, wie Schlink richtig betont, immer der letzte Schritt einer rechtlichen Argumentation sein. Wenn Häberle feststellt, die Werte selbst seien zu relativieren, 79 dann ist dies keine Verwischung der abstrakten Schutzbereiche mit ihrer abstrakten und konkreten Geltungskraft. Die komparative Struktur der objektiven Wertordnung ist der Konkretisierung fähig und bedürftig. Die Maßstäbe der Abwägung, nämlich die abstrakten Wertigkeiten sind dabei klar herauszuarbeiten und von der Verfassung geprägt.80 Dadurch ergeben sich durchaus zahlreiche rationale und verbindliche Maßstäbe.81 bb) Die Konkretisierungen verfassungsrechtlicher Abwägungen stellen einen dynamischen Prozeß dar, in dessen Mittelpunkt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht. Die Bildung von Fallgruppen, in die typische Fallkonstellationen in vorhersehbarer Weise eingeordnet werden können, ist durchaus wünschenswert. Die Konkretisierung der Wertordnung kann in der Formulierung verschiedener (wiederum komparativer) Untergesichtspunkte und soweit möglich in der Herausbildung einzelner (starrer) Regeln bestehen.82 Darin liegt die Chance größerer Bestimmtheit des abstrakten Rechts, die das konkrete Recht des Einzelfalls „leichter" finden läßt. Es handelt sich mitunter um Vereinfachungen der Rechtshandhabung, die nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, daß „hinter" solcher Fallgruppenbildung Abwägungsvorgänge stehen. Die Bezeichnung der Fallgruppenbildung als dynamischen Prozeß bedeutet nicht, daß mit dem Fortschreiten der Rechtskonkretisierung der „Rückgriffe' auf die Güterabwägung endgültig ausgeschlossen wäre. Wie notwendig die stetige Neudurchdringung und gegebenenfalls Neubestimmung der Wertrangordnung ist, hat die neuerliche Diskussion um die Bedeutung der Meinungsfreiheit gegenüber dem Ehrenschutz gezeigt. Konkretisierung darf nie zu einer Tyrannei einzelner Werte durch scheinbar gefestigte „Regeln" führen. Vielmehr muß es sich um einen dynamischen und wechselseitig offenen Prozeß der Konkretisierung und Verallgemeinerung handeln, der auch Korrekturen zuläßt. Die Bedeutung der Abwägungslehre mag in Fällen gefestigter Fallgruppenbildung in den Hintergrund treten. Aber solche Hintergrundbedeutung darf ebensowenig unterschätzt 79

Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Auflage 1983, S. 31 ff. 80 Vergleiche Schmitt Glaeser, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Schluß), AöR 97 (1972), S. 276 ff., S. 293 (wörtlich zitiert oben in Fußnote 63 aufS. 140). 81 Vergleiche hierzu die abweichende Ansicht in Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 314. 82 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Randzeichen 299 bemerkt hierzu, daß schließlich „ein fester Bestand von Gesichtspunkten und(!) Regeln verfügbar (wird), der es ermöglicht, einzelne Grundrechtsfragen methodisch zuverlässiger zu beantworten und den unvermittelten Rückgriff auf „Werte" weitgehend zu vermeiden."

144

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

werden, wie die Notwendigkeit der Güterabwägung in den ständig auftretenden neuen Konflikten, sowie die Bedeutung der Abwägung jener konkretisierender Untergesichtspunkte. Abwägung bleibt somit ein nie ganz abgeschlossener, methodischer „Dauerzustand"83. cc) Der Begriff der „Güterabwägung trifft die methodische Struktur vieler verfassungsrechtlichen Fragen: Erstens ist es notwendig, die Güter einer verfassungsrechtlichen Güterabwägung „allein von der Verfassungsebene aus zu bestimmen"84. Zweitens ist es notwendig, die Abwägung methodisch verbindlichen „Direktiven" 85 zu unterwerfen. Solche Direktiven sind die oben erörterten Voraussetzungen der Notwendigkeits- und Übermaßkontrolle sowie des Optimierungsgebots der „praktischen Konkordanz?'86. Mit dem Prinzip der Güterabwägung sind die Probleme aufgeworfen, die das Verfassungsrecht zu lösen hat. Wenn Schlink zu ihrer Lösung eine rationale Methode vermißt und einfordert, 87 ist dies eine Herausforderung an die Methodenlehre. Es gibt keine ersichtliche Alternative zur Güterabwägung. Es geht also nicht um die Suche nach neuen Wegen, sondern um die Beleuchtung des einzigen. Die Theorie der komparativen Systeme soll einen Beitrag zur rationaleren Handhabung derartiger Wertungs- und Abwägungsvorgänge leisten.

2. Bildung komparativer Normen als Alternative zu starren Normen? An die Frage nach der Funktion komparativer Systeme beim Entstehen von Rechtstatbeständen und Rechtsnormen schließt sich eine zweite an: Wann fuhrt die komparative Methode der Rechtsgewinnung auch zur Gewinnung komparativer Normen? Diese beiden Fragen sind streng zu unterscheiden, da nicht jeder komparative Prozeß der Rechtsgewinnung zu einer Gewinnung komparativer 83 Für die Bedeutung der Typusbegriffe gegenüber den Klassenbegriffen hat Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Internationale Zeitschrift für die Theorie des Rechts, 12 (1938), S. 46 ff. S. 52 = ders., Gesamtausgabe (hrsgg. von Arthur Kaufmann), Band 3 Rechtsphilosophie III (bearb. von Winfried Hassemer), 1990, S. 60 ff., S. 68 f. dieses Phänomen so formuliert: „Freilich sind diese Typusbegriffe nur Durchgangsformen auf dem Weg zu den als Endform erstrebten Klassenbegriffen, Klassenbegriffe in statu nascendi. Aber dieser status nascendi ist in Wahrheit ein Dauerzustand, der niemals endgültig überwunden wird." 84 So schon Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Auflage 1983, S. 32. Vergleiche auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Randzeichen 72 Fußnote 31. 85 Dies fordert auch Hesse, ebenda Randzeichen 72: „'Güterabwägung' entbehrt für ihre Wertungen einer solchen Direktive". 86 Ebenda. Vergleiche zu den Optimierungsgeboten bereits oben Fußnote 225 auf S. 100. 87 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 134 f.

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

145

Normen fuhrt. Vielmehr können auch starre Normen auf komparative Weise entstehen. Diese Unterscheidung ist nur dann von Bedeutung, wenn man zwischen Rechtsgewinnung und Rechtsfindung ebenfalls unterscheidet.88 Hieran sollte trotz der unvermeidbaren Überschneidungen grundsätzlich festgehalten werden. Wer hingegen jeglichen Rechtsanwendungsvorgang leugnet und in jeder Entscheidung einen topisch-schöpferischen Akt sieht, der muß auch zwischen komparativer Rechtsfortbildung und komparativer Rechtsanwendung nicht differenzieren. Auf den ersten Blick scheint manches fur eine Überwindung dieser Unterschiede zu sprechen. Tatsächlich ist die komparative Methode sowohl bei der Rechtsfortbildung als auch bei der Rechtsanwendung von Bedeutung. Insofern muß die Methodenlehre jedenfalls beide Bereiche der Rechtsgewinnung und Rechtsfindung umfassen. Allerdings ist aber die komparative Methode nur für einen Teil der Rechtsfindung und -anwendung einschlägig. Eine komparative Anwendung starrer Tatbestände ist methodenwidrig.89 Ebenso ist eine starre Anwendung komparativer Systeme unzulässig.90 Die überkommene Unterscheidung zwischen Rechtsgewinnung und Rechtsfindung läßt sich nicht durch eine neue zwischen komparativer und starrer Rechtserkenntnis ersetzen, auch wenn komparative Strukturen methodisch sowohl bei der Rechtsgewinnung als auch bei der Rechtsfindung eine Rolle spielen. Bei der methoden rechtlichen Frage, wie die Aufgaben der Rechtsfortbildung und Rechtsanwendung auf die verschiedenen Gewalten zu verteilen sind, wer m. a. W. in welchem Maße zur Rechtsfortbildung berufen ist, ist die Unterscheidung zwischen Rechtsgewinnung und Rechtsfindung unverzichtbar. Deshalb soll hier von vornherein zwischen Rechtsgewinnung einerseits und (komparativer bzw. starrer) Rechtsfindung andererseits unterschieden werden. Nicht nur komparative Methoden der Rechtsgewinnung, sondern auch komparative Tatbestände sind ein Dauerzustand91. Freilich können sich durch den Prozeß der Rechtsfortbildung aus komparativen Systemen bisweilen starre Normen herauskristallisieren. Komparative Systeme sind aber keinesfalls nur „Übergangsrecht". Sie erfüllen nicht nur während des Phasensprunges von der Fortbildung des Rechts zum fortgebildeten Recht eine wichtige Aufgabe. Vielmehr gibt es Rechtsfragen, die dauerhaft am besten durch komparative Rechtsanwendung gelöst werden: Komparative Systeme sind dann die „besten" Normen, wenn auch im Einzelfall nur eine Abwägung zu sachgerechten Ergebnissen führt. Manchmal erfordert die Einzelfallgerechtigkeit den Rückgriff auf die „ Z w e c k e und Interessen" des 88 89 90 91

Hierzu Β II. Hierzu F III 1. Hierzu F III 2. Vergleiche Fußnote 83 auf S. 144.

10 Michael

146

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Rechts. Dieses Phänomen durchzieht alle Rechtsgebiete: Im Zivilrecht 92 hat die Errungenschaft der „Zweck- und lnteressenjurisprudenz?49 3 gezeigt, daß es oft einer Abwägung der Privatinteressen im Einzelfall bedarf. Im Strafrecht 94 sind es die „Strafzwecke", die bei der Strafzumessung komparativ berücksichtigt werden. Im öffentlichen Recht sind es die Abwägungen privater und öffentlicher , Jnteressen"95; für das Verwaltungsrecht96 wurde das „Stichwort Zweckprogrammierungf' 97 geprägt. Es soll hier keineswegs behauptet oder auch nur der Eindruck erweckt werden, solche Abwägungen seien in allen Gebieten unserer Rechtsordnung dieselben. Etwa der spezifisch öffentlich-rechtliche Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses ist nicht lediglich eine Erweiterung des privatrechtlichen Interessenspektrums 98. Entscheidend ist hier nur, daß die Methode der komparativen Rechtsgewinnung jeweils dieselbe ist und daß sie auf ein gemeinsames Phänomen der Einzelfallabwägung zurückgeht. Auch die geschriebenen und ungeschriebenen allgemeinen Rechtsprinzipien, die das Fundament unseres Rechtsverständnisses ausmachen, sind komparative Normen. Als allgemeine Beispiele geschriebener komparativer seine hier die Vorschriften genannt, die den „Zweck des Gesetzes"99 oder die „Aufgaben" 100 „Leitvorstellungen" und „Grundsätze"101 eines Gesetzes bestimmen, sowie Präambeln und Gesetzesvorsprüche102. Welche Bedeutung komparative Normen als Alternativen zu starren Normen haben, läßt sich am besten für die verschieden Rechtsgebiete getrennt beantworten:

92

Hierzu unter F I I 2 a. Grundlegend Heck, Gesetzesauslegung und lnteressenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1-318. 94 Hierzu unter F I I 2 b. 95 Den Begriff des „Interesses" verwendet auch das BVerfG, etwa in E 7,198,215. Weitere Nachweise hierzu bei Schmitt Glaeser, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Schluß), AöR 97 (1972), S. 276 ff. 281 in Fußnote 222. 96 Hierzu sogleich unter F I I 2 c. 97 Hierzu Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, Band I: Das Planungssystem der Landesplanung, Grundlagen und Grundlinien, 1978, S. 88 m. w. N. 98 Zu den Unterschieden zwischen der verfassungsrechtlichen Güterabwägung und der „Interessenabwägung nach zivilrechtlichem Mustek vergleiche Schmitt Glaeser, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Schluß), AöR 97 (1972), S. 276 ff. S. 281 f. m. w. N. 99 Etwa § 1 BImSchG. 100 § 1 SGB I. 101 §§ 1 f. ROG. 102 Hierzu Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 211 ff. 93

II. Rechtsgewinnungsfunktion (Rechtsetzungsmethoden)

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a) Zivilrecht: Zu den Beispielen des Mitverschuldens und der Sittenwidrigkeit

Im Zivilrecht geht es um Abwägung der Interessen von PrivatrechtsSubjekten. Die Zweck- und Interessenjurisprudenz hat die Abwägungsstruktur offengelegt und „zum Programm" gemacht. Manche dieser Interessenkonflikte sind so sehr einzelfallbezogen, daß der Gesetzgeber sie allenfalls durch Bildung komparativer Normen regeln kann. Die beiden Beispiele des § 138 BGB und des § 254 BGB wurden bereits analysiert103. Weitere Beispiele lassen sich bei den unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln des Zivilrechts finden. 104 b) Strafrecht: Die Strafzumessungslehren und Interessenabwägungen bei den Rechtfertigungsgründen (1) Strafzumessungslehre

Die Strafzumessungslehre beschäftigt sich mit den Rechtsfolgen einer Straftat. Wenn festgestellt ist, daß ein Verhalten strafbar ist, muß in einem zweiten Schritt Art und Höhe der Strafe bestimmt werden. Dieser zweite Schritt, die Strafzumessung hat sich in der Strafrechtswissenschaft der Nachkriegszeit zu einer selbständigen Disziplin entwickelt.105 Das hängt nicht nur mit dem Gegenstand (der Rechtsfolgenbestimmung), sondern vor allem mit der vom übrigen Strafrecht fundamental abweichenden Methode der Strafzumessung zusammen. Diese Methode106 — nicht die inhaltlichen Diskussionen über einzelne Zumessungsgesichtspunkte — soll hier untersucht werden. Denn es handelt sich hierbei geradezu um ein Musterbeispiel komparativer Systeme.107 Es ist bemerkenswert, wie hoch die dogmatische Durchdringung der komparativen Methode in dieser Strafrechtsteildisziplin entwickelt ist. Das mag auch daran liegen, daß es im Strafrecht um stets eine Rechtsfolge geht, nämlich um Strafe, daß diese Rechtsfolge ein besonders sensibles Rechtsinstrument darstellt und daß deshalb um Sinn- und 103

Vergleiche oben S. 59 f. und S. 71 bis 92. Zur Bedeutung der „beweglichen Systeme" im Deliktsrecht vergleiche jetzt Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, 13. Auflage 1994, S. 414 und 518. Vergleiche auch Göpfert, „Bewegliche Systeme" zur Bewältigung von Ähnlichkeiten am Beispiel der „Bürgschaftsfalle" des BGH, JuS 1993, S. 655 ff. 105 Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem 1970, S. 10. 106 A u f den Zusammenhang mit der Typuslehre hat schon früh Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Internationale Zeitschrift für die Theorie des Rechts, 12 (1938), S. 46 ff., S. 49 = ders., Gesamtausgabe (hrsgg. von Arthur Kaufmann), Band 3 Rechtsphilosophie III (bearb. von Winfried Hassemer), S. 60 ff., S. 65 hingewiesen. 107 Für Wilburgs Lehre von den „beweglichen Systemen" so auch Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff., 277. 104

10*

148

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Zweckgesichtspunkte eine nie erlahmende Diskussion gefuhrt wird. 108 Diese Diskussion findet in der Strafzumessung ihren dogmatischen und zugleich äußerst praxisrelevanten Ort, denn dies ist das Einfallstor fur derartige rechtsgrundsätzliche Erwägungen: Strafzweckgesichtspunkte sollen die „oberste Richtschnur"109 der Strafzumessung sein. Gerade weil im Strafrecht die Rechtsfolge „Strafe" als solche stets dieselbe ist, wird über Art und Maß dieser einen Rechtsfolge umso erbitterter gerungen, bis hin zu Erwägungen über deren Sinn und Zweck.

(2) Gesetzliche Regelung

Die einzelnen Strafnormen des besonderen Teils des StGB schreiben in den seltenen Fällen einer zwingend lebenslangen Freiheitsstrafe eine fest bestimmte, also nicht variable Rechtsfolge vor. 110 Hier besteht somit eine rein gesetzliche, nicht richterlich im Einzelfall auszuübende „Strafbemessung" 111. Im Regelfall hingegen ist dem Richter durch das Gesetz lediglich ein Strafrahmen, der weder unter- noch überschritten werden darf, vorgegeben. Hier spricht die Lehre von der „richterlichen Strafzumessung^ 112. Zahlreiche gesetzliche Differenzierungen sind jedoch auch hier zu beachten: - Erstens ist der Strafrahmen von Delikt zu Delikt verschieden. Der jeweilige Strafrahmen enthält über die Bestimmung der Eckwerte hinaus auch einen Wertmaßstab,113 der es gebietet, mittelschwere Fälle mit jeweils mittlerem Strafmaß zu sanktionieren. Der statistische „Regelfall" wird, da er die mittlere denkbare Schuld nicht erreicht, im unteren Bereich des Strafrahmens angesiedelt.114 - Zweitens ergeben sich durch die sogenannten „unbenannten Strafänderungen" 115 Abweichungen vom Regelstrafrahmen. Das sind die gesetzlich erwähnten, aber tatbestandlich unbestimmten „besonders schweren" bzw. „minder 108

Vergleiche auch Westerhoff, Die Elemente des beweglichen Systems, 1991, S. 80 f. Stree, in Pieroth/Schlink, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 24. Auflage 1991, zu § 46 Randzeichen 3. 110 Das Gesetz spricht in § 354 StPO von „absolut bestimmte(r) Strafe 44. Hierzu noch auf S. 159. 111 Die Begriffe Strafbemessung und Strafzumessung werden sehr unterschiedlich verwendet; wie hier Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 1988, S. 778; vergleiche auch ebenda, Fußnote 3 m. w. N. 112 Ebenda. 113 Stree, in Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 24. Auflage 1991, zu § 46 Randzeichen 2, vor §§ 38 ff. Randzeichen 42. 114 BGH NStZ 84, 20. Weitere Nachweise auch zur Gegenmeinung bei Stree, a. a. Ο., vor §§ 38 ff. Randzeichen 42. 1,5 Stree, in Schönke/Schröder, ebenda, vor §§ 38 Randzeichen 43 ff. nennt ergänzend die benannten Strafänderungsgründe, die hier methodisch nicht von den deliktsabhängi109

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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schweren" Fälle. Inzwischen ist der Gesetzgeber dazu übergegangen, die Voraussetzungen derartiger Strafanderungen nicht mehr gänzlich unbestimmt zu lassen, sondern selbst Regelbeispiele116 zu formulieren. - Drittens sind die Strafzumessungsregeln des allgemeinen Teils des StGB (§§ 46 ff. StGB) zu beachten. Sie betreffen nicht mehr die Differenzierungen des Strafrahmens, sondern die Feststellung der einzelfallbedingten Strafe innerhalb eines Strafrahmens. Diese allgemeinen Strafzumessungsregeln stehen im Mittelpunkt der Strafzumessungslehre. Die abstrakte, gesetzgeberische Normierung dieses einzelfallbezogenen Bereichs kann als äußerst behutsam bezeichnet werden. Die Kriterien der Strafzumessung, die inzwischen in § 46 Abs. 2 StGB formuliert wurden, sind nicht abschließend gemeint und kommen nach dem Gesetzeswortlaut lediglich „in Betracht". Erwähnenswert ist bei der geschichtlichen Entwicklung der Strafzumessungslehre, daß die heute in § 46 Abs. 2 StGB genannten Kriterien von der Rechtsprechung entwickelt und längst beachtet wurden,1 1 7 bevor der Gesetzgeber sie in die Textstufe 118 des geschriebenen Bundesrechts erhob. Im wesentlichen sind folgende geschriebenen und ungeschriebenen Strafzumessungsgesichtspunkte zuberücksichtigen: Die Strafzumessung orientiert sich an den Strafzwecken einerseits sowie den Strafzumessungstatsachen andererseits.119 Welchen Sinn und Zweck die Strafe im einzelnen hat, ist höchst umstritten. Sogar die Berechtigung der Strafe und des Strafrechts als solche wurde in Zweifel gezogen. Entsprechend heftig und bis heute aktuell ist die Diskussion um die Berechtigung einzelner Strafzwecke und deren Verhältnis zueinander.120 Der Gesetzgeber hat sich in dieser Hinsicht zwar geäußert, damit jedoch die Diskussion keineswegs beendet noch beenden wollen. Welche der verschiedenen Strafzwecke im Gesetz (insbesondere § 46 Abs. 1 und 2 StGB) im einzelnen Ausdruck gefunden haben, soll hier nicht interessieren. Es ist lediglich darauf hinzuweisen, daß sich Strafzwecke auch aus anderen positivrechtlichen Normen ergeben können und am Verfassungsrecht gemessen werden müssen. Soweit sich Strafzwecke positivrechtlich nachweisen lassen, handelt es sich bei derrichterlichen Strafzumessung nach Jescheck121 um „Rechtsanwendungf4 mit einer „individuellen Komponente"; gemeint ist damit, gen Strafrahmen unterschieden werden sollen, und erwähnt auch die Sonderstellung des § 211 StGB (hierzu ebenda, Randzeichen 45). 1,6 Vergleiche oben Fußnote 139 auf S. 82 und unten S. 152 f. 117 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 1988, S. 787. 118 Vergleiche oben Fußnote 37 auf S. 27. 119 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 1988, S. 782 f. 120 Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 4. Auflage 1992, S. 16. 121 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 1988, S. 780 m. w. N.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

daß einerseits abstraktes Recht existiert und andererseits richterliche Wertungen möglich sowie erforderlich werden.

(3) Methodische Strukturen bei der Strafzumessung

Die methodischen Besonderheiten bei der Strafzumessung lassen sich bereits anhand des Gesetzeswortlauts des § 46 StGB nachweisen: Die Schuld, genauer die Zumessungsschuld122 des Täters ist hiernach „Grundlage"(!) der Strafzumessung (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB). Die spezialpräventiven „Wirkungen"(!) der Strafe „sind zu berücksichtigen" (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB). „Bei der Zumessung wägt(!) das Gericht die Umstände(!), die für und gegen den Täter sprechen gegeneinander ab" (§ 46 Abs. 2 Satz 1 StGB). Solche Umstände, die dabei „namentlich^) in Betracht(!)" kommen, zählt der Gesetzgeber in § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB auf. Schließlich enthält § 46 Abs. 3 StGB ein Verbot, solche Umstände zu berücksichtigen, die bereits Tatbestandsmerkmale sind. Die Regelung enthält in Absatz 1 die Normierung einer Grundsatzfeststellung (sogenannte Grundlagenformel 123) sowie das bemerkenswerte Gebot der Folgenberücksichtigung. Methodisch entscheidend ist jedoch vor allem das ausdrückliche Gebot der Abwägung in Absatz 2. Diese Abwägung soll nach herrschender Lehre dem richterlichen, allerdings gebundenen Ermessen unterliegen.124 Dieser Umstand wirft folgende Fragen auf: Welche Behandlung erfährt die sogenannte Ermessensentscheidung im Strafrecht? Gibt es hier Unterschiede zum verwaltungsrechtlichen Ermessen? Welche Konsequenzen ergeben sich etwa daraus, daß die Ermessensausübung hier nicht der Exekutive, sondern der Judikative zufällt? Welche Verfassungsnormen binden dieses Ermessen125 ? Welcherichterlichen Überprüfungsinstanzen und -maßstäbe kommen in Betracht126 ?

122

Hierzu Bruns, Neues Strafzumessungsrecht? 1988, S. 45 ff. Zur Kritik an der extremen Unbestimmtheit dieses Begriffs vergleiche Frisch, Gegenwärtiger Stand und Zukunftsperspektiven der Strafzumessungsdogmatik, ZStW 99, 349 ff., 380 ff. 123 Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung, 1972, S. 13 rügt diese Bestimmung als gesetzgeberischen Mißgriff. Zur Unbestimmtheit vergleiche auch Schaffstein, SpielraumTheorie, Schuldbegriff und Strafzumessung nach den Strafrechtsreformgesetzen, in Festschrift für Gallas 1973, S. 99 ff., 102. 124 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 1988, S. 780 m. w. N. Vergleiche auch Stree, in Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 24. Auflage 1991, zu § 46 Randzeichen 7.

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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Der Schluß vom gesetzlichen Abwägungsgebot auf ein eingeräumtes richterliches Ermessen ist m. E. nicht selbstverständlich. Zwar ist richtig, daß der Richter fur seine Abwägung lediglich Anhaltspunkte und keinen abschließenden Katalog von Gesichtspunkten erhält. Aber dies ist eine Frage der Bestimmtheit der tatbestandlichen Gesichtspunkte. Auch der Abwägungsvorgang selbst ist zwar ein Wertungsvorgang. Bei diesem muß der Richter zunächst die Zumessungstatsachen bewerten, d. h. entscheiden, ob sie im Einzelfall für oder gegen den Täter sprechen.127 Sodann hat der Richter die ermittelten Umstände mit- und gegeneinander abzuwägen und gegebenenfalls aufzuwiegen. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß diese Wertungen (nicht revisionsrechtlich nachprüfbare) Ermessensspielräume eröffnen. Um die sogenannte Ermessensausübung rational nachvollziehbarer zu gestalten, gibt es zahlreiche Bestrebungen: Eine besondere Bedeutung - auch hinsichtlich der Revisibilität - kommt hierbei der Begründung der Strafzumessungsentscheidung zu (§ 267 Abs. 3 StPO).128 Zur Gewährleistung der Gleichmäßigkeit der Strafzumessung wurde die sogenannte Normalfallmethode vorgeschlagen.129 Die Forderung, Fälle zu vergleichen, betont einerseits denrichterrechtlichen Charakter der Strafzumessung und zieht hieraus andererseits Konsequenzen zugunsten der methodischen Rationalität.

(4) Beispiele fur komparative Systeme im Strafrecht

Aus dem Bereich des Strafrechts sollen hier exemplarisch die Regelbeispieltechnik (etwa des § 243 StGB) sowie die Abwägungsgebote (der §§46 Abs. 2 und 34 StGB) auf ihre methodenrechtliche Struktur hin untersucht werden.

125

Hierzu Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, 1962, S. 130 ff.; zum Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vergleiche auch Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 1988, S. 781. Die besondere und vordringliche Bedeutung des Verfassungsrechts im Bereich der Strafzumessung betont Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Auflage 1985, S. 8. Er spricht sogar von einer „Zuständigkeitsänderun^ 4 zugunsten des BVerfG und zu Lasten des BGH. 126 Hierzu Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Auflage 1988, S. 781. 127 Vergleiche auch Stree, in Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 24. Auflage 1991, zu § 46 Randzeichen 7. 128 Vergleiche Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Auflage 1985, S. 263 ff. 129 Horn in Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Stand der Loseblattausgabe 1993, vor § 46 StGB Randzeichen 5.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

aa) Regelbeispiele im Vergleich zu „Insbesondere"-Tatbeständen und Fallgruppenbildung Die Regelbeispiele wurden bereits bei der Erörterung von sogenannten „Insbesondere"-Tatbeständen erwähnt.130 Regelbeispiele und „Insbesondere" Tatbestände konkretisieren jeweils eine unbestimmte Generalklausel. Am besten läßt sich der Charakter dieser beiden Regelungstechniken im Vergleich herausarbeiten. Deshalb sollen hier die oben herausgearbeiteten Unterschiede noch einmal kurz rekapituliert werden: Regelbeispiele nennen weder notwendige noch hinreichende Voraussetzungen fur eine bestimmte Rechtsfolge. So ist es etwa möglich, die verschärfte Rechtsfolge des § 243 StGB abzulehnen, obwohl eines der dort genannten Beispiele vorliegt, da diese nur „in der Regel" einen besonders schweren Fall des Diebstahls ausmachen.131 Umgekehrt ist es möglich, die Strafverschärfung in Fällen anzunehmen, die nicht von den Beispielen erfaßt sind.132 Regelbeispiele bilden einen gesetzlich vorgesehenen, vom Richter zu füllenden „offenen Ort" für Wertungsgesichtspunkte. Sie sind keine selbständigen Normen, da sie weder Tatbestand noch Rechtsfolge umfassen. „Insbesondere"-Regelungen haben im Vergleich zu Regelbeispielen einen höheren Festlegungsgehalt. Sie normieren nämlich hinreichende133 Voraussetzungen, bei deren Vorliegen eine richterliche Wertung entfällt. Der Rückgriff auf die Generalnorm ist zwar möglich, wenn diese Voraussetzungen nicht vorliegen, aber er ist entbehrlich, wenn sie vorliegen. Die „Insbesondere"-Tatbestände sind eigenständige Normen, die eine verbindliche Rechtsfolgenanweisung enthalten. Das heißt jedoch keinesfalls, daß Regelbeispiele keine normative Bedeutung hätten. Im Gegenteil sind Regelbeispiele sogar aussagekräftiger bei der Frage der Auslegung und Konkretisierung der Generalnorm. Während der Einfluß der „Insbesondere"-Regelung auf den Grundtatbestand von Rückgriffssperre und der bloßen Mindestfestlegung bis zum Richtwert, also von der Ausnahme- bis zur Regelwirkung reichen kann, gibt das Regelbeispiel stets Anhaltspunkte zur Ausfüllung eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Immerhin können auch „Insbesondere"-Regelungen eine ,/egelbeispielhafte", d. h. Regelbeispielen ähnliche 130

Oben unter D II 2 c und D II 3. Vergleiche statt aller Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, Grundlagen, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 2. Auflage 1994, § 9 IV, Randzeichen 15 mit einer Aufzählung der zahlreichen(!) Regelbeispiele im StGB. 132 BGHSt 29, 322. 133 Genau dies leugnet Bender, Ein Beitrag zur Regelungstechnik in der Gesetzgebungslehre, Gedächtnisschrift für Rödig, 1978, S. 34 ff., S. 38: „Grundsätzlich nennen nur Normen auf mittelhohem Abstraktionsniveau - die also weniger konkret sind als die meisten „Insbesondere"-Tatbestände (Anmerkung nicht im Original) - notwendige (und ausreichende) Bedingungen der Rechtsfolge." Hervorhebung im Original. 131

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

Ausstrahlungswirkung verlieren. 134

153

entfalten, ohne dabei ihren eigenen Festlegungsgehalt zu

Jnsbesondere"-Tatbestandsmerkmale sind als solche schon deshalb keine komparativen Elemente, weil sie hinreichende Bedingungen fur eine Rechtsfolge darstellen. Eine andere Frage ist, ob sich die in einer Jnsbesondere"-Regelung genannten Merkmale unter weiteren Voraussetzungen als komparative Elemente zur Auslegung der Generalklausel berücksichtigen lassen. Das ist für jede derartige Regelung gesondert zu prüfen und hängt davon ab, ob solche Merkmale graduell erfüllbar sind, ob sie graduelle Berücksichtigung finden sollen und ob ein komparativer Ausgleich zwischen verschiedenen derartigen Merkmalen tatsächlich stattfinden soll. Diese Voraussetzungen werden oft, keinesfalls jedoch immer nachzuweisen sein. Somit können Jnsbesondere"-Tatbestände bzw. die durch sie konkretisierten Generalklauseln komparative Systeme sein, müssen es aber nicht. Für die Regelbeispiele gilt folgendes: Für die Interpretation einer Gruppe von Regelbeispielen als komparatives System spricht eine gewisse Vermutung, denn jedes einzelne Regelbeispiel stellt ja keine hinreichende Bedingung für die Rechtsfolge dar. Deswegen haben Aufzählungen von Regelbeispielen keine selbständige Regelqualität. Es bestehen hier nicht die Bedenken, durch eine komparative Interpretation den Festlegungsgehalt der gesetzlichen Konkretisierung zu umgehen, die es im Falle der Jnsbesondere"-Tatbestände jeweils auszuräumen gilt. Festlegen auf eine „Jedenfalls"-Geltung der Rechtsfolge will sich der Gesetzgeber mit Regelbeispielen nämlich gerade nicht. Die Regelbeispiele sollen somit weniger binden als eine richterrechtlich nachweisbare Fallgruppenbildung. Regelbeispiele sollten deshalb nicht als Fallgruppenbildung bzw. als deren Bestätigung und Festschreibung auf höherer Textstufe 135 aufgefaßt werden. Allerdings hat die Regelbeispieltechnik eine wesentliche Gemeinsamkeit mit der Fallgruppenbildung: Die Beispiele können sowohl komparativen als auch starren Regelcharakter haben. Dies ist nicht mit der Offenheit zu verwechseln. „Offen" im Sinne von,glicht abschließend" sind Regelbeispiele stets gemeint, während höchstrichterliche Fallgruppenbildung bisweilen im Gegenteil Generalklauseln und Rechtsinstitute zu ersetzen scheinen. Dies ist, wenn es um die Konkretisierung wiederumrichterrechtlicher Rechtsinstitute geht,136 auch nicht zu beanstanden. Auch Regelbeispiele müssen nicht komparative Systeme sein, können es aber. Ob Fallgruppen und Regelbeispiele komparativen Charakter haben, hängt davon 134

Hierzu s. u. D II 3. Vergleiche oben Fußnote 37 auf S. 27. 136 So hält sich ζ. B. die Praxis bei der Drittschadensliquidation streng an Fallgruppen. Vergleiche hierzu Heinrichs in Palandt, Vorbemerkungen vor § 249 BGB Randzeichen 110 f. 135

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

ab, ob sie überhaupt graduell erfüllbar sind. Daran wird schon eine Vielzahl der Fälle scheitern. Etwa das Regelbeispiel Nr. 7 des § 243 Abs. 1 Satz 2 StGB ist einer graduellen Einordnung nicht zugänglich. Weiterhin ist zu fragen, ob graduell erfüllbare Regelbeispiele graduelle Berücksichtigungfinden sollen und ob ein komparativer, summarischer Ausgleich zwischen verschiedenen derartigen Beispielen tatsächlich stattfinden soll. Es spricht vieles dafür, aber auch manches dagegen, etwa einen Diebstahl einer Sache unter § 243 Abs. 1 Satz 2 StGB einzuordnen, wenn die gestohlene Sache in (allein genommen zu) geringem Maße „der religiösen Verehrung dient" (Nr. 4) und außerdem von (allein genommen zu) geringer ,3edeutung für die ... Kunst oder Geschichte" (Nr. 5) ist. Das Analogieverbot steht einer solchen , Aufaddierung" im Bereich der Strafzumessung 137 und bei der Regelbeispieltechnik138 jedenfalls nicht entgegen. Es besteht dank der Generalklauseln sogar eine Art Analogiegebot, d. h. ein Gebot, verschieden artige, aber vergleichbare Fälle allein wegen ihrer Gleich Wertigkeit gleichzubehandeln. Fraglich ist somit nur, ob und gegebenenfalls wann die Aufaddierung von Gesichtspunkten zur Gleichwertigkeit führt. bb) Das Abwägungsgebot des § 46 Abs. 2 StGB

Von der Regelbeispieltechnik ist das Abwägungsgebot des § 46 Abs. 2 StGB zu unterscheiden. Die dort genannten Kriterien führen nicht für sich genommen „in der Regel" zur Festsetzung eines bestimmten Strafmaßes. Vielmehr sind sie als Teilgesichtspunkte einer Gesamtabwägung von Umständen „in Betracht" zu ziehen. Die Umstände sind also nicht nur „einfach einander gegenüberzustellen" 139 , d. h. zu erwägen, sondern nach ihrer Bedeutung und ihrem Gewicht140 gegen- und miteinander abzuwägen. Der Richter darf sich bei seinen Erwägungen also nicht auf eines der genannten Kriterien allein stützen, selbst wenn er dieses für besonders bedeutend bzw. übererfüllt hält. Vielmehr darf er das Strafmaß erst nach einer Gesamtwürdigung141 der, d. h. aller Umstände, die für und gegen den Täter mit ganz unterschiedlichem Gewicht sprechen können, feststellen. Das bedeutet, daß es sowohl zur Aufaddierung, als auch zur Kompensation142 von Gesichtspunkten kommt. Ein Blick auf die in § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB genannten Kriterien zeigt, daß sich diese Gesichtpunkte nicht abstrakt in strafverschärfende Gesichtspunkte einerseits und strafmildernde Umstände andererseits auftei137

Hierzu zählt auch die Vorschrift des § 243 Abs. 1 Satz 2 StGB, vergleiche Eser, in Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 24. Auflage 1991, zu § 243 Randzeichen 3. 138 Ebenda, zu § 1 Randzeichen 29 m. w. N. 139 Stree, in Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 24. Auflage 1991, zu § 46 Randzeichen 6. 140 Ebenda. 141 Vergleiche BGH NStZ/T 1986,495. 142 Stree, in Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 24. Auflage 1991, zu § 46 Randzeichen 6.

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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len lassen.143 So können etwa die „Ziele des Täters" sowohl deren besondere Verwerflichkeit, als auch die grundsätzliche Lauterkeit des Täters offenbaren. Darüber entscheidet die einzelfallbezogene Bewertung der Zumessungstatsachen, die deren Abwägung vorauszugehen hat. Die genannten Strafzumessungsgesichtspunkte sind also nichts anderes als komparative Elemente. Wegen der Fülle der im Gesetz genannten Gesichtspunkte kann § 46 Abs. 2 StGB mehr noch als § 254 BGB als Prototyp eines vom Gesetzgeber de lege lata normierten komparativen Systems angesehen werden. Es handelt sich darüberhinaus um ein offenes System, da der gesetzliche Katalog nicht abschließend ist. 144 Der Rechtsprechung (und Wissenschaft) obliegt es somit, weitere „in Betracht" kommende Erwägungen herauszuarbeiten und zu berücksichtigen. Dabei ist es vor allem wichtig, mit ebensolcher Sorgfalt und Entschiedenheit auch diejenigen Gesichtspunkte bewußt zu machen und zu benennen, die keine Berücksichtigung finden dürfen. Grenzen für erlaubte Kriterien ergeben sich durch teleologische Auslegung der Strafzumessungsvorschriften, durch die Fortentwicklung der Strafzwecklehre und hierbei vor allem durch Schranken des Verfassungsrechts. cc) Das Abwägungsgebot des § 34 StGB —Zugleich ergänzende Erwägungen zum Begriff der, Angemessenheit" Das Abwägungsgebot des § 46 Abs. 2 StGB ist keineswegs ein juristisches, nicht einmal ein strafrechtliches Unikum. Erwähnt sei hier der Rechtfertigungsgrund des § 34 StGB, weil er zeigt, daß sich die vermeintlichen methodischen Besonderheiten des Strafzumessungsrechts auch auf Rechtsbereiche erstrecken, die das Ob der Strafwürdigkeit betreffen. Selbstverständlich gibt es entsprechende Normen auch in anderen Teilen unserer Rechtsordnung. Hingewiesen sei hier nur auf die verwandten Vorschriften der §§ 228, 904 BGB. Ähnlich wie schon § 46 Abs. 2 StGB ist auch § 34 StGB eine Fixierung eines richterlich entwickelten und gewohnheitsrechtlich längst anerkannten Rechtsinstituts, nämlich des „übergesetzlichen Notstandes" und mit ihm der strafrechtlichen Güter- und Interessenabwägungstheorie, auf höherer Textstufe 145. Auch „bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen" (§ 34 StGB) der Notstandssituation spielen zahlreiche graduell erfüllbare Gesichtspunkte graduelle Berücksichtigung. Das Gesetz selbst nennt ausdrücklich die Berücksichtigung „des Grades der ... Gefahren". Zu erwähnen ist besonders das abstrakte Rangverhältnis der betroffenen Rechtsgüter146, das sich an der unterschiedlichen Straf143

Ebenda, Randzeichen 7. Ebenda, Randzeichen 10 und 52 m. w. N. 145 Vergleiche oben Fußnote 37 auf S. 27. 146 Lenckner, in Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 24. Auflage 1991, zu § 34 Randzeichen 23. 144

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

bewehrung, aber auch sonstigen Wertentscheidungen unseres positiven Rechts147, besonders des Verfassungsrechts zu orientieren hat. Das abstrakte Rangverhältnis komparativer Elemente ist eines der Phänomene, das die strenge Lehre der „beweglichen Systeme" - m. E. zu Unrecht - nicht anerkennt148 und damit ein Beispiel dafür, daß es sinnvoll ist, mit der Theorie der komparativen Systeme über das Merkmal der Ranggleichheit, bzw. Gleichwertigkeit der Elemente hinauszugelangen. Ansonsten handelt es sich bei § 34 StGB nicht weniger als bei § 46 Abs. 2 StGB um ein komparatives System. Parallelen bestehen auch zur öffentlich-rechtlichen Abwägungslehre, genauer zum verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser fordert eine Prüfung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und der Angemessenheit. In § 34 Satz 2 StGB hat der Gesetzgeber ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer Angemessenheitsprüfung hingewiesen. Was „angemessen" im Sinne dieser Vorschrift bedeutet, ist allerdings umstritten. Wenn man hierunter die Angemessenheit als Verhältnismäßigkeit i. e. S. versteht, erscheint der ausdrückliche Hinweis des Gesetzgebers auf sie angesichts des Abwägungsgebots in Satz 1 als rein deklaratorisch 149. Erinnert sei hier an den verfassungsrechtlichen Begriff der Angemessenheit: Dort ist zwischen dem „lockeren" Maßstab der Verhältnismäßigkeit i. e. S. einerseits und dem Optimierungsgebot der praktischen Konkordanz andererseits zu unterscheiden. Verhältnismäßig i. e. S. ist grundsätzlich nicht nur eine einzige, nämlich die beste und damit „angemessene" Abwägung aller denkbaren Zwecke mit allen denkbaren Mitteln. Eine »Angemessenheit" in diesem (umgangssprachlichen) Sinne ist grundsätzlich nicht (verfassungs-)gerichtlich überprüfbar. Übertragen auf das Strafrecht bedeutete dies: Ein Täterverhalten wäre sowohl notwendig als auch angemessen, selbst wenn mit (erheblich) milderen Mitteln derselbe Zweck (unerheblich) weniger wirksam erreicht würde. Gerade dies soll aber nicht für § 34 StGB gelten. Hier geht es tatsächlich um das Gebot „praktischer Konkordanz?' aller Rechtsgüter, gar aller rechtlich erlaubten Zwecke und Mittel, ein Gebot also, das demgegenüber verfassungsrechtlich nicht die Regel, sondern die Ausnahme darstellt. Eine Optimierung aller verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte ist um so mehr Verfassungsgebot, wenn es im Einzelfall um den Ausgleich privat-privater Grundrechts-Konflikte 150 geht. In diesem Fall kann das Optimierungsgebot der praktischen Konkordanz sogar ausnahmsweise zum gerichtlichen Überprüfungsmaßstab werden. Genau dies ist bei den Interessenkonflikten des § 34 StGB der Fall: Hier stehen die Rechtsgüter 147

Ebenda, Randzeichen 43 f. auch zur Berücksichtigung außerrechtlicher Wertungen. Hierzu oben unter D I 1 a („Ranggleichheit der „beweglichen" Elemente") S. 52 ff. 149 Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 4. Auflage 1992, § 8 V I 1. d) bb), S. 126 f. m. w. N. auch zur Gegenansicht in Fußnote 116. 150 Hierzu sogleich am Beispiel der Meinungsfreiheitskonflikte. 148

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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des Angegriffenen denen des Angreifers gegenüber. Hier soll es einmal um eine wirklich umfassende Güterabwägung gehen, die ein ansonsten strafbares Verhalten rechtfertigen kann. Wenn man bei der Interessenabwägung des § 34 Satz 1 StGB eine Angemessenheitsprüfung in diesem strengen Sinne eines Optimierungsgebots vornimmt, bleibt für eine darüber hinausgehende Einschränkung gerechtfertigter Notstandshandlungen durch § 34 Satz 2 StGB kein Raum. Es ist allerdings nichtrichtig, daß es für eine Unterscheidung zwischen der Verhältnismäßigkeitsprüfüng im Rahmen des § 34 Satz 1 StGB und einer eventuellen eigenständigen Angemessenheitsprüfüng im Rahmen des § 34 Satz 2 StGB kein denkbares Kriterium geben kann.151 Vielmehr ist zwischen der Angemessenheit im engeren und im weiteren, umfassenden Sinne deutlich zu unterscheiden. Es ist nämlich ein wesentlicher Unterschied, ob Regelungs- bzw. Verhaltensalternativen verfassungsrechtlich bzw. strafrechtlich umfassend in ihrer Angemessenheit zu berücksichtigen sind oder nur im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung als Notwendigkeitskontrolle. Es ist also möglich, in § 34 Satz 2 StGB den (erforderlichen) Hinweis auf die Angemessenheit im weiteren, umfassenden Sinne zu sehen. Es ist wichtig, den Umfang der Angemessenheitsprüfüng in dieser Weise zu differenzieren. Ob hingegen diese Differenzierung in einer getrennten Prüfung von § 34 Satz 2 StGB zum Ausdruck kommen muß, ob m. a. W. mit Angemessenheit im Sinne dieser Vorschrift nur die Angemessenheit im umfassenden Sinne gemeint ist und ob nicht auch diese schon im Rahmen der Interessenabwägung nach § 34 Satz 1 StGB selbstverständlich wäre, ist im Ergebnis unerheblich. Eine andere Frage ist es, ob dem Täter auch die Möglichkeit des Ausweichens vorgehalten werden darf. Dies entscheidet sich nach der Bewertung des gemeinwohlorientierten Gesichtspunktes der Rechtsbewehrung im Rahmen der Angemessenheit, ist somit keine methodische, sondern inhaltliche Frage. Ein wesentlicher Unterschied zwischen § 46 Absatz 2 StGB und § 34 Satz 1 StGB wird in methodischer Hinsicht jedoch gemacht: Während bei der Strafzumessungsvorschrift immer wieder der Ermessenscharakter der Entscheidung betont und als unvermeidlich dargestellt wird, besteht über die uneingeschränkte Revisibilität und Gebundenheit derrichterlichen Beurteilung des rechtfertigenden Notstandes kein Zweifel. Bei § 34 Satz 1 StGB ist von einem richterlichen Ermessen nicht die Rede. Das mag angesichts des unterschiedlichen dogmatischen Stellenwertes beider Vorschriften zwar verständlich scheinen. Eine sachliche Notwendigkeit der Ermessenseinräumung besteht aber bei der Strafzumessung nach § 46 Abs. 2 StGB ebensowenig wie bei § 34 Satz 1 StGB.

151 So aber Lenckner, in Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 24. Auflage 1991, zu § 34 Randzeichen 46.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Zwar scheint der Wortlaut des § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB mit der Formulierung „kommen in Betracht" weniger bindend zu sein. Das täuscht aber: Denn in § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB geht es ja nur um die Konkretisierung des in § 46 Abs. 2 Satz 1 StGB bindend formulierten Abwägungsgebots, das insoweit dem § 34 Satz 1 StGB vergleichbar ist. Die Normstruktur der beiden Vorschriften ist also insoweit vergleichbar. Es sollte deshalb bei beiden Normen von einem Ermessen gesprochen werden. Eine andere - mit der Qualifizierung einer Norm als Ermessensnorm allerdings häufig vermengte - Frage ist es, welche Instanz das Ermessen letztinstanzlich selbst ausübt. Hierfür muß die Funktion der unterschiedlichen Instanzen ausschlaggebend sein. Deshalb bleibt zu fragen, welche revisionsrechtlichen Konsequenzen sich daraus ergeben, daß § 46 Abs. 2 StGB im Gegensatz zu § 34 Satz 1 StGB als Ermessensvorschrift gedeutet wird:

(5) Überprüfung strafgerichtlicher Ermessens- und Abwägungsentscheidungen

Aus § 354 StPO ergibt sich, daß die Revisionsinstanz keine eigene Strafzumessung durchführt, sondern in den Fällen, in denen ein variables Strafmaß neu zu bemessen ist, zurückverweisen muß. Hiervon ist jedoch die Frage zu unterscheiden, inwieweit die Revisionsinstanz die Strafzumessung der Untergerichte überprüft. Selbst wenn dabei das Revisionsgericht das Strafmaß nicht selbst ersetzen darf, könnte es nämlich berufen sein, ein Urteil gegebenenfalls allein wegen fehlerhafter Strafzumessung aufzuheben und zurückzuverweisen. Dann muß aber geklärt werden, was „fehlerhafte Strafzumessung^4 im revisionsrechtlichen Sinne ist. Es müßte sich dabei nach § 337 Abs. 2 StPO um eine nicht richtige Anwendung einer Rechtsnorm handeln. Die Revision muß die Strafzumessungs&rztenew uneingeschränkt überprüfen, da die KriterienawswflA/ eine Frage des objektiven Rechts ist und nicht der tatrichterlichen Willkür unterliegen darf. 152 Insoweit ergeben sich auch keine Besonderheiten gegenüber der Ermessensfehlerlehre: Auch eine beschränkte Ermessenskontrolle umfaßt die Auswahl zulässiger Ermessensgesichtspunkte.153 Die Grenze zwischen Tat- und Rechtsfrage verläuft bei der Strafzumessung zwischen der Gewichtung der Zumessungstatsachen und der Auswahl der Zumessungsgesichtspunkte.154 Überläßt die Revisionsinstanz die Auswahl der Zumessungsgesichtspunkte der ungehinderten Entwicklung durch die Tatsacheninstanzen, kommt es nicht nur zu bedenklichen Ungleichbehandlungen, sondern auch zur unüber152

Schünemann, Grundfragen der Revision im Strafprozeß (Teil 2), JA 1982, 123, 124 f. Zu den Fragen des verwaltungsrechtlichen Ermessens sogleich unter c. 154 Vergleiche bereits Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff., 277. 153

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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sichtlichen Ausuferung der (vermeintlichen) Zumessungsgesichtspunkte155. Die Revisionsinstanz muß hier zur Vereinheitlichung beitragen und die richterliche Rechtsfortbildung lenken.156 Die Abgrenzung zwischen Rechts- und Tatfragen ist bei § 34 StGB keine andere als bei der Strafzumessung. § 337 Abs. 2 StPO gilt hier gleichermaßen. Unterschiede können sich allenfalls aus § 354 StPO ergeben. Genau betrachtet knüpft diese Norm aber nicht an den Grund der Urteilsaufhebung, sondern an deren Folgen an. Es ist nämlich nicht nur bei der Revision wegen eines Strafzumessungsfehlers, sondern bei jeder Revision mit Folge einer neuen Strafzumessung zurückzuverweisen. Und dies gilt auch nur in den Fällen, in denen das Gesetz einenrichterlich auszufüllenden Zumessungsspielraum eröffnet. Dadurch sind nicht nur die Fälle gesetzlicher „Strafbemessung" 157, sondern auch die Fälle des Freispruchs, der Einstellung und sogar der Mindeststrafe bzw. des Absehens von Strafe - beides mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft - ohne Zurückverweisung durch eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts abzuschließen. Das Gesetz unterscheidet damit deutlich zwischen den zwei Arten komparativer Systeme, nämlich zwischen denen mit starrer und denen mit variabler Rechtsfolge. Folgt die komparative Verknüpfung dem Muster ,je mehr - desto mehr", darf die Revisionsinstanz keine eigene Sachentscheidung treffen; folgt sie hingegen dem Muster ,je mehr - desto eher/wahrscheinlicher", so ist eine Zurückverweisung nur erforderlich, wenn außerdem noch weitere Tatsachen aufzuklären sind, um die komparative Wertung zu treffen. Diese Unterscheidung - und nicht die Qualifizierung der Strafzumessung als Ermessensausübung - ist es, die bei strafrechtlichen Revisionen von entscheidender Bedeutung ist. Die Konsequenzen dieser Unterscheidung für § 34 StGB einerseits und die Strafzumessung andererseits sind evident: Bei der Rechtfertigung geht es um das starre Entweder-oder einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit, bei den Strafzumessungsregeln um das graduelle Maß der Strafe. Ein Unterschied muß dabei nicht hinsichtlich der Revisibilität der jeweiligen komparativen Erwägungen gemacht werden, sondern erst bei der Frage, ob die Revisionsinstanz im Falle der Urteilsaufhebung zurückverweisen muß. Zurückzuverweisen ist auch bei Beanstandungen hinsichtlich § 34 StGB, wenn die Revisionsinstanz im Gegensatz zur Tatsacheninstanz keine Rechtfertigung annimmt und damit eine Strafzumessung erst notwendig wird oder wenn neue Tatsachenermittlungen erforderlich werden. Im übrigen kann das Revisionsgericht auch bei Strafzumessungsfragen die Mindeststrafe mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft selbst festsetzen (§ 354 Abs. 1 a. E. StPO). Es ist deshalb irreführend, in bezug auf die Revisibilität nur 155

Für eine Reduzierung spricht sich auch Schünemann, Grundfragen der Revision im Strafprozeß (Teil 2), JA 1982, 123, 125 aus. 156 Zu den Fragen des Richterrechts vergleiche G III 3. 157 Hierzu Fußnote 111 auf S. 148.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

den Ermessenscharakter der Strafzumessung hervorzuheben. Die Angreifbarkeit sowohl der Strafzumessung als auch der Beurteilung einer Rechtfertigung in der Revision darf nicht durch das Schlagwort „Ermessen" grundsätzlich in Frage gestellt werden. Komparative Systeme sollen Einzelfallgerechtigkeit ermöglichen. Sie dürfen nicht den Rechtsschutz beschneiden und die Strafzumessung zur „Einzelfallwillküi" 158 werden lassen. c) Verwaltungsrecht: Die Lehren vom Ermessen und vom unbestimmten Rechtsbegriff

Komparative Systeme spielen im Verwaltungsrecht eine besonders große Rolle. Sowohl die Gesichtspunkte der Ermessensausübung als auch die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe stellen oft komparative Elemente dar. Für die Kontrolldichte bei Entscheidungsspielräumen ist nicht die Unterscheidung zwischen Rechtsfolgenermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff, sondern die Methode entscheidend, solche Spielräume zu füllen: Beschränkte Kontrolldichte kommt nur für komparative Konkretisierungen von Spielräumen in Betracht. Die methodische Struktur komparativer Systeme erfordert neben inhaltlichen auch methodenrechtliche Maßstäbe. Diese müssen die beschränkte inhaltliche Kontrolldichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit ersetzen. Letztlich wäre es vielleicht besser, anstatt zwischen „beschränkter" und „unbeschränkter" Kontrolldichte zwischen Methoden- und Inhalts-Kontrolle zu unterscheiden. Es handelt sich nämlich weniger um eine ,,Lockerungf' als vielmehr um eine Verschiebung der Kontrollmaßstäbe. Methodenrecht ist deshalb vor allem das Methodenrecht der komparativen Systeme. Von diesem Standpunkt aus läßt sich das „Uraltthema der Verwaltungsrechtswissenschaft" 159 (die Unterscheidung zwischen Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff) auf eine einfache Formel 160 bringen: (1) Nur begriffliche oder auch rechtliche Unterscheidung zwischen Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff?

Eine begriffliche Trennung zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessen ist möglich. Das setzt allerdings voraus, daß man den Begriff des Ermessens auf das Rechtsfolgenermessen beschränkt. Da diese Beschränkung keineswegs zwingend oder vom Gesetzgeber vorgegeben ist, soll hier ausdrücklich vom Rechtsfolgenermessen gesprochen werden, wenn ein Entscheidungsspielraum über Rechtsfolgen gemeint ist. Der Entscheidungsspielraum entsteht beim 158

Schünemann, Grundfragen der Revision im Strafprozeß (Teil 2), JA 1982, 123, 125. Rupp, „Ermessen", „unbestimmter Rechtsbegriff 4 und kein Ende, in Festschrift für Zeidler, Band I, 1987, S. 455. 160 Hierzu unter F I I 2 c (5) („Komparative Strukturen als Differenzierungskriterium zur Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte"). 159

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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Rechtsfolgenermessen dadurch, daß die Rechtsfolge nicht als „starres Muß" vorgeschrieben ist. Ein Rechtsfolgenermessen ist vielmehr gegeben, wenn sich bei Vorliegen (bestimmter) tatsächlicher Voraussetzungen die Rechtsfolge nicht ohne weiteres durch SubsumtionsscA/w/? ergibt, sondern nur ergeben kann, darf oder soll oder wenn verschiedene Rechtsfolgen (nach pflichtgemäßem Ermessen) zur Auswahl gestellt sind. Der unbestimmte Rechtsbegriff ist ein Tatbestandsmerkmal, das durch seine Unschärfe 161 einen zwingenden Subsumtionsschluß zum Problem macht. Der denkbare Spielraum von Normen mit unbestimmten Rechtsbegriffen liegt in der möglichen Bandbreite, ihre Voraussetzungen zu konkretisieren. Wenn jedoch ein Fall unter den insoweit konkretisierten Tatbestand eingeordnet wird, dann tritt die vorgeschriebene Rechtsfolge ohne weiteres ein. Zwischen Tatbestand und Rechtsfolge ist eine klare Trennung möglich. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß eine Kombination von unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessen möglich ist. Daß unbestimmter Rechtsbegriff und Rechtsfolgenermessen begrifflich klar unterscheidbar sind, heißt aber nicht, daß sie auch methodisch und/oder rechtlich unterschiedlich behandelt werden müssen.162 Zwar ist es - schon aus Gründen der Rechtssicherheit - immer wünschenswert, inhaltlich dort zu differenzieren, wo auch begrifflich möglichst scharfe Trennungen gelingen. Deshalb ist oft gefordert worden, zwischen Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff auch rechtlich grundsätzlich zu unterscheiden. Aber es hieße, zur Begriffsjurisprudenz zurückzufallen, wenn begriffliche Trennungen die rechtliche Behandlung diktieren würden. Ungleich soll nicht das begrifflich besonders klar Unterscheidbare, sondern das „wesentlich", d. h. unter Wertungsgesichtspunkten Ungleiche behandelt werden. Zu fragen ist deshalb, ob zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff und dem Ermessen ein nicht allein begrifflicher, sondern auch „wesentlicher" rechtlicher Unterschied besteht, ob beide Begriffe ungleichwertig und deshalb grundsätzlich unterschiedlich zu behandeln sind. Ob wesentliche Gründe für eine rechtliche Differenzierung bestehen, kann nicht allgemein, sondern nur in bezug auf die jeweilige Differenzierung beantwortet werden. Deshalb ist vorrangig zu fragen, welche rechtliche Unterscheidung in Frage steht. Die rechtliche „Sonderbehandlung", der nach überkommener Auffassung grundsätzlich das Rechtsfolgenermessen, nicht jedoch der unbe161 Der Begriff der Unbestimmtheit ist freilich selbst „unbestimmt". Schon Ehmke, „Ermessen" und „unbestimmter Rechtsbegriff 4 im Verwaltungsrecht, 1960 in: Recht und Staat 230/231, S. 29 brachte dies auf die Formel: „ Das wesentlichste Merkmal des Begrifffs des „unbestimmten Rechtsbegriffs" ist, daß er in seine eigene Kategorie fällt. 162 Gegen das Argument der Simplizität bereits Ehmke, „Ermessen" und „unbestimmter Rechtsbegriff 4 im Verwaltungsrecht, 1960 in: Recht und Staat 230/231, S. 30.

11 Michael

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

stimmte Rechtsbegriff unterworfen ist, liegt angeblich in einer Beschränkung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte. (2) Darf und soll die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte hinter der verwaltungsrechtlichen Bindung der Behörden zurückbleiben?

Die rechtliche Unterscheidung läge somit in der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte: Die Ermessensausübung soll der gerichtlichen Kontrolle nur in eingeschränktem Maße unterworfen sein. Demgegenüber soll der unbestimmte Rechtsbegriff gleich dem bestimmten Rechtsbegriff der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterworfen werden. Bevor man erörtern kann, ob tatsächlich zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff und Rechtsfolgenermessen hinsichtlich der Kontrolldichte zu unterscheiden ist, sollte Klarheit über das Ziel dieser Unterscheidung herrschen: Was bedeutet diese Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte? Zwei Antworten sind denkbar: 1. Die Verwaltung könnte innerhalb ihres Ermessens keinerlei rechtlicher Bindung unterliegen. Ermessensspielraum wäre dann ein rechtsfreier Raum. Zwischen den rechtlichen und den gerichtlichen Maßstäben bestünde Identität. Die beschränkte gerichtliche Kontrolldichte wäre Konsequenz beschränkter rechtlicher Bindungsmaßstäbe. 2. Die Verwaltung ist zwar auch hinsichtlich des Ermessensspielraumes an Rechtsnormen gebunden, aber diese Rechtsnormen sind nicht Prüfungsmaßstab bei der gerichtlichen Kontrolle. Im zweiten Fall wäre also Recht und gerichtlicher Prüfungsmaßstab nicht identisch. Die zweite Antwort ist die bessere, obwohl sie dazu führt, daß Recht und gerichtlicher Kontrollmaßstab nicht identisch sind. Das ist aber durchaus nichts Ungewöhnliches, wenn man daran denkt, daß der Prüfüngsmaßstab der Verfassungsgerichte auf das Verfassungsrecht, oder der der Bundesgerichte auf das Bundesrecht beschränkt wird. In diesem Fall gäbe es jedoch eine Art von Recht, das von keinem Gericht überprüft wird. Auf dieses Recht dürfte sich die Garantie einer gerichtlichen Kontrolle (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht erstrecken. Das ist jedoch ein überwindbares verfassungsrechtliches Problem, denn Art. 19 Abs. 4 GG schützt nur subjektiv gewährte Rechte („Wird jemand ... in seinen Rechten verletzt.. , " 1 6 3 ). Die Ermessenseinräumung bedeutet mitunter eine Ausnahme der Gewährung subjektiver Rechte: Ein subjektiver Anspruch besteht nur auf fehlerfreie Ermessensausübung, nicht jedoch auf eine bestimmte Entscheidung innerhalb des Ermessensbereichs. Die gerichtlich überprüfbaren Ermessensfehler betreffen die Ermessensausübung selbst. Die Ausgestaltung des Rechts ohne die Gewährung subjektiv-öffentlicher Ansprüche unterliegt frei163

Hervorhebung nicht im Gesetzeswortlaut.

II. Rechtsgewinnungsfunktion (Rechtsetzungsmethoden)

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lieh weiteren verfassungsrechtlichen Einschränkungen, da schon die Grundrechte solche Ansprüche garantieren. Den Zusammenhang zwischen den Grundrechten und Art. 19 Abs. 4 GG hat das BVerfG inzwischen in diesem Zusammenhang bestätigt: Je mehr z. B. Art. 12 GG betroffen ist, desto mehr muß auch das Verwaltungsermessen gerichtlicher Kontrolle unterliegen.164 Ist die somit mögliche Unterscheidung zwischen Recht und gerichtlichem Prüfüngsmaßstab auch sinnvoll? Tatsächlich gibt es entscheidende rechtliche Gründe dafür, der Verwaltung außerhalb der gerichtlichen Kontrolldichte keinen rechtsfreien Spielraum einzuräumen - zumal eine „Verrechtlichung" des Ermessensspielraums keineswegs sinnlos ist und auch nicht lediglich zu einem nicht durchsetzbaren, weil nicht einklagbaren Recht führt. Erstens ist die Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3 GG - nicht weniger als die Gerichte - an das Recht gebunden.165 Nimmt man die Bindung der Verwaltung ernst, darf kein Zweifel daran bestehen, daß diese auch ohne entsprechende gerichtliche Kontrolle schon Sinn hat. Das Beamtentum rechtfertigt in seiner dem Gemeinwohl verpflichteten Verantwortung den Sinn einer solchen staatlichen Bindung. Zweitens gibt es die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht etwa deshalb, weil sonst das öffentliche Recht nicht staatlich durchsetzbar wäre. Nicht nur daß die Verwaltung an das Recht gebunden ist und nicht einseitig staatliche Interessen vertreten soll, sogar die Verwaltungsstruktur gewährt Kontrollinstanzen: Im Widerspruchs- bzw. Plangenehmigungsverfahren, aber auch bei den formlosen Rechtsbehelfen findet Rechtmäßigkeitskontrolle statt. Hier gibt es grundsätzlich keine Einschränkungen der Kontrolldichte. Die Beschränkung der rechtsaufsichtlichen gegenüber der fachaufsichtlichen Kontrolle sowie die Besonderheiten der Kontrolldichte im Widerspruchsverfahren in Selbstverwaltungsangelegenheiten wäre ein Thema, das den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Es sei hier nur angemerkt, daß z. B. Art. 119 Nr. 1 BayGO für das Widerspruchsverfahren ausdrücklich darauf hinweist, daß in den Fällen, in denen die Widerspruchsbehörde auf die Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt ist, „zuvor ... die Selbstverwaltungsbehörde nach § 72 VwGO auch die Zweckmäßigkeit zu überprüfen" hat, daß also die innerbehördliche Se/òs/kontrolle auch im Falle des Selbstverwaltungsrechts unbeschränkt ist. Für den Bereich des Bauplanungsrechts bleibt die RechtskoniroWe im Genehmigungs- und Anzeigeverfahren durch die zuständige Behörde nach § 216 164

BVerfGE 60, 253, 269 und E 85, 36, 58 ff. Zur neueren Entwicklung der Rechtsprechung vergleiche Schulze-Fielitz, Neue Kriterien für die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte, JZ 1993, 772, 775. 165 Das BVerwG hat in E 64, 33, 35 ζ. Β. festgestellt, daß das verfassungsrechtlich in Art. 20 Abs. 3 GG abgesicherte Abwägungsgebot des § 1 Abs. 6 BauGB (=§ 1 Abs. 7 BundesBauG) durch § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB (=§ 155b Abs. 2 Satz 2 BundesBauG) unberührt bleibe. 11*

164

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

BauGB ausdrücklich unberührt. Das bedeutet, daß die höhere Verwaltungsbehörde während des Planungsverfahrens noch Rechtsmängel beanstanden kann und muß, die später vor dem Verwaltungsgericht nicht mehr beanstandet werden können, weil sie nach §§ 214 f. BauGB nicht mehr die Wirksamkeit des Plans berühren. Das BVerwG hat klargestellt, „daß die Genehmigungsbehörde einen Bauleitplan im Hinblick nicht nur auf Verfahrens- und Formfehler ..., sondern auch auf den Abwägungsvorgang ohnejede Einschränkung zu prüfen hat." 166 Die Planungshoheit führt somit nicht zu Beschränkungen der verwaltungsinternen Rechtmäßigkeitskontrolle, sondern zur Beschränkung auf die verwaltungsinterne Rechtmäßigkeitskontrolle. Daß die verwaltungsgerichtliche Kontrolle beschränkt wird, läßt sich neben dem Gewaltenteilungsargument auch damit begründen, daß eine nachträgliche Kontrolle zu (wirtschaftlich) unangenehmen Folgen fuhren könnte, die im Genehmigungsverfahren noch vermieden werden können. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist neben der verwaltungsinternen Kontrollinstanz eine zusätzliche Kontrollinstanz über die ohnehin rechtlich gebundene Verwaltungstätigkeit. Die Berechtigung und Funktion der Verwaltungsgerichte als zusätzliche Kontrollinstanzen soll hier nicht bezweifelt werden. Im Bereich des öffentlichen Rechts ist eine Kumulierung des Rechtsschutzes schon deshalb angezeigt, weil es hier um den sensiblen Bereich des Staat-Bürger-Verhältnisses geht. Entsprechendes gilt für den noch sensibleren Bereich des Strafrechts, wo (abgesehen von der polizeilichen, gegebenenfalls ein Strafverfahren gar nicht erst einleitenden Tätigkeit) der Staatsanwalt als objektive(!) Instanz sogar während des Gerichtsverfahrens neben dem Richter nach objektiven rechtlichen Maßstäben urteilt. Ein Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung der verwaltungsinternen Kontrolle und der gerichtlichen Kontrolldichte besteht sogar von Verfassungs wegen:167 Je besser das Verwaltungsverfahren Rechtsschutz gewährt, desto geringer muß die durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierte gerichtliche Kontrolldichte sein. Kompensieren kann das Verwaltungsverfahren eine gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle aber nur, wenn es sich bei der verwaltungsinternen Kontrolle um eine rechtliche m Nachprüfung handelt. Deshalb muß es für einen etwaigen gerichtlich nicht kontrollierbaren Bereich ein die Verwaltung bindendes Recht geben.

166

BVerwGE 63, 33, 40 f.; (Hervorhebung nicht im Original). Zustimmend Battis in: Battis, Krautzberger, Lohr, Kommentar zum BauGB, 4. Auflage 1994, zu § 216 BauGB Randzeichen 2 m. w. N. 167 In diese Richtung weist auch BVerfGE 84, 34,47 ff.

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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Schließlich gibt es auch eine einfachgesetzliche Bestätigung dieser Unterscheidung: Im Bereich des Bauplanungsrechts bestimmt § 216 BauGB ausdrücklich, daß Beschränkungen der gerichtlichen Kontrolldichte und des Individualrechtsschutzes die Verpflichtung zur verwaltungsinternen Kontrolle unberührt lassen.

(3) Auf welche Maßstäbe kann die gerichtliche Kontrolldichte beschränkt bzw. verlagert werden?

Nun stellt sich die Frage, welche Rechtsnormen zur Kategorie der gerichtlich kontrollierbaren Rechtsnormen gehören und welche Maßstäbe durch die Beschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte allein der verwaltungsinternen Beachtung und Kontrolle anvertraut sind: Liest man die positiven Formulierungen der Gerichte zur Frage, was auch bei der „eingeschränkten" Ermessenskontrolle gerichtlich überprüft werden kann, dann entsteht leicht der Eindruck, diese Maßstäbe erfaßten letztlich jeden denkbaren rechtlichen Fehler bei der Ermessensausübung. Diese Maßstäbe lassen sich folgendermaßen 169 strukturieren: 1. Materiellrechtliche, inhaltliche Maßstäbe: Der Inhalt, das Ergebnis der Ermessensentscheidung kann gegen geltendes Recht verstoßen. Der angewendeten Ermessensnorm sind als materiellrechtlicher Maßstab ihre tatbestandlichen Voraussetzungen sowie die „äußeren" Grenzen der ins Ermessen gestellten Rechtsfolge gesetzt. Darüber hinaus können sich „innerhalb" des Ermessensspielraumes zahlreiche materiellrechtliche Grenzen aus anderen Normen ergeben. Denn Efmessensnormen entbinden in der Regel nicht von der systematischen Beachtung gleich- oder gar höherrangiger Normen. Ob solche Normen das Ermessen wirklich prägen ist eine Frage der systematischen, gegebenenfalls verfassungskonformen Auslegung.

168 Weiter mag man im Bereich der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte gehen. So bereits Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297, 303 f.; auch abgedruckt in ders., Die Verfassung des Pluralismus 1980, S. 79, 91 f. sowie ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 155, 174 f. m. w. N. im Nachtrag auf S. 180 f. Häberle hält die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte ebenfalls für „variabel", jedoch in Abhängigkeit vom Grad der vorangegangenen ,,faktischen(!) Partipation" verschiedener Gruppen. Auf die Verfassungsgericht!iche Kontrolldichte wird noch ausführlich eingegangen unter G II 2. 169 Die beste Untersuchung zu den (weiteren) denkbaren Kategorien findet sich bei Alexy, Ermessensfehler, JZ 1986, S. 701 ff.

166

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Soweit materielles Verfassungsrecht in Form von Abwägungen zu ermitteln ist, gilt das oben Gesagte über die gerichtliche Kontrolldichte der Verhältnismäßigkeit i. e. S. 170 . Das bedeutet, daß nicht die Optimierung der Rechtsgüter, wohl aber das Übermaßverbot der gerichtlichen (und gegebenenfalls der verfassungsgerichtlichen) Kontrolle unterliegt. Dieser Maßstab hat eine materiellrechtliche und eine methodenrechtliche Komponente, die klar unterschieden werden sollten: Verkennt die Verwaltung das abstrakte oder konkrete Gewicht eines Grundrechts inhaltlich und überschreitet sie in ihrer Ermessensentscheidung so die Grenze zum Übermaß, zum relativen Wesensgehalt, dann liegt hierin ein verfassungswidriger Verstoß gegen das materielle Recht. Verkennt die Verwaltung hingegen, daß sie die Verfassungsrechtsgüter in gewichtender Abwägung zu berücksichtigen hat oder mißachtet sie die Methode des Abwägens als solche, indem sie dierichtigenFragen ζ. B. nach Notwendigkeit und Übermaß nicht stellt, dann liegt hierin ein methodenrechtlicher Fehler. Beides kann, muß aber nicht zusammentreffen. Damit kann ein Abwägungsgebot mit entsprechender Kontrolle hier auf zwei Ebenen bestehen: Sowohl die Ermessensentscheidung selbst wie auch das Verfassungsrecht erfordern Abwägungen. Jede dieser Abwägungen unterliegt materiellrechtlichen und methodenrechtlichen Bindungen. Die gerichtliche Kontrolldichte verfassungsrechtlicher Abwägung wird noch zu erörtern sein.171 Ein besonderes Problem stellt die materiellrechtliche Bindung an Normen, die im Verhältnis zur Ermessensnorm niederrangig sind, dar. Dies sind die normkonkretisierenden Verwaltungsrichtlinien. Sie sollen als Innenrecht lediglich verwaltungsinterne Wirkungen entfalten, dem Bürger hingegen keine subjektiven, klagbaren Rechte geben. Ob die Verwaltungsgerichte diese Normen dennoch zum Maßstab ihrer Kontrolle machen dürfen oder gar müssen, ist eine Frage der Selbstbindung der Verwaltung. Diese Frage ist eine von materiellrechtlichen Inhalten unabhängige nach Art. 3 Abs. 1 GG zu beurteilende Frage des Methodenrecht.172 2. Verfahrensrechtliche Maßstäbe: Die Einhaltung der Normen des Verwaltungsverfahrens 173 ist grundsätzlich unbeschränkt gerichtlich überprüfbar. Jedenfalls ergibt sich für Ermessensentscheidungen hier keine spezifische Beschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte. Im Gegenteil: Die „reinen" Verfahrens-, Form- und Zuständigkeitsfehler können bei Ermessensentscheidungen im Gegensatz zum Regelfall des § 46 VwVfG alleine zur Aufhebbar170

Siehe oben unter F II 1 c. Vergleiche G II 2 (Der Ermessensbereich des Art. 3 Abs. 1 GG als komparatives System - Zur Reduktion der Kontrolldichte im Verfassungsrecht) S. 230 ff. 172 Hierzu unter G II 2. 173 Zum Verfahrensgedanken bei der Ermessenskontrolle vergleiche bereits Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 657 ff. 171

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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keit eines Verwaltungsaktes fuhren. Die Ermessensspielräume der Verwaltung müssen durch verfahrensrechtliche Strenge ausgeglichen werden. 174 Gerade weil es Spielräume im Ergebnis gibt, ist es für den Bürger von entscheidender Bedeutung, wer diese Spielräume in welcher Form und nach welchem Verfahren schließt. Deshalb ist auch die Nachholung einer Anhörung als Heilung eines Verfahrensfehlers nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG besonders problematisch. Auf die Besonderheiten der gerichtlichen Kontrolldichte im Planungsverfahren wird noch einzugehen sein.175 3. Methodenrechtliche Maßstäbe: Der inhaltlich in den oben aufgezeigten Grenzen gerichtlich nicht überprüfbare Ermessensspielraum unterliegt strengen methodenrechtlichen Regeln. Dies läßt sich am besten im Vergleich der gerichtlichen Ermessenskontrolle mit der gerichtlichen Kontrolle gebundener Entscheidungen erkennen: Die Gerichte handhaben die Auslegungsmethoden bei der „uneingeschränkten" Kontrolle gebundener Entscheidungen selbst recht frei: Letztlich entscheiden hier meist „ergebnisorientierte" Maßstäbe. Daran mag man Kritik üben und ein Methodenrecht der Auslegung fordern. 176 Erklären läßt sich dieses Defizit leicht: Die Gerichte sehen kein Bedürfnis für strengere methodenrechtliche Maßstäbe in dem Bereich, in dem sich ihre Kontrolle auf sämtliche Rechtsinhalte erstreckt. Sie würden mit der Herausarbeitung von Methodenrecht weniger die Verwaltung als vielmehr sich selbst binden. Ganz anders verhält sich dies im Bereich der „eingeschränkten" Ermessenskontrolle: Dort können sich die Gerichte nicht auf ergebnisorientierte, inhaltliche Maßstäbe zurückziehen, soweit diese nicht Prüfungsmaßstab sind. Der Willkür wollen die Gerichte aber auch den verbleibenden Ermessensspielraum nicht überlassen. Sie mißtrauen auch insoweit der verwaltungsinternen Kontrolle. Deshalb wurden zahlreiche Maßstäbe entwickelt, die nicht bemessen, mit welchem inhaltlichen Ergebnis das Ermessen auszuüben ist, sondern nach welchen Methoden die rechtlich zulässigen Gesichtspunkte in den Abwägungsvorgang einzubeziehen sind. Diese Methoden erklären die Gerichte für verbindliche und gerichtlich überprüfbare Maßstäbe. Sie sind deshalb längst praktiziertes Methodenrecht, ohne daß ihre dogmatische Einordnung sie bisher als solches qualifiziert hat. Ansätze zu einer Differenzierung zwischen inhaltlichen, verfahrensbezogenen 177 und metho-

174 Vergleiche Schulze-Fielitz, Neue Kriterien für die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte, JZ 1993, 772, 777 m. w. N. in Fußnoten 85 ff. 175 Hierzu noch ausführlich unter F II 2 d. 176 Siehe unter F III 1 b. 177 Zum Beispiel Kopp, Kommentar zum VwVfG, 5. Auflage 1991, zu § 40 VwVfG Randzeichen 29.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

denrechtlichen178 Maßstäben lassen sich immerhin in der Rechtsprechung und Literatur erkennen. Die verfassungsrechtliche Verankerung des Methodenrechts im Gleichheitssatz und im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz soll noch untersucht werden. 179 Die Einräumung eines Ermessensspielraums hat den Sinn, dem verwaltungsinternen Sachverstand bei der Einzelfallwürdigung Raum zu geben. Die einzelfallbezogene Würdigung sämtlicher rechtsrelevanter Umstände ist selbst „Zweck" der Ermächtigung im Sinne der §§40 VwVfG und 114 VwGO. Diese Ermächtigung zur Einzelfallwürdigung muß die Verwaltung wahrnehmen. Die Einzelfallbezogenheit bestimmt die Methoden der Rechtserkenntnis im Ermessensbereich, die als Methodenrecht justitiabel im Sinne des § 114 VwGO sind. Das Methodenrecht komparativer Systeme kann als ein Methodenrecht der Einzelfallwürdigung und -abwägung an die Ermessensfehlerlehre anknüpfen. 180 Bleibt eine Einzelfallwürdigung, eine Abwägung der Umstände und somit eine Ermessensausübung aus, entscheidet die Behörde vielmehr „schematisch"181, so liegt schon darin ein methodischer Ermessensfehler. Das gleiche gilt, wenn die Verwaltung einzelne Belange nicht nach den Regeln der Einzelfallabwägung abstrakt und konkret gewichtet. Auch die Voraussetzungen der Ermessensentscheidung sind sorgfältig unter Berücksichtigung der Beweisgrundsätze zu prüfen. 182 Weiterhin muß die Behörde jeden zu entscheidenden Fall mit ihrer ständigen Praxis vergleichen. Auch erhalten Verwaltungsrichtlinien über die regelmäßige Befolgung 183 eine außenrechtliche Dimension184, die dazu führt, daß ihre Nichtbeachtung oder Fehlanwendung ein methodenrechtlicher Fehler ist. Nicht gerichtlich überprüfbar bleiben somit lediglich einige inhaltliche Maßstäbe, die nicht in ihrem Wesensgehalt dem Ermessen entzogen sind. Die Unterscheidung zwischen inhaltlichen, verfahrensbezogenen und methodenrechtlichen Normen erleichtert die Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte entscheidend: Verstöße gegen justitiable methodenrechtliche Ermessens- oder Abwägungsnormen wirken sich zwar auf den Inhalt der Ermessensentscheidung aus. Insbesondere Fehler bei der Gewichtung einzelner Belange sind wesentlich mit Rechtsinhalten verbunden. Uneingeschränkt überprüfbar sind aber nicht die In178 So spricht etwa das BVerwG, BayVBl 1978, 674 von der „Berücksichtigung aller erreichbaren Daten in einer der Materie angemessenen und methodisch einwandfreien Weise" (Hervorhebung nicht im Original). 179 Siehe unter F IV und V. 180 Vergleiche vor allem Alexy, Ermessensfehler, JZ 1986, 701 ff. sowie Schulze-Fielitz, Neue Kriterien für die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte, JZ 1993, 772 ff. 181 Kopp, Kommentar zum VwVfG, 5. Auflage 1991, zu § 40 VwVfG, Randzeichen 18. 182 Ebenda, Randzeichen 19. 183 BVerwG NJW 1980, 75. 184 Kopp, Kommentar zum VwVfG, 5. Auflage 1991, zu § 40 VwVfG Randzeichen 23 m. w. N. auch zur Gegenmeinung.

II. R e c h t s i n n g s f n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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halte der Ermessensentscheidungen, sondern nur die Methode der Entscheidungsfindung. Die inhaltliche Kontrolle von Ermessensentscheidungen beschränkt sich auf das Übermaßverbot.

(4) Keine Unterscheidung zwischen Rechtsfolgenermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff hinsichtlich der Kontrolldichte

Nun ist die Frage, ob die unbestimmten Rechtsbegriffe in dieser Hinsicht methodenrechtlich anders als Ermessensentscheidungen behandelt werden sollen, ob mithin „wesentliche" Unterschiede zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff einerseits und Ermessensermächtigung andererseits bestehen. Diese Frage ist zu verneinen: 1. Sowohl das Rechtsfolgenermessen als auch der unbestimmte Rechtsbegriff eröffnen rechtliche Spielräume. 2. Es kann keinen „wesentlichen" Unterschied ausmachen, ob dieser Spielraum auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite der Norm entsteht. 3. Die funktionellrechtliche Frage, wer in unserer Rechtsordnung dazu berufen ist, diese Spielräume jeweils letztverbindlich zu schließen — die Verwaltung selbst oder die Verwaltungsgerichtsbarkeit und gegebenenfalls die Verfassungsgerichtsbarkeit—muß für das Rechtsfolgenermessen und den unbestimmten Rechtsbegriff einheitlich beantwortet werden. ad 1. Neben den oben185 genannten begrifflichen Unterscheidungskriterien haben unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensentscheidungen folgende Gemeinsamkeit: Der Normtext läßt jeweils Zweifel und denkbare Spielräume für die konkrete Entscheidung zu. Freilich wäre es ebenso voreilig, wegen dieser Gemeinsamkeit die Gleichbehandlung zu fordern, wie es voreilig wäre, aus der begrifflichen Unterscheidbarkeit die Forderung nach Ungleichbehandlung abzuleiten. Verfechter des traditionellen186 Ansatzes, grundsätzlich nur Ermessensentscheidungen von der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle zu befreien, leugnen keineswegs den denkbaren Spielraum, den auch der unbestimmte Rechtsbegriff eröffnet. Die methodische Frage, ob es eine „einzigrichtige Gesetzesauslegungf' geben kann, wird durchaus für den unbestimmten Rechtsbegriff bezwei185

Vergleiche F I I 2 c (1) (Nur begriffliche oder auch rechtliche Unterscheidung zwischen Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff?) S. 160 ff. 186 Sachs in Stelkens, Bonk, Sachs, Kommentar zum VwVfG, 4. Auflage 1993, zu § 40 VwVfG Randzeichen 83 nennt es die „klassische Ausgangsposition der h. M." Auch das BVerfG hält in E 84,34, 50 an diesem Ansatz fest: „ . . . die Regeln über die eingeschränkte Kontrolle des Verwaltungsermessens gelten nicht für die Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe".

170

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

feit. 187 Aber derartige Zweifel werden in die Forderung umgemünzt, „den einzig zutreffenden(l) Inhalt zu ermitteln" m . Das würde aber voraussetzen, daß es einen einzig zutreffenden abstrakten Inhalt unbestimmter Rechtsbegriffe überhaupt geben kann, der die „Schwierigkeiten"189 überwinden könnte, ein jeweils allein richtiges konkretes Ergebnis zu ermitteln. Deswegen werden immerhin bleibende „Unsicherheiten"190 der einzigrichtigenGesetzesauslegung letztlich eingeräumt. ad 2. Für eine rechtliche „Sonderbehandlungf' des Ermessens scheint § 40 VwVfG (i. V. m. § 114 VwGO) zu sprechen. Aber selbst wenn man an der klassischen, engen Definition des Ermessens als Rechtsfolge-Ermessen festhält, heißt dies für viele noch nicht, daß aus der Regelung des § 40 VwVfG ein Umkehrschluß für den unbestimmten Rechtsbegriff zu ziehen ist, nämlich daß dieser anders zu behandeln wäre. Umgekehrt müssen auch nicht alle unbestimmten Rechtsbegriffe dem Ermessen gleichgestellt werden. Aber selbst die herrschende Meinung läßt zahlreiche Beschränkungen der gerichtlichen Kontrolldichte für unbestimmte Rechtsbegriffe zu. Ob es sich hierbei um Ausnahmen handelt oder ob sich für diese Fälle eine Regel finden läßt, ist ein typisch dogmatisches Problem. Während sich die Rechtsprechung schwer tut, für die in Einzelfällen zugelassenen Ausnahmen eine allgemeine Regel zu entwickeln (oder zuzugeben),ringt ein Teil der Lehre um ein Abgrenzungskriterium, das die anerkannten Fälle bündelt und weitere vorhersehbar macht. Dabei ist es m. E. nicht nur wünschenswert, sondern methodenrechtlich geboten, für Beschränkungen der gerichtlichen Kontrolldichte am Wortlaut des § 114 VwGO anzuknüpfen. Dort ist ebenso wie in § 40 VwVfG eine Ermächtigung der Verwaltung zur Ermessensausübung nicht gesetzlich fixiert, sondern vorausgesetzt (§ 114 VwGO: „Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist..."; § 40 VwVfG: „Ist die Behörde ermächtigt...") Wann eine Ermessensermächtigung vorliegt, sagt das Gesetz nicht. Eine ausdrückliche Bezeichnung als ,JErmessensermächtigungf' ist nicht erforderlich. Vielmehr ist durch Auslegung der jeweiligen Rechtsgrundlage zu ermitteln, ob ein Ermessensspielraum bestehen soll oder nicht. Es erinnert jedoch schon an Begriffsjurisprudenz, den Ermessensbegriff als Rechtsfolge-Ermessen nicht nur dogmatisch festzuschreiben, sondern auch für die Auslegung des § 40 VwVfG heranzuziehen. Der Wortlaut gebietet es keineswegs, „Ermessen" auf das Rechtsfolge-Ermessen zu beschränken. Ein Tatbestands-Ermessen oder Auslegungs-Ermessen könnte ohne weiteres unter einen Oberbegriff des Ermessens fallen. Um zu einer Beschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte zu gelangen, müßte solches Tatbestands-Ermessen sogar unter den 187 188 189 190

Sachs, a. a. O., Randzeichen 82 f. Ebenda, Randzeichen 82. (Hervorhebung nicht im Original). Ebenda. Ebenda, Randzeichen 83.

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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Ermessensbegriff des Gesetzes fallen. Die über diesen Ermessensbegriff nach h. M. hinausgehenden unbestimmten Rechtsbegriffe mit sog. ,3eurteilungsspielraum" sind methodenrechtlich kaum zu rechtfertigen. Für die gängige analoge191 Anwendung des § 40 VwVfG besteht m. E. weder ein Bedürfnis, noch eine Rechtfertigung. Eine ungeschriebene Beschränkung rechtlicher Bindung und gerichtlicher Kontrolldichte ist wegen Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG kaum tragbar. Ein Blick auf die hierbei zu treffenden Unterscheidungen zeigt, daß auch die Rechtsprechung die Grenze einer Ermessensermächtigung nicht wirklich zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff und vermeintlichem Rechtsfolgen-Ermessen zieht: Weder wird für sämtliche Kann-, Darf- und Soll-Bestimmungen eine Ermessensermächtigung angenommen, vielmehr gibt es unzählige bloß „scheinbare Ermessensermächtigungen"192, noch wird bei der Beschränkung gerichtlicher Kontrolldichte vor unbestimmten Rechtsbegriffen, d. h. vor einem TatbestandsErmessen halt gemacht (sog. „Beurteilungsspielraum"). Eine Differenzierung nach unbestimmtem Rechtsbegriff und RechtsfolgenErmessen ist also überflüssig 193 (oder jedenfalls nicht hinreichend): Es muß eine andere (oder weitere) Abgrenzung vorgenommen werden, um die gerichtliche Kontrolldichte zu bestimmen. Es ist also nach dem Abgrenzungskriterium zu fragen, das tatsächlich die Kontrolldichte bestimmt. Ein solches gemeinsames Kriterium würde endlich die zwar begrifflich klare, aber rechtlich untaugliche (oder unzureichende) Unterscheidung zwischen Tatbestands- und RechtsfolgenErmessen, zwischen unbestimmtem Tatbestand und unbestimmter Rechtsfolge ersetzen. In erster Linie sollte ein Kriterium gefunden werden, das vollends unabhängig von der Unterscheidung zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff und Rechtsfolgen-Ermessen ist. Die ergänzenden Unterscheidungskriterien, die hingegen an dem Ermessen einerseits und dem unbestimmten Rechtsbegriff andererseits anknüpfen, sind nämlich wenig aussagekräftig. Es löst keine Probleme, sondern benennt sie allenfalls, zwischen „echten" und „scheinbaren" Ermessensermächtigungen bzw. zwischen unbeschränkt und beschränkt nachprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriffen zu unterscheiden. Für eine vollständige Überwindung der grundsätzlichen rechtlichen Unterscheidung zwischen unbestimmtem Rechts191

Gegen das Begründungsmodell der Analogie zur Rechtfertigung von ,3eurteilungsspielräumen" bereits Ehmke, „Ermessen" und „unbestimmter Rechtsbegriff 4 im Verwaltungsrecht, 1960 in: Recht und Staat 230/231, S. 32. 192 Schmidt-Salzer, Die normstrukturelle und dogmatische Bedeutung der Ermessensermächtigung, Verwaltungsarchiv 60 (1969), 261, 267 (Fußnote 24). 193 Ehmke, „Ermessen" und „unbestimmter Rechtsbegriff' im Verwaltungsrecht, 1960 in: Recht und Staat 230/231, S. 34 nennt die Unterscheidung „nicht nur theoretisch unbegründet, sondern auch praktisch unbrauchbar".

172

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

begriff und Ermessen spricht auch, daß es oft geradezu zufällig und austauschbar erscheint, ob der Gesetzgeber eine im Tatbestand oder eine in der Rechtsfolge „unbestimmte" Regelung formuliert hat. 194 Rechtsvergleichend läßt sich die Überwindung dieser Unterscheidung bereits nachweisen: Nach dem Französischer Conseil d'Etat verzichtet auch der EuGH im Gegensatz zum deutschen Recht auf die Kategorieen des unbestimmten Rechtsbegriffs einerseits und des Rechtsfolge-Ermessens andererseits: Diese Gerichte prüfen vielmehr, inwieweit „im Einzelfall ein Bedürfnis nach gerichtlicher Kontrolle" 195 besteht. In einer EuGH-Entscheidung wird gar der dogmatische Streit als bloß terminologischer Streit bezeichnet: „Nach Ansicht der Kommission stellt die Tatsache, daß der EuGH in den vorgenannten Entscheidungen nicht den Ausdruck 'Ermessensspielraum' verwende, sondern den Mitgliedstaaten einen ' Beurteilungsspielraum ' zubillige, ... nur ein terminologisches Problem dar .. , " 1 9 6 Damit ist freilich nur bestritten bzw. widerlegt, daß sich die Frage der gerichtliche Kontrolldichte nach dem Kriterium der Formulierung von des Tatbestands bzw. der Rechtsfolge beantworten läßt. Es ist damit keineswegs gesagt, daß jeder unbestimmte Rechtsbegriff dem RechtsfolgeErmessen „gleichzustellen" ist. Völlig zu Recht hat das BVerfG in den letzten Jahren wiederholt die Idee des sog. ,3eurteilungsspielraums" kritisiert bzw. eingeschränkt.197 Es geht nicht um eine „Gleichstellung" von Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff, sondern um eine geeignete Definition des „Ermessens" i. S. d. §§ 40 VwVfG, 114 VwGO. M. a. W. bleibt bzw. wird die Suche nach einem geeigneteren Kriterium zur Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte notwendig. ad 3. Die Frage, wer die Unsicherheiten der Rechtsfindung auf Tatbestandsoder Rechtsfolgenseite beheben soll, wird oft ohne Hinterfragung und nicht zuletzt aus Gründen der Tradition 198 zugunsten der Gerichte beantwortet. Diese Fragestellung muß funktionellrechtlich 199 beantwortet werden.

194

So schon Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 595 ff., 691 ff. Zustimmend Schulze-Fielitz, Neue Kriterien für die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte, JZ 1993, 772, 774 m. w. N. 195 Bleckmann, Der Beurteilungsspielraum im Europa- und im Völkerrecht, EuGRZ 1979,485 ff. 488 m. w. N. 196 EuGH DVB1 1986, 92 (Rs. 183/84). 197 Insbesondere BVerfGE 83,130, E 84, 34 und E 85, 36. Vergleiche hierzu auch Berg, Die Problematik der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, dargestellt am Beispiel der „Novel Food"1 -Verordnung, ZLR 1993,455,465 f.

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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Ausgangspunkt der Überlegungen hierzu muß es tatsächlich sein, daß die Verwaltungsgerichte die Funktion der Kontrolle der Verwaltung zu erfüllen haben. Eine Beschränkung der Kontrolldichte stellt somit eine Funktionsbeschränkung zu Lasten der Gerichte dar, die einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Es obliegt dem Gesetzgeber, Befugnisse der Verwaltung zu normieren. Nicht jede Unbestimmtheit in der Formulierung solcher Befugnisse gibt der Verwaltung einen Spielraum, den die Gerichte nicht mehr zu überprüfen hätten. Die Gerichte dürfen ihre eigene Funktion nicht auf die Kontrolle klarer Subsumtionsfehler beschränken. Aber der Gesetzgeber kann die Verwaltung zu einer beschränkt kontrollierbaren Ermessensausübung im Rahmen der §§40 VwVfG, 114 VwGO „ermächtigen"200. Darüber hinaus darf sich weder die Verwaltung derartiger Freiheiten selbst „bemächtigen", noch dürfen sich die Gerichte ihrer eigenen Kontrollbefugnisse „entledigen". Die besondere Ermessenermächtigung durch den Gesetzgeber läßt sich nicht unmittelbar an dessen Formulierung einer Norm ablesen, sondern ist mit einem methodenrechtlichen Kriterium zu ermitteln. Die Theorie der komparativen Systeme kann ein brauchbares Kriterium zur Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte liefern:

, (5) Komparative Strukturen als Differenzierungskriterium zur Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte

Hinter einem Teil des Rechtsfolgen-Ermessens und einem Teil der unbestimmten Rechtsbegriffe verbergen sich komparative Systeme201. Genau diese

198

Schmidt-Salzer, Die normstrukturelle und dogmatische Bedeutung der Ermessensermächtigung, Verwaltungsarchiv 60 (1969), 261,267 (Fußnote 24): „Die Behebung derartiger Unsicherheiten ist aber eine herkömmliche und anerkannte Aufgabe der Gerichte..." 199 Zum funktionellrechtlichen Denken vergleiche schon Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297, 303 f.; auch abgedruckt in ders., Die Verfassung des Pluralismus 1980, S. 79,91 f. sowie ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 155, 174 f. m. w. N. im Nachtrag auf S. 180 f. 200 Ehmke, „Ermessen" und „unbestimmter Rechtsbegriff' im Verwaltungsrecht, 1960 in: Recht und Staat 230/231, S. 40 spricht von einer Beauftragung durch den Gesetzgeber. 201 A u f den Zusammenhang zwischen den „beweglichen Systemen" und dem Phänomen des (allerdings richterlichen) Ermessens weist Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 478 im Anschluß an Wilburg hin. Die Konsequenzen für die Kontrolldichte werden hier allerdings nicht weiter verfolgt. Vergleiche auch Korinek, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 243 ff. für das österreichische Recht.

174

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

komparativen Systeme202 rechtfertigen eine Beschränkung oder besser eine Verlagerung203 der gerichtlichen Kontrolldichte auf methodenrechtliche Maßstäbe. „Ermessen" i. S. d. §§ 40 VwVfG und 114 VwGO ist jedes komparative System der Rechtsfindung 204 im Verwaltungsrecht. 1. Die Kriterien der Bestimmung der gerichtlichen Kontrolldichte müssen den folgenden drei Voraussetzungen genügen: Erstens muß das verfassungsrechtliche Erfordernis des Rechtsschutzes gewährleistet sein.205 Dazu kann es (bis zur Grenze des Art. 19 Abs. 4 GG) ausreichen, wenn ein entsprechend strenges und kontrolliertes Verwaltungsverfahren einen Teil gerichtlicher Kontrolldichte kompensiert. Deshalb ist zu untersuchen, in welchem Verfahren der jeweilige Entscheidungsspielraum geschlossen wird. Wie bereits angedeutet, müssen nicht nur inhaltliche und verfahrensrechtliche Maßstäbe in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Auch das Methodenrecht als „dritte Kategorie" möglicher Kontrollmaßstäbe ist in die Diskussion um die gerichtliche Kontrolldichte einzubeziehen. Zweitens ist zu berücksichtigen, welchen Sinn es hat, der Verwaltung einen Entscheidungsspielraum einzuräumen, nämlich dem verwaltungsinternen Sachverstand bei der Einzelfallwürdigung Raum zu geben. Die Einzelfallbezogenheit einer Regelungsmaterie kann es mit sich bringen, daß eine kasuistische abstrakte Gesetzgebung nicht zu angemessenen Ergebnissen führen würde. 206 Führt sie nicht zu angemessenen Ergebnissen, zieht sich der Gesetzgeber mit Recht auf unbestimmte Tatbestandsmerkmale oder Rechtsfolgen zurück. Drittens muß die Verteilung der Aufgaben zwischen der Verwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit bedacht werden.207 Nur im Falle der komparativen 202

Schon Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff., 281 weist auf die Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Zusammenhang mit den Besonderheiten „beweglicher Systeme" hin. 203 Siehe oben F II 2 c (3) (,Auf welche Maßstäbe kann die gerichtliche Kontrolldichte beschränkt bzw. verlagert werden? 4), S. 165 ff. 204 Die komparative Rechtsgewinnung läßt sich von der komparativen Rechtsfindung im Bereich des Ermessens nur theoretisch trennen. Um das Ermessen als komplexes Problem im Zusammenhang darzustellen, soll hier insoweit auf F I I I (Rechtsfindungsfunktion (Rechtsanwendungsmethoden): Komparative Systeme als Auslegungsalternative de lege lata) vorgegriffen werden. 205 Dies werfen Kritiker der sog. "normativen Ermächtigungslehre" vor. Vergleiche hierzu Schulze-Fielitz, Neue Kriterien für die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte, JZ 1993, 772, 774 m. w. N. in Fußnote 54. 206 Hierzu schon unter D I 3. 207 Dies ist der richtige Ansatzpunkt der sog. "normativen Ermächtigungslehre". Hierzu Schulze-Fielitz, Neue Kriterien für die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte, JZ 1993, 772, 774 m. w. N. in Fußnote 49.

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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Systeme ist es sinnvoll, der Verwaltung einen Wertungsspielraum einzuräumen, sei es bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (Auslegungs-Ermessen) oder als Rechtsfolgen-Ermessen. In diesen Fällen und nur in diesen Fällen kann man bei einer gesetzlichen Formulierung von einer Ermessensermächtigung ausgehen. Besteht hingegen kein entsprechender Anlaß, Wertungsspielräume offenzulassen, dann muß die Auslegung der jeweiligen unbestimmten Norm eine Ermessensreduzierung auf Null herausarbeiten. Sowohl die „scheinbare Ermessensermächtigungf 4 (auf Rechtsfolgenseite) als auch der lediglich in der gesetzlichen Formulierung noch unbestimmte, aber abstrakt bestimmbare Rechtsbegriff (auf Tatbestandsseite) unterliegen der uneingeschränkten inhaltlichen gerichtlichen Kontrolle. 2. Nicht jede Unbestimmtheit auf Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite begründet ein komparatives System. Für die Begründung eines komparativen Systems kommt es nicht darauf an, ob in der gesetzlichen Formulierung Tatbestandsmerkmale oder Rechtsfolgen unbestimmt geblieben sind. Vielmehr kommt es darauf an, wie die Tatbestandsvoraussetzungen bzw. Rechtsfolgen zu bestimmen sind. Der gesuchte „wesentliche" Unterschied besteht darin, ob und gegebenenfalls wie der gesetzliche Spielraum abstrakt bestimmbar ist. Wenn sich die Tatbestandsmerkmale bzw. Rechtsfolgen erst bei wertender Berücksichtigung der Einzelfallumstände, d. h. nur konkret bestimmen lassen, liegt eine Ermessensermächtigung vor. Um eine Ermessensermächtigung festzustellen sind also methodische Untersuchungen erforderlich. Die entscheidende methodische Besonderheit der Ermessensermächtigung läßt sich am besten im Vergleich zu den Voraussetzungen „beweglicher Systeme" beschreiben. Weder der unbestimmte Rechtsbegriff auf Tatbestandsseite (aa) noch das (vermeintliche) Rechtsfolgen-Ermessen (bb) lassen ohne weiteres auf eine komparative Struktur schließen. aa) Eine Norm mit der sprachlichen Struktur des „Wenn-dann-Musters" darf nicht wegen unbestimmter Tatbestandsmerkmale gleich in ein komparatives System umgedeutet werden.208 Denn ein unbestimmtes „Wenn" ist nicht zu verwechseln mit einem „Je mehr-desto ehei". Schon für zivilrechtliche unbestimmte oder sogar generalklauselartige Tatbestände wurde festgestellt, daß deren Konkretisierung auf ganz unterschiedliche Weise erfolgen kann:209 Gesetzlich unbestimmte Begriffe lassen sich ζ. T. durch „unbewegliche" Unterbegriffe oder Fallgruppen soweit abstrakt konkretisieren, daß es einer „beweglichen" Gesamtwürdigung aller Umstände nicht mehr bedarf. Nichts anderes gilt für die sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffe im öffent208 209

Hierzu noch unter F III 1. Hierzu oben D 14 und D II.

176

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

liehen Recht. Soweit eine solche Konkretisierung gelingt oder gelingen kann, ist sie gleichzeitig methodenrechtliches Gebot und entsprechend gerichtlich überprüfbar. Eine solche „unbewegliche" Konkretisierung kann nur dann sinnvoll sein und Rechtssicherheit gewährleisten, wenn sie auch einheitlich gehandhabt und kontrolliert wird. Dies können und müssen letztlich die Gerichte gewährleisten. So können sich ungeschriebene bzw.richterrechtliche, abstrakte Tatbestände herausbilden. Nicht alles, was der Gesetzgeber unbestimmt gelassen hat, soll unbestimmt bleiben und eine beschränkte Kontrolldichte begründen.210 Andererseits läßt sich auch nicht jede Unbestimmtheit in abstrakten Tatbeständen beseitigen. Eine angemessene, abstrakte „unbewegliche" Tatbestandsbildung oder -konkretisierung hat Grenzen. Es gibt komplexe Fälle, die sich nicht in subsumtionsfähigen Tatbeständen mit starrer Rechtsfolge regeln lassen, ohne daß dies zu Ungerechtigkeiten führen würde. Es gibt Entscheidungen, deren Voraussetzungen sich abstrakt nicht als starre Tatbestandsmerkmale formulieren lassen. In diesen Fällen bleibt eine Einzelfallwürdigung der konkreten Umstände erforderlich. Für diese Einzelfallwürdigung sind abstrakt allenfalls die rechtlich relevanten Umstände als komparative Elemente bestimmbar. Der Auftrag zur konkreten Würdigung der Einzelfallumstände und deren komparative Abwägung hingegen kann als eine Ermessensermächtigung der Verwaltung i. S. d. § 40 VwVfG und § 114 VwGO gewertet werden. bb) Auch die Struktur einer Norm mit Rechtsfolgen-Ermessen folgt sprachlich nicht dem Muster „Je-desto", sondern „Wenn - dann nach Ermessen". Ein freies Ermessen gibt es jedoch nicht im Rahmen der Ermessensermächtigung der Verwaltung. Freies Ermessen nähme den Ermessensnormen die gebotene normative Bindung. Eine „Wenn - dann nach Belieben"-Struktur verstieße gegen die /tectestaatlichkeit. Ein rechtlich gebundenes Ermessen muß deshalb an bestimmte Voraussetzungen geknüpft sein. Diese lassen sich in inhaltliche, verfahrensrechtliche und methodenrechtliche Bedingungen gliedern. Die Frage ist, ob die inhaltlichen, materiell-rechtlichen Voraussetzungen bzw. Gesichtspunkte starrer oder komparativer Natur sind. Sie können den „Wenn-Voraussetzungen", also den Tatbestandsmerkmalen der Ermessensnorm entspringen. Dann erhalten die Tatbestandsmerkmale der Ermessensnorm die Bedeutung einer Rechtsfolgen-Wahrscheinlichkeit. Zunächst ist danach zu unterscheiden, ob die Voraussetzungen der Ermessensnorm graduell erfüllbar sind. Ist dies der Fall, dann handelt es sich um komparative Elemente: ,je mehi" sie erfüllt sind, desto wahrscheinlicher ist eine positive Ermessensentscheidung, „desto eher" tritt die Rechtsfolge ein. Ab einem gewissen Grad der Erfüllung kann diese Wahrscheinlichkeit 100% betragen und eine Ermessensausübung „auf Null reduziert" sein. 210

Hierzu schon Fußnote 207 auf S. 174.

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

177

Wenn die geschriebenen Voraussetzungen der Ermessensnorm selbst nicht graduell erfüllbar sind, dann handelt es sich entweder um eine „scheinbare Ermessensnorm" oder die „Wahrscheinlichkeit" muß mit ungeschriebenen Voraussetzungen konkretisiert werden. Diese Konkretisierung kann genauso wie die Konkretisierung unbestimmter Tatbestandsmerkmale auf weiteren starren oder komparativen Voraussetzungen beruhen. Die Voraussetzungen bzw. Gesichtspunkte der Ermessensausübung können aber auch durch systematische, insbesondere verfassungskonforme Auslegung zu ermitteln sein. Auch diese rechtlichen Bindungen können wieder starre oder komparative Strukturen aufweisen. Sie können wiederum graduell erfüllbare Voraussetzungen haben oder nicht, sie können das Ermessen „auf Null reduzieren" oder aber letzlich zu einer Abwägung führen. Die sprachliche „Wenn-dann-Struktui"211 ist bei Ermessensnormen also kein verläßlicher Hinweis auf die tatsächliche methodische Struktur. Eine „Kann-, Soll- oder Darf-Norm" kann aber ein komparatives System sein, nämlich genau dann, wenn sie komparativ zu konkretisieren ist, Dies ist weder beim „scheinbaren Ermessen" noch bei der „Ermessensreduzierung auf Null" der Fall. Von einer komparativ bindenden Ermessensermächtigung i. S. der §§ 40 VwVfG und 114 VwGO ist vielmehr nur dann auszugehen, wenn die Ermessensausübung tatsächlich komparativen Strukturen folgt. Nur dann ist die Verwaltung rechtlich zur komparativen, d. h. wertenden Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ermächtigt und verpflichtet. Die gerichtliche Kontrolle dieser Ermächtigung und Verpflichtung muß dieser Unterscheidung Rechnung tragen. Die Struktur der komparativen Systeme hat sich als gemeinsames Kriterium zur Bestimmung von Ermessensermächtigungen auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite erwiesen. Eine unterschiedliche rechtliche Behandlung von „unbestimmtem Rechtsbegriff 4 und „Ermessen" ist nicht angezeigt. Nur für komparative Systeme ergeben sich Verschiebungen der Kontrolldichte. Nur bei komparativen Systemen treten an die Stelle von inhaltlichen Kontrollmaßstäben mitunter methodenrechtliche Maßstäbe. Dies ist aber wiederum nur insoweit möglich, als nicht eine inhaltlich bindende Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Die entscheidende Frage, ob sich abstrakte, subsumtionsfahige Voraussetzungen bei der Konkretisierung des Tatbestandes bzw. der Rechtsfolgen im Einzelfall finden lassen, ist nicht ohne normative bzw. teleologische Erwägungen zu beant211 So räumt Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, Band I: Das Planungssystem der Landesplanung, Grundlagen und Grundlinien, 1978, S. 84. ein, daß hier „nur noch die äußere Form eines Konditionalprogramms" vorliegt, zieht daraus aber nicht die Konsequenz, die verschiedenen Rechtssätze grundsätzlich methodisch und nicht nach ihrer äußeren Form zu unterscheiden. Vielmehr faßt er die Einräumung von Ermessens- und Auslegungsspielräumen als Erweiterung des „tatsächliche(n) Anwendungsbereich^) der Konditionalprogramme" auf.

12 Michael

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

worten. Theoretisch ließen sich kasuistische Regeln stetsfinden. Theoretisch ist jede noch so große Unbestimmtheit abstrakt „bestimmbar". Die Frage ist, wann solche „unbeweglichen" Voraussetzungen benannt und festgeschrieben werden sollen. Die Berücksichtigung der Einzelfallumstände ist gegebenenfalls nicht aus logischen, sondern aus rechtlichen Gründen geboten. Komparative Systeme sind mal „endgültige", mal nur „vorläufige" Schritte der Rechtsfindung. Das gilt auch für das Verwaltungsrecht. Als „vorläufige" Methode können komparative Systeme zu einer Rechtsfortbildung führen, die in einer „Ermessensreduzierung auf Null" endet. Umgekehrt ist auch eine abstrakte ,ßestimmungf' unbestimmter Rechtsbegriffe zu einer „einzig richtigen" Auslegung nicht immer geboten. Solche starren Festlegungen müssen gegebenenfalls abstrakt rechtlich binden und gerichtlicher Kontrolle unterliegen. Einen ,3eurteilungsspielraum" darf es bei starren Voraussetzungen nie geben, denn er würde zu willkürlichen Unterscheidungen fuhren.

d) Exkurs: Die Struktur der Abwägungsgebote im Planungsrecht am Beispiel des § 1 Abs. 5 und 6 BauGB

In § 1 Abs. 6 BauGB ist für den Bereich des Bauplanungsrechts212 ein Abwägungsgebot ausdrücklich formuliert: „Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen " 2 1 3 In § 1 Abs. 5 BauGB sind zahlreiche, Jnsbesondere" zu berücksichtigende Belange aufgeführt.

(1) Das Verhältnis des § 1 Abs. 5 und 6 BauGB zum Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriff sowie zu den „beweglichen Systemen"

Der Unterschied zwischen dem Abwägungsgebot des § 1 Abs. 6 BauGB und Rechtssätzen, die unbestimmte Rechtsbegriffe oder Ermessensspielräume enthalten, wurde von Wahl 214 so charakterisiert: Während der herkömmliche Verwaltungsrechtssatz (einschließlich der Rechtssätze mit unbestimmten Rechtsbegriffen oder Ermessen) textlich im konditionalen „Wenn-Dann-Schema"215 struktu212

Zur Bildung von Abwägungskriterien und i. e. komparativen Elementen durch Richterrecht vergleiche Sarnighausen, Zum Begriff der Vorbelastung im Baunachbarrecht, NJW 1994, 1375 ff. 213 Hervorhebung nicht im Original. 214 Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, Band I: Das Planungssystem der Landesplanung, Grundlagen und Grundlinien, 1978, S. 83 ff. 2,5 Ebenda S. 83.

II. Rechtsgewinnungsfunktion (Rechtsetzungsmethoden)

179

riert ist, enthält das Abwägungsgebot eine Zweck- und Finalprogrammierung 216. In der Sache geht es um nichts anderes als die Unterscheidung, die Wilburg zwischen „unbeweglichen und beweglichen Systemen" getroffen hat, nämlich um eine „Je-desto-Struktui". Freilich gibt es bei der Bauplanung auch zwingende sowie unterschiedlich wichtige Belange. Deshalb kann die Rechtssatzstruktur des § 1 Abs. 5 und 6 BauGB zwar als komparatives System, nicht jedoch als „bewegliches System" bezeichnet werden.217 Die wesentliche strukturelle Besonderheit des Abwägungsgebots und des Gesichtspunkte-Katalogs liegt in der „Je-destoVerknüpfung" der Abwägungsgesichtspunkte mit dem Planungsergebnis. Um so mehr ist es notwendig, eine Theorie (der komparativen Systeme) über den , Jdealfall" des „beweglichen Systems" hinaus zu entwickeln, die dieses Phänomen umfassend behandelt. Da Normen mit Ermessens- bzw. Auslegungsspielräumen insoweit mit dem planungsrechtlichen Abwägungsgebot vergleichbar sind, als auch sie tatsächlich einer komparativen Konkretisierung fähig sind, ist § 1 Abs. 5 und 6 BauGB zu Recht in mancher Beziehung zum strukturellen Leitbild für die Rechtsprechung sowohl zum Ermessen als auch zum unbestimmten Rechtsbegriff 218 geworden. Das BVerwG unterscheidet zwischen der (wegen Art. 14 GG 219 ) uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle der „unbestimmten Rechtsbegriffe" des § 1 Abs. 5 BauGB220 und der (wegen der Planungshoheit der Gemeinden) beschränkten Kontrolle der Abwägung nach § 1 Abs. 6 BauGB221. Der Exkurs in das besondere Verwaltungsrecht lohnt vor allem für die Frage nach der gerichtlichen Kontrolldichte, die im Falle des Bauplanungsrechts (§§ 214 Abs. 3 Satz 2,216 BauGB) genauer als im allgemeinen Verwaltungsrecht (§114 VwGO) geregelt ist. Der Rechtsgedanke der gerichtlichen Kontrolldichte hat aber auch im allgemeinen Verwaltungsrecht Eingang gefunden. 222 Umge-

216

Ebenda S. 88 f. Vergleiche auch für das österreichische Recht Korinek, Das Bewegliche System im Verfassungs- und Verwaltungsrecht in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 243, 245. 217 Vergleiche unter D I 1. 218 § 1 Abs. 5 BauGB besteht nach Krautzberger in Battis, Krautzberger, Lohr, Kommentar zum BauGB, 4. Auflage 1994, zu § 1 BauGB Randzeichen 91 selbst aus unbestimmten Rechtsbegriffen. 219 Genauer wäre es, die Kontrolldichte nicht pauschal wegen Art. 14 GG zu garantieren, sondern nur hinsichtlich eines Verstoßes gegen dessen relativen Wesensgehalt. 220 BVerwGE 34, 301, 308; 45,309, 323 f. 221 BVerwGE 34, 301, 309; 45,309,314 f. 222 Kopp, Kommentar zum VwVfG, 5. Auflage 1991, zu § 40 VwVfG Randzeichen 28. 1*

180

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

kehrt ist § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB als relativ junge Regelung223 Ausfluß eben der dogmatischen Entwicklung des allgemeinen Verwaltungsrechts 224.

(2) Einzelaspekte der gerichtlichen Kontrolldichte nach § 1 Abs. 5 und 6 und § 214 ff. BauGB

Eine Besonderheit der Regelungsmaterie des § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB ist, daß es hier um die gerichtliche Kontrolle von Gemeinden geht. Das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden225 sowie das politische Drängen der kommunalen Spitzenverbände226 haben es ermöglicht, gerade im Bauplanungsrecht eine Fortentwicklung der Lehre von der beschränkten gerichtlichen Kontrolldichte auf der Textstufe des Bundesgesetzes zu erreichen. Dazu kommt, daß die komplexe Verwaltungstätigkeit der Bauplanung besonders fehleranfallig ist und durch endlose Gerichtsverfahren nicht blockiert werden darf. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, daß zur Zeit § 246a Abs. 4 Nr. 4 Satz 2 BauGB darüberhinaus im Bereich der neuen Länder aus wirtschaftlichen und organisatorischen Gründen sogar die verwaltungsinterne Kontrolle einschränkt. Noch vor der Schaflung des § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB (§ 155b Abs. 2 Satz 2 BundesbauG) hat das BVerwG 227 die sogenannte Jehlerlehre" entwickelt. Die dort genannten gerichtlich kontrollierbaren Abwägungsfehler entsprechen denen der allgemeinen Ermessensfehlerlehre 228. Diese Rechtsprechung ist von der Gesetzesänderung weitgehend unberührt geblieben. Während das BVerwG zunächst angesichts des Selbstverwaltungsrechts und der Planungshoheit der Gemeinden einer „Planungskontrolle der höheren Verwaltungsbehörde wie der Gerichte eine Grenze" 229 ziehen wollte, unterscheidet nunmehr § 216 BauGB zwischen der beschränkten gerichtlichen Kontrolldichte und der davon unberührten verwaltungsinternen Kontrolle. Dies soll nicht nur für 223

Neu als § 155b Abs. 2 Satz 2 BundesbauG in der Novelle von 1979; vergleiche zur Entstehungsgeschichte Battis in Battis, Krautzberger, Lohr, Kommentar zum BauGB, 4. Auflage 1994, Vorbemerkungen zu §§ 214 ff. BauGB Randzeichen 3 ff. 224 Zur Rezeption von Rechtsprechung und Lehre durch den Gesetzgeber im Falle des Bauplanungsrechts vergleiche Schulze-Fielitz, Das Flachglas-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwGE 45, 309 - Zur Entwicklung der Diskussion um das planungsrechtliche Abwägungsgebot, Jura 1992,201, 207. 225 Hierzu BVerwG DÖV 1973,200,201. Vergleiche auch oben S. 164. 226 Battis in Battis, Krautzberger, Lohr, Kommentar zum BauGB, 4. Auflage 1994, Vorbemerkungen zu §§ 214 ff. BauGB Randzeichen 4. 227 BVerwGE 34, 301, 309. 228 Vergleiche etwa Kopp, Kommentar zum VwVfG, 5. Auflage 1991, zu § 40 VwVfG Randzeichen 15 ff. 229 BVerwGE 34, 301, 309. Vergleiche auch oben S. 164.

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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die verfahrensrechtlichen Verstöße im Sinne des § 214 BauGB, sondern auch fur die (m. E. methodenrechtliche230 ) Abwägungskontrolle gelten.231 Ein weiteres Phänomen des komplexen Problems der Verwaltungskontrolle wird durch die Rechtsprechung zu § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB bestätigt: Es geht um die Frage der Vereinbarkeit beschränkter gerichtlicher Kontrolldichte mit Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG. Oben wurde bereits das variable Verhältnis zwischen der gerichtlichen Kontrolldichte und dem Rechtsschutz durch entsprechendes Verwaltungsverfahren angesprochen.232 Danach kann der gerichtliche Rechtsschutz durch das Verwaltungsverfahren in Grenzen kompensiert werden. Das BVerwG 233 hat diesen Gedanken umgekehrt: Im Falle der durch § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB beschränkten Kontrolle des VerwaltungsVerfahrens fordert das Verfassungsrecht die unbeschränkte Kontrolle des AbwägungsergeZwz'sses. Die Forderung unbeschränkter inhaltlicher Kontrolle mag überspitzt sein. Eine Wechselwirkung zwischen inhaltlicher und verfahrensrechtlicher Kontrolle ist verfassungsrechtlich aber durchaus nachweisbar.234 Dieser Zusammenhang entspringt und entspricht dem verfahrensbezogenen Anspruch materiellen Verfassungsrechts, namentlich der Grundrechte 235. Ein einheitliches System der gerichtlichen Kontrolldichte wird sich jedoch m. E. nur entwickeln lassen, wenn man, wie oben vorgeschlagen, als „dritte Dimension" das Methodenrecht einführt und das Methodenrecht in das System der Kontrolldichte einbezieht. Danach ergänzen und kompensieren sich drei verschiedene Maßstäbe bei der Kontrolldichte gegenseitig: Die Inhaltskontrolle, die Verfahrenskontrolle und die methodenrechtliche Kontrolle. Unbeschränkte gerichtliche bzw. verwaltungsinterne Kontrolle bedeutet dann die Kontrolle anhand aller drei Maßstäbe. Beschränkt werden kann diese Kontrolle sowohl in inhaltlicher wie auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht. Die methodenrechtliche Kontrolle tritt bei beschränkter inhaltlicher bzw. verfahrensrechtlicher Kontrolle stärker in den Vordergrund. Zur methodenrechtlichen Kontrolle gehört auch gegebenenfalls die Frage, ob ein Optimierungsgebot beachtet wurde. Diese methodenrechtliche Kontrolle umfaßt aber nicht die inhaltliche Überprüfung des Optimierungsergebnisses, sondern nur die Abwägungs-Methoden komparativer Systeme.

230

Meines Erachtens nicht für die inhaltliche Kontrolle. Hierzu sogleich. BVerwGE 64, 33, 41. Vergleiche Battis in Battis, Krautzberger, Lohr, Kommentar zum BauGB, 4. Auflage 1994, zu § 216 BauGB Randzeichen 2 m. w. N. auch zur Gegenansicht. 232 Oben F I I 2 c. 233 BVerwGE 64, 33,40. 234 Jetzt BVerfGE 84, 34,47 ff. = NJW 1991,2005, 2006. 235 Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972), 43, 86 ff. 231

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

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(3) Das Abwägungsgebot des § 1 Abs. 5 und 6 BauGB als Optimierungsgebot

Was bedeutet das Gebot in § 1 Abs. 6 BauGB, „gerecht abzuwägen"? Bedeutet es das Gebot einer Optimierung der genannten Belange? Bedeutet es lediglich das Gebot der Berücksichtigung dieser Belange und ihres rechtlichen Kerns? Diese Frage ist bereits für das Verfassungsrecht aufgeworfen worden: 236 Dort wird die Optimierung als „praktische Konkordanz^' im Gegensatz zur bloßen Berücksichtigung des ,relativen Wesensgehalts" bezeichnet.237 So wie im Verfassungsrecht muß auch im Verwaltungsrecht vor einer Überspannung des Abwägungsgebots gewarnt werden. Ohne die Konsequenzen bis ins letzte zu ziehen,238 wird aber auch im Zusammenhang mit § 1 Abs. 6 BauGB oft von einem Optimierungsgebot gesprochen.239 Zwei Fragen müssen unterschieden werden: 1. Soll ein Optimierungsgebot für die Planungsbehörde gelten und welchen möglichen rechtlichen Bindungsgrad hätte dies? 2. Inwieweit soll und muß ein solches Optimierungsgebot der gerichtlichen und behördlichen Kontrolle unterliegen?240 ad 1. Zunächst ist zu klären, was unter einem Optimierungsgebot hier zu verstehen ist, d. h. worauf es sich im Falle des Bauplanungsrechts bezöge. Ein rechtliches Optimierungsgebot könnte sich entweder auf einzelne oder aber auf alle der in § 1 Abs. 5 BauGB genannten Belange beziehen. Ein nur auf einzelne Belange (etwa den Umweltschutz nach § 1 Abs. 5 Nr. 7 BauGB i. V. m. § 50 BImSchG241) bezogenes Optimierungsgebot würde eine erhebliche, verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftige Privilegierung bedeuten.242 Grundsätzlich sind zwar solche speziellen Optimierungsgebote, wie auch strikte Gebote selbstverständlich denkbar. Für jedes Abwägungsgebot müßte aber geprüft werden, ob der Gesetzgeber einzelne Gesichtspunkte tatsächlich privilegieren, d. h. ihre Berücksichtigung optimieren wollte. Die differenzierende Rechtsprechung 236

Siehe oben unter F I I 1 c. Ebenda. 238 Hoppe, Die Bedeutung von Optimierungsgeboten im Planungsrecht, DVB1 1992, 853 ff., ist dem kritisch entgegen getreten. 239 Etwa Battis, Baurecht und Bauordnungsrecht, 1987, S. 102. Weitere Nachweise bei Krautzberger in Battis, Krautzberger, Lohr, Kommentar zum BauGB, 4. Auflage 1994, zu § 1 BauGB Randzeichen 85. 240 Hoppe, Die Bedeutung von Optimierungsgeboten im Planungsrecht, DVB1 1992,853, 861, bezieht seine berechtigte Skepsis gegenüber Optimierungsgeboten allein auf Optimierungsgebote, die auch gerichtlicher Kontrollmaßstab sind. 241 Hierzu BVerwGE 71, 163, 165. 242 Hoppe, Die Bedeutung von Optimierungsgeboten im Planungsrecht, DVB1 1992,853, 861 für das Beispiel des § 1 Abs. 5 Satz 3 BauGB. 237

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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des BVerwG, die für § 1 Abs. 1 Satz 1 FStrG auf den Wortlaut („möglichst") zurückgeführt werden kann 243 , ist deshalb nur soweit zu begrüßen, als eine solche Privilegierung auch der für jedes Optimierungsgebot durchzuführenden verfassungsrechtlichen Rechtfertigung standhält. Da die Optimierung eines einzelnen Belanges zu besonderen Einschränkungen anderer Belange führen würde, darf dieser Sinn eines Optimierungsgebots nur solchen Belangen zugeordnet werden, die anderen Belangen gegenüber Priorität 244 genießen. Im Falle des § 1 Abs. 6 BauGB wird hingegen zu Recht oft von einem allgemeinen Optimierungsgebot gesprochen.245 Das ist so zu verstehen, daß hier mehrere widerstreitende(l) Belange „optimiert" werden müssen. Eine Optimierung im Sinne einer Privilegierung ist hier gerade nicht gemeint. Optimierung kann hier wiederum Verschiedenes bedeuten: aa) Optimierung kann die Abwägung genannt werden, die jeden Belang gleich viel (und gleich wenig) berücksichtigt. Das setzt voraus, daß es zwischen den Belangen einen Vergleichsmaßstab gibt, der bestimmt, was gleich starke Verwirklichung und Einschränkung ganz unterschiedlicher Gesichtspunkte bedeutet. Anders ausgedrückt muß festgestellt werden, daß alle Belange gleichwertig sind. Der Bewertungsspielraum würde fast auf Null reduziert. Die Planungsbehörde könnte nur zwischen Lösungen wählen, die die jeweiligen Belange gleichwertig verwirklichen. bb) Es ist aber auch möglich, bei der Abwägung ungleichwertiger Belange von einer Optimierung zu sprechen, bei der nämlich die Optimierung eines Belanges die Einschränkung eines anderen Belanges so aufwiegt, daß lediglich das Gesamtergebnis der Verwirklichung aller Gesichtspunkte „optimiert" ist. Wenn sich die Wertigkeit aller Belange abstrakt benennen läßt, bedeutet auch ein derartiges Optimierungsgebot noch eine erhebliche Beschränkung des Gestaltungsspielraumes. Nur Lösungen, die tatsächlich eine optimale Verwirklichung der Gesamtschau aller Belange gewährleisten, würden derartigen Optimierungsgeboten genügen, so daß nur zwischen ihnen ein Entscheidungsspielraum verbliebe. cc) Optimierung kann schließlich bedeuten, daß auch Lösungen zulässig sind, die nur einen der Belange optimieren, ohne dabei die anderen Belange unverhältnismäßig einzuschränken. Im Gegensatz zu den beiden anderen Deutungen des Optimierungsgebots bestünde hier bereits ein Bewertungsspielraum hinsichtlich

243

BVerwGE 71, 163, 165. Von einem,relativen Vorrang^ spricht Schulze-Fielitz, Das Flachglas-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwGE 45, 309 - Zur Entwicklung der Diskussion um das planungsrechtliche Abwägungsgebot, Jura 1992, 201, 203. 245 Siehe Fußnote 239. 244

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

der Bevorzugung verschiedener Belange. Die rechtliche Bindung der Planungsbehörde wäre dann auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz reduziert. 246 Im Bereich des Planungsrechts ist m. E. die zuletzt genannte Interpretation vorzugswürdig. Dies läßt sich aber nur im Hinblick auf die gerichtliche und behördliche Kontrolldichte begründen. Deshalb ist hier zunächst auf die zweite Frage einzugehen: ad 2. Ein spezielles Optimierungs- oder besser Privilegierungsgebot ist einem starren Tatbestandsmerkmal stark angenähert. Da ein Entscheidungsspielraum insoweit gar nicht entsteht, unterliegt es wie alle Tatbestandsmerkmale grundsätzlich unbeschränkter gerichtlicher Kontrolle. Meines Erachtens wäre ein allgemeines, gerichtlich voll (d. h. auch inhaltlich) überprüfbares Optimierungsgebot im Bereich des Bauplanungsrechts ein allzu starker Eingriff in die Planungshoheit247 der Gemeinden. Allerdings liegt eine starke inhaltliche Kontrolle auf der Linie der Rechtsprechung des BVerwG 2 4 8 . Dies hängt schon mit der Einordnung des § 1 Abs. 5 BauGB unter die gerichtlich voll nachprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriffe zusammen.249 Zwar müssen auch komparative Elemente einer begrifflichen Kontrolle unterliegen. Dem genügt jedoch bereits die methodenrechtliche Frage nach der vollständigen und zutreffenden Berücksichtigung aller relevanten Belange. Die Behandlung des § 1 Abs. 5 BauGB als gewöhnlicher Tatbestand verkennt, daß die dort genannten Belange nicht auf eine herkömmliche Rechtsfolge („Wenn-dann-Schluß") bezogen sind, sondern auf das Abwägungsgebot des § 1 Abs. 6 BauGB250. Das BVerwG selbst hat die Verschmelzung der Bestimmung und Abwägung der Gesichtspunkte zugegeben251 und damit in der Sache die Unterscheidung zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessen im Bereich des Planungsrechts überwunden. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, die Bedeutung des § 1 Abs. 5 und 6 BauGB als komparatives System nachzuvollziehen. 246

Hoppe, Die Bedeutung von Optimierungsgeboten im Planungsrecht, DVB1 1992,853,

860. 247

Das BVerwG, N V w Z 1991, 69, 70 nimmt im Falle des speziellen Optimierungsgebots des § 8 Abs. 3 BNatSchG eine „Einschränkung der planerischen Gestaltungsfreiheit 4' durch das besondere Gewicht eines Belanges an, bestreitet hingegen, daß „die planerische Gestaltungsfreiheit als solche" berührt sei. Vergleiche auch BVerwGE 71, 163 ff. 248 Etwa BVerwGE 45, 309 („Flachglas"). Hierzu Schulze-Fielitz, Das Flachglasurteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwGE 45, 309 - Zur Entwicklung der Diskussion um das planerische Abwägungsgebot, Jura 1992, 201. 249 Ständige Rechtsprechung, vergleiche BVerwGE 34, 301, 301; E 45, 309, 324. Hierzu auch Hoppe in Ernst, Hoppe, Das öffentliche Bau- und Bodenrecht, Raumplanungsrecht, 2. Auflage 1981, Randzeichen 261. 250 Hierzu Hoppe, ebenda Randzeichen 312a. 251 BVerwGE 45, 309, 324.

II. R e c h t s i n n g s f u n k t i o n (Rechtseungsmethoden)

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Die Konsequenz wäre, die Kontrollmaßstäbe hier zu beschränken bzw. inhaltliche Maßstäbe durch methodenrechtliche zu ersetzen. Das BVerwG hat aber noch einen weiteren Grund fur seine Behauptung und Einforderung einer strikten InhaltskoniroWe. Diese soll die nach § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB beschränkte verfahrensrechtliche Kontrolle kompensieren. 252 Ein angemesseneres und geschlosseneres Rechtsschutzsystem ließe sich m. E. mit den gleichen verfassungsrechtlichen Argumenten durch die Unterscheidung und Betonung der methodenrechtlichen Kontrolle entwerfen. Versteht man unter Optimierung eine erhebliche Einschränkung des Bewertungsspielraums (oben a) und b)) würde die kommunale Planungsfreiheit durch eine entsprechende gerichtliche Kontrolldichte praktisch auf Null reduziert. Wenn man mit Hoppe253 in Fällen, in denen zwei zu optimierende Belange einander widerstreitend gegenüberstehen, das Optimierungsgebot auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz254 reduziert (oben c)), dann ist es konsequent, diese (und nur diese) rechtliche Grenze der gerichtlichen Überprüfung zu unterwerfen. Es verbliebe dann ein Planungsspielraum, den die Planungsbehörde ausschöpfen könnte, ohne daß die Gerichte ihre eigene Bewertung an die Stelle der behördlichen setzen dürften. Ermessenskontrolle dürfte nicht bis zur gerichtlichen Ermessensausübung reichen.255 Eine Übermaß-, Unvertretbarkeits 256 - bzw. so verstandene Verhältnismäßigkeitskontrolle durch die Gerichte ist hingegen von Verfassungs wegen stets geboten und steht nicht zur Disposition. Die Frage soll hier offen bleiben, ob es sinnvoll ist, auch im Bereich des Planungsrechts ein strengeres Optimierungsgebot (im Sinne von aa) oder bb)) rechtlich zu fordern, aber der gerichtlichen Kontrolle zu entziehen. Eine solche Trennung ist nach § 216 BauGB durchaus denkbar. § 216 BauGB läßt allerdings nur bestehende rechtliche Kompetenzen unberührt, darf also nicht zu einer Zweckmäßigkeitskontrolle durch die höhere Verwaltungsbehörde führen. Für eine Ausdehnung der Kompetenzen der höheren Verwaltungsbehörde besteht 252

Siehe oben Fußnote 233 auf S. 181. Hoppe, Die Bedeutung von Optimierungsgeboten im Planungsrecht, DVB1 1992, 853, 860. 254 Jedenfalls gilt dies, wenn man den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als „lockeren" Maßstab versteht, der den Entscheidungsträgem eine Gestaltungsfreiheit einräumt; so ausdrücklich Hoppe, ebenda. Das ist terminologisch freilich etwas überraschend, weil doch gerade der Begriff der Verhältnismäßigkeit einerseits als „lockeres" Übermaßverbot und andererseits als „strenges" Optimierungsgebot verstanden wird; hierzu vergleiche oben F II 1 c (2). 255 Vergleiche Schulze-Fielitz, Das Flachglas-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts BVerwGE 45, 309 - Zur Entwicklung der Diskussion um das planungsrechtliche Abwägungsgebot, Jura 1992, 201, 208. 256 So auch BVerwGE 45, 309, 326. 253

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

hingegen gerade im Bereich des Planungsrechts kein Bedürfnis, soweit es um inhaltliche Maßstäbe geht. Eine methodenrechtliche Kontrolle bleibt unberührt. Hingegen ist die verfahrensrechtliche Kontrolle nach § 214 BauGB gerichtlich beschränkt. Um so mehr müssen hier methodenrechtliche Maßstäbe herausgearbeitet werden, um die bestehenden Planungsspielräume rechtlich zu steuern. Die Theorie der komparativen Systeme soll auch zur „Verfeinerung des Verwaltungsrechts als Steuerungswissenschaft", die „eine ungelöste Zukunftsaufgabe" 257 darstellt, beitragen. III. Rechtsfindungsfunktion (Rechtsanwendungsmethoden): Komparative Systeme als Auslegungsalternative de lege lata Wenn die Rechtsgewinnungsfunktion der komparativen Systeme wie soeben gezeigt258 zur Bildung komparativer Tatbestände führt, muß hierfür eine Rechtsanwendungsmethode bereitgestellt werden, die diesen komparativen Tatbeständen gerecht wird. Daß komparative Systeme dabei eine Rechtsfindungsfunktion erhalten, leuchtet unmittelbar ein. Wesentlich schwieriger ist die methodenrechtliche Frage, wann dies tatsächlich der Fall ist bzw. wann darüber hinaus komparative Rechtsfindung geboten ist. Dabei ist zwischen komparativen, starren und offenen Tatbestandsmerkmalen zu unterscheiden: Komparative Tatbestandsmerkmale sind solche rechtlichen Voraussetzungen, die stets komparativ zu werten sind; starre Tatbestandsmerkmale hingegen sind einer komparativen Anwendung verschlossen. Unter offenen Tatbestandsmerkmalen sollen hier solche unbestimmten Rechtsbegriffe verstanden werden, die einer komparativen oder auch starren Konkretisierung fähig und bedürftig sind. Dabei kann die Konkretisierungsfunktion 259 komparativer Systeme zum Tragen kommen: Wenn der Tatbestand einer Norm die zu berücksichtigenden Einzelfallumstände selbst nicht oder jedenfalls nicht abschließend nennt, müssen die abstrakten Voraussetzungen durch Rechtsfortbildung näher bestimmt werden. Dabei bieten sich in der Regel zunächst komparative Elemente an. Die Theorie komparativer Systeme kann manches Defizit der Methodenlehre beheben, soweit es um das Problem der Rechtskonkretisierung geht. Hier besteht 257

Schulze-Fielitz, Das Flachglas-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts-BVerwGE 45, 309 — Zur Entwicklung der Diskussion um das planungsrechtliche Abwägungsgebot, Jura 1992,201,208. 258 Hierzu F I I 2 und F I I I 1. 259 Von „konkretisierende(r) Komparation" spricht Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 126; zustimmend Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 645 und Schilcher, Gesetzgebung und bewegliches System, in Bydlinski (Hrsg.), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 287 ff., S. 316 m. w. N. in Fußnote 92.

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

187

noch mancher Bedarf, die Methodik rationaler zu gestalten. Das gilt etwa für die Aufforderung zur „Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls" 260 oder für die Auslegung von,insbesondere"-Tatbeständen und Regelbeispielen261. Komparative Systeme müssen in der Methodenlehre einen exakt begrenzten Platz zugewiesen bekommen. Sie sollen nicht das Subsumtionsmodell mit seinem Rechtsfolgenschluß (Wenn-dann-Schema) verdrängen. Das Subsumtionsmodell und der Kanon der Auslegungsmethoden sind Errungenschaften der Methodenlehre, die weiter „ M o d e l l c h a r a k t e r " behalten müssen. Aber diese Modelle sind nur begrenzt leistungsfähig. Sie können die Abwägungsstrukturen komparativer Systeme ebensowenig erklären, wie umgekehrt eine Methode komparativer Abwägung die Subsumtionsschlußstruktur. Es ist deshalb grundsätzlich zwischen beiden Modellen zu unterscheiden: Erstens dürfen starre, subsumtionsschlußfähige Tatbestände nicht komparativ angewendet werden (erste Grundregel) 262. Zweitens dürfen aber umgekehrt auch komparative Systeme nicht starr angewandt werden (zweite Grundregel) 263. Es ist also stets zu fragen, ob das positive, anzuwendende Recht starre oder komparative Voraussetzungen und Rechtsfolgen normiert. Dabei gibt die sprachliche Struktur der Tatbestandsformulierungen allenfalls Hinweis, jedoch keine sichere Auskunft darüber, ob es sich um komparative Elemente handelt. Hiernach richtet sich die grundsätzliche Weichenstellung für die Methode der Rechtsanwendung. Die Methodenlehre für das Recht muß notwendig an der Struktur des Rechts anknüpfen. Weil sich die Struktur rechtlicher Tatbestände nicht im Wenndann-Schema erschöpft, sondern auch das Je-desto-Schema kennt, muß auch die Methodenlehre beiden Phänomenen gerecht werden und d. h., sich ihnen getrennt widmen. Allerdings sind auch Ausnahmen von den beiden Grundregeln zu erwägen. Komparative und starre Tatbestände stehen trotz ihrer strukturellen Gegensätzlichkeit keineswegs ohne Berührungspunkte nebeneinander. So muß es auch in der Methodenlehre Überschneidungen zwischen komparativer und starrer Rechtsfindung geben.

260 261 262 263

Hierzu schon S. 65 f. Vergleiche S. 77, 82 ff. und 152 ff. Hierzu sogleich unter F III 1. Hierzu noch unter F III 2.

188

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

1. Keine komparative Anwendung starrer Tatbestände Starre Tatbestandsmerkmale dürfen nicht zu komparativen Elementen aufgeweicht werden. Dort wo bereits die Gesetzgebung die notwendigen Wertentscheidungen getroffen hat und diese sich in starren Tatbeständen niederschlagen, darf der Normanwender nicht seine Wertungen an die Stelle der gesetzgeberischen setzen. Das gilt nicht nur für Parlamentsgesetze, sondern für jede Form der Rechtsetzung. Das heißt aber nicht, daß jede Norm nur entweder starr oder aber komparativ anzuwenden ist. Auf der einen Seite gibt es auch „Mischtatbestände" mit sowohl starren als auch komparativen Elementen. Auf der anderen Seite können auch starre Normen über ihren starren Tatbestandsbereich hinaus Wirkung als Rechtsprinzip entfalten. Wenn etwa der„Rechtsgedanke" einer starren Norm über deren Anwendungsbereich hinaus für rechtliche Wertungen herangezogen wird, dann kann es sich dabei durchaus um einen komparativen Vorgang handeln. Dies liegt schon an der komparativen Struktur der Analogie264. An dieser Stelle ist jedoch och einmal klarzustellen, daß es sich dabei nur um „analoge", d. h. um außerhalb des Normbereichs liegende Wertungen handeln darf. Innerhalb des Normbereichs einer starren Norm darf es nicht zur Aufweichung der starren Normstruktur kommen.265

a) Die komparative Bestimmung von Beweislast und Beweismaß

In einer Arbeit über das Methodenrecht dürfen die Fragen der Beweislast und des Beweismaßes nicht fehlen. Sie sind methodenrechtliche Probleme: Immer wieder ist darüber gestritten worden, 266 ob es sich um materiellrechtliche 267 oder prozessuale268 Fragestellungen handelt. Es muß nicht verwundern, daß in diesem Streit keine Einigung zu erzielen ist. Die Regeln des Beweismaßes und der Beweislast gehören nämlich weder zum materiellen, noch zum prozessualen Recht, sondern vielmehr zum Methodenrecht. Der Streit um die Einordnung der Beweismaß- und Beweislastregeln zeigt einmal mehr, daß der Dogmatik die Kategorie des Methodenrechts fehlt. Tatsächlich gibt es Ansätze, die die Beweis-

264

Vergleiche oben F II 1 b. A m Beispiel des § 138 Abs. 2 BGB wurde dies oben S. 82 f. gezeigt. 266 Hierzu vergleiche auch Berg, Grundsätze des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, Festschrift für Chr.-F. Menger, 1985, S. 537, 548 m. w. N. in Fußnote 42. 267 So etwa Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 1978, S. 135. 268 So Huber, Das Beweismaß im Zivilprozeß, 1983, S. 123 m. w. N. 265

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

189

lastregeln als „'verweisende' Rechtsnormen" 269,,Aushilfsnormen" 270, „Kollisionsnormen"271 oder „Hilfsregeln" 272 charakterisieren. In der Sache sind dies Versuche, mit neuen Kategorien einer Zuordnung zum materiellen bzw. prozessualen Recht auszuweichen. Diese Zuordnungsprobleme sind nicht nur von dogmatischem Interesse. Vielmehr entzündet sich der akademische Streit an der praktisch relevanten Frage, ob das Beweismaß in unserer Rechtsordnung unveränderlich ist oder nicht.273 Und diese Frage der Unveränderlichkeit - in anderen Worten: der Beweglichkeit" rechtlicher Voraussetzungen ist eine Frage des Methodenrechts. Die praktische Bedeutung dieser Frage kann gar nicht überschätzt werden. Beweismaß- und Beweislastregeln sind von zentraler methodenrechtlicher Bedeutung, ja oft prozeßentscheidend. Das Beweisrecht ist als Methodenrecht dazu geeignet, erheblich in prozessuale und materielle Voraussetzungen einzugreifen. Dies wird in der Praxis auch in großem Ausmaß getan. Es ist deshalb nicht ganz zu Unrecht von einer „Nebenrechtsordnung" 274 gesprochen worden. Diese Entwicklung zu einer „Nebenrechtsordnungf 4 eröffnet sowohl Chancen der Einzelfallgerechtigkeit als auch Gefahren der Rechtsunsicherheit. Wenn die Methodenlehre einen Sinn haben soll, muß sie sich der ,3ändigung" auch dieses Phänomens annehmen. Sie muß der Gefahr begegnen, daß die Rechtsprechung eine Verminderung der Beweisanforderungen ζ. T. nicht nur offen, sondern vielmehr „verdeckt vornimmt". 275 Derartige Eingriffe in das geschriebene Recht sind methodenrechtlich nicht weniger problematisch als die Analogie oder Reduktion, die „Klassiker" der Methodenlehre. Es besteht somit Anlaß genug, daß sich die Methodenlehre den Fragen des Beweismaßes und der Beweislast in gleicher Weise zuwendet. Darüber hinaus sind die Fragen der Beweislast und des Beweismaßes mitunter verfassungsrechtliche Probleme276 und gleichwohl „nach wie vor Domäne des 269

Bötticher, Die Beweislast auf der Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der Zivilprozeßordnung — Rezension der gleichnamigen Schrift von Rosenberg in ZZP 68 (1955), 230, 232. 270 Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, 1975, S. 21. 271 Wahrendorf, Die Prinzipien der Beweislast im Haftungsrecht, 1976, S. 30, der sie damit ausdrücklich „weder als Prozeßrecht noch als materielles Recht" qualifiziert. 272 Reinhardt, Die Umkehr der Beweislast aus verfassungsrechtlicher Sicht, NJW 1994, 93. Ebenda spricht Reinhardt sogar von einer „Nebenrechtsordnungf 4. 273 Ebenda, S. 123 f. 274 Vergleiche Fußnote 272. 275 Musielak, Freie Beweiswürdigung, - Rezension der gleichnamigen Schrift von Walter in NJW 1980, 1443. 276 Vergleiche Reinhardt, Die Umkehr der Beweislast aus verfassungsrechtlicher Sicht, NJW 1994, 93 ff. und die Erwiderung von Huster, Beweislastverteilung und Verfassungsrecht, NJW 1995, 112.

190

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Zivilrechts" 277. Das läßt sich aber keineswegs damit rechtfertigen, daß das Beweisrecht im Verwaltungsrecht nur „eine vergleichsweise untergeordnete Rolle zu spielen verurteilt" 278 wäre. Zwar ergibt sich wegen des Untersuchungsprinzips eine besondere, hinsichtlich der subjektiven279 Beweislast vom Zivilprozeß abweichende Lage280. Das heißt aber nicht,281 daß im Verwaltungsrecht das Beweisrecht vernachlässigt282 werden könnte. Das öffentlich-rechtliche Schrifttum hat sich inzwischen dem Thema der Beweislast ausfuhrlich zugewendet.283 Zunächst sind die Fragen der Beweislast und des Beweismaßes klar voneinander zu unterscheiden: Die Darlegungslast- und Beweislastverteilung bürdet einer Partei den Vortrag bzw. Nachweis materiellrechtlicher Voraussetzungen auf und belastet sie mit dem Prozeßrisiko für den Fall, daß ihr dieser Nachweis nicht gelingt. Das Beweismaß hingegen ist die Grenze dessen, was zu diesem Nachweis genügt. Anders ausgedrückt ist zu fragen, wer die Beweislast trägt und in welchem Maß er durch sie nach dem Beweismaß belastet wird oder noch kürzer ob beziehungsweise inwieweit eine Partei eine Tatsache zu beweisen hat. Trotz der Unterscheidung beider Fragestellungen sind diese doch so eng miteinander verbunden, daß sie stets in einheitlichem Zusammenhang gesehen werden müssen. Verschiedene Behandlungen der einen Frage wirken sich unmittelbar auf die andere aus. Ist etwa in einem Fall die Bürde der Beweislast für eine Partei ungerechtfertigt, so wäre es denkbar, dies nicht nur durch eine Umkehr der Beweislastverteilung, sondern auch durch eine Verringerung des geforderten Beweismaßes zu korrigieren. Wenn man das Beweismaß von der Wahrheitsüberzeugung des Richters auf eine lediglich überwiegende (d. h. 5 l%ige) Wahrschein-

277

Reinhardt, Die Umkehr der Beweislast aus verfassungsrechtlicher Sicht, NJW 1994,

93. 278

So aber Reinhardt, ebenda. Die Bedeutung der objektiven Beweislast wird hingegen vom Untersuchungsgrundsatz nicht wesentlich eingeschränkt. Vergleiche Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 171. 280 Hierzu insbesondere Berg, ebenda, S. 36 ff., ders., Grundsätze des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, Festschrift für Chr.-F. Menger, 1985, S. 537, 540 ff. und 548 ff. Vergleiche auch Nierhaus, Beweismaß und Beweislast. Untersuchungsgrundsatz und Beteiligtenmitwirkung im Verwaltungsprozeß, 1989. 281 Nierhaus, ebenda S. 5: „Diese Hoffnung verflog . . . " 282 Die Vernachlässigung dieses Problemfeldes beklagt auch Huster, Beweislastverteilung und Verfassungsrecht, NJW 1995, 112. 283 Vergleiche statt aller Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, Nierhaus, Beweismaß und Beweislast. Untersuchungsgrundsatz und Beteiligtenmitwirkung im Verwaltungsprozeß, 1989, J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990 und Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten 1992. 279

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

191

lichkeit reduziert, dann wird die Frage der Beweislast „so gut wie funktionslos" 284 oder jedenfalls in ihrer Bedeutung stark 285 reduziert. Dennoch behält die Beweislastverteilung neben der Frage des Beweismaßes nach dem hier vertretenen Ansatz eine eigenständige Bedeutung.286 Nicht nur Beweismaß und Beweislast müssen auseinander gehalten werden. Auch innerhalb der Beweislast ist zwischen der subjektiven und der objektiven Beweislast zu unterscheiden. Die objektive Beweislast ist die Feststellungslast für den Fall der Unaufklärbarkeit einer Tatsache. Die subjektive Beweislast, auch Beweisfuhrungslast gibt einer Partei den Beweis bestimmter Tatsachen im Prozeß auf. An der subjektiven Beweislast orientiert sich auch die Darlegungslast. Nach der Darlegungslast obliegt einer Partei der Vortrag entscheidungserheblicher Tatsachen. Im Bestreitensfalle obliegt ihr nach der Beweisführungslast sodann deren Nachweis. Es wird deshalb auch von einer „Beibringungsobliegenheit"287 gesprochen. Diese subjektive Beweislast betrifft die Verfahren mit Beibringungs- und Verhandlungsgrundsatz.288 Darüber hinaus wird zwischen abstrakt-subjektiver und konkret-subjektiver Beweislast unterschieden.289 Während sich die abstrakte subjektive Beweislast nach der Verteilung der objektiven Beweislast richtet, kann die konkrete subjektive Beweislast zwischen den Parteien sogar während eines Prozesses mehrmals wechseln. Konkret subjektiv beweisbelastet ist nämlich die Partei, der es obliegt, einen Tatsachenvortrag und -beweis zu erschüttern. Das kann auch die abstrakt nicht beweisbelastete Partei treffen, sobald nämlich die abstrakt (und zunächst auch konkret) beweisbelastete Partei ihrer Obliegenheit genügt hat und vorbehaltlich einer Beweiserschütterung das Gericht von einer Tatsache überzeugt ist. Die Verteilung der objektiven Beweislast ist nach den verschiedenen Rechtsgebieten gesondert zu betrachten:

284

Grunsky, Vom rechtsgenügenden Beweis - Rezension der gleichnamigen Schrift von Mötsch in NJW 1984, 858 f. 285 Kritisch gegen die Behauptung von Grunsky ebenda, eine 50:50-Wahrscheinlichkeit komme praktisch nicht vor, äußert sich jedoch Huber, Das Beweismaß im Zivilprozeß, 1983, S. 126. Auch Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten 1992, S. 19 meint zu Recht, der Fall einer 50%igen Wahrscheinlichkeit sei „vielleicht nicht einmal so theoretisch, wie er zunächst erscheinen magf 4. 286 Die Ansätze, die die bloße Wahrscheinlichkeit zum Regelbeweismaß erklären, werden noch ausführlich diskutiert, s. u. S. 200 ff. 287 Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten 1992, S. 13. 288 Vergleiche Kokott, ebenda. 289 Hierzu Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 7 ff. und 28 ff.

192

F. Die Funktionen der komparativen Systeme (1) Beweislast im öffentlichen Recht: „In dubio pro ratione legis" (Berg) als komparatives System

Die Rechtsprechung hat sich traditionell 290 wie im Zivilrecht, so auch im Verwaltungsrecht der Normentheorie verpflichtet gesehen. Danach muß jeder Beteiligte im Prozeß die Beweislast fur die ihr günstigen Tatsachen tragen. Die Normtheorie ist von Rosenberg für die Beweislast im Zivilprozeß entwickelt worden und hat sich dort mit zahlreichen Modifizierungen 291 in der Praxis durchgesetzt und bewährt. Ein Teil des Schrifttums 292 begrüßt nach wie vor die Übertragung dieses Ansatzes auf das öffentliche Recht. Indessen sind Zweifel 293 angebracht, ob dies dem öffentlichen Recht tatsächlich gerecht wird. Das Begünstigungsprinzip der Normentheorie ist nämlich von dem Zweck des Privatrechts getragen, kollidierende Privatinteressen zum Ausgleich zu bringen. Diese Privatinteressen können den Parteien im Zivilprozeß in der Regel exakt zugeordnet werden. Soweit sie kollidieren, bedeutet die Begünstigung der einen Streitpartei einen Nachteil für die andere Partei. Typischerweise läßt sich deshalb im Privatrecht jedes Tatbestandsmerkmal aus seiner Rechtsfolge heraus eine bestimmte „Günstigkeitstendenzf' entnehmen. Im öffentlichen Recht hingegen bezwecken Normen den Ausgleich eines ungleich komplexeren Interessengeflechts, in dem vor allem das öffentliche Interesse hinzutritt. Dieser Komplexität wird die Normentheorie schon im Ansatz nicht gerecht, ebensowenig Pauschallösungen wie „in dubio pro liberiate" 294. Der von Berg entwickelte Grundsatz „in dubio pro ratione legis" 295 hingegen ist aus der Materie des öffentlichen Rechts heraus und für sie entwickelt. Danach ist die Beweislast im öffentlichen Recht eine Abwägungsfrage. Die Entscheidung nach der Beweislast setzt einen Entscheidungszwang in einer ,410η liquet"Situation voraus und ist der unter Zeitnot zu fällenden Entscheidung im vorläufi-

290

Nachweise bei Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 181, Fußnote 75. 291 Hierzu vergleiche unten F I I I 1 a (3) (,ßeweislast im Zivilrecht: Komparative Abweichungen von der Normentheorie"), S. 197. 292 Vergleiche statt aller J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 116 ff. m. w. N. 293 Grundlegend Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 180 ff. 294 Hiergegen auch Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 192 ff.; vergleiche auch Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten 1992, S. 84 ff. 295 Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 243.

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

193

gen Rechtsschutz296 insoweit vergleichbar. Im vorläufigen Rechtsschutz sieht das Gesetz die Abwägung „wesentlicher Nachteile" (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO) vor und fragt ausdrücklich danach, ob eine Entscheidung „eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interesssen gebotene Härte zur Folge hätte" (§ 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO für die behördliche Aussetzung der sofortigen Vollziehung). Der vorläufigen Eilentscheidung vergleichbar ist auch bei der Beweislastentscheidung damit zu rechnen, daß ihr Ergebnis, ihre Rechtsfolge nicht der materiellen Wahrheit entspricht. Der unterlegene Beteiligte muß deshalb gegebenenfalls Nachteile zu Unrecht tragen. Diese Nachteile sind in einer Rechtsfolgen-Abwägung auf den jeweils geringstmöglichen Schaden zu reduzieren. Aus der ratio legis einer jeden Norm ist im Wege der Güterabwägung herauszulesen, welche Beweislast verhältnismäßig ist. 297 Ζ. B. bei Normen, die die Abwehr von Gefahren für die Allgemeinheit bezwecken, wird die Schwere und der Grad dieser Gefahren in die Waagschale zu werfen sein. Hier wäre zu fragen, ob die Allgemeinheit ihre eigene Gefahrdung durch eine potentiell unrichtige Entscheidung tragen muß. Umgekehrt wird bei öffentlich-rechtlichen Ansprüchen zur Existenzsicherung des Einzelnen zu fragen sein, ob der Anspruchsteller das Risiko einer potentiell unrichtigen Entscheidung tragen kann, das gegebenenfalls in seiner Existenzgefährdung bestünde. Gegen Bergs Theorie sind dieselben Vorwürfe erhoben worden, denen Abwägungslehren aller Art immerwieder ausgesetzt sind. So stellt J. Dürig etwa fest, das Abwägungsergebnis falle „anders als es auf den ersten Blick scheint (!)-nicht eindeutig aus."298 Meines Erachtens ist es für Abwägungsvorgänge typisch, daß ihr Ergebnis nicht (auf den ersten Blick) feststeht. Wer Abwägungsvorgänge im Recht - und zumal im öffentlichen Recht - aus diesem Grund pauschal leugnet oder kritisiert, kommt meist selbst auf Umwegen zu Wertungsentscheidungen, deren Ergebnis nicht „eindeutiger" ausfällt, als das der Abwägung. Theorien ohne differenzierende Wertungen hingegen wären in der Regel unzulässige Vereinfachungen, die der Komplexität der Materie nicht angemessen sind. Die geradezu unüberschaubare Verästelung der Beweislastfragen im Zivilrecht zeigt, daß auch die im Grundsatz „eindeutige" Normentheorie auf kurz oder lang vieler Ausnahmen und Modifizierungen bedarf, die auf Wertungen zurückgehen. Die Bezeichnung dieses Beweislastrechts als „Nebenrechtsordnung" spricht für sich. Zugegebenermaßen ist die folgenorientierte Abwägung ein schwieriger Vorgang. J. Dürig hat selbst aufgezeigt, welche Erwägungen dabei für den Fall des 296 Zu dieser Parallele vergleiche auch Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 226. 297 Auf die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Güterabwägung bezieht sich Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 235 f. ausdrücklich. 298 J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 115.

13 Michael

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Asylrechts einzubeziehen wären. 299 Sie stellt die gegebenenfalls erheblichen „Belastungen des sozialen Gefüges der Bundesrepublik Deutschland"300 und deren Verkraftbarkeit für die Allgemeinheit zutreffend dem Risiko „physischer und psychischer Existenzvernichtungf' 301 des zu Unrecht abgelehnten Asylbewerbers gegenüber. Sodann scheut sie sich, ein Ergebnis aus dieser Abwägung heraus zu finden. Sie verweist darauf, daß die Verkraftbarkeit des Asylbewerberstromes „umstritten" 3 0 2 sei. Sie hat zutreffend daraufhingewiesen, daß bei einer solchen Abwägung auch das Vorverständnis 303 einfließen kann. J. Dürig hat nicht bestritten oder gar widerlegt, daß die nach Berg abzuwägenden Rechtsfolgen die sachgerechten Kriterien zur Verteilung der Beweislast im öffentlichen Recht darstellen. Wenn sie selbst ihren Überlegungen das „rechtsstaatliche Gebot einer abstrakt-generellen Risikozuweisung"304 zugrundelegt, dann stimmt sie mit Berg insoweit überein, als es auch ihr wesentlich auf das Rechtsfolgen-Risiko und seine Verteilung ankommt. Die Uneinigkeit besteht somit weniger im Ziel als hinsichtlich der Methode der Abwägung. Die Besonderheit des von Berg geforderten Abwägungsvorgangs besteht darin, daß die Beweislast per Abwägung abstrakt-generell und nicht konkret im Einzelfall zu bestimmen ist. Insoweit weicht diese Abwägung von der Einzelfallbezogenheit der bisher erörterten komparativen Systeme ab. Eine abstrakt-generelle Regelung der Beweislast fordert aber nicht erst Dürig, sondern bereits Berg, wenn er sich gegen Billigkeitserwägungen der Beweisnot im Einzelfall wendet305 und die „prozessuale Situation"306 der Beweisnähe gerade nicht mit der Rechtsfolgenabwägung vermengt wissen will. Deshalb nennt Berg seine Erwägungen auch „in dubio pro ratione legist', die zwar für jede Norm einzeln aber insoweit über den Einzelfall hinaus abstrakt-generell zu bestimmen sei. Nicht nur das Argument der Rechtssicherheit fordert eine abstrakte Vorhersehbarkeit der Beweislastverteilung und damit des Prozeßrisikos. Nicht nur wäre es geradezu paradox, wenn die Abwägung bezüglich des Rechtsfolgenrisikos zu einer Unvorhersehbarkeit des Prozeßrisikos führen würde, zumal die Prozeßkosten einen - wenn auch in diesem Zusammenhang untergeordneten — Teil der Rechtsfolgen darstellen. 299

J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 113 ff. Ebenda S. 115. 301 Ebenda S. 113. 302 Ebenda S. 115. 303 Ebenda S. 116. Hierzu vergleiche grundlegend Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Auflage, 1972. 304 Ebenda S. 112 und öfter, vergleiche Fußnote 121. 305 Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 210. 306 Ebenda S. 224. 300

III. Rechtsfindungsfunktion (Rechtsanwendungsmethoden)

195

Darüber hinaus hat die Verteilung der Beweislast in Prozessen mit schwieriger Beweislage eine „Präjudizfunktion" 307, die in so häufigen Verfahren wie dem Asylverfahren selbst ein Kriterium bei der Rechtsfolgenabwägung darstellen muß. So wird etwa eine für den Asylbewerber günstige Beweislastverteilung mittelfristig Auswirkungen auf die Anerkennungsquote und damit auf die Belastbarkeit des sozialen Gefüges erlangen. Möglicherweise könnten sich langfristig sogar Auswirkungen auf die Asylbewerberzahlen ergeben.308 Sollen diese tatsächlichen Folgen als mittelbare Rechtsfolgen in die Abwägung einbezogen werden, so verbietet sich eine auf den Einzelfall bezogene Beweislastverteilung schon vom Ansatz her. Somit ist die komparative Struktur dieser Rechtsfolgenabwägung umrissen. Wenn Dürig die „vollkommene Offenheit für jedes nur denkbare Abwägungskriterium" 309 beklagt, so setzt sie sich in Widerspruch zu den Forderungen Bergs und zu ihrer eigenen Gegenüberstellung der Rechtsfolgen im Falle des Asylrechts. Von „der Gefahr einer gewissen Beliebigkeit 4310 kann hier gerade keine Rede sein. Es ist hier wieder 311 zu beobachten, daß Kritiker von Abwägungsstrukturen leicht „ B e w e g l i c h k e i t " mit „Offenheit" und „Gewichtung" mit ,ßeliebigkeit" verwechseln. Die folgenorientierte Güterabwägung führt nur dann „zu keinem Ergebnis" 312, wenn man sich den mit ihr zu Recht aufgeworfenen Fragen nicht stellt. Wer die Beweislast hingegen nach einer solchen Abwägung beurteilt und seine Gründe offenlegt, wird dazu gebracht, sein Ergebnis sogar besonders gut und „ehrlich" zu begründen. Wir dürfen vor komparativen Systemen hier wie schon bei der Güterabwägungstheorie im Verfassungsrecht nicht kapitulieren. (2) Beweislast im Strafrecht: „In dubio pro reo"

Im Strafrecht gilt der Grundsatz „in dubio pro reo". Danach trägt die Staatsanwaltschaft die Beweislast, jedenfalls im Hauptverfahren des Strafprozesses. Tatsächlich kann dieser Grundsatz, aus dem Berg seine Theorie für den Verwaltungsprozeß induktiv gewonnen hat, als besondere Ausprägung des „in dubio pro ratione legis" gelten. Fragt man nach der zumutbaren Verteilung des Risikos einer unrichtigen Entscheidung, so fällt im Strafrecht die Antwort klarer aus, als in den meisten Fragen des Verwaltungsrechts: Wegen der extrem einschneidenden Rechtsfolge einer Strafsanktion ist dem Angeklagten eine Fehlverurteilung re307 308 309 310 311 312

1*

J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 113. Hierzu vergleiche J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 113. Ebenda S. 116. (Hervorhebung nicht im Original.) Ebenda. (Hervorhebung nicht im Original.) Vergleiche hierzu auch oben S. 61 f. J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 116.

196

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

gelmäßig weniger zuzumuten, als dem Staat ein Fehlfreispruch. Hierüber herrscht Einigkeit. Meines Erachtens beruht diese Einigkeit darauf, daß unter dem Gesichtspunkt der Rechtsfolgenabwägung dieses Ergebnis gerecht erscheint. Deshalb sollte die Methode der Rechtsfolgenabwägung verallgemeinert werden, wie es Berg für den Verwaltungsprozeß vorschlug. Die „Eindeutigkeit" des „in dubio pro reo" sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß dahinter die komparative Wertung einer Rechtsfolgenabwägung steht, die einleuchtet. Im übrigen erfahrt auch der „In dubio pro reo"-Grundsatz Einschränkungen, bei denen der allgemeinere, komparative „In dubio pro ratione legis"-Grundsatz sichtbar wird. So knüpfen einzelne Tatbestände ihre Rechtsfolge an die Unaufklärbarkeit einer Tatsache an (§§ 69 Abs. 1, 323 a Abs. 1 StGB313 ) und fangen die „In dubio pro reo"-Wirkung gleichsam auf. Daß der „In dubio pro reo"-Grundsatz sogar im Strafrecht vom „In dubio pro ratione legis"-Grundsatz überlagert werden kann, zeigt § 186 StGB: Bei der üblen Nachrede muß sich der Angeklagte durch einen Wahrheitsbeweis der ihm vorgeworfenen Tatsachenbehauptung vor Strafe bewahren. Aus der negativen Formulierung des Tatbestandes („wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist") wird diese Verlagerung der objektiven314 Beweislast auf den Angeklagten deutlich. Rechtfertigen läßt sich dieses Ergebnis mit dem Bedürfnis des Ehrenschutzes für das Opfer übler Nachrede. Daß es sich hierbei um eine komparative Wertung handelt, die anstelle des „In dubio pro reo"-Grundsatzes tritt, beweist die zwar im Ergebnis umstrittene, im methodenrechtlichen Ansatz jedoch unangreifbare Rechtsprechung des BVerfG die eine Strafbarkeit von der Abwägung des Ehrenschutzes mit der Meinungsfreiheit abhängig macht.315 Methodisch auf derselben Linie liegt auch das jüngst von Schmitt Glaeser316 postulierte Toleranzgebot, das einen „Maßstab verhältnismäßiger Zuordnung" 317 darstellt.

313

Nach Dreher/ Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze 47. Auflage 1995, zu § 323 a Randzeichen 5 ist § 323 a StGB ein Auffangtatbestand für Anwendungsfälle des „in dubio pro reo" bei § 20 StGB. 314 Zur Frage der Beweisführungslast vergleiche Dreher/ Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze 47. Auflage 1995, zu § 186 Randzeichen 8 m. w. N. 315 So wird Einschränkung des „in dubio pro reo" durch die Rechtsprechung des BVerfG zu § 193 StGB wiederum eingeschränkt. Hierzu vergleiche ebenda sowie die Kritik von Kriele, Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, NJW 1994, 1897, 1899. 316 Schmitt Glaeser, Meinungsfreiheit, Ehrenschutz und Toleranzgebot, NJW 1996, 873 ff. 317 Ebenda, S. 877.

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

197

(3) Beweislast im Zivilrecht: Komparative Abweichungen von der Normentheorie

Selbst wenn man im Zivilprozeß im Grundsatz an der überkommenen Normentheorie festhält, ergeben sich die zahlreichen Einschränkungen und Modifikationen von der danach sich ergebenden „Regelbeweislast" aus komparativen Erwägungen. Die Theorie der komparativen Systeme kann deshalb auch beim zivilprozessualen Beweisrecht wie schon in anderen Teilen des Methodenrechts eine klärende Rolle spielen. Welche Funktion komparative Systeme im Beweisrecht des Zivilrechts tatsächlich einnehmen, soll im folgenden untersucht werden: 1. Abweichungen von der nach der Normentheorie sich ergebenden Regelbeweislast und vom Regelbeweismaß hängen von komparativen Elementen ab. Schon Wahrendorf 318 hat gezeigt, daß im Bereich des Haftungsrechts die BeweislastvQTtz\\\mg wesentlich von Rechtsprinzipien319 und nicht von starren Tatbeständen bestimmt wird. Musielak hat daraufhingewiesen, daß auch das Beweismaß durch „Prinzipien und Zwecke"320 beeinflußt werden kann. Zum Teil wird die Beweiswürdigung des Richters als Ermessensentscheidung angesehen321 und damit komparativen Erwägungen unterstellt. Schließlich wurde bereits oben322 nachgewiesen, daß sich der BGH bei den Auslegungsproblemen des § 138 Abs. 1 BGB auf die Beweisanforderungen zurückzieht, wo in der Literatur ein materiellrechtliches komparatives System gefordert wird. Das alles deutet daraufhin, daß hier komparative Strukturen bereits jetzt eine Rolle spielen. Meines Erachtens ist es hier ζ. T. nichts anderes als der „In dubio pro ratione legis"-Grundsatz, der die Beweislastverteilung bestimmt, soweit die Normentheorie zu unbefriedigenden Ergebnissen fuhrt: Im Fall des § 138 Abs. 1 BGB soll derjenige, der objektiv sittenwidrig handelt, das Risiko der Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts tragen. 2. Die Variabilität der Beweislast und des Beweismaßes kann die komparativen Systeme des materiellen Rechts nicht ersetzen, sondern allenfalls ergänzen. Wie das Beispiel der Rechtsprechung zu § 138 Abs. 1 BGB zeigt, konkurrieren bisweilen Vorschläge, in das Beweisrecht bzw. in die materiellen Voraussetzungen einzugreifen, miteinander. Die Rechtsprechung scheut komparative Strukturen, wo sie der Gesetzgeber nicht selbst vorgibt. Das mag daran liegen, daß

3,8

Wahrendorf, Die Prinzipien der Beweislast im Haftungsrecht, 1976, S. 14 ff. Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, 1989, S. 221 spricht von „Beweislastregeln im Spannungsfeld zwischen Prinzip und Norm". 320 Musielak, Freie Beweiswürdigung, - Rezension der gleichnamigen Schrift von Walter in NJW 1980, 1443. 321 Hierzu kritisch mit umfangreichen Nachweisen Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S. 170 f. 322 Hierzu oben S. 89 ff. 319

198

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

die Rechtsprechung323 bei komparativen Strukturen häufig von einer begrenzten gerichtlichen Kontrolldichte ausgeht und ihre Kontrollkompetenzen durch eine Ausdehnung komparativer Systeme möglicherweise beschränken würde. Stattdessen beschreitet sie den umgekehrten Weg: Sie erweitert die eigenen Beurteilungsspielräume, indem sie die Anforderungen des Beweisrechts von Fall zu Fall lockert. Damit hält die Rechtsprechung das Recht jedoch keineswegs von komparativen Strukturen frei. Wenn diese komparativen Strukturen über die Hintertür des Beweisrechts in die Methodik der Praxis gelangen, dient dies keineswegs der Methodenklarheit, sondern verschleiert lediglich die Bedeutung komparativer Systeme. Es ist nicht einzusehen, warum sich die Rechtsprechung einerseits gegen komparative Strukturen im materiellen Recht wehrt 324 und andererseits selbst Beweislast und Beweismaß komparativ handhabt. Das Beweisrecht ist methodisch nicht mehr und nicht weniger streng zu handhaben als das materielle Recht. Komparative Systeme können sowohl bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale als auch im Beweisrecht eine Rolle spielen. Ehe man jedoch Korrekturen am Beweisrecht vornimmt, müssen die Tatbestandsmerkmale „hinterfragt" werden. Ehe man komparative Systeme der Beweislast und des Beweismaßes zuläßt, müssen komparative Strukturen des materiellen Rechts anerkannt werden. Rabel hat schon 1923 gefordert: „Wenn aber überhaupt ein weiches System^) der Beweislast erträglich sein kann, so gewiß nur, indem die abstrakten Normen selber schmiegsam(!) und demnach den Regeln der Beweiswürdigung ähnlich gestaltet werden." 325 Die methodenrechtlichen Anforderungen an die Bildung komparativer Systeme sind im Beweisrecht nicht geringer und nicht höher als im Rahmen der Auslegungsfunktion komparativer Systeme. Die Rechtsprechung scheint diese Anforderungen im materiellen Recht zu hoch und im Beweisrecht zu niedrig anzusetzen. Dadurch entsteht der Eindruck, das Beweisrecht sei nicht an das Methodenrecht gebunden bzw. die Regel, wonach starre Tatbestandsmerkmale nicht komparativ angewendet werden dürfen, gelte im Beweisrecht nicht (entsprechend). Das widerspräche aber dem allgemeinen Anspruch des Methodenrechts, in allen Bereichen des Recht zu gelten. Außerdem ist mit einer vermeintlich streng am Wortlaut orientierten Auslegung nichts gewonnen, wenn der Richter über das 323

Das gilt insbesondere für die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zum Ermes-

sen. 324

Hierzu oben Fußnote 135 auf S. 81 und S. 89 ff. Rabel, Umstellung der Beweislast, insbesondere der prima facie Beweis in Rheinische Zeitschrift für Zivil- und Prozeßrecht 12 (1923), S. 428, 442 (Hervorhebungen nicht im Original). Auf diese „nachdenklichen Worte" beruft sich in anderem Zusammenhang auch Mötsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 1983, S. 30 Fußnote 11 - wenngleich mit abweichendem Fundstellennachweis. 325

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

199

Beweisrecht den Entscheidungspielraum erhält, den er zur Würdigung der Einzelfallumstände braucht. Einzelfallgerechtigkeit ist ein Ziel, das mit Hilfe komparativer Systeme auf allen Ebenen der Methodik anzustreben ist. Komparative Systeme des materiellen Rechts und der Beweislast sind zu unterscheiden: aa) Komparative Systeme der materiellen Tatbestandsmerkmale: Hierbei geht es um den Grad, zu dem eine Voraussetzung gegebenenfalls nach Beweiswürdigung vorliegen muß. Ein solches komparatives System liegt immer dann vor, wenn die Übererfüllung einer Voraussetzung ausreicht, um die Untererfüllung einer anderen Voraussetzung zu kompensieren. Das geht weiter als die Umkehr der Beweislast oder eine Erleichterung des Beweismaßes: Bei der Umkehr der Beweislast wird zwar vermutet, daß ein Tatbestandsmerkmal erfüllt ist. Diese Vermutung ist jedoch erstens widerleglich und bezieht sich zweitens darauf, daß dieses Tatbestandsmerkmal gerade nicht untererfüllt ist. Bei einer Reduzierung des Beweismaßes von derrichterlichen Wahrheitsüberzeugung auf eine bloß überwiegende Wahrscheinlichkeit kann diese Wahrscheinlichkeit ebenso durch den Gegenbeweis entkräftet werden und bezieht sich gleichfalls auf die volle Erfüllung des Tatbestandsmerkmals. Einen Sonderfall stellt die sogenannte „unwiderlegliche Vermutung dar. Dies ist eigentlich eine widersinnige Bezeichnung, da nur das Gesicherte und nicht das Vermutete unwiderleglich sein kann. In Wahrheit wird hier auf eine Voraussetzung im materiellen Sinne verzichtet, indem der Gegenbeweis einer Tatsache(!) für unzulässig erklärt wird. bb) Komparative Systeme der Beweislast: Hierbei geht es um die Frage, zu wessen Lasten die Unaufklärbarkeit einer bestimmten Voraussetzung geht. Diese Verteilung der Beweislast ist eine echte Alternative: Die Beweislast kann nur entweder die eine oder die andere Partei tragen. Komparative Elemente können hier also nur nach dem Muster, je mehr - desto eher" zu einer Umkehr der Beweislast führen. Geht man davon aus, daß das Regelbeweismo/? dierichterliche Überzeugung von der Wahrheit und nicht eine bloß überwiegende Wahrscheinlichkeit ist, 326 dann dürfte eine Beweislastumkehr erst erfolgen, wenn das Unbewiesene dieser richterlichen Überzeugung gleichwertig ist. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dürfte dann als solche nicht schon zur Beweislastumkehr ausreichen. Dann stellt sich aber die Frage, welchem Beweismaß der Umkehrbeweis zu genügen hat: Muß er den Richter von der Wahrheit des Gegenteils überzeugen oder muß er nur die hohe Überzeugungsqualität der Vermutung erschüttern? Nimmt man die Bezeichnung Beweislasttt/w&e/zr wörtlich, müßte für den Gegenbeweis dasselbe Beweismaß, also in der Regel dierichterliche Wahrheitsüberzeugung gel326

Hierzu sogleich unter 4.

200

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

ten. Das ginge aber weit darüber hinaus, die grundsätzlich beweisbelastete Partei lediglich davon zu befreien, selbst ihrerseits den Überzeugungsbeweis anzutreten. Manches spricht deshalb dafür, im Falle bzw. anstelle der sogenannten ,3eweislastumkehi" entweder nur die Erschütterung der Vermutung zu verlangen oder das Beweismaß des Gegenbeweises auf die überwiegende Wahrscheinlichkeit zu reduzieren, wenn nicht weitere besondere Gründe den vollen Gegenbeweis erfordern. Korrekturen des Beweismaßes sind also gegenüber der Beweislastumkehr das flexiblere Mittel. Gegen eine Reduktion des Regelbeweismaßes sprechen aber Argumente, die im folgenden zu untersuchen sind:

(4) Komparative Systeme des Beweismaßes?

Beim Beweismaß geht es um den Grad der Wahrscheinlichkeit, zu welchem die materiell erforderlichen Voraussetzungen vorliegen müssen. Das Beweismaß kann also graduell variieren. Hierfür könnten komparative Systeme nach dem Muster ,je mehr - desto mehr*4 den Ausschlag geben. Soeben wurde die Schwäche des Entweder-oder einer Beweislastumkehr angedeutet sowie die Möglichkeit, (ergänzend) das Beweismaß zu korrigieren. Dennoch sollte das variable Instrument der Beweismaßvariierung auch nicht überschätzt werden. Vielmehr sollten die meisten komparativen Systeme auf der Ebene der materiellen Tatbestandsvoraussetzungen ansetzen. Vor allem dürfen komparative Systeme des Beweismaßes nicht mit dem häufigen Phänomen der Vermutung verwechselt werden: Wird das Beweismaß reduziert, so wird die normativ erforderliche Wahrscheinlichkeit einer Tatsache gemindert. Bei einer Vermutung hingegen wird die faktisch erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Tatsache festgestellt. Von der erhöhten Wahrscheinlichkeit darf aber nicht auf ein vermindertes Erfordernis der Wahrscheinlichkeit geschlossen werden. Das gilt auch für die Beweislastverteilung. In unserer Rechtsordnung gilt nicht der Satz, daß „der Sachverhalt zu beweisen (ist), der nicht überwiegend wahrscheinlich ist." 327 Ebensowenig gilt der Satz, daß die Partei den Prozeß gewinnt, deren Tatsachenvortrag überwiegend wahrscheinlich ist. Die bloß überwiegende Wahrscheinlichkeit ist nämlich entgegen einer in letzter Zeit wiederholten

327

Nach Reinecke, Die Beweislastverteilung im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht als rechtspolitische Regelungsaufgabe, 1976, S. 43 richtet sich die Beweislastverteilung tatsächlich selbst nach der überwiegenden Wahrscheinlichkeit.

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

201

Behauptung bzw. Forderung 328 nicht das Regelbeweismaß unserer Rechtsordnung329 und sie sollte es auch aus Gründen der Gerechtigkeit330 nicht werden: An dem Regelmaß derrichterlichen Wahrheitsüberzeugung sollte vielmehr festgehalten werden, und zwar nicht nur im Straf- und Verwaltungsrecht, sondern auch im Zivilprozeß. Es gibt gute Gründe hierfür, auch wenn in anderen Rechtsordnungen, insbesondere im anglo-amerikanischen Recht331 zwischen dem Regelbeweismaß der Wahrscheinlichkeit im Zivilrecht und dem qualifizierten, verschärften Beweismaß der Zweifelsfreiheit im Strafrecht unterschieden wird. Auf den ersten Blick mag manches für diese Unterscheidung sprechen. Vor allem zwei Grundgedanken scheinen dahinter zu stehen: Erstens muß es ein Ziel der Rechtsprechung sein, grundsätzlich möglichst wenige Fehlurteile zu erlassen. Zweitens gibt es so erhebliche Grundrechtseingriffe wie die Strafsanktion, daß deren Rechtfertigung nicht nur auf überwiegend wahrscheinlichen, sondern vielmehr auf zweifelsfieien Tatsachen beruhen muß (in dubio pro reo). Aus keinem dieser beiden Grundgedanken läßt sich jedoch das Regelbeweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit für das Zivilrecht rechtfertigen oder (im Umkehrschluß) ableiten: Gewiß muß es ein Ziel der Rechtsprechung sein, möglichst wenige Fehlurteile zu fällen. 332 Die Rechtsprechung muß anstreben, daß möglichst viele Entscheidungen auf zweifelsfreier Beweislage basieren. Wenn die Zwei felsfreiheit das Regelbeweismaß darstellt, wird das Risiko einer Fehleinschätzung für alle diesem 328

So insbesondere von Maassen, Beweisprobleme im Schadensersatzprozeß 1976, S. 9 und Mötsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 1983, S. 34 ff. Weitere Nachweise bei Mötsch, Beweisprobleme im Schadensersatzprozeß - Rezension der gleichnamigen Schrift von Maassen in NJW 1976, 1389. Hiergegen etwa Huber, Das Beweismaß im Zivilprozeß, 1983, S. 124 ff. m. w. N. 329 Bedenken bestehen schon wegen der Gesetzeslage. So Nierhaus, Beweismaß und Beweislast. Untersuchungsgrundsatz und Beteiligtenmitwirkung im Verwaltungsprozeß, 1989, S. 155 unter Berufung auf § 108 Abs. 1 VwGO. Α. A. Maassen, Beweisprobleme im Schadensersatzprozeß 1976, S. 194: „Eine solche Rechtsfortbildung praeter legem ist zulässig^4. 330 So auch Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten 1992, S. 21 m. w. N. zur Gegenansicht. 331 Tatächlich stützen sich die Arbeiten von Maassen und Mötsch auf rechtsvergleichende Studien zum anglo-amerikanischen bzw. zum skandinavischen und englischen Recht. Vergleiche hierzu auch Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten 1992, S. 19 ff. 332 So Reinecke, Die Beweislastverteilung im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht als rechtspolitische Regelungsaufgabe, 1976, S. 55 ff. Grunsky, Vom rechtsgenügenden Beweis - Rezension der gleichnamigen Schrift von Mötsch in NJW 1984, 858 meint, hierüber herrsche (wohl) Einigkeit.

202

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Regelbeweismaß genügenden Regelfälle minimiert. Zwar besteht ein erhebliches Risiko eines Fehlurteils, wenn der Kläger mit seinem Anspruch nur deshalb abgewiesen wird, weil er dessen Voraussetzungen nicht zweifelsfrei, wohl aber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachweisen konnte. Das Risiko eines Fehlurteils würde verringert, wenn sich der Richter in solchen Fällen ausschließlich nach der überwiegenden Wahrscheinlichkeit orientierte. Es darf aber nicht vergessen werden, daß die lediglich 51%ige Wahrscheinlichkeit demgegenüber ein immerhin 49%iges Risiko einer Fehleinschätzung in sich birgt. Hieran sollte sich jedenfalls das /tege/beweismaß nicht orientieren. Es ist somit zu fragen, wann das Beweismaß die Zweifelsfreiheit sein kann und wann hingegen Wahrscheinlichkeitsurteile das „geringste Übel" sind: Das Regelbeweismaß derrichterlichen Zweifelsfreiheit sollte so weit reichen, wie es einer Partei möglich und zuzumuten ist, einen zweifelsfreien Beweis zu führen. Insofern ist das Beweismaß auf die Problematik der subjektiven Beweislast bezogen. Von diesem Grundsatz der subjektiven Beweislast in Verbindung mit dem Beweismaß derrichterlichen Überzeugung, der im Rechtsbewußtsein der Bürger verankert ist, geht eine wichtige Präventivwirkung aus: Wem die Hürde der Beweisbarkeit zur gerichtlichen Durchsetzung eines Anspruchs bewußt ist, der wird sich darum bemühen, dann Beweise zu sichern, wenn es ihm auf die gerichtliche Durchsetzbarkeit eines Anspruchs ankommt. Das ermuntert dazu, über die gesetzlich zwingenden Formvorschriften hinaus bedeutsame Verträge schriftlich zu schließen und Zeugen in wichtigen Situationen herbeizuziehen. Der Gedanke der Beweissicherung dient der Vermeidung von Fehlurteilen und ist in unserer Rechtsordnung nicht nur in manchen gesetzlichen Formvorschriften, sondern auch in der Präventivwirkung des Regelbeweismaßes nach § 286 ZPO angelegt. Mit dieser Begründung des Regelbeweismaßes lassen sich gleichzeitig auch dessen Grenzen und Ausnahmen herausarbeiten: Während bei der Regel der zivilrechtlichen333 Ansprüche dem Anspruchsteller zuzumuten ist, Beweise zu schaffen, zu sichern und in den Prozeß einzubringen, gilt dies freilich nicht für alle Ansprüche. Dennoch wird es die Ausnahme bleiben müssen, daß umgekehrt der Anspruchsgegner zu beweisen hat, daß kein Anspruch gegen ihn besteht. Im Regelfall wird es Sache des Anspruchstellers bleiben müssen, für die Durchsetzbarkeit zu sorgen, soweit es ihm überhaupt darauf ankommt. Eine Dokumentationspflicht des Anspruchsgegners, wie es sie im Arzthaftungsrecht gibt, ist hingegen nicht (bzw. nur als Ausnahme) verallgemeinerungsfahig.

333

Auf das öffentliche Recht ist eine solche Anknüpfung an die subjektive Beweislast wegen des Untersuchungsgrundsatzes nur schwer übertragbar. Vergleiche jedoch Huster, Beweislastverteilung und Verfassungsrecht, NJW 1995, 112, 113, auch zu den Besonderheiten für den Bereich des Sozialrechts.

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

203

Nun strebt die Lehre von der Wahrscheinlichkeit als Regelbeweismaß allerdings keine generelle Beweislastumkehr, sondern den Mittelweg eines 51%igen Beweismaßes an, hinter dem eine einseitige Beweislastverteilung gerade zurücktritt. Auch ist es wünschenswert, die mildere Möglichkeit einer Beweismaßreduktion gegenüber der in der Praxis oft vorschnellen Beweislastumkehr stärker in den Vordergrund zu rücken. Bevor die Beweislast umgekehrt wird, ist also zu erwägen, das Beweismaß zu reduzieren. Genauer betrachtet handelt es sich dabei um ein komparatives System, das vom Regelbeweismaß einer 99%igen Zweifelsfreiheit der Anspruchsvoraussetzungen lückenlos über deren überwiegende 51%ige Wahrscheinlichkeit bis in den „negativen Bereich" einer weniger als 50%igen bis l%igen Wahrscheinlichkeit reicht. Die Umkehr der Beweislast stellt sich dann als jener „negative Bereich" der Wahrscheinlichkeit dar, in dem der Anspruchsgegner zu beweisen hat, daß eine Anspruchsvoraussetzung nicht vorliegt. Auch diesen Bereich muß man sich lückenlos gleitend denken: Gegebenenfalls hat der Anspruchsgegner die Wahrscheinlichkeit einer Anspruchsvoraussetzung geradezu auszuschließen oder aber lediglich zu beweisen, daß diese überwiegend unwahrscheinlich ist. Nun muß noch begründet werden, warum dieses komparative System des Beweismaßes seinen Regelschwerpunkt nicht „in der Mitte", nämlich an der Grenze zur überwiegenden Wahrscheinlichkeit hat. Diese Begründung läßt sich am besten durch den Vergleich des Zivilrechts mit dem Strafrecht verdeutlichen: Zwar ist es richtig, daß im Strafrecht das Wahrscheinlichkeitsprinzip schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil der Angeklagte nicht das Risiko eines lediglich überwiegend unwahrscheinlichen Fehlurteils tragen darf. Vorschnell wäre jedoch der Schluß, daß damit das Strafrecht die Ausnahme von einer Regel bildet. Vielmehr muß allgemein danach gefragt werden, wer das Risiko eines Fehlurteils eher tragen kann. Das Strafrecht ist ein Bereich, in dem diese Frage besonders eindeutig, nämlich zugunsten des Angeklagten beantwortet werden kann. Die 99%ige Wahrscheinlichkeit eines Fehlfreispruchs ist eher zu ertragen, als das Risiko einer einzigen Fehlverurteilung. Die Ausnahme des Verleumdungstatbestandes vermag das im Strafrecht geltende Regelbeweismaß der Zweifelsfreiheit für die strafbegründenden Tatbastandsmerkmale nur zu bestätigen. Im Zivilrecht hingegen muß differenziert werden: Weder der Kläger noch der Beklagte muß ausnahmslos das Risiko eines Fehlurteils tragen. Das heißt jedoch nicht, daß dieses Risiko grundsätzlich von Kläger und Beklagtem zu je 50% zu tragen wäre. Es ist nämlich nicht richtig, daß im Zivilprozeß „in der Regel beide Parteien das Risiko eines Fehlurteils in gleichem Maße tragen können und müssen"334. Vielmehr läßt sich auch im Zivilprozeß regelmäßig die jeweilige Partei benennen, die das Risiko einer Fehleinschätzung zumutbarerweise tragen 334 So aber Grunsky, Vom rechtsgenügenden Beweis - Rezension der gleichnamigen Schrift von Mötsch in NJW 1984, 858, 859 im Anschluß an Mötsch.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

kann. Es ist dies bezogen auf jedes Tatbestandsmerkmal die Partei, die die realistische Chance335 hat, selbst eine zweifelsfreie Beweislage herzustellen. Wie bereits erörtert, ist dies in der Regel der Kläger fur die anspruchsbegründenden Tatsachen. Das heißt nicht, daß das Beweismaß wie im Strafrecht starr bei der 99%igen Wahrscheinlichkeit liegen muß. Vielmehr sollte sich das Beweismaß komparativ nach der Risikoverteilung eines Fehlurteils richten. Das Beweismaß ist komparativ umso stärker zu reduzieren, je weniger es dem Anspruchsteller zuzumuten ist, die anspruchsbegründenden Tatsachen zu beweisen. Dabei sind nicht nur die Beweischancen aus ex-post-Sicht des Prozesses zu berücksichtigen, sondern auch Versäumnisse bei der Beweissicherung. Die Beweislast kann sich umkehren, wenn umgekehrt der Anspruchsgegner eine Pflicht zur Beweissicherung hat. Nur wenn ausnahmsweise keiner der Parteien ein zweifelsfreier Beweis zugemutet werden kann, sollte an eine Entscheidung nach der überwiegenden Wahrscheinlichkeit gedacht werden. Nur dann läßt es sich rechtfertigen, von einem höheren Beweismaß abzuweichen. Das Beweismaß muß so hoch wie zumutbar angesetzt werden, um Fehlurteile unwahrscheinlicher zu machen. Die Rechtsprechung darf sich gerade aus dem Grund, Fehlurteile zu vermeiden, nicht damit begnügen, daß diese lediglich überwiegend unwahrscheinlich sind. In der Regel ist der Richter nicht darauf angewiesen, der unterliegenden Partei ein 49%iges Risiko eines Fehlurteils aufzubürden. Der Richter muß sein Urteil vor der unterlegenen Partei rechtfertigen können. Er soll deshalb in der Regel begründen müssen, daß er von der Richtigkeit seiner Beweiswürdigung überzeugt ist und diese also nicht lediglich für wahrscheinlich hält. Nur wenn ausnahmsweise keiner Partei ein höheres Beweismaß zumutbar ist, 336 muß sich die unterlegene Partei mit einer Entscheidung nach dem Wahrscheinlichkeitsmaßstab zufrieden geben. Der Ausgangspunkt für alle Überlegungen zum Regelbeweismaß muß deshalb sein, im Dienste der Wahrheitsermittlung möglichst hohe Wahrscheinlichkeitsgrade als Regelbeweismaß anzustreben. Nicht die Steigerung des Beweismaßes bedarf deshalb der Rechtfertigung, sondern im Gegenteil die Reduzierung des Beweismaßes auf die 51%ige Wahrscheinlichkeit. Deshalb wäre es schon im 335 Vergleiche Reinecke, Die Beweislastverteilung im Bürgerlichen Recht und im Arbeitsrecht als rechtspolitische Regelungsaufgabe, 1976, S. 44 f. 336 Der von Mötsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 1983, S. 164 ff. angeführte Beispielsfall des Verfahrens der Abstammungsfeststellung ist tatsächlich so gelagert, daß weder dem Kind, noch dem potentiellen Vater eine Chance der Beweissicherung zuzurechnen ist. Man mag darüber streiten, ob für die Zumutbarkeit des Risikos einer Fehleinschätzung hier wirtschaftliche Aspekte eine Rolle spielen dürfen, etwa daß das Kind anstelle des Unterhalts gegebenenfalls sozialhilfeberechtigt ist, oder ob der Mann umgekehrt bis zur Grenze der unterhaltsrechtlichen Belastbarkeit verpflichtet wird oder aber wohlhabend ist.

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

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Ansatz verfehlt, die Grundrechtseingriffsintensität eines Strafurteils als Rechtfertigung des hohen Beweismaßes im Strafprozeß heranzuziehen. Es ist nämlich gar nicht notwendig, die Regelbeweislastverteilung mit dem Verfassungsrecht zu begründen und eine Beweislastumkehr an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu binden.337 Im Einzelfall kann hingegen die Grundrechtsbetroffenheit 338 ein Argument für die Entscheidung sein, wem die Beweislast und ein bestimmtes Prozeßrisiko inwieweit zuzumuten ist. Das Verfassungsrecht liefert also bei der variablen Handhabung des komparativen Systems für die Beweislastverteilung und das Beweismaß entscheidende Gesichtspunkte. Mit dem Verfassungsrecht läßt sich aber keinesfalls eine grundsätzliche Verschiebung des Regelbeweismaßes oder eine grundsätzliche Erschwerung der Beweislastumkehr339 begründen. Das Verfassungsrecht spricht nicht gegen komparative Strukturen des Rechts, sondern ist selbst komparativ geprägt.340 b) Zur Struktur der Auslegungsmethoden: Der Kanon der Auslegungsmethoden als komparatives System

Im Zentrum der Methodenlehre haben immer die sogenannten canones, d. h. die Gesichtspunkte, die bei der Auslegung von Rechtsnormen zu berücksichtigen sind, gestanden. Die „klassischen" drei Kriterien (Wortlaut, historische und systematische Auslegung) gehen auf Savigny zurück und prägen — im Rahmen der Zweck- und Interessenjurisprudenz ergänzt durch die teleologische Auslegung bis heute das Bewußtsein aller Juristen. Ihnen vorangegangen war u.a. Thibauts Lehre der vier Arten der Auslegung341, die bereits einerseits die grammatische und andererseits die logische Auslegung, verstanden als Auslegung der ratio legis nach dem tatsächlichen oder vermuteten Willen des historischen Gesetzgebers enthält. Im Gegensatz zu Thibaut hat Savigny seine Methoden nicht (mehr) in ein festes Rangverhältnis gefaßt. 342 337

So der Vorschlag von Reinhardt, Die Umkehr der Beweislast aus verfassungsrechtlicher Sicht, NJW 1994, 93 ff. Zu den weiteren Bedenken gegen diesen Ansatz vergleiche Huster, Beweislastverteilung und Verfassungsrecht, NJW 1995,112 f. 338 In diese Richtung weist Huster, ebenda S. 113. 339 So aber Reinhardt, Die Umkehr der Beweislast aus verfassungsrechtlicher Sicht, NJW 1994, 93 ff. Wie hier Huster, a. a. O. 340 Hierzu vergleiche oben F I I 1 c („Komparative Strukturen der Güterabwägungen im Verfassungsrecht"), S. 133 ff. 341 Thibaut, Theorie der logischen Auslegung des Römischen Rechts, 2. Auflage 1806, §29. 342 Hierzu Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 1840, Band I, S. 212. Vergleiche hierzu Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff., S. 274 f.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Seither ist immer wieder ein derartiges Regelwerk gefordert worden, das abstrakt klärt, unter welchen Voraussetzungen welcher Auslegungsgesichtspunkt relevant bzw. vorrangig oder allein ausschlaggebend ist. Das Bedürfnis nach Rechtssicherheit ist hier so groß, daß selbst das beharrliche Bestreiten der Möglichkeit solcher generellen Rangbestimmungen343 nicht den Wunsch nach Klärung ersticken kann. Es handelt sich also um ein Problem, in dem der Richter letztlich auf eigene Wertungen, bzw. auf sein „Vorverständnis" 344 angewiesen ist. Wenn es schon keine feste Rangordnung der Auslegungsmethoden geben kann, so ist zu überlegen, ob das Verhältnis der Auslegungskriterien zueinander nicht die Struktur eines komparativen Systems aufweist. Tatsächlich wurden „bewegliche Systeme" zur Klärung der Rangfrage zwischen den Auslegungsmethoden bereits in Betracht gezogen.345 Da sich dieser Ansatz sehr weit von der Idee Wilburgs entfernt, spricht Bydlinski zögernd nur vom „Grundgedanken des 'beweglichen Systems'"346, der in diesem Zusammenhang fruchtbar zu machen sei. Da zum Beispiel der Wortlaut in Teilbereichen des Rechts eine absolut verbindliche Grenze der Rechtsfindung darstellt, sind die Auslegungsmethoden jedenfalls nicht durchgängig austauschbar. Es kann sich deshalb nicht um die Idealform eines „beweglichen Systems"347, sondern allenfalls um ein komparatives System handeln. Die verschiedenen Auslegungsmethoden stellen sich als komparative Elemente 348 dar. Wie ein solches komparatives System der Auslegungsmethoden konkret aussehen könnte und wie es anzuwenden wäre, ist ein vordringliches Thema der Methodenlehre, um so das Bedürfnis nach größerer methodischer Rechtssicherheit zu befriedigen. Vor allem ist dabei auf die methodenrechtlichen, insbeson-

343

Vergleiche hierzu die auch rechtsvergleichende Übersicht bei Graben, Über die Normen der Gesetzes- und Vertragsinterpretation, 1993, S. 162 ff. m. w. N. Graben hält ebenda, S. 163 die in der deutschen Rechtswissenschaft immer wieder geforderte Methodenfreiheit des Richters für übertrieben und fuhrt diese fragwürdige Tradition auf Kelsen, Reine Rechtslehre, insbesondere S. 349 zurück. 344 So ausdrücklich Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung. Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis, 2. Auflage 1972, S. 125, 136. 345 Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 f f , S. 274 f. und Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 555 und 564, sowie ders., Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 29. 346 Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 565. 347 Vergleiche hierzu oben S. 54. 348 Schon Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 1840, Band I, S. 212 spricht von ,JElemente(n) der Auslegung, die stets alle gegenwärtig sind". Zu den Canones als Gesichtspunkten der Auslegung vergleiche auch Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Auflage 1993, S. 261 ff.

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

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dere die verfassungsrechtlichen Anforderungen 349 an ein solches komparatives System hinzuweisen: aa) Je stärker in Grundrechte eingegriffen wird, desto eher ist der Wortlaut der Eingriffsnorm bindend und desto enger ist er auszulegen.350 Das muß im Rahmen der sogenannten,,Drittwirkungf' der Grundrechte auch fur das Zivilrecht gelten. Absolut verbindlich ist die Wortlautgrenze im Strafrecht wegen Art. 103 Abs. 2 GG. Aber selbst im Strafrecht kommt es dabei auf den grundrechtlichen Eingriffscharakter an, so daß eine Analogie bzw. Reduktion zugunsten des Täters auch hier in Betracht kommt. bb) Je jünger eine Regelung ist und je stärker eine noch aktuelle gesetzgeberische Intention in ihr zum Ausdruck kommt, desto stärker ist die historische Auslegung zu berücksichtigen. Das gebietet das Demokratieprinzip 351, verstanden als Herrschaft auf Zeit. Die Berücksichtigung der Entstehungszeit, anders ausgedrückt die politische Aktualität einer Norm ist dem Demokratieprinzip immanent: Das Argument des gesetzgeberischen Willens ist in dem Maße „vergänglich" wie der gesetzgeberische Wille selbst.352 Das Demokratieprinzip spricht sogar dagegen, den Willen der Gewählten über den Zeitraum ihrer Herrschaft hinaus zu perpetuieren. Vielleicht wäre es deshalb richtiger, statt von „historischer" von demokratischer oder politischer Auslegung zu sprechen. Zu dieser politischen Auslegung muß auch die rechtsvergleichende Auslegung gehören, sofern die Rechtsangleichung bzw. die Abgrenzung von fremdem Recht eine proklamierte politische Zielsetzung darstellt. Auf die rechtsvergleichende Auslegung und ihr Verhältnis zu den Auslegungsmethoden, insbesondere zur historischen Auslegung soll noch gesondert eingegangen werden.353 349

Verfassungsrechtliche Argumente zum Rangfolgenstreit der Auslegungsmethoden finden sich etwa bei Hassold, Strukturen der Gesetzesauslegung, in Festschrift für Larenz II, 1983, 211,217, 238, Gem, Die Rangfolge der Auslegungsmethoden von Rechtsnormen, Verwaltungs-Archiv 80 (1989), S. 415, 431 und Müller, Juristische Methodik, 3. Auflage 1989, S. 248 ff. Nach Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 179 „bilden staatstheoretische Erwägungen die Begründung für die Wahl der Auslegungsziele". Vergleiche jetzt auch Schlehofer, Juristische Methodologie und Methodik der Fallbearbeitung, JuS 1992, 572, 573, 575 und Deckert, Die Methodik der Gesetzesauslegung, JA 1994, 412 414. Nicht zu verwechseln ist dies mit der verfassungskonformen Auslegung; anders Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, 1988, S. 38. 350 Vergleiche auch Fußnote 16 auf S. 300. 351 Zur Bedeutung des Demokratieprinzips für die historische Auslegung vergleiche auch Schlehofer, Juristische Methodologie und Methodik der Fallbearbeitung, JuS 1992, 572, 575. 352 Kritisch gegenüber einer „Theorie der 'Halbwertzeit'" jetzt Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem, JZ 1996, 118, 121. 353 Hierzu sogleich unter F i l i l e („Exkurs: Die „fünfte Auslegungsmethode" der Rechtsvergleichung als Rechtsgewinnungs- und Rechtsfindungsmethode").

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

cc) Je stärker eine Norm in einen systematischen Zusammenhang eingebunden ist und je mehr eine Regelungsmaterie354 auf Widerspruchsfreiheit angelegt ist, desto stärker ist die systematische Auslegung zu berücksichtigen. Das gebietet Art. 3 Abs. 1 GG, auf dessen Bedeutung als Norm der „Systemgerechtigkeit" noch eingegangen wird. 355 dd) Eine eigenständige Bedeutung hat die teleologische Auslegung neben den eben genannten Auslegungsmethoden, wenn es um die Verwirklichung von „Zielen und Zwecken" geht, die nicht bereits im Wortlaut, in der Regelungsabsicht des Gesetzgebers oder im systematischen Kontext zum Ausdruck kommen. Daß es sich bei solchen „Zielen und Zwecken" typischerweise um komparative Elemente handelt, liegt schon in ihrer Struktur als Rechtsprinzipien begründet. Hierbei spielen Verfassungswerte und Grundrechte gegebenenfalls eine vorrangige Rolle. Im Konfliktfall ist zwischen der oben unter aa) erwähnten Eingriffsintensität und dem hier zu berückichtigenden Schutzauftrag abzuwägen. Auch Art. 3 Abs. 1 GG prägt die teleologische Argumentation. Dieses komparative System der Auslegungsmethoden ist auch „nach außen" hin offen: Die komparativen Strukturen setzen sich auch an der über die Auslegung hinausgehenden Rechtsgewinnung fort. Das liegt daran, daß schon die Trennungslinie zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung, nämlich der Wortlaut selbst ein komparatives Element darstellt. So geht die Teleologie nahtlos in die Analogie bzw. Restriktion über. Während bei der Analogie die Wortlautgrenze überschritten wird, handelt es sich bei der Restriktion um die Überschreitung des tatbestandlich vorgesehenen Anwendungsbereichs einer Norm. Meist spricht man von teleologischer Restriktion oder Reduktion356, um anzudeuten, daß Sinn- und Zweckargumente zu diesem Schritt zwingen. Da sich im Gewand von „Sinn und Zweck" ein viel zu unbestimmtes Feld von Argumenten nennen ließe, müssen die tatsächlichen Voraussetzungen einer Restriktion jedoch genauer bestimmt werden. Es bedarf des Nachweises einer so „wesentlichen" Ungleichheit zwischen Fällen innerhalb des Tatbestandsbereichs, daß es sich verbietet, dieselbe Rechtsfolge für alle tatbestandlich geregelten Fälle zu setzen. Die wesentliche Ungleichheit läßt sich häufig schon mit der systematischen Stellung der zu reduzierenden Norm begründen.

354

Nach Peine, Das Recht als System 1983, S. 125 gibt es nur Teilsysteme. Es ist jedoch fraglich, ob sich deshalb, wie Peine meint, aus solchen Systemen keine verfassungsrechtlichen Konsequenzen ziehen lassen. Zur systematischen Auslegung vergleiche ebenda, S. 13. Hierzu vor allem auch Savigny, Juristische Methodenlehre (hrsgg. von Wesenberg), 1951, S.23 ff. 355 Hierzu unter G VI, S. 275 ff. 356 Zur Verwendung dieser beiden Begriffe Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage 1991, S. 391.

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

209

Wenn der Gesetzgeber nämlich selbst wertungswidersprüchliche Regelungen erlassen hat, dann muß der Normwiderspruch durch Restriktion der einen oder anderen Norm gelöst werden. Es bleibt die Frage, welche der Normen zu reduzieren ist, welcher Tatbestand zu weit gefaßt ist, welche Norm hingegen mit ihrer Wertung durchdringt. Zur Beantwortung ist jeweils zunächst zu fragen, ob eine Norm „hierarchischen" Vorrang hat. Ein typischer Fall hierfür ist der verfassungsrechtliche Rang einer Wertung oder ihrer Herleitung. In zweiter Linie ist danach zu fragen, ob eine der Normen allgemeiner ist und etwa ein Rechtsprinzip beinhaltet (teleologisches Argument). Dies läßt sich ζ. B. nachweisen, wenn eine Wertung in mehreren Normen und in verschiedenen Zusammenhängen bestätigt wird (systematisches Argument). Schließlich kann das Alter der Normen eine Rolle spielen, insbesondere bei einer bewußten Wandlung der gesetzgeberischen Wertung (historisches Argument). So setzt sich das komparative System der Auslegungsmethoden auch bei Analogie und Restriktion fort. Diese komparativen Systeme in der Methodik der Rechtsfindung und Rechtsgewinnung stellen aber keine eigentlichen Ausnahmen von der Regel dar, daß starre Tatbestände nicht komparativ angewendet werden dürfen. Vielmehr ist insofern zwischen Rechtsinhalten und Methodenrecht zu unterscheiden. Eine ganz andere Frage ist es, ob etwa eine Restriktion inhaltlich357 komparative Strukturen aufweist. Je „wesentlicher"1 die Ungleichwertigkeit innerhalb des Tatbestandes ist und je größer der Wertungswiderspruch mit einer vorrangigen Norm ist, desto eher ist eine Restriktion geboten. Je näher der ungleichwertige Fall „am Rande" des Wortlautes einer Norm liegt, desto geringere Anforderungen sind an die „wesentliche" Ungleichwertigkeit zu stellen und desto eher ist eine restriktive Auslegung zulässig. c) Exkurs: Die „fünfte Auslegungsmethode" der Rechtsvergleichung als Rechtsgewinnungs- und Rechtsfindungsmethode

Häberles Wort von der „fünften Auslegungsmethode"358 hat die Rechts vergleichung in einen Zusammenhang gebracht, in dem sie sich erst bewähren muß: Damit ist die Forderung laut geworden, die Rechtsvergleichung in das System der Methodenlehre zu integrieren. Dies wird von zwei Seiten her geschehen müssen. Erstens gilt es, die Methoden herauszuarbeiten, mit denen Recht zu vergleichen ist, und sie in das System der Methodenlehre aufzunehmen. Zweitens muß der Rechtsvergleichung als solcher ein Platz in der Methodik der Rechtswissenschaft 357

Vergleiche oben S. 129. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfter,, Auslegungsmethode, JZ 1989, 913 ff.; jetzt auch in ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 27 ff. Vergleiche auch Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 227 Fußnote 89. 358

14 Michael

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

zugewiesen werden. Mit anderen Worten muß geklärt werden, auf welche Art und Weise und in welchem Zusammenhang Recht zu vergleichen ist; kurz: wie und wann Rechtsvergleichung zu betreiben ist. Eine Theorie der ,komparativen' Systeme ist, wie schon der Name sagt, eine Theorie der Vergleichung. In erster Linie soll in dieser Arbeit die Bedeutung des G/e/cAheitssatzes fur die Verg/e/c/mngsmethode herausgearbeitet werden. In einer allgemeinen komparativen Theorie des Methodenrechts muß auch die Rechtsvergleichung ihren Platz haben. Der hier gewählte Anknüpfungspunkt des Art. 3 Abs. 1 GG kann aber nur begrenzt hierfür herangezogen werden: Die Rechtsvergleichung i. e. S. zählt jedenfalls nicht mehr zu den unmittelbaren Ausstrahlungswirkungen des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes. Die Rechtsvergleichung i. e. S. kann allenfalls als ein Beitrag zur Universalität des Gleichheitsgedankens und dessen Gerechtigkeitsanspruchs methodisch gefordert werden. Genau diesen Anspruch erhebt aber die Rechtsvergleichung auch und gerade des Verfassungsrechts, wenn Häberle von der „'Weltstunde' des Verfassungsstaates" 3 5 9 spricht. Die Zeit ist aber noch nicht reif 360 , hierfür methoden rechtliche Weichen zu stellen. Die eminente rechts politische Bedeutung der internationalen Rechts vergleichung soll damit nicht in Frage gestellt werden.361 Thema der vorliegenden Arbeit ist jedoch ausdrücklich der bislang unterschätzte rechtliche Aspekt der Methodenlehre. Dieser selbst gesteckte Rahmen soll deshalb auch in diesem Kapitel nicht gesprengt werden. Vom methodenrechtlichen Standpunkt aus kann jedoch soviel gesagt werden: Es muß begrüßt werden, daß die Rechtswissenschaft in jüngster Zeit den bereits rechtlich greifbaren Weg der vergleichenden Verfassungslehre geht, nämlich mit der Konstituierung eines „gemeineuropäischen Verfassungsrechts" 362 und einer 359

Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, Seite V (Vorwort). 360 Die Einordnung der Rechtsvergleichung in den Kanon der Auslegungsmethoden sieht auch Bungert, Rezension zu Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, DVB1 1993, 1102, 1103 als Zukunftsaufgabe. 361 Vergleiche Hassold, Strukturen der Gesetzesauslegung, in Festschrift für Larenz II, 1983, 211, 235 m. w. N.: „Die Rechtsvergleichung tritt als Element der Rechtsfindung mehr und mehr in den Vordergrund... All dies sind teleologische Argumente, freilich von überwiegend rechtspolitischer Bedeutung." 362 Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, 261 ff.; jetzt auch in ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 71 ff. und ders.; Europäische Rechtskultur, 1994, S. 33 ff.; vergleiche auch Kötz, Gemeineuropäisches Zivilrecht, Festschrift für Zweigert 1981, S. 481 ff. und ders., Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik, in K. Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik 1990, S. 477 ff.

III. Rechtsfindungsfunktion (Rechtsanwendungsmethoden)

211

„europäischen Rechtskultui"363. Dieser Weg knüpft an die komplexen Beziehungen des nationalen zum europäischen Recht an. Die Rechtsvergleichung wird hier gleichsam durch einen übergeordneten rechtlichen Rahmen getragen. Das Europarecht kann für sich in Anspruch nehmen, sowohl rechtlich als auch methodisch eine internationale Vorreiterrolle zu spielen. Dieser Ansatz könnte auch für das hier gewählte Thema bedeutsam werden: Wird das Methodenrecht als Verfassungsrecht begriffen, könnte ein direkter Weg von einem „gemeineuropäischen Verfassungsrecht" zu einem „gemeineuropäischen Methodenrecht" führen. Es kann m. E. kein Zweifel daran bestehen, daß das Europarecht bereits jetzt einen fruchtbaren Boden für methodenrechtliche Überlegungen bietet. Das ließe sich gerade für den hier untersuchten Aspekt des allgemeinen Gleichheitssatzes als Methodennorm leicht nachweisen.364 Die „fünfte Auslegungsmethode" der Rechtsvergleichung ist eine Rechtsgewinnungsmethode. Sie kann bei der Gesetzgebung ebenso wie bei der Rechtsfortbildung eine Rolle spielen. Die methodenrechtliche Zulässigkeit der Rechtsvergleichung als Rechtsgewinnungsmethode ist nicht beschränkt. Es ist mithin lediglich zu prüfen, ob die Rechtsgewinnung als solche methodenrechtlichen Schranken unterliegt. Konkret gesprochen muß der Gesetzgeber prüfen, ob eine Gesetzgebung gegen Verfassungsrecht, gegen internationale Verpflichtungen und insbesondere bei der Umsetzung europäischer Richtlinien gegen deren methodenrechtliche Anforderungen verstößt. Die Verwaltung und Rechtsprechung muß bei der Rechtsgewinnung prüfen, ob und in welchem Maße sie zur Rechtsfortbildung berufen ist. Richtig verstanden kann die Rechtsvergleichung auch Rechtsfindungsmethode, i. e. eine „erlaubte" 365 Auslegungsmethode sein. Gegen eine rechtsvergleichende Auslegung bestehen keine methodenrechtlichen Bedenken, solange aus rechtsvergleichenden Argumenten keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Richtig gehandhabt ist die rechtsvergleichende Auslegung nicht nur zur theoretischen Erkenntnis geeignet, für die ja ohnehin keine methoden rechtlichen Beschränkungen gelten.366 Vielmehr kann die rechtsvergleichende Methode in den Kanon der Auslegungsmethoden eingereiht werden. 363

Ders., Europäische Rechtskultur, Versuch einer Annäherung in zwölf Schritten, 1994. Vergleiche zur europäischen Verfassungskultur auch Zippelius, Juristische Methodenlehre, 5. Auflage 1990, S. 53. 364 Zum allgemeinen Gleichheitssatz auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts vergleiche Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht, 1990. Hierzu siehe unter G IV 3. 365 Vergleiche Peczenik, Grundlagen der juristischen Argumentation, 1983, S. 60 ff., 63. Zur Funktion der Rechtsvergleichung bei der Lückenfüllung vergleiche Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Auflage 1993, S. 288. Sehr bemerkenswert sind auch die Ausführungen des BVerfG in E 34, 269, 281 und 291 („Soraya"). 366 So ist sogar das Analogieverbot kein Erkenntnisverbot. Vergleiche hierzu Fußnote 27 aufS. 56. 14*

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Dabei kann jedoch aus der Tatsache allein, daß eine Norm ausländisches positives Recht ist, noch kein Schluß, ja nicht einmal eine Tendenz abgeleitet werden. Vielmehr kommt es darauf an, wie sich das anzuwendende bzw. auszulegende deutsche Recht zu dem ausländischen Recht verhält. Es muß sich also um eine tatsächlich rechts vergleichende und nicht um eine „internationalisierende" Auslegung handeln. Dies läßt sich am besten verdeutlichen, wenn man die rechtsvergleichende Auslegung mit der historischen Auslegung vergleicht. Beide Methoden stellen gleichsam komplementäre Dimensionen der Auslegung dar, die jede fur sich den Rahmen des Methodenrechts zu sprengen scheinen, sei es in zeitlicher oder in räumlicher Hinsicht.367 Genau hierzu darf es aber nicht kommen, weder bei der historischen, noch bei der rechtsvergleichenden Auslegung. Die historische Auslegung darf den Richter nicht an Vergangenes und die rechtsvergleichende Auslegung nicht an Fremdes binden. Vielmehr dienen diese Methoden der Einordnung der Rechtserkenntnis in einen zeitlichen und räumlichen Kontext. Die Erkenntnis solcher Kontexte ist nicht nur von wissenschaftlichem Interesse fur die rechtsgeschichtliche und rechtsvergleichende Forschung. Vielmehr kann auch bei der Auslegung des Rechts der zeitliche und räumliche Zusammenhang einer Norm eine Rolle spielen: Dabei muß freilich jeweils geklärt werden, ob eine Norm mit Traditionen brechen oder sie anknüpfen soll bzw. ob eine Norm sich von ausländischem Recht abgrenzen oder ob sie sich daran anlehnen soll. Letzteres spielt eine stets wachsende Rolle bei den vielfältigen bewußten und gewollten Prozessen europäischer und internationaler Rechtsangleichung368. Aber Rechtsawgleichung darf nicht mit Rechts vergleichung verwechselt werden. Der Errungenschaft des demokratisch legitimierten Rechts sind dessen räumliche Legitimationsgrenzen immanent. Der Rechtswissenschaft obliegt es umso mehr, diese Grenzen einerseits zu erkennen und andererseits den Blick über sie hinaus zu wagen, damit sie sich nicht in „demüthige(r), unwürdige(r) Form" selbst „zur Landesjurisprudenz degradiert" 369. 367 Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfter,, Auslegungsmethode, JZ 1989, 913, 917; jetzt auch in ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 27 ff. Hier spricht Häberle von der historischen bzw. zeitgenössischen Dimension. Vergleiche auch ders., Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen - ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127: Hier spricht Häberle von einem „raum-zeitlichen Rechtsvergleich". 368 Vergleiche auch bei Häberle, ebenda das Beispiel des Art. 10 Abs. 2 der Verfassung Spaniens einer Grundrechtsauslegung „in Übereinstimmung^4 mit gewissen Menschenrechtstexten. 369 So bereits v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, I. Teil (1852), 9. Auflage 1953, S. 15.

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

213

Sowohl historische als auch rechtsvergleichende Argumente können gleichzeitig in diametral entgegengesetzte Richtungen weisen: Sie können Anknüpfung und Abgrenzung zur Folge haben. Das ist aber kein grundsätzliches Argument gegen diese Auslegungsmethode als solche. Es muß lediglich davor gewarnt werden, in der historischen Auslegung eine „traditionelle" und in der rechtsvergleichenden Auslegung eine „internationalisierende" Tendenz zu vermuten. Die historische Auslegung kann ebenso „progressiv" wie die rechtsvergleichende Auslegung „nationalspezifisch" sein. Diese „Tendenzlosigkeit" der Auslegungsmethoden ist ein Phänomen, das die gesamte Methodenlehre durchzieht. Auch die Analogie ist dem Umkehrschluß diametral entgegengesetzt. Die Methodenlehre kann und soll nicht den Sinn haben, die notwendigen rechtlichen Wertungen zu ersetzen. Sie soll vielmehr das Instrumentarium für solche Wertungen offenlegen 370 und damit Wertungen nachvollziehbar, vergleichbar machen. Man mag darüber streiten, ob die historische und die rechtsvergleichende Auslegung zu den Vorfragen des Vorverständnisses und nicht zur Auslegung im engeren Sinne zählen. Es ist jedoch müßig, hierauf näher einzugehen, weil es der Methodenlehre um die Gesamtheit aller relevanten Faktoren bei rechtlichen Wertungen gehen muß. Zu diesen Faktoren gehört jedenfalls auch das Vorverständnis 371 , das deshalb offenzulegen ist. 2. Keine starre Anwendung komparativer Systeme Es ist grundsätzlich methodenrechtlich verboten, komparative Systeme starr anzuwenden. Komparative Systeme bieten die Chance, durch graduelle Berücksichtigung von Einzelfallumständen zu einer in besonderem Maße differenzierten Rechtsfindung zu gelangen. Es gibt eine rechtliche Pflicht, diese Chance zur Einzelfallgerechtigkeit auch zu nutzen. Soweit eine komparative rechtliche Struktur vorgegeben ist, muß sie auch komparativ genutzt werden. In der Dogmatik des Verwaltungsrechts spricht man vom Fehler des Ermessens-Nichtgebrauchs. Der fehlerhafte, methodenrechtswidrige Ermessens-Nichtgebrauch ist von der Ermessensreduzierung auf Null zu unterscheiden: a) Ermessensreduzierung auf Null als Ausnahme?

Die Ermessensreduzierung auf Null stellt keine wirkliche Ausnahme komparativer Rechtsanwendung dar, sondern ist ein der komparativen Methode im370

Herzberg, Kritik der teleologischen Gesetzesauslegung, NJW 1990, 2525, 2527 setzt sich dafür ein, die Abwägung aller Normzwecke offenzulegen. 371 Vergleiche hierzu die grundlegende Schrift von Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Auflage, 1972.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

manenter Grenzfall. Bei der Ermessensreduzierung auf Null ist das Abwägungsergebnis, die Wertung eindeutig. Zwar entspringt auch dieser Fall, wie „Er/weSiSeAwreduzierung auf Null" schon sagt, einer Ermessensausübung und d. h. einer Wertung und Abwägung. Lediglich der sonst existierende AbwägungsSpielraum ist auf Null reduziert. Die Methode der Abwägung und kompartiven Wertung muß keineswegs Spielräume im Ergebnis eröffnen. Nicht das Ergebnis, sondern der Weg, die Methode machen die Ermessensentscheidung aus. Die hier vorgeschlagene Definition der komparativen Systeme hat im Gegensatz zum Idealtypus eines „beweglichen Systems" gerade die Möglichkeit offengelassen, auch zu starrer Tatbestandsbildung führen zu können.372 Dieses Phänomen ist so häufig, daß es nicht als Ausnahme einer „realistischen" methodenrechtlichen Theorie erscheinen darf. Kommt es tatsächlich zu einer starren Tatbestandsbildung im Rahmen der Anwendung eines komparativen Systems, so bestehen hiergegen keine Bedenken. Eine methodenrechtlich unzulässige Ermessensunterschreitung liegt nur vor, wenn fehlerhaft von einer starren Tatbestandsbildung ausgegangen wird, wenn ein tatsächlich bestehender Wertungsspielraum nicht als solcher erkannt wird. Das soll der Grundsatz, daß es keine starre Anwendung komparativer Systeme geben darf, besagen. Hiervon ist eine Ermessensreduzierung auf Null keine Ausnahme.

b) Keine starre Bindung durch Verwaltungsvorschriften und Selbstbindung der Verwaltung — Ermessenslenkende Verwaltungsvorschrifiten als komparative Systeme

Verwaltungsvorschriften sind eines der praxisnächsten, ja schlechthin praxisprägenden Phänomene des Verwaltungsrechts, deren Bedeutung noch steigt.373 Um ihre dogmatische Einordnung im Zusammenhang mit der Selbstbindung der Verwaltung ist ein nicht enden wollender theoretischer Streit entbrannt. Grundlegende Arbeiten aus den sechziger Jahren374 sowie die Staatsrechtslehrertagung 1981 in Trier 375 markieren einstweilige Höhepunkte dieser Auseinandersetzung. Das Thema gehört schon deswegen in diese Arbeit, weil es untrennbar mit der (sich wandelnden376 ) Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 372

Vergleiche oben S. 54. Vergleiche den aufschlußreichen Beitrag aus Praktikersicht von Scheffler, Wachsende Bedeutung der Verwaltungsvorschriften, DÖV 1980,236 ff. 374 Mertens, Die Selbstbindung der Verwaltung auf Grund des Gleichheitssatzes, 1963; Wallerath, Die Selbstbindung der Verwaltung, 1968; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968; W. Schmidt, Gesetzesvollziehung durch Rechtssetzung, 1969. 375 W D S t R L 40, 153 ff. 376 Vergleiche für alle Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, 541 ff. m. w. N. 373

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

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Abs. 1 GG verknüpft ist. Neue Lösungen erreicht nur, wer gleichzeitig hinsichtlich der Dogmatik der Selbstbindung der Verwaltung als auch des Gleichheitssatzes überkommene Ansätze hinterfragt. Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht müssen hier gemeinsam fortentwickelt werden. Zwar ist es erstrebenswert, Denkanstöße etwa im Verwaltungsrecht auf „gesicherte" Erkenntnisse des Verfassungsrechts zu stützen (und umgekehrt). Doch in Fragen, zu denen weder verwaltungsrechtlich noch verfassungsrechtlich ein Grundkonsens besteht, führt jede Berufung auf einen Scheinkonsens dazu, daß Autoren schon in ihren Prämissen aneinander vorbeireden. So gehen viele Ansätze jeweils selbstverständlich davon aus, Verwaltungs Vorschriften seien zweifellos Rechtsnormen bzw. keine Rechtsnormen.377 Das führt dazu, daß auch die dogmatischen Besonderheiten der Verwaltungsvorschriften in ganz unterschiedlichen Kategorien gesucht werden: So wird diskutiert, ob sie Rechtnormen oder unverbindliche Orientierungshilfen, Außen- oder Innenrecht, gerichtliche Kontrollmaßstäbe oder bloß die Verwaltung bindende Regeln, subjektives oder objektives Recht darstellen. Das führt zu ganz unterschiedlichen Lösungsansätzen, die sich teils ergänzen (lassen), teils unvermittelt nebeneinander stehen. Das Phänomen der Verwaltungsvorschriften und der Selbstbindung der Verwaltung läßt sich am ehesten verstehen, wenn es in einen größeren Zusammenhang der Rechtsetzung, Rechtsauslegung, Rechtskonkretisierung und Rechtsfortbildung gestellt wird: Ein Blick auf den fünktionsrechtlichen Rahmen der Verwaltungsvorschriften zeigt, daß sie eine Rechtsetzungkompetenz der Verwaltung voraussetzen. aa) Die Rechtsetzung ist in erster Linie Aufgabe der Legislative. Soweit der Vorbehalt des Gesetzes bzw. die Wesentlichkeitstheorie reichen, bleibt kein Raum für ein autonomes Verwaltungshandeln oder gar eine verwaltungseigene Rechtsetzung. Verwaltungsvorschriften sind im Bereich des Parlamentsvorbehalts per se rechts-, genauer verfassungswidrig. Gesetzesergänzende oder -ersetzende Verwaltungsvorschriften sind also stets am Maßstab des Gewaltenteilungsprinzips zu überprüfen. Nur in dem verbleibenden (allerdings praktisch weiten) Rahmen ist die Verwaltung funktionsrechtlich betrachtet „frei". Hier kann und muß diskutiert werden, inwieweit konkrete Entscheidungen und abstrakte Verwaltungsvorschriften Bindungswirkung entfalten. Hier bleibt Raum für Verwaltungsvorschriften als „administratives Ergänzungsrecht" 378. Nicht zu verwechseln ist das auf diese Weise gegebenenfalls entstehende Verwaltungsrecht mit der Kompetenzübertragung zum Erlaß von Verordnungen. Solche Rechtsverordnungen sind an die speziellen Voraussetzungen des Art. 80 377

Hierzu m. w. N. Ossenbühl in Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Auflage, 1995, § 6 Randzeichen 41. 378 Ossenbühl in Erichsen, (Hrsg.), ebenda, § 7 V 2 b) ee) Randzeichen 39 m. w. N.

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Abs. 1 GG 379 gebunden. Sie bedürfen einer ausdrücklichen Ermächtigung und unterliegen einem besonderen Verfahren. Ihre Bindungswirkung, ihr Charakter als Außenrechtsnorm, ihre Eignung als gerichtlicher Kontrollmaßstab und ihre Begründung subjektiv-öffentlich-rechtlicher Ansprüche ist unumstritten. bb) Über Auslegungsfragen des Rechts entscheidet grundsätzlich die Rechtsprechung. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit kontrolliert, ob die Verwaltung den gesetzlichen und rechtlichen Vorgaben tatsächlich gerecht wird. Die Rechtsprechung hat darüber zu entscheiden, wie Gesetz und Recht auszulegen sind, an das die Verwaltung gebunden ist. Die Verwaltung hat insoweit keine Möglichkeit, ihren Kontrolleuren Maßstäbe zu setzen, zu nehmen oder zu verändern. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften können die Rechtsauslegungs- und anwendungskontrolle der Gerichte nicht binden oder beschränken.380 Eine andere Frage ist es jedoch, wie weit diese Kontrolldichte reicht. 381 Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften sind aber nicht schon wegen des Vorbehalts gerichtlicher Zuständigkeit rechtswidrig. Im Gegensatz zum Parlamentsvorbehalt verbietet der „Gerichtsvorbehalt" der Verwaltung nicht jegliches Tätigwerden. Im Gegenteil geht jeder verwaltungsgerichtlichen Kontrolle ein Exekutivakt voraus. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften können geltendes Recht einschließlich seinerrichterlichen Auslegung wiedergeben. Derartige Verwaltungsvorschriften sind tatsächlich häufige und sogar begrüßenswerte „Hilfen" für die Verwaltung. Sie sollen dem Beamten, insbesondere dem juristisch nicht voll ausgebildeten, die selbständige Auseinandersetzung mit der aktuellen Fachliteratur und Rechtsprechung erleichtern bzw. ersparen. Sie können zu einem wichtigen Bindeglied zwischen der reagierenden Rechtsprechung und der agierenden Verwaltung werden, indem sie die Beachtung der (ständigen) Rechtsprechung sichern. Auch können sie wertvolle Anregungen aus der Literatur aufnehmen und somit der Rechtsprechung „vorgreifen". Der Einfluß der Wissenschaft auf den Erlaß von Verwaltungsvorschriften wird (neben dem auf Rechtsprechung und Gesetzgebung) möglicherweise noch unterschätzt. Das Rechtsgespräch zwischen Literatur, Verwaltung und Rechtsprechung382 kommt gerade dadurch zustande, daß die Rechtsprechung nicht an norminterpretierende Verwaltungsvorschriften gebunden ist, sondern (im Rahmen ihrer Kontrolldichte) das letzte Wort behält.

379

Hierzu vergleiche Schröder, Stand und Dogmatik der Verwaltungsvorschriften in Hill, Verwaltungsvorschriften Dogmatik und Praxis, 1991, 1, 11 ff. 380 Dies bezeichnet Schröder, ebenda S. 2 als „(noch) herrschende Meinung^. 381 Vergleiche F II 2 c (2) und F II 2 c (3). 382 Vergleiche Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297 ff.; auch ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 155 ff. sowie ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 79 ff.

III. Rechtsfìndungsfìinktion (Rechtsanwendungsmethoden)

217

cc) Eine dritte Kategorie bilden die ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften. Sie stehen gleichsam zwischen den erstgenannten: Einerseits steht der Verwaltung kraft Ermessensermächtigung hier ein funktionsrechtlicher Spielraum zu. Im Rahmen der Ermessensfreiheit unterliegt sie nur beschränkt gesetzlichen Bindungen und gerichtlichen Kontrollen. Andererseits konkretisieren ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften Ermessensnormen und sind damit den norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften zuzurechnen. Dies gilt besonders im Falle des „Ermessens auf Tatbestandsseite", d. h. soweit die Auslegung „unbestimmter Rechtsbegriffe" nur beschränkter gerichtlicher Kontrolle unterliegt. 383 Hier stellt sich die Frage, ob die an sich bestehenden Ermessensspielräume durch Selbstbindungsmechanismen und Verwaltungsvorschriften beschränkt werden. Die beschriebenen Entscheidungsspielräume der Verwaltung wurden soeben als funktions- oder auch funktionellrechtlich 384 bezeichnet. Das bedeutet, daß die Verwaltung insoweit nur beschränkt gesetzlichen Bindungen oder gerichtlicher Kontrolle unterliegt. Mit anderen Worten sind hier die Fremdbindungsn der Verwaltung gelockert. Bei der Selbstbindung der Verwaltung geht es jedoch um die Frage, ob die Exekutivgewalt hier an die eigene Praxis und interne Normbildung gebunden wird. Das Gebot der Gleichbehandlung verbietet eine uneinheitliche Verwaltungspraxis und setzt der Verwaltung hinsichtlich der Einzelfallentscheidung mindestens die Grenze der Willkür. Der aus dem Rechtsstaatsprinzip herleitbare Vertrauensschutz verbietet unvorhersehbare Sprunghafitigkeit auch hinsichtlich der Entscheidungsgesichtspunkte. Vergleichende Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sind die verfassungsrechtlichen Argumente für eine Bindung der Verwaltung an ihre eigene Praxis und an selbstgesetzte Verwaltungsvorschriften. Via Selbstbindung entsteht oder konkretisiert sich auf diese Weise neues Recht. Bereits der fünktionsrechtlich eingeräumte Handlungsspielraum der Verwaltung setzt Kompetenzverschiebungen im Rechtsetzungs- und Rechtsauslegungsprozeß voraus. Diese Kompetenzverschiebungen zugunsten der Verwaltung lassen sich mit deren größerer Sachkompetenz in Spezialfragen und ihrer Bürgernähe begründen. Bei der Selbstbindung der Verwaltung innerhalb ihrer Handlungsspielräume handelt es sich nicht um die Begründung oder Verschiebung einer Entscheidungskompetenz. Nur wo die Verwaltung aus anderen Gründen bereits Entscheidungskompetenzen und -Spielräume besitzt, kann es zu ihrer Selbstbindung kommen. Die Einräumung eines Handlungsspielraums ist die

383

Hierzu oben F II 2 c (2) und F II 2 c (3). Zur funktionellrechtlichen Sichtweise vergleiche auch Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975,297,303 f.; auch abgedruckt in ders., Die Verfassung des Pluralismus 1980, S. 79,91 f. sowie ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 155, 174 f. m. w. N. im Nachtrag auf S. 180 f. 384

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F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Bedingung der Funktionsverschiebung, an deren Ende mit der Selbstbindung der Verwaltung gegebenenfalls ein Rechtsetzungsprozeß steht. Nebeneffekt dieser Kompetenz- bzw. Funktionsverschiebung ist eine nicht unproblematische Verfahrenslockerung'. Im Falle beschränkter gerichtlicher Kontrolle über Verwaltungsentscheidungen ist die Instanz und das Verfahren der Verwaltungsgerichtsbarkeit beschnitten. Der Erlaß von Verwaltungsvorschriften unterliegt auch nicht dem für die Gesetzgebung verbindlichen Verfahren. Nicht einmal ihre Veröffentlichung ist (nach der noch herrschenden Meinung) garantiert. 385 Das erscheint umso problematischer, existiert doch mit der Verordnungsermächtigung nach Art. 80 Abs. 1 i. V. m. Art. 82 Abs. 1 Satz 2 GG eine andere, strenger geregelte Möglichkeit der Kompetenzverschiebung zugunsten der Verwaltung. Die dort geregelten Voraussetzungen und Verfahrensschranken dürfen nicht durch eine ausufernde, unkontrollierbare Schaffung von Verwaltungsvorschriften umgangen werden. Drei unterschiedliche Lösungen sind für dieses verfassungsrechtliche Problem denkbar: 1. Entweder man minimiert die Bindungswirkung der Verwaltungspraxis und -Vorschriften. Damit maximiert man jedoch die rechtlichen Spielräume der Verwaltung, ohne damit die tatsächliche Flexibilität der Entscheidungsträger zu erhöhen. Das rechtliche Bedürfnis nach Gleichbehandlung und Vorhersehbarkeit in der verwaltungsrechtlichen Praxis bliebe unbefriedigt, obwohl die meisten Einzelfallentscheidungen faktisch durch die ständige Praxis und die Verwaltungsvorschriften geprägt werden. Das scherzhaft als Verwaltungsmaxime bezeichnete „Haben wir immer so gemacht..bliebe im rechtsfreien Raum. Tatsächlich bleibt m. E. weniger ein Mangel an Bindungsbewußtsein, als vielmehr eine allzu schematische Verwaltungspraxis zu befürchten. 2. Es wird bisweilen umgekehrt versucht, die Selbstbindung der Verwaltung sowie die Geltung von Verwaltungsvorschriften gänzlich zu „verrechtlichen" 386. Dazu gehört es, für den Erlaß von Verwaltungsvorschriften deren Veröffentlichung zu fordern. Diese Bestrebungen würden eine Annäherung der Verwaltungsvorschriften an die Rechtverordnungen bedeuten. Je mehr die Verwaltungsvorschriften durch Verfahren und Veröffentlichung den rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen, desto eher läßt sich auch ihre unmittelbare Bindungs- und Außenwirkung rechtfertigen. Das Argument des Vertrauens in generell-abstrakte Entscheidungen erhielte stärkeres Gewicht. Bedenkt man, welche faktische Bedeutung tausende Verwaltungsvorschriften haben, ist die Forderung nach den Grundsätzen der Öffentlichkeit und Rechtssicherheit allzu verständlich. Wäre es aber da nicht ehrlicher, die Unter385

Zum Streitstand vergleiche Ossenbühl in Erichsen, (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Auflage, 1995, § 6 Randzeichen 57 m. w. N. 386 Zur Verrechtlichung des Ermessens vergleiche bereits Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 651.

III. Rechtsfìndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

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Scheidung zwischen Verwaltungsvorschriften und Rechtsverordnungen, zwischen Ermessens- und Verordnungsermächtigung ganz aufzugeben? Bevor diese Konsequenz gezogen wird, muß gefragt werden, ob die. Sonderbehandlung der Verwaltungsvorschriften nicht gute Gründe hat. 3. Tatsächlich gibt es für die nicht nur inhaltlich, sondern auch verfahrensrechtlich größere Freiheit der Verwaltung im Falle des Erlasses von Verwaltungsvorschriften eine besondere Rechtfertigung. Das gilt jedenfalls für die ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften. Die Ermessensermächtigung hat nämlich neben der Kompetenzübertragung noch einen zweiten Sinn: Sie soll der Verwaltung mehr Flexibilität zugunsten größerer Einzelfallgerechtigkeit geben. Ermessensermächtigungen haben gerade dann einen Sinn, wenn sich starre Voraussetzungen bzw. Rechtsfolgen abstrakt nicht gerecht bestimmen lassen. Hier kann oder soll weder der Gesetzgeber noch die Verwaltung starre Bindungen schaffen. Es wäre nicht sinnvoll, die Verwaltung zu zwingen, sich beim Erlaß von ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften strikt zu binden. Wo schon der Gesetzgeber keine entsprechenden Tatbestände formuliert hat, wo er die Verwaltung auch nicht zum Erlaß bindender Rechtsverordnungen ermächtigt hat, wo auch die Verwaltung selbst sich gar nicht nach außen binden will, sondern nur intern um Rationalisierung und Vereinheitlichung der Ermessensausübungringt, da ist es nicht sinnvoll, auf eine Einengung und schließliche Abschaffung jeglicher Entscheidungsspielräume zu drängen. Flexible Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls bei Verwaltungsentscheidungen kommt dem Bürger und seiner möglichst freien Entfaltung erheblich zugute. Eine schematische, strikte Bindung auch an Verwaltungsvorschriften würde jegliche Einzelfallgerechtigkeit und damit den Sinn der Ermessenseinräumung aufopfern. Eine solche Einengung des Ermessens läßt sich am wenigsten mit Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigen. 387 Die Entwicklung und Anwendung komparativer Systeme stellt sich als das Wesen und die Folge von Ermessensermächtigungen heraus. Jede „Schematisierung" der Ermessensausübung würde dem Zweck des Ermessens i. S. der §§ 40 VwVfG, 114 VwGO nicht gerecht. Eine strikte Bindung an Tatbestände von Verwaltungsvorschriften wäre als Ermessensunterschreitung bzw. -nichtausübung rechtswidrig 388. Somit stellt sich die Frage, welchen Charakter, welche Intensität die Bindung der Verwaltung an Verwaltungsvorschriften bzw. ihre eigene Praxis zulässigerweise haben kann. 387

Schon Häberle, ebenda S. 682 hat vor einer zu weit gehenden Selbstbindung der Verwaltung mit dem Argument des Art. 3 Abs. 1 GG gewarnt und den Maßstab des öffentlichen Interesses gefordert. Nach dem hier vertretenen Ansatz ist die Interpretation des Art. 3 Abs. 1 GG als komparatives System die Lösung, die auf der einen Seite eine Bindung ermöglicht, auf der anderen Seite aber nie zur Erstarrung der Maßstäbe führt; hierzu ausführlich unter G. 388 Vergleiche Bachof, Diskussionsbeitrag in VVdStRL 47 (1989), S. 206 f.

220

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Die Frage nach der Bindungsintensität von Verwaltungsvorschriften kann nicht allgemein beantwortet weden. Hier ist zwischen starren Regeln und komparativen Systemen zu unterscheiden. aa) Bei den gesetzesergänzenden bzw. -ersetzenden Verwaltungsvorschriften muß durch Auslegung ermittelt werden, ob diese eine komparative oder strikte Bindung bezwecken. Hierbei sind die Voraussetzungen komparativer Normen 389 entsprechend heranzuziehen. bb) Für normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften hängt der Charakter der Verwaltungsvorschriften vom Charakter der konkretisierten Norm ab. Werden lediglich beschränkt überprüfbare unbestimmte Rechtsbegriffe konkretisiert, so handelt es sich um komparative Systeme. Versteht man unter Ermessen auch gegebenenfalls ein Tatbestandsermessen, so handelt es sich hier ohnehin um ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften: cc) Grundsätzlich um komparative Systeme handelt es sich bei den ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften: Ermessensausübung ist die Berücksichtigung und einzelfallbezogene Abwägung rechtlich relevanter Gesichtspunkte, i. e. komparativer Elemente. Die Ermessensentscheidung ist bereits die Anwendung komparativer Systeme. Entsprechend stellen ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften geschriebene komparative Systeme dar. Wenn ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften überhaupt eine Bindungswirkung entfalten, dann ist diese also grundsätzlich komparativer Natur. Nur ausnahmsweise darf es hier zur Bildung von starren Tatbeständen kommen, wenn nämlich das Ermessen unter abstrakt formulierbaren Voraussetzungen auf Null reduziert ist und die Verwaltung dies erkennt. Die Ermessensreduzierung auf Null kann sich also nicht nur bei der Anwendung, sondern auch bei der Bildung komparativer Systeme niederschlagen. Sie ist aber stets als (wenn auch praktisch bedeutsamer) Sonderfall grundsätzlich komparativer Strukturen 390 zu betrachten. Dieses Verhältnis zwischen Grundsatz und Sonderfall, zwischen komparativen Systemen mit und ohne Entscheidungsspielraum, zwischen Ermessensentscheidungen und Ermessensreduktion ist von außerordentlicher methodischer Bedeutung. Dieses Verhältnis wird bisweilen auf den Kopf gestellt: Um der Verwaltung soweit erforderlich Ermessensspielräume zu erhalten und um ihre Bindung an Verwaltungsvorschriften und die eigene Praxis abzumildern, beschränkt man sich ζ. T. darauf klarzustellen, die Verwaltung dürfe sich in Ausnahmefällen

389

Siehe unter E II. Die Theorie der „beweglichen Systeme" kann diesen Sonderfall nicht erklären, da er die geforderte völlige „Beweglichkeit" aller Elemente durchbricht. Zur Kritik hieran vergleiche oben 1. 390

III. Rechtsfndungsfnktion (Rechtsanwendungsmethoden)

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von der grundsätzlich strikten Bindung lösen.391 Damit wird aber bereits auf die grundsätzliche Ausübung des Einzelfallermessens verzichtet. Was übrig bleibt, ist dann lediglich ein Vorbehalt der Sonderbehandlung von Härtefällen. Ein solcher Vorbehalt muß aus dem verfassungsrechtlichen Übermaß verbot jedoch für jegliches, d. h. auch für gesetzlich gebundenes Verwaltungshandeln gefordert werden. Im Falle der Ermessensermächtigung hat aber nicht nur der Härtefall, sondern auch und gerade der Normalfall einen Anspruch auf „Sonderbehandlung", d. h. auf graduelle Berücksichtigung aller rechtserheblichen Umstände des Einzelfalls. Es geht nicht um eine mögliche „ Abweichung vom... Wortlaut der Verwaltungsvorschriften" 392, sondern um ihre methodisch zutreffende Anwendung. Das Problem der Bindungswirkung verliert an Brisanz, wenn hierbei zwischen komparativer und starrer Bindung unterschieden wird. Im Bereich der komparativen Ermessensausübung kann auch die Bindung an die eigene Praxis oder an Verwaltungsvorschriften nur komparativer Natur sein. Im Falle des gebundenen Verwaltungshandelns können aber Verwaltungsvorschriften und die Verwaltungspraxis nur das ohnehin rechtlich Gebotene wiedergeben. Eine starre Bindung entspringt hier nicht erst den Verwaltungsvorschriften bzw. der Praxis, sondern der bindenden (geschriebenen oder ungeschriebenen) Norm des Verwaltungsrechts. Nur ist vorsorglich zu prüfen, ob die Praxis bzw. die Verwaltungsvorschrift das positive Recht zutreffend wiedergibt. Ist dies nicht der Fall, so ist eine Bindung an die rechtswidrige Verwaltungspraxis oder -Vorschrift ausgeschlossen. Die Besonderheit der Bindungswirkung ermessenlenkender Verwaltungsvorschriften beruht nicht auf einer Unterscheidung zwischen Innen- und Außenrecht, sondern in der Unterscheidung zwischen komparativer und starrer Bindung. Nicht weil es sich bei Verwaltungsvorschriften nur um Innenrecht handelt, sondern weil ihre Bindung lediglich komparativer Natur ist, ist die verwaltungsgerichtliche Überprüfbarkeit beschränkt. Es gelten die allgemeinen Regeln über die Beschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte im Falle komparativer Systeme393. Sowohl im Falle der komparativen Bindung an Ermessenspraxis oder an ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften als auch im Falle des gebundenen Verwaltungshandelns bleibt die Frage, wer letztverbindlich den Inhalt des Rechts bestimmt, sei er nun durch Ermessensausübung oder durch Interpretation. 394 391

Vergleiche Ossenbühl in Erichsen, (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Auflage, 1995, § 6 V 4 d) bb) Randzeichen 52 m. w. N. in Fußnote 117; Stein in AK-GG Band 1, 2. Auflage 1989 zu Art. 3 Abs. 1 GG Randzeichen 61 im Anschluß an BVerwGE 53, 280, 285; siehe auch BVerwG NJW 1980, 75. 392 So BVerwG NJW 1980, 75. Hervorhebung nicht im Original. 393 Vergleiche oben S. 162 ff. und 173 ff. 394 Das gebundene Verwaltungshandeln gehört hingegen nicht zum Thema dieser Arbeit. Eine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle kommt aber in diesem Bereich auch gar nicht vor.

222

F. Die Funktionen der komparativen Systeme

Somit deutet sich bereits an, daß ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften verstanden als komparative Systeme gar nicht die einmal geschaffene Flexibilität der Verwaltung aufheben. Vielmehr geht es nur um die Frage, wie die Aufgaben der Bildung und Anwendung solcher komparativen Systeme auf verschiedene Verwaltungsinstanzen zu verteilen sind.

G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

Diese Arbeit über das Methodenrecht der Abwägung ist vor allem ein Beitrag zur Auslegung und Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG1. Der allgemeine Gleichheitssatz ist neben dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die zentrale Methodennorm der Abwägungen2. Das Verhältnis zwischen Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz prägt die aktuellen Diskussionen um den Gleichheitssatz3. Der allgemeine Gleichheitssatz stand schon immer im Brennpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Er bedarf in besonderem Maße der dogmatischen Präzisierung. Dabei ist bemerkenswert, daß „die Literatur relativ wenig Energie darauf verwandt (hat), die mit dem Gleichheitssatz untrennbar verknüpfte Wertungsproblematik in den Griff zu bekommen"4. Der Wertungsproblematik ist die vorliegende Theorie der komparativen Systeme gewidmet. Die ohnehin wieder in Bewegung geratene Diskussion um den Gleichheitssatz muß sich dieser Wertungsproblematik stellen.

I. Ungleichheit als gemeinsamer Anknüpfungspunkt für verschiedene Bindungsmaßstäbe des Gleichheitssatzes Es ist keineswegs geklärt, was Art. 3 Abs. 1 GG überhaupt gebietet, d. h. welche rechtlichen Maßstäbe der allgemeine Gleichheitssatz enthält. Als geradezu selbstverständlich wird lediglich angenommen, daß Art. 3 Abs. 1 GG ein Gleich-

1

Die Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes bei der Auslegung erwägt Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 456. 2 Den Abwägungscharakter des Art. 3 Abs. 1 GG hebt besonders Häberle, „Gemeinwohljudikatui" und Bundesverfassungsgericht, AöR 95 (1970), 86, 120 hervor, der ebenda, S. 124 sogar von „"der Waage" des Art. 3 Abs. 1 GG" spricht. Von einer „Maßstabsnorm" spricht Gem, Güterabwägung als Auslegungsprinzip des öffentlichen Rechts, DÖV 1986,462,468. 3 Hierzu ausführlich unter G IV. 4 Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot: Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S.104.

224

G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

behandlungsgebot enthält. Das Gleichbehandlungsgebot bildet deshalb auch den Ausgangspunkt der meisten Versuche, den allgemeinen Gleichheitssatz zu analysieren. Meines Erachtens ist jedoch weder das Gleichbehandlungsgebot „selbstverständlich" aus Art. 3 Abs. 1 GG herzuleiten, noch läßt sich auf ihm eine einheitliche Struktur des Art. 3 Abs. 1 GG „aufbauen". Was nämlich (und von wem) jeweils gleich zu behandeln ist, regelt Art. 3 Abs. 1 GG nicht. Keine befriedigende Antwort bietet die geläufige Formel, wesentlich Gleiches sei gleich zu behandeln. Meines Erachtens ist die „Suche nach dem wesentlich Gleichen" zwar im Ergebnis überzeugend, als Arbeitsanweisung jedoch ungeeignet und irreführend. Für eine praktikable Dogmatik des Gleichheitssatzes muß ein anderer Ansatz gefunden werden. Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG sollte Ausgangspunkt aller Überlegungen hierzu sein: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." a) Dieser Satz wird zu Recht5 als „ allgemeiner" Gleichheitssatz bezeichnet, da er den Schutz „ aller Menschen " leisten soll. Der persönliche Anwendungsbereich ist damit ausdrücklich („alle") unbeschränkt. Eine Beschränkung würde dem universalen Gerechtigkeitsanspruch des Gleichheitssatzes widersprechen. Es wäre diskriminierend und geradezu widersinnig, irgendjemand aus dem persönlichen Schutzbereich des Gleichheitssatzes auszuschließen. Aber auch der sachliche Anwendungsbereich ist unbeschränkt, da sich Art. 3 Abs. 1 GG nicht auf bestimmte Sachverhalte oder Rechtsgüter beschränkt. Alle Menschen sind nicht nur hinsichtlich der speziellen Gesichtspunkte des Art. 3 Abs. 3 GG, sondern vielmehr in allen Fällen, d. h. in jeglicher Hinsicht im Rechtssinne „gleich". Diese sachliche Universalität prädestiniert Art. 3 Abs. 1 GG auch zur allgemeinen Methodennorm, die über jegliche sachlich-inhaltliche Beschränkung hinaus gelten soll. b) Und doch enthält Art. 3 Abs. 1 GG eine Präzisierung: Die Gleichheit wird nicht schlechthin, sondern „vor dem Gesetz" gewährleistet. Das könnte vielerlei bedeuten und ist also auslegungsbedürftig. Ursprünglich wurde mit dieser Formulierung ein Akzent auf die Rechtsanwendungsg\cichheit gesetzt.6 Damit richtet sich der Gleichheitssatz ausdrücklich an diejenigen staatlichen Gewalten, die an das Gesetz gebunden sind. Das sind nach Art. 20 Abs. 3 GG Rechtsprechung und Verwaltung. Anerkanntermaßen ist jedoch nicht nur die Rechtsanwendungsgleichheit, sondern auch die Rechtsetzungsgleichheit von Art. 3 Abs. 1 GG umfaßt. Unstreitig ist aber auch der Gesetzgeber an den Gleichheitssatz gebunden.7 Das ergibt sich 5

Kritisch zur Bezeichnung „allgemeiner Gleichheitssati' äußert sich Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, 2505, 2506. Er weist zutreffend daraufhin, daß es nicht um „allgemeine Gleichheit, sondern um allgemeine Gleichberechtigung" geht. 6 Vergleiche auch Schmidt, Gesetzesvollziehung durch Rechtsetzung 1969, S. 35. 7 So BVerfGE 1, 14, 18 (Leitsatz 18), 52.

I. Ungleichheit als gemeinsamer Anknüpfungspunkt

225

für das Grundgesetz schon aus Art. 1 Abs. 3 GG. Alle drei Gewalten sind an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden und zwar sowohl bei der Rechtsetzung als auch bei der Rechtsanwendung. Die Formulierung der Gleichheit „vor dem Gesetzt ist weder eine Beschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs, noch eine Beschränkung auf die Rechtsanwendungsgleichheit, sondern enthält einen Vorbehalt der Differenzierung durch Gesetz, eine Art Gesetzesvorbehalt. Dieser Gesetzesvorbehalt unterliegt jedoch der Schranken-Schranke des Wesensgehaltes. Deshalb müssen rechtliche, auch gesetzliche Differenzierungen gleichmäßig sein, um Art. 3 Abs. 1 GG zu genügen. Die Formulierung des Gesetzesvorbehaltes darf (wie bei den Freiheitsrechten) nicht zum Freibrief für unverhältnismäßige Grundrechtseinschränkungen bzw. für eine Grundrechtsaushöhlung werden. Darauf deutet das bekannte Bonmot hin: ,AHe Menschen sind vor dem Gesetz gleich - doch was sind sie nach dem Gesetz?' Art. 3 Abs. 1 GG verbietet auch Diskriminierungen durch Gesetz. Insofern ist aus dem Wesensgehalt des Art. 3 Abs. 1 GG selbst eine Schranken-Schranke herauszulesen: Der Differenzierungsvorbehalt erlaubt nicht beliebige (gesetzliche) Differenzierungen. c) Genau betrachtet formuliert Art. 3 Abs. 1 GG kein Gebot, sondern die lapidare Feststellung: ,AHe Menschen sind vor dem Gesetz gleich." Würde Art. 3 Abs. 1 GG das Gleichbehandlungsgebot ausdrücklich normieren, müßte er lauten: ,AHe Menschen sind vor dem Gesetz gleich zu behandeln". Die lapidarere Formulierung des Art. 3 Abs. 1 GG stellt jedoch mit gutem Grund das Ziel und Ergebnis in den Raum, daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Aus diesem Ziel müssen Gebote erst abgeleitet werden. Schon die sog. „alte Formel" des BVerfG 8 ist ein Ansatz, Gebote aus dem Gleichheitssatz abzuleiten, die die Gleichheit zum Ziel haben: Danach „verbietet (Art. 3 Abs. 1 GG), daß wesentlich Gleiches ungleich, nicht dagegen, daß wesentlich Ungleiches entsprechend der bestehenden Ungleichheit ungleich behandelt wird". Das BVerfG setzt also voraus, daß zwischen wesentlich Gleichem und wesentlich Ungleichem unterschieden wird. Das ist eine kaum handhabbare Abgrenzung. Das Ziel der Gleichberechtigung ist nämlich mal durch Gleichbehandlung und mal durch (ausgleichende) Ungleichbehandlung zu erreichen. Die entscheidende Frage ist dabei die Abgrenzung, wann denn Gleichbehandlung und wann Differenzierung erlaubt bzw. geboten9 ist. Diese Abgrenzung gelingt nur mit einem gemeinsamen Maßstab. Die sog. „alte Formel" verwendet aber fur die Gleichbehandlung bzw. Un-

8

Als Willkürverbot formuliert verbietet Art. 3 Abs. 1 GG nach dieser Formel, „wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln"; so etwa BVerfGE 49, 148, 165. 9 Hierzu noch ausführlich unter G II 3 („Bedarf es eines Differenzierungsgebotes?) S. 235 ff. 15 Michael

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

gleichbehandlung zwei Maßstäbe, wenn nämlich zwischen wesentlich Gleichem und wesentlich Ungleichem unterschieden wird. Als gemeinsamer Maßstab kommt entweder die Gleichheit oder die Ungleichheit in Betracht. Meines Erachtens muß die Gleichheit als Bezugsgröße ausscheiden. Schon die Formulierung, es komme auf die „wesentliche" Gleichheit an, zeigt, daß es sich nicht um völlige Gleichheit im Sinne von Identität handeln muß. Völlige tatsächliche Gleichheit vorauszusetzen wäre auch nicht sinnvoll. Es gibt logisch keine zwei tatsächlich identischen Fälle10. Irgend einen Unterschied wird man zwischen zwei Fällen immer feststellen können. Die Frage ist nur, ob wenigstens einer dieser Unterschiede zwischen zwei Fällen deren rechtliche Differenzierung gestattet oder sogar gebietet. Dabei kommt es allein auf die Art und den Grad der tatsächlichen Ungleichheit zweier Fälle an. Wollte man erklären, was denn bei „wesentlich Gleichem" das „Wesentliche der Gleichheit" sein soll, so müßte man erklären, was „unwesentliche Unterschiede" sind. Deshalb sollten von vornherein die Ungleichheiten zum gemeinsamen Maßstab des Gleichheitssatzes erklärt werden. Auf die Übereinstimmung zweier Fälle in gewisser Hinsicht, auf ihre Gemeinsamkeiten kommt es nicht an, sondern nur auf die Bewertung ihrer Nichtübereinstimmung. Auch noch so viele „wesentliche Gemeinsamkeiten" gebieten noch nicht Gleichbehandlung, wenn es nur irgend einen sachlichen Differenzierungsgrund gibt. Das BVerfG hat zwar in ständiger Rechtsprechung seine „alte Formel" bezüglich der wesentlichen Gleichheit wiederholt. Aber die so formulierte Voraussetzung hat dabei als Prüfungsmaßstab nie eine Rolle gespielt. Das BVerfG hat nämlich selbst nie den Versuch unternommen, näher zu bestimmen, was denn wesentlich gleich ist.11 Das Gericht hat nicht etwa die Art und das Gewicht von Gemeinsamkeiten der jeweiligen Vergleichsfälle herausgearbeitet. Vielmehr lenkt bereits das Willkürverbot der „alten Formel" mit der Suche nach einem „Grund für die gesetzliche Differenzierung' 12 den Blick auf die Unterschiede der Vergleichsfälle.

10

Besonders deutlich Hesse, Der Gleichheitssatz im Staatsrecht, AöR 77 (1951 f), 167, 172 m. w. N.; zustimmend Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, 2505, 2507. 11 Vergleiche Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, wo es in der 9. Auflage 1993, Randzeichen 496 noch ausdrücklich heißt: „Was wesentlich gleich ist, sagt das BVerfG nicht." Zu weit greift m. E. die Definition bei Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 474, die schon Vergleichbares als wesentlich gleich bezeichnet. Zur „Vergleichbarkeit" sogleich. 12 BVerfGE 1, 14, 16 (Leitsatz 18), 52.

I. Ungleichheit als gemeinsamer Anknüpfungspunkt

227

Deshalb ist es nur konsequent, daß die sog. „neue Former' des BVerfG 13 auch die irreführende Leerformel „wesentlich Gleiches" überwindet. Nach der neueren Rechtsprechung istrichtigerweise gleich zu fragen, ob „keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten"14. Das ist nicht nur im Hinblick auf die Kontrolldichte (Verhältnismäßigkeit statt Willkür?) bemerkenswert und noch zu erötern, sondern schon als Präzisierung der Blickrichtung" zu begrüßen. Eine Unterscheidung zwischen gleich und ungleich wird jetzt gar nicht erst gefordert. 15 Zur Ehrenrettung der Voraussetzung der wesentlichen Gleichheit wird in der Literatur 16 bisweilen eine „Vorprüfung" vorgeschlagen: Eine solche Vorprüfung soll Unvergleichbares von vornherein ausscheiden und könnte den Gleichheitssatz entlasten. Was jedoch unvergleichbar ist, läßt sich ebenfalls nur am Grad der Ungleichheit festmachen. Hierzu ein Beispiel17 : So soll ζ. B. der Speisewirt mit dem Kraftfahrer gar nicht „vergleichbar" sein, im Gegensatz zu den tauglichen Vergleichspaaren Speise- und Schankwirt oder Pkw- und Lkw-Fahrer. Das mag auf den ersten Blick einleuchten. Dies liegt allein daran, daß zwischen Speisewirten und Kraftfahrern deutlichere Unterschiede sichtbar werden als zwischen Schänk- und Speisewirten oder Pkw- und Lkw-Fahrern. Eine Vorprüfung der Unvergleichbarkeit bietet aber keine Vereinfachung, da sie nur das zusätzliche Abgrenzungsproblem zwischen „unvergleichbaren" und „wesentlich unterschiedlichen" Fällen aufwirft. 18 Im Gegenteil besteht durch eine Vorprüfung die Gefahr, die bestehenden Unterschiede absolut und nicht im Hinblick auf die fragliche Differenzierung zu betrachten. Auch das Betreiben einer Speisewirtschaft und das Führen eines Kraftfahrzeugs sind grundsätzlich „vergleichbar", soweit es nicht um spezifisch gaststättenrechtliche bzw. straßenverkehrsrechtliche Fragen geht. Warum sollte man etwa polizeirechtliche, umweltrechtliche oder steuerrechtliche Maßnahmen zwischen den genannten Personengruppen nicht vergleichen (können!)?

13

BVerfGE 55, 72, 88 (Kein Leitsatz und unter zweifelhafter Berufung auf die eigene Rechtsprechung) - inzwischen ständige Rechtsprechung: Vgl. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, in FS Lerche 1993, S. 121,124 m. w. N. in Fußnote 12. 14 BVerfGE 55, 72, 88 Hervorhebung nicht im Original. 15 So Badura, Diskussionsbeitrag in W D S t R L 47,94. 16 So für das Europarecht Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht 1990, 48 ff., die jedoch zugibt, daß eine strenge Trennung zwischen den Prüfungen der Vergleichbarkeit und der Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung gar nicht möglich ist (ebenda S. 151). 17 Das hier gewählte Beispiel soll bei Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 475 als Musterbeispiel einer Vorprüfung dienen. 18 So auch Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht 1990,48 ff. 15*

2 2 8 G .

Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

II. Drei Differenzierungsmaßstäbe des Art. 3 Abs. 1 GG: Unterscheidung zwischen Differenzierungsverboten, -erlaubnissen und -geboten Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG erweist sich als bloße Zielvorgabe, aus der verschiedene Bindungsmaßstäbe erst abgeleitet werden müssen. Diese sind im folgenden zu erörtern. Die Ungleichheit als gemeinsamer Anknüpfungspunkt dieser Maßstäbe ermöglicht eine Begründung dafür, warum diese geradezu entgegengesetzten Maßstäbe ein und derselben Norm entspringen.19

1. Das Gleichbehandlungsgebot als Summe von Differenzierungsverboten Die Ungleichheit ist nicht nur gemeinsamer tatbestandlicher Anknüpfungspunkt aller Maßstäbe des Gleichheitssatzes, sondern spielt auch bei den Rechtsfolgen dieser Maßstäbe die entscheidende Rolle. So wie es nicht hilfreich ist, überhaupt von „wesentlicher Gleichheit" zweier Fälle zu sprechen, so ist auch das Gleichbehandlungsgebot letztlich nur das Ergebnis einer Summe von Differenzierungsverboten. Das Gleichbehandlungsgebot setzt nämlich nicht mehr und nicht weniger voraus, als daß keiner der tatsächlichen Unterschiede eine Differenzierung erlaubt, daß umgekehrt jeder der tatsächlichen Unterschiede eine Differenzierung verbietet. Es mag verwundern, daß für das „Gleichbehandlungsgebot" nicht gewichtige Ähnlichkeiten, sondern das Fehlen von gewichtigen Unterschieden vorauszusetzen sind. Aber tatsächlich ist das „Gleichbehandlungsgebot" nicht selbst Prüfüngsmaßstab, sondern nur das Ergebnis der Prüfung von Differenzierungsverboten. Dies läßt sich sogar an der Rechtsprechung des BVerfG nachweisen. Das BVerfG formuliert nämlich schon in der „alten Formel" genau betrachtet kein Gleichbehandlungsgebot sondern ein Differenzierungsverbot: „Der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ... verbietet, daß wesentlich Gleiches ungleich ... behandelt wird." 20 Die Rechtsfolge lautet nicht, daß wesentlich Gleiches gleich behandelt werden muß, sondern daß es nicht ungleich behandelt werden darf. Es ist zwar zu begrüßen, daß das BVerfG in der Sache schon immer Differenzierungsverbote als Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgebotes geprüft hat. Dennoch darf der Begriff des Gleichbehandlungsgebotes nicht durch den des Differenzierungsverbotes ersetzt werden. Ein Differenzierungsverbot bezieht sich nämlich immer nur auf ein einzelnes Differenzierungskriterium, auf einen einzigen tatsächlichen Unterschied. Ein einzelnes einschlägiges Differenzierungsverbot indiziert aber keineswegs bereits ein Gleichbehandlungsgebot. Hierzu ein Beispiel: Unstreitig ist die Rasse eines Menschen als solche ein unsachliches, 19 20

Hierzu unter G II 4. BVerfGE 1, 14, 16 (Leitsatz 18), 52.

II. Drei Differenzierungsmaßstäbe des Art. 3 Abs. 1 GG

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rechtsfremdes Differenzierungskriterium (Vergleiche Art. 3 Abs. 3 GG). Dennoch gibt dieses Differenzierungsverbot keinen Anlaß, zwischen zwei Menschen unterschiedlicher Rasse aus anderen, nämlich sachlichen - von der Rasse unabhängigen - Gründen weniger zu differenzieren als zwischen Menschen gleicher Rasse. Auch wenn unsere Verfassung ausdrücklichen und besonderen Wert darauflegt, daß Menschen unterschiedlicher Rasse als solche „wesentlich gleich" sind, gibt dies kein Prima-facie-Argument, zwei Fälle allein wegen eines Rassenunterschiedes gleich zu behandeln. Weder einzelne Gemeinsamkeiten, noch einzelne Differenzierungsverbote vermögen das Gesamtergebnis eines Gleichbehandlungsgebotes zu begründen. Bezeichnenderweise formuliert auch der Verfassungsgeber seine Wertungen in Art. 3 Abs. 3 GG als Differenzierungsverbote und nicht als Gleichbehandlungsgebote: Es heißt nicht, Jeder muß hinsichtlich seiner Rasse gleichbehandelt werden", sondern „Niemand darf wegen ... seiner Rasse ... benachteiligt oder bevorzugt werden." Auch im Grundgesetztext läßt sich also nachweisen, daß es um die Unterschiede geht, sobald der Gleichheitssatz in Gebote und Verbote umformuliert wird. 21 Im Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 GG ist bereits vorgezeichnet, daß die Voraussetzungen des Gleichbehandlungsgebotes aus Differenzierungsverboten zu gewinnen sind. Die Beispiele des Art. 3 Abs. 3 GG geben auch Aufschluß über den Charakter solcher Differenzierungsverbote. Es handelt sich nämlich dabei um Diskriminierungsverbote oder anders ausgedrückt um Begründungsverbote für Ungleichbehandlungen"22. Auch Art. 6 EGV ist als Diskriminierungsverbot formuliert. 23 Es gibt keinen rationalen Grund dafür, mit dem Gleichbehandlungsgebot als Prüfungsmaßstab und der „wesentlichen Gleichheit" als dessen Anknüpfungspunkt zu beginnen. Wer das Gleichbehandlungsgebot zum Ausgangspunkt des Gleichheitssatzes macht und dabei nach „wesentlich Gleichem" sucht, erschwert nur die Begründung der notwendigen und ohnehin schwierigen Wertungen. Das Gebot der Gleichbehandlung ist aus dem Vergleich zweier Fälle nie „ohne weiteres" abzuleiten. Für eine Gleichbehandlung spricht nicht einmal eine Ausgangsvermutung24. Etwas anderes mag bei der Rechtsanwendung innerhalb der tatbestandlichen Grenzen einer starren Norm gelten. Alle Fälle, die die Tatbestands21

Selbst in Art. 3 Abs. 2 GG ist kein Gleichbehandlungsgebot ausformuliert. Vielmehr sind hiernach die Geschlechter „gleichberechtigt" also wie in Art. 3 Abs. 1 GG im Ergebnis rechtlich gleichzustellen. Im Gegenteil mag man aus dieser Hervorhebung der Gleichberechtigung von Mann und Frau sogar eine Aufforderung zu egalisierender Ungleichbehandlung sehen. Jedenfalls ist die Formulierung des Art. 3 Abs. 2 GG nach dem hier vertretenen Ansatz für eine derartige Tendenz offen. 22 Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, 2505, 2508. 23 Hierzu noch unter G IV 3. 24 Insofern ist es irreführend, von einer ,3egründungslast" zu sprechen. So jedoch Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, 2505, 2507 m. w. N.

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

merkmale einer starren Norm erfüllen, sind vorbehaltlich der Differenzierung durch andere Normen „ohne weiteres" gleich zu behandeln. Für komparative Systeme hingegen ist die Differenzierung auch in der Rechtsfolge geradezu typisch. Hier ist das Gleichbehandlungsgebot nicht „selbstverständlicher" als etwa ein Differenzierungsgebot, sondern bedarf wie dieses des Einzelfallvergleichs und der Einzelfallwertung. Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht mehr und nicht weniger als eine Zielvorgabe. Diese ist natürlich die Gleichberechtigung. Sie ist aber gerade nicht als Anknüpfungspunkt geeignet. Es ist nichts gewonnen, Gleichberechtigung mit Gleichheit erklären zu wollen.

2. Ermessensbereich des Art. 3 Abs. 1 GG als komparatives SystemZur Reduktion der Kontrolldichte im Verfassungsrecht Das BVerfG hat seine eigene Rechtsprechung zum Gleichheitssatz bei der Gesetzeskontrolle so charakterisiert:„Das Bundesverfassungsgericht... kann... nur feststellen, ob der Gesetzgeber die äußersten Grenzen des ihm offenstehenden weiten Ermessensbereichs überschritten hat" 25 . Die Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG ist tatsächlich Ermessenkontrolle26 - umgekehrt ist Ermessenskontrolle im wesentlichen Gleichheitssatzkontrolle.27 Solche Ermessenskontrolle ist stets aus funktionellrechtlichen Gründen28 beschränkt. Aus der Tatsache, daß die gerichtliche Kontrolldichte in diesem Bereich beschränkt ist, darf jedoch nicht auf einen entsprechend beschränkten Inhalt des Art. 3 Abs. 1 GG geschlossen werden. Im Gegenteil müßte an der Formulierung des BVerfG gerade deutlich werden, daß es sich bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nur um die „Spitze eines Eisberges" handelt. Der Inhalt des Art. 3 Abs. 1 GG umfaßt nämlich den gesamten „weiten Ermessensbereich" und beginnt nicht erst an dessen „äußersten Grenzen". 25

BVerfGE 10,234, 246 (Hervorhebung nicht im Original). Nach Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auflage, 1993 Fußnote 81 zu Randzeichen 570 ist das BVerfG inzwischen weitgehend von dem Terminus des Ermessens abgegangen, soweit es um die gesetzgeberische Gestaltungs/ra7*ez7 geht. Tatsächlich wird man zwischen gebundenem Ermessen und politischer Freiheit unterscheiden müssen. Hier soll weiter vom Ermessen die Rede sein, da die Kontrolle des Gesetzgebers nicht Thema dieser Arbeit ist. 27 Zu diesem Aspekt vergleiche Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 649 ff. sowie ders., „Gemeinwohljudikatui" und Bundesverfassungsgericht, AöR 95 (1970), 86, 120 ff. 28 Vergleiche hierzu bereits Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975,297, 303 f.; auch abgedruckt in ders., Die Verfassung des Pluralismus 1980, S. 79, 91 f. sowie ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 155, 174 f. m. w. N. im Nachtrag auf S. 180 f. 26

II. Drei Differenzierungsmaßstäbe des Art. 3 Abs. 1 GG

231

Zu diesem Ergebnis gelangt nur, wer zwischen dem rechtlichen Gehalt des Gleichheitssatzes einerseits und der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte andererseits unterscheidet.29 Dies setzt voraus, daß die verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäbe grundsätzlich hinter dem rechtlichen Gehalt des Grundgesetzes zurückbleiben dürfen. Das ist im Verfassungsrecht nicht weniger als im einfachen Recht möglich.30 Für das einfache Recht wurden hierfür bereits Gründe genannt und erörtert. 31 Deren Übertragung auf den Bereich des Verfassungsrechts ist keineswegs selbstverständlich, sondern bedarf einer Begründung, die selbst aus dem Verfassungsrecht zu gewinnen ist. Die rechtliche Zulässigkeit eines solchen Ansatzes ist entgegen der wohl herrschenden Meinung32 vereinzelt bestritten worden: So behauptet Peine, der Wortlaut der Grundrechte, Art. 1 Abs. 3 GG und die Funktion des BVerfG verbiete „ein Zurückbleiben der Prüfungskompetenz des Gerichts hinter den inhaltlichen Aussagen des Grundgesetzes"33 . Tatsächlich scheinen der Wortlaut der Grundrechte und Art. 1 Abs. 3 GG gegen eine Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte zu sprechen. Dort ist die Verbindlichkeit der grundrechtlichen Wertungsmaßstäbe verbürgt. Gegenüber Art. 20 Abs. 3 GG hat Art. 1 Abs. 3 GG eine Klarstellungsfunktion, die vor allem historisch und rechtsvergleichend zu erklären ist: Die Grundrechte des Grundgesetzes sollen nicht (mehr) lediglich Programmsätze, sondern „unmittelbar geltendes Recht" (Art. 1 Abs. 3 GG ) sein. Alle staatliche Gewalt ist hieran gebunden, d. h. ausdrücklich auch die kontrollierende Rechtsprechung. Wenn man wie in dieser Arbeit vertreten - dem BVerfG dennoch eine Selbstbeschränkung bzw. richterliche Zurückhaltung zugesteht, bedarf dies einer verfassungsrechtlichen Begründung. Diese ist vor allem aus systematischen und teleologischen Argumenten herzuleiten. Solche Argumente müssen das Verhältnis der Gewalten zueinander betreffen, genauer das Verhältnis der kontrollierenden zu den kontrollierten Hoheitsträgern. Peine selbst34 nennt den hier entscheidenden teleologischen Aspekt, soweit es um die Beschränkungen der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte geht: Es ist nach der Funktion des BVerfG zu fragen. Ist es aber tatsächlich die Funktion 29

Vergleiche Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auflage, 1993, Randzeichen 439. 30 So im Ergebnis für den Gleichheitssatz auch Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, in FS Lerche 1993, S. 121, 122. 31 Hierzu oben F II 2 c. 32 Vergleiche BVerfGE 18, 85, 92 f.; 42, 143, 148 f.; 66, 116, 131. 33 Peine, Systemgerechtigkeit, Die Selbstbindung des Gesetzgebers als Maßstab der Normenkontrolle 1985, S. 237. 34 Ebenda.

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

des BVerfG, die Verwirklichung der inhaltlichen Aussagen des Grundgesetzes umfassend zu überprüfen? Die Institution des BVerfG ist eine Errungenschaft des modernen Verfassungsstaates. Nach und nach wurde die Stellung dieser Institution innerhalb des traditionellen Gefüges dreier staatlicher Gewalten herausgearbeitet. Dieses Gefüge staatlicher Gewalten muß im Lichte des Grundgesetzes interpretiert werden. Das Verfassungsrecht gebietet, die Kontrolldichte des BVerfG zu beschränken, da sonst die Gewaltenverteilung durch eine zentrale Übergewalt aufgelöst würde. Das BVerfG soll nämlich weder zum Ersatzgesetzgeber, noch zur Ersatzexekutive, noch zu einer Superrevisionsinstanz werden. Letzteres schließt es aus, daß das BVerfG die verfassungsrechtliche^) Bindung der Verwaltung und Rechtsprechung an das einfache Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) überprüft, und das trotz theoretisch stets denkbarer Grundrechtsrelevanz nach Art. 2 Abs. 1 GG 35 . Aber auch die Bindung an das Verfassungsrecht, der nach Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich alle drei Gewalten unterliegen, darf nicht dazu führen, daß das BVerfG die Wertungen der komparativen Wertordnung des Grundgesetzes bis ins letzte selbst überprüft. Hier sind der Funktion des BVerfG gegenüber den anderen Hoheitsträgern Grenzen gesetzt. Nun bleibt die Frage, ob diese Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte tatsächlich hinter den Inhalten verfassungsrechtlicher Normen zurückbleiben. Diese Konsequenz ist nicht etwa zwingend. Es bestünde auch die Möglichkeit, die jeweiligen Inhalte des Verfassungsrechts entsprechend eingeschränkt zu interpretieren. 36 So könnte doch noch erreicht werden, daß es bei der Einheit verfassungsrechtlicher Inhalte und verfassungsgerichtlicher Kontrollmaßstäbe bliebe. Gegen diesen Weg sprechen aber erhebliche Argumente: Von der beschränkten Funktion des BVerfG darf nicht auf entsprechend beschränkte Inhalte des Verfassungsrechts geschlossen werden. Zwar ist das Verfassungsrecht die äußerste Grenze verfassungsgerichtlicher Kontrollmaßstäbe, doch ist nicht umgekehrt die funktionsrechtlich bedingte Grenze der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte auch Grenze verfassungsrechtlicher Inhalte. Mit der Schaffung des BVerfG sollte das Verfassungsrecht gestärkt werden und seine Kontrolle gesichert werden, wenn auch mit der Einschränkung, daß und soweit es das Funktionsgefüge der staatlichen Gewalten zuläßt. Wird ein Kernbereich des Verfassungsrechts durch verfassungsgerichtliche Kontrolle garantiert, darf dies nicht mit einer Vernachlässigung des Verfassungsrechts im Bereich, in dem die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte beschränkt ist, erkauft werden. 35 Hierzu vergleiche Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auflage 1993, Randzeichen 427 m. w. N. auf die Rechtsprechung des BVerfG. 36 Zu dem entsprechenden Argument im einfachen Verwaltungsrecht vergleiche oben F II 2 c.

II. Drei Differenzierungsmaßstäbe des Art. 3 Abs. 1 GG

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Das Verfassungsrecht beschränkt die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte und nicht umgekehrt. Zur Beschränkung verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte fuhren ausschließlich funktionellrechtliche Gründe, die das Verhältnis des BVerfG zu den anderen Hoheitsträgern betreffen. Solche funktionellrechtlichen Gründe berechtigen auch nur zu funktionellrechtlichen Konsequenzen, hier nämlich zur Beschränkung der Kontrolldichte. Die „Funktion des Verfassungsrechts" erschöpft sich aber nicht etwa darin, verfassungsgerichtliche Kontrollmaßstäbe zu liefern. Die teleologische Auslegung der Verfassung verbietet es, im Hinblick auf die Funktion des BVerfG verfassungsrechtliche Inhalte zu beschränken. Die Schaffung einer Verfassungsgerichtsbarkeit ist dem Verfassungsrecht unter- und nicht übergeordnet. Dem Text des Grundgesetzes läßt sich entnehmen, daß das BVerfG nur beschränkte Prüfungskompetenzen hat. Diese werden nämlich in Art. 93 Abs. 1 GG abschließend aufgezählt. Die Zuständigkeit des BVerfG wird nicht in einer—etwa der Formulierung des § 13 GVG vergleichbaren - Generalklauselan an den Begriff des Verfassungsrechts angeknüpft. Umsoweniger ist es zulässig, den Begriff des Verfassungsrechts umgekehrt aus den Zuständigkeiten des BVerfG abzuleiten. Daß die Zuständigkeit des BVerfG dabei tatsächlich hinter den Inhalten des Verfassungsrechts zurückbleiben kann, läßt sich aus Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG schließen. Danach können Verfassungsbeschwerden durch ein Bundesgesetz(l) von einem besonderen Annahmeverfahren abhängig gemacht werden. Auch Art. 93 Abs. 2 GG eröffnet die Möglichkeit, die Zuständigkeit des BVerfG durch einfaches Bundesgesetz zu regeln. Hiervon muß der Inhalt des Verfassungsrechts unberührt bleiben. Von diesem Befund muß auch die Auslegung des Art. 19 Abs. 4 GG ausgehen. Zwar schließt die Rechtsweggarantie es aus, die gerichtliche Kontrolldichte „auf Null" zu reduzieren. 37 Es darf nicht vergessen werden, daß hier lediglich Beschränkungen der KontroWdichte zur Diskussion stehen und nicht etwa die Aufhebung jeglicher gerichtlichen Kontrolle. Art. 19 Abs. 4 GG verbietet solche bloßen Beschränkungen der Kontrolldichte nicht grundsätzlich. Das BVerfG hat dies für die reduzierte Kontrolldichte bei eingeräumtem Ermessen bestätigt38. Die Begründung des BVerfG verdient in doppelter Hinsicht Zustimmung und ist der Verallgemeinerung fähig: Erstens ist die Beschränkung der Kontrolldichte an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, insbesondere an die Einräumung eines Ermessensspielraumes. Methodenrechtlich lassen sich diese Voraussetzungen verallgemeinern: Immer und nur, wenn es um die Wertung aufgrund eines komparativen Systems geht, ist an 37

Daß Art. 19 Abs. 4 GG „Konsequenzen für die Kontrolldichte" hat, wird allgemein angenommen; vergleiche Jarass/Pieroth, Kommentar zu GG, 3. Auflage, 1995 zu Art. 19 Abs. 4 GG Randzeichen 35. 38 BVerfGE 61, 82, 111 f.

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

die Beschränkung der Kontrolldichte zu denken. „Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume"39 sind nämlich strukturell mit den komparativen Systemen identisch. Zweitens müssen die Maßstäbe herausgearbeitet werden, deren gerichtliche Kontrolle jeweils beschränkt ist bzw. unbeschränkbar bleiben muß. Hierfür kann die Ermessensfehlerlehre als exemplarisch bezeichnet werden. Sie ist der Verallgemeinerung für komparative Systeme fähig und bedürftig. Auf die Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG bei der Ermessenskontrolle wird noch näher einzugehen sein.40 Setzt man voraus, daß die Kontrolldichte bei komparativen Systemen beschränkt ist, wird deutlich, daß auch das Verfassungsrecht tatsächlich entsprechender Beschränkungen der Kontrolldichte bedarf. Die Wertordnung des Grundgesetzes weist in hohem Maße komparative Strukturen auf. 41 Der „unbeschränkte" Inhalt des Verfassungsrechts enthält zahlreiche Gestaltungs-, Ermessens- und Beurteilungsspielräume. Die Einheit zwischen Verfassungsrecht und Kontrolldichte läßt sich also auch nicht dadurch „retten", daß das Verfassungsrecht ohnehin nur solche Normen enthielte, die als verfassungsgerichtlicher Prüfüngsmaßstab „unbedenklich" wären. Die Kategorien Recht und Kontrolldichte klaffen im Fall des Art. 3 Abs. 1 GG besonders weit auseinander.42 Das liegt erstens daran, daß Art. 3 Abs. 1 GG einen Ermessensbereich umspannt und Ermessenskontrolle schon vor jeglichen Gerichten beschränkt wird. Zweitens ist Art. 3 Abs. 1 GG eine so „allgemeine" Norm, daß mit ihrer uneingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle das BVerfG zum Ersatzgesetzgeber und zur Superrevisionsinstanz würde. Art. 3 Abs. 1 GG ist in seiner Allgemeinheit nur mit Art. 20 Abs. 3 GG zu vergleichen: Aus Art. 93 GG ergibt sich, daß das BVerfG die Einhaltung des einfachen Rechts nicht überprüft, obwohl doch eine Verfassungsnorm die Bindung an das einfache Recht normiert. Dennoch ist Art. 20 Abs. 3 GG geltendes Verfassungsrecht und mehr als eine Leerformel. Entsprechendes muß auch für Art. 3 Abs. 1 GG gelten, zumal sich beide Normen in einer Weise ergänzen, daß sie als Kehrseiten einer Medaille betrachtet werden sollten.43 Die Struktur des Verfassungsrechts und die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit fuhren letztlich unvermeidlich dazu, daß die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte hinter dem Inhalt des Verfassungsrechts zurückbleibt.

39 40 41 42 43

Ebenda S. 111. Hierzu unter G V I I 2. Hierzu oben F II 1 c. Hierzu unter G VII. Hierzu noch unter G III 1.

II. Drei Diferenzierungsmaßstäbe des Art. 3 Abs. 1 GG

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Dieses Ergebnis ist m. E. auch für das Verfassungsrecht wünschenswert und kein Anlaß zur Besorgnis. So bedarf auch das Vorverständnis der Gegenmeinung einer Erwiderung. Peine hält nämlich eine derartige Trennung für dem Rechtsbewußtsein der Bürger nicht vermittelbar. 44 Sind es jedoch nicht gerade die Bürger, denen einerseits die „Grundrechtsrelevanzf 4 vieler Fragen bewußt ist? Gehört es nicht andererseits längst zum Rechtsbewußtsein der Bürger, daß „Karlsruhe" gerade nicht in allen Fragen, die das Verfassungsrecht berühren, das letzte Wort behalten sollte? Meines Erachtens wäre weder eine Beschränkung verfassungsrechtlicher Inhalte, noch eine Ausdehnung der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte dem Bürger besser vermittelbar. Unabhängig von dem Popularitätsargument ist auch aus anderen Gründen nicht wünschenswert, daß alles Recht als gerichtlicher Kontrollmaßstab aufgefaßt wird. Es ist sinnvoll, die Kontrolldichte zu beschränken, ohne gleichzeitig den Bindungsmaßstab zu lockern. So geht die Bedeutung des Grundgesetzes weit darüber hinaus, Prüfungsmaßstäbe für das BVerfG zu normieren. Das Grundgesetz als verbindlicher Entscheidungsmaßstab der Verwaltung aber auch des Gesetzgebers soll als rechtlicher Maßstab begriffen werden. Die komparativen Elemente der Wertordnung sollen Rechtsmaßstäbe sein, auch wenn ihre uneingeschränkte verfassungsgerichtliche Kontrolle nicht der Funktion des BVerfG entspricht. Die gerichtlich nicht nachprüfbare „Eigenverantwortungf 4 der Hoheitsträger bleibt insoweit eine rechtliche Verantwortung. 3. Bedarf es eines Differenzierungsgebotes? Ein Differenzierungsgebot als Gebot des Art. 3 Abs. 1 GG ist seit langem umstritten45 . Bevor die Notwendigkeit eines Differenzierungsgebotes erörtert wird, soll hier gefragt werden, ob hierfür überhaupt Art. 3 Abs. 1 GG derrichtige Ort ist. Auf den ersten Blick ist dort nur gefordert, daß alle Menschen „gleich" sind. Von „ungleicher" Behandlung ist gerade nicht die Rede. Aber genau betrachtet formuliert Art. 3 Abs. 1 GG überhaupt kein Gebot, sei es zu gleicher oder zu ungleicher Behandlung zweier Fälle. Die Gleichheit ist in Art. 3 Abs. 1 GG nicht der Anknüpfungspunkt, sondern das Ziel. Wie das Differenzierungsverbot (Gleichbehandlungsgebot), so ist auch das Differenzierungsgeftoi erst aus Art. 3 Abs. 1 GG abzuleiten: Das ist tatsächlich nicht weniger als im Falle des Differenzierungsgebotes möglich: Differenzierun44 Peine, Systemgerechtigkeit, Die Selbstbindung des Gesetzgebers als Maßstab der Normenkontrolle 1985, S. 237. 45 Dafür sprechen sich etwa Wittig, Zum Standort des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im System des Grundgesetzes, DÖV 1968, 817, 822; Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 371 ff. und Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 121 und 129 f. aus. Zu den Kritikern sogleich.

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

gen sind nicht nur im Rahmen der Schranken-Schranke erlaubt, sondern gegebenenfalls sogar geboten. Erst eine (gleichmäßige) Differenzierung fuhrt nämlich manchmal zu dem gebotenen Ziel (differenzierter) Gleichheit46. Wenn wesentliche Ungleichheit berücksichtigt oder gar ausgeglichen werden muß, damit alle Menschen tatsächlich „gleich"-berechtigt sind, wird aus dem Gesetzes- und DifferenzierungsvoròeAa/i ein Regelungs- und Differenzierungsgeòo/. Eine „gesetzesfreie" Gleichheit ist ebenso wie die gesetzlose Freiheit Illusion. So wie die rechtliche Freiheit eine gesetzlich schutzbedürftige Freiheit ist, so ist auch rechtliche Gleichheit erst durch differenzierende Gesetze erreichbar. Das Wort „gleich" in Art. 3 Abs. 1 GG enthält keine Tendenz zur Gleichmacherei. Schon in der „alten Formel" des BVerfG wurde gefordert, „wesentlich Ungleiches nicht willkürlich gleich", sondern vielmehr differenziert zu behandeln. Art. 3 Abs. 1 GG erlaubt nicht nur, sondern gebietet sogar Differenzierungen. Auch ist die Gleichbehandlung einer Differenzierung keinesfalls vorrangig. 47 Es gibt nicht einmal eine einseitige, Argumentationslast für Ungleichbehandlungen"48. Nach dem hier vertretenen Ansatz ist allein die tatsächliche Ungleichheit zweier Fälle Gegenstand der Argumentation. Deshalb ist jeweils eine bestimmte Qualität der Ungleichheit nachzuweisen. Aber dieser Nachweis ist nicht nur für die Begründung einer Ungleichbehandlung, sondern auch für die Begründung einer Gleichbehandlung zu erbringen. Zur Begründung eines Differenzierungsverbotes bzw. Gleichbehandlungsgebotes muß nachgewiesen werden, daß ein minimaler, sozusagen „unwesentlicher*4 Grad der tatsächlichen Ungleichheit vorliegt. Das BVerfG hat sogar umgekehrt von einer „ Vermutung... für die Verfassungsmäßigkeit differenzierender Behandlung^'49 gesprochen. Es wird von nicht wenigen bestritten50, daß das Differenzierungsgebot als Rechtsmaßstab eine eigenständige Bedeutung neben dem Gleichbehandlungsgebot hat. Die Leugnung eines Differenzierungsgebotes bzw. seiner Notwendigkeit soll der Vereinfachung dienen. Der Gleichheitssatz lasse sich nämlich auf das Gleichbehandlungsgebot reduzieren. Das ist vom hier vertretenen Standpunkt aus 46

Vergleiche H.-P. Schneider, Diskussionsbeitrag in VVDStRL 47 (1989), 106. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, 541, 547. 48 So Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 371 m. w. N. 49 BVerfGE 9, 338, 350. 50 Im Anschluß an Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971, S. 53 ff. etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 479 f., so auch noch Jarass in Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG, 2. Auflage 1992, zu Art. 3 GG, Randzeichen 6, einschränkend jetzt in der 3. Auflage 1995, zu Art. 3 Abs. 1 GG Randzeichen 5. Gegen diese Auffassung Podlechs haben sich bislang Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 117 (zweifelnd), Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 372 und Huster, Rechte und Ziele. Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1993, S. 230 f. sowie ders., Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, 541, 547 ausgesprochen. 47

II. Drei Differenzierungsmaßstäbe des Art. 3 Abs. 1 GG

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schon deshalb wenig hilfreich, weil das Gleichbehandlungsgebot als Prüfungsmaßstab sowie die Feststellung „wesentlicher Gleichheit" gar kein brauchbarer Ausgangspunkt ist. Erst Recht soll die Gegenthese hier diskutiert werden. Die Behauptung, das Differenzierungsgebot sei „an sich unnötigf' 51, ist nämlich verblüffend und ihre Begründung auf den ersten Blick geradezu frappierend: Durch entsprechende Wahl einer geeigneten Bezugsgruppe lasse sich jeder Fall des Differenzierungsgebots auch mit dem Gleichbehandlungsgebot lösen, da jede Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem immer zugleich eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem darstelle. Dies läßt sich am besten an einem von Vertretern dieser These angeführten 52 Beispiel des Ladenschlußgesetzes zeigen und überprüfen. Folgender Sachverhalt einer Entscheidung des BVerfG 53 ist zugrundezulegen: Von den allgemeinen Ladenschlußzeiten macht das Ladenschlußgesetz zwei Ausnahmen. Die erste begünstigt Bahnhofsverkaufsstellen. Die zweite begünstigt Apotheken. Dabei ist die erste Begünstigung stärker als die zweite. Es ist davon auszugehen, daß nach dem Gesetzeswortlaut54 Bahnhofsapotheken nicht nach der ersten, sondern nur nach der zweiten Gruppe zu behandeln sind. Es lassen sich zwei Ansatzpunkte bzw. Fragestellungen unterscheiden: 1. Nach der Regelung werden alle Apotheken gleich behandelt. Die Frage nach dem Differenzierungsgebot klärt, ob gegebenenfalls eine Sonderbehandlung von Bahnhofsapotheken geboten ist. 2. Hier ist gleichzeitig das Gleichbehandlungsgebot berührt, weil Bahnhofsapotheken und (sonstige) Bahnhofsverkaufsstellen ungleich behandelt werden. Die Frage nach dem Gleichbehandlungsgebot klärt, ob eine einheitliche Behandlung aller Apotheken und Verkaufsstellen auf dem Bahnhofsgebiet geboten ist. Die erste Frage wäre aber nur dann überflüssig, wenn beide Fragen letztlich identische Voraussetzungen implizieren und wenn sie dabei zu stets gleichen Ergebnissen fuhren müssen. Ist eine Sonderbehandlung von Bahnhofsapotheken gegenüber anderen Apotheken nur genau dann geboten, wenn auch die Gleichbehandlung der Bahnhofsapotheken mit allen Bahnhofsverkaufsstellen geboten ist? Umgekehrt gefragt: Liefe das Differenzierungsgebot, der Anspruch auf eine Sonderbehandlung leer, wenn es nicht bereits einen die begehrte Sonderbehandlung gewährenden Tatbestand gäbe?

51

So noch Jarass in Jarass/Pieroth, Kommentar zum GG, 2. Auflage 1992, zu Art. 3 GG, Randzeichen 6. 52 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 479 f. 53 E 13, 225. 54 In der Vorschrift über die Verkaufsstellen auf Personenbahnhöfen heißt es:„Für Apotheken bleibt es bei den Vorschriften des § 4."

2 3 8 G .

Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

Auf den Fall bezogen stellen sich folgende Fragen: Könnte der Bahnhofsapotheker keine Sonderbehandlung beanspruchen, wenn es nicht schon die Sonderbehandlung der (sonstigen) Bahnhofsverkaufsstellen gäbe? Könnte die gebotene Sonderbehandlung der Bahnhofsapotheker nicht auch eine andere, als die bereits geregelte Sonderbehandlung der (sonstigen) Bahnhofsverkaufsstellen, sein - etwa ein dritter Ausnahmetatbestand mit einer weiter differenzierten Rechtsfolge? Die Parallele in dem Beispiel ist bezeichnenderweise ebenfalls eine Sonderbehandlung, nämlich die der Bahnhofsverkaufsstellen gegenüber dem Normalfall des Ladenschlußgesetzes. Wie wäre nun aber ein Anspruch auf jene Sonderbehandlung der (sonstigen) Bahnhofsverkaufsstellen anders als mit dem Differenzierungsgebot zu rechtfertigen? Die Parallele zu einer vergleichbaren Sonderbehandlung ist in der Tat ein starkes Argument dafür, daß das Differenzierungsgebot tatsächlich durchgreift. Methodisch entscheidend hieran ist aber nicht die Gleichbehandlung der Sonderbehandlungen, sondern die rechtlich nachweisbare, weil parallele Existenz und Verbindlichkeit eines Differenzierungskriteriums. Solche Differenzierungskriterien müssen objektives Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG sein.55 Das Differenzierungsgebot setzt einen Differenzierungsgrund und ein rechtlich verbindliches Differenzierungskriterium voraus. Im vorliegenden Fall liegt es nahe, auf ein Differenzierungskriterium zurückzugreifen, das der Gesetzgeber selbst eingeführt hat, nämlich die Bahnhofslage. Der Differenzierungsgrund hierfür mag im spezifischen Bedarf von Reisenden, auch außerhalb der normalen Geschäftszeiten einzukaufen, liegen. Die Öffnungszeiten von Apotheken müssen darüber hinaus einen besonderen medizinischen Bedarf befriedigen. Das macht die Organisation eines Notdienstes erforderlich. Mit dem Gleichbehandlungsgebot ließe sich folgendermaßen argumentieren: Das Differenzierungskriterium (Bahnhofslage) erfaßt auch Bahnhofsapotheken. Der Differenzierungsgrund (Bedürfnisse der Reisenden) läßt sich auch auf Apotheken übertragen. Nur ein weiterer sachlicher Differenzierungsgrund könnte es rechtfertigen, Apotheken und sonstige Verkaufsstellen in Bahnhofslage ungleich zu behandeln. An dieser Stelle sind also wesentliche Unterschiede zwischen Apotheken und sonstigen Verkaufsstellen zu erforschen. Da ließen sich viele nennen. Tatsächlich unterliegen Apotheken deshalb zahlreichen Sonderregeln, mit denen sich das BVerfG schon früher auseinanderzusetzen hatte.56 Die Argumentationsstruktur des Gleichbehandlungsgebots betrachtet diese Besonderheiten von Apotheken aber unter einem einzigen Blickwinkel: Dürfen Apotheken und andere 55

Hierzu noch ausführlich unter G III. So verweist das BVerfG auf seine Entscheidugen E 7, 377 und 9, 73 und kommt zu dem Ergebnis, daß eine Sonderbehandlung von Apotheken auch im Vergleich und zum Nachteil gegenüber anderen Bahnhofsverkaufsstellen dem Gesetzgeber „erlaubt" ist (E 13, 225, 228). 56

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Verkaufsstellen im Bahnhofsgebiet hinsichtlich der Öffnungszeiten ungleich behandelt werden? Zusätzliche Gesichtspunkte eröffnet darüberhinaus die Argumentationsstruktur des Differenzierungsgebotes: Gebietet das Kriterium der Bahnhofsnähe eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Apotheken? Wenn sich dieses Kriterium tatsächlich von sonstigen Verkaufsstellen auf Apotheken übertragen läßt, bleibt nämlich die weitere Frage, welche Sonderbehandlung Apotheken in Bahnhofsnähe genau verdienen. Eine Gleichbehandlung mit den anderen Verkaufsstellen in Bahnhofsnähe ist dabei nur eine von mehreren Möglichkeiten. Betrachtet man sowohl die Apothekeneigenschaft als auch die Bahnhofsnähe (in Anknüpfung an Wertungen des Gesetzgebers) als Kriterien zur Gewährung längerer Öffnungszeiten, so ist dabei in Betracht zu ziehen, daß sich beide Umstände komparativ summieren. In einer vollständigen Argumentation werden das Gleichbehandlungs- und das Differenzierungsgebot nicht alternativ oder gar austauschbar, sondern kumulativ geprüft. Jeder Fall ist nicht nur an einem, sondern an allen in Betracht kommenden Vergleichsfällen zu messen. Eine Gleichheitssatzprüfung läßt sich nicht entweder mit dem Differenzierungsgebot oder mit dem Gleichbehandlungsgebot bemessen. Sie läßt sich nicht auf eine Prüfung des Gleichbehandlungsgebotes anstelle des Differenzierungsgebotes oder umgekehrt reduzieren. Vielmehr hat eine umfassende Würdigung des Art. 3 Abs. 1 GG beide Wege zu beschreiten, wenn als Vergleichsfalle sowohl gleich als auch abweichend geregelte Fälle in Betracht kommen. Weder das Differenzierungsgebot noch das Gleichbehandlungsgebot (hier als Differenzierungsverbot formuliert) ist überflüssig oder ersetzbar. Welche der beiden Seiten einer Medaille zu betrachten ist, hängt vom ,3estand" der Vergleichsfalle ab.57 Soweit sich zu einem Fall sowohl ungleich als auch gleich behandelte Vergleichsgruppen finden lassen, sind zur umfassenden Wertung im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG stets beide, besser gesagt: alle sachgerechten Vergleiche heranzuziehen.58

57 Huster, Rechte und Ziele. Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1993, S. 231 nennt diesen eine Kontingente Tatsache, von dem nicht der Charakter der Frage abhängen kann". 58 In der Entscheidung des BVerfG ist dies m. E. nur halb gelungen: Der Beschwerdeführer beruft sich auf ein Differenzierungsverbot zu den anderen Bahnhofsverkaufsstellen (BVerfGE 13, 225, 226), während der Erste Senat ein Differenzierungsgebot zu anderen Apotheken prüft (ebenda, S. 227) und im Ergebnis feststellt, es sei „ erlaubt eine Bahnhofsapotheke der allgemein für Apotheken geltenden Regelung zu unterwerfen und(l) sie anders zu behandeln als andere Verkaufsstellen auf Personenbahnhöfen" (ebenda, S. 228, Hervorhebung nicht im Original).

2 4 0 G .

Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

Ein Anspruch auf Sonderbehandlung ist auch denkbar, wenn nicht gleichzeitig das Differenzierungsverbot verletzt ist. Das Differenzierungsgebot ist immer dann ein nicht nur sinnvoller, sondern unentbehrlicher Ansatz, wenn ein der begehrten Sonderbehandlung entsprechend geregelter Fall (noch) nicht geregelt ist, wenn also keine tatbestandlich naheliegende Vergleichsgruppe für die Gleichbehandlung zur Verfügung steht.59 Ebenso wichtig ist der Fall, daß die begehrte Sonderbehandlung zwar an anderer Stelle der Rechtsordnung eine tatbestandliche Parallele hat, wenn dort jedoch nicht genau die angestrebte Rechtsfolge geregelt ist. Dabei ist allerdings zu beachten, daß ein Differenzierungsgebot, das nicht an einen bereits speziell geregelten Fall anknüpfen kann, einer höherrangigen, allgemeineren Norm entspringen muß. So hat das BVerfG einmal ein Differenzierungsgebot aus Art. 21 GG (i. V. m. 60 Art. 3 Abs. 1 GG) hergeleitet61. Die Differenzierungskriterien eines Differenzierungsgebotes müssen im positiven Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG nachweisbar sein.62 Die Suche nach einer Parallelregelung mit der gewünschten Rechtsfolge ist nur einer von mehreren möglichen Ansätzen. Das Differenzierungsgebot wäre erst entbehrlich, wenn es lediglich um Störungen einer ansonsten bereits perfekten Systemgerechtigkeit ginge. Auf eine solche Systemgerechtigkeit, auf ein „System" zu jeder Rechtsfrage kann aber nicht zurückgegriffen werden. Systemgerechtigkeit kann allenfalls Ziel des Art. 3 Abs. 1 GG sein, ohne je dessen Prämisse zu werden. Differenzierungs- und Gleichbehandlungsargumente werden auch in der allgemeinen Methodenlehre unterschieden, nämlich als Reduktion einerseits und als Analogie andererseits. Keineswegs läßt sich jedoch jede Reduktion ebensogut als Analogie begründen. Beide Instrumente der Gesetzesfortbildung bestehen nebeneinander. Zwar muß sich das Ergebnis einer Reduktion in das bestehende Recht einfügen. Das Ergebnis ist aber nicht nur darauf zu überprüfen, ob eine analoge Gleichbehandlung mit anderen Fällen geboten ist, sondern auch ob sie verboten ist. Sie wäre verboten, wenn das Differenzierungsgebot(!) hier abermals greift.

59

So schon Huster, Rechte und Ziele. Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1993, S. 230 f. 60 Gerade beim Differenzierungsgebot mag der Inhalt des Differenzierungskriteriums sehr im Vordergrund stehen. Ζ. B. ist die Frage, in welchem Verhältnis „besondere Schutz*4 des Art. 6 Abs. 1 GG zu Differenzierungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG steht. Diese Frage läßt sich m. E. nur befriedigend beantworten, wenn man Art. 3 Abs. 1 GG als Methodennorm begreift; hierzu G III, S. 244 ff. und G V, S. 271 ff. 61 BVerfGE 13,46,53. Dies ist das zweite Beispiel, das bei Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 9. Auflage 1993, Randzeichen 480 herangezogen wird. 62 Hierzu noch ausführlich unter G III.

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Der Hinweis63, daß in Fällen des Differenzierungsgebots durch die Wahl einer anderen Bezugsgruppe auch das Differenzierungsverbot betroffen sein kann, ist richtig und wertvoll. Erstens wird hier klar, daß nicht nur eine Vergleichsgruppe heranzuziehen ist, sondern auch nach weiteren gefragt werden kann. Diese Erkenntnis sollte zum Gebot einer mehrdimensionalen Gleichheitskontrolle fuhren. Zweitens wird dabei deutlich, daß verschiedene Vergleichsgruppen nicht voneinander unabhängig zu betrachten sind, sondern die Argumente zum Teil(!) ineinandergreifen. Gleichbehandlungsargumente können manchmal einen Differenzierungsanspruch untermauern. Umgekehrt können Differenzierungsargumente einen Gleichbehandlungsanspruch unterstützen. Nur darf daraus nicht geschlossen werden, das Differenzierungsgebot ließe sich deshalb durch das Differenzierungsverbot (Gleichbehandlungsgebot) ersetzen oder umgekehrt. Im Gegenteil sollte der von Podlech entdeckte und zu Recht als solcher befürwortete Zusammenhang zwischen Gleichbehandlungsgebot und Differenzierungsgebot dazu genutzt werden, beide nur scheinbar entgegengesetzten Ansätze in eine komparative Gesamtwertung einzubeziehen: Je stärker die Argumente sind, die für ein Differenzierungsverbot sprechen, desto eher verdichten sich die Tatbestandsmerkmale dieser gleichzubehandelnden Fälle zu verallgemeinerungsfähigen Differenzierungskriterien und gegebenenfalls zum Differenzierungsgebot. Der Gedanke der Systemgerechtigkeit faßt die gebotene Gleichbehandlung und angemessene Differenzierung in diesem Sinne zusammen. Eine andere Frage ist es, ob das BVerfG seine Kontrolldichte so beschränkt, daß es jedenfalls dem Gesetzgeber nicht exakt vorschreibt, wo und wie stark er differenzieren soll. Nach der hier vertretenen Ansicht kommt es beim Differenzierungsgebot darauf an, ob ein tatsächlicher Unterschied (zwischen verschiedenen Apotheken) so wesentlich ist, daß nur eine rechtliche Differenzierung zum Ziel der Gleichberechtigung führt. Das Differenzierungsverbot (Gleichbehandlungsgebot) würde hingegen voraussetzen, daß kein tatsächlicher Unterschied (zwischen Apotheken und sonstigen Verkaufsstellen auf dem Bahnhofsgebiet) eine Differenzierung sachlich rechtfertigt. Bei beiden Ansätzen wäre der Gesetzgeber !) nur an ein solches Differenzierungsgebot bzw. Differenzierungsverbot gebunden, das Verfassungsrang hat. Soweit die Rechtsfolge des Differenzierungsgebotes mehrere Möglichkeiten der gebotenen Differenzierung eröffnet, muß die Wahl dieser Möglichkeiten an die funktionell zuständigen Entscheidungsträger zurückfallen. Das ist genau dann der Fall, wenn sich das Differenzierungsgebot nicht gleichzeitig zum Gleichbehandlungsgebot „verdichtet". Die Entscheidungskompetenz des BVerfG ist dann darauf beschränkt, festzustellen, daß Art. 3 Abs. 1 GG verletzt ist.

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Vergleiche Fußnoten 50 f. auf S. 236 f.

16 Michael

2 4 2 G .

Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

4. Differenzierungsgebot und Differenzierungsverbot als Reduzierungen des Ermessensbereichs auf Null Obwohl hier zwischen Differenzierungsverbot, Ermessensbereich und Differenzierungsgebot unterschieden wurde, verbindet diese drei Ausprägungen jedenfalls der gemeinsame Ursprung im Gleichheitssatz, der jeweils nachgewiesen wurde. Darüber hinaus läßt sich auch das Verhältnis der drei Ausprägungen des Gleichheitssatzes zueinander als Einheit darstellen: Die tatsächlichen Unterschiede zwischen allen denkbaren Vergleichsfallen sind das Problem des Art. 3 Abs. 1 GG. Sie—und nicht die Gemeinsamkeiten der Vergleichsfalle - sind nach Art. 3 Abs. 1 GG zu werten. Sie sind der gemeinsame Prüfungsgegenstand des Differenzierungsgebotes sowie der Differenzierungsverbote und damit auch des Gleichbehandlungsgebotes. Deshalb ist es jetzt möglich, Differenzierungsgebot und Gleichbehandlungsgebot in ein einziges System des Art. 3 Abs. 1 GG einzuordnen. Dabei handelt es sich um ein dreifach abgestuftes System der Differenzierungen: 64 1. Eine Differenzierung ist nicht gerechtfertigt und Gleichbehandlung geboten (1. Stufe = Wesensgehalt der Differenzierungsverèote bzw. des Gleichbehandlungsgebotes). 2. Eine Differenzierung ist zwar nicht geboten, aber gerechtfertigt und erlaubt (2. Stufe = Ermessensbereich bzw. Gestaltungsvorbehalt). 3. Eine Differenzierung ist geboten (3. Stufe = Wesensgehalt des Differenzierungsgebotes). Welche der drei Stufen greift, hängt von der Qualität der Unterschiede ab, an die eine Differenzierung anknüpfen würde. Den stärksten Grad solcher Unterschiede setzt die dritte Stufe voraus: Sind die Ungleichheiten in starren Tatbeständen vorgegeben oder graduell „wesentlich", so ist ab einem gewissen Grad des „Wesensgehaltes" Differenzierung geboten (3. Stufe). Ist dieser Grad der Wesentlichkeit nicht erreicht, können Differenzierungen gleichwohl erlaubt sein (2. Stufe). Erst wenn alle tatsächlichen Ungleichheiten einer rechtlichen Differenzierung „wesensfremd" sind, wenn sie alle als sachliches Differenzierungskriterium dem Wesen des Rechts zuwiderlaufen, ist jegliche Differenzierung verboten und Gleichbehandlung geboten (1. Stufe). Das hier vorgestellte dreistufige System hat den Vorteil, daß Art. 3 Abs. 1 GG nicht mehr in zwei sich scheinbar widersprechende Gebote der Gleichbehandlung bzw. Differenzierung zerfallt. Darin liegt sogar eine Vereinfachung: Es muß nicht mehr zwischen „wesentlich Gleichem" und „wesentlich Ungleichem" als aliud 64

Zwischen Differenzierungsverboten, Differenzierungsgeboten und Differenzierungserlaubnissen unterscheidet auch Starck, in v. Mangold, Klein, Das Bonner Grundgesetz Bd. 1, 3. Auflage 1985, zu Art. 3 Abs. 1 GG, Randzeichen 15.

II. Drei Differenzierungsmaßstäbe des Art. 3 Abs. 1 GG

243

unterschieden werden. Es braucht vielmehr nur das „Wesen und der Grad der Ungleichheit" untersucht zu werden. Bei dieser Darstellung fallt der Bick nicht nur auf das Gleichbehandlungsbzw. Differenzierungsgebot, sondern auch und sogar in erster Linie auf den weiten Ermessensbereich zwischen ihnen. Dieser Ermessensbereich schließt „nahtlos" an das Gebot bzw. Verbot der Differenzierung an. Die Gebote der Gleichbehandlung und Differenzierung sind die entgegengesetzten Pole an den Enden dieses Ermessensbereichs. Sie sind in dieser Betrachtung nicht mehr der Regelfall des Art. 3 Abs. 1 GG, sondern die Sonderfälle einer Ermessensreduzierung auf Null. Art. 3 Abs. 1 GG normiert nicht nur die beiden Sonderfälle des Differenzierungsgebotes und Gleichbehandlungsgebotes, sondern umspannt den gesamten Ermessensbereich zwischen ihnen. Begreift man das Differenzierungsverbot und das Differenzierungsgebot als Sonderfalle, wird deutlich, daß für sie jeweils besondere Gründe nachzuweisen sind. Da es hier um die „Grenzen" des Ermessensbereichs geht, ist gleichzeitig die Grenze betroffen, ab der keine reduzierte Kontrolldichte mehr in Frage kommt. Beschränkungen der Kontrolldichte kommen nur innerhalb des Ermessensbereichs, oder allgemeiner gesagt innerhalb komparativer Strukturen in Frage. Differenzierungsverbote und Differenzierungsgebote im hier verstandenen Sinne sind hingegen stets uneingeschränkt überprüfbar. Soweit sie verfassungsrechtlicher Natur sind, soweit m. a. W. die Methodennorm des Art. 3 Abs. 1 GG an verfassungsrechtliche Inhalte anknüpft, ist auch die Kontrollkompetenz des BVerfG unbeschränkt und unbeschränkbar. Das gebietet Art. 19 Abs. 4 GG, der insofern im Lichte des Art. 19 Abs. 2 GG65 auszulegen ist: Soweit der Wesensgehalt eines Differenzierungsverbotes oder Differenzierungsgebotes betroffen ist, wird die Garantie des Wesensgehaltes zur Verfahrensgarantie und sogar zur Garantie eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens. Die erste und die dritte Stufe sind immer dann anzunehmen, wenn komparative Strukturen verlassen werden. Das ist zum einen bei der Ermessensreduzierung auf Null der Fall. Zum anderen gehören hierher die Fälle, in denen Art. 3 Abs. 1 GG an solches Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG anknüpft, aus dem sich starre tatbestandliche Differenzierungen ergeben.66 Aber auch für das Verständnis des Ermessensbereichs des Gleichheitssatzes bringt eine Einordnung des Ermessensbereichs zwischen die Stufen des Differenzierungsverbotes und des Differenzierungsgebotes einen Erkenntnisgewinn: Die Grenzen des Ermessensbereichs stellen nämlich gleichzeitig dessen „Direktiven" dar. Je größer die festgestellten Unterschiede des Vergleichspaares sind, desto eher bzw. desto stärker soll die Differenzierung geboten sein. Je geringer 65

Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Auflage 1983, S. 375. 66 Hierzu sogleich unter G III 1. 16*

2 4 4 G .

Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

diese Unterschiede sind, desto weniger bzw. desto schwächer wird zu differenzieren sein. Nicht nur fur die Ermessensreduzierungen auf Null, sondern auch innerhalb des Ermessensbereichs entscheidet also der Grad der Unterschiede. Der Ermessensbereich ist keineswegs „rechtsfrei" oder einer Gestaltungsbeliebigkeit ausgesetzt.

III. Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG als notwendige Voraussetzung des Art. 3 Abs. 1 GG Art. 3 Abs. 1 GG nennt selbst keine inhaltlichen Gesichtspunkte, die eine Differenzierung gebieten, erlauben oder verbieten. Die inhaltlichen Kriterien, nach denen die Gebote des allgemeinen Gleichheitssatzes zu beurteilen sind, werden in Art. 3 Abs. 1 GG vorausgesetzt. Art. 3 Abs. 1 GG verweist damit auf die inhaltlichen Maßstäbe des gesamten ungeschriebenen und geschriebenen positiven Rechts i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG. Diese These bedarf der Erläuterung: Bereits in der Weimarer Zeit wurde die Frage diskutiert, ob der Inhalt des Gleichheitssatzes durch das positive Recht oder aber durch eine „über dem positiven Recht stehende höhere Ordnung' 67 zu bestimmen sei. Die damalige Diskussion stand ganz im Zeichen des großen Schulenstreits68, der um den damals herrschenden „Positivismus" gefuhrt wurde. Bei dieser Diskussion ging es aber nicht nur um die theoretischen Erwägungen, derentwegen auch von einem Methodenstreit69 gesprochen wird. Vielmehr stand die praktische Konsequenz auf dem Spiel, ob der Gesetzgeber einer richterlichen Kontrolle unterworfen werden kann. Wer eine Kontrolle des Gesetzgebers bestreitet, vertritt eine Extremposition, die deshalb als ,,-ismus", und zwar als „Gesetzespositivismus" zu bezeichnen ist. Der so verstandene Gesetzespositivismus ist heute nicht mehr vertretbar, da das Grundgesetz den Gesetzgeber an die Verfassung (Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG) bindet, die die Bedeutung der positiven Gesetze durch die Bedeutung des positiven Rechts relativiert („Gesetz und Recht"-Formel des Art. 20 Abs. 3 GG)70 und zur Kontrolle des Gesetzgebers das BVerfG mit umfassenden Kompetenzen geschaffen hat. 67

Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), 174, 179 unter Hinweis auf Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Auflage 1933, Anmerkung I ff. zu Art. 109 WRV einerseits und Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz 1925, S. 60 f. andererseits. 68 Hesse ebenda. Vergleiche auch Smend, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer und der Richtungsstreit, in Festschrift für Scheuner 1973, 575 ff. 69 Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), 174, 179. 70 BVerfGE 34, 269, 286: „Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt".

III. Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG

245

Die hier vertretene These fällt nicht in den Gesetzespositivismus zurück. Sie beschränkt den Inhalt des Art. 3 Abs. 1 GG nicht auf positive Gesetze, sondern verweist auf die ambivalente „Gesetz und Recht"-Formel des Art. 20 Abs. 3 GG. Außerdem will sie auch nicht die Bezugnahme auf ein höheres, überpositives Naturrecht ausschließen und sich damit gerade nicht als ,,-ismus" darstellen. Aber es ist heute nach der Überwindung des Gesetzespositivismus nicht mehr erforderlich, ausgerechnet den ohnehin schwer faßbaren allgemeinen Gleichheitssatz mit einer grundsätzlichen Anknüpfung an überpositives Recht zu überfrachten: Es soll gar nicht bestritten werden, daß der Gerechtigkeitsgehalt des Art. 3 Abs. 1 GG ein mögliches positivrechtliches „Einfallslos 71 für überpositive Erwägungen sein kann, mag dies auch paradox erscheinen. Aber es ist weder notwendig, noch sinnvoll, diesen Extremfall zum Ausgangspunkt der Interpretation des Art. 3 Abs. 1 GG zu machen. Erstens bedarf es überpositiver Erwägungen erst dann, wenn selbst das ungeschriebene Recht versagt, das ja wegen Art. 20 Abs. 3 GG ausdrücklich positives Recht darstellt. Es dient auch keineswegs der Methodenklarheit, wenn das BVerfG in früheren Entscheidungen72 überpositives Recht in Art. 20 Abs. 3 GG „anerkennt". Das in seiner „Geltung", d. h. Bindungswirkung anerkannte ungeschriebene Recht ist positives ungeschriebenes Recht. Die Bedeutung des überpositiven Rechts ist eine wissenschaftstheoretische Frage, die durch schlichte, pauschale „Anerkennung^ nicht gelöst ist.73 Zweitens ist es methodisch geboten, inhaltlich möglichst klare Maßstäbe74 herauszuarbeiten. Dies wird unnötig erschwert, wenn man in Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich eine „auf weite und überpositive Maßstäbe verweisende Norm" 75 sieht und dabei, wenn überhaupt76, nur beiläufig „im geltenden positiven Recht gewisse Anhaltspunkte"77 sucht. Solange der Inhalt des Art. 3 Abs. 1 GG so weit und unbestimmt bleibt, wäre es notwendig, den Gleichheitssatz auf einer weiteren dogmatischen Ebene wieder einzuschränken. So gibt Hesse zu, „die verfassungsgerichtliche Prüfung von Ge71

Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auflage 1993 Randzeichen 440. 72 E 1, 14, 18 (LS 18). 73 Ebenso Schnapp in Münch, Grundgesetzkommentar Band 1, 4. Auflage 1992, zu Art. 20 GG, Randzeichen 55. 74 Hierzu auch Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), 174, 188 m. w. Ν . 75 Ebenda, S. 191. 76 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auflage 1993, Randzeichen 440 nennt sogar ausschließlich,glicht positivierte Maßstäbe", auf die der allgemeine Gleichheitssatz verweise. 77 Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109(1984), 174, 177.

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

setzen (müsse) deshalb(!) grundsätzlich auf die Verletzung äußerster, möglichst deutlich bestimmbarer(!) Grenzen beschränkt bleiben"78. Dies ist nicht erforderlich, wenn man von vornherein in Art. 3 Abs. 1 GG eine Norm sieht, die inhaltlich (in erster Linie) auf das positive Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG verweist. Auch Art. 14 EMRK als Ausprägung des Gleichheitssatzes auf der Ebene der Menschenrechte bestätigt den hier vertretenen Ansatz: Die dort genannten Differenzierungsverbote beziehen sich ausdrücklich auf den „Genuß der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten".79 Auch dieser Textbeleg mag etwaige Zweifel an der Verallgemeinerbarkeit des hier vertretenen Ansatzes zerstreuen. Auch in anderem Zusammenhang wird die Rechtsqualität der Differenzierungskriterien herangezogen: So soll Art. 3 Abs. 1 GG gerade keinen Anspruch auf „Gleichheit im Unrecht t8° geben. Dies ließe sich nach dem hier vertretenen Ansatz auch positiv formulieren: Art. 3 Abs. 1 GG gewährt einen Anspruch auf „Gleichheit im Recht". Welche Maßstäbe sich dabei für die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers ergeben, ist wiederum der Formulierung des Art. 20 Abs. 3 GG zu entnehmen: Der Gesetzgeber ist lediglich an das geschriebene und ungeschriebene Verfassungsrecht gebunden. Die Rechtsprechung und Verwaltung sind darüber hinaus an das gesamte einfache Recht gebunden. Die Kontrolle des Gesetzgebers durch das BVerfG darf somit nur Gleichheitsverstöße hinsichtlich verfassungsrechtlicher Rechtsinhalte erfassen. Darüber hinaus ist es nicht erforderlich, die Kontrolldichte spezifisch für Art. 3 Abs. 1 GG zu beschränken, etwa auf willkürliche Verstöße. Die Prüfungsintensität richtet sich vielmehr nach der Struktur der Rechtsinhalte, auf die Art. 3 Abs. 1 GG verweist. Handelt es sich bei diesen Rechtsinhalten um komparative Elemente, so ist die Kontrolldichte aus diesem Grund zu beschränken. 1. Warum und für wen sind Differenzierungskriterien geboten, erlaubt bzw. verboten? Art. 3 Abs. 1 GG als Selbst- und Fremdbindungsnorm Die entscheidende Frage für die „Wirkrichtungf 4 des Gleichheitssatzes ist, auf welcher Stufe eine Differenzierung einzuordnen ist, ob sie m. a. W. verboten, erlaubt oder geboten ist. Was nach Art. 3 Abs. 1 GG differenziert werden darf, kann 78

Ebenda, S. 191. Hierzu noch unter G IV 3 („Exkurs: Zum allgemeinen Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitsprinzip im Europarecht"), S. 268 ff. und 271. 80 Gubelt in Münch, Grundgesetzkommentar, Band 1,4. Auflage 1992, zu Art. 3 Abs. 1 GG Randzeichen 42 (Hervorhebung nicht im Original). Ausführlich hierzu Ossenbühl, Administrative Selbstbindung durch gesetzeswidrige Verwaltungsübung?, DÖV 1970, 264 ff. 79

III. Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG

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oder muß, ist dem positiven Recht, d. h. den geschriebenen Gesetzen und dem ungeschriebenen Gewohnheitsrecht zu entnehmen. Deshalb muß Art. 3 Abs. 1 GG im Zusammenhang mit Art. 20 Abs. 3 GG gesehen werden. Art. 20 Abs. 3 GG ist umgekehrt an Art. 3 Abs. 1 GG gekoppelt, wenn es darum geht, Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG fortzubilden. Dies muß nämlich wiederum durch Vergleich geschehen. Während Art. 20 Abs. 3 GG klärt, daß die Verwaltung und Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden ist, bestimmt Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. den Rechtsinhalten i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG genauer die Art und den Grad dieser Bindung an das positive Recht. Mehr noch als Art. 20 Abs. 3 GG entpuppt sich Art. 3 Abs. 1 GG somit als Methodennorm. Soweit das „Gesetz" bzw. „Recht" i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG starre Tatbestandsmerkmale und starre Rechtsfolgen aufweist, bedeutet deren „gleich"-mäßige Anwendung i. S. d. Art. 3 Abs. 1 GG nichts anderes als starre Bindung. Anwendung starrer Tatbestandsmerkmale „ohne Ansehung der Person" führt also zu einer ermessenslosen Bindung. Starre Tatbestände des Rechts geben die Differenzierungen vor, die nach Art. 3 Abs. 1 GG zu berücksichtigen sind. Innerhalb der Grenzen starrer Tatbestände gilt ein Differenzierungsverbot, ja sogar ein Gleichbehandlungsgebot, soweit keine anderen überlagernden Rechtstatbestände zu einer Differenzierung führen. Es ist alsorichtig, wenn das BVerfG die,»Rechtsanwendung" als solche insoweit an Art. 3 Abs. 1 GG mißt. Es führt hierzu aus: „Unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots greift das Β VerfG jedoch dann ein, wenn die Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich der Schluß aufdrängt, daß die Entscheidung auf sachfremden Erwägungen beruht" 81. Das allgemeine Willkürverbot wurzelt sowohl in Art. 20 Abs. 3 GG als Verstoß gegen die Bindung an „Gesetz und Recht" als auch in Art. 3 Abs. 1 GG als Verstoß gegen die Gleichheit „vor dem Gesetz". Zustimmung verdient das BVerfG, wenn es nur den Extremfall offensichtlicher Willkür selbst überprüft. Kritik ist jedoch angebracht, wo das Gericht seinen begrenzten Kontrollmaßstab als Grenze des Art. 3 Abs. 1 GG formuliert. 82 Im Bereich starrer Bindung geht also der Inhalt des Gleichheitssatzes nicht über die Bindung des Art. 20 Abs. 3 GG hinaus. Wenn das Gesetz bzw. Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG keine starren Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen formuliert, geht die Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG jedoch wesentlich weiter. Gibt das positive Recht nämlich lediglich 81

BVerfG NJW 1995, 124 mit Verweis auf BVerfGE 18, 85, 96 und E 74, 102, 107. Etwa BVerfG NJW 1995, 124, 125: „In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, daß bei gerichtlichen Entscheidungen ein Verstoß gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG nicht schon dann vorliegt, wenn die Rechtsanwendung oder das einschlägige Verfahren Fehler enthalten. Hinzukommen muß vielmehr..." mit Hinweisen auf BVerfGE 4, 1, 7 und E 81, 132, 137 und E 87, 273, 278 f. 82

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

komparative Elemente vor, so bindet zwar Art. 20 Abs. 3 GG die zweite und dritte Gewalt auch an dieses „weiche" Recht. Das heißt auch komparative Systeme stellen „Rechf i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG dar. Auch „Gesetze" enthalten bisweilen Regelungen, die nichts anderes als solche komparativen Systeme darstellen. Insbesondere die verwaltungsrechtlichen Ermessensnormen83 zählen hierzu. Aber auch das Zivilrecht (etwa §§ 138 Abs. 2 und 254 Abs. 1 BGB 84 ) und das Strafrecht (etwa die Strafzumessungsregeln oder § 34 StGB85 ) kennen derartige Normen. Auch solche komparativen Normen sind positives Recht und nach Art. 20 Abs. 3 GG bindend. Aber im Gegensatz zu den starren Tatbeständen wirft eine Bindung an komparative Elemente ein Problem auf, das nicht mehr von Art. 20 Abs. 3 GG, sondern allein von Art. 3 Abs. 1 GG erfaßt wird. Eine „gleich"-mäßige Handhabung von komparativen Elementen setzt nämlich nicht nur deren Beachtung voraus. Art. 3 Abs. 1 GG verbietet hier nicht nur in Form des Willkürverbotes eine völlige Nichtbeachtung, die wiederum einen gleichzeitigen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG darstellt. Um alle Menschen „als Gleiche"86 zu behandeln, reicht bei Ermessensentscheidungen nicht die Einhaltung der tatbestandlichen Grenzen aus. Innerhalb der tatbestandlichen Grenzen komparativer Systeme gilt im Gegensatz zu den starren Tatbeständen kein Gleichbehandlungsgebot. Ermessensnormen zeichnen sich ja gerade durch differenzierte Rechtsfolgen aus. Eine starre Anwendung von Ermessensnormen ist als Ermessensunterschreitung oder Ermessens-Nichtgebrauch rechtsfehlerhaft. Es muß also geprüft werden, ob Differenzierungen vorgenommen werden sollen. Hier stellen sich die beiden Fragen, welche Kriterien hierbei heranzuziehen sind und wie stark diese jeweils ins Gewicht fallen. Das sind die zwei zentralen methodenrechtlichen Fragen der komparativen Systeme. Die erste betrifft die Herausbildung komparativer Elemente, die zweite deren Anwendung.87 Ob eine Differenzierung im Ermessen des Entscheidungsträgers liegt, darauf gibt Art. 20 Abs. 3 GG keine Antwort. Das entscheidet sich vielmehr nach dem Wesen und der Formulierung der jeweiligen Rechtsnorm. Wenn ihre Tatbestandsmerkmale und/oder Rechtsfolgen komparativer Natur sind, so greift der Gleichheitssatz in seiner Funktion als Ermessens-Methodennorm. Dann ist also die Rechtsfolge nach Maß und Gewicht der Unterschiede zu differenzieren. Ein solcher gradueller Vergleich kann im Einzelfall zur Ermessensreduzierung auf Null fuhren. 83

Das Ermessen wurde oben F II 1 c als Bindung an komparative Systeme definiert. Hierzu oben D I 4 und D II. 85 Siehe oben F II 2 b. 86 Vergleiche diese Formulierung bei Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, 541,547. 87 Hierzu noch unter G V. 84

III. Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG

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Letzteres ist aber nur eine der beiden Möglichkeiten, in denen Differenzierungsverbote und Differenzierungsgebote entstehen: Wenn das positive Recht hingegen starre Tatbestände vorgibt, ist eine Differenzierung innerhalb der tatbestandlichen Grenzen verboten (Differenzierungsverbot), außerhalb ihrer Grenzen ist eine Differenzierung ohne weitere Wertung geboten (Differenzierungsgebot), soweit verschiedene Tatbestände verschiedene Rechtsfolgen vorschreiben. Das Problem des Gleichheitssatzes verlagert sich durch diese Betrachtung auf das Problem, welche methodenrechtliche Struktur das Recht aufweist, auf das die Methodennorm des Art. 3 Abs. 1 GG Bezug nimmt. Vorrangig ist freilich die Grundsatzfrage, was denn positives Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG ist. Da hierzu unstreitig auch das ungeschriebene Recht zählt und weil dieses ungeschriebene Recht bisweilen die geschriebenen Gesetze überlagert, ist die Anwendung des Gleichheitssatzes so schwierig. Es muß also die Qualität ungeschriebenen Rechts bestimmt werden. Hierzu sollen an dieser Stelle zwei Exkurse folgen. Der erste Exkurs wird sich mit der Rechtsqualität der Verwaltungsvorschriften und der Selbstbindung der Verwaltung, der zweite mit dem Richterrecht auseinandersetzen: 2. Exkurs: Die Rechtsqualität der Verwaltungsvorschriften und der Selbstbindung der Verwaltung Schon die beiden Probleme, die sich aus der Rechtsqualität von VerwaltungsVorschriften und aus der Selbstbindung der Verwaltung ergeben, verdeutlichen, wie schwer ein objektiv-rechtlicher Bindungsmaßstab zu greifen ist: Bei der verfassungsrechtlichen Legitimation der Selbstbindung der Verwaltung hat bislang nicht Art. 20 Abs. 3 GG, sondern Art. 3 Abs. 1 GG eine hervorragende Rolle gespielt. Insbesondere wird bei der Frage der Selbstbindung der Leistungsverwaltung regelmäßig Art. 3 Abs. 1 GG als Maßstab herangezogen. Das rechtfertigt aber keinesfalls den Schluß, daß Art. 3 Abs. 1 GG hier stärker als sonst binde.88 Auf den ersten Blick scheint folgende Unterscheidung nahezuliegen: Während Art. 20 Abs. 3 GG die Bedeutung der Verwaltungsvorschriften klärt, ist Art. 3 Abs. 1 GG bei der Selbstbindung eines Hoheitsträgers an seine eigene Praxis heranzuziehen. Dann würde man Art. 20 Abs. 3 GG auf die Bindung an abstraktes Recht festlegen und Art. 3 Abs. 1 GG auf die vergleichende Fallgerechtigkeit beschränken. Eine derartige Trennung verkürzt jedoch die Bedeutung beider Verfassungsnormen, die sich nämlich nicht nur alternativ ergänzen, sondern stets kumulativ wirken: Sie gelten nicht nebeneinander, sondern zusammen. 88

Hierauf weist Dürig in Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Stand: 31. Lieferung 1995, zu Art. 3 Abs. 1 GG, Randzeichen 465 f. hin.

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

Auf der einen Seite spielt Art. 3 Abs. 1 GG bei der Entwicklung des abstrakten Rechts, also von Rechtsmaßstäben i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG eine erhebliche Rolle. An Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht nur die formelle Gesetzgebung, sondern erst Recht der Erlaß und die Anerkennung von Verwaltungsvorschriften sowie die Herausarbeitung ungeschriebener Rechtssätze zu messen. Auf der anderen Seite ist Art. 20 Abs. 3 GG mitunter selbst Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes. In der Gesetzesbindung ist nämlich bereits der Gedanke der Gleichheit vor dem Gesetz, d. h. des Richtens nach dem objektiven Recht ohne Ansehung der Person enthalten. Jede grundgesetzwidrige Verweigerung einer rechtlich verbindlichen Rechtsfolge ist somit zugleich ein Gleichheitsverstoß.89 Diese Seite des Art. 3 Abs. 1 GG wird bei den Extremfallen als „allgemeines Willkürverbot" bezeichnet, darüber hinaus jedoch zu Unrecht als überflüssig erachtet und damit verkannt. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet der Verwaltung und Rechtsprechung90 die Beachtung von „Gesetz und Recht". Der Gleichheitssatz wirkt aber nicht erst, wenn er hierüber hinaus geht oder das Verhältnis zwischen Gesetz und Recht näher bestimmt. Freilich ist die Argumentation mit dem Gleichheitssatz besonders in Fällen jenseits starrer Bindung an geschriebene Gesetze unentbehrlich, wenn Art. 3 Abs. 1 GG als Gleichbehandlungsgebot bzw. als Differenzierungsgebot zum verfassungsrechtlichen Maßstab der Analogie und der Reduktion wird. Nicht nur die Bindung an das Gesetz, sondern auch an das Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG ist notwendig mit dem Gleichheitssatz verknüpft. Auch das ungeschriebene Recht bedarf der gleichmäßigen Anwendung. Art. 20 Abs. 3 GG ist deshalb auch für die Selbstbindung der Verwaltung unmittelbar einschlägig, da keine Veranlassung besteht, den Rechtsbegriff des Art. 20 Abs. 3 GG auf „fremdbindendes", allgemein geltendes Recht zu beschränken. Vielmehr wird jegliche Art der staatlichen Rechtsbindung, auch die Selbstbindung von Art. 20 Abs. 3 GG erfaßt. Umgekehrt ist Art. 3 Abs. 1 GG nicht als reine Selbstbindungsnorm zu verstehen: Sie verweist jedenfalls auf alle objektiv-rechtlichen Differenzierungskriterien. Eine andere Frage ist es, ob Art. 3 Abs. 1 GG nur den Vergleich mit Entscheidungen desselben Hoheitsträgers gebietet. Selbst wenn man hieran festhält, betrifft dies nicht die Frage, an welche Differenzierungskriterien jede staatliche Gewalt gebunden ist, sondern die Frage wessen Anwendung dieser Kriterien gleichmäßig sein muß.

89

Dies wird meist gerade nicht für die Verletzung starrer Regeln, sondern für Ermessensfehler angenommen; vergleiche Kopp, Kommentar zum VwVfG, 5. Auflage 1991, zu § 40 VwVfG, Randzeichen 29 und 51 m. w. N. 90 Die Bedeutung des Art. 3 Abs. 1 GG für die Verwaltung und Rechtsprechung wird neben der „moderneren" Frage der Bindung des Gesetzgebers leider zu oft vernachlässigt.

III. Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG

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Immer wieder ist darauf hingewiesen worden,91 daß sich die Verwaltung eigentlich gar nicht selbst bewußt und willentlich bindet. Vielmehr werde die Verwaltung gegebenenfalls durch die Rechtsordnung, insbesondere durch Art. 3 Abs. 1 GG gebunden. Bindungsgrund wäre dann nicht ein Rechtsetzungsakt der Verwaltung, sondern das Verfassungsrecht, genauer: das Methodenrecht. Dennoch gibt es eine Besonderheit der sogenannten „Selbstbindungf4, die ihren Namen rechtfertigt: Die Legislative gibt bei der Ermessensnorm oft 92 nur den tatbestandlichen Ermessensrahmen vor und überläßt es der Verwaltung, einzelne Ermessensgesichtspunkte herauszubilden. Die Frage der Selbstbindung der Verwaltung beschäftigt sich mit der eventuellen Bindung an diese komparativen Elemente. Die jeweiligen Bindungsinhalte entwickelt hier nicht die Legislative und Rechtsprechung; vielmehr setzt hier „die Verwaltung^ selbst Maßstäbe, an denen ihre Entscheidungen dann gemessen werden.93 Im Falle der Verwaltungsvorschriften kann es sich dabei sowohl um „innerbehördliche", als auch um die lediglich „verwaltungsinterne" Bindung durch eine Oberbehörde handeln. Deshalb werden die Phänomene „Selbstbindung der Verwaltung^ und „Verwaltungsvorschriften" in der Regel getrennt bezeichnet. Aus der Tatsache, daß die Verwaltung „Urhebei" von Rechtsinhalten ist, läßt sich allein aber noch nichts über deren Bindungsgrund sagen. Beim Erlaß von Rechtsverordnungen werden Verwaltung und Rechtsprechung^) unmittelbar durch den Rechtsetzungsakt nach Art. 20 Abs. 3 GG gebunden. In Ermangelung eines entsprechendförmlichen Verfahrens gelten Verwaltungsvorschriften jedoch nicht ohne weiteres mit ihrem Erlaß. Ebensowenig gilt in unserer Rechtsordnung ein strenges Fallrecht mit automatischer, förmlicher Selbstbindung. Weder eine gesetzesgleiche Bindung an Verwaltungsvorschriften, noch an vorentschiedene Fälle läßt sich unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3 GG folgern. Art. 20 Abs. 3 GG gebietet „nui" die Suche nach den objektiven Maßstäben. Deshalb ist der Rechtsprechung zuzustimmen, daß jedenfalls eine ständige Praxis zur Selbstbindung der Verwaltung führen kann. Denn bei einer ständigen Übung ist jedenfalls eine hinreichende Objektivität als eine der Voraussetzungen des positiven Rechts gewährleistet. Die Anerkennung komparativer Systeme als positives Recht ist weit weniger problematisch als die Anerkennung starrer Regeln: Wenn man komparative Systeme als positives Recht anerkennt, ist die daraus folgende Bindung ledig91 Statt aller Dürig in Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Stand: 30. Lieferung 1993, zu Art. 3 Abs. 1 GG Randzeichen 431 m. w. N. 92 Hierin unterscheiden sich die einfachen Ermessensnormen von den gesetzlichen komparativen Systemen, die selbst komparative Elemente nennen, wie etwa § 1 Abs. 5 BauGB. 93 Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, 2505, 2511 spricht von einer Bindung „zwar durch das Gleichheitsgrundrecht, aber an die von der Vollziehung selbst gewählten Kriterien".

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

lieh komparativer Natur, eröffnet also Ermessensspielräume bei der Anwendung. Dadurch besteht keine Gefahr, daß das Recht durch eine Verdichtung ungeschriebener Tatbestände „erstarrte". Damit werden wesentliche Einwände gegen eine zunehmende Selbstbindung der Verwaltung zerstreut: Die Berücksichtigung von Einzelfallumständen wird durch die Anerkennung komparativer Systeme als positives Recht nicht erschwert, sondern gerade ermöglicht und rationalisiert. Damit ist gleichzeitig sowohl der Einzelfallgerechtigkeit als auch der Rechtssicherheit gedient: Durch die positive Bindung an Ermessensgesichtspunkte werden Einzelfallentscheidungen vorhersehbarer, ohne Verschiedenartiges „über einen Kamm zu scheren". Aus Billigkeit wird Ermessen. 3. Exkurs: Methodenrechtliche Überlegungen zum „Richterrecht" Im Rahmen ihrer Rechtsfortbildungsfunktion sind auch Gerichte zur Entwicklung positiven Rechts und insbesondere komparativer Systeme berufen. Komparative Systeme werden der Aufgabe richterlicher Rechtsfortbildung in besonderer Weise gerecht, da sie es erlauben, das Recht in einemflexiblen Prozeß unter Einbindung möglichst vieler Instanzen fortzubilden. Ein derartiger Prozeß, an dessen Ende eventuell die Anerkennung als positives, ungeschriebenes Recht (Gewohnheitsrecht) steht, steht der Rolle des Richters näher, als eine zu Recht viel kritisierte höchstrichterliche „Ersatzgesetzgebungf 4, die nicht von allen Instanzen entwickelt und getragen, sondern nur angewendet wird. Auch den Bundesgerichten fehlen sowohl die Erkenntnisverfahren politischer Instanzen als auch deren demokratische Legitimation zur Rechtsetzung. Es ist auch nicht wünschenswert, Gerichte mit derartigen Möglichkeiten auszustatten.94 Die Funktion der Rechtsprechung beschränkt ihre Rechtsfortbildungsaufgabe. Die Gerichte haben „Recht zu sprechen", nicht zu „setzen". Der Richter darf also das Recht nicht aus dem Nichts schöpfen, sondern muß stets an bereits nachweisbare Rechtsinhalte anknüpfen. Die Gerichte können das Recht fortbilden, wenn dies durch Analogie oder mit allgemeinen Rechtsprinzipien zu begründen ist. Dies können sowohl einfachgesetzliche Prinzipien sein (an die die Rechtsprechung im Gegensatz zum Gesetzgeber gebunden ist) als auch Verfassungsprinzipien95. Das Anknüpfen an Rechtsprinzipien ist selbst bereits Anwendung komparativer Systeme. Soweit dabei aus Rechtsprinzipien auch komparative Elemente gewonnen werden, ergänzen sich hier Anwendung und Bildung komparativer Systeme. Die Rechtsprechung ist bei ihrer Rechtsfortbildung auf die Methoden der Konkretisierung allgemeiner Rechtsprinzipien und der Anlehnung an parallele 94

Picker, Richterrecht und Rechtsdogmatik, JZ 1988, 1 (Teil I), 62 (Teil II), 74 mit Hinweisen zur Gegenansicht. 95 Beispiele finden sich etwa im Arbeitsrecht oder bei der Anerkennung des „allgemeinen Persönlichkeitsrechts".

III. Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG

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komparative Elemente beschränkt. Dennoch kann auch dieser Vorgang ohne die Möglichkeit einer „originären Neuschöpfung" als,Jlechtsfortbildungf 4 bezeichnet werden. Von „echter Rechtsfortbildung i kann aber nur die Rede sein, wenn eine Berufung auf positivrechtliche Prinzipien zwar möglich, aber nicht bereits rechtlich zwingend geboten ist. Es ist also zwischen der richterlichen Bestätigung fortgebildeten Rechts einerseits undrichterlicher Rechtsfortbildung andererseits zu unterscheiden. Erstere ist ohnehin die Pflicht des Richters. Das Ermessen der Rechtsfortbildung kann sich sozusagen auf Null reduzieren. Bei der Bildung eines komparativen Systems ist dies genau dann der Fall, wenn die komparativen Elemente des dabei anzuwendenden, übergeordneten komparativen Systems keinen Spielraum mehr lassen. Letztere eröffnet einen begrenzten Spielraum des Richters, bei dem stets mehrere begründbare Möglichkeiten verbleiben. Erst durch denrichterlichen Gebrauch dieses Ermessens ist das Recht in eine der möglichen Richtungen „fortgebildet". Richterliche Rechtsfortbildung ist somit stets Anwendung komparativer Systeme: Einerseits ist der Rechtsprechung eine Rechtsschöpfung ohne komparative Anknüpfung an Rechtsprinzipien verwehrt. Andererseits ist eine starre Ableitung ungeschriebenen Rechts aus dem positiven Recht keine echte Rechtsfortbildung, sondern Anwendung ohnehin gebotener Rechtsinhalte. Diese begrenzte Aufgabe zur Rechtsfortbildung ist keineswegs auf die Obergerichte beschränkt. Allerdings kommt den Oberinstanzen hierbei eine hervorragende Rolle zu, da sie sich ganz auf Rechtsfragen konzentrieren und das Recht vereinheitlichen sollen. Die Verteilung des Rechtsfortbildungsprozesses auf alle Gerichtsinstanzen macht die Entstehung des Richtergewohnheitsrechts und dessen Bindungswirkung zu einem komplexen Problem. Dabei entstehen folgende Fragen: Inwieweit ist eine untergerichtliche Rechtsfortbildung revisibel?96 Inwieweit ist „echte Rechtsfortbildungf 4 eines Gerichts, insbesondere eines höchstrichterlichen Spruchkörpers, für andere, insbesondere untergerichtliche Spruchkörper verbindlich? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es notwendig, die Rolle des Richters im Spannungsfeld zwischen Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 2 GG zu bestimmen.

96

Hierzu sogleich.

254

G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

a) Gesetzgeberische, wissenschaftliche, berufungs- bzw. revisionsgerichtliche sowie verfassungsgerichtliche Kontrolle richterlicher Rechtsfortbildung

aa) Richterlich entwickelte komparative Systeme können ohne weiteres durch die Gesetzgebung korrigiert werden. Richterliche Rechtsfortbildung hindert den Gesetzgeber nicht, selbst tätig zu werden und aus politischen Erwägungen, also ohne rechtlichen Begründungszwang abweichende Regelungen zu erlassen. Der gesetzgeberische „Überprüfungsmaßstab" ist also kein rechtlicher, sondern ein politischer. Die Rechtsprechung ist an die Gesetzgebung gebunden und nicht umgekehrt. Ausnahme hiervon ist allenfalls eine Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht, die auch den Gesetzgeber bindet. Kontrollinstanz ist hierfür das BVerfG. bb) Die Rechtswissenschaft spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Kontrolle richterlicher Rechtsfortbildung. Die wissenschaftlichen Lehrmeinungen und Reaktionen können nicht nur Einfluß auf künftige richterliche Entscheidungen haben. Vielmehr ist eine allgemeine wissenschaftliche Zustimmung bzw. Ablehnung für die Entstehung von Richtergewohnheitsrecht von unmittelbarer Bedeutung. Dies gilt vor allem für die rechtsdogmatischen Maßstäbe, die das Ergebnis und die richterliche Begründung einer Rechtsfortbildung entweder untermauern oder widerlegen. cc) Die Rechtsprechung kennt darüberhinaus den internen Kontrollmechanismus des Instanzenzugs. Sicherlich kann das Berufungsgericht seine Rechtsauffassung an die Stelle der Entscheidung in erster Instanz setzen. Schwieriger zu begründen ist hingegen die seit jeher 97 erhobene Behauptung daß auch das Revw/oAwgericht jegliche Rechtsfortbildung ohne weiteres an sich ziehen darf. Der Hinweis auf die Rechts vereinheitlichungsfunktion der Obergerichte soll hier nicht genügen. Vielmehr soll anhand der Normen des Revisionsrechts untersucht werden, wie es zu dieser Funktion kommt. Das Revisionsgerichts muß seine Entscheidung nämlich mit der Verletzung geltenden Rechts, hier durch untergerichtliche Rechtsfortbildung, begründen (§ 550 ZPO, gegebenenfalls i. V. m. § 137 VwGO bzw. § 337 Abs. 2 StPO). Hier stellt sich die Frage, ob jede vom Revisionsgericht abweichende Auffassung über Rechtsfortbildung schon eine revisible Verletzung positiven Rechts darstellt. a) Soweit es um dierichterliche Bestätigung bereits positivrechtlich fortgebildeten Rechts geht, ist das fortgebildete Recht selbst revisibler Maßstab einer eventuellen Rechtsverletzung. Bei der „echten"richterlichen Rechtsfortbildung steht ein solcher Maßstab aber gerade (noch) nicht zur Verfügung. Hier muß auf die Rechtsprinzipien zurückgegriffen werden, auf die die Rechtsfortbildung gestützt werden muß bzw. gegen die eine Rechtsfortbildung verstieße. Da richterliche 97 Schon Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1318, S. 246 sagt, daß die Rechtsfortbildung der Revision unterliege.

III. Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG

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Rechtsfortbildung an bereits positivrechtliche Rechtsprinzipien anknüpfen muß, kann eine Revision auf die Verletzung von Rechtsprinzipen als Rechtsmaßstäben gestützt werden. ß) Bei dieser, Anknüpfung^4 mag es zwar mehrere denkbare und begründbare Ergebnisse geben. Insofern wurde von einem „Spielraum44 gesprochen. Aber es handelt sich nicht um ein freies Ermessen. Im Ergebnis müssen stets rechtliche Gesichtspunkte den Ausschlag geben. Dies ist der wesentliche Unterschied diesesrichterlichen Spielraums zum gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum bei der Fortbildung des Rechts. Im Gegensatz zum Gesetzgeber hat der Richter kein politisches Ermessen, ob und wie er das Recht fortbilden soll. Nur der Gesetzgeber kann sich über das einfache Recht mit außerrechtlichen Argumenten hinwegsetzen, es ändern bzw. ergänzen. Nur der Gesetzgeber ist demokratisch zu politischen Erwägungen legitimiert. Die Fragen nach dem Ob und Wie einer richterlichen Rechtsfortbildung sind hingegen reine Rechtsfragen. Jedes der denkbaren Ergebnisse wird den unterschiedlichen rechtlichen Gesichtspunkten (komparativen Elementen) in einer anderen Weise mehr oder weniger gerecht. Weil es keinen politischen Spielraum des Richters geben darf, ist jede Rechtsfortbildung zwingend Rechtsfrage im revisionsrechtlichen Sinne. Bleibt die Frage, wann eine Rechtsfortbildung Rechtsverletzung im revisionsrechtlichen Sinne ist.98 Der Revision kommt die Funktion zu, die Bedeutung des Rechts höchstinstanzlich auszulegen und seine richtige Anwendung zu kontrollieren. Das gilt auch für Rechtsinhalte, die nur in komparativen Elementen faßbar sind. Die Revisionsinstanz kann ihre Auffassung von der „goldenen Mitte44 einer komparativen Abwägung letztlich durchsetzen. Anders ausgedrückt: Das Revisionsgericht ist nicht auf die Kontrolle des relativen Wesensgehalts von Rechtsprinzipien anhand eines eingeschränkten „Vertretbarkeitsmaßstabs44 beschränkt. Für eine Beschränkung der Kontrolldichte besteht im Verhältnis der Revisionsgerichte zu den unteren Instanzen auch kein Anlaß. Im Gegenteil: Die Funktion der Obergerichte, das Recht zu vereinheitlichen und selber das Recht fortzubilden, verbietet es, die Begriffe „Rechtsverletzung^ bzw. „Revisibilität" als Einschränkungen der Kontrolldichte gegenüber der Rechtsfortbildung zu begreifen. Die bekannte Beschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte bei Ermessensentscheidungen unterscheidet sich von der Rechtsfortbildung wesentlich: Jene Beschränkungen lassen sich mit der funktionellen Trennung der Gewalten begründen. Danach darf die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung sowie die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers nicht in bestehende Ermessensspielräume eingreifen. Die Revisionsinstanzen sind aber gegenüber den Tatsacheninstanzen nur hinsichtlich der Überprüfung von Tatsachenfragen funktionell beschränkt und also nicht bei der Rechtsfortbildung als Rechtsfrage. Schon des98

Vergleiche etwa § 550 ZPO.

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

halb muß zwischen Rechtsfortbildung und Rechtsanwendung klar unterschieden werden. Die funktionelle Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen kommt in § 550 ZPO bzw. § 337 Abs. 2 StPO zum Ausdruck. Sie kann sich auf die Kontrolle der Rechtsanwendung dort auswirken, wo diese eine umfassende Würdigung der tatsächlichen Umstände voraussetzt. So kommt es zu Bereichen richterlichen Ermessens (etwa bei der Strafzumessung). Die uneingeschränkte Kontrolle der Rechtsfortbildung erstreckt sich auch auf diese Bereiche, in denen die Rechtsanwendung nur beschränkter Kontrolle unterliegt. Deshalb ist es so wichtig, Art. 3 Abs. 1 GG als strengen Maßstab für die Bindung des Rechts an die Verhältnismäßigkeit und damit für eine differenzierte Gleichbehandlung und gleichmäßige Differenzierung zu begreifen. Im Falle der Revision besteht kein Anlaß, die Kontrolldichte dieses strengen Maßstabes aus fünktionellrechtlichen Gründen zu beschränken. Hier ist der rechtliche Gehalt des Art. 3 Abs. 1 GG mit dem Kontrollmaßstab identisch." Die Möglichkeit und Aufgabe der Revisionsgerichte, jegliche Rechtsfortbildung als Rechtsfrage und gegebenenfalls als Rechtsverletzungsfrage zu behandeln, läßt aber keineswegs den Schluß zu, daß die höchstrichterliche Entscheidung über den Einzelfall hinaus Bindungswirkung entfaltet. dd) Das BVerfG kann Rechtsfortbildung auf deren verfassungs-methodenrechtliche Zulässigkeit hin überprüfen. Als methodenrechtliche Maßstäbe des Verfassungsrechts kommen hier vor allem Art. 103 Abs. 2 GG 100 und das Gewaltenteilungsprinzip101 in Betracht. Vor allem für die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Rechtsfortbildung wird es von Bedeutung sein, diese Maßstäbe allgemeingültig zu bestimmen. Die bisherige Rechtsprechung nimmt zu diesen Fragen jedoch nicht nur lediglich punktuell, sondern uneinheitlich Stellung.102 „Vierzu-vier-Entscheidungen"103 und Sondervoten104 mögen ein Indiz dafür sein, daß die Rechtsprechung des BVerfG in diesem Bereich noch in Bewegung ist.

99

Schon Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1318, S. 247 hat festgestellt: „Bei wertender Gebotsbildung ist das Bedürfnis nach „Einheitlichkeit der Rechtsfortbildun^ 4 besonders groß." 100 Hierzu noch unter H II (Exkurs: Die Rechtsprechung des BVerfG zu den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an Normen und deren Auslegung) S. 296 ff. 101 Hierzu grundlegend BVerfGE 34, 269 („Soraya"). 102 Hierzu insbesondere unten S. 296 f. 103 Insbesondere BVerfGE 73,206. 104 BVerfGE 73, 206, 244 und BVerfG NJW 1995, 1141, 1143.

III. Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG

257

b) Zur Bindungswirkung des „Richterrechts": Selbst- und Fremdbindung der Gerichte?

Nicht nur die Obergerichte, sondern vielmehr alle Gerichte und alle Richter sind gegebenenfalls zur Rechtsfortbildung berufen. Daran schließt sich die Frage an, welche Bedeutung solcherichterliche Rechtsfortbildung über den Einzelfall hinaus erlangen kann. Meist wird dieses Problem unter dem Stichwort „Verbindlichkeit des Richterrechts" diskutiert. Dieses Thema gehört zu den meistdiskutierten der Methodenlehre und wurde sogar als deren „praktisch wichtigste(s) Problem" 105 bezeichnet. Inzwischen wurde auch die verfassungsrechtliche Dimension des Themas entdeckt.106 Die Frage, ob ein Gericht an seine eigene Rechtsfortbildung gebunden ist, ist dem Problem der Selbstbindung der Verwaltung verwandt. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG 107 gilt für Gerichte genauso, wie für die Verwaltung (Art. 1 Abs. 3 GG). Insofern kann auf die Ausführungen zur Selbstbindung der Verwaltung verwiesen werden. Soweit es hierbei um komparative Systeme geht, handelt es sich ohnehin allenfalls um eine im Einzelfall zu konkretisierende, flexible Bindung. Deshalb bedarf es hier ebensowenig wie bei der Selbstbindung der Verwaltung besonderer Voraussetzungen für eine Abweichung in Sonderfällen. Der komparative Ermessensspielraum bei der Anwendung solchen Richtergewohnheitsrechts macht es weitgehend überflüssig, Ausnahmen bzw. Abweichungen108 im Einzelfall zuzulassen. Umgekehrt spricht die Möglichkeit einer solchen flexiblen Bindung dafür, im Bereich der Selbst- oder Fremdbindung mit der Bildung starrer Regeln zurückhaltend zu sein. Starre Tatbestände sollten in der Regel vom Gesetzgeber mit entsprechend formeller Bindungswirkung von Gesetzen formuliert werden. Problematischer ist es, Fremdbindungsmechanismen auf das Richtergewohnheitsrecht zu übertragen: Der Richter unterscheidet sich nämlich in seiner Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) wesentlich vom weisungsgebundenen Verwaltungsbeamten. Dennoch ist es möglich, die allgemeine Verbindlichkeit ei105

Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985, 149, 150. Leisner, Richterrecht in Verfassungsschranken, DVB1 1986, 705 m. w. N. in Fußnote 2. Vergleiche auch BVerfGE 78, 123, 126. 107 Tatsächlich argumententieren mit Art. 3 Abs. 1 GG: Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985, 149 und Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 53 ff. und passim. Vergleiche auch Christian, Strukturen juristischer Argumentation, 1977, S. 37 ff. 108 Vergleiche hingegen Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985, 149, 154. Zum Sonderfall der Abweichung von der eigenen Revisionsentscheidung bei zweiter Vorlage in derselben Sache nach Änderung der Rechtsprechung vergleiche GmS-OBG BGHZ 60, 392. Weitere Nachweise zum Streitstand bei Walchshöfer in MüKo ZPO zu § 565 ZPO, Randzeichen 18, Fußnote 53. 106

17 Michael

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

ner Rechtsprechung im Falle des Richtergewohnheitsrechts anzunehmen. Darüber hinaus werden Fremdbindungsmechanismen innerhalb der Rechtsprechung auch in den Vorschriften über Vorlagebeschlüsse und Rechtsentscheide109 vorausgesetzt. Es wurde bereits dargelegt, daß die Rechtsfortbildung der Untergerichte uneingeschränkt revisibel ist. Das bedeutet, daß die Revisionsinstanzen jeweils letztverbindlich das Ermessen zur Rechtsfortbildung ausüben können. Das gilt aber nur für den jeweils zu entscheidenden Einzelfall, da auch höchstrichterliche Entscheidungen grundsätzlich Einzelfallentscheidungen inter partes ohne Rechtswirkung erga omnes bleiben. § 31 Abs. 1 ΒVerfGG ist hiervon eine nicht verallgemeinerbare Ausnahme. Der Prozeß der Rechtsfortbildung ist mit einer einmaligen höchstrichterlichen Entscheidung also keinesfalls abgeschlossen. Vielmehr stehen auch höchstrichterliche Entscheidungen in der Regel erst am Anfang einer Rechtsfortbildung. Bis zur Vollendung eines solchen Rechtsfortbildungsprozesses bleiben lediglich die positivrechtlichen Rechtsprinzipien, an die die Rechtsfortbildung anknüpft, verbindlich. Die positivrechtliche Geltung des fortgebildeten Rechts hängt von weiteren Voraussetzungen ab. Auch ungeschriebenes Recht kann als Gewohnheitsrecht positivrechtliche Geltung beanspruchen. Dies wird nicht ernsthaft bestritten. Allerdings bestehen erhebliche Unsicherheiten über die Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts. Diese Unsicherheiten werden noch dadurch verstärkt, daß sich die im einzelnen ohnehin umstrittenen Voraussetzungen der (dauerhaft?) allgemeinen Übung und allgemeinen Rechtsüberzeugung im Einzelfall nur sehr ungenau nachweisen lassen. Deshalb muß es im Dienste der Rechtssicherheit als erheblicher Fortschritt angesehen werden, daß an die Stelle der historisch zentralen Bedeutung des Gewohnheitsrechts heute grundsätzlich das Gesetzesrecht getreten ist. Dies hat die Vorteile der demokratischen Legitimation, des exakt nachprüfbaren Verfahrens der Gesetzgebung und der hieran anknüpfenden förmlich gesicherten Verbindlichkeit sowie des festlegenden Wortlauts. Das Gesetzesrecht konnte die Geltung und Weiterentwicklung des Gewohnheitsrechts nur in weiten Teilen des Rechts zurückdrängen, nicht aber prinzipiell ersetzen. Die Möglichkeiten gesetzgeberischer Rechtsetzung sind begrenzt. In diesem Zusammenhang stellt sich aber die Frage, welche Rolle (höchstrichterli-

109 Hierzu Landfermann, Rechtsentscheid am Scheideweg, NJW 1985,2609 ff.; M. Wolf in Münchener Kommentar zur ZPO, zu § 132 GVG; Maetzel, Prozessuale Fragen zum Verfahren vor dem „Großen Senat", MDR 1966, 453 ff.; zum Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EGV vergleiche Streinz, Europarecht, 2. Auflage 1995, Randzeichen 577 und Oppermann, Europarecht, 1. Auflage 1991, Randzeichen 656.

III. Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG

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che) Rechtsprechung bei der Bildung von Gewohnheitsrecht hat bzw. haben kann und soll. 110 aa) Eine einzelne höchstrichterliche Entscheidung erfüllt nicht für sich die Voraussetzung des Gewohnheitsrechts. Sie ist lediglich punktuell und gibt zunächst nur die Rechtsüberzeugung der erkennenden Richter wieder. Es fehlt ihr das Element der allgemeinen Übung und allgemeinen Rechtsüberzeugung, das erst eine allgemeine Geltung legitimiert. bb) Allerdings kann einerichterliche Entscheidung Gewohnheitsrecht bestätigen und wiedergeben. Dann ist dessen Geltung aber nicht an die richterliche Entscheidung, sondern an die allgemeinen Entstehungsvoraussetzungen des Gewohnheitsrechts geknüpft. cc) Weniger sicher ist, inwiefern eine Rechtsprechung zur Entstehung von Gewohnheitsrecht einen eigenen Beitrag leistet. Dies ist auf zweierlei Weise denkbar: Entweder jederichterliche Entscheidung wird als Bestätigung bzw. Zerstörung der Übung und Rechtsüberzeugung zum Faktor des allgemeinen Gewohnheitsrechts. Dann wäre Richtergewohnheitsrecht ein Unterfall des Gewohnheitsrechts11 1 . Oder eine ständige Rechtsprechung wird ohne Rückgriff auf diese Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts als Richtergewohnheitsrecht gedeutet. Dann wäre das Richtergewohnheitsrecht ein dem Gewohnheitsrecht verwandter Sonderfall ungeschriebenen positiven Rechts.112 In beiden Fällen muß geklärt werden, ob hierbei die Mitwirkung verschiedener Gerichte einschließlich der Tatsacheninstanzen zwingende Voraussetzung ist. Meines Erachtens kann auf diese Voraussetzung einer allgemeinen Gerichtspraxis nicht verzichtet werden. Erst wenn eine ständige Rechtsprechung existiert und durch andere Gerichte anerkannt wird, ist an eine gewohnheitsrechtliche Bindung zu denken.113 Von einer unterinstanzlichen Anerkennung kann aber noch nicht gesprochen werden, solange sich Unterinstanzen nur nach Rückver110

Zur historischen Einordnung und Bedeutung der richterlichen Rechtsfortbildung vergleiche Mayer-Maly, Über die der Rechtswissenschaft und der richterlichen Rechtsfortbildung gezogenen Grenzen, JZ 1986, 557 f. 111 Hierzu Fikentscher, Methoden des Rechts, Band IV 1977, S. 319 f. Weitere Nachweise bei Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985,149,150, Fußnote 8. Schon Heck, Gesetzesauslegung und lnteressenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1-318, S. 259 sagt, Gewohnheitsrecht und Richterrecht seien „nur dem Grade nach verschieden". 112 Vergleiche etwa Orru, Das Problem des Richterrechts als Rechtsquelle, ZRP 1989, 441, 443. Hierzu auch Sendler, Überlegungen zu Richterrecht und richterlicher Rechtsfortbildung, DVB1 1988, 828, 830 f. Von einer „dritte(n) Rechtsquelle" neben Gesetzesund Gewohnheitsrecht spricht Redeker, Legitimation und Grenzen richterlicher Rechtssetzung, NJW 1972,409,411 m. w. N. 113 Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985, 149, 150 spricht von den „wohlbestätigten Regeln (der Rechtsprechung) als Gewohnheitsrecht". 17*

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

Weisungen der Revisionsinstanz beugen, denn hier ist die Tatsacheninstanz an die Auffassung des Revisionsgerichts gebunden und entscheidet nicht notwendig aus eigener Rechtsüberzeugung. Das Merkmal der Rechts Überzeugung ist aber unverzichtbar. Durch sie unterscheidet sich das Gewohnheitsrecht wesentlich von der formellen Gesetzesbindung. Eine der Gesetzesbindung vergleichbare formelle Bindung an Revisionsentscheidungen über den Einzelfall hinaus ist aber ausgeschlossen. N u n stellt sich die Frage, ob die Überzeugung und Praxis mehrerer Gerichte alleine zur Bildung von Gewohnheitsrecht hinreicht. Dies zu verneinen hieße dem Richterrecht als solchem jegliche Rechtsverbindlichkeit abzusprechen. 1 1 4 Dann hätte auch der Begriff des /frc/tfergewohnheitsrechts keine eigenständige legitime Bedeutung. Jedenfalls hätten dann die Verwaltungspraxis und die Meinungen der Wissenschaftler einen erheblichen positiven bzw. negativen Einfluß auf die Bildung dieses (Richter-) Gewohnheitsrechts. Wenn man hingegen dem Richtergewohnheitsrecht eine eigenständige, von der administrativen und wissenschaftlichen Zustimmung unabhängige Bedeutung zumißt, hätte dies den großen Vorteil, daß sich der ohnehin schwierige und unsichere Nachweis eines allgemeinen Konsenses auf die Gerichte beschränken würde. Die Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist nämlich noch am ehesten festzustellen bzw. zu widerlegen. Aber eine derart selbständige, unabhängige Rechtsfortbildungsfünktion der Gerichte entspricht weder der ursprünglichen Idee des Gewohnheitsrechts, noch unserer modernen Trennung der rechtsetzenden und der rechtsprechenden Gewalten. U m ein solches Richtergewohnheitsrecht als positives Recht zu legitimieren, bedürfte es vielmehr einer Annäherung der Rechtsprechungsfunktion an das Case-law. Allerdings gibt es etwa i m Arbeitsrecht immer wieder Tendenzen, die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts als „Ersatzgesetzgebungf 4 anzuerkennen. Die Entstehung von Richtergewohnheitsrecht setzt Offenheit und Flexibilität des ungeschriebenen positiven Rechts voraus. Nichts anderes darf für die Bindung an so entstandenes Richtergewohnheitsrecht gelten. Das ist vor allem bei der Bildung komparativer Systeme gewährleistet. Deshalb sollte die Bildung starrer Tatbestände als Richtergewohnheitsrecht die keineswegs erstrebenswerte Ausnahme bleiben. Die komparative Berücksichtigung der Einzelfallumstände macht es weitgehend überflüssig, Ausnahmetatbestände zuzulassen. Darüberhinaus muß die abstrakte Fortbildung und Ergänzung der komparativen Elemente stets möglich bleiben. Dadurch w i r d das Problem unter welchen Voraussetzungen

114 Siehe etwa Picker, Richterrecht und Rechtsdogmatik, JZ 1988, 1 (Teil I), 62 (Teil II), 73. Weitergehend Müller, Richterrecht - Elemente einer Verfassungstheorie IV 1986; Hierzu auch Sendler, Richterrecht - rechtsdogmatisch und rechtspragmatisch, NJW 1987, 3240 ff. und Christensen, Richterrecht - rechtsdogmatisch und rechtspragmatisch, NJW 1989, 3194 ff.

III. Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG

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eine einmal gefestigte Rechtsprechung korrigiert und aufgegeben werden darf, 115 weitgehend gegenstandslos. 4. Art. 3 Abs. 1 GG als Gebot der Vergleichung - Bedarf es eines „allgemeinen" Willkürverbotes aus Art. 3 Abs. 1 GG? Das Willkürverbot wird auf zweierlei Weise mit Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung gebracht und bedarf auf zweierlei Weise der Auseinandersetzung und Kritik. Einerseits wird durch eine Beschränkung der Kontrolldichte auf krasse, nämlich willkürliche Fehlwertungen die Wirksamkeit des Gleichheitssatzes eingeschränkt. Dieser Aspekt wird noch zu erörtern sein.116 Andererseits erweitert ein allgemeines" Willkürverbot auch den Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 1 GG auf Fälle, in denen es nicht um die Vergleichung mehrerer Fälle miteinander geht.117 Jedenfalls wird darauf verzichtet, sich auf einen konkreten Beispielsfall vergleichend zu beziehen. Hier scheint das Gefüge des Art. 3 Abs. 1 GG und seine Einordnung in das Verfassungsrecht gesprengt zu werden: 118 Geht es noch um das Problem rechtlicher Gleichheit, wo auf Vergleich verzichtet wird? Oder verleiht das allgemeine Willkürverbot dem Gleichheitssatz einen Gehalt, der über die Gleichheit vor dem Gesetz hinaus geht und allgemeine Gerechtigkeitserwägungen umfaßt? Wird dann aus dem „allgemeinen Gleichheitssatz?' ein „allgemeiner Gerechtigkeitssatz"? Soll in Art. 3 Abs. 1 GG die Gerechtigkeit umfassend geschützt werden? Wie ist dann sein Verhältnis zur „Gesetz und Recht'-Formel des Art. 20 Abs. 3 GG? Ist das allgemeine Willkürverbot nicht besser mit der Rechtsbindung der Gewalten i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG 119 als mit Art. 3 Abs. 1 GG zu begründen? Meines Erachtens darf es beim Gleichheitssatz nur um vergleichende Gerechtigkeitserwägungen gehen. Eine andere Frage ist es jedoch, ob bei krassen Fällen ein bereits entschiedener Vergleichsfall herangezogen werden muß, um 115

Hierzu Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, JZ 1985, 149, 150, der das Problem durch den Vorschlag einer subsidiären ΒindungsWirkung löst (ebenda S. 153 f.). 116 Siehe unter G V I I 1. 117 Kritisch hierzu bereits der Verfassungsrichter Geiger in seinem Sondervotum BVerfGE 42, 64, 79 (82 f)· Diese Kritik hat in der Literatur Zustimmung gefunden etwa bei Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), 174,192; vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 364 f. Weitere Nachweise bei Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot: Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989,107 Fußnote 107. Vergleiche auch Höfling, Das Verbot prozessualer Willkür, JZ 1991, 955 ff. 118 Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot: Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, 108 spricht vom „Willkürvirus". 119 Das BVerfG läßt eine Verletzung des Art. 20 Abs. 3 GG dahinstehen, soweit das Willkürverbot greift, vgl. BVerfG NJW 1996, 1336.

2 6 2 G .

Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

solche Erwägungen sichtbar zu machen.120 Verbot, Erlaubnis bzw. Gebotenheit einer differenzierenden Behandlung richten sich nach dem positiven Recht, auf das Art. 3 Abs. 1 GG insoweit verweist. Wenn eine Einzelfallbehandlung oder ein Gesetz121 aber offensichtlich gegen das positive Recht verstößt, dann ist es überflüssig festzustellen, welche konkreten Fälle anders behandelt werden. Auch kommt es nicht darauf an, ob Vergleichsfalle bereits in der Vergangenheit entschieden wurden. Wenn man davon ausgehen kann, daß jeder hypothetische Fall (zukünftig) in einer bestimmten Weise zu entscheiden ist, dann kann auch diese Feststellung als Vergleichsgrundlage dienen. Das „allgemeine Willkürverbot" verläßt den Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG in der Regel nicht, da es nur offensichtliche Rechtsverstöße erfaßt, für deren Gleichheitsverstoß ohne weiteres beliebige Vergleichsfälle gefunden werden könnten.122 Allerdings muß sich die Bedeutung des „allgemeinen Willkürverbots" auf die vereinfachte Erfassung krasser Ungerechtigkeiten beschränken. Damit ist die Bedeutung des Gleichheitssatzes keineswegs erschöpft, sondern nur die des Willkürverbots. Allerdings darf der Verzicht auf einen konkreten Vergleichsfall nicht auf den über die Willkürfälle hinausgehenden Bereich des Art. 3 Abs. 1 GG erstreckt werden, in dem die Suche nach Vergleichspaaren mühsam sein mag aber unerläßlich ist. Das Willkürverbot hat als Begründungs- bzw. Begründbarkeitsgebot123 eine selbständige, vom Gleichheitssatz unabhängige Funktion. Art. 3 Abs. 1 GG enthält ein darüber hinausgehendes Vergleichungsgebot. IV. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als komparative Struktur des Art. 3 Abs. 1 GG Sowohl der Gleichheitssatz als auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz weisen komparative Strukturen auf. Das ist der theoretische Hintergrund der aktuellen Diskussion darüber, ob der Gleichheitssatz durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt bzw. ergänzt wird. Bestrebungen, die Gebote des Gleichheits120 Wittig, Zum Standort des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im System des Grundgesetzes, DÖV 1968, 817, 822 (Fußnote 67) unterscheidet zwischen tatsächlichem und gedachtem Vergleichspaar. 121 Hier ergänzt Art. 20 Abs. 3 GG mit seiner „Gesetz und Recht-Formel den Gleichheitssatz. 122 Nach Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot: Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, 109 ist sogar in „den meisten dieser (B VerfG-)Entscheidungen... deutlich erkennbar, daß der Willkürprüfung ein Fallvergleich zugrundeliegt". Ähnlich bereits Geiger in seinem Sondervotum BVerfGE 42,64, 79 (82). 123 Vergleiche hierzu Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988,2505,2512.

IV. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als komparative Struktur

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satzes mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu präzisieren, verdienen Zustimmung. Dabei ist es jedoch nicht ohne weiteres möglich, die gewohnten Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit auf Art. 3 Abs. 1 GG zu übertragen. Vielmehr ist es notwendig, zu diesem Zweck zwischen zwei Dimensionen der Verhältnismäßigkeit zu unterscheiden.

1. Zwei Dimensionen der Verhältnismäßigkeit Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i. e. S. 124 wurde bereits als Maßstab der Güterabwägung analysiert. In jüngster Zeit wird diskutiert, ob und gegebenenfalls mit welchem Stellenwert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch als Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes dienen kann. Das BVerfG hat mit seiner „neuen Formel" und deren kritische Deutung durch den Richter Katzenstein125 Anstoß zu dieser Diskussion gegeben, die nicht nur theoretischen Grundlagenwert hat, sondern auch praktisch von größter Bedeutung ist. Der dogmatische Neuansatz des BVerfG war durch die Kritik an der Willkürformel 126 lange vorbereitet worden und wurde in der Literatur überwiegend begrüßt 127. Als Maßstab der Güterabwägung ist die Verhältnismäßigkeit i. e. S. eine Eingriffsschranke. Die Zweck-Mittel-Relation128 zielt auf die Verhältnismäßigkeit 129 eines Eingriffs ab. Die Verhältnismäßigkeit eines Mittels hängt vom Gewicht der mit ihm verfolgten Ziele bzw. des Anlasses der fraglichen Maßnahme ab. Es ist keinesfalls selbstverständlich, daß sich die hierzu erarbeiteten Grundsätze auf die Struktur des Gleichheitssatzes übertragen lassen. Mit Huster 130 ist zunächst zu hinterfragen, wann ein Eingriff in Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt. Nur dann sind die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit als Eingriffskontrolle auf den Gleichheitssatz übertragbar:

124

Vergleiche oben S. 137 ff. Sondervotum BVerfGE 74, 9, 28 ff. 126 Hierzu grundlegend Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), 43, 139, der von einer „Verharmlosung des Gleichheitssatzes zum Willkürverbot" spricht. 127 Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, 778, 781 ff.; Schoch, Der Gleichheitssatz, DVB1 1988, 863, 875 ff.; Zippelius, Der Gleichheitssatz, VVDStRL 47 (1989), 7, 23, Fußnote 75; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 484. 128 Zum Begriff des „Zwecks" siehe oben S. 142. 129 Huster, Rechte und Ziele. Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1993, S. 142 ff. 130 Hierzu ausführlich ebenda S. 225 ff. 125

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

Wenn Art. 3 Abs. 1 GG gegebenenfalls auch Differenzierung gebietet, kann die Differenzierung als solche noch kein Eingriff in Art. 3 Abs. 1 GG sein.131 Ihr Zweck läge in der Gleichberechtigung, ihr Mittel in der tatbestandlichen Differenzierung. Mittel und Zweck weisen hier quasi „in dieselbe Richtung^'. Wenn Differenzierungen als solche an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen sind, versagt die Zweck-Mittel-Relation bzw. das Eingriffsschema der Güterabwägung. Nur Differenzierungen, die nicht zum Zwecke der Gleichberechtigung erfolgen, die vielmehr „externen Zwecken"132 (etwa der Praktikabilität) dienen, sind danach am Eingriffsschema zu messen. Hierzu gehören vor allem typisierende Differenzierungen. Differenzierungen zur Herstellung der Gleichberechtigung folgen hingegen „internen Zwecken" des Art. 3 Abs. 1 GG. Da gerechtigkeitsorientierte 133 Differenzierungen als solche kein „Eingriff in Art. 3 Abs. 1 GG" sind, kann das Eingriffsmodell auch kein Kontrollmaßstab für sie sein. Vielmehr ist an anderen Maßstäben zu messen, ob solche Differenzierungen dem Gleichheitssatz wirklich entsprechen. Nur bei der Rechtfertigung von „externen Zwecken" ist es überhaupt möglich, den als Eingriffsschranke verstandenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf den Gleichheitssatz übertragen zu wollen. Aber mit diesem Hinweis ist lediglich klargestellt, daß Art. 3 Abs. 1 GG nur teilweise dem grundrechtlichen Eingriffsschema unterliegt. Daraus folgt nur, daß die Idee der Verhältnismäßigkeit nicht in ihrer Funktion als Eingriffsschranke greift, soweit Differenzierungen gerade der Gleichbehandlung dienen. Dennoch geht es auch bei den „internen Zwecken" des Art. 3 Abs. 1 GG um Angemessenheit und um Verhältnismäßigkeit.134 Gerade bei der einzelfallbezogenen, gerechtigkeitsorientierten Differenzierung geht es nämlich darum, besondere Verhältnisse angemessen zu berücksichtigen und in diesem Sinne „verhält131

So auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 473. 132 Huster, Rechte und Ziele. Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1993, S. 233. 133 Huster ebenda deutet Art. 3 Abs. 1 GG als Gerechtigkeitsvorschrift. 134 Das von Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, 541, 542 in Fußnote 20 kritisierte „unvermittelte Nebeneinander der Erkenntnis, daß Art. 3 Abs. 1 GG (weitgehend) nicht dem Eingriffsschema unterliegt einerseits, und die Begrüßung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Dogmatik des Gleichheitssatzes andererseits bei Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 473 und 484 (in der 9. Auflage 1993, Randzeichen 495 und 506) ist kein unauflösbarer Widerspruch, sondern fordert eine Synthese heraus. Zwar ist die Prüfung der Verhältnismäßigkeit mit Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit (ebenda Randzeichen 448) noch zu sehr dem Eingriffsschema der Zweck-Mittel-Relation verhaftet. Aber damit ist noch nicht gesagt, daß der Gedanke der Verhältnismäßigkeit grundsätzlich unvereinbar mit dem „internen" Gehalt des Gleichheitssatzes wäre.

IV. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als komparative Struktur

265

nismäßiges"135 Recht zu schaffen. Von Verhältnismäßigkeit kann nämlich in zwei Dimensionen gesprochen werden: a) Die erste Dimension betrifft die Verhältnismäßigkeit jeder Güterabwägung für sich, d. h. das Verhältnis verschiedener konkurrierender Rechtsgüter zueinander. Bei dieser Dimension wird für jeden Fall bzw. für jede Norm einzeln danach gefragt, ob die Eingriffe in Rechtsgüter mit dem Schutz anderer Rechtsgüter zu rechtfertigen sind. Dabei gilt es, ein angemessenes Verhältnis der Rechtsgüter zueinander herzustellen. Diese Dimension der Verhältnismäßigkeit setzt voraus, daß die Rechtsgüter einer gemeinsamen Wertordnung entspringen. Nur innerhalb einer solchen Wertordnung ist es nämlich überhaupt möglich, verschiedene Rechtsgüter miteinander zu vergleichen. Zu dieser Wertordnung gehören sowohl Individual- als auch Gemeinschaftsrechtsgüter. Sie alle stehen in zahllosen Spannungsverhältnissen zueinander, die in jedem Fall zu bestimmen sind. b) Die zweite Dimension der Verhältnismäßigkeit betrifft das Verhältnis der verschiedenen Güterabwägungen zueinander.136 Der abstrakte Wert jedes Rechtsgutes muß wegen Art. 3 Abs. 1 GG immer der gleiche sein. Sein konkretes Gewicht bei der fallbezogenen Güterabwägung ist stets ohne Ansehung der Person zu bestimmen. Beide Dimensionen der Verhältnismäßigkeit knüpfen daran an, daß die Güterabwägungen komparativen Strukturen unterliegen: Je schwerer nämlich ein Rechtsgut innerhalb der Wertordnung abstrakt wiegt 137 und je stärker es konkret betroffen ist (Eingriffsintensität 138 ), desto stärker werden andere Rechtsgüter zurückgedrängt. Die erste und die zweite Dimension der Verhältnismäßigkeit sind

135

In diesem ursprünglichen Sinne verwendet den Begriff der Verhältnismäßigkeit Starck, in v. Mangold, Klein, Das Bonner Grundgesetz Bd. 1, 3. Auflage 1985, zu Art. 3 Abs. 1 GG Randzeichen 7. 136 Schon Wittig, Zum Standort des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im System des Grundgesetzes, DÖV 1968, 817, 822 verweist auf ein „Gebot der Differenzierung zwischen verschiedenen Sachverhalten, bei denen eine verschiedene Relation zwischen Mittel und Zweck besteht". Zur Unterscheidung zwischen der Betrachtung verschiedener Sachverhalte beim Gleichheitssatz einerseits und der davon unahängigen Proportionalitätsprüfung andererseits vergleiche bereits Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht 1961, S. 29 f. und hierzu Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 98 (1973), 568, 585. 137 Hier ist zwischen Individualrechtsgütern und Gemeinwohlinteressen zu unterscheiden. Vergleiche hierzu Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 393 f. m. w. N. aus der Rechtsprechung des BVerfG. 138 Vergleiche Streinz, ebenda S. 393 m. w. N. aus der Rechtsprechung des BVerfG.

266

G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

durch den Begriff der Wertordnung, der ja ein komparatives System darstellt, eng miteinander verbunden. Dennoch dürfen sie nicht verwechselt werden. In der ersten Dimension wird diese komparative Struktur konkretisiert: Für einen konkreten Grad der Betroffenheit eines Rechtsguts wird die Verhältnismäßigkeit zu einem wiederum bestimmten Grad der Betroffenheit eines konkurrierenden Rechtsgutes festgestellt. Die Verhältnismäßigkeit i. e. S. sollte dabei in erster Linie vom Gesetzgeber, in zweiter Linie von der Verwaltung sowie (gegenüber der Verwaltung mit eingeschränkter Kontrolldichte) von der Rechtsprechung und nur in Fällen der Verletzung eines relativen grundrechtlichen Wesensgehalts vom BVerfG festgelegt werden. Gerade weil es sich bei der Verhältnismäßigkeit in der ersten Dimension um eine Konkretisierung einer komparativen Struktur handelt, können aus dieser Konkretisierung komparativ weitere Bindungen erwachsen. Die zweite Dimension verdichtet nämlich den Bindungsmaßstab: Dieser zusätzliche Bindungsmaßstab ist nicht nur trotz sondern gerade wegen der gegebenenfalls beschränkten Kontrolldichte bei jeder Verhältnismäßigkeitsfrage von Bedeutung. Wenn die Kontrolldichte in der ersten Dimension der Verhältnismäßigkeit für die Verfassungs- und Verwaltungsgerichte beschränkt ist, fuhrt das dazu, daß der Gesetzgeber bzw. die Verwaltung eigenverantwortlich das Werteverhältnis der Rechtsgüterfixieren. Diese erstmalig getroffene Festlegung des Werteverhältnisses muß nun nach Art. 3 Abs. 1 GG der zweiten Dimension der Verhältnismäßigkeit zugrundegelegt und zum Selbstbindungsmaßstab für andere Fälle erhoben werden. Diese Selbstbindung ist freilich komparativer Natur und deshalb wiederum in der Kontrolldichte beschränkt. Aber auch wenn für diese erneute Beschränkung der Kontrolldichte dieselben funktionellrechtlichen Grundsätze gelten, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um eine zweite Dimension der Verhältnismäßigkeit und d. h. um einen zusätzlichen, engeren Bindungsmaßstab handelt, dessen Kontrolldichte abermals beschränkt ist. Das abstrakte Gewicht jedes Elementes innerhalb eines komparativen Systems muß immer dasselbe sein. Das konkrete Gewicht der Elemente in der einzelfallbezogenen Abwägung ist zwar immer wieder ein anderes. Aber die Unterschiede des konkreten Gewichts der Elemente müssen dem Verhältnis ihrer graduellen tatsächlichen Betroffenheit entsprechen. Insofern müssen Differenzierungen, am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG gemessen, verhältnismäßig sein. Umgekehrt betrachtet, müssen Abwägungen in bezug auf den Maßstab der Verhältnismäßigkeit gleichmäßig sein. „Gleichmäßig^ sind Abwägungen nur, wenn sie auf dasselbe Maß bezogen sind. Dieses Maß ist das abstrakte Verhältnis der komparativen Elemente zueinander. Somit sind „Verhältnismäßigkeit" und „Gleichmö/J/gkeif' auf dasselbe „ M a ß " und somit aufeinander bezogen. Das ist die Bedeutung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Gleichheits-

IV. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als komparative Struktur

267

satzes.139 Ob man dabei die Verhältnismäßigkeit der Differenzierungen 140 oder die Gleichmäßigkeit der Abwägungen fordert, ist nur eine Frage des Blickwinkels. Die beiden Dimensionen der Verhältnismäßigkeit sind also einander ergänzende Bindungsmaßstäbe. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist in der zweiten (im Gegensatz zur ersten) Dimension keineswegs auf belastende Grundrechtseingriffe beschränkt, sondern ebenso auf begünstigende Regelungen anwendbar. Auch begünstigender Schutz von Rechtsgütern muß nämlich gleichmäßig und den Verhältnissen angepaßt, also im Sinne der zweiten Dimension verhältnismäßig sein. Auch hier geht es um Güterabwägung. Anstelle der Wertung eines Rechtsgütereingriffs tritt gegebenenfalls die Wertung einer Förderung, eines besonderen Schutzes eines Rechtsguts. Die für die erste Dimension der Verhältnismäßigkeit typische Abwägung mehrerer konkurrierender Rechtsgüter gegeneinander ist in der zweiten Dimension nicht erforderlich. Insofern ist zutreffend von einer „Erweiterung des Anwendungsfeldes" 141 des Verhältnismäßigkeitsprinzips über das „Zweck-Mittel-Verhältnis" bzw. das „Recht der Eingriffsverwaltungf' hinaus gesprochen worden. Eine weitere Frage läßt sich durch den hergestellten Zusammenhang zwischen dem Gleichheitssatz und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einerseits sowie den Inhalten des positiven Rechts andererseits beantworten: Die »Anwendbarkeif ' des Art. 3 Abs. 1 GG auf zwei Vergleichsfälle hängt nicht vom Grad ihrer Ähnlichkeit, nicht von ihren tatsächlichen Gemeinsamkeiten, sondern vielmehr von der Betroffenheit derselben (außerhalb des Art. 3 Abs. 1 GG normierten) Rechtsgüter ab. Ihr Schutz, ihre rechtliche Bewertung muß in der Rechtsordnung als einer Wertordnung einheitlich sein. Nur solche Fälle, die dieselben Rechtsinhalte berühren sind insoweit miteinander zu vergleichen.

2. Zur Herleitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips Zwei Dimensionen der Verhältnismäßigkeit ergänzen sich: Damit läßt sich die vieldiskutierte142 Frage, welcher Verfassungsnorm (insbesondere dem Rechts-

139 Hill, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL Heft 47 (1989), S. 172 ff., S. 184 m. w. Ν. 140 Hill ebenda spricht von „verhältnismäßige(r) Gleichbehandlung". 141 Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 45. 142 Zum Ganzen vergleiche Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot: Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 85 ff.

2 6 8 G .

Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

staatsprinzip143, den Grundrechten 144, Art. 1 Abs. 1 GG 145 oder Art. 3 Abs. 1 GG 146 ) der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu entnehmen ist, nur differenziert beantworten: Die erste Dimension der Verhältnismäßigkeit setzt rechtlich geschützte Werte (Rechtsgüter) voraus und entspringt dem Art. 20 Abs. 3 GG. Im Falle der Grundrechte ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bereits diesen selbst bzw. der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG zu entnehmen. Die zweite Dimension der Verhältnismäßigkeit hingegen beruht auf Art. 3 Abs. 1 GG. Soweit man für das Begründbarkeitsgebot von Entscheidungen nicht Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 3 Abs. 1 GG, sondern Art. 1 Abs. 1 GG bemüht,147 begründet auch die Menschenwürde dieses methodenrechtliche Gebot. 3. Exkurs: Zum allgemeinen Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitsprinzip im Europarecht Der EG-Vertrag enthält keinen geschriebenen allgemeinen Gleichheitssatz. Die geschriebenen Vertragsnormen (insbesondere Art. 6 Abs. 1,40 Abs. 3 Satz 2 und 119 EGV) stellen nur Teilaspekte des allgemeinen Gleichheitssatzes dar. 148 Das schließt freilich nicht aus, den Gleichheitssatz als „allgemeinen Rechtsgrundsatzf' der Gemeinschaft zu bestätigen. Dies setzt voraus, daß der Gleichheitssatz „den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam"149 ist. Indes ist eine ge143

So die wohl herrschende Meinung; vergleiche etwa Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 98 (1973), 568,584 und Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Auflage 1994, § 10 Randzeichen 17. Zahlreiche weitere Nachweise auch zur Gegenmeinung bei Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot: Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 114, Fußnote 147 f. 144 Häberle, „Gemeinwohljudikatui" und Bundesverfassungsgericht, AöR 1970,86,107, begründet die Ableitung „aus dem Wesen der Grundrechte selbst". Zustimmend Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht 1979, S. 233 m. w. N. in Fußnote 123. 145 So Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot: Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 104. 146 Wittig, Zum Standort des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im System des Grundgesetzes, DÖV 1968, 817, 819 ff. 147 Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot: Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 97 f. Allerdings gibt Dechsling, ebenda S. 111 zu bedenken, „ebenso wie Art. 1 Abs. 1 GG (berge) der allgemeine Gleichheitssatz ein Gebot vernünftigen Entscheidend". 148 Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht 1990, S. 30. 149 So Art. 215 Abs. 2 EGV, der solche Rechtsgrundsätze allerdings voraussetzt. Deren Herleitung obliegt der „Recht"-sprechung des EuGH i. S. d. Art. 164 EGV. Vergleiche etwa Pernice, in Grabitz/Hilf, Kommentar zur Europäischen Union zu Art. 164 EGV, Randzeichen 42 ff. m. w. N.

IV. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als komparative Struktur

269

meinschaftsimmanente Geltung des allgemeinen Gleichheitssatzes nicht unumstritten 150. Der EuGH hingegen hält die Geltung eines ungeschriebenen allgemeinen Gleichheitssatzes einschließlich eines Differenzierungsgebotes 151 in ständiger Rechtsprechung für geradezu selbstverständlich.152 Die dogmatischen Einwände hiergegen können nicht überzeugen. Erstens ist der allgemeine Gleichheitssatz wie kein zweiter Rechtsgrundsatz mit dem Grundprinzip des Rechts und der Gerechtigkeit verknüpft. Schon deshalb bedarf es fur seine positive Geltung weder einer geschriebenen, gemeinschaftsvertraglichen Bestätigung, noch einer näheren Begründung. Zweitens wird die Geltung des allgemeinen Gleichheitssatzes in keiner denkbaren Rechtsordnung durch spezielle Regelungen überflüssig. 153 Solche speziellen Ausprägungen ersetzen nämlich nicht die methodenrechtliche Dimension des Gleichheitssatzes, die für jede spezielle Rechtsanwendung zu beachten ist. Es wird sogar vertreten, daß der im Gemeinschaftsrecht geltende allgemeine Gleichheitssatz im Gegenteil „stärker und strenger ausgeprägt ist als im deutschen Verfassungsrecht" 154. Diese These ist vom hier vertretenen Standpunkt aus zu präzisieren: Sofern die Ziele und Kompetenzen der Gemeinschaftsorgane enger als im nationalen Recht gefaßt sind,155 mag dies tatsächlich zur Folge haben, daß der Ermessensspielraum der Organe eingeschränkt und die Kontrolldichte des EuGH verschärft wird. Das ist aber eine Folge der „konkreten vertraglichen oder sekundärrechtlichen Vorgaben"156 und gerade nicht die Folge eines verdichteten Gleichheitssatzes. Der allgemeine Gleichheitssatz bezieht sich auf positive Rechtsinhalte.157 Seine methodenrechtlichen Auswirkungen bestimmen sich nach Inhalt und Struktur des jeweils gleichmäßig anzuwendenden positiven Rechts. Im Falle des Gemeinschaftsrechts mögen diese Strukturen gewisse Besonderheiten 150

So schreibt Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 723: „Der allgemeine Gleichheitssatz - Gleichheit vor dem Gesetz i. S. d. Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) - findet im positiven Gemeinschaftsrecht keinen allgemeinen Ausdruck, indes in allen Bereichen vielfältige Spezifizierung." Weitere Nachweise zu den kritischen Stimmen bei Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht 1979, S. 197 in Fußnote 744. 151 Vergleiche EuGH Slg. 1963, 384. 152 Zur Bestätigung des allgemeinen Gleichheitssatzes durch den EuGH vergleiche Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht 1990, S. 19 ff. m. w. N. Vergleiche auch Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht 1979, S. 197 ff. m. w. N. Nach Pernice, ebenda hält der EuGH eine Begründung für entbehrlich. 153 Vergleiche Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 723 f. und hierzu Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht 1979, S. 197 Fußnote 744. 154 Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht 1990, S. 111 ff. (113). 155 Ebenda, S. 113. 156 So begründet Mohn, ebenda ihre These selbst. 157 Hierzu oben G III.

270

G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

aufweisen, wobei vor allzu pauschalen Rückschlüssen hier gewarnt sei. Auch im nationalen Recht sollte sich die für das Gemeinschaftsrecht richtig herausgearbeitete Einsicht durchsetzen, daß ,glicht jeder sachliche Grund eine Ungleichbehandlung rechtfertigt" 158. Vielmehr ist die rechtliche Qualität der Gründe entscheidend. Insofern darf zwischen gemeinschaftsrechtlichen bzw. nationalrechtlichen Differenzierungsgründen kein Unterschied gemacht werden. Richtig ist also, daß der Gleichheitssatz bei unterschiedlichen Rechtsinhalten mal dichtere mal weniger strenge Auswirkungen hat. Unumstritten ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein allgemeiner Rechtsgrundsatz auch im Gemeinschaftsrecht. 159 Dies hat auch der EuGH in ständiger Rechtsprechung bestätigt.160 Bemerkenswert ist, daß auch im Europarecht der Zusammenhang zwischen Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeit diskutiert wird. 161 Der EuGH ist dem BVerfG hier sogar mit der Formulierung einer Rechtfertigung für Ungleichbehandlung um Jahre voraus.162 Noch früher 163 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diesen Weg beschritten und damit die dogmatische Entwicklung vorangetrieben. 164 Diese Phasenverschiebung liegt vielleicht nicht zuletzt an den unterschiedlichen Texten bzw. Textstufen 165 des allgemeinen Gleichheitssatzes, auf die sich die drei Gerichte jeweils beziehen. Der EuGHMR bezieht sich auf Art. 14 der EMRK. Dieser stellt, genau betrachtet, eine unserem Art. 3 Abs. 3 GG vergleichbare spezielle Ausprägung des Gleichheitssatzes dar. Für die speziellen Diskriminierungsverbote hat auch das BVerfG stets eine spezielle Dogmatik mit strengeren Anforderungen vertreten.

158

Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht 1990, 111 ff. (113). Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht 1979, S. 234 m. w. N. bezeichnet ihn als „übergreifende Leitregel allen Gemeinschaftshandelns". 160 Etwa EuGH Slg. 1980, S. 1978 (1997). 161 Hierzu insbesondere Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht 1979, S. 206 f. 162 Vergleiche etwa EuGH Slg. 1977, 1396. Die grundlegende Entscheidung des BVerfG zur sog. „neuen Formel" in E 55, 72 ist vom 7.10.1980. 163 Schon in dem Urteil vom 23. 7. 1968 EuGHMR Serie A, Nr. 6, S. 34 = EuGRZ 1975, 301. 164 Hierzu vergleiche Sorensen, Berührungspunkte zwischen der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Recht der Europäischen Gemeinschaften, EuGRZ 1978, 33,35 und Ganshof van der Meersch, Fragen von allgemeinem Interesse, die sich für einen Gedanken- und Informationsaustausch eignen, EuGRZ 1978, 37, 39 f. 165 Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. und passim; ders., Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen - ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127 ff. Weitere Nachweise in Fußnote 37 auf S. 27. 159

V. Art. 3 Abs. 1 GG als Methodennorm zur Rechtsgewinnung

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In diesem Zusammenhang ist aber auf eine darüber hinausgehende Besonderheit des Art. 14 EMRK hinzuweisen: Die dort genannten Differenzierungsverbote beziehen sich ausdrücklich auf den „Genuß der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten". Darin kommt der hier vertretene Gedanke166 zum Ausdruck, daß sich der Gleichheitssatz auf Inhalte positiven Rechts bezieht, was für den allgemeinen Gleichheitssatz um so mehr gelten muß. Damit liegt es auf der Hand, daß es bei einer Diskriminierung i. S. d. Art. 14 EMRK gleichzeitig um einen Eingriff in (Freiheits-)Rechte geht. Daß derartige Eingriffe am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu messen sind, ist keine dogmatische Besonderheit. Ob der EuGHMR über ein derartiges Nebeneinander von Gleichheitssatz und Verhältnismäßigkeitsmaßstab dogmatisch tatsächlich hinausgeht, läßt sich m. E. nicht nachweisen. Diesen Weg der auf den Gleichheitssatz bezogenen Verhältnismäßigkeit beschreitet allerdings Pernice 167. Dieser Ansatz hat in der europarechtlichen Literatur Zustimmung gefunden. 168 Damit bleibt festzuhalten, daß sich der hier vertretene Ansatz in die Dogmatik des Gemeinschaftsrechts nahtlos einfügt. Mehr noch überwindet er die bislang angenommenen Unterschiede zwischen Art. 3 Abs. 1 GG und dem allgemeinen Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht.

V. Art. 3 Abs. 1 GG als Methodennorm zur Rechtsgewinnung (Rechtsetzung) und Rechtsfindung (Rechtsanwendung) Die Bildung komparativer Systeme verstößt grundsätzlich nicht gegen den Gleichheitssatz. Die Flexibilität der komparativen Systeme wird der Idee des Art. 3 Abs. 1 GG sogar besonders gerecht, wenn zwei Voraussetzungen vorliegen: Erstens muß die Bildungflexibler Normen aufgrund der Flexibilität der zu regelnden Sachverhalte geboten sein. Zweitens muß die Anwendung der komparativen Systeme gleichmäßig geschehen. Art. 3 Abs. 1 GG ist in doppelter Weise die verfassungsrechtliche Methodennorm komparativer Systeme: Erstens fordert der Gleichheitssatz die Bildung komparativer Systeme. Zweitens lenkt er methodenrechtlich deren Anwendung.

166

Vergleiche oben III („Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG als notwendige Voraussetzung des Art. 3 Abs. 1 GG"), S. 244 ff. 167 Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht 1979, S. 206: „Die Unterschiedlichkeit der Behandlung darf zu derjenigen der Sachverhalte nicht außer Verhältnis stehen". 168 Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht 1990, S. 112, spricht noch deutlicher vom „Verhältnis zu dem Grad der Unterschiedlichkeit der Sachverhalte".

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

1. Legitimation der Bildung komparativer Systeme durch Art. 3 Abs. 1 GG Die inhaltlichen Maßstäbe der nach Art. 3 Abs. 1 GG erlaubten bzw. gebotenen Differenzierungen sind dem positiven Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG zu entnehmen. Solche Differenzierungskriterien können entweder starre Tatbestandsmerkmale oder komparative Elemente sein. Die Frage, welche tatsächlichen Unterschiede rechtlich fur den Gleichheitssatz relevant sind, ist also eine Frage des Art. 20 Abs. 3 GG. Art. 3 Abs. 1 GG fordert den Vergleich zwischen Fällen und möglichst gleichmäßig differenzierte Konsequenzen aus diesem Vergleich. Dieser Methode wird in besonderer Weise eine (graduelle) Berücksichtigung der Einzelfallumstände gerecht. Der Gleichheitssatz legitimiert also eine Rechtsgewinnung, bei der graduelle Unterschiede auch komparativ berücksichtigt werden. Voraussetzung der Bildung komparativer Systeme ist, daß es tatsächlich um eine Tatbestandsbildung für graduelle Unterschiede geht. Die Alternative ist die Bildung starr typisierender Tatbestände. Unter Typisierungen sind solche starren Tatbestandsmerkmale zu verstehen, denen graduell unterscheidbare Tatsachen zugrundeliegen. Sie sind nicht mit solchen Umständen zu verwechseln, die nur vorliegen oder nicht vorliegen können und somit einer graduellen Wertung in komparativen Systemen gar nicht fähig sind. Nur bei graduell unterscheidbaren Umständen stellt sich also die Frage, ob ihre rechtliche Berücksichtigung typisiert oder aber komparativ erfolgen soll. Eine Typisierung ist zwar in Maßen sinnvoll, wo eine einzelfallbezogene Wertung zu Rechtsunsicherheiten führt oder nur schwer praktikabel ist. Es kann also nicht geleugnet werden, daß Typisierungen Vorteile haben. Aber eine komparative Berücksichtigung gradueller Merkmale kommt der Einzelfallgerechtigkeit näher. Der Gleichheitssatz gebietet gleichmäßige Differenzierungen und tendiert damit zur Bildung komparativer Systeme anstelle von Typisierungen. Typisierungen sind Eingriffe in Art. 3 Abs. 1 GG. 169 Sie haben allenfalls unter Praktikabilitätsgesichtspunkten dennoch vor Art. 3 Abs. 1 GG Bestand, wenn es sich dabei um hinreichend differenzierte Gleichbehandlungen handelt. Die Typisierung und nicht deren Alternative eines komparativen Systems ist also gegenüber Art. 3 Abs. 1 GG zu rechtfertigen. Die Zwecke und Vorteile einer Typisierung liegen nicht innerhalb des Gleichheitssatzes, sondern sind außerhalb der einzelfallbezogenen Gerechtigkeit zu suchen. Man kann sie mit Huster 170 als „externe Ziele" bezeichnen. Sie sind als Eingriffe in den Gerechtigkeitsgehalt des Gleichheitssatzes mit dem Maßstab der 169

Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, 541, 544 f.; ders., Rechte und Ziele. Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1993, S. 245 ff. 170 Huster, Rechte und Ziele. Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1993, S. 233.

V. Art. 3 Abs. 1 GG als Methodennorm zur Rechtsgewinnung

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Verhältnismäßigkeit zu rechtfertigen. Eine Ermessensnorm hingegen sowie jedes komparative Element, das die Ermessensausübung binden soll, wird dem Gleichheitssatz strukturell in besonderer Weise gerecht. Der Unterschied zwischen komparativen Systemen und Typisierungen läßt sich wie folgt zusammenfassen: Bei den komparativen Systemen werden die Differenzierungen konkret im Einzelfall vorgenommen. Der Gleichheitssatz gebietet deshalb bei der komparativen Rechtsanwendung eine sorgfältige Gleichmäßigkeit der Differenzierungen. Bei den Typisierungen hingegen erfolgt die Differenzierung schon im Rahmen der abstrakten Rechtsetzung und nicht erst bei der einzelfallbezogenen Rechtsanwendung. Der Gleichheitssatz gebietet dann eine sorgfältige Differenziertheit bei der Formulierung abstrakt typisierender Tatbestände. Aus Art. 3 Abs. 1 GG ergeben sich grundsätzlich gerade keine Einwände gegen die einzelfallbezogene Methode komparativer Systeme.171 Ebensowenig darf Art. 3 Abs. 1 GG dazu dienen, bestehende komparative Systeme durch falsch verstandene Selbstbindungsmechanismen zu starren Tatbeständen zu verfestigen. Im Gegenteil enthält Art. 3 Abs. 1 GG einen Auftrag, komparative Systeme als verbindliche Differenzierungskriterien 172 zu bilden, wo Wertungen sonst „offen" sind. Die Festlegung komparativer Elemente muß vor allem die problematische „Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls" ersetzen.173 Die Rechtssicherheit und Art. 3 Abs. 1 GG gebieten es, allgemeine Kriterien zu dafür suchen, welche Umstände des Einzelfalls in welcher Weise Berücksichtigungfinden sollen. Der Gleichheitssatz ruft dazu auf, Gesichtspunkte zu verallgemeinern. Ein erster Schritt hierzu erinnert an den kategorischen Imperativ: Nur Gesichtpunkte, die der Verallgemeinerung fähig sind, sollen überhaupt rechtserhebliche Kriterien zur Differenzierung sein. Wenn das beachtet wird, ist auch der zweite Schritt nicht unüberwindbar, nämlich aus verallgemeineròtfrerc Gesichtspunkten positives Recht fortzubilden. Wenn es sich dabei um graduelle Gesichtspunkte handelt, sollen sie als komparative Elemente in das Recht eingehen und nicht in starren Tatbeständen ihren einzelfallbezogenen Gerechtigkeitsgehalt preisgeben. Komparative Elemente nennt Art. 3 Abs. 1 GG nicht selbst. Art. 3 Abs. 1 GG enthält also eine komparative Struktur ohne eigene komparative Elemente.

171 Vergleiche Schilcher, Gesetzgebung und bewegliches System, in Bydlinski (Hrsg.), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 287 ff., S. 302 f. 172 Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, 2505, 2511 liest aus Art. 3 Abs. 1 GG für die Verwaltung eine Pflicht zur „Bildung von Differenzierungskriterien" und ebenda S. 2512 für die Rechtsprechung eine „Pflicht zu Dogmatik". 173 Hierzu schon unter 3, S. 57 ff.

18 Michael

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

2. Methodenrechtliche Maßstäbe für die Anwendung komparativer Systeme — Art. 3 Abs. 1 GG als Ermessensmethodennorm Alle Menschen sind nur dann „vor der Ermessensnorm gleich", wenn sich erstens die Ermessensausübung nach objektiven Maßstäben richtet und wenn zweitens diese Maßstäbe einen allgemeingültigen Stellenwert erhalten. Das Wort „Ermesse" kann im Lichte des Gleichheitssatzes nur bedeuten, daß Art und Grad der Einzelfallunterschiede zu messen sind und sodann eine Differenzierung „nach Maß14 erfolgt. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet es, in dieser Weise Einzelfälle zu vergleichen, da nur durch Vergleich festgestellt werden kann, was Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet. Dieser Vergleich muß rechtlichen Maßstäben genügen. Das gebietet wiederum Art. 20 Abs. 3 GG. Gibt das Gesetz selbst die komparativen Elemente vor, so sind sie es, die die Methodennorm des Art. 3 Abs. 1 GG inhaltlich füllen. Die Formulierung „Gesetz und Recht" gebietet es, über die Achtung der geschriebenen Gesetze hinaus ein Rechtsbewußtsein zu entwickeln. Art. 20 Abs. 3 GG enthält den Auftrag, ungeschriebenes Recht zu erkennen und zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln. Dieser Auftrag richtet sich nach Art. 20 Abs. 3 GG ausdrücklich an die Rechtsprechung und die Verwaltung. Dazu gehört es auch, bestehende Spielräume durch komparative Systeme zu füllen, d. h. die rechtlich in Betracht kommenden komparativen Gesichtspunkte über den Einzelfall hinaus festzulegen. Der Rechtsbegriff des Grundgesetzes birgt so in Art. 3 Abs. 1 GG mit Art. 20 Abs. 3 GG die Idee des kategorischen Imperativs, nämlich der Verallgemeinerung staatlicher Handlungsmaximen. Besonders weit in die Fragen des Art. 3 Abs. 1 GG als Rechtsanwendungsmaßstab ist die Lehre vom Verwaltungsermessen vorgedrungen. Hierzu ist folgendes zu sagen: Komparative Elemente schränken die Ermessensausübung nicht ein, sondern sind deren Voraussetzung. Komparative Elemente objektiv-rechtlich herauszuarbeiten, ist eine gemeinsame Aufgabe aller Verwaltungsträger. Hierzu gehört die unterbehördliche Entwicklung einer ständigen Praxis. Komparative Elemente zu komparativen Systemen zusammenzufassen, ist die besondere Aufgabe der Oberbehörden. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften dienen mitunter diesem Ziel. So ergänzen sich die Verwaltungsträger im Falle des Verwaltungsermessens gegenseitig. Ist dieses Ziel tatsächlich erreicht, haben sich also über den Einzelfall hinaus komparative Systeme herausgebildet, so steht ihrer Anerkennung als bindendes Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG nichts im Wege. Art. 3 Abs. 1 GG ist die zentrale Methodennorm der Ermessensausübung und wird deshalb zutreffend im Rahmen der Selbstbindung der Verwaltung regelmäßig herangezogen. Eine solche Selbstbindung darf jedoch nicht das Wesen der Ermessensentscheidung als einzelfallbezogene Wertung in sein Gegenteil umkehren. Art. 3 Abs. 1 GG darf deshalb nie als Argument gegen die Berück-

VI. „Systemgerechtigkeit" komparativer Systeme?

275

sichtigung von Einzelfallumständen angeführt werden. So klingt es aber oft an, wenn Art. 3 Abs. 1 GG einerseits die Selbstbindung der Verwaltung begründen und andererseits die Gefahr der Pauschalisierung, der Starrheit gegenüber den Besonderheiten des Einzelfalls sowie der Ermessensunterschreitung in sich bergen soll. 174 Für eine so verstandene Selbstbindung der Verwaltung kann Art. 3 Abs. 1 GG nicht herangezogen werden. Sie würde dem Sinn des Ermessens, nämlich der Möglichkeit der Einzelfallwertung zuwiderlaufen. Solche Wertung der Einzelfallumstände bleibt nur dann Ermessensausübung, wenn sie anhand komparativer Elemente erfolgt, also rechtliche Gesichtspunkte graduell berücksichtigt. Art. 3 Abs. 1 GG kann einzig die Legitimation einer Selbstbindung der Verwaltung im Sinne einer Bindung an komparative Systeme liefern, so wie sie hier vorgeschlagen wurde. Gegen eine derartige komparative Bindung bestehen aber nicht die genannten Bedenken, denn komparative Systeme strukturieren die einzelfallbezogenen Ermessensentscheidungen, ohne dabei die Ermessensausübung als solche durch starre Bindungen zu ersetzen. In dieser Weise könnten der verwaltungsrechtliche und der verfassungsrechtliche Ansatz einander ergänzen. Art. 3 Abs. 1 GG gibt die Methode der Ermessensausübung vor: Ermessensentscheidungen sind nach folgendem Schema zu vergleichen: Je größer die Unterschiede zwischen zwei Fällen sind, desto eher bzw. desto stärker ist zwischen ihnen zu differenzieren. Wenn dieses einfache Schema beachtet wird, bestehen im Hinblick auf die Gleichmäßigkeit der Differenzierung keine Bedenken. Eine methodenrechtlich disziplinierte Ermessensausübung kann dadurch viel differenzierte Gleichmäßigkeit gewährleisten wie jede Anwendung starrer Tatbestände.

VI. „Systemgerechtigkeit" komparativer Systeme? Daß der Gleichheitssatz eine Art der „Systemgerechtigkeit" fordere, ist oft behauptet und heftig bestritten worden. Dabei gehen schon die Vorstellungen darüber weit auseinander, wie weit Begriff und Idee der Systemgerechtigkeit reichen sollen. Ein Kern von Systemgerechtigkeit ist m. E. nichts anderes als die ohnehin allgemein anerkannten Bedeutungen des Art. 3 Abs. 1 GG. Da nun aber die Reichweite des Gleichheitssatzes über diesen Kernbereich hinaus unendlich umstritten ist, ist auch die Diskussion um die Systemgerechtigkeit „nur" ein Streit mit anderen Worten um das eine Thema der Reichweite des Art. 3 Abs. 1 GG. In der Sache führt Systemgerechtigkeit zu der eben erörterten „verhältnismäßigen" Gleichbehandlung. Beide Ansätze beziehen sich nämlich notwendig auf die vergleichende Dimension von Wertordnungen. 174

Vor einer „zu weit" gehenden Selbstbindung der Verwaltung über Art. 3 Abs. 1 GG warnt bereits Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 682. 18*

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

Ob man solche Wertordnungen nun als „Systeme" bezeichnet, oder aber das „Verhältnis" der Wertungen zueinander betrachtet, ist kein Unterschied.175 Beide Ansätze haben einen wahren Kern. Beide Ansätze sollten sich gegenseitig ergänzen aber auch beschränken: Die Verhältnismäßigkeit kann im Gleichheitssatz nur die Rolle eines „systematischen" Vergleichs von Wertungen spielen, die hier als zweite Dimension der Verhältnismäßigkeit bezeichnet wurde. Verhältnismäßigkeit ist also ohne den „Systemgedanken" kein tragfähiger Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG. Der Begriff der „Systemgerechtigkeit darf umgekehrt nicht mehr und nicht weniger bedeuten als eine „Gerechtigkeit" systematisch-ver/zä/inismäßiger Abwägungen. Die Systemgerechtigkeit kann als solche deshalb nicht etwa den hier bereits vorgezeichneten Rahmen des Gleichheitssatzes sprengen - und zwar weder als Bindungsmaßstab noch hinsichtlich der Kontrolldichte. Wie hinter den Erweiterungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips steht auch hinter dem Gedanken der Systemgerechtigkeit einrichtiger Ansatz: Beim Gleichheitssatz geht es um die Widerspruchsfreiheit, die Einheitlichkeit verschiedener Wertungen.176 Daß die so vom Gleichheitssatz geprägte Wertordnung ein „System"177 im logischen Sinne sei, ist nie ernsthaft behauptet oder gefordert worden. Entsprechend darf auch der Begriff der Systemgerechtigkeit nicht logisch überstrapaziert werden. Andererseits macht der Begriff Systemgerechtigkeit deutlich, daß es in Art. 3 Abs. 1 GG gerade nicht um tatsächliche Gleichheit geht. Weil es zwei identische Fälle (logisch!) nicht geben kann, hängt die Wertung des Gleichheitssatzes immer von einer relativen, „systematischen Gerechtigkeit" ab. Aber auch die Kritiker der Systemgerechtigkeit haben vor einem wesentlichen Mißverständnis zu Recht gewarnt. Art. 3 Abs. 1 GG selbst bestimmt nicht, welche der Wertungen die „richtige" ist und ob, mit anderen Worten, der Gleichheitssatz eine Korrektur des einen oder anderen Falles im Dienste eines Systems gebietet. Das folgt vielmehr aus dem übrigen positiven Recht. Das ergibt sich schon daraus, daß Art. 3 Abs. 1 GG eine „inhaltsleere" Methodennorm ist. Art. 3 Abs. 1 GG kann also nicht die inhaltsbezogene Wertordnung prägen oder ersetzen. Der Gleichheitssatz fordert lediglich eine solche Wertordnung und kann sie soweit zum Maßstab machen, wie sie als positives Recht bereits existiert. Nur solche Rechtspositionen können im Rahmen des Gleichheitssatzes „systematische" 175

Schilcher, Gesetzgebung und bewegliches System, in: Bydlinski (Herausgeber), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 287 ff., S. 302 spricht von „proportionale(r) Gleichbehandlung im beweglichen System". 176 Vergleiche hierzu und zur „Einheit der Rechtsordnung 4 Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 33. 177 Zu diesem Begriff vergleiche oben Fußnote 12 auf Seite 19. Vor allem ist hier nicht an ein geschlossenes System zu denken; vergleiche Pietzcker, Selbstbindungen der Verwaltung, NJW 1981, 2087, 2092.

VI. „Systemgerechtigkeit komparativer Systeme?

277

Qualität erhalten, die sich als Grundwertungen des positiven Rechts nachweisen lassen. Das ist an sich nichts Überraschendes und entspricht den gebräuchlichen Argumentationsfiguren der „systematischen Auslegung^' oder analogen Übertragung eines „Rechtsgedankens". Systematische Erwägungen setzen stets eine „systemfeste", d. h. verallgemeinerbare Grundwertung als Anknüpfungspunkt voraus. Zu fragen ist deshalb zunächst, ob der gewählte Vergleichsfall systematisch verwertbare Grundaussagen zum Ausdruck bringt. Dies ist der Fall, wenn aus ihm Schlüsse auf die Interpretation der Wertordnung, auf die Einschätzung verschiedener Wertigkeiten gezogen werden können. Das wiederum setzt voraus, daß es sich um ungeschriebene oder geschriebene positiv-rechtliche Gesichtspunkte handelt. Am deutlichsten hat Schmitt Glaeser178 daraufhingewiesen, daß es zur Begründung der Systemgerechtigkeit jeweils eines einfachrechtlichen Maßstabes bedürfe. 179 Mit dieser These ließe sich immerhin für Teilbereiche des Rechts ein Gebot der Systemgerechtigkeit begründen. So sei etwa mit dem Gebot der gerechten Abwägung im Raumplanungsrecht180 ein Element der Systemgerechtigkeit nachweisbar. Ausdrücklich distanziert sich Schmitt Glaeser jedoch davon, den Gedanken der Systemgerechtigkeit zu verallgemeinern. 181 Nun ist es jedoch Aufgabe der vorliegenden methodenrechtlichen Arbeit, dogmatische Strukturen soweit wie möglich(!) zu verallgemeinern. Dazu gehört es auch und gerade, die Grenzen möglicher Verallgemeinerung einer Methode aufzuzeigen. In zweifacher Hinsicht ist dabei dem von Schmitt Glaeser vorgeschlagenen Konzept zuzustimmen: Erstens ist nicht jede Rechtsnorm und nicht jeder Fall dazu geeignet, systematische Erwägungen zu begründen. Zweitens existiert auch keine Methodennorm, die als Gebot der Systemgerechtigkeit jede rechtliche Erwägung zur systematischen erheben könnte. Diese kritische Haltung gegenüber einem „allgemeinen Rechtsgrundsatz^' der Systemgerechtigkeit kommt auch bei Peine zum Ausdruck, 178

Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, in Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes 1979, S. 291, 295, 302 ff. 179 Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot: Eine Bestandsaufnahme der Literatur zur Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns, 1989, S. 58 interpretiert Hesses „praktische Konkordanz^4 aus der Einheit der Verfassung heraus als den genau entgegengesetzten Ansatz, der „nur die Optimierung verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgütei" (Hervorhebung im Original) umfasse. 180 Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, in Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes 1979, S. 291, 295, 297 ff. Schmitt Glaeser ebenda S. 299 deutet auch auf die Parallelregelungen in anderen Gesetzen des Planungsrechts hin. 181 Ebenda S. 292.

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

wenn er sagt, mit „Systemgerechtigkeit" oder „Konsequenzgebot" werde das Problem „nur benannt"182. Auch Art. 3 Abs. 1 GG hält als Methodennorm hierfür keine Lösung bereit. Sonst müßte der allgemeine Gleichheitssatz seine eigene Anwendbarkeit regeln. Die bislang hieraus gezogene Konsequenz wäre, den Maßstab für die Systemgerechtigkeit allenfalls einfachrechtlich und d. h. nur in einzelnen Teilbereichen des Rechts anzuerkennen. Das hieße gleichzeitig, auf ihre verfassungsrechtliche Verankerung, sei es im Rechtsstaatsprinzip183 oder im Gleichheitssatz184, zu verzichten. Nun ist aber kaum zu leugnen, daß insbesondere der Gleichheitssatz den rechtlichen Vergleich normiert, für den Systemgerechtigkeit nur ein anderes Wort ist. Aus diesem Dilemma gibt es zwei Auswege: 1. Schmitt Glaeser unterscheidet zwei verschiedene Grade, mit denen eine Verfassungnorm betroffen sein kann: Zwar enthalte das Verfassungsrecht Prinzipien, denen die Systemgerechtigkeit in besonderer Weise entspreche, aber keine verfassungsrechtliche Norm, aus der sie sich ergebe 185. Eine derartige Unterscheidung ist auf der Ebene des Verfassungsrechts jedenfalls zulässig: Nicht alles einfache Recht ergibt sich zwingend aus dem Verfassungsrecht. Das Verfassungsrecht enthält vielmehr nur Kernaussagen unseres Rechts. Diese müssen von den staatlichen Gewalten zwar beachtet werden. Ihr „Wesensgehalt" unterliegt sogar der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Aber das beläßt den Hoheitsträgern, insbesondere den Parlamenten einen Gestaltungs- bzw. Ermessensspielraum, Verfassungsprinzipien über dieses Mindestmaß hinaus zu verwirklichen. Wenn dies im Fall der Systemgerechtigkeit auf einfach-gesetzlicher Ebene geschieht, so darf daraus noch nicht geschlossen werden, daß ein entsprechend weitgehendes verfassungsrechtliches Gebot besteht. Daß es einfachrechtliche Gebote der Systemgerechtigkeit gibt und daß diese dem Verfassungsrecht „entsprechen", beweist zwar nicht, daß die Systemgerechtigkeit auch Verfassungsgebot ist. Damit ist aber die verfassungsrechtliche Verankerung und Verallgemeinerung der Systemgerechtigkeit auch noch nicht widerlegt. Deshalb soll hier ein anderer Ausweg aus dem o. g. Dilemma vorgeschlagen werden: 2. Bei der Systemgerechtigkeit geht es nicht um einen inhaltlichen Maßstab, sondern um ein methodenrechtliches Prinzip. Begreift man Art. 3 Abs. 1 GG

182

Peine, Systemgerechtigkeit, Die Selbstbindung des Gesetzgebers als Maßstab der Normenkontrolle, 1985, S. 297. 183 So der BayVGH, BayVBl 1978, 271 Leitsatz 8. 184 Hierzu Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, in Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes 1979, S. 291, 305 f. 185 Ebenda S. 303.

VI. „Systemgerechtigkeit 4' komparativer Systeme?

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(wie auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip 186 ) als Methodennorm, so ist schon damit demrichtigen Einwand Rechnung getragen, daß Systemgerechtigkeit stets an nachweisbare, positivrechtliche Inhalte anknüpfen muß. Gleichzeitig eröffnet dies jedoch die Möglichkeit, einen verfassungsrechtlichen Wertungsmaßstab an einfachrechtliche Voraussetzungen zu binden: Soweit es sich um verfassungsrechtliches Methodenrecht handelt, ist es nämlich keinesfalls undenkbar, dessen Anwendbarkeit von einer Rechtslage abhängig zu machen, die selbst unterhalb der Ebene des Verfassungsrechts entsteht. Außerdem sollte die Bedeutung des Verfassungsrechts nicht auf einen verfassungsgerichtlich überprüfbaren Mindestgehalt dessen, was sich inhaltlich aus der Verfassung „ergibt", beschränkt werden. Jenseits dieses Kernbereichs verfassungsrechtlicher Garantien sollte nicht unterschiedslos von bloßem einfachen Recht gesprochen werden: Die Grenze zwischen dem Mindestgehalt verfassungsrechtlicher Prinzipien und einer darüber hinausgehenden Verwirklichung verläuft nicht dort, wo zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht unterschieden wird, sondern bestimmt innerhalb des Verfassungsrechts eine der Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte. Das hat folgende Vorteile: Erstens behält das Verfassungsrecht seine volle inhaltliche Bedeutung als Wertungsmaßstab auch dort, wo es nicht um verfassungs gerichtliche Kontrollmaßstäbe geht. Zweitens wird dadurch deutlich, daß es lediglich inhaltlicher Ausfüllung durch das positive Recht bedarf, um das methodenrechtliche Prinzip der Systemgerechtigkeit zu „aktivieren". Das gilt dank der Universalität des Verfassungsrechts nicht nur im öffentlichen Recht bzw. im Planungsrecht, sondern kann gegebenenfalls in allen Teilen unseres Rechts relevant werden. Systemgerechtigkeit im hier verstandenen Sinn ist nämlich immer dann geboten, wenn im positiven Recht komparative Systeme nachweisbar sind. Es darf auch nicht der Eindruck entstehen, als beziehe sich Art. 3 Abs. 1 GG bzw. das Gebot der Systemgerechtigkeit nur auf einfachrechtliche Inhalte. Auf „eine bestimmte Rechtsqualität der einzelnen Elemente"187 kommt es nicht an, d. h. sie können auch, müssen aber nicht Verfassungsrang besitzen. Dem methodenrechtlichen Gebot der gerechten Abwägung verleiht der Gleichheitssatz Verfassungsrang. Im Planungsrecht ist dieses Gebot zwar vielfach einfachgesetzlich bestätigt und präzisiert worden. Aus einer derart ausdrücklichen einfachgesetzlichen Bestimmung kann weder der Schluß auf ihren Verfassungscharakter noch der Gegenschluß auf deren Rang unterhalb des Verfassungsrechts gezogen werden. Nicht alles positive Recht ist bereits verfassungsrechtlich gebo186

Schon Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 77 Fußnote 164 m. w. N. hat die Frage aufgeworfen, ob es sich beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit um eine Methodennorm oder um materielles Recht handelt. 187 So bereits Heibig, Raumordnerische Aspekte des BayVGH-Beschlusses zur gemeindlichen Zuordnung des Regensburger Osthafens, BayVBl 1978, 263, 265. Terminologisch hervorzuheben ist, daß Heibig hier-freilich ohne Bezugnahme auf Willburgs „bewegliche Elemente" von „Elementen" spricht.

280

G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

ten. Aber manche einfachgesetzliche Norm findet doch eine allgemeine verfassungsrechtliche Entsprechung. Ein positiver einfachrechtlicher Befund sagt also nichts über die Rangfrage. Auch das Argument, das Verfassungsrecht sei bei inhaltlicher Identität zweitrangig 4 , kann allenfalls für die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde von Bedeutung sein, hindert aber gerade nicht deren letztliche Zulässigkeit. Der Gesetzgeber ist sogar soweit gegangen, Normen des einfachen Rechts (fast) textidentisch in das Grundgesetz aufzunehmen. 188 Das ist noch weniger überflüssig oder delatorisch als der umgekehrte Vorgang. Die ausdrücklichen Abwägungsgebote des Planungsrechts stellen vor allem klar, daß es sich bei den Planungsgesichtspunkten tatsächlich um komparative Elemente handelt. Damit klären sie in gesetzgeberisch vorbildlicher Weise,189 daß das Gebot der Systemgerechtigkeit hier Anwendungfindet. Soweit hier die Anwendbarkeit einer verfassungsrechtlichen Methodennorm von einfachrechtlichen Voraussetzungen abhängt, ist es sinnvoll und begrüßenswert, wenn der Gesetzgeber diese Anwendbarkeitsfragen einfachgesetzlich klärt. Abwägungsgebote gelten aber nicht nur dort, wo dies vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgeschrieben wird. Vor allem das Verfassungsrecht selbst enthält eine Wertordnung, die entsprechender gerechter Abwägungen fähig und bedürftig ist. Aber auch das Zivilrecht und das Strafrecht kennen zahlreiche komparative Systeme, die eine Art der Systemgerechtigkeit einfordern, wie sie für das Planungsrecht unumstritten ist. Hier ist es von entscheidender Bedeutung, daß die Verfassungsrechtler auf die strukturelle, d. h. methodenrechtliche Verallgemeinerungsfahigkeit der Systemgerechtigkeit hinweisen. Deshalb sind der verfassungsrechtlichen Methodenlehre hier zwei Aufgaben gestellt: Erstens muß sie die Methodennormen des Grundgesetzes herausarbeiten und benennen. Zweitens muß sie deren Voraussetzungen klären und verallgemeinerungsfähig formulieren. ad 1. Art. 3 Abs. 1 GG ist die zentrale Methodennorm der komparativen Systeme. Systemgerechtigkeit sollte deshalb nicht vorrangig auf das Rechtsstaatsprinzip gestützt werden, wie es etwa der BayVGH 190 versuchte: „Das Gemein-

188

Vergleiche etwa Art. 103 Abs. 1 und 2 GG oder Art. 97 Abs. 1 GG. Schon Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 161 hat gefordert, daß der Gesetzgeber „ein Optimum (kein Maximum) an Normierung der maßgebenden einzelnen Gesichtspunkte^) öff. Interessen" (Hervorhebung nicht im Original) erreicht. Dies ist dem Gesetzger - wie Häberle feststellt mit „Insbesondere-Tatbeständen" auch „meist vorbildlich" gelungen. 190 Vergleiche Fußnote 183 auf S. 278. 189

VI. „Systemgerechtigkeit komparativer Systeme?

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wohlprinzip fordert das System und das Rechtsstaatsgebot seine Einhaltung."191 Gleichwohl verdienen auch der Gemeinwohlgedanke und das Rechtsstaatsgebot ihren Platz bei der Entwicklung und Anwendung komparativer Systeme. Der Gemeinwohlgedanke ist ein inhaltlicher Wertmaßstab,192 der das Wesen öffentlichrechtlicher Abwägungsvorgänge kennzeichnet. Er prägt wie kein anderer jedenfalls im öffentlichen Recht Anwendungsfelder der Systemgerechtigkeit. Die Bindung an Gesetz und Recht wurde bereits als in Art. 3 Abs. 1 GG „mitgedacht" dargestellt und findet so auch ihren Niederschlag in der Systemgerechtigkeit. Aber das Vergleichungs- und Abwägungsgebot des Gleichheitssatzes bleibt dennoch das ,»Herzstück" der hier relevanten Methodennormen. ad 2. Die Voraussetzungen der Systemgerechtigkeit hat Schmitt Glaeser für den Fall des Raumordnungsrechts bereits exakt benannt. Da es sich um rein strukturelle Voraussetzungen handelt, steht ihrer Verallgemeinerung in der Methodenlehre nichts im Wege. Die entscheidende Besonderheit der planungsrechtlichen Systemgerechtigkeit charakterisiert Schmitt Glaeser so: ,Anders als die 'klassischen' Rechtsnormen enthalten Planungsrechtssätze keine Konditionalprogramme, bei denen der Entscheidungsvorgang nach dem ' Wenn-dann-Schema' (Tatbestand-Rechtsfolge-Schema) abläuft ... An die Stelle eines nach dem 'Wenn-dann-Schema' gesteuerten Entscheidungsprozesses ... muß das Zweckprogramm, die final programmierte Norm treten, die... ein anzustrebendes 'ZieV vorgibt, den Weg zu diesem Ziel, insbesondere die Wahl der Mittel, grundsätzlich der exekutivischen Planausführung überläßt (Zweck-MittelSchema)." 193 Aus dieser Charakterisierung wird dreierlei deutlich. Erstens: Es handelt sich um die Voraussetzungen, die hier als Merkmale komparativer Systeme im Gegensatz zu „Wenn-dann-Tatbeständen" herausgearbeitet wurden. Auch werden die Notwendigkeiten („Komplexität der zu ordnenden Sachverhalte"194) und Vorteile („erforderliche Flexibilität"195) komparativer Systeme angedeutet. Zweitens: Bei komparativen Systemen sind anstelle subsumtionsfähiger Tatbestandsmerkmale wenigstens die Zwecke und Ziele vorgegeben, die hinter der rechtlichen Wertung stehen sollen. Dies wurde hier 196 besonders an den Strafzumessungsregeln demonstriert. Drittens: Die Systemgerechtigkeit bezieht sich auf ZweckMittel-Abwägungen. Da die Zweck-Mittel-Abwägungen unstreitig dem klassi191

So faßt Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, in Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes 1979, S. 291, 294, die Ausführungen des BayVGH zu einer griffigen Lehrformel zusammen. 192 Vergleiche ebenda S. 305. 193 Ebenda S. 295 f. (Hervorhebungen nicht im Original). 194 Ebenda S. 296 m. w. N. 195 Ebenda. 196 Oben F II 2 b.

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

sehen Verhältnismäßigkeitsprinzip (der ersten Dimension) unterliegen, wird dadurch bestätigt, daß es sich bei der Systemgerechtigkeit um dessen zweite Dimension handeln könnte.197 Das Vorhandensein eines komparativen Systems ist also, allgemein gesprochen, die Voraussetzung des Gebotes der Systemgerechtigkeit. Daß komparative Systeme nicht in „alle(n) Bereiche(n) des Rechts"198 vorzufinden sind, sei gerne zugegeben. Ihre erhebliche praktische Bedeutung gerade bei den schwierigen Wertungsfragen kann indes nicht bezweifelt werden. Und das gilt für die Wertungsfragen fast aller Rechtsgebiete. Dies rechtfertigt es aber, dieses Phänomen als „allgemeines Rechtsstrukturproblem" in der Methodenlehre zu behandeln. Die,Essens" des grundlegenden Aufsatzes von Schmitt Glaeser, nämlich daß das Gebot der Systemgerechtigkeit von einem bestimmten positivrechtlichen Befund abhängt, ist verallgemeinerbar. Daraus ist nämlich folgendes zu schließen: Art. 3 Abs. 1 GG 199 erweitert nie selbst „Wenn-dann-Tatbestände" zu komparativen Systemen. Auch der Gedanke der Systemgerechtigkeit darf nicht dazu führen, daß strikt formulierte Tatbestandsmerkmal allgemein zu komparativen Elementen „aufgeweicht44 werden. Mit einer so verstandenen Systemgerechtigkeit würden „die ,klassischen' Rechtsnormen"200 sowohl systematisch überfordert, als auch der methodischen Klarheit ihrer „Wenn-dann-Struktui" beraubt. Deshalb wurde in der vorliegenden Arbeit auch die Grundregel aufgestellt, daß die Tatbestandsmerkmale starrer Tatbestände mit „Wenn-dann-Struktui" grundsätzlich nicht als komparative Elemente behandelt werden dürfen. 201 Nur mit diesem Hinweis lassen sich dieselben Vorbehalte, die gegen die Idee der „Systemgerechtigkeit" wie auch gegen Wilburgs „bewegliche Systeme" oft geäußert wurden, 197

Allerdings nennt Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, in Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes 1979, S. 291, 297 bereits jeglichen Abwägungsvorgang und damit auch bereits die Verhältnismäßigkeit in der ersten Dimension ein „systematisches Vorgehen". Daß es jedoch einer Unterscheidung zwischen den beiden Dimensionen der Verhältnismäßigkeit bedarf, wird ebenda S. 303 sichtbar: Wenn nämlich das Übermaß verbot herangezogen werden kann, „ohne daß hierbei ... auf irgend ein System rekuriert würde", ist das ein Grund dafür, die Systemgerechtigkeit mit einer neuen Dimension der Verhältnismäßigkeit zu verknüpfen. Bezeichnenderweise taucht bei der Aufzählung der Verfassungsprinzipien ohne notwendigen Systembezug (Übermaßverbot, Vertrauenschutzprinzip, Grundsatz rechtlichen Gehörs) der Gleichheitssatz nicht auf. Gerade in ihm ist jedoch die spezifische Methodennorm der Systemgerechtigkeit zu suchen. 198 Ebenda S. 292. 199 Vergleiche auch oben G III („Rechtsinhalte i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG als notwendige Voraussetzung des Art. 3 Abs. 1 GG"), S. 244 ff. 200 Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, in Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes 1979, S. 291, 295. 201 Hierzu F III 1.

VI. „Systemgerechtigkeit komparativer Systeme?

283

zerstreuen. Aufgabe der Methodenlehre muß es sein, beide Arten der strikten bzw. komparativen Rechtskonkretisierung zu unterscheiden und ihre jeweiligen Vorteile zur Wirkung zu bringen. Was die Systemgerechtigkeit im einzelnen gebietet, zeigt das Beispiel202 des Bauplanungsrechts und sein Gebot gerechter Abwägung.203 Abschließend sei noch kurz auf die Frage der Bindung des Gesetzgebers an die Systemgerechtigkeit eingegangen: Als methodenrechtliches Gebot mit Verfassungsrang ist die Systemgerechtigkeit grundsätzlich auf alle staatlichen Gewalten anzuwenden. Das ist gerade ein Vorteil der verfassungsrechtlichen Verankerung dieses Prinzips. Es gilt wegen Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich auch für den Gesetzgeber. Allerdings ist die Frage, welcher positivrechtliche Befund die oben genannten Voraussetzungen erfüllt und gleichzeitig den Gesetzgeber binden kann. Gesucht sind also komparative Systeme, die für den Gesetzgeber verbindlich sind. Dies können nur verfassungsrechtliche Inhalte sein. Hierzu gehört der gesamte Bestand der Wertordnung des Grundgesetzes. Nicht hingegen kann über Art. 3 Abs. 1 GG eine Bindung des Gesetzgebers an einfachrechtliche Inhalte hergeleitet werden. Hierin ist den Kritikern gegen die Systemgerechtigkeit zuzustimmen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Systemgerechtigkeit hier auf Art. 3 Abs. 1 GG gestützt wurde und dieser den Gesetzgeber bindet. Denn die Bindung des Art. 3 Abs. 1 GG erstreckt sich ausschließlich auf seinen methodenrechtlichen Gehalt und nicht auf die Inhalte, die Art. 3 Abs. 1 GG voraussetzt. Die Bindungen an Rechtsinhalte ist in Art. 20 Abs. 3 GG geregelt, der hier klar zwischen der Bindung der Verwaltung und Rechtsprechung an das gesamte positive Recht einerseits und der des Gesetzgebers nur an die verfassungsmäßige Ordnung andererseits unterscheidet. Art. 3 Abs. 1 GG kann sich mit seiner methodenrechtlichen Bindung damit für den Gesetzgeber nicht auf Inhalte beziehen, die für diesen nicht verbindliches Recht darstellen. Dies schließt für den Gesetzgeber aber ein Gebot der Systemgerechtigkeit hinsichtlich des einfachen Rechts aus. Auch scheidet eine verfassungsgerichtliche Kontrolle der Systemgerechtigkeit gegenüber der Verwaltung bzw. Rechtsprechung hinsichtlich einfachrechtlicher Inhalte aus diesem Grunde aus: Inhaltlicher Rechtsbindungsmaßstab ist hier nicht das Verfassungsrecht. Damit kann es hier auch keine verfasswtfgsgerichtliche Kontrolle geben. Etwas anderes gilt freilich, wenn sich hinter den einfachrechtlichen Rechtsinhalten die Güter des Verfassungsrechts verbergen, 202

Hierzu F II 2 d. Vergleiche bereits die exemplarische Darstellung für das Raumplanungsrecht bei Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, in Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes 1979, S. 291, 301 f. 203

284

G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

was im Falle der Verwaltungstätigkeit eher typischerweise als ausnahmsweise der Fall ist. VII. Kontrollmaßstäbe des Gleichheitssatzes: Überlegungen zur Kontrolldichte des Art. 3 Abs. 1 GG Es wurde bereits festgestellt, daß auch im Bereich des Verfassungsrechts die Kontrolldichte hinter den rechtlichen Bindungsmaßstäben zurückbleiben kann.204 Dies betrifft vor allem die verwaltungs- und verfassungsgerichtliche Kontrolle. Als Kontrollmaßstäbe kommen dabei Maßstäbe sehr unterschiedlicher Dichte in Betracht - vom Willkürverbot bis zum Optimierungsgebot. Die Frage, welche Kontrolldichte im einzelnen geboten ist, kann nicht allgemein beantwortet werden, sondern hängt von zwei Kriterien ab: Erstens205 ist zu fragen, um welchen Bindungsmaßstab es geht: Hier ist zwischen den zwei Dimensionen der Verhältnismäßigkeit zu unterscheiden. Während bei der ersten Dimension der Verhältnismäßigkeit die Kontrolldichte gegebenenfalls auf das Übermaßverbot zu beschränken ist, bezieht sich das Willkürverbot als gegebenenfalls beschränkter Kontrollmaßstab auf die zweite Dimension der Verhältnismäßigkeit. Zweitens206 hängt die Frage, ob die Kontrolldichte im Einzelfall tatsächlich zu beschränken ist, von einer fünktionsrechtlichen Betrachtung ab. Diese hat zu berücksichtigen, wer wen kontrolliert. 1. Verschiedene Kontrollmaßstäbe Der allgemeine Gleichheitssatz enthält nicht nur verschiedene rechtliche Bindungsmaßstäbe vom Differenzierungsverbot über das Ermessen bis zum Differenzierungsgebot. Vielmehr muß darüber hinaus zwischen verschiedenen Kontrollmaßstäben unterschieden werden. Für die beiden starren Bindungsmaßstäbe, das Differenzierungsverbot und das Differenzierungsgebot, kommt keine Beschränkung der Kontrolldichte in Betracht. Hier sind Bindungs- und Kontrollmaßstab identisch. Etwas anderes hingegen gilt für den Ermessensbereich des Art. 3 Abs. 1 GG. Zwei Kontrollmaßstäbe werden vor allem kontrovers diskutiert, das Willkürverbot und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Das Willkürverbot stellte in der Rechtsprechung des BVerfG lange eine unüberwindliche Grenze der Kontrolldichte dar. Hieran ist in der Literatur immer wieder Kritik geübt worden, da Art. 3 Abs. 1 GG als Kontrollmaßstab so 204 205 206

Oben G II 2. Unter G IV 1. Unter G V I I 2.

VII. Kontrollmaßstäbe des Gleichheitssatzes

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weitgehend leerlief. Mit der sog. „neuen Formel" ist der Eindruck entstanden, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz solle das Willkürverbot ablösen und die Kontrolldichte erhöhen. Dieser Eindruck täuscht aber darüber hinweg, daß diese beiden Maßstäbe ganz unterschiedliche Blickrichtungen haben und deshalb keineswegs austauschbar sind. Sowohl die Bedeutung des Willkürverbots als auch die des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geht über die Grenzen des Art. 3 Abs. 1 GG hinaus. Beide Maßstäbe stellen indessen nur jeweilige Teilaspekte des Gleichheitssatzes dar. Nur die vergleichsbezogene Willkürformel entspringt dem Art. 3 Abs. 1 GG. Nur die vergleichende, zweite Dimension der Verhältnismäßigkeit bezieht sich auf den Gleichheitssatz. Es ist also ungenau, von „dem Willkürverbot" oder „dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz" als Maßstäben des Gleichheitssatzes zu sprechen. Vor allem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist ein Oberbegriff für so viele Maßstäbe, daß auch über seine Kontrolldichte kein allgemeines Urteil möglich ist: Es muß vielmehr zwischen Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, zwischen Optimierungsgebot und Übermaßverbot sowie zwischen der ersten und der zweiten Dimension der Verhältnismäßigkeit unterschieden werden. a) Beschränkung auf die Willkürkontrolle?

Zu Recht wird das Willkürverbot als unantastbarer Kern des Gleichheitssatzes angesehen. Die Kontrolldichte dürfte nie weiter als bis auf die Willkürkontrolle beschränkt werden. Eine „Kontrolle", die nicht einmal Willkür zu rügen hätte, würde ihren Namen nicht verdienen. Wenigstens das Willkürverbot muß nicht nur Bindungs-, sondern auch Kontrollmaßstab unserer Rechtsordnung sein. Das gilt sowohl für die vergleichende Betrachtung willkürlicher Ermessensausübung, die in den Bereich des Art. 3 Abs. 1 GG fällt, als auch für das hierüber hinausgehende „allgemeine Willkürverbot", das besser dem Rechtsstaatsprinzip und der Bindung an Gesetz und Recht nach Art. 20 Abs. 3 GG zugeordnet wird. Ob das Willkürverbot jedoch als Kontrollmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG ausreicht, ist eine andere Frage. Diese Frage kann aber nur sinnvoll beantwortet werden, wenn gleichzeitig weitergehende Kontrollmaßstäbe genannt werden, die die Willkürkontrolle ersetzen oder wenigstens ergänzen können. Deshalb sind nun die Bestrebungen zu diskutieren, die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum Kontrollmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG erheben wollen. b) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Kontrollmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG?

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird zu Recht als Bindungsmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG diskutiert. Zwar hat Huster nachgewiesen, daß auf den Gleich-

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Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

heitssatz nicht ohne weiteres die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit als Eingriffsschranke übertragbar sind.207 Das heißt aber nicht, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur bei Eingriffen in den Gleichheitssatz greifen könne. Vielmehr müssen darüber hinaus eingriffsunabhängige Maßstäbe der Verhältnismäßigkeit formuliert werden. Deshalb wurden hier zwei Dimensionen der Verhältnismäßigkeit unterschieden. Verhältnismäßigkeit steht nicht nur Eingriffen in den Gleichheitssatz als Schranke entgegen, sondern ist selbst ein immanentes Prinzip der Rechtsgleichheit. Es ist davor gewarnt worden, daß die Verhältnismäßigkeit einen so „dichten" Bindungsmaßstab darstelle, daß eine entsprechende Ausdehnung der Kontrolldichte die sonst anerkannten Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers208 und der Verwaltung zunichte machen würde. Dieser Einwand ist nun zu untersuchen: Tatsächlich wäre es nicht wünschenswert, wenn Gerichte und insbesondere das BVerfG Abwägungs- und Wertungsfragen in einem Maße kontrollierten, daß sie die Entwicklung und den Wandel der Wertordnung allein bestimmten. Ein Kernbereich der politischen Gestaltungsfreiheit bzw. des Ermessensspielraums der Verwaltung überschreitet die Funktion der Gerichte, nämlich das vorgegebene Recht zu hüten. Dieses Problem ist aber keineswegs neu. Es entsteht nicht erst mit der Diskussion um die Verhältnismäßigkeit als Bindungsmaßstab des Gleichheitssatzes. Vielmehr ist diese Frage sowohl in bezug auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (in seiner ersten Dimension) als auch für den Gleichheitssatz als Ermessensmaßstab zur Kontrolle der Selbstbindung der Verwaltung bekannt. Deshalb liegt es nahe, die längst bekannten Lösungsansätze für die Verhältnismäßigkeitskontrolle im allgemeinen und die Gleichheitssatzkontrolle im besonderen auch auf deren Kombination zu übertragen. Das führt zu einer Beschränkung der Kontrolldichte. Wenn das BVerfG mit seiner „neuen Formel" tatsächlich nicht nur den rechtlichen Bindungsmaßstab des Gleichheitssatzes, sondern mit ihm auch den gerichtlichen Kontrollmaßstab fortentwickeln und unangemessen verdichten wollte, so wäre Kritik tatsächlich angebracht. Welche Kontrolldichte hat nun aber die sog. „neue Formel" des BVerfG? Soweit es sich bei der neueren Rechtsprechung des BVerfG zum Gleichheitssatz um „die Ausdehnung verfassungsgerichtlicher Kontrolle auf die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes"209 handelt, ist weiter zu fragen, zu welchem Graddev Kontrolldichte das führt. Katzenstein behauptet lediglich, daß dadurch die Kontrolldichte gegenüber der Willkürklausel erhöht sei. Er sieht hierin jeden207

Vergleiche Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, 541, 545. Hierauf hat bereits Katzenstein in seinem Sondervotum zum Beschluß des Ersten Senats des BVerfG vom 18. 11. 1986 BVerfGE 74, 9, 28, 29 f. aufmerksam gemacht. 209 Ebenda. 208

VII. Kontrollmaßstäbe des Gleichheitssatzes

287

falls „ eine Einschränkung der vom Bundesverfasungsgericht ständig betonten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers"210 ohne diese aber näher zu bestimmen. c) Eigener Ansatz

Eine verfassungsgerichtliche Verhältnismäßigkeitskontrolle darf auch in der ersten Dimension der Verhältnismäßigkeit nicht die Kontrolldichte eines Optimierungsgebots (insbesondere der praktischen Konkordanz) umfassen. 211 Optimierungsgebote zwingen dazu, den exakten Punkt der Wertigkeiten der Wertordnung zu bestimmen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat aber nur die Funktion, den relativen Wesensgehalt der verfassungsrechtlichen Werte zu garantieren. Das BVerfG soll nicht die Regelung suchen, die jenen Werteausgleich nach seiner Auffassung(!) am ausgewogensten und angemessensten verwirklicht. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle hat nur Fälle einer „wesentlichen" Wertverletzung, d. h. „wesentlicher" Unangemessenheit zu kassieren. Eine so verstandene Verhältnismäßigkeitskontrolle ist also auch in der ersten Dimension der Verhältnismäßigkeit bereits auf das Übermaßverbot „beschränkt". Entsprechendes muß auch für die Verhältnismäßigkeitskontrolle in der zweiten Dimension gelten, die in den Normbereich des Art. 3 Abs. 1 GG fallt. Auch hier soll das BVerfG nicht nach der gerechtesten komparativen Lösung suchen. Es soll nicht selbst die Frage stellen, welche Differenzierungen es für die angemessensten hielte. Auch hier muß sich eine Kontrolle auf die Frage beschränken, ob die von den staatlichen Gewalten getroffenen Differenzierungen im Rechtssinne „wesentlich" außer Verhältnis zu den tatsächlichen Unterschieden stehen. Eine solche Verhältnismäßigkeitskontrolle muß sich darauf beschränken, Vergleichsfälle in ein komparatives Wertsystem einzuordnen. So sollte die Formulierung der sog. „neuen Formel" verstanden werden, wonach gerichtlich nur zu überprüfen ist, ob „keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten"212. Wenn hierbei ein Wertungsspielraum unüberprüft bleiben soll, muß sich die Kontrollinstanz auf die Frage beschränken, ob die Differenzierung auf rechtlich zulässigen Differenzierungskriterien beruht. Dies ist der Fall, wenn sich die Differenzierung in ein komparatives System einordnen läßt. Das Willkürverbot mißt die Differenzierung daran, ob sie unter irgend einem rechtlichen213 Gesichtspunkt zu rechtfertigen ist. In der Regel wird der Nachweis 210

Ebenda (Hervorhebung nicht im Original). Hierzu oben unter F I I 1 c (2). 212 BVerfGE 55, 72, 88. 213 Die Rechtsqualität der Differenzierungskriterien verkennt Steindorff, Der Gleichheitssatz im Wirtschaftsrecht des Gemeinsamen Marktes, 1965, S. 2., wenn er kritisiert, „daß das bloße Willkürverbot keine Beschränkung der Gründe kennt, die eine ungleiche 211

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Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

eines einzigen komparativen Elementes ausreichen, um eine einzelfallbezogene Differenzierung zu begründen. Das Differenzierungskriterium muß dabei als komparatives Element Rechtsqualität i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG haben, damit das Willkürverbot nicht jegliche Kontur verliert und Rechtsmaßstab bleibt. 214 Das Willkürverbot eignet sich somit als Ausgangspunkt: Es ist im Kontrollmaßstab für die zweite Dimension der Verhältnismäßigkeit enthalten. Die Formulierung der sog. „neuen Former' präzisiert diesen Ansatz lediglich. 2. Funktionellrechtliche Beschränkungen der Ermessenskontrolle Der auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ausgedehnte Inhalt des Gleichheitssatzes darf nicht zu einer übermäßigen fünktionellrechtlichen 115 Verschiebung der Gewalten zugunsten der Gerichte und des BVerfG führen. Die Kehrseite des Verhältnismäßigkeitsprinzips darf nicht eine übermäßige Ausdehnung der Kontrolldichte sein. Im Gegenteil zwingt erst die Anerkennung der Verhältnismäßigkeit als Bindungsmaßstab dazu, die Kontrolldichte zu beschränken. Umgekehrt erlaubt die Idee der beschränkten Kontrolldichte es, funktionellrechtliche Gesichtspunkte nicht auf den Inhalt des Bindungsmaßstabes „durchschlagen" zu lassen. Die Bindungsdichte des Art. 3 Abs. 1 GG reicht also weiter als die Kontrolldichte. 216 Die Trennung von Bindungs- und Kontrolldichte erlaubt es, einerseits den Bindungscharakter des Verfassungsrechts einheitlich und unbeschränkt zu formulieren und andererseits der Gewaltenteilung doch in differenzierender Weise Rechnung zu tragen. Die Beschränkung der Kontrolldichte darf nicht zu rechtsfreien Gestaltungsräumen führen, sondern sollte umso größere Selbstverantwortlichkeit der Hoheitsträger 217 bei der Ausübung rechtlichen Ermessens anmahnen. Behandlung zu rechtfertigen vermögen. Jeder unter irgendeinem Gesichtspunkt sachliche Grund läßt nach den Maßstäben des Willkürverbots eine Differenzierung als gerecht erscheinen." (Hervorhebung nicht im Original). 214 Zum abweichenden Verständnis des Willkürverbots vergleiche Fußnote 213. 215 Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), 174, 185 unterscheidet zwischen der materiellrechtlichen Frage nach dem Inhalt des Gleichheitssatzes und der fünktionellrechtlichen nach der Kontrolldichte. Zum fünktionellrechtlichen Denken vergleiche schon Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975,297,303 f.; auch abgedruckt in ders., Die Verfassung des Pluralismus 1980, S. 79, 91 f. sowie ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 155, 174 f. m. w. N. im Nachtrag auf S. 180 f. 216 Vergleiche Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, in FS Lerche 1993, S. 121, 122. 217 Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), 174, 193 spricht in diesem Zusammenhang (lediglich) von der „Verantwortung der Parlamente" und rechtfertigt die Beschränkung der Kontrolldichte mit deren

VII. Kontrollmaßstäbe des Gleichheitssatzes

289

Es darf gerade nicht der Eindruck entstehen, daß die Beschränkung der Kontrolldichte von rechtlichen Maßstäben entbindet. Im Gegenteil muß hier das Bewußtsein entstehen, Le/ziverantwortlichkeit für die Verwirklichung rechtlich verbindlicher Maßstäbe zu sein. Dessen sollten sich die insoweit „unkontrollierten" Gewalten bewußt sein. Um so mehr sind hier informelle „Kontrollen" zu rechtlicher Kritik herausgefordert. Hierzu gehört nicht zuletzt die Wissenschaft und in Fragen des Art. 3 Abs. 1 GG als Methodennorm insbesondere die Methodenlehre. Die Kontrolldichte ist keinesfalls zwischen allen Kontrollinstanzen zu beschränken. Das bedeutet, daß die Kontrolle ein und derselben Entscheidung in unterschiedlichen Instanzen mit unterschiedlicher Dichte erfolgen kann. Eine funktionsrechtliche Beschränkung der Kontrolldichte muß an die jeweiligen Funktionen der Entscheidungsträger und der Kontrollorgane anknüpfen. Was das im einzelnen bedeutet, kann hier nur angedeutet werden. Keine Beschränkungen wird es etwa zwischen verschiedenen Instanzen der Behördenhierarchie geben.218 Ob die Verwaltungsgerichte die Behördenentscheidung uneingeschränkt überprüfen, hängt davon ab, ob die Verwaltung zu einer Ermessensentscheidung ermächtigt wurde. Das ist bei komparativer Bindung grundsätzlich der Fall. Auch zwischen den sogenannten Tatsacheninstanzen der Gerichtszüge ist eine Beschränkung der Kontrolldichte nicht erforderlich. Bei der Revision einer gerichtlichen Ermessensentscheidung (z. B. der Strafzumessung) wird hingegen die Funktion der Revisionsinstanz bereits beschränkt. Das BVerfG sollte seine Kontrolldichte nicht nur gegenüber dem Gesetzgeber, sondern auch gegenüber der Verwaltung und Rechtsprechung beschränken. Aus funktionsrechtlichen Gesichtspunkten muß sich nicht nur ergeben, zwischen welchen „Instanzen" die Kontrolldichte zu beschränken ist, sondern auch, wie weit eine solche Beschränkung gehen muß. Beschränkung der Kontrolldichte darf nicht zum völligen Leerlauf jeglicher Kontrollmaßstäbe führen. Ein zu weites Auseinanderklaffen von Bindungsmaßstäben einerseits und der Kontrolldichte andererseits würde Art. 19 Abs. 4 GG verletzen.219 Es stellt sich also die Frage, welcher Mindestgehalt der Kontrolldichte nicht „angetastet" werden darf. Ein „Mindestgehalt der Prüfungsintensität" kann sich 1. aus qualifizierten Rechtsinhalten und 2. aus dem Methodenrecht ergeben. ad 1. Die Rechtsinhalte entspringen im Falle des allgemeinen Gleichheitssatzes nicht dem Art. 3 Abs. 1 GG selbst, sondern dem übrigen positiven Recht. Es liegt bei der fast unüberschaubaren inhaltlichen Bandbreite, auf die sich der demokratischer Legitimation. Diese Argumentation sollte aber nicht dahingehend verstanden werden, daß eine Beschränkung der Kontrolldichte nur gegenüber den Parlamenten denkbar ist. 218 Zu den Besonderheiten des Selbstverwaltungsrechts und der Planungshoheit vergleiche oben S. 163 f. 219 Vergleiche auch Fußnote 65 auf S. 243. 19 Michael

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Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

Gleichheitssatz bezieht, nahe, zwischen verschiedenen Inhalten hinsichtlich der Kontrolldichte zu differenzieren. Dies ließe sich auch anhand von Beispielen aus der Rechtsprechung des BVerfG demonstrieren. 220 Aufgabe der Wissenschaft ist es, in diese Fallgruppen eine Struktur zu bringen, d. h. allgemeine Voraussetzungen für unterschiedliche Grade der Kontrolldichte zu formulieren. 221 Zunächst sollte ein Blick auf das weite Feld des positiven Rechts geworfen werden, auf das sich der Gleichheitssatz bezieht. Dazu gehört das gesamte geschriebene und ungeschriebene Recht einschließlich des Verfassungsrechts. Es bieten sich vor allem zwei Kriterien an, um die Kontrolldichte zu bestimmen: a) Obwohl Art. 3 Abs. 1 GG selbst Verfassungsnorm ist, bezieht sich sein Gleichbehandlungsanspruch nicht nur auf verfassungsrechtliche Inhalte. Im Rahmen der Kontrolldichte kann es gleichwohl von Bedeutung sein, inwieweit der inhaltliche Bezugsmaßstab des Gleichheitssatzes selbst Verfassungsrang hat. Nur insoweit sollte das BVerfG überhaupt inhaltliche Kontrolle ausüben.222 In den Fällen, in denen sich die Gleichbehandlungsfrage nicht auf verfassungsrechtliche Inhalte bezieht, sollten allenfalls die einfachen Gerichte inhaltlich hierüber wachen. Der Gesetzgeber ist in dieser Hinsicht sogar „ungebunden". Dies bestätigt auch der Umkehrschluß aus Art. 20 Abs. 3 GG, wonach der Gesetzgeber (nur) „an die verfassungsmäßige Ordnung^ und nicht wie die beiden anderen Gewalten darüberhinaus an Gesetz und Recht gebunden ist. Für das BVerfG bleibt in diesen Fällen sowohl dem Gesetzgeber als auch der Verwaltung und Rechtsprechung gegenüber nur eine methodenrechtliche Kontrolle, 223 soweit nämlich Art. 3 Abs. 1 GG als verfassungsrechtliche Methodennorm reicht. b) Ein weiteres inhaltliches Differenzierungskriterium für die Kontrolldichte ist für jeden Einzelfall zu bestimmen. Hier geht es nämlich um das Gewicht der betroffenen Rechtsgüter und zwar gegebenenfalls auch innerhalb der verfassungsrechtlich geschützten Werte. Dies ist zunächst abstrakt zu hinterfragen, nämlich 220 Vergleiche die Beispiele (etwa der Wirtschaftslenkung, Haushaltssanierung, Leistungsverwaltung oder Sozialstaatsverwirklichung) bei Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, in FS Lerche 1993, S. 121, 123 m. w. N. aus der Rechtsprechung des BVerfG. 221 Grundlegend Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), 174, 191 f. 222 In diese Richtung weist die (allerdings sehr unscharf formulierte) Rechtsprechung des BVerfG, nach der der Gestaltungsraum eingeschränkt ist, „wenn die zu beurteilende Regelung andere verfassungsrechtliche Gewährleistungen berührt, wie etwa das Sozialstaatsprinzip und die Grundrechte" (Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, in FS Lerche 1993, S. 121,123 unter Hinweis auf BVerfGE 44,183,189 f.; 74,9, 24; 75, 382, 393; 81, 108, 112; 82, 126, 146. 223 Hierzu sogleich ad 2.

VII. Kontrollmaßstäbe des Gleichheitssatzes

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anhand der in Art. 3 Abs. 1 GG vorausgesetzten Wertordnung. Weiter ist konkret zu prüfen, wie stark die jeweiligen Güter im Einzelfall betroffen sind.224 Das bei dieser Einschätzung grundsätzlich bestehende Ermessen kann im Einzelfall auf Null reduziert sein. Dann ist die Kontrolldichte unbeschränkt. Die dogmatische Figur der Ermessensreduzierung auf Null hat sich im Verwaltungsrecht so bewährt, daß ihrer Anerkennung als verfassungsrechtlicher Kontrollmaßstab nichts im Wege steht. Dies hätte auch den Vorteil, auf ein bereits allgemein bekanntes Argumentationsmuster zurückzugreifen zu können. Die Ermessensreduzierung auf Null beschränkt den Wertungsspielraum für komparative Elemente. Auch bei Wertungsfragen muß es einen Garantiebereich geben, der dem Ermessen entzogen und der unbeschränkten rechtlichen Kontrolle unterworfen ist. Die Ermessensreduzierung auf Null findet eine strukturelle Entsprechung auf Verfassungsebene, nämlich in der Bestimmung des ,relativen Wesensgehalts" von Rechtsgütern. Für grundrechtliche Inhalte ist dieser Garantiebereich in Art. 19 Abs. 2 GG gesichert. Er unterfällt auch der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Mit der Argumentationsfigur der Ermessensreduzierung auf Null findet der Gedanke der Wesensgehaltsgarantie seine Entsprechung auf einfachrechtlicher Ebene. Ebenso sollen die Grenzen der Kontrolldichte auf verfassungsgerichtlicher bzw. einfachgerichtlicher Ebene einander strukturell entsprechen. Das ist im wesentlichen in der Praxis der Ermessenskontrolle und der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auch der Fall. Die Ermessensreduzierung auf Null stellt ebenso wie die Wesensgehaltsgarantie eine Grenze rechtlich garantierter Kontrolle dar. Diese Grenze ist als Garantie gerichtlichen Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG zusätzlich verfassungsrechtlich verbürgt. Eine graduelle Abstufung der Prüfungsintensität ist in der Rechtsprechung des BVerfG nicht neu. Sie ließe sich an die Stufentheorie des BVerfG zu Art. 12 Abs. 1 GG anlehnen.225 Diese Parallele ist bereits in der sogenannten neuen Formel des BVerfG zum Gleichheitssatz angelegt, da dort auf das besondere Gewicht der Diskriminierung von Personengruppen 226 hingewiesen wird. Das entspräche dem besonderen Gewicht einer subjektiven Berufszugangsbeschränkung in der Schrankendogmatik zur Berufsfreiheit. Es gibt auch ein verfassungsrechtliches 224 Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), 174, 191 f. spricht vom „materiellen Gewicht der in Frage stehenden Ungleich- oder Gleichbehandlung und deren Bedeutung für die betroffenen Menschen". 225 Vergleiche BVerfGE 7, 377, 397 ff. Auf diese mögliche Parallele deutet schon Hesse, a. a. O., S. 192 hin. 226 BVerfGE 55, 72, 88 bezieht die neue Formel nur auf Ungleichbehandlungen „eine(r) Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten". Vergleiche auch Hesse, ebenda S. 192 in Fußnote 67. Allerdings hat das BVerfG inzwischen seine neue Formel längst auch auf weitere Fälle ausgedehnt. Hierzu Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, in FS Lerche 1993, S. 121, 123 m. w. N.

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

Argument dafür, personengruppenbezogene Differenzierungen besonders streng zu überprüfen: Im Verfassungstext werden in Art. 3 Abs. 2 und 3 GG einige der wichtigsten Fälle verbotener persönlicher Diskriminierungen besonders herausgestellt. Für sie gelten die strengen Regeln der besonderen Gleichheitssätze, die ohnehin der unbeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen.227 Eines Ermessens bedarf es im Falle der besonderen Gleichheitssätze nicht, da diese hinreichend exakt in der Verfassung vorgegeben sind. ad 2. Als zweites soll hier die methodenrechtliche Kontrolldichte des Gleichheitssatzes interessieren. Diese Frage unterscheidet sich von der ersten dadurch, daß bei der Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG als Methodennorm nicht auf positivrechtliche Inhalte außerhalb des Gleichheitssatzes zurückgegriffen werden kann und muß. Denn die methodenrechtlichen Anforderungen komparativer Systeme sind aus Art. 3 Abs. 1 GG selbst zu entnehmen. Auch hierbei 228 kann eine verwaltungsrechtliche Lehre für den Gleichheitssatz fruchtbar gemacht werden. Die Ermessensfehlerlehre stellt Kriterien rechtlicher Methodenkontrolle auf. Sie formuliert damit die wesentlichen methodenrechtlichen Kontrollmaßstäbe, die Art. 3 Abs. 1 GG als Methodennorm der komparativen Systeme enthält. 3. Berufungs- und revisionsgerichtliche Kontrolle der Bildung komparativer Systeme In der Rechtsprechung gibt es darüberhinaus den internen Kontrollmechanismus des Instanzenzugs. Sicherlich kann das Berufungsgericht seine Rechtsauffassung an die Stelle der Entscheidung in erster Instanz setzen. Schwieriger ist hingegen die Frage, ob auch das Revisionsgmchi jegliche Rechtsfortbildung ohne weiteres an sich ziehen darf. Das Revisionsgericht muß seine Entscheidung nämlich mit der Verletzung geltenden Rechts, hier durch untergerichtliche Rechtsfortbildung, begründen. Hier stellt sich die Frage, ob jede vom Revisionsgericht abweichende Auffassung über Rechtsfortbildung schon eine revisible Verletzung positiven Rechts darstellt. a) Soweit es um dierichterliche Bestätigung bereits positivrechtlich fortgebildeten Rechts geht, ist das fortgebildete Recht selbst revisibler Maßstab einer eventuellen Rechtsverletzung. Bei der „echten"richterlichen Rechtsfortbildung steht ein solcher Maßstab aber gerade (noch) nicht zur Verfügung. Hier muß auf die 227

Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), 174, 184. 228 Ähnlich der Übertragbarkeit der Argumentationsfigur der Ermessensreduzierung auf Null.

VII. Kontrollmaßstäbe des Gleichheitssatzes

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Rechtsprinzipien zurückgegriffen werden, auf die die Rechtsfortbildung gestützt werden muß bzw. gegen die eine Rechtsfortbildung verstieße. Da richterliche Rechtsfortbildung an bereits positivrechtliche Rechtsprinzipien anknüpfen muß, stehen diese als Rechtsmaßstab stets zur Verfügung. b) Bei dieser »Anknüpfung" mag es zwar mehrere denkbare und begründbare Ergebnisse geben. Insofern wurde von einem „Spielraum" gesprochen. Aber es handelt sich nicht um ein freies Ermessen. Im Ergebnis müssen stets rechtliche Gesichtspunkte den Ausschlag geben. Dies ist der wesentliche Unterschied diesesrichterlichen Spielraums zum gesetzgeberischen Spielraum bei der Fortbildung des Rechts. Im Gegensatz zum Gesetzgeber hat der Richter kein politisches Ermessen, ob und wie er das Recht fortbilden soll. Nur der Gesetzgeber kann sich über das einfache Recht mit außerrechtlichen Argumenten hinwegsetzen, es ändern bzw. ergänzen. Nur der Gesetzgeber ist demokratisch zu politischen Erwägungen legitimiert. Die Fragen nach dem Ob und Wie einer richterlichen Rechtsfortbildung sind hingegen reine Rechtsfragen. Jedes der denkbaren Ergebnisse wird den unterschiedlichen rechtlichen Gesichtspunkten (komparativen Elementen) in einer anderen Weise mehr oder weniger gerecht. Weil es keinen politischen Spielraum des Richters geben darf, ist jede Rechtsfortbildung zwingend Rechtsfrage im revisionsrechtlichen Sinne. Es bleibt die Frage, wann eine Rechtsfortbildung Rechts Verletzung im revisionsrechtlichen Sinne ist. Der Revision kommt die Funktion zu, die Bedeutung des Rechts höchstinstanzlich auszulegen und seinerichtige Anwendung zu kontrollieren. Das gilt auch für Rechtsinhalte, die nur in komparativen Elementen faßbar sind. Die Revisionsinstanz kann ihre Auffassung von der „goldenen Mitte" einer komparativen Abwägung letztlich durchsetzen. Anders ausgedrückt: Das Revisionsgericht ist nicht auf die Kontrolle des relativen Wesensgehalts von Rechtsprinzipien anhand eines eingeschränkten „Vertretbarkeitsmaßstabs" beschränkt. Für eine Beschränkung der Kontrolldichte besteht im Verhältnis der Revisionsgerichte zu den unteren Instanzen auch kein Anlaß. Im Gegenteil: Die Funktion der Obergerichte, das Recht zu vereinheitlichen und selber das Recht fortzubilden, verbietet es, die Begriffe „Rechtsverletzung" bzw. „Revisibilität" als Einschränkungen der Kontrolldichte gegenüber der Rechtsfortbildung zu begreifen. Die zahlreichen bekannten Beschränkungen der gerichtlichen Kontrolldichte bei Ermessensentscheidungen unterscheiden sich vom vorliegenden Fall wesentlich: Jene Beschränkungen lassen sich mit der funktionellen Trennung der Gewalten begründen. Danach darf die gerichtliche Kontrolle der Verwaltung sowie die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers nicht in bestehende Ermessensspielräume eingreifen. Die Revisionsinstanzen sind aber gegenüber den Tatsacheninstanzen nur hinsichtlich der Unterscheidung von Rechts- und Tatsachenfragen funktionell beschränkt und nicht aus Gründen der verfassungsrechtlichen Gewaltenteilung.

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G. Der Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme

Die funktionelle Beschränkung der Revision auf Rechtsfragen kommt in § 550 ZPO bzw. § 337 Abs. 2 StPO zum Ausdruck. Sie kann sich dort auf die Kontrolle der Rechtsanwendung auswirken, wo diese eine umfassende Würdigung der tatsächlichen Umstände voraussetzt. So kommt es zu Bereichen richterlichen Ermessens (etwa bei der Strafzumessung). Die uneingeschränkte Kontrolle der Rcchtsfortbildung erstreckt sich auch auf diese Bereiche, in denen die Rechtsanwendung nur beschränkter Kontrolle unterliegt. Deshalb ist es so wichtig, Art. 3 Abs. 1 GG als strengen Rechtsbindungsmaßstab der Verhältnismäßigkeit für eine differenzierte Gleichbehandlung und gleichmäßige Differenzierung zu begreifen. Im Falle der Revision besteht kein Anlaß, die Kontrolldichte dieses strengen Maßstabes aus fünktionellrechtlichen Gründen zu beschränken. Hier ist der rechtliche Gehalt des Art. 3 Abs. 1 GG einmal mit dem Kontrollmaßstab identisch. Die Möglichkeit und Aufgabe der Revisionsgerichte, jegliche Rechtsfortbildung als Rechtsfrage und Rechtsverletzungsfrage zu behandeln läßt aber keineswegs den Schluß zu, daß die höchstrichterliche Entscheidung über den Einzelfall hinaus Bindungswirkung entfaltet.

H. Methodenrechtliche Schranken bei der Bildung komparativer Systeme

I. Das Postulat der Vorhersehbarkeit im Methodenrecht Methodenrecht muß nicht nur Methoden rechtlich legitimieren, sondern gegebenenfalls auch die Grenzen der Legitimität aufzeigen. Es ist nicht nur zu klären, wie komparative Systeme methodenrechtlich zu handhaben sind, sondern auch, wo sie in der Rechtsordnung entstehen sollen und dürfen und wo sie keinen Platz haben. Im wesentlichen kann hierzu auf die Diskussion der Vor- und Nachteile „beweglicher Systeme" als Alternative zu starren Tatbeständen verwiesen werden.1 Von methodenrechtlicher, insbesondere verfassungsrechtlicher Seite her bedarf es jedoch noch einiger Ergänzungen. Das Rechtsstaatsprinzip gebietet Vertrauensschutz. Deshalb muß der Staat gewährleisten, daß die Bürger in gewissem Maße die Rechtmäßigkeit ihres eigenen Verhaltens vorhersehen können. Seit jeher ist das Problem bekannt, daß der Bürger gerichtliche Entscheidungen nur begrenzt vorhersehen kann, soweit der Gesetzgeber unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet oder Ermessensnormen schafft und sich noch keine gefestigte Rechtsprechung herausgebildet hat. Zwei Fragen müssen von der Seite des Verfassungsrechts und des Methodenrechts gestellt werden: 1. Inwieweit verstoßen Gesetze mit Auslegungsspielräumen gegen den Bestimmtheitsgrundsatz (des Rechtsstaatsprinzips bzw. des Art. 103 Abs. 2 GG) und sind deshalb verfassungswidrig? 2. Wer trägt das Risiko abweichender Auslegungen, soweit diese innerhalb eines vertretbaren Spielraumes liegen? Diese Fragen sind von großer Aktualität und m. E. bis heute nicht befriedigend gelöst. Im folgenden soll auf die jüngsten Entwicklungen in der Rechtsprechung und Literatur eingegangen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß

1

Oben D I 3 S. 57 ff.

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H. Methodenrechtliche Schranken bei der Bildung komparativer Systeme

Auslegungsspielräume nicht nur aber auch durch komparative Systeme entstehen. Diese Unterscheidung hat aber, wie gezeigt wurde, unmittelbare Auswirkung auf die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Spielräumen und auf ihre gerichtliche Überprüfbarkeit. Deshalb liegt in der Theorie der komparativen Systeme eine Chance, in der Frage des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes zu einer differenzierenden Lösung zu kommen. II. Exkurs: Die Rechtsprechung des BVerfG zu den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an Normen und deren Auslegung Die beiden Fragen, wann Normen und deren Auslegung gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen, standen im Mittelpunkt der jüngsten Entscheidung des BVerfG zur Strafbarkeit von Sitzdemonstrationen als Nötigung.2 Die Antworten, die das BVerfG gibt, lassen sich jedoch nicht verallgemeinern und sollen hier kritisiert werden. Die Entscheidung bestätigt zunächst, daß die Norm des § 240 StGB nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstößt. Hingegen wird ein Verstoß der Rechtsprechung gegen Art. 103 Abs. 2 GG bei der Auslegung des § 240 StGB festgestellt. Diese methodenrechtliche Entscheidung gibt der Rechtsprechung aber m. E. keine handhabbaren Kriterien auf den Weg, wann und wie sie in Zukunft durch Art. 103 Abs. 2 GG stärker gebunden wird, als dies bisher3 angenommen wurde. Das BVerfG will den Gesetzgeber im Bereich des Strafrechts dazu verpflichten, jeder „Möglichkeit der gesetzlichen Beschreibung"4 nachzukommen. Das ist ein denkbar strenger Maßstab, der lediglich davor Halt macht, vom Gesetzgeber Unmögliches zu verlangen. Allerdings bleibt das BVerfG dabei, daß § 240 StGB selbst diesen Anforderungen genügt. Es führt hierzu aus, daß die Strafbarkeit eines Verhaltens „im Regelfall" voraussehbar sein müsse und aus Sicht der Normadressaten zu bestimmen sei. In den zweifelhaften Grenzfällen sei „auf diese Weise wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar". Das BVerfG erwähnt an anderer Stelle der Entscheidungsgründe die ,fragwürdigkeit dieses Arguments, demzufolge das Risiko der Bestrafung umso höher ist, je vager ein Straftatbestand formuliert wird" 5. Deshalb könne das fragwürdige Argument Jedenfalls (sie!) nur in bezug auf die Norm, nicht auch in bezug auf ihre Auslegung herangezogen werden." Das BVerfG bindet die Auslegung einer „unvermeidlich vagen Strafnorm" 6 somit an noch strengere Maßstäbe. Die Rechtsprechung soll das Risiko einer Bestrafung kalkulierbarer machen. Damit verlangt 2 3 4 ? 6

BVerfG NJW 1995, 1141 ff. Hierzu BVerfGE 73, 206 ff. BVerfG NJW 1995, 1141, 1143. Ebenda. Ebenda.

II. Die Rechtsprechung des BVerfG

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das BVerfG von der Rechtsprechung etwas, was der Gesetzgebung unmöglich sein soll. Zu Recht ist diese Unterscheidung der Bestimmtheitsanforderungen an eine Norm einerseits und an deren Auslegung andererseits bereits im Sondervotum7 kritisiert worden. Auf der einen Seite stellt das BVerfG damit nämlich die von ihm selbst postulierten Anforderungen an die Gesetzgebung in Frage: Wenn nämlich die Rechtsprechung den Gewaltbegriff des § 240 StGB präziser als bisher fassen können soll, wäre vorrangig zu prüfen, warum dasselbe dem Gesetzgeber unmöglich sein soll. Außerdem ist es wenig überzeugend, ein Argument trotz seiner Fragwürdigkeit mal zuzulassen und mal wegen seiner Fragwürdigkeit nicht zuzulassen, ohne hierfür eine weitere Begründung zu liefern. Auf der anderen Seite scheut sich das BVerfG selbst, die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an die Rechtsprechung zu verallgemeinern und nennt dennoch wenig überzeugende Gründe, warum gerade im Fall des Gewaltbegriffs die Rechtsprechung gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen hat: Das teleologische Argument8, der Gewaltbegriff habe die Funktion einer tatbestandlichen Begrenzung, stellt keine Besonderheit gegenüber anderen Tatbestandsmerkmalen dar. Die „unterschiedliche Behandlung von Blockadeaktionen aus Protest gegen die atomare Nachrüstung einerseits und solchen zum Protest gegen Werksstillegungen, Gebührenerhöhungen, Subventionskürzungen oder Verkehrsplanungen"9 wird zwar erwähnt, aber leider nicht näher erörtert: Die bloße Feststellung solcher Ungleichbehandlungen „belegt"10 keineswegs „beträchtliche Spielräume der Strafverfolgung" und erst recht keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Das BVerfG hätte zumindest ausführen müssen, wie diese unterschiedlichen Behandlungen in der Rechtsprechung jeweils begründet wurden, ob hierfür m. a. W. keine sachlichen, bestimmten und vorhersehbaren Gründe sprechen. Sodann hätte das BVerfG klären müssen, ob es sich nicht gegebenenfalls um einzelne Verstöße der Rechtsprechung gegen selbstgesetzte Prämissen handelt. Damit hätte sich das BVerfG jedoch sehr auf die strafrechtlichen Fragen einlassen müssen. Das ist an sich nicht die Aufgabe des BVerfG. Soweit das BVerfG die Auslegung des einfachen Rechts jedoch den Instanzgerichten überlassen will, darf es deren Auslegungen auch nicht ohne weitere Erörterung rügen. Das gilt nicht nur für Art. 103 Abs. 2 GG, sondern auch für Art. 3 Abs. 1 GG. Obwohl das BVerfG die unterschiedliche Behandlung verschiedener Blockadeaktionen rügt, geht es an dieser Stelle nicht auf Art. 3 Abs. 1 GG ein, bzw. auf das Verhältnis 7

Sondervotum von Seidl, Söllner und Haas zu BVerfG NJW 1995, 1141, ebenda 1143, 1144. 8 BVerfG NJW 1995, 1141,1142 f. 9 Ebenda, 1143. 10 Ebenda.

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H. Methodenrechtliche Schranken bei der Bildung komparativer Systeme

von Art. 3 Abs. 1 GG zu Art. 103 Abs. 2 GG. Es ist aber vorrangig zu prüfen, ob einzelne nicht sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlungen vorliegen, die gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, bevor man eine gesamte, jahrzehntelange Rechtsprechung für „unbestimmt" i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG erklärt. Aus der Rechtsprechung des BVerfG läßt sich deshalb m. E. nicht allgemein herleiten, wann Normen und deren Auslegung gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen. Da das BVerfG das Verhältnis des Art. 103 Abs. 2 GG zu Art. 3 Abs. 1 GG nicht anspricht, läßt sich nur schwer feststellen, welche Konsequenzen die Rechtsprechung des BVerfG für komparative Systeme im Strafrecht haben sollte.

III. Komparative Systeme und Bestimmtheits- bzw. Vertrauensprinzip Zur Vertretbarkeitstheorie Zu beiden Fragen, wann Normen und deren Auslegung gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoßen, hat jüngst auch Bleckmann11 Stellung bezogen. Auf seine Antworten soll hier ebenfalls näher eingegangen werden. Der Ansatz Bleckmanns ist schon deshalb zu begrüßen, weil er Fragen der Methodenlehre unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten erörtert. Dies entspricht dem hier vorgeschlagenen methodenrechtlichen Konzept. Auch die Verbindung beider o. g. Fragestellungen in einem Aufsatz ist ein Schritt in die richtige Richtung: Die Methode der Gesetzesauslegung sowie derrichterlichen Kontrolle muß denselben Prinzipien des Vertrauensschutzes folgen, wie die Methode der Gesetzgebung. Dort wo die Gesetzgebung Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit nicht erreichen kann, muß die Auslegung durch die Verwaltung und Rechtsprechung das Ziel des Vertrauensschutzes weiter verfolgen, ja gegebenenfalls sogar Unbestimmtheiten kompensieren. Betrachtet man beide Fragestellungen aus verfassungsrechtlicher Perspektive, so begegnet man denselben Verfassungsprinzipien auf verschiedenen Ebenen, d. h. auf der Ebene der Gesetzgebung und auf der Ebene der Gesetzesanwendung. Da liegt es nahe, nicht nur isoliert zu fragen, ob die Gesetzgebung bzw. die Rechtsprechung und Verwaltung je für sich diese Prinzipien optimieren, sondern darüberhinaus zu prüfen, welche der Gewalten demselben Verfassungsprinzip am besten nahe kommt. Ob dabei die Rechtsprechung und Verwaltung Unbestimmtheiten der Gesetzgebung ausgleichen soll und ob umgekehrt die Gesetzgebung der Rechtsprechung und Verwaltung Konkretisierungsaufgaben übertragen soll, wird damit zum Problem der Gewaltenteilung und des Demokratieprinzips. 11 Bleckmann, Spielraum der Gesetzesauslegung und Verfassungsrecht, JZ 1995,685 ff. Vergleiche auch ders., Der Beurteilungsspielraum im Europa- und im Völkerrecht, EuGRZ 1979,485 ff.

III. Komparative Systeme und Bestimmtheits- bzw. Vertrauensprinzip

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Für den Bereich des Strafrechts darf diese Frage allerdings nicht gestellt werden: Art. 103 Abs. 2 GG fordert, daß der Gesetzgeber die Voraussetzungen der Strafbarkeit nicht der Rechtsprechung überläßt. Schon aus diesem Grund erscheint es problematisch, wenn das BVerfG von der Rechtsprechung erwartet, Unbestimmtheiten des Gewaltbegriffs zu beseitigen, die der Gesetzgeber geschaffen hat. Wenn das BVerfG darüberhinaus an die Gesetzgebung weniger strenge Anforderungen hinsichtlich Art. 103 Abs. 2 GG stellt, ja sogar die Berufung auf ein fragwürdiges Argument zuläßt und umgekehrt der Rechtsprechung eine umso strengere Bindung an Art. 103 Abs. 2 GG aufbürdet, dann kommt es dazu, daß die Rechtsprechung die Bestimmung tatbestandlicher Voraussetzungen und damit eine Aufgabe der Gesetzgebung übernimmt und sogar übernehmen muß. Das Gegenteil ist m. E. Sinn des Art. 103 Abs. 2 GG. 1. Gesetze mit Auslegungs- bzw. Anwendungsspielräumen sind nicht per se verfassungswidrig. 12 Aber solche auslegungsbedürftigen Gesetze können verfassungswidrig sein, und das sogar allein wegen ihrer Unbestimmtheit. Es ist also zu differenzieren: Unter welchen Voraussetzungen und in welchem Maße müssen welche Gesetze bestimmt sein? Um diese Fragen zu beantworten, ist es hilfreich, zunächst einen Blick auf die verschiedenen Arten von „Unbestimmtheit" zu werfen. Dabei wird gleichzeitig deutlich, welche Bedeutung die komparativen Systeme in diesem Zusammenhang haben: a) Es gibt Auslegungsspielräume, die durch die Verwaltungspraxis bzw. durch ständige Rechtsprechung beseitigt werden13 bzw. beseitigt werden könnten: Während das Gesetz in diesen Fällen noch Spielräume offen läßt, kann die Praxis schließlich starre Voraussetzungen für eine bestimmte Rechtsfolge benennen. Hier hat die Verwaltung bzw. Rechtsprechung die Aufgabe übernommen, die abstrakten, starren Tatbestandsmerkmale exakt herauszuarbeiten. Derartige Verschiebungen im Gefuge der Gewaltenteilung bedürfen einer besonderen Rechtfertigung. Wenn sich tatsächlich starre Voraussetzungen für eine Rechtsfolge herausarbeiten lassen, muß sich die Gesetzgebung fragen lassen, warum sie diese nicht selbst benannt hat. Der Gesetzgeber muß jedenfalls sein Bestes geben, selbst so exakt wie möglich starre Tatbestandsmerkmale zu formulieren. Eine andere Frage ist, wieweit hier die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte reichen soll. Nur in Ausnahmefallen sollte die Legislative starre Tatbestandsbildungen der Praxis überlassen, wenn etwa dringender Regelungsbedarf besteht und die Regelungsmaterie besonders unübersichtlich ist. In solchen Fällen mag das Gesetzgebungsverfahren zu schwerfällig sein und Richterrecht jedenfalls übergangsweise der bessere Weg. Solange starre Tatbestandsmerkmale nicht benannt sind, ist das Recht nicht vorhersehbar und es besteht die Gefahr der Willkür. 12 13

686.

Dies ist der unstreitige Ausgangspunkt. Vergleiche zuletzt BVerfG NJW 1995,1141. Bleckmann, Spielraum der Gesetzesauslegung und Verfassungsrecht, JZ 1995, 685,

300

H. Methodenrechtliche Schranken bei der Bildung komparativer Systeme

b) Ganz anders zu beurteilen sind solche Spielräume der Rechtsanwendung, die dadurch entstehen, daß sich die Voraussetzungen einer Rechtsfolge als komparative Elemente darstellen. Die „Unbestimmtheit" liegt hier in der methodischen Struktur der Verknüpfung von Voraussetzungen und Rechtsfolgen: Wenn die Rechtsfolge von der komparativen Berücksichtigung von Einzelfallumständen abhängt, bleibt die Norm auch in der Praxis notwendig „unbestimmt" bzw. mit einem „Ermessensspielraum" behaftet. Derartige Spielräume sind nicht auf „mangelhafte" Gesetzgebung zurückzuführen. Die komparative Berücksichtigung von Einzelfallumständen durch die Verwaltung und Rechtsprechung stellt auch keine Verschiebung im Gefüge der Gewalten dar, sondern gehört zum Wesen der rechtsanwendenden Gewalten. Es gehört umgekehrt gerade zum Wesen der Gesetzgebung, nicht den Einzelfall, sondern das abstrakte Recht zu regeln. Wenn die Praxis oft auch die Benennung der komparativen Elemente und nicht nur ihre Anwendung übernimmt, liegt das an der Einzelfallbezogenheit komparativer Systeme. Dennoch ist die Benennung der komparativen Elemente eine über den Einzelfall hinausgehende abstrakte Rechtsetzungsaufgabe. Hier gibt jedenfalls die Wesentlichkeitstheorie der Gesetzgebung auf, wenigstens die fundamentalen Gesichtspunkte14 komparativer Systeme selbst festzulegen. 15 Das gilt um so mehr, je stärker hierbei Grundrechte als Abwehr- oder Leistungsansprüche berührt sind.16 c) Gegen gesetzlich formulierte komparative Systeme bestehen am wenigsten verfassungsrechtliche Bedenken: Wenn der Gesetzgeber selbst die komparativen Elemente benennt, hat er alles ihm mögliche zur Bestimmtheit der Rechtsanwendung beigetragen, soweit dies in seinen Aufgabenbereich fällt. Um so mehr ist es notwendig, komparative Systeme in der Methodenlehre anzuerkennen17 und dies auch in der Gesetzgebungslehre bewußt zu machen: Nicht die „Spielräume" komparativer Systeme, sondern gerade „Unbestimmtheiten" im Bereich starrer Tatbestandsbildung sind Anlaß für verfassungsrechtliche Bedenken. Sogar im Bereich

14

Vergleiche bereits Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 161. 15 Vergleiche auch Schröder, Der Stand der Dogmatik der Verwaltungsvorschriften, in Hill (Hrsg.), Verwaltungsvorschriften Dogmatik und Praxis, 1991, S. 1, 10 f. 16 Vergleiche Schulze-Fielitz, Grenzen rationaler Gesetzesgestaltung, insbesondere im Leistungsrecht, DÖV 1988,758,767: „Je mehr oder fühlbarer eine Norm die Freiheit oder den konkreten Lebensanspruch des einzelnen Bürgers direkt determiniert, desto konkretbestimmter muß eine Norm formuliert sein." 17 Hill, Gesetzesgestaltung und Gesetzesanwendung im Leistungsrecht, VVDStRL Heft 47 (1989), S. 172 ff., S. 263 (Diskussionsbeitrag) hat daraufhingewiesen, daß gerade bei „beweglichen Systemen" der Gesetzgeber die wesentlichen Wertungen selbst vorgebe. Dadurch brächten gerade „bewegliche System(e) die Funktionsordnung des Grundgesetzes besser zum Ausdruck".

III. Komparative Systeme und Bestimmtheits- bzw. Vertrauensprinzip

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des Strafrechts sind komparative Normen unbedenklich; die Beispiele der §§34 und 46 StGB wurden bereits erörtert. 18 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Gesetzgeber Gesetze zwar so bestimmt wie möglich formulieren soll, daß dies aber im Falle der gesetzlich formulierten komparativen Systeme in der Regel vorbildlich verwirklicht ist. Verstöße gegen das Bestimmtheitsgebot sind am ehesten dort zu vermuten, wo es der Gesetzgeber versäumt hat, starre Tatbestände selbst zu formulieren. Hier hat es der Gesetzgeber gegebenenfalls versäumt, die Chance der Rechtssicherheit wahrzunehmen, die von starrer Tatbestandsbildung ausgehen kann. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß ,3estimmtheit" selbst ein unbestimmter Rechtsbegriff ist. Das ,3estimmtheitsprinzip" ist damit selbst ein Rechtsprinzip und ein Rechtsproblem. Zwar ist es eine Rechtspflicht des Gesetzgebers, dieses Rechtsprinzip zu optimieren, aber das BVerfG kann dies nur beschränkt kontrollieren. Versäumnisse bei der starren Tatbestandsbildung sind aber kein Problem komparativer Systeme, deren methodenrechtliche Schranken - wie gezeigt - im Gegenteil sogar weniger streng sind. „Unbestimmtheiten", die durch komparative Systeme entstehen, lassen sich besser rechtfertigen, weil komparative Systeme durch ihre Flexibilität mehr Raum für Einzelfallgerechtigkeit geben, ohne der Gefahr der Beliebigkeit ausgesetzt zu sein. Ihre Flexibilität ist in einem Höchstmaße methodenrechtlich „gelenkt": Einzelfallentscheidungen sind aufgrund komparativer Systeme noch am ehesten „bestimmt". Zumindest tendenziell läßt sich die Beurteilung einer Rechtslage mit Hilfe komparativer Systeme vorhersehen. In demselben Maße kann sich der Bürger hierauf einstellen und sein Verhalten danach ausrichten. Aus diesem Grunde ist es m. E. nicht notwendig, Bleckmanns Antwort auf die zweite Frage für komparative Systeme zu übernehmen: 2. Nach Bleckmanns19 „Vertretbarkeitstheorie" schützt das Verfassungsrecht das Vertrauen der Bürger in jede vertretbare Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe. Der Staat trüge danach das Risiko einer falschen, aber noch vertretbaren Auslegung der Gesetze durch die Bürger. 20 „Unbestimmtheiten" sollen, soweit sie nicht schon zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führen, zu Lasten des Staates gehen, dem es nicht gelungen sei, bestimmtere Regelungen zu treffen. Dabei sei jedoch nicht nur die gesetzgeberische Tätigkeit, sondern auch die ständige Praxis der Verwaltung und Rechtsprechung zu berücksichtigen. Soweit eine ständige Praxis „Unbestimmtheiten" beseitigt, werde das Vertrauen des Bürgers in abweichende Auslegungen erschüttert.

18

Hierzu oben F I I 2 b („Strafrecht: Die Strafzumessungslehren und Interessenabwägungen bei den Rechtfertigungsgründen"), S. 147 ff. 19 Bleckmann, Spielraum der Gesetzesauslegung und Verfassungsrecht, JZ 1995,685 ff. 20 Ebenda S. 688.

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H. Methodenrechtliche Schranken bei der Bildung komparativer Systeme

Für diesen Gedanken scheint folgendes zu sprechen: Der Staat würde unter Druck gesetzt, möglichst bestimmte Regelungen zu treffen, da Normen nur mit dem Grade ihrer Bestimmtheit durchsetzbar wären. Es muß jedoch bezweifelt werden, ob dieser Druck auf den Staat tatsächlich zu besseren Regelungen führen würde. Die Gefahr bestünde vielmehr darin, daß der Staat zwar bestimmtere, aber dafür weniger ausgewogene Regelungen trifft. Es bestünde die Gefahr, daß sich starre Tatbestände ohne umfassende Abwägung aller Interessen allzu schnell in der Praxis verfestigen. Vertrauensschutz des Bürgers darf aber nicht zum Selbstzweck werden. Wichtiger ist das Ziel, Interessen ausgewogen zu berücksichtigen. Diesem Ziel muß der Staat in erster Linie dienen. In zweiter Linie muß der Staat die Regelung, die er für ausgewogen hält möglichst klar und bestimmt fassen. Auch das Rechtsbewußtsein der Bürger soll am Ideal der gerechtesten Lösung orientiert sein. Wenn Regelungen mit Auslegungsspielräumen bis zur Grenze des Vertretbaren zugunsten des Bürgers auszulegen wären, würden die Bürger dazu angeregt, Spielräume einseitig „auszunutzen". Sie würden, wie Bleckmann zutreffend feststellt 21, dazu den Rat der Rechtsanwälte einholen. Rechtsanwälte wären bei der Beratung gezwungen, ihre Mandanten dabei zu unterstützen und ihren Blick auf die „Vertretbarkeitsgrenze" und nicht auf die nach ihrer Überzeugung ausgewogene Auslegung zu richten. Wie ließe sich das aber mit der Aufgabe des Rechtsanwaltes als Organ der Rechtspflege vereinbaren? Verwaltung und Gerichte wären gezwungen, jeweils zwei Maßstäbe zu unterscheiden: Welches Recht wäre ausgewogen und soll für die Zukunft gelten und welches Recht läßt sich an der Grenze zum Unvertretbaren bereits durchsetzen? Ihre Entscheidungen müßten jeweils die selbst „vertretene" und die möglicherweise entgegengesetzte, aber noch „vertretbare" Lösung enthalten. Sie müßten dann gegebenenfalls sowohl begründen, warum sie eine von der Auffassung des Bürgers abweichende Auffassung vertreten, dessen Auffassung aber dennoch als vertretbar bezeichnen. Derartige Entscheidungsbegründungen gerieten leicht zu „Drahtseilakten", die geradezu haarspalterische Unterscheidungen erforderten. Gerichte sollen vielmehr den Einzelfall ausgewogen entscheiden und nicht an der Grenze des Vertretbaren. Sie sollen die von ihnen vertretene Lösung möglichst überzeugend begründen und dadurch nicht zuletzt zum Rechtsfrieden beitragen. Aus ihrer Auffassung über die ausgewogene Auslegung entwickelt sich gegebenenfalls eine ständige Praxis. Die Gerichte sind auch nicht dazu da, der Gesetzgebung zu zeigen, wie schlecht vorhersehbar ihre Gesetze einerseits sind und wie sie andererseits besser zu fassen wären. Sie sollen nicht mit dem Bürger und den Rechtsanwälten zusammen bestehende Spielräume „ausreizen", um sodann diese Spielräume wieder zu beseitigen. Ein derartiges,»Doppelspiel" der Rechtsprechung würde wohl weniger Vertrauen schützen als vielmehr Verwirrung stiften. 21

Ebenda, S. 686

III. Komparative Systeme und Bestimmtheits- bzw. Vertrauensprinzip

303

Darüberhinaus bestehen erhebliche Zweifel daran, ob der Begriff des „Vertretb a r e n " 2 2 , der doch selbst in höchstem Maße „unbestimmt" i s t 2 3 , geeignet wäre, das Problem des Vertrauensschutzes allgemein zu lösen. Wiederum wären es die Verwaltung bzw. die Rechtsprechung, die diesen Begriff auszulegen hätten. Sollte für die Bestimmung der Grenze des Vertretbaren wiederum die Grenze des Vertretbaren auszuschöpfen sein usf? Dennoch steckt in Bleckmanns Vorschlag m. E. ein richtiger Kern: Bleckmann unterscheidet zwischen dem „unbestimmten Rechtsbegriff 1 und demjenigen „rechtlich bestimmten Rechtsbegriff 4 , der gleichwohl einen Interpretationsspielraum eröffnet. 2 4 Was ist der Unterschied zwischen den unbestimmten und den auslegungsbedürftigen Rechtsbegriffen? Während „eine verbindliche Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe auch auf Dauer nicht zu erwarten i s t " 2 5 , w i r d eine verbindliche Auslegung der bestimmten Rechtsbegriffe jedenfalls i m langjährigen Prozeß ihrer Anwendung erreicht. 2 6 Klarer wäre es deshalb, zwischen den „abstrakt unbestimmbaren" und den „abstrakt bestimmbaren" Rechtsbegriffen zu unterscheiden. Noch genauer handelt es sich u m die Unterscheidung zwischen komparativer und starrer Tatbestandsbildung: Während komparative Systeme eine konkrete Abwägung i m Einzelfall erfordern, können die Voraussetzungen starrer Tatbestandsmerkmale abstrakt benannt werden. Die komparativen Systeme haben den Sinn, die Einzelfallumstände ausgewogen zu berücksichtigen, d. h. sowohl zugunsten als auch zu Lasten des Bürgers. Die Interessenabwägungen sollen gerade nicht einseitig zugunsten einer Partei erfolgen. Kein Bürger kann darauf vertrauen, daß seine Interessen einseitig privilegiert werden. Solche Privilegierung verstieße gegen den Gleichheitssatz. Der Gleichheitssatz hat n i c h t 2 7 die Tendenz zu einer starren Tatbestandsbildung, sondern legitimiert in besonderem Maße die Bildung komparativer Systeme. Das impliziert aber zugleich, daß diese komparativen Systeme ausgewogen und nicht einseitig angewendet werden. Aus diesem Grund kann die Vertretbarkeitstheorie jedenfalls dann nicht gelten, wenn Spielräume des Gesetzes auf komparativen Systemen beruhen. Dem Vertrauensschutz muß auf andere Weise Rechnung getragen werden. Bleckmann hat selbst klargestellt, daß zwischen den verschiedenen Rechtsgebie22 Vergleiche Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 4 und Zippelius, Juristische Methodenlehre, 5. Auflage 1990, S. 92 f. 23 So auch Rupp, „Ermessen", „unbestimmter Rechtsbegriff' und kein Ende, in Festschrift für Zeidler I, 1987, 455, 464. 24 Bleckmann, Spielraum der Gesetzesauslegung und Verfassungsrecht, JZ 1995, 685, 685 f. 25 Ebenda, S. 685. 26 Ebenda, S. 686. 27 So klingt es aber bei Bleckmann, ebenda, an.

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ten zu unterscheiden ist.28 Damit hat er seine eigene Theorie erheblich eingeschränkt. Im Zivilrecht kann keine der Parteien die andere bis an die Grenze des Vertretbaren belangen.29 Im Verwaltungsrecht räumt Bleckmann ein, daß entgegenstehende öffentliche Interessen eine Ausnutzung der Bürgerinteressen bis an die Vertretbarkeitsgrenze verbieten.30 Das gleiche muß für entgegenstehende Grundrechtspositionen gelten. Widerstreitende öffentliche und private Interessen sind aber im Verwaltungsrecht der Regelfall und nicht etwa die Ausnahme. Schon deshalb scheidet Bleckmanns Ansatz als Theorie für den Regelfall aus. Die Vertretbarkeitstheorie ließe sich nur dann mit dem Vertrauensschutzgedanken begründen, wenn es tatsächlich ein schutzwürdiges Vertrauen der Bürger darauf gäbe, daß man unbestimmte Rechtsbegriffe stets zu seinen Gunsten auslegen kann. Wenn jeder sich darauf verlassen könnte, ließen sich aber die für komparative Elemente typischen Konflikte nicht mehr rechtlich lösen. Im Strafrecht ist der Vertrauensschutz des Bürgers sicher am stärksten ausgeprägt. Aber auch hier ist es nicht angezeigt, neue Wege zu beschreiten: Wenn die Praxis einen vom Täter geltend gemachten Auslegungsspielraum des Gesetzes unter dem Aspekt des Irrtums über die Rechtswidrigkeit prüft, 31 ist dies m. E. der richtige dogmatische Ort. Die Auslegung selbst und die Vorhersehbarkeit dieser Auslegung für den Bürger sind schon der Klarheit wegen zu trennen. Eine Vermengung könnte leicht zu Zirkelschlüssen führen. Das ändert freilich nichts daran, daß der Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht wegen Art. 103 Abs. 2 GG eine besondere Berücksichtigung verdient. Bei auslegungsbedürftigen Straftatbeständen muß der Normadressat wenigstens das Risiko einer Strafbarkeit abschätzen können. Es reicht nicht aus, wenn dem Normadressaten ein unkalkulierbares Strafrisiko bewußt wird. Ein nicht abschätzbares Risiko muß der Normadressat nicht tragen, da dies in der Tat zu der fragwürdigen Konsequenz führen würde, daß dieses Risiko umso größer würde, je vager der Straftatbestand formuliert ist. Keineswegs fragwürdig 32 ist aber die Berücksichtigung eines hinreichend abschätzbaren Strafbarkeitsrisikos, da dies umso mehr abschätzbar ist, je bestimmter der Tatbestand ist. Das Risiko der Strafbarkeit ist dann abschätzbar, wenn alle starren und gegebenenfalls komparativen Voraussetzungen abstrakt feststehen und im Einzelfall eine Subsumtion unter die starren Tatbestandsmerkmale bzw. eine Abwägung der komparativen Elemente erfolgen kann. 28 29 30 31 32

Ebenda, S. 687 ff. Vergleiche ebenda, S. 689. Ebenda, S. 688. Vergleiche ebenda. Vergleiche oben S. 296 f. und Fußnote 5 auf S. 296.

III. Komparative Systeme und Bestimmtheits- bzw. Vertrauensprinzip

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Zusammenfassend läßt sich somit festhalten, daß der Bestimmtheitsgrundsatz als methodenrechtliche Schranke komparative Normen nicht grundsätzlich verbietet.33 Das gilt sogar fur den Bereich des Strafrechts. Das Methodenrecht fordert allenfalls, daß die Entwicklung komparativer Systeme in der Hand der Gesetzgebung bleibt. Anders ausgedrückt greifen selbst die methodenrechtlichen Schranken des Art. 103 Abs. 2 GG nicht gegenüber komparativen Systemen als solchen. Sie greifen zwar gegenüber ungeschriebenen komparativen Elementen, nicht jedoch gegenüber geschriebenen komparativen Normen. Die vorliegende Arbeit mag ein Beitrag dazu sein, komparativen Systemen einen Platz in der Methodenlehre einzuräumen und ihnen gleichzeitig den methodenrechtlich zulässigen Platz zuzuweisen.

33

Das ist die methodenrechtliche Antwort auf die oben auf S. 63 aufgeworfenen Fragen der Erkennbarkeit des Rechts und der Willkürgefahr bei komparativer Rechtsanwendung. 20 Michael

Thesen

Α. 1 Diese Arbeit über den allgemeinen Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme bindet die Methodenlehre an das Verfassungsrecht. Ziel einer Theorie der komparativen Systeme ist es, unvermeidliche inhaltliche Unbestimmtheiten bei Abwägungsfragen durch die Bestimmtheit methodenrechtlicher Bindungen zu kompensieren. B. Die allgemeine Methodenlehre der Rechtswissenschaft muß auf dem Abstraktionsniveau eines „allgemeinen Teils" aller Rechtsgebiete stehen. C. Die Methodenlehre ist eine normative Wissenschaft. Ihre Forderungen (Methodennormen) sollten aus dem Recht abgeleitet werden. Die Methoden des Rechts müssen auf einem Recht der Methoden aufgebaut werden. Dieses Methodenrecht ist wesentlich Verfassungsrecht. Die parallele Idee der „Rechtsphilosophie als Verfassungslehre" 2, wird hier zur „ M e t h o d e n l e h r e als Verfassungslehre" fortentwickelt. D. Wilburgs Theorie der sog. „beweglichen Systeme"3 stellt lediglich den Idealfall komparativer Strukturen dar, bei dem die Elemente ranggleich und wechselseitig austauschbar sind und bei dem auf eine abschließende Tatbestandsbildung verzichtet wird (D 11).4

1

Die Thesen sind entsprechend den Gliederungsbuchstaben der Arbeit bezeichnet. In den folgenden Fußnoten werden schwerpunktmäßig die Nachweise zitiert, mit denen sich die Arbeit besonders ausführlich auseinandersetzt. 2 Häberle, Verfassungsentwicklungen in Osteuropa — aus Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, AöR 117 (1992), 169 ff.; vergleiche auch ders., Rechtsquellenprobleme im Spiegel neuerer Verfassungen — ein Textstufenvergleich, ARSP-Beiheft 62 (1995), S. 127, 128. 3 Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts, 1941, ders., Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht, Rektoratsrede Graz 1951, ders., Zusammenspiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346 ff. 4 Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 1969, S. 75 ff.

Thesen

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Die „beweglichen Systeme" sind ein Modell zur Lösung von Wertungsfragen, das die Rechtssicherheit erhöhen kann und nicht im Konflikt zu Art. 3 Abs. 1 GG steht (DI3). 5 Die Umdeutung starrer Tatbestandsmerkmale in „bewegliche" Elemente ist methodenwidrig. Das gilt auch für „Insbesondere"-Tatbestände und somit für das sog. „Sandhaufentheorem" 6 zu § 138 Abs. 2 BGB (D II). Die Lehren von der Topik7 (D III), von den Rechtsprinzipien8 (D IV) und vom Typus9 (D V) sind den Strukturen „beweglicher Systeme" verwandt. E. Die Theorie der komparativen Systeme umfaßt die vorgenannten Lehren und entwickelt sie fort. Komparative Systeme bestehen aus Elementen, deren rechtliche Gewichtung nicht starr feststeht, sondern mit Hilfe von Steigerungsformen (,je mehr ..., desto ...") gewonnen wird. Die komparativen Elemente sind graduell erfüllbare rechtliche Gesichtspunkte, die bei der rechtlichen Beurteilung eine graduelle Berücksichtigung finden. F. Komparative Systeme stellen ein Strukturprinzip des Rechts dar. Komparative Strukturen können sich auch hinter starren Tatbeständen verbergen. Es ist - in Anlehnung an das von Häberle10 vorgeschlagene „Textstufenparadigma" — zwischen verschiedenen „Methodenstufen" zu unterscheiden (F I).

5

Zu Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 230-233. Zu Bender, Ein Beitrag zur Regelungstechnik in der Gesetzgebungslehre, Gedächtnisschrift für Rödig 1978, S. 34 ff. und OLG Stuttgard NJW 1979, 2409 ff. 7 Zu Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Auflage 1974. 8 Zu Esser, Grundsatz und Norm, 4. Auflage 1990, S. 87 ff., Alexy, Zum Begriff des Rechtsprinzips, in: Krawietz u.a. (Hrsg.): Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Beiheft 1 (zur Zeitschrift für) Rechtstheorie (1979), S. 59 ff.; ders., Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, Beiheft 25 (1985) zu ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), S. 13 ff. und Otte, Zur Anwendung komparativer Sätze im Recht, in Bydlinski (Hrsg.), Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 271 ff. 9 Zu Larenz, Grundformen wertorientierten Denkens in der Jurisprudenz, in Festschrift für Wilburg zum 70. Geburtstag, 1975, S. 217 ff. 10 Vergleiche Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 ff.; ders., Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in Festschrift für Partsch, 1989, S. 555 ff.; ders., Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten - eine vergleichende Textstufenanalyse in Festschrift für Pedrazzini, 1990, S. 105 ff.; ders., Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierungen des Verfassungsstaates, VRÜ 1990, S. 225 ff.; ders., Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, Die Verwaltung 1991, S. 169 ff. (172 f.); ders., Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. (270); ders., Die Entwicklung des Föderalismus in Deutschland - insbesondere in der Phase der Vereinigung, in Kramer (Hrsg.), Föderalismus zwischen Integration und Sezession, 1993, S. 201 ff. 6

20*

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Thesen

Komparative Systeme haben eine Rechtsgewinnungsfunktion (F II) fur die Gesetzgebung und fur die Rechtsfortbildung, insbesondere bei der (am Gleichheitssatz orientierten!) Analogie (F II 1 b). Komparative Strukturen werden auch bei den Güterabwägungen des Verfassungsrechts (F II 1 c) sichtbar. Die Theorie der komparativen Systeme soll mitunter die Abwägungslehre11 gegen den Vorwurf 12 verteidigen, diese gehe zu Lasten der Rationalität. Komparative Systeme sind, wie §§34 und 46 StGB zeigen, auch im Strafrecht von Bedeutung (F II 2 b). Das Verwaltungsrecht ist besonders stark von komparativen Systemen geprägt. Diese unterliegen nur beschränkter gerichtlicher Kontrolle. Ermessensnormen i. S. d. §§ 40 VwVfG und 114 VwGO sind komparative Normen. Die Unterscheidung zwischen komparativen und starren Strukturen der Rechtsfindung tritt an die Stelle der überkommenen Abgrenzung13 zwischen Rechtsfolgen-Ermessen und unbestimmtem Rechtsbegriff. Verringerte gerichtliche Kontrolldichte bedeutet nicht Rechtsfreiheit, sondern soll im Gegenteil durch das verwaltungsinterne Verfahren und methodenrechtliche Strenge kompensiert werden. Bei komparativen Systemen besteht die „Beschränkung" der Kontrolldichte in einer Verlagerung der inhaltlichen Kontrolle auf methodenrechtliche Maßstäbe. Hierin unterscheiden sich Ermessen und komparative Systeme von der Billigkeit (F II 2 c). Das Abwägungs- und Optimierungsgebot des § 1 Abs. 5 und 6 BauGB ist ein Beispiel einer komparativen Norm des Verwaltungsrechts (F II 2 d). Starre, subsumtionsfähige Tatbestände dürfen nicht komparativ angewendet werden. Das heißt aber nicht, daß jede Norm nur entweder starr oder komparativ anzuwenden ist; vielmehr sind auch Mischformen denkbar. Komparative Systeme sollen in der Methodenlehre nicht das Subsumtionsmodell mit seinem Rechtsfolgenschluß (Wenn-dann-Schema) verdrängen, sondern dieses Modell an den Grenzen seiner Leistungsfähigkeit ergänzen (F III 1). Zwar können das Beweismaß und die Beweislastverteilung auch bei starren Normen komparative Strukturen aufweisen (F III 1 a). Das soll aber nicht dazu führen, daß Starrheiten des materiellen Rechts mit prozessualen Mitteln unterlaufen werden14. Das Prozeßrecht folgt vielmehr eigenen Zwecken und dient nicht der Korrektur des materiellen Rechts bzw. soll dessen Korrektur nicht ersetzen. 11

Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Auflage 1983, S. 31 ff. und 331 ff. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht 1976, S. 127 sowie Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 11. Auflage 1995, Randzeichen 316 und 333. 13 Gegen diese bereits Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 595 ff. und 691 ff. 14 Kritik an BGH 80, 153 = NJW 1981, 1206 ff.

Thesen

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Die Verteilung der Beweislast im Verwaltungrecht „in dubio pro ratione legis" (Berg 15) wird von der Theorie der komparativen Systeme bestätigt. Ein Regelbeweismaß der überwiegenden Wahrscheinlichkeit16 ist abzulehnen. Der Kanon der klassischen Auslegungsmethoden stellt ein komparatives System dar (F III 1 b). 17 Die „fünfte Auslegungsmethode"18 der Rechtsvergleichung ist eine Rechtsgewinnungsmethode, deren methodenrechtliche Zulässigkeit von der Zulässigkeit der Rechtsfortbildung abhängt (F III 1 c). Die Rechtsvergleichung kann auch Rechtsfindungsmethode sein, wenn sie tendenzlos vergleichend gehandhabt wird. D. h. sie darf dabei nicht als „internationalisierende" Auslegung verstanden werden, so wie auch die historische Auslegung nicht als „historisierende" Auslegung zu verstehen ist. Soweit das Methodenrecht den Rang des Verfassungsrechts hat, ist in Anknüpfung an die Idee eines „Gemeineuropäischen Verfassungsrechts" 19 auch ein „Gemeineuropäisches Methodenrecht" denkbar. Komparative Systeme dürfen nicht starr angewendet werden. Dieses methodenrechtliche Verbot ist im Verwaltungsrecht unter dem Stichwort „ErmessensNichtgebrauch" bekannt (F III 2). Die Ermessensreduzierung auf Null ist ein der komparativen Methode immanenter Grenzfall (F III 2 a). Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften stellen komparative Systeme dar (F III 2 b). Die Besonderheit ihrer Bindungswirkung und verwaltungsgerichtlicher Überprüfbarkeit beruht nicht auf einer Unterscheidung zwischen Innenund Außenrecht, sondern in der Unterscheidung zwischen komparativer und starrer Bindung. 15

Zu Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, 1980, S. 243 einerseits und zur Kritik von J. J. Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 112 ff. andererseits. 16 Vergleiche Maassen, Beweisprobleme im Schadensersatzprozeß 1976, S. 9 und Mötsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 1983, S. 34 ff. 17 Zu Bydlinski, Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht, 1986, S. 29 und ders., Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage 1991, S. 555 und 564. 18 Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfter" Auslegungsmethode, JZ 1989,913 ff.; jetzt auch in ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 27 ff. Vergleiche auch Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Auflage 1991, Randzeichen 227 Fußnote 89. 19 Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, 261 ff.; jetzt auch in ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 71 ff.; vergleiche auch ders., Europäische Rechtskultur, Versuch einer Annäherung in zwölf Schritten, 1994.

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Thesen

G. Der allgemeine Gleichheitssatz ist die zentrale Methodennorm komparativer Systeme. Die Bedeutung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG läßt sich mit der Theorie der komparativen Systeme erklären. Art. 3 Abs. 1 GG formuliert nur die Zielvorgabe der Gleichberechtigung. Gebote müssen hieraus erst abgeleitet werden. Dabei sollte nicht an „wesentliche Gleichheit", sondern an die Ungleichheit angeknüpft werden (G I). 20 Aus verschiedenen Graden der Ungleichheit ergeben sich drei Bindungsmaßstäbe des Art. 3 Abs. 1 GG (G II): Das Gleichbehandlungsgebot ist der Extremfall, bei dem kein Unterschied eine Differenzierung erlaubt. Es beruht letztlich auf einer Summe von Differenzierungsverboten (G II 1). Im wesentlichen normiert Art. 3 Abs. 1 GG rechtliches Ermessen, genauer gesagt das Methodenrecht komparativer Systeme. In diesem Ermessensbereich ist die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte beschränkt. Das ist der Hintergrund der Zurückhaltung des BVerfG in Fragen zu Art. 3 Abs. 1 GG (G II 2). Ein Differenzierungsgebot ist der dem Gleichbehandlungsgebot entgegengesetzte Extremfall, bei dem Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. besonders geschützten Rechtsgütern eine Differenzierung zwingend vorschreibt (G II 3). Differenzierungsverbot und Differenzierungsgebot sind Reduktionen des den Gleichheitssatz prägenden Ermessensbereichs auf Null. Solche Reduktionen hängen komparativ von einem besonderen Grad minimaler bzw. maximaler Ungleichheit ab. Dieser richtet sich nach der Beurteilung „wesentlicher" Ungleichheit, m. a. W. nach dem Wesensgehalt (vergleiche Art. 19 Abs. 2 GG)21 des Art. 3 Abs. 1 GG. Eine Ermessensreduzierung auf Null wirkt sich gleichzeitig auf die Kontrolldichte (vergleiche Art. 19 Abs. 4 GG; hierzu noch unter G VII) aus. Nicht die Gemeinsamkeiten, sondern die Unterschiede (bzw. deren Fehlen oder Unwesentlichkeit) sind für die Wertung des Art. 3 Abs. 1 GG ausschlaggebend (G II 4). Art. 3 Abs. 1 GG setzt inhaltliche Rechtsmaßstäbe voraus. Diese sind in erster Linie dem geschriebenen und ungeschriebenen positiven Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG zu entnehmen. Art. 3 Abs. 1 GG verweist nicht typischerweise, sondern nur äußerstenfalls auf überpositives Recht (G III). 22 20

Zugleich Auseinandersetzung mit der sog.,,alten" bzw. „neuen Formel " des BVerfG in E 1,14,16 (Leitsatz 18), 52 bzw. E 55, 72, 88. 21 Zu Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Auflage 1983, S. 375. 22 Zu Hesse, Der Gleichheitssatz in der neueren deutschen Verfassungsentwicklung, AöR 109 (1984), 174, 177 ff. und ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 19. Auflage 1993, Randzeichen 440.

Thesen

311

Die Frage, ob Art. 3 Abs. 1 GG Differenzierungen verbietet bzw. gebietet oder aber in das Ermessen des Rechtsanwenders stellt, hängt davon ab, ob die Rechtsinhalte, auf die Art. 3 Abs. 1 GG verweist, starrer oder komparativer Natur sind (G III 1). Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften und Selbstbindungstatbestände können Recht i. S. d. Art. 20 Abs. 3 GG sein und binden dann die Verwaltung komparativ i. S. d. Ermessensbereichs des Art. 3 Abs. 1 GG. „Ermessen" bedeutet, daß Art und Grad der Einzelfallunterschiede zu messen sind und sodann eine Differenzierung nach Maß erfolgt (G III 2). Die Funktion komparativer Systeme bei der Rechtsfortbildung ist in einem methodenrechtlichen Spannungsfeld zwischen Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 103 Abs. 2 GG zu suchen (G III 3) Ein allgemeines Willkürverbot erfaßt nur Extremfalle des Anwendungsbereichs von Art. 3 Abs. 1 GG (G III 4). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG insoweit eine Bedeutung, als er komparative Strukturen aufweist (G IV). Das Verhältnismäßigkeitsprinzip in seiner ersten Dimension als Eingriffsschranke beschränkt nicht solche Differenzierungen, die der Gleichberechtigung i. S. d. Art. 3 Abs. 1 GG dienen. In seinerzweiten Dimension gebietet das Verhältnismäßigkeitsprinzip den Vergleich verschiedener Differenzierungen untereinander. In dieser Hinsicht ist jedoch die gerichtliche und verfassungsgerichtliche Kontrolldichte zu beschränken (G IV l). 2 3 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist in seiner ersten Dimension aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 2 GG,24 in seiner zweiten Dimension aus Art. 3 Abs. 1 GG herzuleiten (G IV 2). Die hier vertretene Auffassung zum Gleichheitssatz und seinem Zusammenhang zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fügt sich auch in die Dogmatik des Europäischen Gemeinschaftsrechts ein.25 Der methodenrechtliche Ansatz einer Theorie der komparativen Systeme läßt sich somit auf die europäische Ebene übertragen. (G IV 3). (Zum „Gemeineuropäischen Methodenrecht" vergleiche schon oben F III 1 c.)

23

Zu BVerfGE 74, 9, 28 ff.; Huster, Rechte und Ziele. Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1993, S. 142 ff. und ders., Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, 541 ff. 24 Zu Häberle, „Gemeinwohljudikatur" und Bundesverfassungsgericht, AöR 95 (1970), 86, 107. 25 Zu Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht 1979, S. 179 ff. und Mohn, Der Gleichheitssatz im Gemeinschaftsrecht 1990.

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Thesen

Art. 3 Abs. 1 GG legitimiert als Methodennorm sowohl komparative Rechtsetzung als auch komparative Rechtsanwendung. Komparative Systeme werden der Idee des Gleichheitssatzes in besonderer Weise gerecht, wenn die zu regelnden Sachverhalte eine flexible, differenzierende Behandlung gebieten und von dieser komparativen Flexiblität gleichmäßiger Gebrauch gemacht wird (G V). Art. 3 Abs. 1 GG tendiert zu gleichmäßigen Differenzierungen (komparativen Systemen). Demgegenüber sind schematische Gleichbehandlungen (Typisierungen) als Eingriffe in Art. 3 Abs. 1 GG nur zu rechtfertigen, wenn es sich um hinreichend differenzierte Gleichbehandlungen handelt und diese aus Praktikabilitätsgründen einer komparativen, einzelfallbezogenen Differenzierung vorzuziehen sind. Komparative Systeme legen die Differenzierungskriterien abstrakt fest, ohne auf die Flexibilität der Einzelfallbewertung zu verzichten (G V 1). Die verwaltungsrechtliche Lehre von der Ermessensausübung liefert methodenrechtliche Maßstäbe für die Anwendung komparativer Systeme. Insofern ergänzen sich verfassungsrechtliche und der verwaltungsrechtliche Grundsätze zum methodenrechtlichen Ansatz (G V 2). „Systemgerechtigkeit" ist im Rahmen der zweiten Dimension der Verhältnismäßigkeit geboten. Die zweite Dimension der Verhältnismäßigkeit ist ein „systematischer" Vergleich von Wertungen. Systemgerechtigkeit ist die Gerechtigkeit systematisch-verhältnismäßiger Abwägungen. Art. 3 Abs. 1 GG ist als Methodennorm die verfassungsrechtliche Verankerung der Systemgerechtigkeit. Als Methodennorm reicht Art. 3 Abs. 1 GG und das ihm immanente Gebot der Systemgerechtigkeit jedoch nur soweit, als positivrechtliche inhaltliche Maßstäbe (vergleiche oben zu G III) eine systematische Verhältnismäßigkeit gebieten.26 Komparative Normen sind die positivrechtlichen inhaltlichen Maßstäbe, die solche Systemgerechtigkeit fordern (G VI). Die Kontrolldichte des Art. 3 Abs. 1 GG darf einerseits nicht auf die bloße Willkürkontrolle beschränkt werden. Andererseits darf die (zweite) Dimension der Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Gleichheitssatzes nicht zu einer Vergerichtlichung von komparativen Entscheidungen fuhren. Vielmehr ist das in der Verhältnismäßigkeit enthaltene Optimierungsgebot bei der gerichtlichen Kontrolle auf ein Übermaßverbot zu beschränken. Bei der Kontrolldichte ist zwischen materiellen, verfahrensrechtlichen und methodenrechtlichen Maßstäben zu unterscheiden. Die Beschränkung der Kontrolldichte hängt von fünktionellrechtlichen27 Erwägungen ab (G VII). 26

Zu Schmitt Glaeser, Systemgerechtigkeit in der Raumplanung, in Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes 1979,291 ff. 27 Zum fünktionellrechtlichen Denken vergleiche schon Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, 297, 303 f.; auch abgedruckt in ders., Die Verfassung des Pluralismus 1980, S. 79,91 f. sowie ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 155, 174 f. m. w. N. im Nachtrag auf S. 180 f.

Thesen

313

H. Die methodenrechtlichen Schranken komparativer Systeme müssen sich am Bestimmtheitsgrundsatz orientieren. Dabei ist zwischen der Bestimmtheit (komparativer) Normen und deren Auslegung zu unterscheiden. Aus der Rechtsprechung des BVerfG 28 zu Art. 103 Abs. 2 GG lassen sich keine verallgemeinerbaren Anforderungen herleiten. Es ist vorrangig zu prüfen, ob einzelne nicht sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlungen vorliegen, die gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, bevor man eine gesamte, jahrzehntelange Rechtsprechung für „unbestimmt" i. S. d. Art. 103 Abs. 2 GG erklärt. (H I). Anwendungsspielräume lassen sich methodenrechtlich am ehesten dann rechtfertigen, wenn sie auf komparativen Systemen beruhen. Ein Vertrauen des Bürgers auf eine ihm günstige vertretbare Auslegung ist hier nicht schutzwürdig (H II). 29

28

Zu BVerfG NJW 1995, 1141 ff. und BVerfGE 73,206 ff. Zu Bleckmann, Spielraum der Gesetzesauslegung und Verfassungsrecht, JZ 1995, 685 ff. 29

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Legitimation, 39 ff. Methodenlehre, 21 f f , 29 ff. Methodennorm, 17, 29 f f , 49 Methodenrecht, 17 f f , 49,160 ff. Mitverschulden, 71 ff. offene Systeme, 61 ff. Optimierungsgebot, 181 ff. Planungsrecht, 178 ff. positives Recht, 40 f. praktische Konkordanz, 137 ff. Recht, 21 f. Rechtserkenntnis, 25 Rechtsfindung, 23 Rechtsfortbildung, 24,127 f f , 252 ff. Rechtsgewinnung, 23 f , 127 ff. Rechtsprinzipien, 95 ff. Rechtsquelle, 21 f. Rechtsstaatsprinzip, 295 Rechtsvergleichung, 56, 80 f , 209 ff. Regelbeispiel, 151 ff. Regelbeweislast, 197 ff. Regelbeweismaß, 197 ff. Richterrecht, 252 ff. Sandhaufentheorem, 76 ff. Selbstbindung, 249 ff. Sittenwidrigkeit, 77 ff. Strafzumessung, 147 ff. System, 19 Systemgerechtigkeit, 275 ff. Textstufenparadigma, 27, 307 Topik, 92 ff. Typus, 106 ff.

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unbestimmter Rechtsbegriff, 160 ff. Ungleichheit, 223 ff. verfassungskonforme Auslegung, 43 Vergleichung, 48 Verhältnismäßigkeit i. e. S , 137 f f , 275 ff. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, 262 f f , 285 f. Vertrauensschutz, 295 Verwaltungsvorschriften, 214 f f , 249 ff. Vorhersehbarkeit, 295 f. Wahrscheinlichkeit, 199 ff. Willkürverbot, 261 f.