Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn 353042174X, 9783530421743

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Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn
 353042174X, 9783530421743

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Simon Baron-Cohen

Vom ersten Tag an anders Das weibliche und das männliche Gehirn

Aus dem Englischen von Maren Klostermann

Walter Verlag

Inhalt

Dank 1 Weibliches und männliches Gehirn 2 Junge trifft Mädchen ... 3 Was ist Empathie? 4 Das weibliche Gehirn: Nachweise für ein besonderes Empathievermögen 5 Was ist Systematisieren? 6 Das männliche Gehirn: Nachweise für ein besonderes Systematisierungsvermögen 7 Kultur 8 Biologie ! 9 Die Evolution des männlichen und des weiblichen Gehirns 10 Autismus: Die Extremform des männlichen Gehirns 11 Ein Mathematikprofessor 12 Die Extremform des weiblichen Gehirns: Zurück in die Zukunft Anhang 1 »Die Sprache der Augen« 2 Der Empathie-Quotient (EQ) 3 Der Systematisierungs-Quotient (SQ) 4 Der Autismus-Spektrum-Quotient (AQ) Liste der Abbildungen Anmerkungen Bibliografie Register

7 11 28 39 50 93 102 122 135 164 184 212 231 253 267 273 280 285 286 296 326

Zum Gedenken an

Robert Greenblatt (1906-1987)

(Augusta Georgia Medical School), der Endokrinologie mit Menschlichkeit verband

und Donald Cohen (1940-2001)

(Yale Child Study Center), der den Autismus erforschte und sich für Kinder in Not einsetzte

Dank

Bridget Lindley hat als Erste an meine Theorie geglaubt, dass es grundlegende mentale Unterschiede zwischen Mann und Frau gibt und dass eine Extremform des männlichen Gehirns eine Erklärung für den Autismus liefern könnte. Sie hat mich unterstützt, als ich mich auf dieses politisch gefährliche Terrain begab und das schon Anfang der Neunziger jähre, als man kaum zu denken wagte, dass so etwas wie psychische Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen könnten. Wie viele andere auch bemerkte Bridget diese Unterschiede im Alltagsleben und überzeugte mich schließlich, dass die Mehrheit der Leser inzwischen aufgeschlossen genug sei, um sich objektiv mit den Nachweisen auseinander zu setzen. Viele Menschen haben mir dabei geholfen, meine Gedanken für dieses Buch zu entwickeln. Dazu gehören meine begabten studentischen Mitarbeiter der letzten Jahre: Chris Ashwin, Anna Ba'tkti, Livia Colle, Jennifer Connellan, Jaime Craig, Ofer Golan, Rick Griffin, Jessica Hammer, John Herrington, Therese Joliffe, Rebecca Knickmeyer, Johnny Lawson und Svetlana Lutchmaya. Ferner die Mitglieder meines geschätzten Forschungsteams: Carrie Allison, Matthew Belmonte, Jacqueline Hill, Rosa Hoekstra, Karen McGinty, Catherine Moreno, Jennifer Richler, Fiona Scott, Carol Stott und Sally Wheelwright. Sally bin ich zu ganz besonderem Dank verpflichtet, auch wenn dieser Hinweis sie vielleicht in Verlegenheit bringt. Sally und ich haben erstmals 1996 zusammengearbeitet, und sie war von den Fragen, die in diesem Buch behandelt werden, genauso fasziniert wie ich. Wir haben eine lange und ungeheuer produktive Zusammenarbeit erlebt, und ein Großteil der Forschungsarbeit, die diesem Buch zu Grunde liegt, wäre ohne sie nicht möglich gewesen. Einige Kollegen und Freunde haben mich ebenfalls nach Kräften unterstützt: Patrick Bolton, Kirsten Callesen, Lynn Clernance,

Peter Fonagy, Ian Goodyer, Ami Klin, Chantal Martin, Amitta Shah, Luca Surian, Helen Tager-Flusberg und Esther Tripp. Meine KlinikKollegen Janine Robinson, Emma Weisblatt und Marc WöodburySmith haben mir bei meinen Bemühungen um ein besseres Verständnis des Asperger-Syndroms sehr geholfen. Last, but not least danke ich meinen Mitarbeitern Ralph Adolphs, James Blair, Ed Bullmore, Carol Brayne, Andy Calder, Tony Charman, Livia Colle, Carol Gregory, Gerald Hackett, Melissa Hines, John Hodges, loan James, Mark Johnson, John Manning, Michelle O'Riordan, Robert Plomin, Peter Raggatt, Melissa Rutherford, Geoff Sanders, David Skuse, Valerie Stone, Steve Williams, Max Whitby, Andy Young und Martin Yuille. Viele der oben genannten Personen haben neue Fakten gesammelt und Hypothesen überprüft. Von einigen dieser Entdeckungen wird in diesem Buch die Rede sein. Ich danke auch Consulting Psychologist Press für die Erlaubnis, den Test mit den eingebetteten Figuren in diesem Buch abzudrucken (»Adult Embedded Figures Test«). Der »Augensprache«Test (»Reading the Mind in the Eyes«-Test, Anhang 1) basiert auf Fotos aus kommerziellen Quellen. Der Test als solcher wird nur für Forschungszwecke benutzt und nicht für kommerzielle Zwecke vertrieben. Das Copyright für die einzelnen Fotos lässt sich bei diesen Fotofragmenten nicht zurückverfolgen. Meine Theorie, dass die Extremform des männlichen Gehirns ursächlich für den Autismus sein könnte, habe ich erstmals 1997 in einem kleinen Aufsatz formuliert. Ich zögerte, meine Thesen öffentlich vorzustellen, bis die Organisation »Cure Autism Now« im März 2000 eine wissenschaftliche Tagung an der Rutgers University veranstaltete. Die eingeladenen Vortragsredner sollten ihre provokativsten Thesen vorstellen. Zu meiner Überraschung bedachten die Konferenzteilnehmer meine exzentrische Theorie nicht einfach mit einem höflichen Lächeln, sondern griffen sie begeistert auf und ermutigten mich, den Ansatz weiterzuverfolgen. Im März 2001 präsentierte ich die Theorie an den Institutes of Psychiatry and Cognitive Neuroscience in London. Die positiven Reaktionen, die ich dort insbesondere von Uta Frith erhielt, bestärkten mich in der Überzeugung, dass die Ideen nun reif für 1

ein größeres Publikum waren. Als meine Thesen auf einer Autismus-Konferenz (»Autism India«) in Chennai (Januar 2001) und in Madrid (Mai 2001) ähnlich positiv aufgenommen wurden, gewann ich den Eindruck, dass die zur Debatte stehenden Unterschiede in der Psychologie der Geschlechter etwas Universelles sind. Die Resonanz bei weiteren Vorträgen, zum Beispiel im Rahmen des Child Psychiatry-Lehrprogramms in PriStina (Mai 2002) oder der Child Psychiatry Conference in Rom (Juni 2002), führte dazu, dass ich einen kurzen Aufsatz über dieses Thema für die Gemeinschaft der Kognitionswissenschaftler verfasste. Im vorliegenden Buch erweitere ich diese frühe Veröffentlichungen für eine breitere Leserschaft. Die folgenden Institutionen haben meine Arbeit während der Fertigstellung dieses Buches finanziell unterstützt: Medical Research Council (UK), Cure Autism Now, Shirley Foundation, Corob Foundation, Three Guineas Trust, Gatsby Trust, Isaac Newton Trust, NHS Research and Development Fund, National Alliance for Autism Research und James S. McDonnell Foundation. Auch die folgenden Einrichtungen haben meine Arbeit gefördert: Trinity College Cambridge und innerhalb der Cambridge University das Department of Experimental Psychology and Psychiatry, das Clinical School Department of Biochemistry, das Autism Research Centre, fMRI Brain Mapping Unit, Wolfson Brain Imaging Centre, Section of Developmental Psychiatry und das Rosie Maternity Hospital. Zu den Förderungsinstitutionen außerhalb der University gehörten: Cambridge Lifespan Asperger Syndrome Service (CLASS), Lifespan NHS Trust (jetzt Cambridgeshire and Peterborough NHS Mental Health Trust), National Autistic Society (UK) und deren Zweigstelle in Cambridge, Umbrella. Einige Menschen haben mir den großen Gefallen erwiesen, dieses Buch im Manuskriptstadium zu lesen, und mir wertvolle Anregungen gegeben: Helena Cronin, Rick Griffin, Rosa Hoekstra, Johnny Lawson, Esther Tripp, Sally Wheelwright, Geoff Sanders und Rebecca Knickmeyer. Diesen freundlichen Kritikern bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. Dank auch an Richard Borcherds, der einer Aufnahme des Materials in Kapitel 11 großzügig zugestimmt hat. Für die herausragende Unterstützung bei allen 2

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Sekretariatsaufgaben danke ich Alison Cläre, Paula Naimi und Jennifer Hannah. Meine Agenten John Brockman und Katinka Matson haben sich in wunderbarer Weise für dieses Buch eingesetzt. Stefan McGrath und Amanda Cooke, meine Herausgeber bei Penguin (UK) und bei Basic Books (USA), haben mir wertvolle Anregungen für die letzte Überarbeitung der Entwürfe gegeben. Helen Guthrie und Mariateresa Boffo bei Penguin fügten alles zusammen, und meine Lektorin Caroline Pretty hat mir mit Engelsgeduld dabei geholfen, meine Worte in eine verständliche Sprache zu bringen. Ihnen allen bin ich zu großem Dank verpflichtet. Meine Eltern ebenso wie meine Brüder und Schwestern Dan, Ash, Liz und Suzie haben schließlich für einen Großteil der guten Laune gesorgt, die jeder Autor braucht, um den Schreibprozess fortzusetzen. Auch meine Kinder Sam, Kate und Robin haben einen wertvollen Beitrag zu diesem Buch geleistet, manchmal ohne sich dessen bewusst zu sein. Euch allen gilt mein tief empfundener Dank.

1

Weibliches und männliches Gehirn

Wer Theorien über grundlegende Unterschiede im Denken und Bewusstsein von Mann und Frau aufstellt, begibt sich zweifellos auf gefährliches Terrain. Ich könnte mich dem heiklen Thema vorsichtig annähern, aber Ihnen ist es bestimmt lieber, wenn ich ohne Umschweife zum Kern der Sache komme. Deshalb hier meine Theorie: Das weibliche Gehirn ist so »verdrahtet«, dass es überwiegend auf Empathie ausgerichtet ist Das männliche Gehirn ist so »verdrahtet«, dass es überwiegend auf das Begreifen und den Aufbau von Systemen ausgerichtet ist. Mit dem Rest dieses Buches gelingt es mir hoffentlich, Sie davon zu überzeugen, dass es eine wachsende Anzahl von Belegen für diese Theorie gibt. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass manche Leserinnen schon auf der ersten Seite beunruhigt reagieren. Liefert diese Theorie vielleicht nur Wasser auf die Mühlen einiger Reaktionäre, die nicht wollen, dass sich an der gesellschaftlichen Diskriminierung der Frau etwas ändert? Diese Befürchtungen kann ich vermutlich erst zerstreuen, wenn ich Sie davon überzeugt habe, dass man diese Theorie progressiv, zum Vorteil der Frauen nutzen kann. Genauso gut kann ich mir vorstellen, dass manche Leserinnen durchaus bereit sind, mir auf halbem Wege zu folgen und das einstige Tabuthema mentaler Unterschiede zwischen Mann und Frau zu erforschen. Doch wenn wir dann auf die eigentlichen Ursachen dieser geschlechtsspezifischen Unterschiede stoßen, entdecken diese Leserinnen möglicherweise Dinge, die sie lieber nicht sehen möchten. Einige hoffen vielleicht, dass die Unterschiede ausschließlich ein Produkt der Erfahrung sind. Doch was ist, wenn die Abweichungen auch einige angeborene physiologische Faktoren

widerspiegeln? Und falls es tatsächlich grundlegende Unterschiede im Denken von Mann und Frau gibt, sind diese Unterschiede modifizierbar? Oder sollten wir uns vielleicht sogar über solche Unterschiede freuen, statt sie zu fürchten? Fragen wie diese möchte ich in diesem Buch erforschen. Doch zunächst möchte ich noch etwas ausführlicher auf die beiden zentralen Behauptungen der Theorie eingehen. Das weibliche Gehirn: Empathie

Unter Empathie versteht man das Vermögen, die Gefühle und Gedanken eines anderen Menschen zu erkennen und darauf mit angemessenen eigenen Gefühlen zu reagieren. Empathie oder Einfühlungsvermögen bedeutet nicht nur, dass man kühl berechnet, was eine andere Person denkt oder fühlt (es hat nichts mit dem zu tun, was manchmal als »Gedankenlesen« bezeichnet wird). Das können auch Psychopathen. Bei der Empathie geht es darum, dass man eine angemessene emotionale Reaktion im eigenen Innern spürt, die durch die Emotion der anderen Person ausgelöst wird. Wer sich in einen anderen Menschen einfühlt, will ihn verstehen, sein Verhalten vorhersagen und eine emotionale Verbindung zu ihm herstellen. Angenommen, Sie erkennen, dass eine Freundin von Ihnen Kummer hat, aber es lässt Sie kalt. Es ist Ihnen gleichgültig, Sie haben Wichtigeres zu tun oder empfinden sogar eine gewisse Schadenfreude. Das ist keine Empathie. Stellen Sie sich jetzt vor, Sie erkennen das Unglück Ihrer Freundin nicht nur, sondern fühlen sich automatisch selbst betroffen, leiden mit und verspüren den Wunsch, ihr sofort zu helfen - das ist Empathie. Empathie heißt, dass man Gefühle erkennt und darauf reagiert, und das gilt für alle Emotionen oder jede innere Verfassung, nicht nur für so offenkundige Gefühlszustände wie Kummer. Empathie entsteht aus dem natürlichen Wunsch, sich um andere zu kümmern. Wie dieses Bedürfnis entsteht, ist relativ umstritten, und wir verschieben die Erörterung dieser Frage auf Kapitel 7 und 8. In diesem Buch soll untersucht werden, welche Nachweise

dafür vorliegen, dass Frauen - im Durchschnitt - ein stärkeres Einfühlungsvermögen entwickeln als Männer. Man beachte, dass ich hier keineswegs von allen Frauen rede, sondern nur von der Durchschnittsfrau verglichen mit dem Durchschnittsmann. Empathie ist eine Fähigkeit (oder Gruppe von Fähigkeiten), und wie für jede andere Fähigkeit, ob sportliches, mathematisches oder musikalisches Talent, gilt auch für das Einfühlungsvermögen, dass wir alle in unterschiedlichem Maße damit ausgestattet sind. Genauso wie wir darüber nachdenken können, weshalb jemand in diesen anderen Bereichen besonders talentiert, durchschnittlich begabt oder auch behindert ist, so können wir auch über individuelle Unterschiede beim Einfühlungsvermögen nachdenken. Man könnte die Empathie sogar als ein Merkmal wie die Körpergröße auffassen, weil sie genau wie diese bei allen Menschen unterschiedlich ist. Und genauso wie man die Körpergröße eines Menschen messen kann, kann man auch die Unterschiede im Einfühlungsvermögen messen. In Kapitel 4 stelle ich einige Methoden vor, die zur Messung solcher Unterschiede benutzt werden.

Abbildung 1: Die normale Verteilung von Empathiefähigkeiten

In Abbildung 1 ist dieser Gedanke grafisch dargestellt. Die meisten Leute fallen in den mittleren Bereich des potenziellen Spektrums. Doch die Ausläufer dieser glockenförmigen Kurve zeigen, dass manche Menschen erheblich weniger Empathie besitzen (am linken Verteilungsrand), während andere (am rechten Verteilungsrand) besonders reich mit dieser Gabe gesegnet sind. Im weiteren

Verlauf wird sich zeigen, ob Frauen tatsächlich verstärkt zum Gehirntyp E (für Empathie) neigen. Das männliche Gehirn: Systeme

Das »Systematisierungsvermögen«, das heißt die Fähigkeit zu einem methodisch-analytischen Vorgehen, zeigt sich in dem Drang, Systeme zu analysieren, zu erforschen oder zu entwickeln. Wer seine Wahrnehmungen in ein System bringen will, versteht intuitiv, wie etwas funktioniert oder durch welche übergreifenden Regeln das Verhalten eines Systems gesteuert wird. Ziel ist es, das System zu begreifen und sein Verhalten vorherzusagen oder ein neues zu erfinden. Fast alles kann ein System sein: ein Teich, eine Pflanze, ein Büchereikatalog, ein Musikstück, ein Wurf beim Kricket oder auch eine militärische Einheit. Alle operieren nach dem Prinzip, dass eine bestimmte Eingabe zu einem bestimmten Ergebnis führt, wobei die Wechselbeziehung zwischen diesem Input und Output von »Wenn-dann«-Regeln beherrscht wird. Nehmen wir ein einfaches Beispiel für ein System, wie etwa einen Dimmer. Angenommen, das Licht ist der Input. Wenn Sie den Dimmer ein klein wenig im Uhrzeigersinn drehen (Operation), wird die Glühbirne an der Decke heller (Output 1). Wenn Sie weiterdrehen, leuchtet die Birne noch heller (Output 2). Durch Regeln über »Wenn-dann«Zusammenhänge können wir das Verhalten der meisten unbelebten Systeme vorhersagen. Wenn man Input, Operation und Output kontrolliert, kann man feststellen, wodurch das System mehr oder weniger effizient arbeitet und was es zu leisten vermag. So wie die Empathie den Einzelnen befähigt, mit den unzähligen bestehenden Emotionen umzugehen, so eröffnet der Prozess des Systematisierens die Möglichkeit, erfolgreich mit einer ungeheuren Anzahl von Systemen umzugehen. Ich werde im Folgenden darzulegen versuchen, dass Männer im Durchschnitt stärker dazu neigen als Frauen, ihre Wahrnehmungen in Systeme zu bringen. Um es noch einmal zu betonen: Ich habe nicht gesagt, dies gelte für alle Männer Ich rede lediglich von

statistischen Durchschnitten, und die Ausnahmen von der Regel können auch hier sehr lehrreich sein. Doch vorläufig will ich das männliche Gehirn als Typ S (für Systematisieren) bezeichnen. Wenn Menschen sich in ihrem Einfühlungsvermögen unterscheiden, können sie auch individuelle Unterschiede in ihrem Systemverständnis aufweisen. Die meisten Leute fallen in den mittleren Bereich der in Abbildung 2 dargestellten Kurve, aber einige wenige haben das Glück, dass sie am äußersten rechten Rand des Spektrums stehen. Andere finden Systeme (wie etwa Automotoren, Computer, Mathematik oder Technik) völlig verwirrend; sie stehen am anderen Ende des Spektrums - am linken Verteilungsrand. Wir werden später noch sehen, ob es tatsächlich stimmt, dass Männer (als Gruppe) bei Messungen des Systematisierungsvermögens besser abschneiden.

Abbildung 2: Die normale Verteilung von Systematisierungsfähigkeiten Systematisierung oder Ernpathie?

Kann man einen Menschen systematisieren? Das funktioniert recht gut, wenn man ein System innerhalb des Menschen zu begreifen sucht, wie etwa die Eierstöcke. So kann man beispielsweise feststellen, dass eine von zehn schwangeren 20-Jährigen eine Fehlgeburt erleidet, während bei 35-Jährigen bereits jede fünfte davon betroffen ist. Im Alter von 40 Jahren kommt es bei einer von drei Schwangeren und im Alter von 42 Jahren bei neun

von zehn Schwangeren zu einer Fehlgeburt. In diesem Beispiel habe ich die weibliche Fruchtbarkeit in ein System gebracht, mit anderen Worten, ich habe sie als System behandelt, das bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt. Die weiblichen Eierstöcke sind der Input, der Anstieg des Lebensalters ist die Aktivität oder die Operation, und das Risiko einer Fehlgeburt ist der Output. Dieses systematische Ordnen funktioniert auch ganz gut, wenn man menschliche Gruppe bzw. ihr Verhalten als System auffassen will. Das gilt zum Beispiel, wenn man die Muster von Autounfällen auf einer bestimmten Schnellstraße untersucht oder typische Muster beim Wählerverhalten. Auch diese Systeme werden wie alle anderen von bestimmten Gesetzmäßigkeiten beherrscht, sind endlich und kausal vorherbestimmt. In den meisten Alltagssituationen ist es jedoch weder hilfreich noch sinnvoll, wenn wir unsere Wahrnehmungen in Systeme bringen, auch wenn einige Philosophen der Ansicht sind, dass unsere praktische Menschenkenntnis (unsere »Alltagspsychologie«) bestimmten Regeln folgt, die auf »Wenn-dann«-Gesetzen beruhen oder auf damit verbundenen Verallgemeinerungen wie: »Wenn man einen anstrengenden Tag hat, dann bekommt man schlechte Laune.« Doch Verhaltensweisen und Emotionen folgen keinen wirklich berechenbaren Gesetzen. Wie ist es sonst zu erklären, dass einige Leute nach einem anstrengenden Tag mit strahlender Miene herumlaufen? Auch um zu verstehen oder vorherzusagen, wie sich das Verhalten einer Person von einem Augenblick zum anderen verändert, sind solche Ableitungsregeln praktisch nutzlos. Denken Sie nur an eine Regel wie: »Wer bekommt, was er will, ist glücklich«. Angenommen, Sie folgen dieser Regel und kaufen Ihrer Freundin Hannah das Geschenk, das sie sich selbst ausdrücklich zum Geburtstag gewünscht hat. Weshalb ist sie dann trotzdem nicht glücklich? Durch ein systematisches Vorgehen kann man einen so veränderlichen Bereich wie den der menschlichen Gefühle einfach nicht in den Griff bekommen. Während sich das Systematisieren als natürliche Methode anbietet, wenn man Ereignisse und Gegenständen vorhersagen oder verstehen will, bietet sich die Empathie als natürliche Methode für ein Verständnis anderer Menschen an. Versuchen wir, Hannah aus

unserem Beispiel zu verstehen: Sie hatte zwar Geburtstag und erhielt das gewünschte Geschenk, aber sie wartete in dieser Woche auch auf die Ergebnisse einer ärztlichen Untersuchung. Möglicherweise hat sie eine schlechte Nachricht erhalten. Vielleicht hätte man sie fragen sollen, wie es ihr geht, und sich auf ihre Gefühle, ihre innere Welt einstellen müssen. Selbst bei dieser scheinbar simplen Interaktion erweisen sich also einfache Regeln über das zu erwartende Verhalten eines Menschen als nahezu nutzlos. Ein systematisches und ein einfühlsames Vorgehen sind demnach offenbar zwei völlig unterschiedliche Vorgehensweisen. Empathie setzt man ein, um das Verhalten eines einzelnen Menschen zu verstehen, während man das Systematisieren gebraucht, um die übrigen Phänomene des Lebens vorherzusagen. Wer systematisieren will, braucht Distanz, um die vorhandenen Informationen zu überprüfen und um zu ermitteln, welche Faktoren zu neuen oder anderen Informationen führen. Wer Einfühlungsvermögen zeigen will, braucht ein gewisses Maß an Nähe zu der anderen Person, um sich bewusst zu machen, dass er es nicht mit einem Objekt, sondern mit einem fühlenden menschlichen Wesen zu tun hat, dessen Gefühle die eigenen Gefühle berühren. Letztendlich hängen Systematisierung und Empathie von unterschiedlichen Hirnregionen ab. Sie sind keine mystischen Prozesse, sondern gründen in unserer Neurophysiologie. Die wichtigsten Hirntypen

1987 stellte die kanadische Psychologin Doreen Kimura die Frage: »Gibt es wirklich Unterschiede beim Gehirn von Mann und Frau?« Ihre Antwort lautete: »In Anbetracht der großen morphologischen und häufig bemerkenswerten Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen wäre es erstaunlich, wenn es beim Gehirn keine geschlechtsspezifischen Unterschiede gäbe.« Kimura steht repräsentativ für die traditionelle Forschung in diesem Bereich, die zwei unterschiedliche Dimensionen für die Bestimmung des männlichen und weiblichen Gehirns herausgestrichen hat, nämlich Sprache (weibliche Überlegenheit) und 1

räumliches Vorstellungsvermögen (männliche Überlegenheit). Ich bestreite nicht, dass sprachliche und räumliche Fähigkeiten bei der Bestimmung von geschlechtsspezifischen Unterschieden sehr wichtig sind, doch ich argumentiere im Folgenden, dass das Einfühlungsvermögen und die Neigung zum Systematisieren zwei vernachlässigte Dimensionen darstellen. Die sprachliche Überlegenheit der Frauen könnte zudem auf ihr besseres Einfühlungsvermögen zurückzuführen sein, und das gute räumliche Vorstellungsvermögen bei Männern ist möglicherweise nur ein Ausdruck ihrer ausgeprägten Neigung zum Systematisieren. Doch davon später mehr. Wir alle verfügen sowohl über die Fähigkeit zur Empathie als auch über die Fähigkeit zum Systematisieren. Die Frage ist, wie viel man vom jeweiligen Vermögen mitbekommen hat. Wenn es ans Messen geht, braucht man gute Maßstäbe oder Messinstrumente für beide Fähigkeitsbereiche. Im weiteren Verlauf dieses Buches werden Sie auf zwei unserer Messinstrumente, den Systematisierungs-Quotienten (Systemizing Quotient, SQ) und den Empathie-Quotienten (Empathy Quotient, EQ) stoßen. Ob eine Person bei diesen beiden Messverfahren höhere oder niedrigere Werte erzielt als eine andere, ist sehr aufschlussreich, und ich werde später noch detailliert auf solche Unterschiede eingehen. Doch für den Augenblick ist es ausreichend, zwischen drei verschiedenen Gehirntypen zu unterscheiden. Stellen Sie sich die drei Typen anhand von drei allgemeinen Kategorien von Personen vor: • Individuen, bei denen die Empathie stärker ausgeprägt (weiter entwickelt) ist als die Neigung, in Systemen zu denken. Kurz gesagt: E > S (»>« steht für »größer als«). Dies bezeichne ich als das »weibliche Gehirn« oder als Gehirn vom E-iypus. • Individuen, bei denen das Systematisieren stärker ausgeprägt ist als das Einfühlungsvermögen. Kurz: S > E. Dies bezeichne ich als das »männliche Gehirn« oder als Gehirn vom S-iypus. • Individuen, bei denen das Systematisierungs- und das Einfühlungsvermögen gleich stark ausgeprägt sind. Kurz: S = E. Dies bezeichne ich als »ausgewogenen Gehirntyp« oder Gehirn vom B-Typus (für »balanced brain«).

Zu welcher Gruppe gehören Sie? Zum S-Typus, zum E-Typus oder zum B-Typus? Sie können erste Mutmaßungen darüber anstellen, in welche Kategorie Sie fallen, aber es geht hier nicht darum, wie wir uns selbst gern sehen möchten. Entscheidend ist vielmehr, wie wir tatsächlich bei unterschiedlichen Messungen dieser Fähigkeiten abschneiden. Wir alle stellen (oder machen) uns gern vor, dass wir stark und tüchtig sind oder schnell genug laufen können, um jeden Bus zu erwischen. Aber wie schneiden wir ab, wenn diese Fähigkeiten tatsächlich gemessen werden? Stellen Sie sich jetzt zwei weniger verbreitete Gehirntypen vor: • Individuen mit der Extremform des männlichen Gehirns, also Vertreter des extremen S-Typus, oder kurz: S » E (der Doppelpfeil zeigt an, dass ein sehr großer Unterschied zwischen den Fähigkeiten in diesen beiden Bereichen besteht). In diesem Fall ist das Systematisierungsvermögen nicht nur gut, sondern sogar überentwickelt, während das Einfühlungsvermögen unterentwickelt ist. Das heißt, diese Personen können eine ausgeprägte Begabung für das Verständnis von Systemen haben, sind aber gleichzeitig »blind für Bewusstseins- oder Gefühlszustände« (»mindblind«). In Kapitel 10 werde ich einige Fälle aus dem autistischen Spektrum vorstellen und der Frage nachgehen, ob das Profil des extremen männlichen Gehirns auf sie zutrifft. • Stellen Sie sich jetzt Individuen mit der Extremform des weiblichen Gehirns vor, das heißt eine extreme Ausprägung des ETypus oder kurz: E » S. Diese Menschen zeigen ein normales oder auch überentwickeltes Einfühlungsvermögen, während ihre Systematisierungsfähigkeit unterentwickelt ist. Das bedeutet, sie können sich unter Umständen mit erstaunlicher Leichtigkeit in einen anderen Menschen hineinversetzen und genau nachempfinden, wie ihm zu Mute ist, sind aber gleichzeitig »blind für Systeme« (»systemblind«). In Kapitel 12 werde ich der Frage nachgehen, ob es tatsächlich eine solche Extremform des weiblichen Gehirns gibt und ob dieses psychologische Profil, falls es existiert, zu besonderen Schwierigkeiten führt. 2

Lassen Sie mich noch einen Moment bei der Theorie vom Autismus als einer Extremform des männlichen Gehirns bleiben und

Ihnen einen kleinen Eindruck von den Personen vermitteln, denen Sie im weiteren Verlauf des Buches begegnen werden. Stellen Sie sich einen Menschen vor, der so gut im Systematisieren ist, dass er sich die Namen der Kameramänner merken kann, die im Abspann vieler verschiedener Fernsehfilme auftauchen. Wie behält er den Überblick über so viele Informationen, die in winziger Schrift über den Bildschirm flimmern? Oder stellen Sie sich eine Person vor, die so gut im Systematisieren ist, dass sie Ihnen von allen Kalenderdaten sagen kann, ob sie auf denselben Wochentag fallen (also zum Beispiel: »Wenn der 22. März ein Dienstag ist, dann ist der 22. November ebenfalls ein Dienstag«). Wie gelingt es dieser Person, die Gesetzmäßigkeiten eines Kalenders bis in diese ungewöhnlichen Einzelheiten zu erkennen? Doch stellen Sie sich jetzt vor, dass dieser Super-Systematiker gravierende Probleme hat, sich in andere Menschen einzufühlen. Er kann unter Umständen überhaupt nicht verstehen, wieso es nicht auf Gegenseitigkeit beruht, wenn er einen anderen Menschen für seinen Freund hält. Oder er bemerkt erst, dass seine Frau schrecklich unglücklich ist, wenn sie bitterlich zu weinen anfangt. Das Geschlecht entscheidet nicht automatisch über den Gehirntyp

Angenommen, ich sehe Sie in diesem Moment vor mir. Wenn ich Sie anschaue oder einfach nur Ihr Gesicht sehe, kann ich normalerweise erkennen, ob Sie ein Mann oder eine Frau sind. Ich gehe keine Sekunde lang davon aus, dass Ihr Geschlecht mir irgendetwas darüber sagt, welchen Gehirntyp Sie als Individuum haben. Die Indizien, die ich im Weiteren vorlegen werde, lassen vermuten, dass nicht alle Männer ein Gehirn vom männlichen Typ und nicht alle Frauen ein Gehirn vom weiblichen Typ aufweisen. Tatsächlich stößt man bei einigen Frauen auf den S-Typ und bei einigen Männern auf den E-Typ. Die zentrale These dieses Buches besagt lediglich, dass mehr Männer als Frauen ein Gehirn vom S-Typ und mehr Frauen als Männer ein Gehirn vom E-Typ haben.

Von daher dürfen Sie verlangen, dass ein Personalchef keinerlei Rückschlüsse auf Ihre Fähigkeiten zieht, nur weil Sie sich als Mann für einen pflegerischen Beruf oder als Frau für eine Stellung als Technikerin bewerben. Ich für meinen Teil bin zwar ein Mann, wäre aber absolut ungeeignet für jeden Job, der mit der Wartung technischer Systeme (ob Computer oder was auch immer) zu tun hätte. Ich fühlte mich von den helfenden Berufen in der klinischen Psychologie angezogen - eine von Frauen dominierte Welt. Wenn ich Rat brauche, weil mein Computer verrückt spielt, wende ich mich vertrauensvoll an eine wunderbare Frau namens Traci am Trinity College. Und wenn ich wissen will, wie die Biochemie von Hormonen funktioniert, wende ich mich an zwei Spitzenwissenschaftlerinnen, Svetlana und Rebecca. (In Kapitel 8 werde ich Ihnen Svetlana und Rebecca noch ausführlicher vorstellen, denn beide haben etwas sehr Interessantes zu berichten.) Wenn ich über mentale Unterschiede zwischen Männern und Frauen rede, spreche ich lediglich über statistische Durchschnittswerte. Und einen Punkt möchte ich von Anfang an klar stellen: Wer der Frage nachgeht, ob es geschlechtsspezifische Unterschiede gibt, bestärkt nicht automatisch alte Klischeevorstellungen. Durch die Suche nach geschlechtsspezifischen Unterschieden können wir aufdecken, ob soziale und biologische Einflüsse sich in unterschiedlicher Weise auf Mann und Frau auswirken, aber diese Erkenntnisse sagen nichts über das Individuum aus. Wenn wir feststellen, dass Männer im Durchschnitt größer, schwerer, kräftiger, schneller oder behaarter sind als Frauen und außerdem einen größeren Kopf und längere Unterarme haben, bedeutet dies nicht, dass man nicht einige Ausnahmen von der Regel findet. Klischeevorstellungen basieren dagegen auf festen Vorurteilen gegenüber einer Gruppe, die in bösartigerWeise auf den einzelnen Menschen übertragen werden. Das zeigt sich deutlich beim Rassismus oder Sexismus ebenso wie bei dem Hass auf bestimmte Gruppen, seien es alte Menschen oder Angehörige einzelner Gesellschaftsschichten. Durch Stereotypisierungen werden einzelne Menschen auf einen Durchschnitt reduziert, während man in der Wissenschaft berücksichtigt, dass es immer sehr viele Ausnahmen von der Regel oder Abweichungen vom Durchschnitt gibt. 3

Mars und Venus

In einigen Büchern über geschlechtsspezifische Unterschiede wird das Thema aus einer eher heiteren Perspektive behandelt. Doch so amüsant diese Lektüre sein mag, ist es in wissenschaftlicher Hinsicht wenig hilfreich, sich vorzustellen, dass »Männer vorn Mars und Frauen von der Venus sind«. Zum einen lenkt uns der Witz über die unterschiedliche planetarische Herkunft von der ernst zu nehmenden Tatsache ab, dass beide Geschlechter sich auf demselben Planeten entwickelt haben und wir trotz dieser gemeinsamen Evolution Unterschiede in der Denkweise zeigen. Wir sollten herausfinden, warum das so ist, und in Kapitel 9 untersuche ich die Möglichkeit, dass die Geschlechter unterschiedlichen evolutionären Zwängen ausgesetzt waren und ihre Denkweisen deshalb unterschiedlichen Nischen anpassen mussten. Aus der amüsanten Perspektive von Mars und Venus erscheinen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu extrem. Mann und Frau sind unterschiedlich, aber nicht so unterschiedlich, dass eine Verständigung unmöglich ist. Ich halte ein seriöses Buch über dieses Thema noch aus einem weiteren Grund für notwendig. Die heitere Mars-und-VenusPerspektive ermutigt zu kleinen Witzchen und Frotzeleien über das andere Geschlecht. Humor ist etwas Unentbehrliches, und auch die Satire hat ihren Platz. Doch auf diesem Gebiet kann der Humor schnell in einen aggressiven Sexismus umschlagen. So hörte ich zum Beispiel kürzlich im britischen Fernsehen den folgenden Witz einer Talkshow-Moderatorin: »Frauen sind von der Venus, Männer sind dumm.« Einige Frauen im Publikum lachten. »Brauchen wir überhaupt Männer?«, fragte daraufhin ihre CoModeratorin. »Sind sie eigentlich zu irgendetwas nütze?« Worauf die erste antwortete: »Ich habe gehört, man kann sie dressieren und zu ganz guten Haustieren abrichten.« In gewisser Weise ist es erstaunlich, dass Frauen so sexistische Sprüche über Männer machen, und es würde nirgends geduldet, wenn der Witz auf Kosten von Frauen, Schwarzen, luden oder Schwulen ginge. Später am selben Tag zeigte mir mein halbwüchsiger Sohn ein Buch, das er gerade las. Als ich es aufschlug, stieß ich auf folgenden Witz: 4

Warum hat Gott die Frauen erschaffen? Weil der Hund den Kühlschrank nicht aufkriegt, um das Bier zu holen. Diese Form von sexistischem Humor ist erbärmlich, und wenn Frauen die gleiche Art von Witzen über Männer machen, wirkt es wie der Humor des Opfers, das den Spieß umdreht. Ich will damit keineswegs sagen, dass man das Thema geschlechtsspezifischer Unterschiede nicht zum Gegenstand von Witzen machen darf. Man sollte nur darauf achten, dass man nicht einfach alte Formen der Unterdrückung in neuem Gewand präsentiert. Die politische Dimension bei der Erforschung von geschlechtsspezifischen Unterschieden

Verantwortungsbewusste Wissenschaftler auf diesem Gebiet achten sehr sorgfältig darauf, nicht den gleichen Vorurteilen zu erliegen wie frühere Generationen, die davon ausgingen, dass sich in geschlechtsspezifischen Unterschieden automatisch die generelle Unterlegenheit des einen Geschlechts im Vergleich zum anderen widerspiegelt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zog Gustave Le Bon den voreiligen Schluss, die weibliche Minderwertigkeit sei »so offensichtlich, dass niemand auch nur eine Sekunde daran zweifeln könne«. Hundert Jahre später ist es nicht schwierig, Le Bons Position anzufechten. Man findet häufig (wenn auch nicht immer) psychische Unterschiede zwischen den Geschlechtern; dennoch gibt es einige Bereiche, in denen Frauen den Männern überlegen sind und andere, in denen es umgekehrt ist. Kein Geschlecht ist dem anderen im Hinblick auf die allgemeine Intelligenz unter- oder überlegen, doch die Profile, die relative Stärken in bestimmten Domänen widerspiegeln, weisen durchaus geschlechtsspezifische Unterschiede auf. Ich gehe der Behauptung nach, dass Frauen sich besser in andere Menschen einfühlen können und Männer besser systematisieren können, aber das heißt nicht, dass ein Geschlecht generell intelligenter ist als das andere. Vor 30 oder 40 Jahren hätte der bloße Gedanke an psychische Geschlechterunterschiede einen öffentlichen Schrei der Empörung ausgelöst. Entsprechend der in den Sechziger- und Siebziger5

jähren vorherrschenden Ideologie wurden Unterschiede in der Psychologie der Geschlechter als reine Fiktion oder, falls nicht zu widerlegen, als unwesentlich abgetan. Das heißt, sie galten nicht als Ausdruck von tief greifenden Unterschieden zwischen den Geschlechtern als solchen, sondern lediglich als Widerspiegelung kultureller Kräfte, die auf die Geschlechter einwirkten. Doch die Nachweise, die von unabhängigen Forschern und Laboratorien im Laufe vieler Jahrzehnte gesammelt wurden, haben mich davon überzeugt, dass es grundlegende Unterschiede gibt, mit denen man sich auseinander setzen sollte. Die alte Vorstellung, dass diese Unterschiede ausschließlich kulturell bedingt sind, erscheint heute als zu grobe Vereinfachung. Man muss sich natürlich genauso vor der Annahme hüten, dass geschlechtsspezifische Unterschiede ausschließlich biologischen Ursprungs seien. Dann würde man praktisch mit umgekehrten Vorzeichen genau denselben Fehler begehen wie in den Sechzigerund Siebzigerjahren, als häufig unterstellt wurde, dass alle Unterschiede zwischen Mann und Frau ein Ergebnis der Sozialisation seien. Ich würde gern glauben, dass es im tiefsten Innern keine wesentlichen Unterschiede im Fühlen und Denken von Mann und Frau gibt. Das wäre eine sehr befriedigende Vorstellung. Sie würde bedeuten, dass die jahrhundertelange Diskriminierung der Frau eine Ungleichbehandlung, die bis heute andauert - im Prinzip durch gerechtere und bessere Erziehungs- und Bildungsmethoden zu beseitigen wäre. Ich unterstütze weiterhin aus tiefster Überzeugung den Kampf gegen gesellschaftliche Ungleichheit. Dennoch werde ich mich in den Kapiteln 7 bis 9 unter anderem mit der Frage beschäftigen, ob die Unterschiede, die man zwischen den Geschlechtern festgestellt hat, wirklich allesamt auf die Sozialisation zurückgeführt werden können oder ob nicht auch die Biologie eine wichtige Rolle spielt. Wer über geschlechtsspezifische Unterschiede schreibt, findet sich natürlich unversehens inmitten der »Political Correctness«Debatte wieder. Nach Auffassung einiger Kritiker offenbart schon die Suche nach solchen Unterschieden eine sexistische Haltung, die darauf ausgerichtet ist, die Geschichte des Unrechts gegenüber Frauen mit allen Mitteln fortzusetzen. Dass Frauen jahrhunderte-

lang unterdrückt wurden, ist eine unbestreitbare Tatsache, und eine Fortsetzung dieser Ungleichbehandlung ist gewiss das Letzte, was ich anstrebe. Genauso wenig möchte ich zur Unterdrückung von Männern beitragen, wie es einige Autoren getan haben. Man kann meines Erachtens Fragen nach geschlechtsspezifischen Unterschieden stellen, ohne eines der beiden Geschlechter unterdrücken zu wollen. Ich habe über fünf Jahre an diesem Buch gearbeitet, weil das Thema in politischer Hinsicht ein zu heißes Eisen war, um es bereits in den Neunziger jähren abzuschließen. Ich habe das Ende der Arbeit hinausgezögert, weil ich unsicher war, ob eine sachliche Diskussion von psychischen Geschlechterunterschieden möglich sein würde. Glücklicherweise gibt es mittlerweile immer mehr Menschen, einschließlich Feministinnen, die erkennen, dass solche Fragen nicht zwangsläufig zur Fortsetzung der Frauendiskriminierung führen müssen. Tatsächlich trifft mitunter das Gegenteil zu. Eine stete Ausweitung unseres Wissens und ein verantwortungsbewusster Umgang mit neuen Erkenntnissen ist ein Mittel zur Bekämpfung des Sexismus. Die Frauen in meinem Freundeskreis, die sich selbst größtenteils als Feministinnen betrachten, haben mich überzeugt, dass die Zeit für eine solche Diskussion reif ist, und allmählich erkennen dies auch die Männer in meinem Freundeskreis. Sexismus bedeutet, dass einzelne Männer oder einzelne Frauen allein auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit als x oder y beurteilt werden. Wenn dieses Buch eine Botschaft hat, dann die, dass man solche sexistischen Vorurteile entlarven und widerlegen muss. Unterstellen Sie bei einem Sorgerechtsprozess nicht automatisch, dass die Mutter die bessere Betreuungsperson ist. Vielleicht ist der Vater ein Mensch, der sich wundervoll in andere einfühlen kann und sich sensibel auf die Bedürfnisse seines Kindes einstellt, während die Mutter dazu nicht in der Lage ist. Die Familiengerichte gehen für gewöhnlich davon aus, dass die Mutter die bessere Betreuungsperson sei, doch sie erliegen nicht selten einem Vorurteil. Sie arbeiten mit Klischees. Gehen Sie auch nicht automatisch davon aus, dass eine junge Studentin den Mathekurs, für den sie sich beworben hat, nicht schaffen wird. Vielleicht hat sie

verglichen mit dem jungen männlichen Bewerber eine herausragende Begabung im systematischen Denken. Individuen sind einzigartig - das macht ihre Individualität aus. Am Beginn dieses neuen Jahrtausends hat sich das Bild grundlegend gewandelt. Während altmodische Feministinnen zu behaupten pflegten, dass es nichts gebe, was Frauen nicht genauso gut könnten wie Männer, sind heute viele Feministinnen eher stolz darauf, dass es eine ganze Reihe von Dingen gibt, in denen die meisten Frauen viel begabter sind als die meisten Männer. Die Ausrichtung einer großen Party mit vielen Gästen ist nur ein Beispiel für eine Aufgabe, vor der viele Männer zurückschrecken würden. Viele Frauen verstehen sich dagegen sehr gut auf die Rolle der perfekten Gastgeberin, die mit Takt und Einfühlungsvermögen darauf achtet, dass niemand sich ausgeschlossen fühlt. Ihnen fällt es auch relativ leicht, heikle, persönliche Probleme auf einfühlsame Art anzusprechen, sodass der Gesprächspartner sich sofort verstanden und akzeptiert fühlt, während viele Männer in solchen Situationen ins Stottern geraten oder sie am liebsten ganz vermeiden. Für beide Aufgaben braucht man eine gehörige Portion Einfühlungsvermögen. Es ist hinlänglich bekannt, dass Menschen sich von unterschiedlichen Themen angezogen fühlen, wenn sie nach einer Lektüre suchen. Personen mit Gehirntyp E steuern am Bahnhofskiosk oder in der Wartehalle des Flughafens zielsicher auf diejenigen Zeitungsauslagen zu, in denen sie Sujets finden wie Mode, Liebe, Schönheit, Intimität, emotionale Probleme, Briefe an Kummertanten, psychologische Ratgeber, Beziehungsprobleme und Erziehungstipps. Personen mit Gehirntyp S wenden sich einem anderen Zeitschriftenständer zu (wir können dankbar sein, dass die Kioskbesitzer sie so klar für uns aufteilen), bei dem andere Themen im Vordergrund stehen: Computer, Autos, Schiffe, Fotografie, Verbrauchertipps, Wissenschaft, Science-Fiction, Do-it-yourself-Broschüren, Musikgeräte, Hifi, Action, Waffen, Werkzeuge sowie Sport in allen Variationen. Menschen mit unterschiedlichen Hirntypen neigen auch dazu, ganz unterschiedlichen Hobbys nachzugehen. Personen mit

männlichem Gehirntyp können sich häufig stundenlang mit der Reparatur von Autos oder Motorrädern beschäftigen oder auch mit Hobbys wie Segeln, Vogelbeobachtung, dem Sammeln von Eisenbahnnummern, Mathematik, Klangsystemen, Computerspielen und Programmieren, Heimwerkeraktivitäten oder Fotografie. Personen mit weiblichem Gehirntyp ziehen es vor, sich zum Frühstück oder zum Mittagessen mit guten Bekannten zu verabreden, um sich gegenseitig in Beziehungsfragen zu beraten; sie engagieren sich für die Betreuung von Kindern, kümmern sich um Pferde oder Haustiere; manche übernehmen auch ehrenamtliche Tätigkeiten bei der anonymen Telefonseelsorge, wo sie Anrufe von kranken, depressiven, bedürftigen oder auch selbstmordgefährdeten Menschen entgegennehmen. Die unterschiedlichen Themen, die charakteristisch für die Auswahl der Lektüre und der Hobbys von Personen mit unterschiedlichem Hirntyp sind, bestimmen im Allgemeinen auch, für welches Fernsehprogramm sie sich entscheiden und was sie sich im Radio anhören. Wir bemerken diese Unterschiede ebenso wie die Zeitschriftenverleger, Ladenbesitzer und Fernsehproduzenten. Doch in welchem Alter treten diese Unterschiede erstmals zu Tage? Lassen Sie uns einen Blick auf die Kindheit werfen und die Bekanntschaft eines realen Jungen und eines realen Mädchens machen.

2 Junge trifft Mädchen

Die beiden Kinder, von denen ich in diesem Kapitel berichten werde, sind Bruder und Schwester. Die Namen sind geändert, um ihre Identität zu schützen. Beschrieben werden sie mit den Worten der Mutter. Wenn Sie selbst Kinder haben, können Sie Vergleiche ziehen und auf Ähnlichkeiten achten. Oder Sie überlegen, ob Sie Erfahrungen aus Ihrer eigenen Kindheit bei einem der beiden wieder erkennen. Die beiden veranschaulichen auf sehr plastische, direkte Weise die beiden Bereiche des Systematisierungsvermögens und der Einfühlungsgabe, auf die wir im Verlauf dieses Buches immer wieder stoßen werden. Die psychologischen Nachweise für solche Geschlechterunterschiede werde ich in den Kapiteln 4 und 6 erörtern. Alex: Autos, Fußball, Musik und Computer »Als Kleinkind konnte Alex sich stundenlang damit beschäftigen, die unterschiedlichsten Gegenstände zu erforschen. Er drehte ein Objekt von einer Seite zur anderen, öffnete alle Teile, die sich öffnen ließen, und drückte auf alle vorhandenen Knöpfe oder Schalter, die sich an der Oberfläche des Gegenstands befanden. Völlig hingerissen beobachtete er, was geschah, wenn er unterschiedliche Teile eines Gegenstands hin- und herstupste oder auf andere Weise traktierte. Außerdem war er ganz versessen auf Spielzeugtrecker, Feuerwehrwagen und Autos. Falls jemals Zweifel aufkamen, was für ein Buch man Alex schenken sollte - mit einem Bildband über Traktoren lag man immer richtig. Im Alter von drei Jahren sammelte er mit wachsender Begeisterung kleine Spielzeugautos. Er zerrte seinen Vater zum entsprechenden Regal im örtlichen Spielwaren-

geschäft oder wühlte sich durch alte Kisten beim Flohmarkt und suchte nach kleinen Autos, die er noch nicht hatte. Sein Lieblingsvideo war Thomas, die Tenderlok - er konnte die Namen aller Züge vorwärts und rückwärts aufsagen. Natürlich mochte er auch Menschen. Er plauderte mit ihnen, lächelte sie an und spielte mit anderen Kindern. Doch was ihn wirklich faszinierte, waren kleine Vehikel und die Frage, wie etwas funktioniert. Ich weiß nicht, woher Alex diesen Autofimmel hatte. Sein Vater und ich langweilen uns zu Tode, wenn andere über Autos reden. Und unser Kindermädchen gehörte zu jenen sanftmütigen Wesen, die Autos für die Ursache aller Menschheitsprobleme halten. Sie war so eine Art Hippie - Anti-Technik und angehaucht vom Buddhismus. Jedenfalls war sie gewiss nicht Schuld daran, dass sich der zweijährige Alex in einen Fahrzeug-Junkie verwandelte. An seiner Spielgruppe kann es auch nicht gelegen haben, weil sie erst gegründet wurde, als dieses >Vehikel-Virus< sein Gehirn bereits infiziert hatte. Als Zweijähriger ließ er keinen Zweifel mehr daran, was er sich gerne anschauen wollte, wenn er in ein Spielzeuggeschäft ging. Sein Vater versuchte zwar immer wieder, ihn in andere Bereiche des Ladens zu locken, aber es war, als ob es nur einen einzigen Winkel auf der ganzen Welt gäbe, der eine genauere Betrachtung lohnte - die Ecke mit den Spielzeugautos. Ich glaube auch nicht, dass seine Großeltern, Onkel oder erwachsenen Freunde diese Begeisterung für Fahrzeuge bei ihm geweckt haben. Gott weiß, woher er diesen Tick hatte. Jedenfalls hielt er sich einige Jahre lang. Zum Glück entwickelte Alex im Alter von fünf Jahren noch einige andere Interessen. Er sammelte immer noch leidenschaftlich gern alle möglichen Gegenstände, aber ein kleiner Spielgefährte machte ihn in dieser Zeit mit der Welt der Fußballsticker vertraut. Man bekam sechs Stück in einer Packung bei unserem örtlichen Zeitungshändler an der Holloway Road. Dorthin schleifte der kleine Alex seinen Vater von nun an jeden Samstag. In heller Aufregung riss er das Päckchen auf und brach in lautes Freudengeheul aus, wenn es den Sticker enthielt, den er brauchte. Wenn es dagegen einer war, den er bereits hatte, kannte seine Enttäuschung

keine Grenzen. Trotzdem sortierte er die Bilder, die er doppelt hatte, sorgfältig in einen Extra-Haufen, um sie mit seinen Schulfreunden zu tauschen. Die neuen Bilder wurden ordentlich in sein Fußballsticker-Album eingeklebt. Ich weiß noch, wie sehr er Besucher damit beeindruckte, dass er wie aus der Pistole geschossen den Namen jedes Spielers nennen konnte, dessen Konterfei er von den Stickern kannte. Es müssen Hunderte Namen und Gesichter gewesen sein - die gesamte erste Liga! Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem Alex anfing, die Fußballbilder zu sammeln. Sein Freund Matthew, ebenfalls fünf Jahre alt, hatte Alex sein Sticker-Album gezeigt. Matthew erzählte ihm, in welchem Laden man die Sticker kaufen konnte, und nachdem sie etwa eine halbe Stunde lang das teilweise gefüllte Album durchgeblättert hatten, war Alex Feuer und Flamme. Er hätte viele Dinge anfangen können, doch aus irgendwelchen Gründen war dies die neue Aktivität, die sich in seinem Kopf festsetzte. Es war, als ob er nur darauf gewartet hätte, dass ihm eine Sache wie diese begegnete. In den nächsten drei Fußball-Saisons gab Alex sein gesamtes Taschengeld für Stickerpäckchen aus. Alle Bilder, die er doppelt hatte, trug er immer wieder in großen Stapeln zur Schule, um sie mit Klassenkameraden zu tauschen. Alle neuen Sticker klebte er liebevoll in sein Album ein. Die Sticker waren wie ein Sprungbrett in die größere Fußballwelt, und es dauerte nicht lange, da musste Alex unbedingt die neueste Ausgabe des S/iooi-Magazins vom Zeitschriftengeschäft an der Ecke haben. Stundenlang brütete er über der winzigen Schrift dieser Fußbalizeitschrift oder über dem Sportteil der Zeitung, um absolut banale Informationen in sich aufzusaugen. Ich weiß noch, wie verblüfft ich jedes Mal war, wenn er davon erzählte. Wenn man zum Beispiel irgendeine Mannschaft nannte, konnte er nicht nur alle Spieler aufzählen. Er konnte einem auch alle möglichen Einzelheiten aus ihrem Leben berichten. So wusste er zum Beispiel, von welchen Mannschaften sie zu welchem Preis >gekauft< worden waren und wie viele Tore sie in dieser und in der letzten Saison geschossen hatten. Auf unerklärliche Weise hatte er

außerdem noch das Tabellensystem der Fußball-Ligen verinnerlicht. Ich erinnere mich noch an den Schock, als er im Alter von sieben Jahren anfing, von Gesamttabellen zu sprechen. Ein Siebenjähriger, der über Gesamttabellen fachsimpelt! Als sein Vater ihn einmal fragte, was eine Gesamttabelle sei, zeigte der kleine Alex auf die entsprechenden Ziffernreihen in der Zeitung und erklärte, es sei das da. Er ließ sich dann herab, seinem Vater genauer zu erläutern, was es damit auf sich hatte. Dieser fragte sich fassungslos, wie Alex hinter dieses komplizierte System gekommen war - und was ihn überhaupt daran gereizt hatte, es zu knacken. Woher kam dieses Interesse? Sein Vater und ich pflegten den Sportteil der Zeitung wegzuwerfen, weil wir uns überhaupt nicht dafür interessierten. Keiner von u n s hatte sich je die Mühe gemacht, genauer zu erforschen, worum es bei all diesen Spalten voll winziger Zahlen ging. Als Alex acht Jahre alt war, erreichte seine Fußball-Begeisterung einen weiteren Höhepunkt. Er hatte sich auf die Tatsache eingestellt, dass jede Mannschaft der ersten Liga mindestens zwei verschiedene Outfits hatte, ein Dress für Heimspiele und eins für Auswärtsspiele. Alex zerrte von n u n an seinen Vater oder seine Großmutter immer wieder in Sportgeschäfte und bekniete sie, ihm sein Lieblingshemd zu kaufen. Und die Dinger kosteten ein Vermögen! Er verbrachte darüber hinaus Stunden an seinem Schreibtisch und erstellte im zarten Alter von acht Jahren Listen mit seinen Traumspielern für England. Diese Listen überarbeitete er immer wieder. Wie der Trainer der Nationalmannschaft überlegte er ständig, wen er für welche Position einteilen sollte. Auch die Namen der Ersatzspieler legte er bereits fest. Mit zehn Jahren ebbte seine Fußball-Leidenschaft plötzlich ab. Sein Vater u n d ich waren erleichtert. Doch es war fast so, als ob Alex' Interesse einem eigenen innern Antrieb folgte und sich ein neues Thema suchte, wenn das alte erschöpft war. In diesem Fall wurde der Fußball durch die Popmusik abgelöst. Am Freitagabend hatte Alex nur eines im Sinn: rechtzeitig zu Hause sein, um die Top ofthe Pops im Fernsehen zu verfolgen. Nichts durfte ihm dabei in die Quere kommen. Er programmierte sogar vorsichtshalber den Videorekorder, um auf keinen Fall zu verpassen, wer die Nummer

1,2 oder 3 geworden war. Mit den Charts war es im Prinzip dasselbe wie mit den Fußballtabellen: Man musste feststellen, welche Position die einzelnen Teams einnahmen und wer auf- oder abgestiegen war. Samstagmorgens stattete Alex dem HMV (unserem örtlichen Musikgeschäft) einen Besuch ab, um ein oder zwei Kassetten zu kaufen. Dann ging er nach Hause, zog sich auf sein Zimmer zurück und hörte sich die Neuerwerbungen an. Nachdem er den Song mehrmals abgespielt hatte, kannte er den Text auswendig, was dazu führte, dass er ihn den Rest der Woche ständig vor sich hinträllerte. Schließlich wurden die neuen Bänder in seine Kassettensammlung eingeordnet. Aber nicht irgendwo in der Kassettensammlung. Alex fügte sie sofort an der richtigen Stelle ein, was in diesem Fall bedeutete, entsprechend ihrem Rang in seiner persönlichen Hitparade. Jede Woche erstellte er nämlich seine eigenen Pop-Charts, setzte seinen Lieblingstitel auf Platz eins, seinen zweitliebsten auf Platz zwei usw. Ich erinnere mich, dass wir ihn immer danach fragten. Er pflegte dann ausführlich zu erklären, dass ein bestimmter Song von Platz 16 der offiziellen Charts diese Woche auf, sagen wir, Platz 4 aufgestiegen war, in seinen persönlichen Charts aber bereits auf Platz eins lag. Er stellte dann mithilfe eines Doppeldeck-Rekorders eine Kassette mit seinen Lieblingssongs zusammen, die er dann mir oder einem Freund vorspielte. Die Reihenfolge auf der Kassette war natürlich sehr wichtig. Er schrieb die Titel aller Songs und die Namen der Interpreten sorgfältig auf die äußere Hülle. Jeden Sonntagabend hörte er sich die Top 40 im Radio an, und jeden Dienstagnachmittag fand er sich in unserem Zeitschriftenladen ein, um die neueste Ausgabe von Smash Hits zu erwerben. Seine restliche Freizeit verbrachte er damit, diese Teenie-Zeitschrift genau zu studieren und Unmengen von trivialen Informationen über Popstars in sich aufzunehmen. Da wir nie großes Interesse an den Popcharts hatten, ermutigten wir ihn in dieser Hinsicht genauso wenig wie beim Fußball. Wie die meisten Eltern versuchten wir ihn eher, wenn überhaupt, zu Aktivitäten zu ermuntern, die wir für förderlich hielten wie etwa Klavierunterricht, Tennis, Lesen oder die Pflege von Freundschaf-

ten. Verstehen Sie mich nicht falsch. Er ging diesen Aktivitäten durchaus auch nach, aber neben seinen wahren Leidenschaften verblassten sie geradezu. Die schienen von irgendwoher tief in seinem Inneren zu kommen. Als Teenager interessierte sich Alex mehr und mehr für Computer. Ich habe keine Ahnung, wie er auf diesen ganzen technischen Kram gekommen ist. Niemand hatte es ihm beigebracht. Er saß einfach da und tüftelte es ganz allein aus. Und er war ganz begeistert von diesen Grafikprogrammen. Wenn er Hausaufgaben machte, hat er damit die wundervollsten Dokumente erstellt. In seiner Freizeit spielte er in einer Band mit. Die Musik ist immer noch seine Leidenschaft. Ich fand es gut, dass die Jungs sich alle trafen, um gemeinsam Musik zu machen. Es machte Spaß, ihnen zuzuschauen, weil sie ihre Sache so ernst nahmen. Dabei kamen sie eindeutig in erster Linie wegen der Musik zusammen und nicht, um miteinander zu reden. Sie machten nicht viele Worte. Heute ist Alex erwachsen, und er legt großen Wert auf Unabhängigkeit. Zu Hause und bei der Arbeit hat er es gern, wenn alles so gemacht wird, wie er es für richtig hält. Er tut, was er will, und beugt sich keinerlei Gruppenzwängen. Er hat keine Angst, seine Meinung offen zu äußern, und ist manchmal ein bisschen schroff dabei. So sagt er einer anderen Person zum Beispiel auf den Kopf zu, wenn er ihre Ansichten für falsch hält. Ansonsten zieht er einfach ziemlich konsequent seine Sache durch und verfolgt seine eigenen Interessen, manchmal mit einer gewissen Sturheit. Über seine Interessen unterhält er sich auch ganz gern, normalerweise mit seinen Kumpeln im Pub, aber die Gespräche drehen sich meistens um gemeinsame Aktivitäten. Er hat ein paar gute Freunde, mit denen er sich zum Tennis oder Squash trifft. Aber er ist auch gern für sich allein. Im Gegensatz zu meiner Tochter oder mir scheint er einfach nicht das Bedürfnis zu haben, sich stundenlang am Telefon zu unterhalten oder sich öfter mit Leuten zu treffen. In dieser Hinsicht ähnelt Alex eher seinem Vater.«

Hannah (Alex' Schwester): Puppen, Schmusespielzeug, Tiere und Menschen »Hannah war ganz anders als Alex. Alex war mit eineinhalb Jahren völlig hingerissen von Gegenständen. Hannahs große Leidenschaft waren dagegen Menschen. Mit Spielzeugtreckern hatte sie nichts am Hut. Wir hatten extra die alten Trecker von Alex in der Spielzeugkiste aufbewahrt, aber sie zeigte keinerlei Interesse daran. Hannah war der Inbegriff der Kontaktfreudigkeit. Wenn sie fremde Menschen sah, strahlte sie übers ganze Gesicht, brachte ihnen ihre Spielsachen oder zeigte ihnen ein selbst gemaltes Bild. Sie war ganz versessen auf diese Spiele, bei denen man dem anderen irgendwelche Gegenstände hinhält, um sie dann im letzten Moment wieder wegzuziehen. Hannah alberte eigentlich ständig herum und markierte gern den Clown. Ich erinnere mich, wie sie als Zweijährige all ihre Teddybären im Kreis aufsetzte und >Kaffeekränzchen< mit ihnen spielte. Sie ließ sie imaginären Kaffee schlürfen und eine Unterhaltung führen. Wir verfolgten gebannt, wie sie all diese Gespräche inszenierte, und haben Tränen dabei gelacht. In ihrem Tonfall schwangen alle Gefühle mit, die man gegenüber anderen Menschen zum Ausdruck bringt. So schlug sie zum Beispiel einen tröstenden Ton an und sagte: >Oooh, alles wird gut.< Oder sie begrüßte ihren Stoffhund mit >Hey, Pippy, wie geht's?< oder flötete erstaunt: >Ist es denn die Möglichkeit?< - ganz so wie bei einer echten Konversation. Alle Teddys hatten Namen, die denen in unserer Familie oder irgendwelchen Nachbarsfamilien entsprachen. Ich erinnere mich, dass sie einen Teddy namens Emma besaß, der nach einem kleinen Mädchen in unserer Straße benannt war. Emma hatte eine Schwesterbärin namens Clara, einen Bruderbär namens Matthew, eine Mutter namens Sue und einen Vater namens Rob. Alle Mitglieder der Bärenfamilie hießen so wie die Mitglieder in Emmas richtiger Familie. Ich war verblüfft, dass sie sich alle Namen dieser Familie so genau gemerkt hatte. Im Gegensatz zu Alex machte sie sich wenig aus Autos oder Spielzeugkränen. Sie war mehr daran interessiert, die Menschen zum Lachen zu bringen. So machte es ihr mit eineinhalb Jahren

einen Riesenspaß, ihre Finger in ihr Essen zu stecken, es vorsichtig auf ihrem Gesicht zu verteilen und dann schelmisch zu den schmunzelnden Erwachsenen hinauf zu grinsen. Oder sie legte ihre Hände über die Augen und zog sie dann ganz plötzlich weg. Alle Anwesenden beteiligten sich sofort mit einem >Kuckuck!< an diesem Spiel. Oder sie machte einen Schmollmund und tat so, als ob sie traurig wäre. Sie sah so süß aus, dass jeder sofort fragte: >Hannah, was hast du denn?Hey, ich interessiere mich immer noch für dich und will dich bloß ein bisschen necken.< Sie war einfach bezaubernd. Für solche Spielchen hatte Alex überhaupt keinen Sinn. Hannah lernte früher sprechen als ihr Bruder, und mit zwei Jahren machte sie einen Riesensprung in ihrer sprachlichen Entwicklung. Sie hatte kein Interesse daran, umherzuwandern und die Namen von Gegenständen aufzuzählen, wie Alex es gern getan hatte. Sie war ganz vernarrt in kleine Formulierungen, die andere Leute zum Antworten animierten. Sie sagte: >Hi< und >Wie geht's?< und entlockte dem anderen damit immer eine Reaktion. Mit Vorliebe fragte sie auch: >Weißt du was?Nein, was denn?Nichts!< herausplatzte. Über dieses kleine Spiel konnte sie sich kringelig lachen. Manchmal stellte sie diese Frage, nachdem man sie für etwas ausgeschimpft hatte, oder nach einem Streit, und das wirkte jedes Mal befreiend. Man hatte das Gefühl, dass sie einem zuzwinkerte, es löste die Spannung auf und ließ eine innere Bindung zu ihr entstehen. Hannah war einfach immer zu Scherzen aufgelegt und wusste, wie man die Leute zum Lachen bringt. Eine bemerkenswerte Begabung.

Mit vier Jahren waren Puppen und kleine Stofftiere Hannahs große Leidenschaft. Sie verbrachte Stunden damit, Barbiepuppen an- und auszuziehen und ihre Haare zu bürsten. Es ging ihr nicht um das Puppenhaus oder das ganze Drumherum, sondern um die Puppen und Stofftiere als solche. Es fing mit kleinen Stoffpferden, Stoffkatzen und Stoffhunden an. Es war ihre erste Sammlung, und sie war genauso versessen darauf wie Alex früher auf seine Fußballsticker. Wenn sie in einem Spielwarengeschäft ein weiches, kuscheliges Stofftier mit großen Knopfaugen entdeckte, musste sie es haben. >Oh, das ist sooo süßDaddy, wieso darf ich kein eigenes Kätzchen haben?< oder >Daddy, bekomme ich einen kleinen Hund?< oder >Daddy, ich hätte so gern ein Kaninchens Als sie sechs Jahre alt wurde, erfüllte sich ihr Traum, u n d sie bekam eine Katze. Hannah streichelte sie und machte sich Sorgen um sie. >Ist es kalt draußen?Hast du sie heute schon gefüttert? Ist es dir egal, wie es ihr geht? Vielleicht fühlt sie sich einsam.< Gleichwohl hing sie immer noch sehr an ihren kleinen Stofftieren. Es machte ihr Spaß, damit zu spielen. Ich muss zugeben, dass sie sehr kuschelig waren. Eines Tages, als Hannah etwa sieben Jahre alt war, führen wir gemeinsam in die Stadt. Hannah hatte drei ihrer kleinen Stofftiere mit ins Auto genommen. Als wir parkten, verkündete sie, dass sie nur eines der Stofftiere auf den Stadt-

bummel mitnehmen wolle. Ich schlug ihr vor, sie könne auch zwei mitnehmen, wenn sie wolle, denn zwei könne sie mühelos tragen. Aber Hannah antwortete, wenn sie zwei Stofftiere zurücklasse, wären Mutter und Kind zusammen und würden sich nicht einsam fühlen. Und das Stofftier, das mit uns in die Stadt käme, wäre ebenfalls zufrieden, weil es ja mit uns zusammen wäre. Sie hatte schnell erkannt, dass es das Beste war, die anderen beiden zusammen zu lassen und dafür zu sorgen, dass niemand sich übergangen fühlte. Ich weiß noch, dass ich es erstaunlich fand, wie liebenswürdig sie mit diesen Kuscheltieren umging, die in den Augen ihres Bruders bloße Stofflappen waren. Als Hannah älter wurde, schwärmte sie immer noch für Pferde und später dann für Popmusik. Sie liebte es, zusammen mit ihren Freundinnen zu tanzen. Auch mit dem Ausprobieren neuer Frisuren konnten sich die Mädchen stundenlang beschäftigen. Anders als ihr Bruder war Hannah keine ergiebige Informationsquelle, was die Position unterschiedlicher Bands in den Charts anbetraf. Hannah ging es eher darum, zusammen mit ihren Freundinnen vor dem Spiegel zu tanzen oder Songs zu trällern. Oder sie schminkten sich gegenseitig und bestätigten sich, wie hübsch sie aussahen. Sie hatten eine ganz besondere Beziehung zueinander. Das setzte sich bis ins Teenageralter fort. Und sie hatte immer eine riesige Sammlung von wunderschönen Filzstiften in allen erdenklichen Farben, mit denen sie die Einbände ihrer Schulhefte verschönerte. Inzwischen ist Hannah erwachsen und ein wirklich mitfühlender, verständnisvoller Mensch. Sie könnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Sie hat ziemlich viele enge, vertrauensvolle Beziehungen und ist die Hilfsbereitschaft in Person. Regelmäßig ruft sie bei ihren Freundinnen an, um zu hören, wie es ihnen geht. Manchmal hängt sie stundenlang am Telefon, während es Alex überhaupt nichts ausmacht, wenn er wochenlang keinen Kontakt zu den Menschen hat, die er als seine engsten Freunde betrachtet. Hannah und ihre Freundinnen treffen sich oft ohne besonderen Anlass, einfach nur um miteinander zu reden. Sie versteht sich wirklich gut darauf, andere Menschen aus der Reserve zu locken und herauszubekommen, wie es ihnen geht. Sie erzählt auch von sich selbst, aber nie auf eine dominierende Art. Hannah achtet

sehr darauf, andere nicht vor den Kopf zu stoßen, und ist immer bemüht, niemanden zu vernachlässigen oder ungewollt zu kränken. Es ist ihr sehr wichtig, dass die anderen sich wohl fühlen, und sie versucht, sich nicht zu sehr in den Vordergrund zu spielen. Wenn sie Anteilnahme zeigt, hat man immer das Gefühl, dass sie wirklich versteht, was man durchgemacht hat. Und wenn andere Menschen ihr von besonders schönen oder traurigen Erlebnissen erzählen, ist sie gefühlsmäßig immer sehr stark beteiligt. Es nimmt sie richtiggehend mit, so als ob ihr diese Dinge selbst passiert wären. Darin sind wir beide uns wohl recht ähnlich.« Jetzt haben Sie also Alex und Hannah kennen gelernt. In vielerlei Hinsicht sind sie repräsentativ für einen typischen Jungen und ein typisches Mädchen. Warum fühlt sich die eine Person von kleinen kuscheligen Tieren angezogen und die andere von Spielzeugkränen? Warum mag der eine Computer, während der andere am liebsten neue Freundschaften schließt? Warum ist eine Person fasziniert von Technik, während die andere sich gern um andere Leute kümmert? Die Interessen von Alex und Hannah sind kennzeichnend für die zwei unterschiedliche Gehirntypen, mit denen sich dieses Buch beschäftigt. Vielleicht lag es an einem Gehirn vom S-Typ, dass Alex sich für Spielzeugautos begeisterte, Listen von Sportmannschaften und von Popsongs zusammenstellte, zum leidenschaftlichen Sammler wurde und sich gründlich mit faktenorientierten Systemen auseinander setzte. Vielleicht lag es an einem Gehirn vom E-Typ, dass Hannah sich für emotionale Bindungen interessierte und überall, selbst bei Dingen, die nur entfernte Ähnlichkeiten mit Personen hatten, Gefühle entdeckte. Doch natürlich sind die oben angeführten Beschreibungen nur die subjektiven Erfahrungsberichte einer einzelnen Mutter. Sie bieten keinerlei Beweis dafür, dass es tatsächlich geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf die Empathie oder das Systematisieren gibt. Sie deuten nur darauf hin. In den Kapiteln 4 bis 6 werfen wir einen Blick auf die wissenschaftlichen Nachweise.

Was ist Empathie?

In diesem Kapitel möchte ich ausführlicher darauf eingehen, was wir unter »Empathie« verstehen. Wer meint, dass er sich bereits gut in diesem Thema auskennt, vielleicht weil er sich selbst für einen einfühlsamen Menschen hält, kann dieses Kapitel überspringen und im Folgenden weiterlesen, in dem die wissenschaftlichen Belege für eine überlegene Empathiefähigkeit von Frauen behandelt werden. Das Kuriose an der Empathie ist, dass per definitionem sehr schwer zu erkennen ist, ob man selbst unter einem diesbezüglichen Mangel leidet. Um sich in andere Menschen einzufühlen, muss man sich darüber im Klaren sein, wie die anderen einen sehen. Vielleicht hält man sich selbst für das sensibelste Wesen auf diesem Planeten. Doch kein Mensch kann jemals wirklich wissen, wie er auf andere wirkt. Wir können uns nur nach Kräften bemühen, müssen aber immer damit rechnen, dass sich unsere Selbsteinschätzung grundlegend von dem Bild unterscheidet, das andere tatsächlich von uns haben. Die meisten Menschen sind sich ihres Einfühlungsvermögens in gewisserWeise bewusst, haben aber häufig nicht die geringste Vorstellung davon, wo ihre diesbezüglichen Grenzen liegen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Empathie von einer sportlichen Begabung, bei der man durch die eigene Leistung eine direkte Rückmeldung darüber erhält, wie gut oder wie schlecht man ist. Wer sich beim Hochsprung ein ehrgeiziges Ziel steckt und es verfehlt, stößt mit einiger Wucht gegen die Stange. Er sieht und fühlt, wie sie aus ihrer Halterung fallt. Was die Empathie betrifft, so versuchen wir vielleicht, während eines Gesprächs besonders einfühlsam zu sein, und haben hinterher den Eindruck, dass uns dieser Versuch hervorragend gelungen ist - dass sozusagen noch jede Menge Luft zwischen uns selbst und der Stange war. Von unserem Gesprächspartner werden wir möglicherweise nie erfahren, dass er das Ganze alles andere als einfühlsam fand: Wir haben unter

Umständen die Stange mit solcher Wucht zu Boden gerissen, dass man das Scheppern noch lange danach hören konnte, aber der andere war vielleicht zu verletzt oder zu diplomatisch, um es uns zu sagen. Empathie oder Einfühlungsvermögen heißt, dass man sich auf spontane und natürliche Weise auf die wie immer gearteten Gedanken und Gefühle einer anderen Person einstellt. Es geht nicht nur darum, auf eine begrenzte Zahl von Gefühlszuständen wie Kummer oder Trauer zu reagieren. Es geht darum, die emotionale Atmosphäre zwischen zwei Menschen zu erfassen. Es bedeutet, sich mühelos in einen anderen Menschen hineinzuversetzen und die zwischenmenschliche Beziehung so sensibel zu gestalten, dass man sein Gegenüber in keiner Weise kränkt oder verletzt. Es bedeutet also letztlich, dass einem die Gefühle des anderen wichtig sind. Wer sich gut in andere Menschen einfühlen kann, spürt sofort, wenn die Stimmung umschlägt und was die veränderten Gefühle möglicherweise ausgelöst hat. Er kann schnell antizipieren, wodurch sich eine bestimmte Person besser oder schlechter fühlen würde. Wer ausgesprochen empathiefähig ist, geht auf den Stimmungswechsel einer anderen Person intuitiv mit Anteilnahme, Verständnis, Trost oder einer anderen passenden Gefühlsreaktion ein. Ein einfühlsamer Mensch greift spontan zum Telefon, um Freunden mitzuteilen, dass er an sie und ihre derzeitige Situation denkt, auch wenn er selbst gerade unter starkem Druck steht. Empathie lässt uns immer wieder aufmerksam auf die Stimme einer anderen Person, auf ihre Mimik und vor allem auf ihre Augen achten, um herauszubekommen, was in ihr vorgeht. Man sagt, die Augen seien die Spiegel der Seele: Durch die »Sprache der Augen« oder durch Veränderungen im Tonfall können wir Einblick in die innere Welt des anderen gewinnen.1 Empathie regt zu dieser Aufmerksamkeit an, weil einfühlsame Menschen davon ausgehen, dass die eigene Weltanschauung nicht zwangsläufig die einzig mögliche oder die einzig wahre ist und dass die Gefühle und Ansichten des anderen genauso viel Gewicht haben wie die eigenen.

Ein einfühlsamer Mensch bemerkt feine Stimmungsschwankungen, registriert subtile emotionale Zwischentöne, die anderen oft gar nicht auffallen. Nehmen wir zum Beispiel ein Gefühl wie Feindseligkeit. Einige Leute bemerken nur einige wenige Variationen der Feindseligkeit (wie etwa eine aggressive, hasserfüllte oder drohende Haltung). Im Gegensatz dazu nimmt ein empathischer Mensch etwa fünfzig unterschiedliche Nuancen wahr (wie Verachtung, Grausamkeit, Herablassung oder Hochnäsigkeit). Es ist wie beim Farbensehen. Einige Menschen können nur wenige Blautöne unterscheiden, während andere hundert verschiedene Schattierungen wahrnehmen. Gemeinsam mit meinen Kollegen Jaqueline Hill, Sally Wheelwright und Ofer Golan habe ich vor kurzem die Arbeit an einer Gefühlssystematik abgeschlossen (eine Art Enzyklopädie der Emotionen). Wir haben festgestellt, dass es tatsächlich 412 verschiedene (sich gegenseitig ausschließende, semantisch getrennte) menschliche Emotionen gibt Einige Menschen können mühelos die feinen Unterschiede zwischen solchen Gefühlsnuancen erkennen, während andere die Unterschiede kaum wahrnehmen.2 Wer von Natur aus einfühlsam ist, registriert nicht nur die Stimmung des anderen. Er macht sich auch immer wieder Gedanken darüber, was die andere Person möglicherweise empfindet, meint oder beabsichtigt. Ein besonders empathiefahiger Mensch versetzt sich sowohl in die Personen, die anwesend sind, als auch in die Personen, die nicht anwesend sind, deren Gedanken und Gefühle sich jedoch in irgendeiner Weise auf die Anwesenden auswirken. Auf diese Weise ermittelt er die emotionale Großwetterlage, nicht weil er die anderen manipulieren will, sondern weil sich Personen vom E-Typ immer wieder fragen, was wohl in den anderen Menschen vorgeht. Empathie ist ein charakteristisches Merkmal menschlicher Beziehungen. Sie hält uns beispielsweise davon ab, Dinge zu tun, die die Gefühle des anderen verletzen könnten. Empathie führt dazu, dass man sich lieber auf die Zunge beißt, anstatt etwas zu sagen, was den anderen brüskieren, verletzen oder kränken könnte. Sie hält uns auch davon ab, einem Mitmenschen oder einem Tier Schmerz zuzufügen. So sind Sie vielleicht wütend auf Ihren

Hund, weil er ununterbrochen kläfft. Trotzdem schlagen Sie ihn nicht, weil Sie wissen, dass er dann leiden würde. Durch Empathie können wir uns besser auf die Welt eines anderen einstimmen und die eigene Welt - die eigenen Wahrnehmungen, Erkenntnisse, Annahmen oder Gefühle - für einen Moment lang beiseite schieben. Außerdem versetzt sie uns in die Lage, eine strittige Angelegenheit aus der Perspektive des anderen zu betrachten. Empathie bringt uns dazu, uns um einen anderen Menschen zu kümmern oder ihn zu trösten, auch wenn er nicht mit uns verwandt ist und wir keinen Vorteil davon haben. Stellen Sie sich vor, Sie werden Augenzeuge eines Unfalls und sind als Erster am Unfallort. Empathie bringt Sie dazu, sich um das Unfallopfer zu kümmern, seinen Zustand zu überprüfen und ihm zu versichern, dass er nicht allein ist. Sekunden vorher war Ihnen dieser Mensch noch völlig unbekannt. Minuten später trennen sich Ihre Wege wahrscheinlich für immer. Trotzdem liegt Ihnen sein Schicksal am Herzen. Empathie macht auch echte Kommunikation möglich. Echte Kommunikation bedeutet nicht, dass man das Gespräch allein bestreitet. Das ist ein Monolog. Wer erheblich mehr als 50 Prozent der Redezeit für sich beansprucht, führt kein Gespräch, sondern lässt Dampf ab, erzählt Geschichten, hält einen Vortrag, ist auf Indoktrination oder Kontrolle aus, will andere überreden oder dominieren oder einfach das Schweigen übertönen. In jedem Gespräch besteht das Risiko, dass eine Seite das Thema auf undemokratische Weise an sich reißt, auch wenn sie nicht unbedingt undemokratischen Absichten hat. Doch wer die Gesprächsführung okkupiert und die Unterhaltung allein bestreitet, vergisst, dass dadurch nur seine eigenen Bedürfnisse, nicht die des Zuhörers erfüllt werden. Empathie trägt zur Verringerung dieses Risikos bei, weil ein einfühlsamer Sprecher spürt, wie lange er weiterreden sollte und wann der Zuhörer das Thema wechseln möchte. Bei einem echten Gespräch achtet der Sprecher sensibel auf den gegenwärtigen Zuhörer im gegenwärtigen Moment. Empathie bringt uns dazu, die anderen zu fragen, was sie empfinden, und zu überprüfen, ob sie einen Beitrag zum Gespräch leisten möchten oder was sie von dem Thema halten. Das heißt nicht, dass man die andere Person ein einziges Mal nach ihrem Befinden und ihrer

Meinung fragt, um ihre Gedanken und Gefühle dann anschließend zu ignorieren und sich auf die eigenen zu konzentrieren. Es bedeutet vielmehr, dass man im Laufe des Gesprächs nachhakt und immer wieder nachfragt. Warum? Weil Sie andernfalls womöglich wie ein Wasserfall reden und den anderen mit Worten überschütten, ohne dass es ihn im Mindesten interessiert, was Sie zu erzählen haben. Vielleicht empfindet er Ihren nicht enden wollenden Wortschwall sogar als regelrecht unangenehm. Die Amerikaner haben den treffenden Ausdruck »dumping on someone«, was so viel heißt wie jemanden als Mülleimer benutzen, wenn ein unsensibler Sprecher ohne Punkt und Komma redet und sich dem Gesprächspartner gegenüber weder interessiert noch fair verhält. Von daher sollten wir regelmäßig überprüfen, ob unser Gegenüber noch hören möchte, was wir zu sagen haben. Ein einfühlsamer Mensch überprüft dies nicht nur, sondern hält sich auch konsequent an die Antwort des Zuhörers, sodass dieser nicht denkt, man hätte das Interesse nur geheuchelt. Empathie ermöglicht einen wechselseitigen Dialog, weil man sich durch Sprecherwechsel immer wieder gegenseitig Raum schafft. Empathie versetzt uns in die Lage, die eigenen Beiträge und diejenigen des Gesprächspartners aufeinander abzustimmen. Zur Empathie gehört, dass man sich in den anderen hineinversetzt. Man kann zwar versuchen, die Gedanken und Gefühle des anderen zu entschlüsseln, indem man auf seine Mimik, Stimme oder Körperhaltung achtet, doch letztendlich ist seine innere Welt nicht zu erkennen, und um wirklich zu ergründen, was in dem anderen vorgeht, muss man sich vorstellen, wie es wäre, in seiner Haut zu stecken. Wer jedoch all die genannten Dinge nur deshalb beherzigt, weil er sich richtig benehmen will oder weil er das Ganze als intellektuelle Übung betrachtet, ist nicht wirklich einfühlsam. Wer empathisch ist, verhält sich auf diese Weise, weil er nicht anders kann, weil ihm die Gedanken und Gefühle des anderen tatsächlich wichtig sind. Wer wenig Empathie aufbringt, kann sich vielleicht so nur verhalten, wenn er ausdrücklich dazu aufgefordert wird. Oder wenn er feststellt, dass er häufiger miteinbezogen wird, wenn er

das Richtige sagt oder tut. Vielleicht übt er sogar, wie man Empathie äußert, um in den Genuss ihrer Vorteile zu kommen. Doch er verhält sich wahrscheinlich nicht spontan. Die Gefühle anderer Leute sind ihm im Grunde nicht so wichtig, und er muss sich anstrengen, um für längere Zeit einen einfühlsamen Eindruck zu wecken. Für Menschen, die von Natur aus empathisch sind, ist das dagegen ganz leicht. Sie können sich stundenlang und ohne jede Mühe in andere Menschen hineinversetzen. Empathie sorgt dafür, dass man sein Gegenüber als Person, als fühlendes Wesen betrachtet und nicht als Objekt, das nur dazu da ist, die eigenen Wünsche und Bedürfnissen zu befriedigen. So wird ein empathischer Vater seinem Kind keine Ohrfeige versetzen, auch wenn ihn dessen Trotzverhalten zur Weißglut treibt. Angesichts des Schmerzes, den man einem anderen Menschen bereiten könnte, schiebt man die eigene Frustration beiseite. Auf ähnliche Weise macht sich auch eine empathische Unternehmensleiterin klar, dass ihre Mitarbeiter nicht ihre persönlichen Leibeigenen sind, sondern auch noch ein Privatleben führen, für das sie - manchmal auch während der Arbeitszeit - Zeit und Raum brauchen. Empathie weckt also unser Interesse für das Denken und Fühlen eines anderen Menschen. Warum sollten wir uns dafür interessieren? Wenn wir einfühlsam sind, können wir erkennen, ob die anderen Hilfe und Unterstützung brauchen, und sie können dasselbe für uns tun. Wir können von anderen lernen und sie von uns. Wir können vermeiden, andere vor den Kopf zu stoßen, und umgekehrt Wir können feststellen, ob geistige Begegnungen möglich sind und auf diese Weise eine echte Verständigung erreichen. Empathie ist das Bindemittel für soziale Beziehungen. Sie motiviert dazu, nach den Erfahrungen des anderen zu fragen und sich für seine Belange zu interessieren. Wer sich in den anderen einfühlt, erkundigt sich nach seinen Schwierigkeiten und Problemen, gibt ihm das Gefühl, Unterstützung zu erhalten, und lädt nicht einfach nur seine eigenen Sorgen bei ihm ab. Empathie schafft auch die Grundlagen für die Entwicklung eines moralischen Regelwerks. Trotz allem, was das Alte Testament hierzu angibt, findet man moralische Regeln nicht auf geheimnisvollen Steintafeln auf windgepeitschten Bergen der Wüste Sinai.

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Moralische Gesetze werden von Menschen gemacht, die zur Empathie, zum Mitleid und zur Solidarität fähig sind. Einige Menschen sind zwar überzeugt, dass die Rechtssysteme darüber bestimmen, wie wir handeln sollen (vielleicht kennen Sie solche Rechtsanwälte oder Verkehrspolizisten), doch solche Systeme sind nicht viel mehr als der Versuch, menschliches Verhalten zu regulieren. Es besteht kein Zweifel daran, dass es eine große Leistung ist, eine Rechtsordnung zu schaffen, die auf einem Moralkodex aufbaut. Man bedenke nur, was in Staaten geschieht, in denen die Rechtsordnung zusammenbricht. Es wäre wundervoll, wenn ein systematisches Vorgehen, der rein logische Denkprozess uns ein Gefühl für Recht und Unrecht vermitteln würde. Doch die Geschichte hält leider eine Fülle von Beispielen dafür bereit, dass man Logik und Rechtssysteme dafür missbrauchen kann, um autoritäre Regime zu stützen oder sogar Völkermord zu begehen. Der Nationalsozialismus ist eines der erschreckendsten Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit. Man kann ein glänzender Wissenschafüer, ein exzellenter Logiker sein, doch bei einem zu geringen Empathie-Quotienten hat man unter Umständen nicht die moralischen Grundsätze entwickelt, um den Wert und die Folgen eines bestimmten Handelns zu erkennen. Das zeigt das Beispiel von Konrad Lorenz, Begründer der Ethologie und ein Meister der sorgfältigen Beobachtung und Messung tierischen Verhaltens. In einer neueren Veröffentlichung wird darauf hingewiesen, dass der allseits geschätzte Lorenz trotz seiner hohen Intelligenz nicht in der Lage war, die politische Ideologie der »ethnischen Säuberung« zu erkennen, als er in den Vierzigerjahren in Deutschland arbeitete, und tatsächlich vertrat er selbst fragwürdige, wenn nicht gar gefährliche Ansichten zur Eugenik.3 Dies ist keine vollständige Liste der Gründe, warum das Einfühlungsvermögen so wichtig ist, aber ich hoffe, sie macht deutlich, dass Empathie entscheidend für das ist, was unser Menschsein ausmacht und uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Möglicherweise gibt es andere empathiefähige Spezies; man hat diese Auffassung zum Beispiel immer wieder in Bezug auf Delfine, Menschenaffen und Bernhardiner vertreten. Ein berühmtes Bei-

spiel ist das Gorillaweibchen Binti: Sie hob einen Dreijährigen auf, der in ihr Zoogehege gefallen war, tröstete den verletzten Jungen und trug ihn vorsichtig zur Tür, wo die Wärter ihn in Empfang nehmen konnten. 4 Auch wenn dies darauf hindeutet, dass die Empathie ein Erbe der Evolution ist, das wir mit den Menschenaffen gemeinsam haben, sind solche Nachweise doch immer noch umstritten. Deshalb will ich mich auf die eindeutigen Nachweise beschränken, die für den Menschen vorliegen.

Die Bestandteile der Empathie Die Empathie zeichnet sich im Wesentlichen durch zwei Elemente aus. Das erste ist die kognitive Komponente: Verständnis für die Gefühle des anderen und die Fähigkeit, seine Perspektive einzunehmen. Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896-1980) bezeichnete diesen Aspekt der Empathie als »Dezentrieren« oder als »nicht egozentrisches Reagieren«. In jüngerer Zeit wird dieser Aspekt der Empathie von Entwicklungspsychologen im Rahmen einer so genannten »Theory of Mind« erörtert oder über Begriffe wie »mindreading« (Gedankenlesen) definiert. Zur kognitiven Komponente gehört im Wesentlichen, dass man die eigene derzeitige Perspektive vorübergehend außer Acht lässt, der anderen Person einen bestimmten Gemütszustand oder eine bestimmte »Einstellung« (attitude5) zuschreibt und Schlüsse über ihre mutmaßliche innere Verfassung zieht, indem man auch ihre Erfahrungen berücksichtigt. Die kognitive Komponente ermöglicht zudem Vorhersagen über das Verhalten oder den mentalen Zustand der anderen Person. Der zweite Aspekt der Empathie ist die gefühlsmäßige oder »affektive« Komponente. Das ist die angemessene emotionale Reaktion dessen, der den Gemütszustand einer anderen Person wahrnimmt. Mitleid ist nur eine von vielen möglichen empathischen Reaktionen, bei denen man sowohl gefühlsmäßig auf den Kummer eines anderen eingeht als auch den Wunsch verspürt, sein Leiden zu lindern. (Man setzt diese Absicht nicht immer in die Tat um, aber man verspürt zumindest den Wunsch, den Kummer

eines anderen zu erleichtern.) In Abbildung 3 wird Mitleid als eine Subkategorie der affektiven Empathie-Komponente dargestellt. EMPATHIE Zusammengesetzte Komponente

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Mitleid

Abbildung 3: Ein Empathie-Modell + Die Gefühle des anderen, die man wahrnimmt/von denen man hört, lösen eine angemessene eigene Gefühlsreaktion aus. # Man begreift und/oder antizipiert, was eine andere Person denken, fühlen oder tun könnte. * Der wahrgenommene Kummer der anderen Person löst eine Gefühlsreaktion aus, die dazu führt, dass man das Leid des anderen lindern möchte.

Mitgefühl ist vielleicht das deutlichste Beispiel für eine Form von Empathie. Wenn Sie im Winter einem Obdachlosen begegnen, empfinden Sie wahrscheinlich Mitleid und möchten etwas gegen dieses Elend unternehmen. Sie handeln aber vielleicht trotzdem nicht, weü Sie gleichzeitig das Gefühl haben, dass es sinnlos ist, etwas zu tun, weil es so viele obdachlose Menschen in dieser Gegend gibt und man unmöglich allen helfen kann. Also gehen Sie schließlich doch weiter, ohne konkrete Hilfe geleistet zu haben. Gleichwohl ist dies eine mitfühlende Reaktion, weil Sie den Wunsch verspürt haben, das Leiden der anderen Person zu lindem. Das Mitgefühl ist vorhanden, gleichgültig ob man entsprechend handelt und dem Obdachlosen die eigenen Handschuhe schenkt oder nicht.

Doch man könnte sich bei diesem Beispiel auch noch weitere, ebenfalls angemessene emotionale Reaktionen auf die Gefühle des anderen vorstellen. Vielleicht reagiert man auf den Anblick des Obdachlosen und seines Elends mit Wut (auf das System) oder mit Schuldgefühlen (weil man nicht helfen kann) etc. - alles Formen von Empathie. Schadenfreude, Selbstgefälligkeit oder Hass gegenüber dem Obdachlosen zählen hingegen nicht zur Empathie, weil keines dieser Gefühle denen der anderen Person angemessen ist. Wenn wir akzeptieren, dass es diese beiden Aspekte bei der Empathie gibt (die kognitive und die affektive Komponente), lässt sich das in eine Formel bringen? Nach Auffassung des Psychologen Alan Leslie, der heute an der Rutgers University tätig ist, umfasst der kognitive Aspekt eine so genannte M-Repräsentation (M für mentaler Zustand). Er bringt das auf die folgende Formel:6 Handelnder-Einstellung-These (Agent-Attitude-Proposition) Zum Beispiel: John- hält-Sarah für wunderschön. Die Einstellung (was im Kopf der anderen Person vor sich geht, in diesem Fall in Johns Kopf) wird durch Kursivschrift hervorgehoben. Die dreiteilige Struktur erfasst den kognitiven Aspekt der Empathie. Aber könnte man die Formel dahingehend erweitern, dass sie auch die affektive Komponente umfasst, nämlich dass der Beobachter eine Emotion erlebt, die durch die Emotion oder den mentalen Zustand der anderen Person ausgelöst wird? Um diesen zweiten Aspekt zu erfassen, brauchte man eine etwas längere Formel wie etwa Subjekt-Emotion (Handelnder-Einstellung-These) Hier ist der durch Fettdruck hervorgehobene Emotionsausdruck im Innern des Beobachters angesiedelt. Es handelt sich um eine angemessene affektive Reaktion auf alles, was in der Klammer folgt, wenn der Handelnde ein anderer Mensch oder ein Tier ist.

Zum Beispiel: Jane empfindet Mitleid (John ist traurig üher den Tod seiner Mutter). Nach dieser Formulierung ist die Empathie ein komplexer Vorgang und umfasst Informationsketten, in denen die Daten auf ganz spezifische Weise eingebunden sind. Was diese Formel natürlich nicht vermitteln kann, ist die Spontaneität und Unmittelbarkeit der Empathie: Jane muss sich nicht mühsam durch einen Berg kognitiver Argumente arbeiten, um Mitgefühl für Johns Trauer zu empfinden. Sie spürt diese Anteünahme genauso deutiich wie die Angst, wenn sie über einen Klippenrand schaut, oder den Ekel, wenn sie einen Wurm in ihrem gerade angebissenen Apfel entdeckt. Im nächsten Kapitel wollen wir einige wissenschafüiche Nachweise betrachten, die aus Studien über geschlechtsspezifische Unterschiede in sehr verschiedenen Bereichen stammen, und der Frage nachgehen, ob es überwiegend der weibliche Gehirntyp ist, der auf diese Art von natürlicher, müheloser Empathie ausgerichtet ist.

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Das weibliche Gehirn: Nachweise für ein besonderes Empathievermögen Unterschiede im Spielstil Kinder zeigen bereits sehr früh geschlechtsspezifische Unterschiede in ihren Empathiefahigkeiten. Nirgends tritt das deutlicher zu Tage als im Spielverhalten. Schon im Alter von 19 Monaten ziehen Kinder gleichgeschlechtliche Spielgefährten vor. Nach Ansicht einiger Autoren ist dies ein Zeichen für die Unterschiede im sozialen Stil der beiden Geschlechter. Durch die Auswahl eines gleichgeschlechtlichen Spielgefährten entscheiden sich die Kinder möglicherweise für einen Partner, dessen sozialer Stil am besten zu ihrem eigenen passt 1 Kleine Jungen setzen ihren Körper stärker ein als Mädchen, wenn sie etwas erreichen wollen. Ein Beispiel: Wenn man eine Gruppe von Kindern mit einem Filmvorführgerät spielen lässt, das nur ein Guckloch hat, erobern sich die Jungen mehr Zeit am Okular, als ihnen gerechterweise zustünde. Sie schubsen die Mädchen einfach aus dem Weg: Sie zeigen weniger Empathie und mehr Egoismus.2 Lässt man eine reine Mädchengruppe mit demselben Gerät spielen, erringt das Mädchen, das letztendlich die meiste Zeit am Okular verbringt, diesen Vorteil nicht durch solche unverblümten physischen Taktiken, sondern durch verbale Strategien. Es setzt eher auf Verhandeln und Überreden als auf reine KörperkrafL Das ist ein schönes Beispiel dafür, dass kleine Mädchen im Allgemeinen mehr Interesse an Fairness zeigen, dass sie aber, selbst wenn sie nach einem eigenen Vorteil streben, ihr Einfühlungsvermögen nutzen, damit die andere Person ihnen freiwillig gibt, was sie haben möchten. Hier ein weiteres Beispiel, das vielen Eltern vermudich vertraut ist Wenn man Kindern einige der großen Plastikautos zur Verfügung stellt, die sie selbst fahren können, geschieht Folgendes: Die Jungen beginnen schnell, »Karambolage« zu spielen, und

rammen mit ihrem Vehikel absichtlich die anderen Fahrzeuge. Falls es den kleinen Mädchen gelingt, an die Autos heranzukommen (da die Jungen diese normalerweise vollständig mit Beschlag belegen), fahren sie viel vorsichtiger und vermeiden nach Möglichkeit Zusammenstöße.3 Die amerikanische Psychologin Eleanor Maccoby bezeichnet das Verhalten der Jungen als Raufen und Toben, wozu auch gehört, dass sie miteinander ringen und Scheinkämpfe austragen. Die folgende Beschreibung von vierjährigen herumtobenden Jungen kommt Ihnen sicherlich bekannt vor: Sie veranstalten Ringkämpfe, stoßen zusammen und purzeln übereinander. Ein Junge schubst einen anderen zum Spaß hin und her... Sie ahmen das Geräusch von Maschinengewehren nach und verfolgen einander mit Laserstrahlgewehren und Sprühflaschen ... Jungen schmieren sich gegenseitig Knete ins Haar... und tun so, als würden sie sich gegenseitig erschießen. Dann fallen sie tot um und rollen über den Boden. Wie Maccoby ausführt, kann man aus diesen Raufereien nicht einfach schließen, dass Jungen aktiver sind als Mädchen: Mädchen werden genauso aktiv, wenn es um andere Spielsachen wie etwa Trampoline oder Springseile geht. Maccoby betont ausdrücklich, dass die Toberei kein Ausdruck von Aggressivität ist, sondern dass die Jungen nur in ausgelassener Stimmung ihre Kräfte aneinander messen und sich gegenseitig beweisen wollen, wie stark sie sind. Dieser männliche Spielstil kann ein Riesenspaß sein, wenn man ebenfalls ein Junge ist und ungeheures Vergnügen an solchen Aktivitäten findet. Da es bei dieser Spielweise häufig zu einigen Knüffen oder anderen kleinen Verletzungen oder Übergriffen kommt, muss man zudem die Empathie etwas herunterschrauben. Mädchen finden diesen Spielstil im Allgemeinen weniger spaßig. Beim ersten Mal nehmen sie das grobe Herumalbern vielleicht noch mit Humor, doch wenn es sich wiederholt, empfinden sie es meistens als ziemlich unsensibel.4 Natürlich sind Kampfspiele nicht immer nur Ausdruck von Ausgelassenheit. Manchmal können sie auch einen »agonistischen«, das heißt einen rivalisierenden Charakter an der Grenze zur Aggression annehmen, zum Beispiel wenn die Jungen einander

bedrohen oder in Streit geraten. Im Durchschnitt zeigen Jungen ein stärker agonistisches Verhalten als Mädchen, und das Erstaunliche ist, dass man diese Unterschiede bereits bei Zweijährigen beobachten kann. Wie an früherer Stelle ausgeführt, fallt es kleinen Jungen relativ schwer, ihre Spielsachen mit anderen zu teilen. In einer Studie konkurrierten kleine Jungen fünfzig Mal häufiger um Spielsachen als die Mädchen, während die Mädchen sich zwanzig Mal häufiger abwechselten. Das sind Alltagsbeispiele für erhebliche geschlechtsspezifische Unterschiede im Einfühlungsvermögen.5

Antisoziale Verhaltensstörung Eine kleine Zahl von Jungen landet in kinderpsychiatrischen Kliniken, wo eine »Verhaltensstörung« (»conduct disorder«) diagnostiziert wird. Der englische Begriff »conduct« weckt Assoziationen mit der viktorianischen Ära und könnte zu der Annahme verleiten, dass die Betroffenen über schlechte Manieren verfügen. Doch die Probleme dieser Kinder haben nichts damit zu tun, ob sie wissen, welche Gabel sie auf einer vornehmen Dinnerparty benutzen müssen. Manchmal spricht man auch von einer »Führungsstörung« oder konstatiert, solche Kinder seien »schwer zu führen«, was der Sache schon etwas näher kommt. Diese Kinder geraten immer wieder in Auseinandersetzungen. Sie neigen zu der Wahrnehmung, dass andere sie aggressiv oder feindselig behandeln, auch wenn ein objektiver Beobachter keinerlei Anzeichen für eine beabsichtigte Feindseligkeit erkennen kann. Das ist ein Beispiel dafür, dass man sich in einen anderen Menschen einfühlt, aber falsche Schlüsse hinsichtlich seiner inneren Verfassung zieht und ihm unzutreffende Absichten unterstellt. Jungen neigen stärker zu solchen Fehlzuschreibungen einer feindseligen Absicht als Mädchen.6

Trost und Anteilnahme Kleine Mädchen reagieren schon im Alter von 12 Monaten empathischer auf den Kummer anderer Menschen, zeigen mehr Anteilnahme durch traurigere Blicke, mitfühlende Lautäußerungen und tröstendes Verhalten. Das entspricht interessanterweise dem Verhalten, das man am anderen Ende des Altersspektrums findet, wo weit mehr Frauen als Männer angeben, dass sie emotionalen Kummer mit Freundinnen besprechen. Frauen neigen auch stärker als Männer dazu, andere Menschen, sogar Fremde, zu trösten.7

Theory of Mind Mehrere Studien deuten darauf hin, dass dreijährige Mädchen ihren männlichen Altersgenossen bereits weit voraus sind, wenn es darum geht, die Gedanken und Gefühle anderer Menschen zu deuten, d.h. eine »Theory of Mind« anzuwenden. Das ist die »kognitive Komponente«, die ich in Kapitel 3 beschrieben habe. Wenn man Kinder fragt, was wohl eine bestimmte Figur in einer Geschichte innerlich, im Vergleich zu den Gefühlen, die sie nach außen zeigt, empfindet, stellt man fest, dass Mädchen dies besser einschätzen können als Jungen. Auch bei der Frage, was für ein Gesicht man in bestimmten Situationen machen sollte (zum Beispiel, wenn man ein Geschenk bekommt, das einem nicht gefällt), haben Mädchen ein besseres Gespür dafür, wann man seine eigenen Gefühle besser unterdrücken sollte, um die Gefühle anderer nicht zu verletzen. Und wenn Kinder einschätzen sollen, ob jemand etwas Unpassendes gesagt hat (also voll ins Fettnäpfchen getreten ist), schneiden Mädchen spätestens ab dem siebten Lebensjahr besser ab als Jungen. Auch dieser Befund deutet darauf hin, dass Frauen sich besser in andere einfühlen können.8

Einschätzen von Gefühlen Frauen reagieren sensibler auf Gesichtsausdrücke. Sie können nonverbale Botschaften besser entschlüsseln als Männer, bemerken schneller subtile Nuancen in der Stimme oder der Mimik oder nutzen diese Hinweise besser, um den Charakter einer anderen Person einzuschätzen. Der bekannteste Test, mit dem die Sensibilität für nonverbale Hinweise auf Emotionen ermittelt wird, ist der so genannte Profile of Nonverbal Sensitivity-Test (PONS). Bei diesem Test gelingt es Frauen besser als Männern, die Gefühle eines Schauspielers richtig einzuschätzen. Dieser geschlechtsspezifische Unterschied ließ sich in den unterschiedlichsten Teilen der Welt festmachen, von New Guinea über Israel und Australien bis hin zu Nordamerika.9 Gemeinsam mit Sally Wheelwright habe ich einen EmpathieTest entwickelt, bei dem der Testperson Fotos von emotionalen Gesichtsausdrücken vorgelegt werden - allerdings nur von der Augenpartie. Wir nennen ihn den »Augensprache«-Test (.Reading the Mind in the Eyes-Test, siehe Anhang 1). Jedem Foto sind vier Begriffe zugeordnet, und die Probanden sollen denjenigen Begriff auswählen, der ihrer Ansicht nach am besten beschreibt, was die dargestellte Person denkt oder fühlt. Das Foto von der Augenpartie ist die einzige Information, die den Teilnehmern zur Verfügung steht. Ziel war es, einen anspruchsvollen Test zu entwickeln, der die ganze Bandbreite individueller Unterschiede bei der Empathie zum Vorschein bringen kann. Die Teilnehmer erzielen bei diesem Test im Allgemeinen sehr gute Ergebnisse, obwohl sie ihn für kompliziert halten. Es ist ein so genannter »forced choice«-Test (»Zwangswahl«), das heißt, wenn man sich unsicher ist, welche Beschreibung die richtige ist, muss man einfach raten. Und wie Sie vielleicht schon vermuten, schneiden Frauen bei diesem Test besser ab als Männer.10

Beziehungen Wir alle legen großen Wert auf soziale Bindungen, aber es gibt Unterschiede in dem, was Männer und Frauen an anderen Menschen schätzen. Relativ viele Frauen legen Wert auf die Entwicklung von altruistischen, reziproken Beziehungen. Solche Beziehungen erfordern Empathie. Im Gegensatz dazu gehen die Präferenzen der Männer eher in Richtung Macht, Politik und Wettbewerb. Dieses Muster findet sich in den unterschiedlichsten Kulturen und Epochen und ist sogar bei Schimpansen festzustellen.11 Auch bei Kindern findet sich ein ähnliches Muster. Bei Mädchen besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie Testfragen zum Thema Kooperation zustimmend bewerten (»Ich lerne gern mit anderen Schülern zusammen«); sie finden es tendenziell auch wichtiger, Vertrauen aufzubauen, als Macht zu gewinnen. Bei Jungen besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie bei wettbewerbsorientierten Aussagen zustimmen (»Ich möchte bei der Arbeit besser sein als meine Freunde«) und sozialen Status für wichtiger halten als Vertrautheit. Wenn man Drei- bis Fünfjährige fragt, wie Geld verteüt werden sollte, schlagen Mädchen häufiger als Jungen vor, dass es gerecht aufgeteilt werden sollte. All das spricht dafür, dass Männer im Allgemeinen Wert darauf legen, Bestätigung für ihren sozialen Status zu erhalten (für ihren Platz im gesellschaftlichen Hierarchiesystem), während Frauen mehr Wert darauf legen, Unterstützung (Empathie) in einer gleichberechtigten Beziehung zu finden.12 Ein weiteres Instrument zur Messung dieses geschlechtsspezifischen Unterschieds ist der von Sally Wheelwright und mir entwickelte Freundschafts- und Beziehungsfragebogen (Friendship and Relationship Questionnaire, FQ). Wir wollten ermitteln, ob sich Männer und Frauen in sozialen Beziehungen auf die Gefühle der anderen Person oder einfach auf die gemeinsame Aktivität konzentrierten. Empathie ist nur für das Erstere erforderlich. Wir haben festgestellt, dass Frauen bei Freundschaften im Allgemeinen mehr Wert auf Empathie legen, während Männer eher gemeinsame Aktivitäten schätzen. Andere Studien haben zu ähnlichen Ergebnissen geführt.13

Eifersucht und Fantasien Wenn man Männer und Frauen fragt, welches Verhalten des Partners sie wirklich eifersüchtig macht, fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus. Männer berichten, dass sie am stärksten leiden (und die stärksten körperlichen Stress-Symptome zeigen), wenn sie sich vorstellen, ihre Partnerin könnte ihnen sexuell untreu sein. Im Gegensatz dazu berichtet die Mehrheit der Frauen, dass die Vorstellung, ihr Partner könnte eine gefühlsmäßige Bindung zu einer anderen Frau entwickeln, besonders starke Eifersuchtsgefühle hervorruft. Diese Unterschiede scheinen darauf hinzudeuten, dass Frauen stärker als Männer auf die emotionalen Aspekte einer Beziehung ausgerichtet sind. Wenn man Männer und Frauen nach ihren sexuellen Fantasien befragt, zeigt sich ebenfalls, dass die Geschlechter unterschiedliche Vorstellungen von Beziehungen haben. Frauen neigen dazu, über die charakterlichen und emotionalen Qualitäten ihres Traumpartners nachzudenken, was darauf schließen lässt, dass sie ihr Einfühlungsvermögen nicht einfach ausblenden können, nicht einmal wenn sie an Sex denken. Im Gegensatz dazu neigen Männer dazu, sich in ihren Träumen auf die körperlichen Merkmale der Partnerin zu konzentrieren. Empathie ist ein mögliches, aber kein notwendiges Element ihrer Fantasien, was darauf hindeutet, dass Männer ihre Empathie mehr oder weniger ausblenden können.14

Vergewaltigung Für einige Männer ist Sexualität offensichtlich völlig losgelöst von einer vertrauten, gegenseitigen Gefühlsbindung, was sich in der Tatsache niederschlägt, dass einige Männer sexuelle Lust bei einer Vergewaltigung empfinden können, die per definitionem einen völligen Mangel an Empathie darstellt. Man denke nur an das Phänomen der so genannten »Vergewaltigungsdrogen«: ein Sexualverbrechen, bei dem der Mann den Drink einer Frau mit einer farblosen, geruchs- und geschmacksneutralen Substanz

er sie wie einen Gegenstand behandeln und sexuell missbrauchen kann. In norwegischen Waisenhäusern wuchsen während des Zweiten Weltkrieges Kinder auf, die das Produkt von sexuellen Beziehungen zwischen nationalsozialistischen Soldaten und norwegischen Frauen waren. Der einzige Zweck, zu dem diese Kinder absichtlich »gezüchtet« wurden, bestand darin, die arischen Gene zu vermehren. Es gab keine emotionale Beziehung zwischen den Soldaten und den Frauen, die von ihnen geschwängert wurden. Die Haltung der Soldaten gegenüber diesen Frauen ist ein ernüchternder Beleg für die Theorie, dass die Empathie bei den Geschlechtern unterschiedlich ausgeprägt ist. Nicht minder bedrückend ist die Tatsache, dass norwegische Männer stundenlang Schlange standen und die Bewacher der Waisenhäuser mit Schnaps bestachen, um mit diesen Kindern zu schlafen. Können Männer durch ihren Sexualtrieb wirklich dazu gebracht werden, die Gefühle anderer vollständig zu ignorieren? Es scheint so. Glücklicherweise ist der Mangel an Empathie bei den meisten Männern nicht so gravierend, dass sie andere Menschen auf so schreckliche Weise verletzen könnten. Doch die Tatsache, dass Männer überhaupt Vergewaltigungen begehen, lässt auf eine Extremform des geschlechtsspezifischen Unterschieds im Einfühlungsvermögen schließen. Ein geringeres Maß an Empathie ist selbstverständlich nicht der einzige Grund für Vergewaltigungen, aber wahrscheinlich ein signifikanter Einflussfaktor. Psychopathische Persönlichkeitsstörung Werfen wir einen Blick auf einige wirklich unangenehme Zeitgenossen, nämlich auf jene Menschen, die man als erwachsene Psychopathen einstuft. Dabei handelt es sich um Personen, die man äußerst ungern als nächste Nachbarn hätte. Aus ihren Reihen rekrutieren sich die üblen Verbrecher, die tatsächlich vor nichts zurückschrecken - die eine Geisel nehmen und sie anschließend zerstückeln oder die einer armen Rentnerin die gesamten Erspar-

Eifersucht und Fantasien

Wenn man Männer und Frauen fragt, welches Verhalten des Partners sie wirklich eifersüchtig macht, fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus. Männer berichten, dass sie am stärksten leiden (und die stärksten körperlichen Stress-Symptome zeigen), wenn sie sich vorstellen, ihre Partnerin könnte ihnen sexuell untreu sein. Im Gegensatz dazu berichtet die Mehrheit der Frauen, dass die Vorstellung, ihr Partner könnte eine gefühlsmäßige Bindung zu einer anderen Frau entwickeln, besonders starke Eifersuchtsgefühle hervorruft. Diese Unterschiede scheinen darauf hinzudeuten, dass Frauen stärker als Männer auf die emotionalen Aspekte einer Beziehung ausgerichtet sind. Wenn man Männer und Frauen nach ihren sexuellen Fantasien befragt, zeigt sich ebenfalls, dass die Geschlechter unterschiedliche Vorstellungen von Beziehungen haben. Frauen neigen dazu, über die charakterlichen und emotionalen Qualitäten ihres Traumpartners nachzudenken, was darauf schließen lässt, dass sie ihr Einfühlungsvermögen nicht einfach ausblenden können, nicht einmal wenn sie an Sex denken. Im Gegensatz dazu neigen Männer dazu, sich in ihren Träumen auf die körperlichen Merkmale der Partnerin zu konzentrieren. Empathie ist ein mögliches, aber kein notwendiges Element ihrer Fantasien, was darauf hindeutet, dass Männer ihre Empathie mehr oder weniger ausblenden können.14

Vergewaltigung

Für einige Männer ist Sexualität offensichtlich völlig losgelöst von einer vertrauten, gegenseitigen Gefühlsbindung, was sich in der Tatsache niederschlägt, dass einige Männer sexuelle Lust bei einer Vergewaltigung empfinden können, die per definitionem einen völligen Mangel an Empathie darstellt. Man denke nur an das Phänomen der so genannten »Vergewaltigungsdrogen«: ein Sexualverbrechen, bei dem der Mann den Drink einer Frau mit einer farblosen, geruchs- und geschmacksneutralen Substanz mischt, durch die sie bis zu sechs Stunden bewusstlos wird, sodass

er sie wie einen Gegenstand behandeln und sexuell missbrauchen kann. In norwegischen Waisenhäusern wuchsen während des Zweiten Weltkrieges Kinder auf, die das Produkt von sexuellen Beziehungen zwischen nationalsozialistischen Soldaten und norwegischen Frauen waren. Der einzige Zweck, zu dem diese Kinder absichtlich »gezüchtet« wurden, bestand darin, die arischen Gene zu vermehren. Es gab keine emotionale Beziehung zwischen den Soldaten und den Frauen, die von ihnen geschwängert wurden. Die Haltung der Soldaten gegenüber diesen Frauen ist ein ernüchternder Beleg für die Theorie, dass die Empathie bei den Geschlechtern unterschiedlich ausgeprägt ist. Nicht minder bedrückend ist die Tatsache, dass norwegische Männer stundenlang Schlange standen und die Bewacher der Waisenhäuser mit Schnaps bestachen, um mit diesen Kindern zu schlafen. Können Männer durch ihren Sexualtrieb wirklich dazu gebracht werden, die Gefühle anderer vollständig zu ignorieren? Es scheint so. Glücklicherweise ist der Mangel an Empathie bei den meisten Männern nicht so gravierend, dass sie andere Menschen auf so schreckliche Weise verletzen könnten. Doch die Tatsache, dass Männer überhaupt Vergewaltigungen begehen, lässt auf eine Extremform des geschlechtsspezifischen Unterschieds im Einfühlungsvermögen schließen. Ein geringeres Maß an Empathie ist selbstverständlich nicht der einzige Grund für Vergewaltigungen, aber wahrscheinlich ein signifikanter Einflussfaktor. Psychopathische Persönlichkeitsstörung Werfen wir einen Blick auf einige wirklich unangenehme Zeitgenossen, nämlich auf jene Menschen, die man als erwachsene Psychopathen einstuft. Dabei handelt es sich um Personen, die man äußerst ungern als nächste Nachbarn hätte. Aus ihren Reihen rekrutieren sich die üblen Verbrecher, die tatsächlich vor nichts zurückschrecken - die eine Geisel nehmen und sie anschließend zerstückeln oder die einer armen Rentnerin die gesamten Ersparnisse abluchsen. Die meisten Psychopathen sind Männer. Es bleibt

vermutlich unbestritten, dass die affektive Komponente der Empathie bei solchen Individuen äußerst unterentwickelt ist. Doch einige Studien deuten darauf hin, dass sie keinerlei Probleme mit der kognitiven Komponente haben. Deshalb können sie lügen, ohne die geringsten Schuldgefühle zu empfinden. 15 Aggressionen Kehren wir wieder zum »normalen« Durchschnittsmenschen zurück. Auch ein normales Maß an Aggressivität kann sich nur entwickeln, wenn das Einfühlungsvermögen eingeschränkt ist. Man kann sich nicht einfach vornehmen, einen anderen Menschen zu verletzen, wenn man sich Gedanken darüber macht, was er empfindet. Doch wenn man wütend oder eifersüchtig ist, können diese Gefühle das Einfühlungsvermögen verringern. Unter bestimmten Bedingungen kann sich dieses niedrigere Empathieniveau so lange halten, dass man die Aggressionen ungehemmt herauslässt. Ein gutes Einfühlungsvermögen wirkt wie eine Bremse, deren Fehlen zum ungezügelten Ausbruch der Aggressionen führen kann. Wer einen Wutanfall hat, ist stärker auf die eigenen als auf die Gefühle anderer konzentriert. Aggressionen zeigen sich selbstverständlich bei beiden Geschlechtern, und beide sind in bestimmten Situationen zu reduzierter Empathie fähig. Aber man entdeckt einen geschlechtsspezifischen Unterschied in der Art, wie die Aggressivität zum Ausdruck gebracht wird. Männer neigen eher zu direkten (offen geäußerten) Aggressionen (stoßen, schlagen, schubsen etc.). Frauen neigen eher zu »indirekten« (verdeckten) relationalen Aggressionen. Diese Form der Aggressivität vollzieht sich ohne körperliche Berührungen »hinter dem Rücken« des anderen und umfasst solche Dinge wie Tratsch, Ausschluss aus der Gruppe (»Schneiden«) oder bissige Bemerkungen. Indirekte Aggressionen sind natürlich trotzdem Aggressionen und als solche ein Zeichen dafür, dass beide Geschlechter zu einer reduzierten Empathie fähig sind. Doch man könnte sagen, dass Faustschläge oder körperliche Angriffe (der eher männliche Stil der Aggression) ein noch perineeres Maß an

Empathie voraussetzen als verbale Seitenhiebe (der eher weibliche Stil der Aggression).16 Auch wenn man dieser ziemlich vereinfachenden Unterscheidung vielleicht nicht zustimmen mag (schließlich sind manche Leute der Auffassung, dass subtile verbale Attacken genauso schmerzen können wie Stöcke oder Steine), lässt sich doch eines nicht leugnen: Indirekte Aggressionen (die eher weibliche Variante) erfordern ein besseres Verständnis dafür, was im Kopf des anderen vorgeht, als direkte Aggressionen (die eher männliche Variante). Das hängt damit zusammen, dass man strategisch vorgehen muss, um ans Ziel zu kommen: Man verletzt Person A, indem man gegenüber Person B etwas Negatives über A sagt. Zur indirekten Aggressivität gehört außerdem ein gewisses Maß an Täuschung: Der »Aggressor« kann jede böse Absicht abstreiten, wenn er zur Rede gestellt wird. 17

Mord Und jetzt zum Thema Mord - dem besten Beispiel für einen ultimativen Mangel an Empathie. Zu den erschreckenden Befunden aus vorindustriellen Gesellschaften gehört, dass jeder dritte junge Mann bei einem Kampf zwischen Männern getötet wurde. Dabei handelte es sich meistens um Männer, die ihren Ruf als geschädigt ansahen. Damit dieser »Gesichtsverlust« nicht zu einem Verlust an sozialem Status führt, legen sie sich mit dem Beleidiger an. Sie plustern sich auf und signalisieren: »Mach mich ja nicht an!« Und wie ließe sich besser signalisieren, dass man nicht nur ein Mann des Wortes, sondern auch der Tat ist, als durch einen handfesten Mord. Wenn man seinen Widersacher in einem Kampf Mann gegen Mann tötet, erlebt der soziale Status einen kometenhaften Aufstieg. Während in der »zivilisierten« Welt Mörder als schlechte Menschen gelten, die man wegschließen sollte, kann ein Mann in vorindustriellen Gesellschaften, der - im Anschluss an eine Provokation - zum Mörder wird, durchaus an Ansehen gewinnen. Daly und Wilson, die sich mit geschlechtsspezifischen Unterschieden bei Tötungsdelikten befassen, meinen dazu: »Es gibt

keine bekannte menschliche Gesellschaft, in der das Ausmaß an tödlicher Gewalt zwischen Frauen auch nur annähernd an das der Männer heranreicht.« 18 Sie haben Mordfälle aus den unterschiedlichsten Gesellschaften untersucht und dazu Fälle gesammelt, die bis zu 700 Jahre zurückreichen. Dabei stellten sie fest, dass Tötungsdelikte zwischen zwei Männern 30- bis 40-mal häufiger vorkamen als zwischen zwei Frauen. Studien zeigen, dass in vielen verschiedenen Gesellschaften zwei Drittel der Morde unter Männern nicht im Zusammenhang mit einem anderen Verbrechen verübt werden, sondern aus einem sozialen Konflikt heraus, bei dem sich der Mann düpiert fühlt. Sie begehen einen Mord, um ihr Gesicht zu wahren und ihren Status zu verteidigen.19 Diesen geschlechtsspezifischen Unterschied bei Aggressivität und Mord könnte man als weiteres Anzeichen für das geringere Empathievermögen von Männern deuten. Natürlich könnte die höhere Gewalt- und Mordrate bei Männern auch mehrere andere Faktoren widerspiegeln (wie etwa Unterschiede in der Risikobereitschaft), aber eine verminderte Empathie ist möglicherweise einer von mehreren Einflussfaktoren. Zudem ist die Konzentration auf den sozialen Status vielleicht ein Anzeichen dafür, dass Männer stärker auf Systeme ausgerichtet sind. Betrachten wir uns einmal etwas genauer, wie diese sozialen Hierarchien funktionieren.

Die Begründung von Dominanzhierarchien Jungen in Gruppen begründen rasch eine »Dominanzhierarchie«. Man könnte darin einen Ausdruck ihres geringeren Einfühlungsund ihres höheren Systematisierungsvermögens sehen, weil eine Hierarchie typischerweise dadurch hergestellt wird, daß eine einzelne Person die anderen mehr oder minder rücksichtslos herumkommandiert, um sich als Anführer zu profilieren. Das ähnelt dem Verhalten anderer männlicher Primaten. In einer Horde Affen erkennen die Männchen z. B. schnell ihren Platz in der Rangordnung. Wenn zwei Männchen auf etwas Wertvolles stossen (Nahrung, Schutz oder eine Partnerin) weiss jedes von

ihnen sofort, ob es sich darauf stürzen kann oder dem anderen Männchen besser den Vortritt lässt. Woher weiß jeder Affe spontan, ob er in der sozialen Gruppe einen höheren oder niedrigeren Rang einnimmt als ein anderer Affe? Es ist nichts Mystisches oder Geheimnisvolles am Aufbau von sozialen Hierarchien. Es flattern nicht einfach Platzkarten vom Himmel, auf denen gottgegebene Zahlen zwischen eins und hundert stehen. Hierarchien entstehen ganz einfach durch Wettbewerb: Zwei (menschliche oder nichtmenschliche) Primaten-Männchen schauen einander über einem begehrten Objekt in die Augen. Manchmal ist von Anfang an klar, dass das eine von beiden nachgibt. Wenn nicht, beginnt der indirekte Kampf. Sie zeigen dann einander durch Drohgebärden, was für »harte Kerle« und wie stark sie sind. Vielleicht wandern sie auch ein bisschen auf und ab (um den anderen prüfend in Augenschein zu nehmen und seine Stärke zu taxieren), bis schließlich einer von ihnen nachgibt. Zum offenen Kampf eskaliert das Ganze in der Regel nur, wenn die agonistischen Verhaltensweisen nicht ausreichen, um einen der beiden Kontrahenten zum Rückzug zu bewegen. Diese indirekte Konfrontation, wie ritualisiert auch immer, muss nicht zwischen allen Männchen der Gruppe stattfinden; die anderen Gruppenmitglieder, die einige dieser Interaktionen beobachten, lernen schnell, dass A aus jedem Streit zwischen A und B als der Überlegene hervorgeht, weil B einen Rückzieher macht. Wenn der »Kampf« dagegen zwischen B und C stattfindet, ist B immer der Überlegene, weil C regelmäßig nachgibt. Daraus ziehen die Primaten mittels logischer Folgerung ihre Schlüsse (sogar ein Affe beherrscht diese Denkoperation, auch wenn man es kaum glauben mag), nämlich: Wenn A stärker ist als B und wenn B stärker ist als C, dann ist A stärker als C. So sicher wie die Nacht auf den Tag folgt, breiten sich diese Gedankengänge in der Gruppe aus. Diese Denkweise, die auf der Logik der »Wenn-dann«-Regel basiert, ist ein Beispiel für das Systematisieren (das in den nächsten beiden Kapiteln ausführlicher dargelegt wird). Wenn sich dasselbe Verhalten bei Menschen und Affen beobachten lässt, ist es offensichtlich in der Evolutionsgeschichte begründet. Mehr dazu in Kapitel 9. Kehren wir vorerst zu den sozialen Dominanzhierarchien beim Menschen zurück.

keine bekannte menschliche Gesellschaft, in der das Ausmaß an tödlicher Gewalt zwischen Frauen auch nur annähernd an das der Männer heranreicht.«18 Sie haben Mordfalle aus den unterschiedlichsten Gesellschaften untersucht und dazu Fälle gesammelt, die bis zu 700 Jahre zurückreichen. Dabei stellten sie fest, dass Tötungsdelikte zwischen zwei Männern 30- bis 40-mal häufiger vorkamen als zwischen zwei Frauen. Studien zeigen, dass in vielen verschiedenen Gesellschaften zwei Drittel der Morde unter Männern nicht im Zusammenhang mit einem anderen Verbrechen verübt werden, sondern aus einem sozialen Konflikt heraus, bei dem sich der Mann düpiert fühlt. Sie begehen einen Mord, um ihr Gesicht zu wahren und ihren Status zu verteidigen.19 Diesen geschlechtsspezifischen Unterschied bei Aggressivität und Mord könnte man als weiteres Anzeichen für das geringere Empathievermögen von Männern deuten. Natürlich könnte die höhere Gewalt- und Mordrate bei Männern auch mehrere andere Faktoren widerspiegeln (wie etwa Unterschiede in der Risikobereitschaft), aber eine verminderte Empathie ist möglicherweise einer von mehreren Einflussfaktoren. Zudem ist die Konzentration auf den sozialen Status vielleicht ein Anzeichen dafür, dass Männer stärker auf Systeme ausgerichtet sind. Betrachten wir uns einmal etwas genauer, wie diese sozialen Hierarchien funktionieren.

Die Begründung von Dominanzhierarchien Jungen in Gruppen begründen rasch eine »Dominanzhierarchie«. Man könnte darin einen Ausdruck ihres geringeren Einfühlungsund ihres höheren Systematisierungsvermögens sehen, weil eine Hierarchie typischerweise dadurch hergestellt wird, daß eine einzelne Person die anderen mehr oder minder rücksichtslos herumkommandiert, um sich als Anführer zu profilieren. Das ähnelt dem Verhalten anderer männlicher Primaten. In einer Horde Affen erkennen die Männchen z. B. schnell ihren Platz in der Rangordnung. Wenn zwei Männchen auf etwas Wertvolles stoßen (Nahrung, Schutz oder eine Partnerin), weiß jedes von

ihnen sofort, ob es sich darauf stürzen kann oder dem anderen Männchen besser den Vortritt lässt. Woher weiß jeder Affe spontan, ob er in der sozialen Gruppe einen höheren oder niedrigeren Rang einnimmt als ein anderer Affe? Es ist nichts Mystisches oder Geheimnisvolles am Aufbau von sozialen Hierarchien. Es flattern nicht einfach Platzkarten vom Himmel, auf denen gottgegebene Zahlen zwischen eins und hundert stehen. Hierarchien entstehen ganz einfach durch Wettbewerb: Zwei (menschliche oder nichtmenschliche) Primaten-Männchen schauen einander über einem begehrten Objekt in die Augen. Manchmal ist von Anfang an klar, dass das eine von beiden nachgibt. Wenn nicht, beginnt der indirekte Kampf. Sie zeigen dann einander durch Drohgebärden, was für »harte Kerle« und wie stark sie sind. Vielleicht wandern sie auch ein bisschen auf und ab (um den anderen prüfend in Augenschein zu nehmen und seine Stärke zu taxieren), bis schließlich einer von ihnen nachgibt. Zum offenen Kampf eskaliert das Ganze in der Regel nur, wenn die agonistischen Verhaltensweisen nicht ausreichen, um einen der beiden Kontrahenten zum Rückzug zu bewegen. Diese indirekte Konfrontation, wie ritualisiert auch immer, muss nicht zwischen allen Männchen der Gruppe stattfinden; die anderen Gruppenmitglieder, die einige dieser Interaktionen beobachten, lernen schnell, dass A aus jedem Streit zwischen A und B als der Überlegene hervorgeht, weil B einen Rückzieher macht. Wenn der »Kampf« dagegen zwischen B und C stattfindet, ist B immer der Überlegene, weil C regelmäßig nachgibt. Daraus ziehen die Primaten mittels logischer Folgerung ihre Schlüsse (sogar ein Affe beherrscht diese Denkoperation, auch wenn man es kaum glauben mag), nämlich: Wenn A stärker ist als B und wenn B stärker ist als C, dann ist A stärker als C. So sicher wie die Nacht auf den Tag folgt, breiten sich diese Gedankengänge in der Gruppe aus. Diese Denkweise, die auf der Logik der »Wenn-dann«-Regel basiert, ist ein Beispiel für das Systematisieren (das in den nächsten beiden Kapiteln ausführlicher dargelegt wird). Wenn sich dasselbe Verhalten bei Menschen und Affen beobachten lässt, ist es offensichtlich in der Evolutionsgeschichte begründet. Mehr dazu in Kapitel 9. Kehren wir vorerst zu den sozialen Dominanzhierarchien beim Menschen zurück.

Schon im Kindergarten stellen mehr Jungen als Mädchen an der Spüre solcher Doininanzhierarchien. Die hingen verhalten sich rücksichtsloser und geben seltener nach. Außerdem sind einmal begründete Dominanzhierarchien bei den Jungen stabiler. Sie verbringen mehr Zeit damit, die hierarchische Ordnung, auf die sie anscheinend mehr Wert legen als die Mädchen, zu überwachen und aufrechtzuerhalten. Man kann das leicht nachprüfen. Fragen Sie eine Gruppe von kleinen Kindern, ob Kind A oder Kind B über das Geschehen bestimmt (wer das begehrte Spielzeug bekommt; wer darüber bestimmt, was gespielt wird oder wo man sitzt; wer die Mannschaft auswählt usw.). Sie werden feststellen, dass die Jungen sich in dieser Frage viel einiger sind als die Mädchen. Das deutet darauf hin, dass den Jungen die soziale Stellung sehr wichtig ist. Bereits in der Vorschule sind kleine Jungen sehr darauf bedacht, nicht als Schwächlinge angesehen zu werden, um keinen Statusverlust zu erleiden. Ihre eigenen Gefühle und ihr eigenes Image sind ihnen wichtiger als die innere Befindlichkeit der anderen, auch wenn das bedeutet, dass man jemanden kränkt. Wir sehen hier also eine Art Handel oder Austausch zwischen dem empathischen und dem systematischen Ansatz. Ein Zuviel an Empathie würde bedeuten, dass man von den anderen untergebuttert wird und im sozialen System absteigt. Wer sich dagegen auf seinem Platz behauptet oder im System aufsteigt, gewinnt an Ansehen, häufig auf Kosten eines anderen. Jungen scheinen angesichts der offenkundigen persönlichen Vorteile eher bereit zu sein, diesen Preis zu zahlen und sich selbst an die erste Stelle zu setzen. Auch kleine Mädchen legen eine Rangordnung fest, aber sie orientieren sich dabei an anderen Qualitäten als an simpler Körperkraft oder einem raubeinigem Auftreten. Das Ganze ist natürlich sehr relevant für die Fähigkeit zur Empathie, denn wer auf seinem eigenen Standpunkt beharrt und andere unterdrückt, kümmert sich in allererster Linie um sich selbst und nicht um andere Personen. Auch hier scheinen Jungen wiederum weniger einfühlsam zu sein als Mädchen. 20

Sommerlager In einer bemerkenswerten Untersuchung, die der Anthropologe Ritch Savin-Williams über ein Ferienlager für Jugendliche durchführte, tritt dieser geschlechtsspezifische Unterschied wie unter einem Vergrößerungsglas zu Tage. Bei der Lektüre der nächsten Absätze werden vielleicht Erinnerungen an die eigene Kindheit wach, die manche von uns lieber vergessen möchten. Mich erinnert die Schilderung an die Zeit, in der ich als psychologischer Betreuer in einem Ferienlager am Lake Wabikon in North Bay, Ontario gearbeitet habe.21 Kurz nachdem die Jugendlichen im Ferienlager eingetroffen waren, wurden sie nach Geschlechtern getrennt und zusammen mit gleichaltrigen »Fremden« auf die Ferienhütten verteilt. Wie sich unschwer vorstellen lässt, bildeten sich in diesen Hütten schnell bestimmte Dominanzhierarchien heraus. Einige der dazu eingesetzten Taktiken waren bei Jungen und Mädchen gleich. Zu diesen Methoden gehörte zum Beispiel, dass man sich über Mitbewohnerinnen lustig machte, sie hänselte oder hinter ihrem Rücken über sie klatschte. Dieses hässliche Verhalten brachte einige gewichtige Vorteile: Wer sich einen höheren Platz in der Dominanzhierarchie eroberte, erhielt letztendlich auch mehr Kontrolle über die Gruppe. Die deprimierende, aber realistische Schlussfolgerung ist also, dass man durch ein gehässiges Benehmen (oder geringere Empathie) weiter kommt und größere Kontrolle oder Macht gewinnt. Die Jugendlichen, die sich als natürliche Gruppenführer entpuppten, hatten mehr Einfluss darauf, welchen Aktivitäten die Gruppe nachging, durften als Erste ihren Schlafplatz wählen und sogar beim Essen wurden sie als Erste gefragt, ob sie Nachschlag wollten. Doch was die Strategien anbelangt, die für einen Aufstieg in der sozialen Hierarchie eingesetzt wurden, endeten hier auch schon die Gemeinsamkeiten zwischen Mädchen und Jungen. Weit auffälliger waren die Unterschiede in den Vorgehensweisen. Werfen wir zunächst einen heimlichen Blick in die Hütte der Jungen, um etwas darüber zu erfahren, was in Männerköpfen vor sich geht.

Einige Jungen erhoben bereits wenige Stunden nach ihrer Ankunft Anspruch auf die Führungsrolle in der Gruppe. Nach dem Motto: bloß keine Zeit vergeuden. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Das lief etwa folgendermaßen ab: Sie nahmen einen beliebigen Jungen in der Hütte aufs Korn. Über diesen Jungen machten sie sich nicht nur lustig, sondern griffen ihn auch körperlich an, und zwar so, dass alle Anwesenden es gut mitbekamen. Man stelle sich das einmal vor: Da ist ein Junge, der gerade seinen Rucksack auspackt und bereits einen ersten Stich Heimweh verspürt. Er liest die liebevolle kleine Karte, die seine Mutter ihm heimlich in den Wäschebeutel gesteckt hat. Aus heiterem Himmel stürzt sich plötzlich ein wildfremder Junge auf ihn, versetzt ihm einen Stoß und wirft ihm eine Beleidigung an den Kopf. Aus Sicht des Rabauken, der sich auf diese Weise Geltung verschafft, wird durch dieses Verhalten eine klare Botschaft an alle anderen Anwesenden in der Hütte ausgesendet, nämlich: Ich bin hier der Boss. Bei uns Beobachtern löst das Ganze dagegen eher die Vermutung aus, dass dieser Rüpel womöglich einen ziemlich geringen Empathie-Quotienten hat. In der Hütte, die ich im Ferienlager beaufsichtigte, hieß der Junge, der herausgepickt wurde, Stuart. Dieser arme kleine Kerl wurde trotz seiner liebenswerten Art zum Sündenbock, weil er ein bisschen übergewichtig war. Sobald ich der Gruppe den Rücken kehrte, heckte der selbst ernannte Anführer der Hütte irgendeine Gemeinheit aus, um Stuart zu piesacken. Wahrscheinlich kennen Sie diese Art von grobem Schabernack aus Ihrer eigenen Kindheit oder Schulzeit. So wurde zum Beispiel die Hand des schlafenden Stuart in eine Schüssel mit Wasser gesteckt, weil das als todsichere Methode galt, jemanden dazu zu bringen, ins Bett zu machen. Für Stuart muss das alles sehr peinlich und demütigend gewesen sein. Ob die anderen Jungen wohl ein einziges Mal an seine Gefühle gedacht haben, oder hatten sie ausschließlich ihren eigenen Spaß im Kopf? Bei anderer Gelegenheit zogen sie Stuart eine Kapuze über den Kopf, sodass er nichts mehr sehen konnte. Dann hoben sie ihn hoch und sagten ihm, sie würden ihn auf einen Stuhl stellen. Schließlich legten sie ihm einen Strick um den Hals und erklärten,

dass das Seil an der Decke befestigt sei und dass er sich erhängen würde, wenn er einen falschen Schritt täte. Der arme Junge hatte keine Ahnung, dass seine Peiniger ihn gar nicht auf einen Stuhl gestellt hatten. Sie hatten ihn lediglich hochgehoben und ihn dann wieder auf dem Boden abgesetzt. Und auch das Seil war nicht an der Decke befestigt, sondern nur locker um seinen Hals drapiert. Doch da Stuart all das nicht wusste, reagierte er voll Panik auf die Aussicht, sich selbst zu erhängen, wenn er nicht tat, was man ihm sagte. Die Jungen, die ihm diesen gemeinen Streich gespielt hatten, machten sich dann einfach aus dem Staub. Stuart blieb gelähmt vor Angst zurück und rührte sich nicht von der Stelle, bis ich ihn einige Stunden später so in der Hütte vorfand und aus seiner Not befreite. Die nachträgliche Erkenntnis, dass er die ganze Zeit vollkommen sicher auf dem Boden gestanden hatte und sein Leben in keiner Weise bedroht gewesen war, änderte nichts an dem Trauma dieser Erfahrung. Fahren wir mit unserem Experiment fort und spähen nun in die Hütten der Mädchen, um zu erforschen, was in ihren Köpfen vor sich geht. Die Mädchen warteten ungefähr eine Woche, bevor sie Herrschaftsansprüche geltend machten. Sie legten genauso viel Wert darauf, sich zunächst einmal von ihrer netten Seite zu zeigen und Freundschaften zu knüpfen. Auch als einige Mädchen tatsächlich erste Ansprüche auf eine Führungsrolle anmeldeten, taten sie dies mithilfe subtiler Strategien - indem sie beispielsweise andere Mädchen mit verächtlichen Bemerkungen brüskierten oder Gespräche und Blickkontakte verweigerten. Körperliche Gewalt wendeten die Mädchen hingegen nur in Ausnahmefällen an. Ein dominantes Mädchen ging so vor, dass es die Vorschläge oder Äußerungen einer Mitbewohnerin mit niedrigerem Status einfach überging. Oder es behandelte das Mädchen mit dem niedrigeren Status wie Luft und sah einfach durch das andere hindurch. Blickkontakt oder soziale Ausgrenzung sind wirkungsvolle Methoden zur Ausübung sozialer Kontrolle. Indem man einer Person wenig oder keine Aufmerksamkeit schenkt, kann man ihr das Gefühl geben, unsichtbar oder völlig unwichtig zu sein. Wir alle kennen diese Taktiken.

Die verbalen Mittel, die die Mädchen einsetzten, um ihre Dominanz zu behaupten, waren in der Regel indirekter Art. So schlug einmal ein Mädchen einer Mitbewohnerin vor, dass sie ihre Serviette nehmen und sich einen Essensrest aus dem Gesicht wischen solle. Durch diese scheinbar fürsorgliche Haltung lenkte es in Wahrheit die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Ungeschicklichkeit des anderen Mädchens. Ein Junge in der gleichen Situation hätte den anderen einfach mit Ferkel tituliert und die anderen Jungen aufgefordert, sich an einer allgemeinen Verhöhnung des Opfers zu beteiligen. Die Wirkung ist am Ende die gleiche, aber die Methode der Mädchen erweist sich als etwas ausgefeilter. Solche subtilen Manöver vollziehen sich so schnell, dass man Schwierigkeiten hat, genau zu sagen, weshalb das eine Mädchen schließlich überlegen wirkt, während das andere dumm dasteht. Mädchen greifen häufiger zu Mitteln der so genannten »sozialen Ausgrenzung«, indem sie solche Drohungen ausstoßen wie: »Ich bin nicht mehr deine Freundin« oder üble Gerüchte über andere Mädchen verbreiten. Sie benutzen subtilere Überredungskünste oder auch gezielte Fehlinformationen, um ihre Ziele zu erreichen. Sie arbeiten mit einer »Theory of Mind«, auch wenn sie sich nicht wirklich in den anderen hineinversetzen. Jungen äußern ihre Aggressionen dagegen häufiger auf direkte, offene Weise, indem sie herumbrüllen, Schlägereien vom Zaun brechen oder den anderen Schimpfwörter an den Kopf werfen. Man könnte salopp formulieren, dass die Jungen eher mit der Holzhammermethode arbeiten. Ein Junge, der seine Überlegenheit demonstrieren will, geht schnurstracks auf dieses Ziel los. Er weiß, dass sich diese Taktik alles in allem zu seinem Vorteil auswirken wird (er steigt in der Gruppe auf, während der andere Junge absteigt), auch wenn er sich dadurch einen direkten Feind schafft. Wenn hingegen ein Mädchen beschließt, ein anderes »herabzusetzen«, überlegt es, wie es das auf nahezu unsichtbare Weise bewerkstelligen kann, um nicht als »fiese Zicke« dazustehen. Wenn es zur Rede gestellt wird, kann es immer behaupten, dass der Kommentar nicht beleidigend gemeint war oder dass es die andere nicht absichtlich wie Luft behandelt habe. So kann es seinen Ruf als »nettes Mädel« bewahren, auch wenn es gerade ein kleines bisschen gehässig war.

Nach den Ergebnissen der Studie, die sich auf den Freundschafts- und Beziehungsfragebogen stützte, legen Mädchen großen Wert auf Nähe und Vertrautheit. Durch die hier beschriebene Strategie schlägt das Mädchen zwei Fliegen mit einer Klappe: Es gewinnt an Status, ohne die Vertrautheit in den übrigen Beziehungen zu gefährden. Wer möchte schon eine beste Freundin haben, die in dem Ruf steht, ein fieses Miststück zu sein? Die Gemeinheit muss unterschwellig, flüchtig und schwer zu fassen sein. Bei einem Jungen ist klar, dass ihm die Faust nicht versehentlich ausgerutscht ist. Der Signalwert der körperlichen Gewalt ist unzweideutig, und die Botschaft lautet, dass es den Angreifer nicht interessiert, ob das Opfer gekränkt oder beleidigt reagiert. Dem Angreifer ist es gleichgültig, ob dies auf Kosten der Vertrautheit in anderen Beziehungen geht. Das übergreifende Ziel ist Kontrolle, Macht und der Zugang zu den damit verbundenen Ressourcen. Auch hier stoßen wir also wieder auf eine verringerte Empathie. (In Kapitel 9 erörtern wir die möglichen Ursachen, aus denen Männer und Frauen solche unterschiedlichen Prioritäten bei ihren sozialen Beziehungen setzen.) In der Sommerlager-Studie wurde festgestellt, dass sich bei derart unverblümten Demütigungen sofort weitere Jungen (mit niedrigem Status) auf das Opfer stürzten, um es zusätzlich zu demütigen. Auf diese Weise strichen die anderen Jungen heraus, dass das Opfer in der sozialen Rangordnung noch niedriger stand als sie, und festigten ihren eigenen überlegenen Status. Dieses Verhalten macht noch einmal deuüich, dass Dominanzhierarchien etwas Dynamisches sind und dass Jungen eher nach Gelegenheiten Ausschau halten, wie sie sozial aufsteigen können. So viel zur Empathie gegenüber dem Opfer. Das Ganze folgt eher dem Motto: »Nachtreten, wenn der andere am Boden liegt.« Das galt in dieser Studie für alle Mitglieder der sozialen Gruppe, unabhängig von ihrer Stellung in der Rangordnung. Auch die Mädchen achteten auf Gelegenheiten für einen sozialen Aufstieg, setzten aber auch in dieser Hinsicht andere Taktiken ein. Sie erkannten die Führungsrolle eines anderen Mädchens offener an und versuchten, sich durch Komplimente, Charme, Lob und Respekt bei ihr einzuschmeicheln. Ein weniger dominantes

Maedchen fragte er zum Beispiel dominanteres um rat oder bot der anderen an, Ihr das Haar zu bürsten und sie zu frisieren (bei anderen Primaten, die Ihre Position In der sozialen Gruppe auf diese Weise festigen, bezeichnen wir das als »Lausen«,) ein weiterer Unterschied bestand darin, dass die Dominanz Hierarchien der Jungen tendenziell den ganzen Sommer über bestehen blieben, während sie sich bei den Mädchengruppen wesentlich schneller wieder auflösten. Das führte dazu, das« die Mädchen schon bald mehr Zeit in Zweier- oder Dreiergruppen ver brachten, wo sie entspannt und ohne rivalität miteinander plau derten oder Geheimnisse »mit ihrer besten Freundin« austauschten. Die Jungen beschäftigten sich dagegen weiterhin größtenteils mit den vom Anführer bestimmten Aktivitäten und trugen Wettkämpfe mit anderen Gruppen aus. Dieses Sommerlager-Experiment lässt viele offenkundige Parallelen zu zahlreichen sozialen Situationen erkennen: von der Schule über das Büro und verschiedenste Gruppen und Gremien bis hin zum Spielplatz. In all diesen sozialen Settings setzen sich bestimmte Anführer durch, und diese Anführer brauchen häufig Prügelknaben, um sich an der Spitze zu behaupten. Es ist eine aufschlussreiche, wenn auch mitunter deprimierende Erkenntnis, dass der soziale Aufstieg bei Frauen zu einem Großteil davon abhängt, ob sie die Gefühle anderer zu deuten verstehen, während er bei Männern eher davon abhängt, dass sie ihr Einfühlungsvermögen ausschalten. Eine weitere nahe liegende Schlussfolgerung dieses Experimentes ist, dass Jungen weit weniger Scheu haben, anderen ein Gefühl von Unterlegenheit zu vermitteln. Sie wälzen sich nicht schlaflos im Bett, weil sie über die verletzten Gefühle des armen Kerls am Fuß der sozialen Leiter nachgrübeln. Ganz im Gegenteil. Sie genießen ihre höhere Stellung. Sie sind auch eher bereit, eine andere Person zu beleidigen oder körperlich zu verletzen, wenn sie dadurch ihren Status verbessern können.

Neu in der Gruppe Interessante Erkenntnisse über das Einfühlungsvermögen lassen sich auch gewinnen, wenn man beobachtet, wie Menschen sich (als Neulinge) in einer Gruppe von Fremden verhalten und wie die anderen (die »Gastgeber«) auf »die Neuen« reagieren, die sich der Gruppe anzuschließen suchen. Man hat das bei Kindern untersucht, indem man ein Mädchen oder einen Jungen mit einer bereits spielenden Gruppe von Kindern zusammenbrachte. Beobachten wir zunächst die »Neulinge«. Wenn es sich um ein Mädchen handelt, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass es das Geschehen erst einmal eine Weile still beobachtet, um die Situation einzuschätzen, und dann versucht, sich dem vorgegebenen Aktivitätsrahmen anzupassen, indem es das Geschehen kommentiert oder Anregungen gibt. Das führt normalerweise dazu, dass die »Neue« bereitwillig in die Gruppe aufgenommen wird. Mit diesem Verhalten zeigt das Mädchen, dass es Rücksicht auf die Wünsche der anderen nimmt, die vielleicht nicht möchten, dass man einfach in ihr Spiel hineinplatzt und stört. Weibliche Empathie. Was geschieht, wenn der Neuling ein Junge ist? Bei ihm ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass er versucht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, indem er steuernd in das Spielgeschehen eingreift und es in eine andere Richtung lenkt. Dieses Verhalten ist weniger erfolgreich als das der Mädchen. Kinder, die diesen eher männlichen Stil anwenden, werden von der Gruppe weniger herzlich aufgenommen. Verständlicherweise. Ich meine, was würden Sie sagen, wenn plötzlich ein völlig Unbekannter in Ihre Aktivitäten platzt und das Kommando übernimmt? Jungen neigen dazu, sich so zu benehmen, als sei es ihnen egal, ob andere sie nett finden, weil sie lieber »harte« als »nette« Kerle sein möchten. Das passt zur männlichen Agenda für den Aufstieg in der sozialen Hierarchie. Dieses Verhalten von Neulingen gegenüber der Gruppe spiegelt wider, dass Männer eher auf Systeme und weniger auf Empathie ausgerichtet sind. Lassen Sie uns jetzt die Perspektive wechseln und einen Blick auf die »gastgebenden« Kinder in der Gruppe werfen. Wie reagieren sie auf Außenstehende, die Anschluss suchen? Wie sich heraus-

stellt, sind Mädchen bereits im Alter von sechs Jahren die besseren »Gastgeber«. Sie achten aufmerksamer auf Neulinge. Jungen gehen häufig einfach über die Kontaktversuche des Newcomers hinweg. Es ist wahrscheinlicher, dass sie ihre Aktivität ungerührt fortsetzen und ganz von ihren eigenen Interessen oder ihrer eigenen Wichtigkeit in Anspruch genommen sind. Was ergibt sich, wenn man diese beiden Ergebnisse zusammenfügt? Die logische Folge der Verhaltensstrategien der Newcomer und der Gastgeber ist, dass es für Mädchen leichter ist, in eine reine Mädchengruppe aufgenommen zu werden. Mädchen in der Gastgeberrolle zeigen mehr Sensibilität für die Situation der »Neuen«, und Mädchen in der Rolle der Neuen zeigen mehr Sensibilität für die bestehende Gruppe. Jungen interessieren sich dagegen scheinbar gar nicht für den Neuen oder für seine Gefühle. Kein Wunder, meint Eleanor Maccoby, dass Mädchen und Jungen sich sofort in gleichgeschlechtliche Gruppen aufteilen: Ihr sozialer Stil ist einfach zu unterschiedlich.22

Vertrautheit und Gruppengröße Wie oben ausgeführt, ergibt die Auswertung des FreundschaftsFragebogens (FQ), dass Männer und Frauen unterschiedliche Prioritäten in ihren Beziehungen setzen. Viele Frauen wünschen sich offenbar in erster Linie eine enge persönliche Bindung. Schon kleine Mädchen spielen und reden am liebsten zu zweit. Sie legen bei ihren Freundschaften mehr Wert auf Gegenseitigkeit und möchten ihre Vertrautheit zum Ausdruck bringen. So machen Mädchen einander zum Beispiel eher Komplimente, streicheln einander übers Haar oder frisieren sich gegenseitig, setzen sich eng zusammen oder tauschen Berührungen aus. Mädchen nehmen sich auch häufiger in den Arm und stellen öfter direkten Blickkontakt her. Darüber hinaus machen sich Mädchen mehr Sorgen über den aktuellen Stand ihrer Freundschaften und über die Konsequenzen, die ein Ende der Freundschaft hätte. Sie drohen auch häufiger mit einem endgültigen Abbruch der Freundschaft: »Wenn du das nicht tust bist du nicht mehr meine beste Freundin.«

In der späteren Kindheit verbringen Mädchen zudem viel Zeit damit, zu klären, wer wessen beste Freundin ist. So können sie mitunter sehr empfindlich reagieren, wenn sie von Beziehungen auf dem Spielplatz ausgeschlossen werden. Mädchen finden es ebenso wie erwachsene Frauen besonders wichtig, miteinander zu kommunizieren und ihre Freundschaften zu pflegen, was aber nicht notwendigerweise eine gemeinsame Aktivität erfordert. Ferner investieren Mädchen relativ viel Zeit, um das gegenseitige Vertrauen in ihren Beziehungen zu vertiefen, indem sie einander Geheimnisse offenbaren oder ihre Ängste und Schwächen anvertrauen. Im Vergleich dazu offenbaren Jungen einander ihre Schwächen selten oder gar nicht. Obwohl diese verstärkte Selbstoffenbarung zwischen Mädchen einerseits zu einer Vertiefung der Bindung führt, macht es sie andererseits auch anfälliger für Gerüchte. Mädchen nehmen dieses Risiko offenbar bereitwilliger in Kauf, weil sie für die Preisgabe von Schwächen mit einer engeren Bindung belohnt werden. Zusammenfassend kann man festhalten, dass Freundschaften oder deren Abbruch bei Mädchen gefühlsbetonter sind als bei Jungen.23 Demgegenüber haben die meisten Jungen in der späteren Kindheit Beziehungen, die auf einer gemeinsam ausgeübten Aktivität gründen. Wenn sie sich für Fußball interessieren, dann suchen sie nach Freunden, mit denen sie kicken können. Interessieren sie sich mehr für Skateboards, suchen sie eine entsprechende Freundesgruppe. Das unterscheidet sich nicht allzu sehr vom Verhalten erwachsener Männer, die manche Freunde zum Pokern und andere zum Golfspielen haben. Dieser Unterschied im Spielstil bei Mädchen und Jungen deutet darauf hin, dass Mädchen stärker auf emotionale Beziehungselemente ausgerichtet sind, entweder um Nähe herzustellen oder um andere daran zu hindern, sich zwischen sie und ihre »beste Freundin« zu drängen. Im Gegensatz dazu sind Jungen eher auf die Aktivität als solche und die damit verbundenen Konkurrenzaspekte ausgerichtet. Der Nachteil besteht darin, dass in Freundschaften zwischen Jungen im Allgemeinen keine große Vertrautheit entsteht. Sie geben weniger ihre Schwächen und Gefühle preis, stellen seltener

Blickkontakt her und bleiben körperlich stärker auf Distanz. Wenn sich Jungen im Alter von etwa acht Jahren überhaupt berühren, so hauptsächlich um freundschaftliche Knüffe oder eine so genannte »High Five« auszutauschen (Heben der rechten Hand, sodass der andere mit seiner flachen Rechten dagegenschlagen kann, als Ritual zur Begrüßung oder nach einem Erfolgserlebnis). Während Nähe und Vertrautheit bei den Mädchen ganz oben auf der Liste der Prioritäten stehen, sind es bei den Jungen eher koordinierte Gruppenaktivitäten, die auf gemeinsamen Interessen basieren. So finden die Sportskanonen zueinander und schließen sich zu einer Gruppe zusammen; das Gleiche gilt für die Fans der Rockmusik oder die Computerfreaks. Die oberste Priorität der lungen scheint der Anschluß an eine Gruppe zu sein, die einer gemeinsamen Aktivität nachgeht. Sobald man dann Mitglied einer Gruppe geworden ist, besteht der nächste wichtige Schritt darin, den individuellen Rang in der Dominanzhierarchie zu begründen und zu festigen. Eine »coole« Methode, seinen Rang zu verbessern, ohne sich als Fiesling zu präsentieren, besteht darin, in einer bestimmten Aktivität zu glänzen: Wer sich mit einem System gut auskennt, viel darüber weiß und es gut beherrscht, kann seinen Status verbessern. Dieses Können verschafft Respekt bei den anderen, die zu einem aufschauen, und es festigt den Platz in der Gruppe, weil man dadurch zu einem wertvollen, vielleicht sogar unentbehrlichen Mitglied wird. Falls es zu Konkurrenzkämpfen kommt, das heißt, falls es nur eine begrenzte Anzahl von festen Plätzen im Team gibt, gilt es, sich einen Stammplatz in der Kerntruppe zu sichern. Die weniger Talentierten müssen sich mit der Position des Außenseiters und den damit einhergehenden Nachteilen begnügen (weniger Zugang zu Ressourcen oder mangelhafte Unterstützung). Diese eher männlichen Strategien des Statuserwerbs, ob nun die coole oder die aggressive Art, haben ein grundlegendes Merkmal gemeinsam: Sie sind beide wettbewerbsorientiert. Die unterschiedlichen sozialen Prioritäten bei den Geschlechtern haben Auswirkungen auf die Gruppengröße und führen zu unterschiedlichen Graden an Nähe und Empathie. Männer bilden eher größere Gruppen, je nach Art der Aktivität. Frauen neigen zwar zum Aufbau von »Netzwerken«, widmen aber dem vertrau-

liehen Austausch mit einer begrenzten Zahl von Freundinnen größere Aufmerksamkeit. Männer verfolgen im Hinblick auf die Gruppenzugehörigkeit eine eher selbstbezogene Agenda, die auf persönliche Vorteile und den Schutz der eigenen Stellung innerhalb dieses sozialen Systems (individuelle Status- und Rangfragen) ausgerichtet ist. Frauen sind dagegen in erster Linie auf die innere Befindlichkeit der anderen Person ausgerichtet (auf die Begründung einer beiderseits befriedigenden und innigen Freundschaft). Solche allgemeinen Aussagen können natürlich leicht missverstanden werden. Selbstverständlich haben auch Männer gute Freunde, zu denen sie eine innige und vertrauensvolle Beziehung aufbauen. Wir reden hier nur über graduelle, nicht über absolute Unterschiede. Und wie bei allen psychologischen Studien geht es nur um Durchschnittswerte bei Gruppen und nicht um Individuen.24

Symbolspiel Wir haben bereits aus unterschiedlichen Blickwinkeln die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Empathie beleuchtet, aber kann man diese Unterschiede in der Spielweise auch festmachen, wenn die Kinder älter werden? Jungen neigen wesentlich stärker zu Gruppenspielen (wie Fußball und Baseball) als Mädchen. Das zeigt zum einen, weshalb die Gruppenzugehörigkeit so wichtig für Jungen ist, und spiegelt zum anderen ihr Interesse an Aktivitäten wider, die bestimmten Regeln folgen. (Man denke nur an die vielen Regeln, die einem Spiel wie Baseball zu Grunde liegen, sowohl Regeln der anzuwendenden Technik als auch Regeln für den Spielverlauf.) Erstaunliche 99 Prozent der Mädchen spielen im Alter von sechs Jahren mit Puppen, aber nur 17 Prozent der Jungen. Das Spiel mit Puppen ist normalerweise das Gegenteil von regelorientierten, strukturierten Spielen, denn die Themen sind nicht festgelegt und umfassen meistens die Inszenierung von fürsorglichen, emotionalen Beziehungen. Wenn kleine Kinder beim Spiel »so tun als ob«, eröffnet dies ganz spezielle Einblicke in die Empathie. Beim sozialen Symbol-

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spiel, das heißt, wenn man in verschiedene Rollen schlüpft, muss man sich vorstellen, was im Innern einer anderen Person vorgeht. Das ist ein großer Entwicklungssprung. Wenn ein Kind beobachtet, wie Mama tröstend mit einer Puppe spricht, muss das Kind im Sinn behalten, dass dies alles in nur Mamas Kopf geschieht und dass Mama sich vorstellt, was die Puppe empfindet. In Wirklichkeit müssen Puppen nicht getröstet werden. Das ist eine doppelte Ebene der Empathie: Das Kind versetzt sich nicht nur in die Vorstellungswelt der Puppe, der bestimmte Gefühle zugeschrieben werden, sondern auch noch in die Vorstellungswelt der Mutter. Zu dieser Art von Spiel neigen Mädchen eher als Jungen. Die Inhalte des kindlichen Symbolspiels sind ebenfalls aufschlussreich. Beim Als-ob-Spiel der kleinen Mädchen geht es häufiger um kooperative Rollenspiele. Sie sagen Dinge wie: »Ich bin die Mutter, du bist das Kind«, und sie zeigen mehr Gegenseitigkeit (»Jetzt bist du dran«). Sie scheinen innerhalb des Symbolspiels Raum für die andere Person schaffen zu wollen und stellen das eigene Verhalten sensibel auf das der anderen Person ein. Auf diese Weise achten sie aufmerksam darauf, was in anderen vorgeht - ob sie sich akzeptiert oder ausgegrenzt, kontrolliert oder unabhängig, unterdrückt oder gleichberechtigt fühlen. Viele Mädchen wollen auch dafür sorgen, dass die andere Person den Zweck der imaginären Unternehmung versteht. Mit anderen Worten: Empathie ist immer mit im Spiel. Im Gegensatz dazu spielen kleine Jungen häufiger für sich allein im Als-ob-Modus. Sogar beim gemeinsamen Spiel mit anderen steht häufig ein einsamer Superheld im Mittelpunkt (z. B. Batman, Robin Hood, Action Man oder Harry Potter), der in vielerlei Kämpfe verwickelt ist, Kämpfe auf Leben und Tod. Zu diesem Spiel gehören normalerweise Spielzeug-Gewehre, Plastikschwerter oder imaginäre Zauberwaffen mit erheblicher Zerstörungskraft. Und falls keine Spielzeugwaffen zur Verfügung stehen, benutzen Jungen alle erdenklichen Gegenstände, die man ersatzweise dafür verwenden kann. Ziel des Symbolspiels ist es, die andere Person, also den Feind zu vernichten. Dessen Gefühle sind dabei eher zweitrangig. Es gibt einen Sieger und einen oder mehrere Verlierer. Das zeugt sicherlich von der Fähigkeit zum Symbolspiel, doch der Schwer-

punkt liegt auf der imaginierten Stärke und Macht der eigenen Person und nicht auf der Einfühlung in andere. Diese Konzentration auf Macht und Stärke spricht wiederum dafür, dass Männer weniger an der inneren Befindlichkeit anderer und eher an der sozialen Stellung interessiert sind, an der Frage, wer gewinnt und wer verliert. Ähnliches kann man beobachten, wenn Kinder einander Fantasiegeschichten erzählen. Die Geschichten der Jungen handeln vornehmlich von einsamen Helden, die in Kämpfe verwickelt sind. Im Gegensatz dazu drehen sich die Geschichten der Mädchen eher um soziale und familiäre Beziehungen.25 Kommunikation Gespräche sind eine ergiebige Fundgrube, wenn man nach Nachweisen für empathische Fähigkeiten sucht. Der folgende Abschnitt ist relativ lang, weil es so viele Belege für geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Kommunikation in den unterschiedlichsten Situationen und Altersstufen gibt. Die Sprechweise von Mädchen ist als kooperativer beschrieben worden, als mehr auf Gegenseitigkeit und Einvernehmlichkeit ausgerichtet. Konkret kommt dies auch darin zum Ausdruck, dass Mädchen die Interaktion mit einem Gesprächspartner länger aufrechterhalten können. Das hat nichts mit der Gesamtlänge des Gesprächs zu tun, weil die Unterhaltung bei jüngeren Mädchen ziemlich bruchstückhaft sein kann. Es hat eher damit zu tun, wie lange sich ein Austausch fortsetzt, bei dem die Gesprächsteilnehmer abwechselnd reden und bei einem gemeinsamen Thema bleiben. Mädchen setzen im Allgemeinen eine größere Anzahl von bestimmten sprachlichen Mitteln ein als Jungen. So verwenden sie häufiger »erweiternde Aussagen« (zum Beispiel »Ach, du meinst x«) und »relevante Erwiderungen« (zum Beispiel »Oh, wie interessant ...«), die auf dem aufbauen, was die andere Person gerade gesagt hat. Häufiger als Jungen dehnen Mädchen die Unterhaltung aus, indem sie Übereinstimmen mit den Anregungen ihrer Gesprächspartnerin zum Ausdruck bringen. Wenn sie anderer Meinung sind,

schwächen sie diesen Schlag im Allgemeinen ab, indem sie ihre abweichende Meinung eher in Form einer Frage und nicht in Form einer Behauptung formulieren. Das wirkt weniger dominierend, weniger streitsüchtig und ist weniger demütigend für die andere Person, nach dem Motto: »Du könntest Recht haben, aber wäre es nicht auch möglich, dass ...?« oder: »Oh, du hast bestimmt Recht, aber ich hatte einen etwas anderen Eindruck...«. Mit solchen Formulierungen schafft der Sprechende Raum für die Meinung der anderen Person und macht es ihr gleichzeitig leichter, das Gesicht zu wahren, weil er Verständnis und Respekt für die abweichende Meinung des anderen zum Ausdruck bringt.26 Beim männlichen Stil ist von Rücksicht auf die Meinung des anderen weniger zu spüren. Männer sagen eher etwas wie: »Tut mir Leid, aber da liegst du völlig falsch.« Mitunter sind sie auch noch direkter und erklären rundheraus: »Das ist falsch.« Wo Frauen tatsächlich eher eine andere Meinung hören, hören Männer abweichende Äußerungen zu einer Tatsache, zu der es keine zwei Meinungen, sondern nur eine Wahrheit, nämlich die des Sprechers gibt. Jungen schmettern Anregungen des Gesprächspartners häufig ab, indem sie spontan entgegnen: »Quatsch!« oder: »Nee, stimmt nicht« oder noch etwas gröber: »Das ist hirnrissig.« Beim eher männlichen Stil geht man sozusagen davon aus, dass es ein objektives Bild der Wirklichkeit gibt, das zufällig mit der eigenen Sicht der Fakten übereinstimmt. Wenn die eigenen Überzeugungen wahr sind, dann ist dies die einzig gültige Version der Wahrheit. Beim eher weiblichen Stil wird dagegen von Anfang an unterstellt, dass Menschen subjektive Urteile fällen und dass es deshalb Raum für vielfältige Interpretationen gibt, die alle gültig sein können. Frauen sind eher bereit, offen darüber zu reden, wenn sie sich in einem Gespräch verletzt oder beleidigt fühlen, und erzählen einander auch von Kränkungen durch Dritte. Bei Männern ist es viel wahrscheinlicher, dass sie den Affront einfach kommentarlos registrieren und in der Folge den Kontakt abbrechen, statt über die Kränkung zu reden und die Beziehung wieder in Ordnung zu bringen. Mädchen drücken ihren Ärger weniger direkt aus und schlagen

häufiger Kompromisse vor. Bei Gesprächen sind sie eher bemüht, die Gefühle und Absichten der anderen Person zu klären. Ihre Forderungen klingen sanfter, sie verwenden höflichere Formulierungen und vermeiden unverblümte Formen von Machtanmaßung wie etwa Anbrüllen oder Anschreien. Im Gegensatz dazu neigen Jungen in der späteren Kindheit und frühen Adoleszenz dazu, ihre Gesprächspartner durch direkte Machtbehauptung zu provozieren. Wenn Meinungsverschiedenheiten auftreten, nennen Jungen seltener Gründe für ihre Meinung, sondern beharren einfach ohne Angabe von Gründen auf ihrem Standpunkt.27 Befehle (z. B. direkte Anweisungen wie »Tu das!« oder »Gib mir das!«) und Verbote (z. B. »Hör auf!« oder »Fass das nicht an!«) kommen in der Sprechweise der Jungen häufiger vor als in der Sprechweise der Mädchen. Diese eher »gebieterischen Interaktionen« enden auch schneller im Streit. Wer sich gut in andere einfühlen kann, wird nach Möglichkeit keinen Befehlston anschlagen, weil die andere Person sich dadurch herabgesetzt und geringschätzig behandelt fühlen könnte. Mädchen neigen eher zu einer Sprechweise, bei der sie zwar die eigene Meinung klarstellen, aber gleichzeitig die Gefühle der anderen Person berücksichtigen, indem sie zum Beispiel sagen: »Würde es dir etwas ausmachen, damit aufzuhören? Es stört mich ein bisschen.« Jungen setzen sich auch gern »in Szene«, wie Eleanor Maccoby es formuliert, indem sie ohne Bezug zu dem, was ihr Partner gerade tut, über ihre eigenen Aktivitäten sprechen. Ferner hat man darauf hingewiesen, dass es in Interaktionen von Jungen häufiger zum »monologischen Diskurs« kommt. Damit ist gemeint, dass die Sprecher nicht miteinander verhandeln, sondern ausschließlich ihren eigenen Standpunkt erläutern. Wenn zwei Jungen dies tun, kann der Konflikt leicht eskalieren. Im Gegensatz dazu wird den Mädchen ein »dialogischer Diskurs« zugeschrieben. Kleine Mädchen verfolgen zwar auch energisch ihre eigenen Ziele, verhandeln aber zugleich mit der anderen Person und berücksichtigen deren Wünsche: »Ich weiß, daß du x fühlst, aber hast du mal an y gedacht? Mir ist klar, dass du dir vielleicht z wünschen würdest, aber was wäre, wenn ...« In diesem weiblichen Sprechstil tritt die Empathie deutlich hervor. Die »Tat-

Sachen« x, y und z werden alle mit Ausdrücken innerer Befindlichkeit (fühlen, denken, wünschen) eingeleitet, was sie sofort mehrdeutig macht und dadurch Raum für beide Standpunkte schafft. All diese Unterschiede im Gesprächsstil treten in der mittleren Kindheit und in der Jugend besonders deutiich hervor. Ganz abgesehen von dem oben erwähnten »monologischen Diskurs« kommunizieren Jungen auch auf »egoistischere« Weise als Mädchen. Damit meine ich, dass sie öfter prahlen und den Partner provozieren, ihn hänseln und bedrohen, ihm über den Mund fahren oder seine Vorschläge einfach ignorieren. Sie sträuben sich auch stärker als Mädchen dagegen, das Wort abzugeben. Männer verwenden Sprache häufiger als Mittel, um ihre soziale Dominanz zu sichern und ihren sozialen Status zu demonstrieren, vor allem, wenn andere Männer zugegen sind. Eleanor Maccoby beschreibt das so: Jungen in reinen Jungengruppen neigen eher als Mädchen in reinen Mädchengruppen dazu, sich gegenseitig das Wort abzuschneiden, Befehle zu erteilen, Drohungen auszustoßen oder mit ihrem Können zu prahlen. Sie weigern sich, der Anweisung eines anderen Kindes Folge zu leisten, und tauschen in erster Linie Informationen aus. Sie stören andere Sprecher durch Zwischenrufe ... und versuchen, die Erzählung anderer zu übertrumpfen oder werfen sich mit wachsender Begeisterung Schimpfwörter an den Kopf.28 Den Mädchen wird hingegen eine »gemeinschaftstiftende« Sprechweise nachgesagt, die darauf ausgerichtet ist, dass jedes Gruppenmitglied die Gelegenheit erhält, seine Ansichten und Gefühle zu äußern, was die Meinungsvielfalt fördert.29 So schreibt Maccoby über reine Mädchengruppen: Sie bringen häufiger als Jungen Zustimmung zu den Äußerungen einer anderen Sprecherin zum Ausdruck, legen eine Pause ein, damit ein anderes Mädchen zu Wort kommen kann, oder erkennen ausdrücklich ein gutes Argument ihrer Vorrednerin an, wenn sie selbst das Wort ergreifen ... Unter Mädchen ist eine Unterhaltung eher ein sozialer Bindungsprozess.29 Männer benutzen Sprache häufiger als Mittel, um Wissen, Können und Status zu demonstrieren, kurz, um anzugeben oder Eindruck zu schinden. Das führt dazu, dass Männer den Gesprächspartner

häufiger unterbrechen, um ihre eigene Meinung kundzutun, und weniger Interesse an der Meinung des anderen zeigen. Für Frauen dient Sprache dagegen einem ganz anderen Zweck, nämlich der Herstellung vertrauter gegenseitiger Beziehungen, insbesondere zu anderen Frauen. Frauen nutzen Sprache eher, um über verschiedene Sichtweisen zu verhandeln, um eine Beziehung auszubauen und um anderen das Gefühl zu geben, verstanden zu werden. Sie vermitteln der Gesprächspartnerin mehr Bestätigung und bringen zum Ausdruck, wie viel ihnen an der Freundschaft liegt, während Männer davor zurückschrecken, einander mitzuteilen, wie viel ihnen der andere bedeutet.30 Wenn Frauen sich unterhalten, spielen sie auch häufig auf das äußere Erscheinungsbild an (auf Frisur, Schmuck, Kleidung), um sich lobend darüber zu äußern. Erstaunlich ist, wie schnell das geschieht, manchmal schon wenige Sekunden nach der ersten Begegnung. Angenommen, ein Ehepaar besucht ein anderes Paar, dann eröffnen die Frauen die Unterhaltung vielleicht mit den Worten: Oh, dein Kleid ist einfach eine Wucht! Du musst mir unbedingt verraten, wo du es gekauft hast. Es steht dir wirklich toll. Und es passt super zu der Tasche. Was veranlasst Frauen zu solchen Äußerungen, die man unter Männer nur äußerst selten hört? Einer Interpretation zufolge signalisieren Frauen auf diese Weise ihre Gefühle für die andere Person, was Männer bekanntlich nicht so häufig tun. Demnach drückt das Kompliment auf indirekte Weise aus: »Ich mag dich« oder »Ich finde dich hübsch« oder »Ich finde, du hast einen guten Geschmack« - lauter Aussagen, die wiederum die Beziehung als solche bestärken. Nach einer anderen genauso positiven Deutung wollen Frauen sich durch solche Komplimente auf indirekte Weise gegenseitig aufbauen und sind weniger daran interessiert, einander herabzusetzen. Bestätigt wird diese positive Sichtweise häufig durch die Antworten, mit denen die andere Person auf das Kompliment reagiert:

Oh, danke. Wir müssen unbedingt mal zusammen in diesen neuen Laden gehen, den ich in Covent Garden entdeckt habe. Die haben da wirklich ganz entzückende neue Stoffe und Muster. Die Sommerkleider sind ein absoluter Traum. Zu deiner gebräunten Haut würden sie fantastisch aussehen. Ich habe oft mit männlichen Freunden über diesen krassen geschlechtsspezifischen Unterschied gesprochen: Frauen reden nicht einfach nur über das Aussehen der anderen (das tun Männer gelegentlich auch), sondern ziehen die Sache auch konsequent durch, indem sie hinterher zusammen einkaufen gehen und sogar in derselben Umkleidekabine verschwinden, um neue Kleider anzuprobieren. Wann haben Sie zuletzt von zwei Männern gehört, die einen gemeinsamen Einkaufsbummel machen, sich in derselben winzigen Kabine voreinander entkleiden und einander fragen, wie sie in den neuen Sachen aussehen? Vielleicht hängt es mit der Homophobie von Männern zusammen, wenn sie solche Gespräche vermeiden oder einander nicht zu derartigen Aktivitäten auffordern. Bei Frauen klingt bei solchen Unterhaltungen oder Einkaufstouren jedenfalls keinerlei sexuelles Interesse an. Das gemeinsame Shoppen wird häufig als reiner Spaß an der Freude beschrieben oder als Möglichkeit, etwas gemeinsam zu unternehmen und einander nahe zu sein. Man könnte diesen Austausch von Komplimenten also als Signal für den Wünsch deuten, die Beziehung zu vertiefen oder die Vertrautheit zu bekräftigen, wozu auch gehört, dass die beiden Frauen mögliche Barrieren zwischen sich beseitigen (einander sozusagen verbal entkleiden). Eine nicht ganz so positive Sichtweise dieses Austauschs von Komplimenten besagt, dass Frauen dadurch die Aufmerksamkeit auf Äußerlichkeiten lenken, womit sie einander und alle Beobachter daran erinnern, dass Äußerlichkeiten im Wettbewerb zwischen Frauen eine wichtige Rolle spielen. Diese Auffassung findet Bestätigung, wenn das Kompliment einen flüchtigen, aber rasierklingenscharfen Seitenhieb beinhaltet: Mein Gott, in dem Kleid siehst du superschlank aus! Ich hasse dich! Schau dir dagegen meinen fetten Hintern an.

Die Anspielung auf das »Hassen« wird zwar normalerweise in einem scherzhaften oder liebevollen Tonfall vorgebracht, offenbart aber möglicherweise trotzdem einen Hauch von Rivalität, Eifersucht und Wettbewerbsdenken. Doch eins ist klar: häufig schon Sekunden nach der Wiedervereinigung mit einer Freundin, reden Frauen über persönliche, sogar intime Themen (Größe von Körperteilen, die Unzufriedenheit mit ihrer Figur u.Ä.), was zeigt, dass Frauen keine Zeit mit unpersönlichen Gesprächen vergeuden, sondern sofort dazu übergehen, sich über persönliche Gefühle und vertrauliche Details auszutauschen. Die Gespräche von Frauen drehen sich auch viel häufiger um Gefühle und Beziehungen als die Gespräche von Männern. Männer konzentrieren sich bei ihren Unterhaltungen stärker auf Sachthemen, diskutieren zum Beispiel über Sport, Autos, Straßen oder neue Anschaffungen. Kehren wir noch einmal zu dem Beispiel der beiden Ehepaare zurück: Während die Frauen sofort angefangen haben, einander Komplimente zu machen und über ihr Äußeres zu reden, eröffnen die Männer ihr Gespräch vielleicht folgendermaßen: Wie war der Verkehr auf der Mll? Ich finde, meistens ist es zeitsparender, wenn man die A1M hochfährt, über Royston und Baidock. Momentan stecken sie hinter Stansted ja wieder voll in den Bauarbeiten. Männergespräche über Verkehr und Straßen sind natürlich ein klares Beispiel für Gespräche über Systeme, doch mehr dazu in Kapitel 6. Eine Studie über die Geschichten, die von zweijährigen Kindern erzählt werden, kam zu dem Ergebnis, dass die Geschichten der Mädchen zum überwiegenden Teil von Menschen handeln, während die Geschichten der Jungen nur selten um dieses Thema kreisen. Bei den Vierjährigen waren alle Geschichten der Mädchen personenzentriert, aber nur die Hälfte bei den Jungen. Die Mädchen sind also offenbar viel stärker auf Menschen ausgerichtet als die Jungen. Ein gut belegter Unterschied im Hinblick auf Gesprächsinhalte betrifft die Offenlegung von Schwächen oder vertraulichen Informationen. Während Männer und Frauen beide bereit sind, sich

gegenüber einem weiblichen Gesprächspartner zu offenbaren, führen Männer mit anderen Männern weit weniger vertrauliche Gespräche. Das spiegelt den Befund wider, den wir im Hinblick auf den Beziehungsstil von Jungen und Mädchen erörtert haben, und ist vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass Männer sich gezwungen fühlen, alles unter Kontrolle zu behalten. Interessanterweise zeigen sich Männer sogar im Gespräch mit Frauen weniger verständnisvoll und unterstützend, wenn die Frau von ihren eigenen Gefühlen zu erzählen beginnt. Frauen reagieren eher mit spontanem Mitgefühl und mit Äußerungen, die Verständnis signalisieren.31 Männer sprechen seltener über die Beziehung als solche und drücken ihre Gefühle eher durch gemeinsame Aktivitäten aus, anstatt darüber zu reden. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede im Gesprächsstil spiegeln die unterschiedlichen Einstellungen gegenüber Beziehungen wider, die sich beim Freundschaftsfragebogen (FQ) ergaben. Deborah Tannen hat die Unterschiede in den Sprechweisen von Männern und Frauen dokumentiert. In ihrem Buch Du kannst mich einfach nicht verstehen untersuchte sie diese Thematik am Beispiel von Gesprächen in Partnerschaften. In Job-Talk erweiterte sie ihre Untersuchung auf Gespräche am Arbeitsplatz. Zu ihren wichtigsten Erkenntnissen gehört, dass Frauen sich am Arbeitsplatz wesentlich häufiger als Männer auf eine lockere Unterhaltung einlassen, die sich nicht um die Arbeit dreht. Tannen zufolge dienen diese Gespräche der Anknüpfung und Stärkung sozialer Beziehungen. Diese halten wiederum die Kommunikationswege offen, sodass auftretende Spannungen leichter zu lösen sind.32 Tannen stellt amüsanterweise fest, dass Männer bei der Arbeit häufiger über Systeme reden: Beliebte Themen sind Technik (zum Beispiel die neuesten Elektrowerkzeuge, Computer oder Musikanlagen), Autos (zum Beispiel die Unterschiede zwischen zwei Automodellen in punkto Motorleistung, Benzinverbrauch, Geschwindigkeit oder Extras) und Sport (die besten Orte zum Windsurfen, die Bundesliga, das »Superspiel gestern Abend« oder die neuesten Golfklubs). Frauen unterhalten sich häufiger über soziale Themen: Kleidung, Frisuren, gesellschaftliche Veranstal-

tungen, Beziehungen, Haushaltsfragen und Kinder. Diese Unterschiede werden umgangssprachlich als »Männergespräche« und »Frauengespräche« beschrieben. Kein Wunder, dass es den Menschen allgemein leichter fällt, Angehörige des eigenen Geschlechts kennen zu lernen: Es ist vermutlich einfacher, ein gemeinsames Thema für ein zwangloses Gespräch zu finden. Hinzu kommt vielleicht noch, dass Männer und Frauen (jedenfalls am Arbeitsplatz) einen unterschiedlichen Humor haben. Zum männlichen Humor gehört häufig, dass man den anderen hänselt oder im Spaß attackiert, während Frauen sich eher über sich selbst lustig machen. Diese Unterschiede beeinflussen auch das Führungsverhalten am Arbeitsplatz. Weibliche Führungskräfte neigen dazu, den Schlag taktvoll abzumildern, wenn sie einen Mitarbeiter kritisieren, während männliche Führungskräfte eher bereit sind, direkte Kritik zu äußeren, ohne die bittere Pille zu versüßen. Frauen in Führungspositionen neigen auch eher zu einem kooperativen Führungsstü, bei dem sie sich mit ihren Mitarbeitern beraten und sie miteinbeziehen, weil sie dafür sorgen möchten, dass niemand sich ausgeschlossen fühlt. Der männliche und weibliche Gesprächsstil am Arbeitsplatz unterscheidet sich schließlich auch dadurch, dass Frauen eher zum Gebrauch des »wir« neigen und den kooperativen Aspekt der Arbeit betonen, während Männer häufiger »ich« oder »mein« sagen und den Beitrag der anderen seltener anerkennen. Man kann diesen Abschnitt wie folgt zusammenfassen: Unterschiede in der Sprechweise spiegeln wichtige Unterschiede im Grad der Selbstbezogenheit bzw. der Bezogenheit auf andere wider. Die geschlechtsspezifischen Sprechweisen deuten darauf hin, dass Männer und Frauen sich darin unterscheiden, wie stark sie eigene Bedürfnisse beiseite schieben, um Rücksicht auf die Gefühle anderer zu nehmen. Auch hier geht es also um Empathie. Eltern und ihr Erziehungsstil Der Erziehungsstil erweist sich als ein weiterer guter Ansatzpunkt, wenn man überprüfen will, ob Frauen empathischer sind als Män-

ner. Wenn Väter ihr Kind auf den Arm nehmen, halten sie es seltener als Mütter in einer Position, die direkten Blickkontakt ermöglicht. Das führt unter anderem dazu, dass Vater und Kind weniger emotionale Informationen über die Mimik austauschen. Mütter halten sich auch häufiger an das vom Kind gewählte Spielthema, während Väter eher ihr eigenes Thema durchsetzen. Ferner passen Mütter ihre Sprache häufiger dem Verständnislevel des Kindes an. Zum Beispiel stimmt die Länge der Sätze von Müttern im Allgemeinen besser mit dem Verständnisvermögen des Kindes überein, während Väter häufiger dazu neigen, unbekannte oder schwierige Ausdrücke zu benutzen. Wenn ein Vater sich mit seinem Kind unterhält, kommt es außerdem seltener zu Sprecherwechseln. Diese Beispiele aus dem Bereich des elterlichen Verhaltens deuten also ebenfalls darauf hin, dass Frauen mehr Empathie an den Tag legen als Männer. Eleanor Maccoby und ihre Mitarbeiter haben dies in einem Experiment mit sechsjährigen Kindern und deren Eltern nachgewiesen. Sie legten hierzu dem Kind und dessen Vater/Mutter vier mehrdeutige Bilder vor. Der jeweilige Elternteil beschrieb ein Bild, und das Kind sollte angeben, welches der vier Bilder gemeint war. Mutter-Kind-Paare schnitten bei dieser Aufgabe erfolgreicher ab als Vater-Kind-Paare, vermudich weil die Frauen sich klarer und verständlicher ausdrückten.33 Blickkontakt und Gesichtswahrnehmung Zeigen schon Säuglinge geschlechtsspezifische Unterschiede im Hinblick auf ihr Interesse an Gegenständen oder Menschen? Einige Behauptungen gehen dahin, dass kleine Mädchen von Geburt an länger auf Gesichter und insbesondere auf die Augen schauen, während kleine Jungen den Blick eher auf unbelebte Objekte richten.34 Sucht man allerdings nach Studien, die diese These belegen, findet man kaum irgendwelche konkreten Daten. Ich hatte das Glück, mit Svetlana Lutchmaya, einer begabten Doktorandin, zusammenzuarbeiten, die sich für diese spezielle Thematik interessierte und die Hypothese bei einjährigen Kindern überprüfte.

Zu diesem Zweck holte sie die Kinder zu uns ins Labor und filmte sie, während sie auf dem Boden spielten und die Mütter auf Stühlen daneben saßen. Anschließend wertete sie sehr sorgfältig alle Videobänder danach aus, wie oft die Kinder im Laufe von 20 Minuten zum Gesicht der Mutter hinaufschauten. Es stellte sich heraus, dass die Mädchen dies signifikant häufiger taten als die Jungen. Und als die Kinder wahlweise einen Film über ein Gesicht oder über Autos sehen konnten, schauten die Jungen länger auf die Autos und die Mädchen länger auf das Gesicht.35 Zwei andere Studentinnen von mir, Jennifer Connellan und Anna Ba'tkti, gingen noch einen Schritt weiter. Im Rosie Maternity Hospital in Cambridge filmten die beiden über 100 Säuglinge, die alle gerade mal einen Tag alt waren. Die kleinen Würmchen wussten gar nicht, wie ihnen geschah - kaum auf der Welt, wurden sie auch schon für eine wissenschaftliche Studie rekrutiert. Diese Babys bekamen einerseits Jennifers sonnengebräuntes kalifornisches Gesicht zu sehen, das sich lächelnd über ihr Gitterbettchen beugte und sich auf natürliche Weise bewegte. Andererseits zeigte man den Säuglingen ein Mobile, das jedoch kein gewöhnliches Mobile war. Es bestand aus einem Ball, der genauso groß war wie Jennifers Kopf und die gleiche Farbe hatte (kalifornisches Sonnenbraun). Die Oberfläche des Balls zeigte verschiedene fotografierte Teile ihres Gesichts, die man aber so angeordnet hatte, dass das Ganze nicht mehr wie ein Gesicht aussah. Im Labor nannten wir das Mobile nur den »Alien«. Damit es nach etwas Mechanischem aussah, fügten wir kleine herabbaumelnde Teile hinzu, die sich jedes Mal bewegten, wenn sich das größere Mobile bewegte. So konnten wir das Interesse der Babys an einem sozialen Objekt (Gesicht) und einem mechanischen Gegenstand (Mobile) vergleichen. Damit die Versuchsleiter möglichst unvoreingenommen an das Experiment herangingen, wurden die Mütter gebeten, den Forschern gegenüber Stillschweigen über das Geschlecht des Kindes zu bewahren. Diese Information wurde erst nach der Auswertung der Videofilme preisgegeben. Die Frage des Experiments war also, ob die Babys länger auf Jennifers Gesicht oder länger auf das Mobile blicken würden. Bei

Abbildung 4: Man zeigt den Neugeborenen ein Gesicht und ein Mobile

der Analyse der Videobänder stellte sich heraus, dass die Mädchen länger auf das Gesicht schauten und die Jungen länger auf das Mobile. Und diese geschlechtsspezifischen Unterschiede im sozialen Interesse zeigten sich bereits am ersten Lebenstag!36 Dieser Unterschied bei Neugeborenen deckt sich mit einem Muster, das man durch das ganze Leben hindurch beobachten kann. So zeigen Frauen zum Beispiel mehr »Ausdauer« beim Anlächeln anderer Leute und halten längeren Blickkontakt als Männer. Die Tatsache, dass dieser Unterschied bereits kurz nach der Geburt zu beobachten ist, deutet darauf hin, dass hier ein biologischer Faktor mitspielt.37 Der Empathie-Quotient (EQ) Viele Fragebögen, die das Empathievermögen messen, belegen, dass Frauen in diesem Bereich höhere Punktzahlen erzielen als Männer. Mein Forschungsteam hat ein neues Messverfahren in diesem Bereich entwickelt, den so genannten Empathie-Quotienten (EQ, siehe Anhang 2). Wie bei anderen Empathie-Messungen ergab sich auch beim EQ, dass Frauen in der Regel besser abschneiden als Männer.38 Grund für die Entwicklung dieses neuen Tests war die Sorge, dass es sich bei früheren Verfahren

nicht um »reine« Empathietests handelte, weil sie auch Fragen umfassten, die auf Themen wie Selbstbeherrschung und Fantasie zielten. Die Fragen des EQ beziehen sich darauf, wie schnell jemand die Gefühle einer anderen Person bemerkt und wie stark er davon beeinflusst wird. Abbildung 5 zeigt eine schematische Darstellung der Ergebnisse, die wir mit dem EQ für Männer und Frauen ermittelt haben. Wie man sieht, liegen die Werte der Frauen eher auf der rechten Seite und sind höher als die der Männer, was auf ein besseres Empathievermögen von Frauen hindeutet. Es ist allerdings zu bedenken, dass bei diesem Test nur Daten aus Selbstbeschreibungen gesammelt werden. Von daher spiegeln die höheren Punktzahlen möglicherweise nur wider, dass die Frauen weniger bescheiden sind als die Männer. Wir halten das allerdings für unwahrscheinlich, denn wenn wir Dritte auffordern, den Fragebogen über eine andere, ihnen bekannte Person auszufüllen, stellen wir regelmäßig fest, dass diese Berichte sehr stark mit den Selbstbeschreibungen übereinstimmen. Doch wie dieses Kapitel zeigt, ist es sehr wichtig, dass man eine Vielzahl unterschiedlicher Nachweise betrachtet und überprüft, ob sie alle den übereinstimmenden Schluss zulassen, dass Frauen einfühlsamer sind als Männer.

Sprachfähigkeit: eine alternative Auffassung vom weiblichen Gehirn? Frauen zeigen eindeutig mehr Einfühlungsvermögen als Männer. Doch vielleicht sind sie nicht nur auf dem Gebiet der Kommunikation, sondern auf allen sprachlichen Gebieten begabter als Männer. Schon bei ganz einfachen sprachlichen Tests schneiden Frauen nämlich häufig besser ab. Am Ende dieses Kapitels werde ich noch einmal darauf zurückkommen, ob dies im Widerspruch zur Empathie-Theorie steht.

Männer

Frauen

/

Prozentsatz der Bevölkerung

Niedrig

Hoch

Abbildung 5: Ergebnisse von Männern und Frauen beim Empathie-Test

Zunächst wollen wir jedoch der Frage nachgehen, welche Nachweise für geschlechtsspezifische Unterschiede bei den sprachlichen Fähigkeiten vorliegen. Im Durchschnitt bringen Frauen in derselben Zeitspanne mehr Wörter hervor als Männer, und ihnen unterlaufen weniger sprachliche Irrtümer (wie etwa ein falscher Begriff). Die Mehrheit der Frauen schneidet bei der Fähigkeit, zwischen sprachlichen Lauten zu unterscheiden (zum Beispiel zwischen Konsonanten und Vokalen), besser ab. Frauen bilden im Durchschnitt auch längere Sätze, und ihre Äußerungen zeichnen sich häufiger durch »grammatische Standardstrukturen« und eine korrekte Aussprache aus. Auch das Formulieren fällt ihnen leichter als Männern, und es gelingt ihnen in der Regel schneller. Zudem verfügen Frauen über ein besseres Wortgedächtnis. Die meisten Männer machen mehr Pausen beim Sprechen. Und was den klinischen Bereich betrifft, so haben Männer ein doppelt so hohes Risiko wie Frauen, eine Sprachstörung, wie zum Beispiel Stottern, zu entwickeln. 39 Mädchen fangen etwa einen Monat früher an zu sprechen als Jungen, und ihr Wortschatz ist größer. Es ist zwar weiterhin umstritten, ob ein geschlechtsspezifischer Unterschied im Hinblick auf den passiven oder rezeptiven Wortschatz besteht (die Zahl der Wörter, die ein Kind versteht, im Gegensatz zu den Wörtern, die es verwendet). Offenkundig fangen Mädchen jedoch frü-

her und in stärkerem Umfang an, Sprache aktiv zu gebrauchen. Sie beginnen zum Beispiel häufiger ein Gespräch mit ihren Eltern, mit anderen Kindern und mit Lehrern. Dieser stärkere Sprachgebrauch der Mädchen bleibt aber eher unbemerkt, wenn sie sich in Gesellschaft von Jungen befinden, weil sie dann oft stiller oder gehemmter sind. Mädchen sind außerdem besser in Orthographie und im Lesen. Jungen sind oft schneller, wenn es darum geht, einzelne Silben (z.B. ba-ba-ba) zu wiederholen, während Mädchen besser abschneiden, wenn die Aufgabe darin besteht, eine Reihe unterschiedlicher Silben zu wiederholen (z. B. ba-da-ga). Mädchen zeigen zudem bessere Leistungen, wenn das sprachliche Gedächtnis oder die Erinnerung an einzelne Wörter getestet wird. Diese Überlegenheit lässt sich auch bei älteren Frauen, sogar bei über Achtzigjährigen feststellen. Die Frauen erweisen sich sogar als überlegen, wenn sie eine Reihe von laut vorgelesenen Zahlen wiederholen sollen (DigitSpan Test). Bei dem entsprechenden Test zum räumlichen Vorstellungsvermögen schneiden Frauen allerdings nicht besser ab: Hier werden die Probanden aufgefordert, eine lange Reihe von Bauklötzen, die der Versuchsleiter in einem unregelmäßigen Muster aufgebaut hat, in derselben Reihenfolge nachzustellen. Bei einem Teil der Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium, dem so genannten »Learning Facts« (Faktenlernen), das man sich als eine Art Test des Wortgedächtnisses vorstellen kann, schneiden Frauen besser ab als Männer. Erwachsene Frauen, denen man eine große Zahl von Wörtern laut vorliest, können sich diese in der Regel besser merken als Männer. Frauen neigen auch dazu, die gehörten Wörter nach ihrer Bedeutung in sinnvolle Kategorien zu ordnen, während Männer sie eher in derselben Reihenfolge wiedergeben, in der sie vorgetragen wurden. Frauen können sich zudem den Sinn eines kurzen Textes besser ins Gedächtnis rufen eine Beobachtung, die man in ganz unterschiedlichen Kulturen gemacht hat, zum Beispiel in Südafrika, den USA und Japan. Bei einem Vergleichstest, bei dem sich die Probanden an unregelmäßige Formen ohne feste Bedeutung oder Bezeichnung erinnern sollten, hat man keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen festgestellt.40

In einer bahnbrechenden Studie, die großes Aufsehen erregte, stellten Bennett Shaywitz und seine Kollegen von der Yale University fest, dass bestimmte Regionen des präfrontalen Kortex, einschließlich der Broca-Region, während eines sprachlichen Tests bei Männern und Frauen auf unterschiedliche Weise aktiviert wurden. Den Probanden wurden Zettel mit je zwei unsinnigen Wörtern vorgelegt, und sie sollten entscheiden, ob die beiden Wörter sich reimten oder nicht. Bei etwa der Hälfte der weiblichen Versuchsteilnehmer wurde das Broca-Zentrum in der rechten und in der linken Himhälfte aktiviert, während bei den Männern nur die linke Himhälfte Aktivitäten zeigte. Die Forschergruppe hat einen ähnlichen Effekt nachgewiesen, wenn die Hirnaktivität beim reinen Zuhören gemessen wird (obwohl nicht alle Studien zu diesem Ergebnis kommen).41 Dieser kurze Exkurs zu Unterschieden bei der sprachlichen Kompetenz deutet darauf hin, dass Frauen möglicherweise nicht nur ein Talent zur Empathie, sondern auch eine besondere Sprachbegabimg haben. Steht das in irgendeiner Weise im Widerspruch zu der These, dass das weibliche Gehirn zu einem überlegenen Einfühlungsvermögen befähigt? Meiner Ansicht nach besteht hier nicht notwendigerweise ein Widerspruch, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens ist bemerkenswert, dass schon der Gedanke, Frauen könnten über bessere sprachliche Fähigkeiten verfügen, auf Widerstand stößt,42 während die Vorstellung, dass Frauen empathiefähiger sein könnten, kritiklos hingenommen wird. Doch falls Frauen tatsächlich über eine höhere sprachliche Kompetenz verfügen, dann könnte die weibliche Überlegenheit in diesen allgemeinen sprachlichen Bereichen auch einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung eines guten Einfühlungsvermögens leisten. Sprachliche Fähigkeiten (einschließlich eines guten sprachlichen Gedächtnisses) sind unabdingbar, um den Gesprächsfluss bei ungezwungenen Gesprächen in Gang zu halten, und fördern die Vertrautheit, weil sie eine glatte und reibungslose Interaktion und dadurch soziale Bindungen fördern. Lange Pausen in Gesprächen sind nicht dazu angetan, ein Gefühl von Verbundenheit und Harmonie zwischen den Beteiligten zu bestärken.

Zweitens spiegeln einige Messungen von sprachlichen Fähigkeiten, wie etwa das Leseverständnis möglicherweise das Empathievermögen wider. Zum Beispiel schneiden Mädchen bei Lesetests meistens besser ab als Jungen, was allerdings darauf zurückzuführen ist, dass sie insbesondere Geschichten, die von sozialen Zusammenhängen handeln, besser verstehen als andere Geschichten.43 Drittens ist es unwahrscheinlich, dass die größere emotionale Sensibilität von Frauen ein bloßes Nebenprodukt ihrer besseren sprachlichen Fähigkeiten ist, weil man mühelos Menschen finden kann, die exzellente sprachliche Fähigkeiten aufweisen, in sozialer Hinsicht aber wenig einfühlsam sind oder umgekehrt. Ich bin sicher, dass Ihnen sofort einige Personen in den Sinn kommen, die äußerst flüssig und gewandt zu reden wissen, allerdings auch nicht wieder aufhören, wenn sie einmal angefangen haben. Die Tatsache, dass sie den Gesprächspartner nie zu Wort kommen lassen, deutet darauf hin, dass ihre Fähigkeit zu einem wechselseitigen Austausch und zur Einfühlung in andere verglichen mit ihrer sprachlichen Kompetenz nicht besonders ausgeprägt ist. Bestimmt kommt Ihnen andererseits auch sofort ein geduldiger und einfühlsamer Zuhörer in den Sinn, der sehr warmherzig und empathisch auf die Probleme anderer Menschen einzugehen versteht, aber selbst nicht viele Worte macht. Gute sprachliche Fähigkeiten sind also nicht notwendigerweise mit guten Kommunikations- und Empathiefähigkeiten verbunden. In der Tat könnte man aus evolutionstheoretischer Sicht argumentieren, dass gute sprachliche Fähigkeiten eher eine Folge als eine Ursache eines guten Einfühlungsvermögens sein müssten. So haben Frauen vielleicht bessere sprachliche Fähigkeiten entwickelt, weil ihr Oberleben stärker als das der Männer davon abhing, dass sie in Gesprächen schnell und einfühlsam reagierten und ebenso taktvoll wie strategisch mit Sprache umgingen. Die sicherste Schlussfolgerung, die wir an diesem Punkt ziehen können, lautet, dass Frauen sowohl über ein besseres Einfühlungsvermögen als auch über bessere sprachliche Kompetenzen verfügen und dass die Zusammenhänge zwischen diesen beiden Bereichen vermutlich komplex und wechselseitig gewesen sind,

sowohl in Bezug auf die Ontogenese (individuelle Entwicklung) als auch in Bezug auf die Phylogenese (Evolution): Sprachliche Kompetenz kann die Empathie fordern (weil das Kommunikationsbedürfnis zu mehr Erfahrung mit anderen Menschen führt), und Empathie kann die sprachliche Kompetenz fördern (weil Sensibilität für andere Menschen die Praxis der Kommunikation erleichtert). Doch als Domänen sind Sprache und Empathie vermutlich unabhängig voneinander. Unsere wichtigste Schlussfolgerung lautet also nach wie vor: Betrachtet man unterschiedliche Aspekte des Sozialverhaltens und der Kommunikation, deutet vieles daraufhin, dass Frauen einfühlsamer sind. Doch wie steht es um die andere Hauptthese dieses Buches? Sind Männer bessere Systematiker?

5 Was ist Systematisieren?

Im vorangehenden Kapitel habe ich die Nachweise betrachtet, die für eine weibliche Überlegenheit in punkto Empathie sprechen. In diesem Kapitel sollen die Beweise für die männliche Überlegenheit beim Systematisieren vorgestellt werden. Doch zuvor ist genau zu untersuchen, was genau mit Systematisieren gemeint ist. Der Begriff »Systematisieren« bezieht sich auf den Drang, Systeme zu begreifen und aufzubauen. Mit »System« meine ich nicht nur Maschinen (einschließlich Werkzeuge oder Musikinstrumente oder das Innere einer Uhr). Ich beziehe mich auch nicht ausschließlich auf greifbare Dinge, die man auf- oder zusammenbauen kann, wie Häuser, Städte oder Gesetzessammlungen. Bei all diesen Beispielen handelt es sich um Systeme, aber es gibt noch unzählige andere. Mit System bezeichne ich jedes Objekt oder Phänomen, das bestimmten Regeln folgt, die den Zusammenhang zwischen Input, Operation und Output steuern. Diese Definition umfasst Gebilde, die über reine maschinelle oder technische Systeme hinausgehen, wie etwa Mathematik, Physik, Chemie, Logik, Musik, Militärstrategien, das Klima, Gartenbau oder Computerprogrammierung. Unter diese Definition fallen femer solche Systeme wie Büchereien, die Wirtschaft, Unternehmen, Regelwerke, Brettspiele oder Sport. Das System kann winzig sein (eine einzelne Zelle) oder groß (ein ganzes Tier) oder noch größer (eine gesellschaftliche Gruppe oder ein politisches System). Zum Systematisieren gehört, dass man zunächst die veränderlichen Merkmale des Systems analysiert. Als Nächstes folgt dann eine genaue, detaillierte Beobachtung der Effekte, die auftreten, wenn ein Merkmal (»systematisch«) verändert wird. Solche wiederholten Beobachtungen führen dann schließlich zur Aufdeckung der Input-Operation-Output-Gesetze, die das Verhalten des Systems steuern. Hier ein einfaches Beispiel: »Wenn ich den roten Knopf drücke, i

transportiert der Projektor das nächste Dia nach vorn.« Der rote Knopf ist der Input, das Drücken entspricht der Operation und das nächste Dia ist der Output. Manchmal wird die Operation oder Handlung nicht von einem handelnden Menschen ausgeführt, sondern durch ein unpersönliches Ereignis. Hier ein einfaches Beispiel: »Um 10 Uhr vormittags wirft die Sonne an genau dieser Stelle meiner Schlafzimmerwand einen Schatten.« In diesem Fall ist die Sonne der Input und ihre Stellung am Himmel entspricht der Operation. Der Schatten, den die Sonne in ihrer vorherigen Position warf, ist der erste Output. Und der Schatten, den sie in ihrer jetzigen Position wirft, ist ein neuer Output. Das Systematisieren erfordert also einen genauen Blick fürs Detail, denn es führt unter Umständen zu einem ganz anderen Ergebnis, wenn man beispielsweise einen Input mit einem anderen Input verwechselt oder eine Aktivität mit einer anderen. Wenn die Operation aus einem Mausklick am Computerbildschirm besteht oder wenn es sich beim Input um eine Zahl in einer mathematischen Formel handelt, kann eine winzige Veränderung in diesem Stadium zu einem völlig anderen Output führen - die kleinste Abweichung kann ein völlig anderes Verhalten des Systems zur Folge haben. Der Lohn für gutes Systematisieren besteht nicht nur darin, dass man das System versteht, sondern man kann auch vorhersagen, was es als Nächstes tun wird. Das Wichtigste beim Systematisieren ist, dass das System, das man zu begreifen versucht, vom Prinzip her endlich, kausal und gesetzmäßig ist. Wenn man die Gesetze und Regelmäßigkeiten des Systems einmal erkannt hat, kann man sein Verhalten hundertprozentig genau vorhersagen. Das gilt sogar für komplexere Systeme, bei denen es eine Vielzahl von Parametern gibt. Es gilt auch für Systeme mit sehr verwickelten Gesetzen, solange diese Gesetze im Prinzip spezifizierbar sind. Sie werden vielleicht einwenden, dass ich hier mit einer ziemlich weitgefassten Definition von »System« arbeite, die nahezu alles erfasst. Das ist ein berechtigter Einwand. Genau genommen handelt es sich beim Systematisieren (ebenso wie beim Einfühlen in andere) um geistige oder mentale Prozesse, die als solche auf fast

jedes Element der Umwelt angewendet werden können. In der Praxis lässt sich Empathie am leichtesten auf handelnde Personen anwenden (d.h. Personen mit innerem Antrieb, auch virtueller Art wie etwa Cartoon-Figuren),1 während das Systematisieren am leichtesten auf Umweltaspekte anzuwenden ist, die bestimmte Gesetzmäßigkeiten aufweisen. Und mithilfe dieses mentalen Prozesses kann man eine Vielzahl äußerer Phänomene entdecken, die solchen Gesetzmäßigkeiten folgen. Wir können eine Klassifikation der sechs wichtigsten Systemarten vornehmen, die das Gehirn analysieren und/oder entwickeln kann. (Typisch Mann! Fängt sofort an, Systeme zu systematisieren...) Technische Systeme Bei Systemen, die aus der Welt der Technik stammen, denken wir oft, sie seien von Männern gemacht. (Die meisten wurden wohl tatsächlich von Männern erfunden, was möglicherweise kein Zufall ist, wie ich im weiteren Verlauf des Buches aufzeigen will.) Technische Systeme können komplex sein wie etwa Computer, Fahrzeuge, Werkzeug und andere Geräte oder Maschinen. Häufig umfassen sie die komplexen Systeme, die in verschiedenen Wissenschaftszweigen wie Physik, Elektronik, Maschinenbau, Informatik oder Materialwirtschaft erforscht werden. Doch ein technisches System kann auch etwas so Elementares wie ein Hausdach, ein Segel, die Tragfläche eines Flugzeugs oder ein Kompass sein. Beispiele: • Ein Musiker spielt ein Instrument (Input) in einer Konzerthalle mit Kuppeldach (die Operation) und stellt fest, dass in dieser Umgebung ein Ton (Output 1) nachhallt und sich mit dem aktuellen Ton mischt (Output 2), wodurch eine neue Klangkombination (Output 3) entsteht. • Oder ein Musikliebhaber entdeckt, dass der gedämpfte Klang (Output I) der niedrigeren Tonlage klarer (Output 2) wird, wenn er Verstärker und Lautsprecher mit einem Elektrokabel (Input) verbindet, das 1 cm dicker ist als das alte (Operation).

• Ein Surfer stellt fest, dass er, wenn er ein Surfbrett verwendet, das hinten 3 cm breiter ist (Operation), einen festeren Stand auf dem Brett hat (Output 2) und nicht mehr hin und her wackelt (Output 1).

Natürliche Systeme Hierzu gehören die komplexen Systeme in der Natur, mit denen man sich in Wissenschaften wie der Ökologie, Geografie, Chemie, Physik, Astronomie, Medizin, Meteorologie, Biologie oder Geologie beschäftigt. Doch die systematische Auseinandersetzung mit der Natur ist keineswegs den Wissenschaften vorbehalten. Wir alle bringen die Natur in Systeme. Denken Sie nur daran, wie wir ein Tier oder eine Pflanze, ein Ökosystem oder das Klima analysieren. Und auch hier gilt wieder, dass zu solchen Systemen ganz grundlegende Dinge wie der Erdboden, ein Fluss, Steine, ein Insekt oder ein Blatt gehören können. Einige Beispiele: • Ein Gärtner pflanzt eine Hortensie (Input) in alkalische Erde (Operation) und stellt fest, dass die rosafarbenen Blüten (Output 1) blau werden (Output 2). • Ein Urwald-Bewohner bemerkt, dass die Anwesenheit eines Tigers (Input) im Umkreis von 50 Metern (Operation) dazu führt, dass sich die entspannten Lautäußerungen (Output 1) eines Legurenäffchens in einen aufgeregten Warnruf verwandeln (Output). • Sie entdecken bei einem Spaziergang am Strand, dass die Flut (Operation) die kleineren Kieselsteine (Input) weiter auf den Strand trägt als die größeren (Output).

Abstrakte Systeme Zu den komplexen abstrakten Systemen gehören zum Beispiel Mathematik, Logik, Grammatik, Musik, aber auch Computerprogramme, die Besteuerung, das Pfandrecht, die Rente, Wert-

papiere oder Landkarten. Andere abstrakte Systeme sind dagegen eher simpel, wie die Regeln zur Interpretation eines Textes, das Kassenbuch eines Betriebs oder ein Eisenbahnfahrplan. Hier einige Beispiele: • Ein Programmierer entdeckt, dass durch das Einfügen einer zusätzlichen Klammer (Operation) in eine Computerprogrammierung (Input) eine endlos lange Programmschleife (Output 1) wegfällt (Output 2). • Ein Kind erkennt, dass man die Zahlen 1,8,27 und 64 (Output) erhält, wenn man die Zahlen 1, 2, 3 und 4 (Input) in die dritte Potenz setzt (Operation). • Ein Englischlehrer konstatiert, dass sich die Aussprache des vorangehenden Vokals (Output 1) verändert (Output 2), wenn man ein -e an ein Wort anhängt (Operation), das auf einen Konsonanten endet (Input). Soziale Systeme Hierbei handelt es sich um Menschengruppen oder genauer gesagt um die Regeln, die kennzeichnend für diese Gruppen sind. Dazu gehören komplexe Gesellschaftssysteme, wie sie von Wissenschaftlern aus Politik, Wirtschaft, Recht, Theologie, Militärökonomie, Geschichte und den Sozialwissenschaften analysiert werden. Beispiele für einfachere soziale Systeme sind etwa ein Gremium, eine politische Partei, eine Gruppe von Freunden, eine Institution, eine Fußballtabelle, die Charts in der Popmusik oder eine Spielerliste bei einer Sportmannschaft. Beispiele: • Ein Geschäftsmann stellt fest, dass der Absatz eines speziellen Produktes (Input) in einem bestimmten Monat (Operation) anzieht (Output). • Ein Politiker stellt fest, dass sich die Zahl der Stimmen für seine Partei (Input) erhöhte (Output), nachdem man die Grenzen des Wahlbezirks neu festgelegt hatte (Operation). • Ein Fußballtrainer erkennt, dass die durchschnittliche Zahl der

Tore, die seine Elf (Input) gegen eine bestimmte Mannschaft erzielt, ansteigt (Output), wenn er drei bestimmte Spieler in Angriffspositionen aufstellt (Operation).

Ordnungssysteme Einige dieser Systeme sind riesig wie etwa Enzyklopädien, Museen, Secondhand-Musikgeschäfte oder Buchhandlungen. Andere sind von begrenzterem Umfang wie eine private Briefmarken- oder Münzsammlung. Doch alle müssen nach bestimmten Kriterien oder Regeln geordnet werden, wobei es sozusagen viele verschiedene Möglichkeiten gibt, den Kuchen aufzuteilen. Das hängt damit zusammen, dass die Bestandteile einer Kategorie wiederum auf unterschiedliche Art geordnet werden können: Ein Vogelliebhaber entdeckt bei Beobachtungen in Schottland (Operation), dass es hier Adler (Input) mit braun und weiß gestreiften Schwanzfedern gibt (Output). Das veranlasst ihn, eine neue Kategorie in seiner ornithologische Fotosammlung einzuführen. Eine Musikliebhaberin beschließt, ihre CD-Sammlung (Input) neu zu ordnen, und zwar nach Erscheinungsdatum (Operation), was dazu führt, dass sich die Reihenfolge der CDs im Regal verändert (Output). Ein Kind beschließt, seine Blechautos und Spielzeugschiffe (Input) nach Sorten getrennt in zwei verschiedene Kisten zu packen (Operation), sodass die Spielsachen einen neuen Platz erhalten (Output). Bewegungssysteme Auch hier gilt wiederum, dass es einige komplexe Systeme gibt, wie etwa die Fingerfertigkeit, die für das Spielen einer Beethovensonate erforderlich ist. Andere sind einfacher wie etwa die Fähigkeit, einen Pfeil auf eine Zielscheibe zu werfen oder den Golf-

schläger zu schwingen. Der Schlag mit dem Golfschläger dauert nur zwei Sekunden, aber was während dieser zwei Sekunden geschieht (Operation), kann dazu führen, dass der Ball (Input) entweder im Loch oder im Teich landet (Output). Weitere Beispiele: • Ein Skifahrerin entdeckt, dass sie ihr Gleichgewicht (Input) nicht mehr verliert (Output 1), sondern die Balance halten kann (Output 2), wenn sie die Arme ein klein wenig anhebt (Operation), sobald der Hang steiler wird. • Ein Tennisspieler erkennt, dass der Ball (Input) nach rechts springt (Output), wenn er seinen Topspin verändert (Operation). • Ein Pianist stellt fest, dass ein Triller mit dem dritten und vierten Finger (Input) umso genauer gelingt (Output), je öfter er übt (Operation). Wir haben also (mindestens) sechs verschiedene Arten von Systemen. Doch man erkennt, dass sie trotz ihrer oberflächlichen Unterschiede einige grundlegende Gemeinsamkeiten aufweisen. Bei allen Arten erforscht der Systematiker, wie ein bestimmter Input im Anschluss an eine bestimmte Operation zu einem bestimmten Output führt. Dadurch erhält man mehr oder weniger nützliche »Wenn-dann«-Regeln. Wenn man ein schmaleres Kanu benutzt, kommt man schneller voran. Wenn man die Rosen im März beschneidet, wird man im Sommer mit einer reicheren Blütenpracht belohnt. Wenn das Flugzeug über den Wolken fliegt, verringern sich die Turbulenzen. Wenn man den Golfschläger höher schwingt, nimmt der Ball eine steilere Flugbahn. Wenn man sich dem Maul eines Krokodils gegenübersieht, entwickelt man ein neues Verhältnis zur Gruppe der Reptilien. Das Ergebnis wird als mögliche Grundregel oder Gesetzmäßigkeit, die über das Verhalten des Systems bestimmt, registriert und gespeichert. Die Regeln sind nichts anderes als die Beziehungen zwischen Input, Operation und Output. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese Art des Lernens in der Verhaltenspsychologie als »assoziatives« Lernen bezeichnet, was nichts anderes als eine Teilbeschreibung des Systematisierens

ist. Beim assoziativen Lernen (mit anderen Worten, bei der klassischen oder operanten Konditionierung) leiten wir eine Regel ab, weil uns eine reizvolle Belohnung erwartet oder eine Strafe droht. Ein Kind lernt zum Beispiel, dass das Berühren einer heißen Herdplatte Schmerz verursacht. Ein Autofahrer lernt, dass eine bestimmte Parkuhr ihm doppelt so viel Zeit gewährt wie erwartet, wenn er die übliche Geldmenge einwirft. In diesen Fällen reizt eine äußere Belohnung (X) oder Strafe (Y) zum Erlernen der Regel, dass sich B in C verwandelt, wenn ich Handlung A durchführe. Das Systematisieren unterscheidet sich insofern von der operanten Konditionierung, als die Motivation nicht von außen kommt, sondern intrinsisch ist - man will das System um seiner selbst willen verstehen. Der Reiz besteht nicht darin, irgendeine konkrete Belohnung zu erhalten (zum Beispiel etwas Essbares für das Drücken eines Hebels oder einen Gehaltsscheck für geleistete Arbeit). Der Kick liegt vielmehr in der Entdeckung von Ursachen. Nicht weil man Informationen über Ursachen um ihrer selbst willen sammeln möchte, sondern weil man durch das Wissen um Ursachen Kontrolle über die Welt gewinnt. Ein weiterer großer Unterschied zwischen dem assoziativen Lernen und dem Systematisieren besteht darin, dass die meisten Organismen mit einem Nervensystem, vom Wurm bis zum amerikanischen Präsidenten, zu ersterem in der Lage sind, während letzteres vermutlich eine nur dem Menschen oder den höheren Primaten vorbehaltene Fähigkeit ist. Das muss bei einer Reihe von Spezies genauer untersucht werden, doch Beobachtungen lassen darauf schließen, dass das Erkennen von Ursachen ein Prozess ist, der außer beim Menschen äußerst selten vorkommt.1 Philosophen bezweifeln, dass man bei solchen Beobachtungen von Zusammenhängen je zwischen »gemeinsamer Ursache« (zwei Dinge scheinen in einem kausalen Zusammenhang zu stehen, werden aber in Wirklichkeit durch einen dritten, gemeinsamen Faktor verursacht) und »echter Kausalität« unterscheiden kann. Ich halte dies für eine Spitzfindigkeit, die das Gehirn in der Praxis ignoriert, weil man, sogar wenn man Kausalität und »gemeinsame Ursache« verwechselt, erheblichen Einfluss auf das Geschehen in der Welt gewinnt. Es eröffnet die Möglichkeit, Systeme zu ent-

wickeln oder in die Natur einzugreifen, um Kontrolle über die Welt zu erlangen. Die große Belohnung des Systematisierens ist also Kontrolle. Wenn man Energie mit einem Wasserrad oder einer Windmühle gewinnen will, ist es von Vorteil, wenn man versteht, auf welche Weise das technische System durch Wasser- oder Winddruck in Bewegung gesetzt wird. Wenn man sich vorstellen kann, welchen Gesetzen ein bestimmtes System folgt, kann man alle möglichen nützlichen Geräte und Maschinen bauen, zum Beispiel einen Speer, der auf gerader Bahn durch die Luft fliegt, oder eine Rakete, die zum Mond fliegt. Die Prinzipien - das Systematisieren - sind immer die gleichen, nur die Liste der Wenn-dann-Regeln wird immer länger, je komplexer das System wird. Das Systematisieren ist ein Folgerungsprozess. Man beobachtet, was geschieht, wenn man die Maus anklickt, und nach einer Reihe von regelmäßig wiederkehrenden Ergebnissen schließt man auf eine Gesetzmäßigkeit. Das Systematisieren ist ein auch ein empirischer Prozess. Es erfordert scharfe Beobachtungsgabe und methodisches Vorgehen: eine exakte Denkweise. Ohne diese Fähigkeiten entgehen einem entscheidende Variablen oder Parameter und ihr Wirkungsmuster. Oder man versäumt es, die Regeln sorgfaltig zu überprüfen und zu testen. Wenn eine Ausnahme auftritt, die gegen die Regel verstößt, überprüft der Beobachtende die Regel und überarbeitet oder ändert sie. Wenn man die Gesetzmäßigkeit, die das System steuert, richtig erkannt hat, funktioniert das System. Das entscheidende Kriterium ist die Wiederholbarkeit. Das funktioniert natürlich nur bei sich wiederholenden oder wiederholbaren Ereignissen und bei veränderlichen Ergebnissen.2 Im nächsten Kapitel wollen wir einen Blick auf die Beweise werfen, die die These belegen, dass es eine männliche Überlegenheit beim Systematisieren gibt.

6 Das männliche Gehirn: Nachweise für ein besonderes Systematisierungsvermögen Das Spiel der Jungen: Mechanik und Bautechnik Es gibt eine Vielzahl von Nachweisen dafür, dass sich die Inhalte des Spiels bei Jungen und Mädchen stark unterscheiden. Jungen entwickeln schon im Krabbelalter mehr Interesse an Autos, Lastwagen, Flugzeugen, Gewehren und Schwertern. Das zeigt sich sogar an den Geräuschen, die sie beim Spielen machen und die zu dieser Art von Spielzeug passen (Motorenbrummen, Knallgeräusche und Sirenengeheul). Schon mit zwei Jahren interessieren Jungen sich stärker für Bauklötze und mechanische Spielsachen. Mädchen zeigen mehr Interesse an Puppen, Schmuck und Kleidung. Der klassische Test zur Überprüfung dieser These besteht darin, dass man verschiedene Spielsachen auf dem Teppich ausbreitet und wartet, welche Auswahl das Kind trifft. Jungen im Alter von zwei Jahren greifen eher zu Fahrzeugen und Bauklötzen und lassen die Puppen liegen. Bei Mädchen im selben Alter fällt die Wahl genau umgekehrt aus. Dasselbe Verhaltensmuster kann man auch bei älteren Kindern beobachten: Jungen beschäftigen sich intensiver mit mechanischen Spielsachen (z.B. Spielzeugautos) und Konstruktionsspielen (z.B. Bauklötzen). Sie scheinen ganz wild darauf zu sein, Türme und Städte aus Bauklötzen zu errichten oder Fahrzeuge zusammenzusetzen. Wenn sie ihre prachtvollen Konstruktionen dann ausgiebig bewundert haben, werfen sie sie nicht selten mit einem Schlag wieder um. Jungen spielen auch gern mit Dingen, die klare Funktionen haben: Sie drücken gern auf Knöpfe, mögen aufleuchtende Spielzeuge oder Geräte, die einen anderen Gegenstand in Bewegung setzen. Kurz: Sie sind ganz begeistert von Systemen. Vielleicht geben Sie jetzt zu bedenken, dass dies nur für Jungen gilt, die in einer westlichen oder technisch hoch entwickelten

Gesellschaft leben. Doch dasselbe allgemeine Verhaltensmuster hat man auch in vor-industriellen Gesellschaften beobachtet. Eine wissenschaftliche Untersuchung von Kinderzeichnungen ergab zum Beispiel, dass die Jungen in vor-industriellen Gesellschaften häufiger irgendwelche Maschinen zeichneten als Mädchen - nicht das, was wir heutzutage unter Maschinen verstehen, also keine Elektrogeräte, sondern Maschinen in einem viel allgemeineren Sinn, also etwa Werkzeug, Waffen und Fahrzeuge. Das Interesse am Mechanischen und Bautechnischen zeigt nicht einfach nur, dass Jungen »objektorientierter« sind als Mädchen, denn es gibt auch einige Gegenstände, mit denen Mädchen häufiger spielen als Jungen (zum Beispiel Knetmasse und Malstifte). Es scheint vielmehr so zu sein, dass Jungen tatsächlich mehr Interesse an mechanischen und bautechnischen Systemen zeigen. Sie haben mehr Interesse am Systematisieren.1 Wie in Kapitel 4 beschrieben, zeigt sich dieses Muster bereits bei einjährigen Jungen, deren Aufmerksamkeit länger von einem Film über vorbeifahrende Autos gefesselt wird als die Aufmerksamkeit der Mädchen. Sogar männliche Säuglinge, die erst einen Tag alt sind, schauen länger auf ein mechanisches Mobile als auf ein menschliches Gesicht.2 Dasselbe Verhaltensmuster kann man interessanterweise auch im Berufsleben von Erwachsenen beobachten. Einige Berufe werden fast ausschließlich von Männern ausgeübt. Überlegen Sie nur einmal, wer eine Tätigkeit im Bereich Metallverarbeitung, als Büchsenmacher oder in der Herstellung von Musikinstrumenten wählt. Diese Tätigkeiten findet man überall auf der Welt, nicht nur in den Industriestaaten. In allen Kulturen, in denen man die Thematik untersucht hat, werden solche Berufe fast ausschließlich von Männern ausgeübt. Dabei handelt es sich hier nicht um einen Ausdruck der größeren Körperkraft von Männern, weil viele dieser Tätigkeiten nicht von der Körperkraft abhängen (der Bau einer Geige oder die Herstellung eines Messers sind gute Beispiele). Im Mittelpunkt dieser Tätigkeiten steht vielmehr der Aufbau von Systemen.3 Gibt es ein Verbindungsglied zwischen den beschriebenen Beobachtungen bei Säuglingen, Kindern und Erwachsenen? Ein

solches Verbindungsglied ist die Tatsache, dass die Aufmerksamkeitwon Männern und Frauen von unterschiedlichen Aspekten der Umwelt angezogen wird. So zeigte man in einem faszinierenden Test Männern und Frauen mehrere Fotos von menschlichen Figuren oder mechanischen Objekten durch ein Stereoskop. Mithilfe dieses Geräts kann man das Bild eines Menschen und das Bild eines mechanischen Objekts auf denselben Teil des Sehfelds fallen lassen. Die beiden Stimuli konkurrieren dann um die Aufmerksamkeit des Betrachters. Was meinen Sie wohl, was bei diesem Versuch herauskam? Die männlichen Versuchsteilnehmer berichteten, dass sie mehr mechanische Gegenstände als Menschen sahen, während die weiblichen Teilnehmer mehr Menschen als mechanische Gegenstände wahrnahmen. Und mechanische Gegenstände sind natürlich nichts anderes als Systeme.4

Mathematik, Physik und Technik Bestimmte Berufsfelder wie Mathematik, Physik, Ingenieurwesen oder Maschinenbau erfordern einen hohen Grad an systematischem Denkvermögen. Wenn man beim Bau von Musikinstrumenten, bei der Herstellung von Werkzeug oder beim Bau von Schiffen ein winziges Detail beim Input oder bei der Operation abwandelt, kann sich der Output radikal verändern. Das Gleiche gilt für die Mathematik, Physik oder das Ingenieurwesen. Wenn man eine einzige Zahl in der Formel oder die Breite des Geräts verändert, bricht unter Umständen das ganze System zusammen, oder es arbeitet nicht optimal. Physik und Ingenieurwesen sind natürlich die »erwachsenen« Gegenstücke zum Spiel mit mechanischen und bautechnischen Spielsachen im Kindesalter. Das Systematisieren bildet die Grundlage der Naturwissenschaften, die allesamt von Männern dominiert werden. Laut Times Higher finden sich unter den 170 lebenden Nobelpreisträgern aus den Naturwissenschaften nur 3 Frauen.5 In den Siebzigerjahren betrug das Geschlechterverhältnis in den Fachbereichen Mathematik, Physik und Ingenieurwesen 9:1 (Männer:Frauen), und daran hat sich bis heute nichts geän-

dert. Das gilt auch für Bereiche der angewandten Mathematik, zum Beispiel bei der Entwicklung von mathematischen Modellen in den Wirtschaftswissenschaften oder in der Statistik. Einige Erklärungsversuche gehen dahin, dass diese Situation auf die Frauenfeindlichkeit in diesen Disziplinen zurückzuführen sei. Doch das fachübergreifende Wesen dieses Musters deutet darauf hin, dass hier subtilere Prozesse am Werk sind. Laut einer von der amerikanischen National Science Foundation durchgeführten Erhebung lag der Frauenanteil in der Biologie bei 23 Prozent, während er in der Physik nur 5 Prozent und im Ingenieurwesen nur 3 Prozent betrug. Ähnliches hat man auch in anderen Staaten beobachtet. Es gibt keine Hinweise darauf, dass man weiblichen Bewerbern in der Physik und im Ingenieurwesen mehr Hindernisse in den Weg legt als in der Biologie.6 Es könnte natürlich sein, dass ein bösartiger, unbewusster Sexismus bei der Auswahl eine Rolle spielt. Vielleicht gehen Leiter von Bewerbungsgesprächen davon aus, dass ein männlicher Bewerber grundsätzlich eine größere Begabung mitbringt, weil sie in der Vergangenheit immer nur Männer unterrichtet haben. Doch das ist schwer zu überprüfen, weil sie einen vorsätzlichen Sexismus dieser Art kaum freiwillig zugeben würden. Für den Fall, dass die sexistisehe Haltung unbewusst ist, wäre sie ihnen aber per definitionem nicht bewusst. Ich selbst arbeite am Trinity College in Cambridge, wo eine wundervolle Mischung aus Mathematikern, Physikern und Ingenieuren forscht und lebt. Wenn ich mittags mit Kollegen aus diesen Disziplinen plaudere, regt sich bei mir immer der Verdacht, dass sie - wenn überhaupt - eher das umgekehrte Vorurteil hegen: Wo immer sie eine begabte weibliche Bewerberin entdecken, geben sie sich besonders viel Mühe, um diese Studentin in ihren Kurs aufzunehmen und die jahrhundertelange Frauendiskriminierung wiedergutzumachen. Eine nicht ganz so sexistisehe, aber durchaus mögliche Erklärung für den Männerüberhang in der Physik und den Ingenieurwissenschaften ist, dass es bei der Auswahl zu einer unbeabsichtigten Bevorzugung von Männern kommt, weil man einen mathematischen Logiktest als Auswahlkriterium zu Grunde legt. Das ist aus Sicht der physikalischen und technischen Fachbereiche

durchaus nachvollziehbar» weil die mathematische Begabung ein guter Indikator für den künftigen Erfolg in diesen Bereichen Ist» Dennoch könnte die Mathematik für das unausgewogene GeSchlechterverhältnis in diesen Bereichen verantwortlich sein. Bestätigt wird diese Vermutung d u r c h das unterschiedliche Abschneiden der Geschlechter b e i m SAT-M, d e m nationalen mathematischen Eignungstest für U S - a m e r i k a n i s c h e Collegebewerber (Scholastic Aptitude Maths Tfest): Im oberen Leistungsbereich kommen zehn Männer auf eine Frau/ Eine alternative Erklärung wäre, dass es keine äußeren Auswahltendenzen zum Nachteil der Frauen gibt. Vielleicht wählen Männer und Frauen einfach diejenigen wissenschaftliche Bereiche, für die sie selbst mehr natürliches Ttolent oder Interesse aufzubringen glauben. Inwieweit man die Möglichkeit des »Wählens« hat, ist natürlich eine andere Frage, weil die Berufe, in denen wir schließlich arbeiten, unter Umständen nicht Immer das Ergebnis einer bewussten Wahl sind, sondern auch von den angebotenen Möglichkeiten abhängen können. Ich verwende hier bewusst den Begriff »Interesse«, weil unsere Berufswahl offenkundig nicht nur von unserer Eignung, sondern auch von unseren Vorlieben und Neigungen geleitet wird, Johnny Lawson, mein Doktorand, hat einen 'Ibst eingesetzt» den Physical Predictlon Questionnaire (PPQ), um zu überprüfen, oh sich ein geschlechtsspezifischer Unterschied beim Verständnis der Frage ergibt, wie bestimmte Hebel (Input) bei verschiedenen Mechanismen (unterschiedlich zusammengefügte Zahnräder) die Bewegung von Stangen beeinflussen (Output), Bewegen sich die Stangen nach oben oder nach unten? Männer .schnitten hei der Vorhersage dieser Ergebnisse besser ab als Frauen, was nicht an sexistlschen Interviewern gelegen haben kann, well die Aufgaben auf Fragebögen gestellt und mit der Post verschickt wurden.'* Auch wenn Ich nicht bestreiten will, dass gesellschaftliche Faktoren den Aufstieg von Frauen In höhere wissenschaftliche Positionen behindern, sollten wir meiner Ansicht nach auch offen für die Möglichkeit bleiben, dass Männer sich - Im Durchschnitt häufiger zu diesen Fächern hingezogen fühlen. Betrachten wir das Fach Mathematik etwas genauer. In der

Schule haben Jungen tendenziell schlechtere Zensuren in Mathematik als Mädchen. Auf den ersten Blick sieht dies wie ein Gegenbeweis zu der These aus, dass das männliche Gehirn bessere Voraussetzungen für das Systematisieren mitbringt. Doch obwohl Jungen bei mathematischen Tests in punkto Genauigkeit schlechtere Ergebnisse erzielen, schneiden sie bei Tests der mathematischen Begabung meistens besser ab. Von Lehrern ist zu hören, dass Mädchen im Durchschnitt die besseren Schülerinnen sind, dass aber die Jungen bei Prüfungen besser abschneiden (obwohl ihre Arbeiten nicht so ordentlich und ihre Leistungen sprunghafter sind), weil sie mathematische Lösungswege schneller erkennen. Irgendwie ungerecht, könnte man denken.

Mädchen schneiden allerdings nicht in allen Bereichen der mathematischen Begabung schlechter ab. Im Laufe der Schulzeit zeigen Mädchen bei mathematischen Sätzen und mathematischer Logik, zum Beispiel beim Rechnen, bessere Leistungen als Jungen. Einige Forscher haben sich gefragt, ob dies damit zusammenhängt, dass es sich hier um mathematische Aufgaben handelt, bei denen man leichter mit verbalen Strategien arbeiten kann. Wie in Kapitel 4 dargelegt, verfügen Frauen in der Regel über bessere sprachliche Fähigkeiten. Schaut man sich dagegen die mathematischen Aufgaben an, bei denen verbelle Strategien unbestreitbar weniger nützlich sind, wie Geometrie, Wahrscheinlichkeitsrechnung oder Statistik, schneiden Mädchen schlechter ab als Jungen.

Geschlechtsspezifische Unterschiede in Mathematik sind spätestens ab dem siebten Lebensjahr belegt. Wie die Psychologin Doreen Kimura ausführt, unterrichten dieselben Lehrer sowohl das Rechnen (herausragende Leistungen der Mädchen) als auch die mathematische Problemlösung (herausragende Leistungen der Jungen). Von daher ist schwer zu erkennen, wie die allgemeinen Erwartungen oder Unterrichtsmethoden eines Lehrers zum unterschiedlichen Zensurenmuster bei den Geschlechtern führen sollten. Aus dem gleichen Grund bieten auch die elterlichen Erwartungen keine überzeugende Erklärung für diesen Unterschied. Kulturübergreifende Studien lassen vermuten, dass es bei den mathematischen Grundfähigkeiten keine geschlechtsspezifischen 9

Unterschiede gibt. Das sind Fähigkeiten, die man bei Kindern aller Kulturen findet, wie einfaches Zählen, ein Gespür für Mengen- und Größenordnungen sowie einfache Arithmetik (Addieren und Subtrahieren). Die Unterschiede zeigen sich erst bei »sekundären« Aspekten, das heißt in Bereichen der Mathematik, die sich im Laufe der weiteren Schulzeit ergeben wie etwa Geometrie oder mathematische Textaufgaben. Man könnte annehmen, dass die Unterschiede, da sie erst in der späteren Kindheit auftreten, auf den Einfluss von Kultur und Erziehung zurückgehen. Doch problematisch bei dieser kulturellen Erklärung ist, dass interkulturelle Studien weltweit das gleiche Muster ergeben. Mädchen schneiden bei Rechenaufgaben besser ab, Jungen bei der mathematischen Problemlösung. Das zeigt sich in so unterschiedlichen Kulturen und Ländern wie den USA, Thailand, Taiwan oder Japan.10 Wenn es also ausschließlich von der Kultur abhängig wäre, wieso sollten die meisten Kulturen dasselbe Muster hervorbringen? Wie oben bereits erwähnt, schneiden die beiden Geschlechter auch beim Scholastic Aptitude MathsTest (SAT-M) unterschiedlich ab. Das ist der mathematische Teü des Tests, der in den USA landesweit von allen College-Bewerbern absolviert wird. Männer erzielen bei diesem Test im Durchschnitt 50 Punkte mehr als Frauen. Untersucht man die Ergebnisse nach Leistungsgruppen, treten die Unterschiede umso deutlicher zu Tage, je höher die Leistungsgruppe ist. Wenn man zum Beispiel alle Teilnehmer betrachtet, die über 500 Punkte erzielen, findet man ein Geschlechterverhältnis von 2:1 (Männer:Frauen) vor. Wenn man die Teilnehmer untersucht, die mehr als 600 Punkte erzielen, beträgt das Verhältnis 6:1. Und bei den Bewerbern, die mehr als 700 Punkte erreichen, ergibt sich ein Geschlechterverhältnis von 13:1. Ein ähnliches Bild zeichnet sich ab, wenn man die Internationale Mathematik-Olympiade betrachtet, bei der die besten Mathematiker der Welt gegeneinander antreten. 85 Länder entsenden ihre sechs besten Mathematiker, die in nationalen Ausscheidungen ausgewählt wurden. Auffällig ist, dass fast ausschließlich Männer teilnehmen. (Leider sind die Sieger der Olympiade nach dem Alphabet, nicht nach Geschlecht geordnet, aber man liegt

vermutlich nicht falsch, wenn man bei Namen wie Sanjay, David, Sergei oder Adam auf Männer tippt.) Dieses männliche Übergewicht gilt für alle teilnehmenden Länder und hat sich im Laufe der Jahre, in denen die Olympiade ausgetragen wird, nicht verändert. Interessanterweise gelingt es China immer wieder, eine Frau ins Team aufzunehmen, was dokumentiert, dass Frauen durchaus in der Lage sind, auf diesem Niveau mitzuhalten. Doch wenn man den Gruppendurchschnitt der beiden Geschlechter betrachtet, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass Männer zu den Spitzenmathematikern gehören. Wirft man einen Blick auf das Gesamtbild, so zeigen Männer in der Mathematik (die von allen sprachlichen Elementen bereinigt ist) von der Schulbank bis hin zu den höchsten Ebenen bessere Leistungen als Frauen.11

Andere Systeme Lassen wir die Mathematik einen Moment beiseite und betrachten einige andere Beispiele für das Systematisieren. Zum Systematisieren gehört immer, den Output eines Systems vorherzusagen, wenn man eine veränderliche Operation auf den Input anwendet. Ein Beispiel ist die »Wasserspiegel-Aufgabe«, die ursprünglich von dem Schweizer Kinderpsychologen Jean Piaget erdacht wurde. Das Ergebnis, das er dabei erzielte, mutet im ersten Moment vielleicht etwas schockierend an. Bei diesem Test zeigt man den Probanden eine zur Seite geneigte Flasche und fordert sie auf, den Wasserstand anzugeben. Unabhängig vom Neigungswinkel der Flasche ist der echte Wasserstand natürlich immer horizontal. Frauen zeichnen den Wasserstand aber häufiger so auf, dass er mit dem Neigungswinkel der Flasche übereinstimmt.12 Die männliche Überlegenheit zeigt sich bei einem weiteren einfachen Experiment - dem »Rod and Frame«-Test (Stange-undRahmen-Test). Man zeigt der Versuchsperson in einem abgedunkelten Raum das dreidimensionale Modell eines leuchtenden Rechtecks (der Rahmen) mit einem leuchtenden Stab im Innern. Das Rechteck wird in verschiedene Richtungen gedreht, und die Testperson wird aufgefordert, den Stab so zu positionieren, dass er

sich in der Senkrechten befindet. Die Beurteilung der Vertikalen sollte völlig unabhängig erfolgen oder sich vielleicht an der vertikalen Ausrichtung des eigenen Körpers orientieren. Jedenfalls hat die veränderte Ausrichtung des Rahmens keinerlei Einfluss auf die senkrechte Position der Stange, wenn man die Bedeutung von Vertikalität versteht. Wer sich bei der Einschätzung der Senkrechten von der Neigung des Rahmens beeinflussen lässt, wird als »feldabhängig« bezeichnet. Er lässt sich in seinem Urteil leicht durch (irrelevante) Informationen aus dem Umweltkontext umstimmen. Lassen sich Menschen von der Neigung des Rahmens nicht beeinflussen, bezeichnet man sie als »feldunabhängig«. Sie berücksichtigen ausschließlich die relevanten, systemimmanenten Faktoren. Die meisten Studien belegen, dass Frauen feldabhängiger sind. Im Klartext bedeutet das, dass Frauen sich verhältnismäßig leicht von irrelevanten Hinweisen ablenken lassen, statt nur das System als solches zu betrachten. Sie neigen eher als Männer zu der (irrigen) Aussage, dass der Stab senkrecht steht, wenn er am Rahmen ausgerichtet ist. 13 Betrachten wir als Nächstes den Test mit den eingebetteten Figuren. (Ein Beispiel aus der Testversion für Erwachsene ist in Abbildung 6 wieder gegeben.) Bei diesem Test wird der Teilnehmer aufgefordert, sich eine einfache Form (die Zielfigur) anzuschauen und sie aus einem komplexeren Muster herauszusuchen (der Hintergrund, in den sie eingebettet ist). Männer schneiden bei diesem Test im Durchschnitt besser ab als Frauen: Sie sind schneller und genauer, wenn es um das Erkennen der Figur in dem größeren, komplexeren Muster geht.14 Man kann das als Test des Systemati sierungsvermögens auffassen, weil die Zielform nur auf eine ganz bestimmte Weise in ihre entsprechende Lücke hineinpasst. Mit anderen Worten, es gibt eine Regel, die dieses Verhältnis beschreibt. Angenommen, es handelt sich bei dem komplexen Hintergrundmuster um einen Automotor und bei der Zielform um ein Ersatzteü, dann kann man das Teil nur auf eine einzige Weise in den Motor einbauen, wenn man das System vervollständigen will.

Aufmerksamkeit fürs Detail Beide oben beschriebenen Aufgaben erfordern nicht nur Systemverständnis, sondern auch Aufmerksamkeit für wichtige Details sowie die Fähigkeit, unwichtige Details zu ignorieren. Das ist in der Tat ein allgemeines Merkmal des Systematisierens. Es ist nicht der einzige Faktor, aber ein notwendiger Bestandteil. Männer reagieren nachweislich aufmerksamer auf relevante Einzelheiten.

Abbildung 6: Ein Beispiel aus dem Test mit eingebetteten Figuren

Auch wenn es darum geht, ein bestimmtes (statisches oder bewegliches) Merkmal zu erkennen, zeigen sich Männer im Allgemeinen überlegen. Wenn man Versuchspersonen einen Film über einen Wald zeigt und sie fragt, ob sie irgendwelche Bewegungen von Tieren oder Personen in diesem Wald entdecken können, stellt man fest, dass die meisten Jungen und Männer solche Bewegungen besser wahrnehmen als Mädchen und Frauen.15

Systeme mit wechselnder Ausrichtung oder Topografie Ein weiteres häufig angewandtes Messverfahren ist der »mentale Rotationstest«. Dabei zeigt man den Testpersonen zwei Formen und fragt, ob es sich bei einer davon um eine umgedrehte oder spiegelbildliche Darstellung der anderen handelt. Männer beantworten die Frage schneller und korrekter als Frauen. Schon fünfjährige Jungen schneiden bei einem Rotationstest mit einem Ziffernblatt besser ab als gleichaltrige Mädchen. Bei einer anderen Kinder-Version des Tests soll beurteilt werden, ob ein Teddy immer noch denselben Arm in die Höhe streckt, wenn er gedreht wird. Die männliche Überlegenheit in dieser Hinsicht ist in vielen unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen von Großbritannien und den USA über Afrika bis nach Asien festgestellt worden. Der Test erfordert Systematisierungsvermögen, weil man den Input einer Operation (der Rotation) unterziehen muss, um den Output vorherzusagen.16 Ein gutes Vorstellungsvermögen könnte sich positiv auf das Testergebnis auswirken, doch man muss auch mindestens einige grundlegende »Wenn-dann«-Regeln anwenden können (nach dem Motto: »Wenn Aktivität A abläuft, dann verwandelt sich B in Oc). Das Lesen von Land- und Straßenkarten erweist sich als weiterer Alltagstest für das Systematisieren, weil man ausgehend von einem dreidimensionalen Input vorhersagen muss, wie er in zweidimensionaler Form aussieht. Bedenken Sie auch, dass wir dazu neigen, uns Schienenwege, Autobahnen, Wasserstraßen, Flugrouten und Ähnliches als Verkehrsnetze oder -systeme vorzustellen. Bei diesen Beispielen führt eine Autobahn (Input) zu einer anderen Autobahn (Output) oder ein Fluss (Input) fließt in einen anderen (Output). Man kann also unter Anwendung einfacher Wenn-dann-Regeln prognostizieren, wohin eine bestimmte Route führt. Wenn ich an der Anschlussstelle 12 links abbiege (Operation), verlasse ich die Ml 1 (Input) und lande auf der Barton Road (Output). Auch der Verkehrsfluss (seine Geschwindigkeit und Dichte) kann als System aufgefasst werden. In einem Experiment sollten Kinder angeben, ob sie an einer Straßenkreuzung, die auf einem Stadtplan verzeichnet war, nach

links oder nach rechts abbiegen müssten, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Um das Ganze noch etwas schwieriger zu machen, durften sie die Karte nicht umdrehen. (Versuchen Sie das einmal, wenn Sie das nächste Mal mit dem Auto in einer unbekannten Gegend herumfahren.) Die Jungen schnitten bei dem Test besser ab als die Mädchen. Wenn Testpersonen bei einer Konstruktionsaufgabe aufgefordert werden, ein dreidimensionales mechanisches Gerät zusammenzusetzen, erzielen Männer im Durchschnitt höhere Wertungen. Und Jungen schneiden bei Aufgaben, bei denen man anhand von zweidimensionalen Vorlagen Konstruktionen aus Bauklötzen anfertigen soll, besser ab als Mädchen. Männer können sich einen Weg auch nach weniger Versuchen einprägen, einfach durch wiederholtes Betrachten der Straßenkarte, und erinnern sich an eine größere Zahl von Einzelheiten über Richtung und Entfernung. Wenn man Jungen auffordert, eine Karte von einem Gebiet zu zeichnen, in dem sie nur ein einziges Mal gewesen sind, geben ihre Karten die Umgebungsmerkmale präziser wieder, sie zeigen zum Beispiel, dass eine bestimmte Landmarke in südöstlicher Richtung von einer anderen liegt. Wenn man diese Karten danach bewertet, ob sie gut oder weniger gut aufgebaut sind, werden die Karten der Jungen häufig als die besseren beurteilt. Die Karten der Mädchen enthalten oft gravierende Fehler in der Anordnung von wichtigen Erkennungszeichen. Die Jungen betonen eher Richtungen, Wege und Straßen, während die Mädchen eher dazu neigen, einzelne Erkennungszeichen besonders hervorzuheben (»der Laden an der Ecke« u.Ä.). Diese beiden Strategien - die Verwendung von Richtungshinweisen oder von Hinweisen auf einzelne Merkmale - sind umfassend untersucht worden. Die Richtungsstrategie ist ein Beispiel dafür, dass man den Raum als ein geometrisches System auffasst, und die Konzentration auf Straßen oder Wege ist ein Beispiel dafür, dass man den Raum im Rahmen eines anderen Systems, in diesem Fall eines Transportsystems betrachtet.17 Man könnte einwenden, dass diese Ergebnisse vielleicht eher auf ein schlechteres visuelles Gedächtnis der Frauen und nicht auf ein schlechteres Systemverständnis schließen lassen. Tatsächlich

schneiden Frauen bei einem bestimmten Aspekt des visuell-räumlichen Gedächtnisses, nämlich beim Erinnerungsvermögen für die relative Position von Gegenständen, besser ab als Männer. Das wird folgendermaßen getestet: Man zeigt den Versuchspersonen jeweils eine Minute lang mehrere Objekte und gibt ihnen dann zwei Blätter mit abgebildeten Gegenständen. Auf dem ersten Blatt sind alle Gegenstände wiedergegeben, die man ihnen zuvor gezeigt hat, sowie einige zusätzliche Objekte. Die Testperson wird gebeten, die Gegenstände zu nennen, die man ihr soeben gezeigt hat. Auf dem zweiten Blatt sind alle zuvor gezeigten Gegenstände abgebildet, aber bei einigen hat man die Position verändert. Die Testperson soll in diesem Fall diejenigen Objekte angeben, die verschoben wurden. Frauen schneiden bei beiden Aufgaben besser ab als Männer. Und wenn man Testpersonen auffordert, wie beim Memory-Spiel zwei Karten umzudrehen, um passende Paare zu finden, die dann aus dem Spiel entfernt werden, gelingt es Frauen nach weniger Versuchen, alle passenden Paare zu finden. Frauen erinnern auch mehr Einzelheiten über Landmarken und Straßennamen von Landkarten. Ihr Gedächtnis für die wichtigen Elemente funktioniert also offenkundig völlig einwandfrei. Schwächer ausgeprägt als bei Männern ist ihre spontane Erinnerung an systematische Merkmale von Landkarten (z.B. an geometrische Aspekte oder Netzwerk-Elemente).18 In einer anderen Studie legte man den Testpersonen eine Karte einer unbekannten (erfundenen) Stadt vor. Anschließend testete man ihre Fähigkeit, sich eine Route innerhalb dieser fiktiven Stadt einzuprägen. Die Ergebnisse zeigten, dass Männer sich den Weg schneller einprägten (sie brauchten weniger Zeit und weniger Versuche) und weniger Fehler machten. Bei den Frauen zeigte sich abermals die Neigung, eine größere Anzahl einzelner Erkennungszeichen im Gedächtnis zu behalten, während Männer ein besseres Richtungsverständnis an den Tag legten. Andere Studien sind zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Wenn man zum Beispiel Kinder (jünger als acht Jahre) in ein fremdes Gelände bringt, ihnen eine Karte davon aushändigt und sie später auffordert, durch eigene Zeichnungen eine Karte des Gebietes anzufertigen, fügen die

Mädchen mehr einzelne Erkennungszeichen in ihre Darstellung ein, während die Jungen mehr Wege (Straßen u.Ä.) aufzeichnen. Wiederholt man das Experiment mit einer zweiten Kindergruppe, der man diesmal nur die halbe Karte aushändigt und die man bei ihrer Wanderung durch das Gelände unterbricht (um den Test etwas schwieriger zu gestalten), liefern die Jungen immer noch die besseren Karten. Die beiden Geschlechter scheinen sehr unterschiedlich an die Aufgabe heranzugehen. Das männliche Gehirn setzt die Merkmale in ein geometrisches oder netzwerkartiges System. Das weibliche Gehirn kennzeichnet die Merkmale deskriptiv. Konkreter ausgedrückt heißt das: Wenn man Ihnen einen Weg von A über B nach C zeigt und Sie in Systemen denken, kommen Sie möglicherweise zu dem Schluss, dass es schneller (und kürzer) ist, wenn Sie von C direkt zurück nach A gehen und sich den Weg über B sparen. Dazu müssten Sie sich die Kompassrichtungen vorstellen, aus denen das System besteht. Wenn C nordöstlich von A liegt, dann muss A südwestlich von C liegen. Wenn Sie nicht in Systemen denken und sich einfach an die Kennzeichen-Methode halten, wie kommen Sie dann wieder von C nach A? In diesem Fall müssten Sie den Weg via B nehmen, weil es das wichtigste Erkennungszeichen auf dem Weg von A nach C war (z. B. »Biegen Sie in B links ab«). Das sind eindeutig zwei sehr unterschiedliche Strategien, und die erste erweist sich als wesentlich effektiver.19

Die Entwicklung und Nachahmung eines Systems Das kindliche Spiel mit Lego ist ein weiteres gutes Beispiel, weil Lego-Steine in einer unendlichen Anzahl von Systemen kombiniert werden können. In diesem Fall gehört zum System nicht nur die Planung und Konstruktion von Gebäuden oder Objekten, sondern auch ein gewisses Verständnis dafür, welche Elemente als Unterstützung für andere Elemente dienen. Und wie die Spielzeugindustrie weiß, sind Jungen ganz begeistert von dieser Art von Spiel. Schon mit drei Jahren können Jungen dreidimensionale Modelle von übergroßen Legoteilen schneller nachbauen als

Mädchen. Und ältere Jungen ab neun Jahre können sich besser vorstellen, wie ein dreidimensionales Objekt aussehen wird, wenn man es flach auslegt. Sie schneiden auch besser ab als Mädchen, wenn man ihnen die Aufgabe stellt, eine dreidimensionale Struktur nachzubauen, von der sie nur eine Luftaufnahme und ein Bild der Vorderseite gesehen haben. Diese Beispiele für eine männliche Überlegenheit beim Systematisieren finden sich in allen Altersstufen.20

Das Systematisieren von beweglichen Objekten: Darts und Ballspiele In Kapitel 1 wurde eine weitere Systemgruppe erwähnt - die Bewegungssysteme. Zu dieser Art von Systemen kann gehören, dass man seinen Schlag beim Golf oder seine Technik beim Squash perfektionieren möchte oder bestrebt ist, die Finger schneller zu bewegen, wenn man ein Musikinstrument spielt oder einen Drachen steigen lässt. Wenn man die physikalischen Gesetzmäßigkeiten eines Systems versteht, wird der Ball genau dort landen, wo man ihn haben möchte (in jenem kleinen Bereich in der Ecke des Squashplatzes, wo er unerreichbar für den Gegner ist). Oder der Drachen dreht eine prächtige Acht, weil man eine leichte, gekonnte Bewegung aus dem Handgelenk macht. Gibt es Hinweise darauf, dass Männer bei dieser Art von Systemen besser abschneiden? Wenn man Versuchspersonen bittet, bewegliche Objekte auf ein Ziel zu werfen wie etwa beim Darts, zeigen Männer höhere Treffsicherheit. Auch wenn es darum geht, die von einer Ballmaschine abgeschossenen Bälle abzufangen, schneiden Männer im Allgemeinen besser ab. Männer können im Durchschnitt auch besser beurteilen, welches von zwei beweglichen Objekten schneller vorankommt. Sie können auch besser einschätzen, ob sie von einem Objekt, das sich auf sie zubewegt, getroffen werden oder nicht. In einer Studie konnte man das Objekt nur sehen, nicht hören, und die Aufgabe bestand darin vorherzusagen, wann das Objekt ankommen würde. Eine ähnliche Studie, bei der man die Objekte nur hören konnte, ergab ebenfalls eine männliche Überlegenheit

bei der Einschätzung der Geschwindigkeit. Das ist wahrscheinlich Systematisieren par excellence: Der Systematiker analysiert den Zusammenhang von auditivem Input und Geschwindigkeit.21 Könnte all dies nicht einfach auf einen männlichen Vorsprung bei den motorischen Fähigkeiten zurückzuführen sein? Diese Erklärung hält nicht stand, weil Frauen bei Aufgaben, die kein Systematisieren erfordern, wie etwa Tests der feinmotorischen Präzision, besser abschneiden als Männer. Zu diesen Aufgaben gehört zum Beispiel ein Test, bei dem man so schnell wie möglich Holzstifte in Löcher stecken muss (Purdue Peg Board Test).22 Klassifikations- und Ordnungssysteme Wie steht es mit Ordnungssystemen? In einem ungewöhnlichen Experiment mit den Aguaruna, einem Stamm, der im Waldgebiet des nördlichen Peru lebt, wurden Testpersonen aufgefordert, 100 oder mehr Tiere ihres Lebensraums in Gruppen von verwandten Spezies zu ordnen. Die Studie kam zu folgenden Ergebnissen: Die Klassifikationssysteme der Männer umfassten eine größere Zahl von Unterkategorien (d. h. größere Differenzierung) und waren in sich konsequenter. Noch bemerkenswerter war, dass die Kriterien, nach denen die Aguaruna-Männer die Tiere einordneten, den taxonomischen Kriterien ähnelten, die von westlichen (größtenteils männlichen) Biologen verwendet werden. In einem weiteren Versuch untersuchte man die Itza-Maya in Guatemala. Auch hier benutzten die Männer wie bei der peruanischen Stichprobe komplexere Kriterien für die Klassifikation lokaler Tierarten. Frauen stützten sich eher auf »statische« morphologische Merkmale (wie die Farbe oder Form des Tierkörpers). Männer neigten eher dazu, ein Schema ähnlicher Merkmale (wie Lebensraum und Ernährung der Tiere oder auch ihre Beziehung zum Menschen) zu benutzen.23 Sie werden sich aus Kapitel 1 erinnern, dass Alex von klein auf ein passionierter Sammler war. Studien über kindliche Rituale untermauern die These, dass Jungen mehr Spaß am Sammeln haben und sich stärker für die feinen Unterschiede zwischen ihren Sammlerstücken interessieren. Nick Hornby gibt ein interessantes

Beispiel männlichen Denkens in seinem Roman Ballfieber, in dem der männliche Protagonist wie besessen alles sammelt, was mit »seinem« Fußballverein zusammenhängt. Er kennt nicht nur alle Spieler seiner Mannschaft (Arsenal), sondern auch alle charakteristischen Merkmale wie die Anzahl der Tore, die jeder Spieler erzielt hat, und alle Spielergebnisse der letzten Jahre. Bei Sportbegeisterten laufen mehrere Systeme zusammen: ein Ordnungssystem (die Klassifizierung von Spielern oder Teams), ein regelorientiertes System (die Spielregeln), ein Bewegungssystem (die Techniken, die den Fähigkeiten zu Grunde liegen) und ein statistisches System (Informationen über Tabellen u.Ä.). Vier Arten von Systemen laufen also bei einem Thema (Sport) zusammen. Kein Wunder, dass Männer ganz vernarrt in Sport sind, wenn sie Spaß am Systematisieren haben. Meine jüngsten Erfahrungen bei einem Baseball-Spiel in Toronto haben mich überzeugt, dass das Sammeln von trivialen Informationen über die Spieler einer Mannschaft nicht nur eine Marotte der fußballverrückten Engländer ist Auch beim Baseball kennen sich die Fans ganz genau in allen möglichen faszinierenden und veränderlichen Statistiken aus und können zum Beispiel genaue Auskunft über den ERA (Earned Run Average) des Pitchers oder den RBI (Runs batted In) der Spieler geben. In Nick Hornbys zweitem Roman High Fidelity ist der männliche Protagonist besessen von seiner Plattensammlung und arbeitet in einem Secondhand-Musikladen, wo er sich um die (fast ausschließlich männlichen) Kunden kümmert, die nach einem fehlenden Stück in ihrer Sammlung suchen. Seine Freizeit verbringt der Held hauptsächlich damit, sich seine Lieblingslieder anzuhören und seine eigene Sammlung von Aufnahmen zusammenzustellen, indem er eine eigene Liste von Songs aufstellt und nach Typen ordnet (die 10 besten Blues-Songs, die 10 besten JazzSongs, die 10 besten Irish Folk-Songs etc.). Dieses Interesse am Ordnen und Klassifizieren erfordert ein systematisches Vorgehen, weil man mit einer riesigen Masse an Input konfrontiert wird (z.B. Hunde, Spieler, Songs) und eigene Kategorien erstellen muss (um das Verhalten der einzelnen Hunde oder Spieler vorhersagbar zu machen). Die Kategorien sind also nicht

einfach eine Methode, mit der man Informationen in Listen ordnet. Sie sind weit mehr. Sie verarbeiten Input und führen zu Vorhersagen (Output). Je differenzierter die Kategorien sind, desto besser wird das Vorhersagesystem funktionieren. Wenn man weiß, dass es sich beim »Haliaeetus albicilla« nicht nur um einen Adler, sondern um den Eurasischen Seeadler handelt, kann man dessen Lebensraum, seine Beute und sein Verhalten präziser vorhersagen. Wenn man weiß, dass die eine Schlange giftig ist und die andere nicht, kann man bei dem richtigen Reptil mit Furcht reagieren. Wenn man weiß, dass dieser Pitcher eine höhere Trefferquote hat als alle anderen, kann man vorhersagen, welches Team die besseren Aussichten auf den Sieg hat. Wenn man weiß, dass es sich bei diesem Musiker um einen tschechischen Rocksänger aus den Siebzigerjahren handelt, kann man vorhersagen, in welchem Bereich des Musikladens sein Album zu finden sein wird. Die beste Ornithologin der Welt war laut Guinness-Buch der Rekorde die Amerikanerin Phoebe Snetsinger. Das scheint im Widerspruch zu der These zu stehen, dass Männer eher zum Sammeln und zum Zusammenstellen von Listen neigen als Frauen. Phoebe Snetsinger war offenkundig die berühmte Ausnahme von der Regel. Die meisten Ornithologen ebenso wie die meisten Menschen, die als Hobby die Nummern von Lokomotiven sammeln oder Flugzeuge beobachten, sind Männer. Die Ornithologin Cath Jeffs, Projektleiterin bei der Royal Society for the Protection of Birds (Vogelschutz-Organisation), erklärte in einem Interview mit der Zeitung Guardian: Die Ornithologie ist nach wie vor stark von Männern geprägt es geht darum, Informationen zu sammeln und sie wie besessen in Listen einzutragen. Frauen können einfach nicht diese Leidenschaft für Listen entwickeln wie Männer, oder? ... Manchmal ist es ziemlich stressig mit diesen ganzen Männern. Wenn ein bestimmter Vögel auftauchen soll und die Sache nicht klappt, kann eine sehr angespannte Situation entstehen. Nicht selten bricht dann eine Schlägerei aus, normalerweise weil jemand ein Geräusch macht und eine wirklich seltene Spezies

verscheucht, bevor irgendjemand Gelegenheit hatte, ihren Gesang aufzunehmen.24 Der Systematisierungs-Quotient (SQ) Im vorliegenden Kapitel hat sich ein Muster herauskristallisiert: Männer fühlen sich offenbar stärker zu verschiedenen Aspekten des Systematisierens hingezogen - Maschinen, Mathematik, Landkarten, Ornithologie oder Sport-Tabellen, um nur einige Bereiche zu nennen. Um all diese scheinbar unterschiedlichen Arten des Systematisierens zusammenzufassen, haben wir den Systematisierungs-Quotienten (SQ) entwickelt. Beim SQ erhält der Einzelne eine Gesamtpunktezahl, die darauf basiert, wie stark sein Bedürfnis ist, jeden dieser Bereiche in ein System zu bringen. Es wird Sie wahrscheinlich nicht überraschen, dass Männer beim SQ eine erheblich höhere Punktzahl erzielen als Frauen (siehe Anhang 3).25 Frauen

Männer

Prozentsatz der Bevölkerung

Niedrig

Hoch

Abbildung 7: Ergebnisse von Männern und Frauen beim Systematisieren

Säuglinge: Der ultimative Test Bevor wir diesen Teil unserer Untersuchung - also die Erkundung des Systematisierens - abschließen, sollten wir noch einmal kurz überlegen, wie früh sich geschlechtsspezifische Unterschiede in diesem Bereich zeigen. Nach den Ergebnissen der in Kapitel 4 beschriebenen Cambridge-Studie, bei der Neugeborene im Alter von einem Tag gefilmt wurden, schauten kleine Jungen länger auf ein mechanisches Mobüe (ein System mit vorhersagbaren Bewegungsgesetzen) als auf ein menschliches Gesicht (ein Objekt, das fast unmöglich zu systematisieren ist). Schon am ersten Lebenstag findet sich also ein Hinweis auf ein Phänomen, das in der späteren Entwicklung immer deutlicher zu Tage tritt. Von Geburt an wird die Aufmerksamkeit der Jungen stärker von einem nicht-personalen System angezogen, während die Aufmerksamkeit der Mädchen stärker von einem Gesicht angezogen wird.26 Im Alter von einem Jähr schauten sich kleine Jungen viel lieber einen Videofilm über vorbeifahrende Autos an (vorhersagbare mechanische Systeme) als einen Film mit »sprechenden Köpfen« (bei abgedrehtem Ton). Bei kleinen Mädchen verhielt es sich genau umgekehrt.27 Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede bestehen also bereits sehr früh im Leben. Die Kinder hatten kaum Gelegenheit, prägende Sozialisations- und andere Erfahrungen zu sammeln, die diese Unterschiede erklären könnten. Natürlich wissen wir, dass die Sozialisation und kulturelle Einflüsse in der weiteren Entwicklung sehr wohl eine Rolle spielen und mitbestimmen, ob sich ein Gehirn vom männlichen Typ (stärkeres Interesse an Systemen) oder ein Gehirn vom weiblichen Typ (stärkeres Interesse an Empathie) herausbildet. Doch die vorliegenden Säuglingsstudien deuten darauf hin, dass die Biologie dabei ebenfalls ihre Hand im Spiel hat. Wir haben die Frage der Kausalität lange genug aufgeschoben. An diesem Punkt unserer Untersuchung müssen wir den sicheren Pfad der Verhaltensunterschiede verlassen und uns auf gefahrliches Terrain begeben, um uns direkt mit den Ursachen dieser geschlechtsspezifischen Unterschiede auseinander zu setzen.

17 Kultur

Was könnten die Ursachen für die überlegene Empathiefahigkeit des weiblichen Gehirns (Kapitel 4) und die überlegene Systematisierungsfähigkeit des männlichen Gehirns (Kapitel 6) sein? Die meisten Theorien führen diese Unterschiede zwischen Männern und Frauen auf eine Mischung aus kulturellen und biologischen Faktoren zurück. Es gibt natürlich auch einige extreme Ansätze, die sämtliche Unterschiede ausschließlich mit einer dieser Faktorengruppen zu erklären suchen. Ob diese extremen Theorien zutreffen, ist dabei von gewisser Relevanz, denn es hätte zur Folge, dass die andere Faktorengruppe als Erklärung nicht mehr in Frage käme. Wie in Kapitel 1 erörtert, wäre es in politischer Hinsicht reizvoll, wenn die kulturelle Theorie zuträfe. Wenn tatsächlich kulturelle Faktoren (wie unterschiedliche Erziehungsstile, die Medien, die Spielzeugindustrie oder Sexismus im Bildungssystem oder am Arbeitsplatz) zu einer unterschiedlichen Entwicklung von Jungen und Mädchen führten, würde das zumindest implizieren, dass man versuchen könnte, diese Unterschiede durch gesellschaftliche Reformen oder neue Erziehungsprogramme zu beseitigen. Also, wie überzeugend ist die kulturelle Theorie?

Kulturelle Klischees und Vorurteile Wenn Sie einen Videofilm sehen, in dem ein aufgeregtes Kind vorkommt, und man Ihnen sagt, dass es sich um einen Jungen handelt, werden Sie seine Gefühle mit großer Wahrscheinlichkeit für Ärger halten. Wenn man Ihnen dagegen sagt, dass es sich bei dem Kind um ein Mädchen handelt, werden Sie demselben Kind eher eine Empfindung wie Furcht zuschreiben. Das ist ein Beispiel für die Art von Versuchen, die als »Baby-X-Experimente« bekannt geworden sind.

Eine Schlussfolgerung kann man aus diesen Versuchen ziehen: Offenbar können wir nicht sehr gut beurteilen, ob ein kleines Kind männlichen oder weiblichen Geschlechts ist. Doch das ist nicht das Entscheidende. Außerdem erkennen wir das Geschlecht zunehmend besser, je älter die wahrgenommene Person ist. Die wirklich wichtige Erkenntnis ist jedoch, dass wir zwar überzeugt sind, andere Menschen auf objektive und unvoreingenommene Weise wahrzunehmen, unbewusst jedoch einige sexistische Vorurteile mit uns herumtragen. Diese Vorurteile hängen vermutlich mit den Klischees zusammen, die in der Gesellschaft über Männer und Frauen herrschen, oder einfach mit Assoziationen, die wir im Hinblick auf die beiden Geschlechter entwickelt haben. Unabhängig von ihrem Ursprung können uns diese Vorurteile zu völlig unterschiedlichen Verhaltensweisen gegenüber einer Person veranlassen, je nachdem welchem Geschlecht unser Gegenüber vermeintlich angehört. Das könnte zum einen bedeuten, dass die in Kapitel 4 und 6 behandelten psychischen Unterschiede zwischen Mann und Frau einfach das Ergebnis der geschlechtsspezifischen Erwartungen sind, mit denen die Erwachsenen dem Kind während seiner gesamten Entwicklung begegnen. Ich werde diese These gleich überprüfen und das Thema Erziehung ausführlicher behandeln. Die zweite Implikation ist, dass geschlechtsspezifische Unterschiede möglicherweise aus den subjektiven Vorurteilen resultieren, mit denen die Wissenschaftler an die von ihnen geleiteten Experimente herangehen. Deshalb muss man bei allen Studien in diesem Bereich unbedingt versuchen, »blind« für das Geschlecht der Versuchspersonen zu bleiben. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. In der CambridgeStudie über Neugeborene bemühten sich die Beobachter nach Kräften, nicht auf das Geschlecht der Babys zu achten. Sie baten die Mütter, die einer Teilnahme an der Studie während ihres Krankenhausaufenthalts zugestimmt hatten, nichts über das Geschlecht ihrer 24 Stunden alten Säuglinge zu verraten. So wollten die Forscher vermeiden, dass sie sich unbewusst von dieser Information beeinflussen ließen, wenn sie die Babys filmten oder Tests durchführten. Die Mütter erklärten sich damit einverstan-

den, die Information zurückzuhalten, bis die Filmaufnahmen und die Datenaufzeichnungen abgeschlossen waren. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle klappte es mit der Geheimhaltung. In einigen wenigen Fällen war es schwer, völlig ahnungslos zu bleiben, weil am Bett der Mutter Karten mit Sprüchen wie »Glückwunsch zum Stammhalter!« standen oder weü das Baby in rosa oder blauen Stramplern oder Wolldecken steckte. Trotzdem sorgten die Wissenschaftler dafür, dass sie nur das Gesicht des Babys filmten, als sie ihm die beiden Objekte (Mobüe und Gesicht) zeigten und dokumentierten, wohin sein Blick wanderte. Bei der späteren Analyse der Videobänder war schließlich keiner der potenziellen Hinweise (wie etwa die Farbe der Babykleidung) sichtbar, sodass völlig offen blieb, ob man das Gesicht eines männlichen oder weiblichen Babys betrachtete. Dennoch stellte man den geschlechtsspezifischen Unterschied bei der bevorzugten Blickrichtung fest. Der Einfluss kultureller Klischees kann das Ergebnis dieses Experiments nicht erklären. 1 Die Baby-X-Experimente haben nicht durchweg zu übereinstimmenden Ergebnissen geführt, doch nehmen wir einmal an, es stimmt, dass unsere Erwartungen Einfluss darauf haben, wie wir mit Jungen und Mädchen umgehen oder welche Chancen wir ihnen einräumen. Trotz des Einflusses solcher Vorurteile gibt es doch eine Reihe gut kontrollierter Studien, die darauf hindeuten, dass dies nicht notwendigerweise die einzige Ursache für beobachtete geschlechtsspezifische Verhaltensunterschiede ist. 2

Erziehungsstil Könnten Unterschiede im elterlichen Verhalten gegenüber Jungen und Mädchen die beobachteten geschlechtsspezifischen Unterschiede erklären? Hat es etwas damit zu tun, dass Mütter die primären Fürsorgepersonen sind? Das ist eine berechtigte Überlegung, weil Kinder in allen erforschten Gesellschaften (im Durchschnitt) mehr Zeit mit der Mutter als mit dem Vater verbringen. In einigen Kulturen (wie der kenianischen oder japanischen) sind Kinder etwa drei Mal so lange mit ihren Müttern zusammen

wie mit ihren Vätern, in anderen Kulturen (wie der indischen) etwa zehn Mal so lange. Tun Mütter etwas, durch das kleine Mädchen ein größeres Einfühlungsvermögen und kleine Jungen ein größeres Systematisierungsvermögen entwickeln? Oder liegt die Schuld bei den Vätern? Sind sie es, die ihre Söhne und Töchter unterschiedlich behandeln?3 Gegenüber kleinen Jungen setzen Eltern eindeutig mehr Strafen, Verbote und machtbetonte Formen der Kontrolle ein. Verglichen mit den Töchtern bekommen die Söhne häufiger zu hören, was sie nicht tun dürfen und was geschehen wird, falls sie gegen die Anordnungen verstoßen. Die folgenden Beispiele kommen Ihnen vielleicht bekannt vor: »Komm sofort wieder her, Alex!« »Hör auf damit, Alex.« »Lass das, Alex!« »Nein! Das hab ich dir schon mal gesagt!« »Tu jetzt, was ich dir sage, oder du kriegst Ärger!« »Alex, wenn du das noch einmal machst, darfst du eine Woche lang nicht mehr mit dem ferngesteuerten Jeep spielen!«

Natürlich wird auch mit Mädchen in diesem ermahnenden Ton gesprochen, aber es ist interessant, dass dieser Sprechstil in den meisten Kulturen häufiger gegenüber Jungen eingesetzt wird. Ist das ein Hinweis auf eine geschlechtsspezifische Typisierung, d.h. auf eine rein gesellschaftlich bedingte unterschiedliche Behandlung von Jungen und Mädchen? Wenn ja, was denken sich die Eltern dabei? Einer Auffassung zufolge hegen sie insgeheim die Vorstellung, dass Jungen irgendwie wilder oder risikofreudiger sind und deshalb stärker eingeschränkt werden müssen. Werden Jungen solchen unterschwelligen Annahmen gerecht? Ermutigen Eltern ihre Söhne unbewusst dazu, mehr Risiken einzugehen und sich über Grenzen hinwegzusetzen, und stellen dann fest, dass sie ihr Kind häufiger zurückpfeifen müssen, weil es zu weit gegangen ist? Es gibt natürlich auch eine gegenteilige Auffassung: Vielleicht können Jungen sich schlechter in andere einfühlen als Mädchen, was dazu führt, dass sie in sozialer Hinsicht weniger anpassungsfähig sind

und Hinweise auf Grenzverletzungen übersehen, sodass man sie deshalb häufiger zur Ordnung rufen muss. Für beide Auffassungen kann man Belege beibringen. So wurden in einer bemerkenswerten Studie zum Beispiel Väter gefilmt, die mit ihren einjährigen Kindern im Wartezimmer eines Arztes saßen - ein gutes Ambiente für ein Experiment in der Alltagssituation. Die Forscher fanden bestätigt, was schon in früheren Studien festgestellt wurde, dass nämlich Väter ihre Söhne doppelt so oft ausschimpften wie ihre Töchter. Doch das hatte seine Gründe: Die Jungen fassten mit Vorliebe alles an, was sie nicht anfassen durften. Die Mädchen schienen dagegen subtile Hinweise zu verstehen, wie etwa einen leicht missbilligenden Blick des Vaters. Diese Art von sozialer Bezugnahme (etwa ein Blick in das Gesicht des Vaters, um herauszufinden, was erlaubt und was verboten ist) reichte bei den Mädchen häufig aus, damit sie verstanden, ob ihr Verhalten auf Billigung oder Ablehnung stieß. Sehr viele subtile Signale können vom Gesicht des Elternteils ausgehen. So zieht der Vater vielleicht die Augenbraue kaum merklich hoch oder wirft dem Kind einen kurzen strengen Blick zu, wenn es sich weiter entfernt als erlaubt oder einen verbotenen Gegenstand in seinen Besitz bringen will. Vielleicht spitzt er auch ein ganz klein wenig den Mund (zu einem lautlosen »sch«), um dem Kind zu signalisieren, dass es etwas leiser krähen soll. Während sich Mädchen häufiger dieser Signale vergewissern und sie auch besser entschlüsseln können, bekommen die Jungen diese Signale häufig gar nicht mit. Das könnte daran liegen, dass sie weniger darauf achten oder dass sie die Hinweise zwar bemerken, aber falsch deuten. Die Jungen in dieser Studie schienen die Botschaften über einzuhaltende Grenzen des Verhaltens nur zu verstehen, wenn die Missbilligung nachdrücklich und verbal zum Ausdruck gebracht wurde. Doch das ist noch kein Beweis dafür, dass Jungen von Natur aus weniger empathisch sind als Mädchen. Es geht in diesem Buch um wesentliche Unterschiede im Denken von Mann und Frau, doch vielleicht spiegeln die beobachteten Unterschiede im Einfühlungsvermögen nichts »Wesentliches« wider. Einiges spricht dafür, dass wir kleine Jungen dazu ermuntern, unabhängiger und weniger

gefühlsbetont zu sein, indem wir ihnen Botschaften vermitteln wie: »So ein tapferer kleiner Mann!« »Du bist ja schon ein richtig großer Junge!« »Mensch, bist du aber stark! Schau sich einer diese Muskeln an!« »Wer so groß und mutig ist, kann doch bestimmt noch ein bisschen höher klettern!« »Hör auf zu heulen! Jungen weinen nicht!« »Sei nicht so kindisch! Keiner von den anderen Jungen ist so ein Klammeraffe. Ich muss jetzt los.«

Eltern verwenden derartige Formulierungen häufiger gegenüber Söhnen. Insbesondere Väter haben oft wenig Verständnis dafür, wenn ihre Söhne emotional abhängig wirken. Solche Ergebnisse lassen sich natürlich unterschiedlich auslegen. Eltern halten ihre Söhne vielleicht bewusst oder unbewusst davon ab, Gefühle zu zeigen, und bringen ihnen damit ein geschlechtsspezifisches Rollenverhalten bei. Oder sie reagieren toleranter, wenn die Tochter sich emotional abhängig und klammernd verhält, während sie ein solches Verhalten beim Sohn nicht dulden. Vielleicht beschreiben sie sich selbst gegenüber ihren Söhnen auch als besonders unabhängig und abenteuerlustig, während sie gegenüber ihren Töchtern mit solchen Selbstdarstellungen zurückhaltender sind. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit wäre, dass Mädchen über mehr Selbstbeherrschung verfügen (dafür liefert das nächste Kapitel einige Anhaltspunkte). Man muss sie also nicht so häufig ermahnen, ihre Gefühlsausbrüche unter Kontrolle zu halten oder ihre spontanen Bedürfnisse zu zügeln. Die Jungen werden folglich nach Maßstäben beurteilt, die von den Mädchen gesetzt werden, und bekommen deshalb öfter zu hören, dass sie nicht weinen oder nicht immer alles anfassen sollen. Dieser Unterschied im elterlichen Verhalten gegenüber Jungen und Mädchen könnte demnach tatsächlich durch einen wesentlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern ausgelöst werden. Zusammenfassend kann man sagen, dass man das abweichende Verhalten der Eltern entweder als Ursache der beobachteten

I

Verhaltensunterschiede bei Kindern oder als Folge davon betrachten kann. 4 Es liegen einige Hinweise dafür vor, dass Eltern ihre Kinder unterschiedlich behandeln, wenn es ums Raufen und Toben geht. Demnach bieten sie den Jungen mehr Möglichkeiten zum ausgelassenen Spiel und zu körperlichen Aktivitäten als den Mädchen. Systematische Studien offenbaren allerdings generell mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede im Umgang mit den beiden Geschlechtern. So unterscheiden Eltern sich zum Beispiel nicht in ihrem Verhalten gegenüber Söhnen und Töchtern, wenn es um Wärme, Empfänglichkeit, Kommunikation oder Verbote geht. Sie geben auch beiden das gleiche Maß an Ansporn und Ermutigung. Das spricht dafür, dass die geschlechtsspezifische lypisierung nicht so stark ist, wie man vermuten könnte. Es gibt sogar einige Hinweise darauf, dass Eltern - wenn überhaupt - mehr Energie aufwenden, um das Einfühlungsvermögen ihrer Söhne zu fördern. Mütter, die den Gesichtsausdruck ihres Kindes nachahmen, widmen dieser Betätigung zum Beispiel mehr Zeit, wenn es sich bei dem Säugling um einen Jungen handelt. Solche Ergebnisse lassen sich nur schwer damit in Einklang bringen, dass größeres Einfühlungsvermögen bei Mädchen eine Folge elterlicher Verhaltensweisen sein soll.5 Allerdings verwenden Mütter im Gespräch mit ihren Töchtern mehr gefühlsmäßige Ausdrücke als im Gespräch mit ihren Söhnen. Es gibt auch Unterschiede in der Art der emotionalen Formulierungen, die Mütter verwenden, wenn sie mit ihren Söhnen oder Töchtern im Kleinkindalter reden - mit den Mädchen besprechen sie eher positive Gefühle, zum Beispiel: »Oh, das hast du für mich gemacht?! Das finde ich ganz lieb von dir.« »Vielleicht wollte sie nicht mit dir spielen, weil sie denkt, dass Sally jetzt deine beste Freundin ist?« »Vielleicht ist sie ein bisschen eifersüchtig. Du kannst sie ja am Wochenende mal einladen und ihr zeigen, dass du sie besonders gern magst.«

Auch wenn die Töchter etwas falsch gemacht haben, benutzen Mütter eine stärker »an anderen orientierte« Sprache, indem sie zum Beispiel sagen:

»Was glaubst du, wie ihr zu Mute gewesen ist?« »Stell dir vor, sie hätte plötzlich eine neue »beste FreundinMädchen< verspotten.« Oder denken Sie an die Spiel zeugindustrie, die das Kinderfernsehen mit ihren Werbespots beherrscht. Die Botschaften dieser Werbesendungen suggerieren eindeutig, dass jeder Junge ganz heiß auf »Action-Figureii« Ist und kein Mädchen ohne Barble-Puppe auskommt. Und wie die Spielzeugindustrie sehr wohl weiß, hat die Nörgelkraft von Kindern gewaltigen Einfluss auf das Kaufverhalten der Eltern (»Oh bitte, Papa, kaufst du mir das? Alle anderen in meiner Klasse haben es auch«). Welche Eltern können ihren Kindern schon auf Dauer den größten Wunsch abschlagen? Zudem wird der Einfluss von Eltern oder Medien noch um ein Vielfaches verstärkt, weil die älteren Geschwister oder die Kinder in der Peer-Group denselben Botschaften ausgesetzt sind. Das starke Bedürfnis, von der Gruppe akzeptiert zu werden und sich anzupassen, kann *u den Zwängen

gehören, die Kinder glauben machen, sie bräuchten unbedingt solche geschlechtstypischen Spielsachen. Das geschieht zweifellos sehr häufig, sobald ein Kind ins schulfähige Alter kommt und die Peer-Group mit Zeichen der Zustimmung oder Missbilligung auf seine Interessen reagiert. Gleichwohl ist die Vorstellung, dass solche sozialen Einflüsse ursächlich die Auswahl der Spielsachen bestimmen, nicht sehr wahrscheinlich, und zwar aus folgenden Gründen: Wenn man Zweijährige fragt: »Welche Spielsachen sind für Jungen?« und »Welche Spielsachen sind für Mädchen?«, kennen die Kinder die Klischees noch nicht. Sie wählen genauso häufig ein Spielzeugauto wie eine Puppe für einen Jungen oder für ein Mädchen. Dennoch zeigen sich bereits in diesem Alter die geschlechtstypischen Vorlieben beim eigenen Spielzeug. Das deutet darauf hin, dass die Präferenzen den Geschlechterstereotypen zeitlich vorausgehen. Da die Vorlieben zuerst da sind, können sie nicht durch die Klischees verursacht sein. Mit vier Jahren können einige Kinder außerdem schon recht gut zwischen ihren eigenen Präferenzen und denen anderer unterscheiden. Ein kleines Mädchen, das an einer Studie teilnahm und sich mit einem typischen »Jungenspielzeug« (einem Lastwagen) beschäftigen sollte, erklärte zum Beispiel: »Meine Mama will immer, dass ich mit sowas spiele, aber ich hab keine Lust dazu.« Das ist ein starkes Indiz dafür, dass die Wahl, die Kinder bei ihrem Spielzeug treffen, nicht einfach auf den Wünschen der Eltern beruht, sondern weitere Faktoren widerspiegelt.7

Nachahmung und Übung Könnten die geschlechtsspezifischen Präferenzen beim Spielzeug daraus resultieren, dass die Kinder gleichgeschlechtliche Spielkameraden oder Erwachsene imitieren? Die Nachahmung ist ohne Zweifel ein sehr wichtiger Faktor, sobald die Kinder ins schulfähige Alter kommen. Sogar in Kulturen, in denen es keine Schulen gibt, gehört zum Spiel älterer Kinder, dass sie in die Rollen des gleichgeschlechtlichen Elternteils schlüpfen. Doch dieser Hinweis

reicht nicht aus, um die Ursachen für die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Kleinkindalter zu erklären. Kinder im Vorschulalter ahmen nicht hauptsächlich gleichgeschlechtliche Rollenmodelle nach, sondern imitieren durchaus auch Angehörige des anderen Geschlechts. Die Nachahmung von Gleichaltrigen kann also nicht der relevante Faktor sein, der die frühen Präferenzen beim Spielzeug festlegt. Wie die Psychologin Eleanor Maccoby überzeugend ausführt, ist es zudem nicht auf die Nachahmung von erwachsenen Vorbildern zurückzuführen, wenn Kinder die Gesellschaft von gleichgeschlechtlichen Freunden vorziehen und dadurch mit den gleichen Spielsachen spielen wie diese. Erwachsene stehen nämlich im Grunde ständig in Kontakt mit dem anderen Geschlecht und fördern solche Interaktionen auch bei ihren Kindern. Es spricht auch nichts dafür, dass Eltern ihre Kinder dazu anhalten, Angehörige des anderen Geschlechts zu meiden. Doch genau das tun Kinder.8 Wie steht es mit der nahe liegenden Erklärung, dass Kinder wenn nicht durch Nachahmung, so doch durch Übung ein unterschiedliches Verhalten erlernen? Nehmen wir die männliche Überlegenheit bei den motorischen Fähigkeiten (zum Beispiel, dass sie Ziele besser treffen). Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass Übung den Meister macht und Jungen einfach mehr Erfahrung mit solchen Spielen wie Darts und anderen männertypischen Sportarten sammeln. Die größere Übung kann vielleicht teilweise erklären, warum die Fähigkeiten mit zunehmendem Alter stärker voneinander abweichen. Problematisch an dieser Auffassung ist jedoch, dass sich die männliche Überlegenheit bei der Wurf sicherheit auch schon bei Kindern im Alter von nur zwei Jahren zeigt. In diesem Alter können wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die Kinder wenig Gelegenheit zu ausgedehnter Übung hatten. Trotzdem waren die zweijährigen Jungen den Mädchen eindeutig überlegen. In höheren Altersstufen findet man diese Unterschiede sogar, wenn der Versuchsleiter Informationen über die individuelle »Sportgeschichte« sammelt und durch entsprechende Kontrollen berücksichtigt.9

Geschlechterrollen Eine weitere Erklärung für Unterschiede zwischen den Geschlechtern bietet die Theorie der »Geschlechterrollen« und des sozialen Geschlechts. Dieser Ansatz besagt, dass wir unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen vom sozialen Geschlecht haben. So gelten Frauen beispielsweise als »gemeinschaftsorientierter« (selbstloser, stärker an anderen interessiert), während Männer eher als »handlungsorientiert« angesehen werden (eher ausgerichtet auf Selbstbehauptung und das Bedürfnis, Dinge zu beherrschen). Diese Ansichten über das soziale Geschlecht resultieren angeblich aus den unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Rollen von Mann und Frau. Die stärkere Einbindung der Frau in die Familienarbeit und Kinderbetreuung fördert ihre gemeinschaftsorientierte Ausrichtung, während die stärkere Einbindung des Mannes in die bezahlte Arbeit seine Tendenz zur Selbstbehauptung fördert. Es Hegen zweifellos zahlreiche Beweise für die Existenz dieser Geschlechterrollen vor. Vor die Wahl gestellt würden sich zum Beispiel mehr Männer für »dominanzorientierte« Berufe entscheiden (d. h. für Tätigkeiten, bei denen soziale Hierarchien und die Macht über andere im Vordergrund stehen). Frauen entscheiden sich eher für das Gegenteil, also für »dominanzabschwächende« Tätigkeiten (d.h. sie arbeiten lieber im Team mit gleichberechtigten Partnern und/oder mit benachteiligten Personen).10 Vielleicht hegen wir bestimmte Überzeugungen bezüglich der Geschlechterrollen (zum Beispiel, dass Männer ein stärkeres Bedürfnis haben, alles zu kontrollieren oder zu beherrschen), doch woher rühren diese Überzeugungen? Die Systematisierungs-Theorie würde argumentieren, dass Männer im Allgemeinen bestrebt sind, ein System so gut wie möglich zu begreifen, ganz gleich, ob es darum geht, eine physische Technik zu meistern oder ein neues Computersystem zu beherrschen. Doch die Ursachen dafür liegen nach wie vor im Dunkel. Wie kann man überprüfen, ob die erkennbaren geschlechtsspezifischen Unterschiede (in Verhaltensweisen, Gefühlen, Interessen und Fertigkeiten) durch unsere Rollenerwartungen verur-

sacht werden oder ob sie evolutionsbedingt im Darwinschen Sinne sind? Nach Ansicht des Darwinanhängers David Geary sind mehr Männer als Frauen handlungsorientiert, weil ihr Fortpflanzungserfolg davon abhängt, ob sie sich in der sozialen Hierarchie behaupten. Wenn die Theorie von den Geschlechterrollen als hinlängliche Erklärung dienen soll, müsste sie solche evolutionsbezogenen Faktoren widerlegen. Dieser Nachweis steht bislang aus. Tatsächlich stößt die Theorie der Geschlechterrollen recht schnell auf konkrete Probleme. Sie kann beispielsweise nicht erklären, wie es zu den auffälligen Ähnlichkeiten zwischen sehr unterschiedlichen Gesellschaften kommt, die so gut wie keinen kulturellen Kontakt miteinander hatten. So ist das Herstellen von Waffen (ein klares Beispiel für eine Systematisierungsfähigkeit) in 121 von 122 untersuchten Gesellschaften eine ausschließlich von Männern ausgeübte Tätigkeit. (Auch in der einen Gesellschaft, die von der Regel abweicht, liegt die Waffenherstellung nicht ausschließlich in den Händen der Frauen, sondern wird von Männern und Frauen gemeinsam durchgeführt.) Das kann kein reiner Zufall sein.11 Zusammenfassend kann man sagen, dass die kulturelle Theorie durch einige Nachweise gestützt wird. Dazu gehört ohne Zweifel die unterschiedliche Sprechweise, die Eltern gegenüber Söhnen und Töchtern an den Tag legen und die durchaus zu den beobachteten Unterschieden in der Entwicklung der Empathie beitragen könnte. Gleichwohl zeigen sich einige geschlechtsspezifische Unterschiede so früh (z.B. kurz nach der Geburt), dass schwer nachvollziehbar ist, dass die Kultur die einzige Ursache sein soll. Außerdem bemühen sich einige Eltern nach Kräften, solche Einflüsse bei ihrem Kind zu verhindern. Sie kaufen ihren Söhnen Puppen und schenken ihren Töchtern Spielzeugautos, müssen aber feststellen, dass ihr Kind trotz alledem den geschlechtstypischen Spielsachen den Vorzug gibt. Selbst wenn man der Ansicht ist, dies zeige lediglich, dass der Einfluss von Gleichaltrigen und der Medien stärker ist als der elterliche, lassen sich dadurch nicht alle beobachteten Unterschiede erklären, weil sie bereits auftreten, bevor die Medien oder die Peer-Group das kindliche Denken infiltrieren konnten.

Aus diesen und anderen Gründen scheint es möglich, dass die Entwicklung von Verhaltensunterschieden bei Jungen und Mädchen auf andere und zusätzliche Faktoren zurückzuführen ist und nicht ausschließlich auf kulturelle. Biologische Einflüsse sind die einzigen anderen Faktoren, die in Frage kommen. Welche Faktoren das sein könnten, wollen wir im Folgenden untersuchen.

8 Biologie

Sozio-kulturelle Faktoren können offenbar nicht vollständig erklären, warum Frauen als Gruppe ein besseres Einfühlungsvermögen zeigen und Männer als Gruppe besser systematisieren können. Bieten möglicherweise biologische Faktoren eine Erklärung für diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern? Im folgenden Kapitel möchte ich einige Tierstudien vorstellen und auf einige wissenschaftliche Untersuchungen eingehen, die sich mit Hormonen, dem Gehirn und schließlich der Genetik befasst haben. Fangen wir mit den Tieren an. Von Ratten zu Affen Gibt es bei anderen Spezies ähnliche geschlechtsspezifische Unterschiede wie beim Menschen? Wenn ja, ist dies möglicherweise ein Anzeichen für biologische Ursachen, weil die meisten anderen Spezies (vielleicht mit Ausnahme englischer Hunde) per definitionem außerhalb der menschlichen Kultur stehen. Die große Gefahr hier ist der Anthropozentrismus - der uralte Fehler, dass wir anderen Geschöpfen menschliche Eigenschaften zuschreiben. Tatsächlich ist heiß umstritten, ob es (abgesehen vom Menschen) überhaupt eine Tierart gibt, die zur Empathie oder zur Erfassung von Systemen in der Lage ist.1 Doch andere Spezies verfügen sehr wohl über einfachere Formen von sozialen und räumlichen Fähigkeiten, die durchaus relevant sein könnten. Beginnen wir mit den Menschenaffen, Pavianen und Rhesusaffen. Die Männchen neigen allesamt stärker als die Weibchen zum Austragen von Scheinkämpfen - zu dem, was wir bei Kindern als freundschaftliche Rauferei bezeichnen würden. Diese Unterschiede treten sehr früh zu Tage, zum Beispiel bei einjährigen männlichen Rhesusaffen. Wie in Kapitel 4 ausgeführt, zeigen auch

männliche Menschenkinder eine stärkere Neigung zu spielerischen Raufereien. Einige Forscher deuten diesen Unterschied im menschlichen Verhalten als Zeichen der reduzierten männlichen Sensibilität für andere - als Ausdruck dafür, dass Männer eher die Tendenz haben, ihre Stärke und ihren sozialen Status zu demonstrieren, als besondere Rücksicht auf die Gefühle anderer zu nehmen. Die Tatsache, dass wir dieses Verhalten bei verschiedenen Primaten antreffen, deutet auf eine (oder mehrere) gemeinsame biologische Ursache(n) hin. Eine weitere augenfällige Ähnlichkeit zwischen Menschen, Affen und Menschenaffen liegt darin, dass die Frauen bzw. Weibchen größeres Interesse an den Babys (ihrer eigenen Spezies) zeigen. Sie finden Gefallen an ihrem Anblick, knuddeln gern mit ihnen und kümmern sich um sie. Man könnte annehmen, dass es sich bei diesem Verhalten nicht um etwas Biologisches, sondern bei allen drei Säugetierarten lediglich um das Nachahmen gleichgeschlechtlicher Artgenossen (der Mütter durch die Töchter) handelt. Problematisch an der Nachahmungserklärung ist allerdings, dass es sich bei den weiblichen Affen und Menschenaffen, die dieses verstärkte Interesse an Babys zeigen, quasi um Jugendliche handelt. Affen-Teenager neigen jedoch im Allgemeinen nicht zu allzuviel Nachahmung. 2 Von daher ist die größere Aufmerksamkeit des Weibchens also möglicherweise ein Zeichen ihres größeren emotionalen Verständnisses für Artgenossen, vor allem wenn sie verletzlich sind. Gibt es auch Studien zu der Frage, ob Tiere sich für Systeme interessieren? Wie bereits ausgeführt, handelt es sich beim Systematisieren unter Umständen um eine ausschließlich dem Menschen vorbehaltene Fähigkeit, weil es häufig darauf zielt, Erkenntnisse über Ursachen zu gewinnen, und überzeugende Nachweise für ein kausales Denken liegen nur für die menschliche Spezies vor. Dennoch kann man aus Studien über einfachere Verhaltensweisen bei Ratten, zum Beispiel über das Verhalten im Raum, möglicherweise einige Erkenntnisse über das tierische Gegenstück zum systematischen Denken gewinnen. Immerhin haben wir bereits gesehen, dass das räumliche Vorstellungsvermögen beim menschen auch systematisierungsfähigkeiten umfassen kann

Männliche Ratten finden schneller und mit weniger Fehlversuchen heraus, welcher Weg durch ein Labyrinth führt. Bei einem Test im so genannten Sternlabyrinth muss das Tier sich beispielsweise daran erinnern, welcher der strahlenförmig vom Zentrum ausgehenden Wege zum Futter führt. Labyrinthe und Irrgärten werden traditionell für Tests des räumlichen Vorstellungsvermögens oder Orientierungssinns benutzt, aber natürlich ist ein Labyrinth auch ein System. Nach unserer Definition zeichnet sich ein System dadurch aus, dass man wiederkehrende Gesetzmäßigkeiten beim Input und Output feststellen kann. Wenn man den einen Seitenarm des sternförmigen Labyrinths hinuntergeht, führt er zu Output X. Geht man einen anderen Weg entlang (B), führt er zu einem anderen Output (Y). Bei Menschen wie bei Ratten haben Studien eine männliche Überlegenheit ergeben, wenn geometrische (systembezogene) Hinweise zur Verfügung stehen. Frauen orientieren sich eher an Erkennungszeichen (Gegenständen) im Raum. Man könnte einwenden, dass die Anwendung der Erkennungszeichen-Strategie nicht besonders systematisch ist, wenn es um ein Verständnis des Raumes geht. Wer einfach zu sich selbst sagt: »Wenn du bei der Kirche rechts abbiegst, steuerst du direkt auf das Geschäft zu«, kommt vielleicht ganz gut ans Ziel, wenn er immer aus derselben Richtung auf die Kirche zugeht. Etwas schwieriger wird die Sache, wenn man zum Beispiel aus der entgegengesetzten Richtung kommt, denn in diesem Fall muss man bei der Kirche links abbiegen, um den Laden zu finden. Erkennungszeichen sind wichtig, doch eine systemorientierte Strategie befähigt uns, auch komplexere Anforderungen an das räumliche Vörstellungsvermögen zu bewältigen. Regeln wie »Wenn A (Input) rechts von B (Output 1) liegt, dann liegt A bei einer Drehung von 180 Grad (Operation) links von B (Output 2).« Das sind systematische Gesetze über räumliche Verhältnisse. Es liegen einige Hinweise darauf vor, dass Männer diesen Ansatz bei räumlichen Aufgaben besser beherrschen. Ein weiterer Unterschied zwischen Männern und Frauen, der sich bei anderen Spezies widerspiegelt, ist die männliche Überlegenheit beim treffsicheren Werfen, die sich sogar schon bei Zweijährigen zeigt. In Kapitel 6 haben wir ausgeführt, dass dies ein gewisses Systematisieren umfasst, nämlich sowohl ein Verständnis

der Gesetzmäßigkeiten, die den Bewegungen von physikalischen Objekten zu Grunde liegen, als auch der Gesetzmäßigkeiten, die dem eigenen Handeln im Sinne von Bewegungssystemen zu Grunde liegen. Auch Schimpansen-Männchen werfen wesentlich häufiger mit Gegenständen als Schimpansen-Weibchen. Wenn dieses Wurfverhalten bei männlichen Menschen und Schimpansen aus denselben Gründen entsteht, würde auch das wiederum auf einen evolutionsbedingten, physiologisch begründeten Geschlechterunterschied verweisen. Schimpansen sind jedenfalls gewiss nicht den Einflüssen der menschlichen Kultur ausgesetzt, wie etwa den Fernsehübertragungen von Darts-Meisterschaften, und das Gleiche gilt für menschliche Zweijährige.3 Tierstudien deuten also darauf hin, dass die Biologie eine Rolle beim Einfühlungs- und Systematisierungsvermögen spielt, doch im derzeitigen Stadium handelt es sich tatsächlich nur um Hinweise, nicht um definitive Beweise. Und zu welchen Ergebnissen kommen Studien über Hormone? Sind sie für unsere Fragestellung von Bedeutung?

Wissenswertes über den Hormonspiegel Ein offensichtlicher biologischer Faktor, der zu geschlechtsspezifischen Unterschieden im Fühlen und Denken führen könnte, ist das Hormon- oder Drüsensystem. Schon bald nach der Empfängnis wird von den Hoden der männlichen Föten sehr viel Testosteron ausgeschüttet ebenso wie von den Nebennieren, was erklärt, warum dieses Hormon auch vom Körper kleiner Mädchen produziert wird. Doch der männliche Körper produziert eindeutig und sogar schon vor der Geburt eine größere Menge Testosteron. An diesem Punkt gilt es, an etwas Grundsätzliches zu erinnern. Wenn man über das Geschlecht nachdenkt, muss man zwischen fünf verschiedenen Ebenen unterscheiden: • Das genetische Geschlecht: Danach sind Sie ein Mann, wenn Sie ein X- und ein Y-Chromosom (XY) aufweisen, und Sie sind eine Frau, wenn Sie zwei X-Chromosomen haben (XX).

• Das gonadische Geschlecht: Hier wird das Geschlecht von den Gonaden oder Keimdrüsen bestimmt, also über diejenigen Organe, die die Geschlechtshormone produzieren - beim Mann der Hoden, bei der Frau die Eierstöcke. • Das genitale Geschlecht: Auf dieser Definitionsebene richtet sich das Geschlecht nach den äußerlich sichtbaren Geschlechtsmerkmalen wie Penis oder Vagina. • Der Hirntypus: Beim männlichen Hirntypus ist die Fähigkeit zum Erfassen von Systemen stärker ausgeprägt als das Einfühlungsvermögen, beim weiblichen Hirntypus ist es umgekehrt. • Schließlich lässt sich das Geschlecht auch noch auf der Ebene des geschlechtstypischen Verhaltens definieren, das eine Folge des Hirntypus ist: Sie zeigen das geschlechtstypische Verhalten eines Mannes, wenn Sie sich (zum Beispiel) für Fußball oder die neuesten technischen Spielereien begeistern, und das geschlechtstypische Verhalten einer Frau, wenn Sie Beziehungen pflegen, großes Interesse für die Gefühle ihrer Freunde zeigen oder nach Nähe und Intimität streben. Der Hirntypus lässt sich nicht vollständig vom geschlechtstypischen Verhalten trennen, sondern bildet sozusagen die Zusammenfassung der Informationen, die sich aus dem Verhalten ableiten. Psychologen würden sagen, dass man mit dem Hirntypus die »kognitive« Ebene beschreibt, während sich das Verhalten auf die äußerlich sichtbaren Aktivitäten bezieht. Das genetische Geschlecht wird zum Zeitpunkt der Empfängnis festgelegt und ist leicht zu bestimmen. Die meisten Menschen berücksichtigen, wollen sie das Geschlecht einer Person bestimmen, nur diese erste Ebene. Doch auch wenn Sie von Ihrem genetischen und sogar von Ihrem genitalen Geschlecht her weiblich wären, könnten Sie von Ihrem gonadischen Geschlecht her eher männlich sein oder sich durch den männlichen Hirntypus und ein »typisch männliches« Verhalten auszeichnen. Umgekehrt könnte eine Person, auch wenn sie genetisch und vom genitalen Geschlecht her männlich wäre, dennoch vom gonadischen Geschlecht her weiblich sein und sich durch einen weiblichen Hirntypus und ein »typisch weibliches« Verhalten auszeichnen. Das pränatale Testosteron, ein

Androgen, das von den Hoden produziert wird, wenn man in genetischer und genitaler Hinsicht ein Mann ist, oder von den Nebennieren ausgeschüttet wird, wenn man in genetischer und genitaler Hinsicht eine Frau ist, gehört anscheinend zu den wichtigen Variablen, die über den jeweiligen Hirntypus und das geschlechtstypische Verhalten entscheiden. An drei Punkten in der Entwicklung kommt es offenbar zu einem besonders starken Anstieg des Testosterons. Die erste Spitze liegt in der pränatalen Phase, zwischen dem zweiten und sechsten Monat der Schwangerschaft. Der nächste starke Anstieg erfolgt etwa fünf Monate nach der Geburt. Ein letzter Gipfel wird in der Pubertät erreicht. Diese Phasen werden bei anderen Säugetieren als »Aktivierungsphasen« beschrieben, weil man davon ausgeht, dass das Gehirn in diesen Phasen besonders sensibel auf solche hormonellen Veränderungen reagiert. Von den Geschlechtshormonen wird angenommen, dass sie einen pränatalen Aktivierungseffekt auf das Gehirn haben. 4 Der Neurologe Norman Geschwind hat diese komplizierten Abläufe auf einen einfachen Nenner gebracht. Seiner Ansicht nach beeinflusst das fötale Testosteron die Wachstumsgeschwindigkeit der beiden Hirnhälften: Je mehr Testosteron vorhanden ist, desto schneller entwickelt sich die rechte Hirnhälfte und entsprechend langsamer die linke Hirnhälfte. Wir werden gleich auf die beiden Hemisphären zurückkommen, denn obwohl Geschwinds Theorie von unterschiedlichen Seiten kritisiert wurde, gibt es einige klare Indizien für seine These, dass Männer bessere rechtshemisphärische Fähigkeiten und Frauen überlegene linkshemisphärische Fähigkeiten entwickeln. 5 Doch zunächst wollen wir der Frage nachgehen, ob das fötale Testosteron in irgendeinem Zusammenhang mit dem Einfühlungsvermögen steht. Wissenschaftler haben trächtigen Rhesusaffen Testosteron injiziert. Die Töchter dieser Affenweibchen waren zwar genetisch weiblich (sie hatten zwei X-Chromosomen), aber vom genitalen Geschlecht her männlich. Als sie älter wurden, zeigten diese Töchter eher männliche Formen des Spiels, zum Beispiel einen verstärkten Hang zu Raufereien (spielerischen Kämpfen). Wie bereits

erörtert, kann das spielerische Kämpfen ein Zeichen verminderter Empathie sein. Wenn man umgekehrt einem jungfräulichen Säugetierweibchen Östrogen und Progesteron zuführt, zeigt es in verstärktem Maß ein mütterliches Verhalten, wie zum Beispiel ein größeres Interesse an Babys. Dieses Verhalten lässt auf einen Anstieg der Empathie schließen. Menschliche Föten, die androgenetischen Substanzen ausgesetzt waren, entwickelten nach der Geburt eine erhöhte Aggressivität. Diese Befunde legen nahe, dass Hormone Einfluss auf die sozialen Verhaltensweisen haben. 6 In der Vergangenheit wurde Frauen, die zu spontanen Fehlgeburten neigten, ein synthetisches Östrogen verabreicht (Diethylstilbestrol). Wenn diese Frauen einen Jungen zur Welt brachten, zeigte dieser häufig ein eher mädchentypisches Verhalten - inszenierte beim Symbolspiel beispielsweise soziale Themen oder kümmerte sich fürsorglich um Puppen. Das ist ein weiterer Anhaltspunkt dafür, dass der Hormonspiegel das Einfühlungsvermögen beeinflusst.7 Aus Studien über Transsexuelle, die vom männlichen zum weiblichen Geschlecht wechseln, kann man ebenfalls Rückschlüsse über die Auswirkungen von Hormonen auf das Empathievermögen ziehen. Bei diesem Personenkreis zeigt sich, dass die »direkten« Ausdrucksformen von Aggression abnehmen (körperliche Angriffe, die typischerweise unter Männern häufiger vorkommen), während die indirekten oder »relationalen« Ausdrucksformen von Aggression zunehmen (der Aggressionsstil, der eher für Frauen typisch ist). Das ist ein starkes Indiz dafür, dass Testosteron den Aggressionsstil beeinflusst. Wie an früherer Stelle erwähnt, erfordern direkte Aggressionen wahrscheinlich noch weniger Empathie als indirekte. Diese Befunde geben natürlich nur Aufschluss über die postnatalen Androgene.8 Wie könnte man mehr über die pränatalen Androgene in Erfahrung bringen? Diese Frage beschäftigte unter anderem auch meine damalige Doktorandin Svetlana Lutchmaya und den Biochemiker Peter Raggat vom Addenbrooke's Hospital in Cambridge, der mit Begeisterung erforscht, wie sich der Testosteronspiegel auf das Verhalten auswirkt. Wir drei beschlossen, die pränatale Testosterontheorie einem direkten Test zu unterziehen. Dazu untersuchten wir Säug-

linge, bei deren Müttern man in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten eine Amniozentese durchgeführt hatte. Amniozentese, die Punktion der Fruchtblase, gehört zu den üblichen medizinischen Verfahren, wenn bei Schwangeren ein erhöhtes Risiko besteht, ein Baby mit Down-Syndrom zur Welt zu bringen (normalerweise auf Grund des Alters der Mutter). Das Addenbrooke's Hospital in Cambridge ist unter anderem ein regionales Zentrum für die Analyse von Fruchtwasserproben aus Krankenhäusern in ganz Ostengland. Wichtig für unsere Zwecke war insbesondere, dass man hier die Fruchtwasserproben in einem Gefrierschrank bis nach der Geburt der Babys aufbewahrt. Von daher war es also möglich, den pränatalen Testosteronspiegel im Fruchtwasser zu messen, auch wenn die Proben normalerweise nicht aus diesem Grund aufbewahrt werden. Das im Fruchtwasser enthaltene Testosteron ist fötalen Ursprungs. Wir haben die besondere Situation in Addenbrooke zu unserem Vorteil genutzt, indem wir Kontakt zu den Müttern aufnahmen, deren Fruchtwasser im Tiefkühlschrank lagerte, und sie baten, ihre inzwischen gesunden Kleinkinder in unser Labor zu bringen. Wir stellten fest, dass diejenigen Kinder (im Alter von 12 und 24 Monaten), bei denen wir einen niedrigeren fötalen Testosteronspiegel ermittelt hatten, häufiger Blickkontakt herstellten und einen größeren Wortschatz aufwiesen. Umgekehrt galt: Je höher der pränatale Testosteronspiegel war, desto weniger Blickkontakt wurde hergestellt und desto kleiner war der Wortschatz. Das stimmte genau mit der Vorhersage von Geschwind überein. Als wir die Ergebnisse erhielten, bekam ich eine richtige Gänsehaut, als ich mir vorstellte, dass ein paar Tropfen mehr oder weniger von dieser winzigen chemischen Substanz unsere Soziabilität oder unsere sprachlichen Fähigkeiten beeinflussen können. Ich bedaure nur, dass ich die Aufregung über dieses Ergebnis nicht mit Geschwind selbst teilen konnte, der leider vor einigen Jahren an einem Herzinfarkt gestorben ist. Doch zurück zu den Ergebnissen: Wenn Blickkontakt und Augensprache frühe Anzeichen von Empathie sind, ist hier ein weiteres Indiz dafür gegeben, dass das fötale Testosteron einen wichtigen physiologischen Faktor bei individuellen Unterschieden im Einfühlungsvermögen darstellt.9

Wir beschlossen, eine Folgestudie bei den Kindern durchzuführen, deren Mütter sich einer Amniozentese unterzogen hatten. Als die Kinder vier Jahre alt waren, legten meine neue Doktorandin, Rebecca Knickmeyer, und ich diesen Vierjährigen einen Test vor, die so genannte Children Communication Checklist (CCC). Dieser Test misst die Sozialkompetenz und die Bandbreite der Interessen. (Letzteres ist ein Indikator für die Systematisierungsfahigkeit, da zum systematischen Denken normalerweise ein starkes Interesse an einem bestimmten Thema gehört.) Der Test ergab, dass diejenigen Kinder, bei denen wir einen höheren pränatalen Testosteronspiegel ermittelt hatten, inzwischen geringere Sozialkompetenz aufwiesen und in ihren Interessen stärker spezialisiert waren als diejenigen Kinder, die einen niedrigeren pränatalen Testosteronspiegel gehabt hatten.10 Ein niedrigerer fötaler Testosteronspiegel (wie er häufiger bei Frauen auftritt) führt also zu einem höheren Niveau in sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten, zu mehr Blickkontakt, sozialer Kompetenz und geringerer Aggression - lauter Anzeichen für ein besseres Einfühlungsvermögen. Und wenn eingeschränkte Interessen auf ein gründliches Systematisieren hindeuten, dann belegen diese Ergebnisse ganz klar, dass ein gutes Systematisierungsvermögen mit einem höheren fötalen Testosteronspiegel zusammenhängt. Es gibt jedoch noch weitere Anhaltspunkte dafür, dass das fötale Testosteron mit dem Systematisierungsvermögen in Zusammenhang steht. Wenn man eine männliche Ratte bei der Geburt kastriert, fließt das Testosteron nicht mehr von den Hoden zum Gehirn. Bei diesen Ratten kommt es nicht zur Entwicklung der typischen Größenunterschiede zwischen der rechten und der linken Hirnhälfte. Bei männlichen Föten (Mensch und Ratte) ist die rechte Hirnhälfte größer. Wenn das pränatale Testosteron für das beschleunigte Wachstum der rechten Körperhälfte und insbesondere der rechten Hirnhälfte verantwortlich ist, dann müsste eine Kastration zu einem weniger ausgeprägten räumlichen Systematisieren führen, weil diese Fähigkeit eher von der rechten Hemisphäre gesteuert wird. Das ist in der Tat der Fall.11 Injiziert man einer weiblichen Ratte bei der Geburt Testosteron,

findet sie sich schneller in einem Labyrinth zurecht und begeht dabei weniger Fehler als eine Ratte, die kein Testosteron erhalten hat. Die hormonelle Vermännlichung der Ratte verbessert ihre Fähigkeit zum Erfassen räumlicher Systeme. Erstaunlicherweise erbringen die Ratten, denen man das Testosteron injiziert hat, genauso gute Leistungen wie normale männliche Ratten (deren Hoden die ganze Zeit über Testosteron produziert haben). Die normalen männlichen Ratten und die hormonell behandelten weiblichen Ratten setzen eine richtungsorientierte Strategie ein, um ihren Weg durchs Labyrinth zu finden. Das ist ein starkes Indiz für ein gutes Systematisierungsvermögen. Die normalen Weibchen und die kastrierten Männchen orientieren sich in starkem Maße an einzelnen Erkennungszeichen. Diese Strategie führt erwartungsgemäß dazu, dass diese Ratten länger brauchen, um sich den Weg durchs Labyrinth einzuprägen, da einzelne Erkennungszeichen nicht immer zuverlässig sind. Das deutet darauf hin, dass die Fähigkeit zum Systematisieren vom prä- und perinatalen Testosteron beeinflusst wird.12 Welchen Effekt Veränderungen des Hormonspiegels auf das Systematisieren haben können, zeigt sich schließlich auch bei älteren Männern mit absinkendem Testosteronspiegel. Wenn man sie aus therapeutischen Gründen mit Testosteron behandelt, schneiden sie bei einem Konstruktionstest besser ab als Männer, die ein Placebo erhalten haben. Bei dieser Konstruktionsaufgabe, der so genannten Block Design Task, muss man prognostizieren, wie eine Konstruktion aussehen wird, wenn sie gedreht wird. Das Systematisierungselement innerhalb dieser Aufgabe lautet in etwa: »Wenn ich X tue, wandelt sich A zu B« (z.B. »Wenn ich diese Konstruktion um 45 Grad drehe, dann wird diese vertikale Kante zu einer horizontalen Kante«). Gute Leistungen bei diesem Test beruhen meistens auf einem systematisierenden Denkansatz.13 Eine Gruppe kanadischer Forscher unter der Leitung von Gina Grimshaw hat außerdem festgestellt, dass Kinder beim mentalen Rotationstest umso besser abschneiden, je höher ihr pränataler Testosteronspiegel war. Wie bei der Block Design Task sind gute Systematisierungsfähigkeiten auch bei diesem Test von Vorteil. Im Übrigen bleibt das Verhältnis zwischen pränatalem Testoste-

ron und der Systematisierungsfähigkeit nicht immer direkt proportional. Wenn der pränatale Testosteronspiegel zu hoch ist, fällt die Leistung beim mentalen Rotationstest schlechter aus als bei einem niedrigen Testosteronspiegel. Für die Entwicklung des Systematisierungsvermögens gibt es also unter Umständen einen optimalen pränatalen Testosteronpegel, der sich irgendwo zwischen dem niedrigen bis mittleren männlichen Niveau bewegt. Selbst wenn man den Testosteronspiegel im Blut oder Speichel von erwachsenen Männern misst, schneiden Männer mit niedrigem bis mittlerem Testosteronspiegel bei Systematisierungstests, die Mathematik und räumliches Vorstellungsvermögen erfordern, am besten ab.14 Einige männliche Säuglinge leiden unter einem angeborenen Testosteronmangel, dem so genannten IHH (idiopathischer hypogonadotroper Hypogonadismus). Verursacht wird IHH durch einen Mangel des vom Hypothalamus gebildeten gonadotropen Hormons, das die Aufgabe hat, Produktion und Ausschüttung von Geschlechtshormonen zu regulieren. Männer mit IHH schneiden bei Tests des räumlichen Vorstellungsvermögens schlechter ab als Männer ohne IHH. Das deutet darauf hin, dass der Testosteronspiegel die Systematisierungsfähigkeiten tatsächlich beeinflusst.15 Unter Androgen-Resistenz (Androgen Insensitivity Syndrom) leiden genetisch männliche Individuen, deren Körper normale Mengen Androgen produziert, die aber auf Grund eines genetischen Defekts auf zellulärer Ebene unempfindlich auf Androgene reagieren. Da diese Jungen mit weiblich aussehenden Genitalien zur Welt kommen, halten Eltern und Ärzte sie bei der Geburt für Mädchen. Sie erhalten Mädchennamen und werden von Geburt an als Mädchen aufgezogen. Erst später in der Pubertät entdeckt man die Androgen-Resistenz. Das liegt daran, dass sie zwar normale Brüste entwickeln, aber keine Regelblutung bekommen (da ihnen die inneren Geschlechtsorgane fehlen). Menschen mit Androgen-Resistenz sind erwartungsgemäß schlechter im Systematisieren.16 Wieder andere Säuglinge werden mit der so genannten kongenitalen adrenalen Hyperplasie, oder kurz CAH, geboren. Auf Grund einer Überproduktion eines testosteronähnlichen Andro-

gens namens Androstendion ist ihr Androgenspiegel ungewöhnlich hoch. Die Folge ist, dass ein genetisch weibliches Baby (d.h. mit zwei X-Chromosomen), das unter CAH leidet, als genital und gonadisch männliches Kind zur Welt kommt. Man operiert diese Kinder meist im ersten Lebensjahr und beginnt mit einer korrektiven Hormontherapie, um den Androgenfluss zu blockieren. Mit dieser Behandlung verläuft die Entwicklung der Kinder meist ohne weitere Komplikationen. Aus wissenschaftlicher Perspektive sind Kinder mit CAH ein »Experiment der Natur«. Sie machen es möglich, die Auswirkungen von ungewöhnlich hohen vorgeburtlichen Androgenspiegeln zu untersuchen. (Individuen mit IHH sind aus wissenschaftlicher Sicht keine ganz so eindeutigen Fälle, weil sie typischerweise erst in der Pubertät entdeckt werden. Das bedeutet, dass postnatale Faktoren, die schwer zu kontrollieren sind, eine Rolle spielen könnten.) Erwartungsgemäß zeigen Mädchen mit CAH ein besseres räumliches Vorstellungsvermögen als ihre Schwestern ohne CAH oder als andere nahe weibliche Verwandte, die als Kontrollgruppe fungieren. Das ergibt sich zum Beispiel bei mentalen Rotations- oder Visualisierungstests (Papierfalt-Aufgaben); für beide sind Systematisierungsfähigkeiten erforderlich. Denselben Effekt kann man auch beobachten, wenn diese Mädchen an einem Test mit eingebetteten Figuren teünehmen. Dabei werden zwar nicht die Systematisierungsfähigkeiten getestet, aber die Aufmerksamkeit fürs Detaü, eine Grundvoraussetzung für ein gutes Systemverständnis. Bei all diesen Tests erzielen Männer in der Regel höhere Punktzahlen als Frauen. Mädchen mit CAH schneiden genauso gut ab wie der Durchschnitt der Jungen und auffallend besser als der Durchschnitt der Mädchen. Sie beteiligen sich auch häufiger an sportlichen Wettkämpfen oder an körperlichen Aktivitäten, bei denen der Wettbewerb im Mittelpunkt steht. Man kann dies sowohl als Konzentration auf die Stellung im sozialen System als auch als egozentrisches Desinteresse an anderen deuten - als verminderte Empathie. Mädchen mit CAH spielen häufiger mit Autos (mechanischen Systemen) als Mädchen ohne CAH. Kurz: Sie zeigen eine größere Begabung im Umgang mit Systemen.

Bei Jungen mit CAH zeigt sich ein ganz anderes Bild. Trotz der Tatsache, dass sie hohen Androgenspiegeln ausgesetzt waren, ist ihr räumliches Vorstellungsvermögen nicht stärker ausgeprägt als bei anderen Jungen. Nach den Ergebnissen einiger Studien ist es sogar schlechter. Das stimmt mit dem früheren Befund überein, dass das räumliche oder systembezogene Vorstellungsvermögen nicht einfach umso besser wird, je höher der pränatale Androgenpegel war. Es funktioniert eher wie bei einer umgekehrten UKurve. Im Klartext: Ein hoher oder sehr hoher Androgenspiegel kann sich negativ auf die Systematisierungsfähigkeiten auswirken. Am besten schneidet man ab, wenn man sich irgendwo in der Mitte (im niedrigen männlichen Spektrum) bewegt.17 Bei Operationen, die der Geschlechtsumwandlung dienen, erhalten Frauen zusätzliche Androgene zur Vermännlichung, während Männer Anti-Androgene (Östrogen) zur Verweiblichung erhalten. Was geschieht in der Folge? Die Personen, die vom weiblichen zum männlichen Geschlecht wechseln, verbessern sich bei mentalen Rotationstests. Die Personen, die vom männlichen zum weiblichen Geschlecht wechseln, verschlechtern sich unter Umständen bei dieser Aufgabe (die Ergebnisse sind hier nicht ganz eindeutig).18 Alle aufgeführten Ergebnisse weisen in eine bestimmte Richtung: Sie bestärken die Vermutung, dass der Testosteronspiegel (insbesondere in der frühen Entwicklung) das Gehirn und dadurch das Verhalten beeinflusst. Genauer gesagt: Je mehr von dieser speziellen Substanz vorhanden ist, desto stärker wird das Gehirn auf Systeme eingestimmt und desto weniger auf emotionale Beziehungen. Testosteron und die beiden Hirnhälften Nach der Theorie von Geschwind beeinflusst das fötale Testosteron die Wachstumsgeschwindigkeit der beiden Hirnhemisphären. Dabei führt insbesondere der höhere fötale Testosteronspiegel beim Mann zum früheren und schnelleren Wachstum der rechten Hirnhälfte.

Die rechte Hemisphäre ist am räumlichen Vorstellungsvermögen beteiligt, das, wie wir gesehen haben, vom Systematisierungsvermögen unterstützt wird. Die linke Hemisphäre ist am Sprachund Kommunikationsvermögen beteiligt, das von der Empathie gefördert wird. Wenn sich die rechte Hemisphäre im männlichen Gehirn schneller entwickelt als im weiblichen Gehirn, könnte das erklären, warum sich auch die Systematisierungsfähigkeiten beim Mann schneller entwickeln. Das Gleiche güt mit umgekehrten Vorzeichen für Frauen: Wenn sich die linke Hemisphäre im weiblichen Gehirn schneller entwickelt als im männlichen Gehirn, dann könnte dies erklären, warum sich auch die sprachlichen Fähigkeiten und das Einfühlungsvermögen bei Frauen schneller entwickeln. Wird dies von Studien bestätigt? Die Spezialisierung der beiden Hirnhälften wird als »Lateralität« verschiedener Hirnfunktionen bezeichnet. Die Lateralität von Sprachprozessen ist umfassend untersucht worden. Sprachliche Fähigkeiten spielen eine große Rolle in unserem Sozialleben und für die Empathie. Schon mit sechs Monaten zeigt sich bei kleinen Mädchen eine höhere elektrische Aktivität in der linken als in der rechten Hirnhälfte, wenn sie Gesprächslaute hören. Mit zunehmendem Alter wird die linke Hemisphäre bei den meisten Menschen »dominant« für die Sprache. Die Tatsache, dass kleine Mädchen bereits sehr früh eine linkshemisphärische Dominanz bei der Sprachwahrnehmung zeigen, könnte erklären, warum Mädchen schneller sprechen lernen als Jungen, und das deckt sich mit der Theorie von Geschwind.19 Wenn man Testpersonen gesprochene Texte über Kopfhörer vorspielt, können sie sich besser an die Worte erinnern, die ins rechte Ohr gespielt wurden, als an die Worte, die ins linke Ohr gespielt wurden. Man führt diesen so genannten »Rechtsohr-Vorteil« auf die Hörnerven zurück, die von der Ohrschnecke zur kontralateralen (entgegengesetzten) Hirnhälfte aufsteigen. Die Ohren sind mit beiden Hemisphären verbunden, aber die Verbindungen zur kontralateralen Seite sind stärker. Deshalb sendet das rechte Ohr sein stärkstes akustisches Signal zur linken Hirnhälfte. Das könnte eine der Ursachen sein, weshalb die linke Hemisphäre bei der Sprachwahrnehmung dominiert.20

Es gibt geschlechtsspezifische Unterschiede bei solchen Lateralitätseffekten. Männer können sich zum Beispiel besser auf Wörter konzentrieren, die sie mit dem rechten Ohr gehört haben, als auf Wörter, die sie mit dem linken Ohr gehört haben. Das deutet darauf hin, dass Männer in sprachlicher Hinsicht stärker lateralisiert sind als Frauen. Es mag vielleicht widersprüchlich erscheinen, dass die Sprache bei Männern stärker lateralisiert ist und sie trotzdem bei vielen sprachlichen Tests schlechter abschneiden als Frauen. Doch möglicherweise gehört gerade die bilaterale Repräsentation von Sprache (d. h. die Aktivierung beider Hemisphären anstatt einer) zu den Gründen, weshalb Frauen hier bessere Leistungen erbringen.21 Ein Hinweis darauf, dass Frauen beide Hirnhälften für den Sprachgebrauch nutzen, ist, dass sie nach Schädigungen der linken Hemisphäre (z.B. durch einen Schlaganfall) seltener unter Aphasie (Sprachstörungen) leiden. Wenn sie nach einer Hirnverletzung doch eine Aphasie entwickeln, erholen sie sich in der Regel schneller wieder davon als Männer. Das könnte damit zusammenhängen, dass bei Frauen die rechtshemisphärischen Sprachzentren (die bei Männern nicht im selben Ausmaß vorhanden sind) einige Aufgaben der geschädigten linkshemisphärischen Areale übernehmen. Das stimmt damit überein, dass bei Frauen sowohl Schädigungen der rechten als auch der linken Hemisphäre zu schlechteren Ergebnissen bei sprachlichen Tests führen können, während bei Männern das Risiko einer Aphasie größer ist, wenn es zu einer Schädigung der linken Hemisphäre kommt.22 Einen letzten Anhaltspunkt liefert der so genannte Wada-Test. Bei diesem Test zur Prüfung der zerebralen Sprachdominanz wird einer Testperson ein Betäubungsmittel (Sodium Amytal) gespritzt, das sehr schnell in eine der beiden Gehirnhemisphären fließt. Auf diese Weise kann man zum Beispiel die linke Hirnhälfte »einschläfern«. Anschließend kann man untersuchen, wie gut die Testperson Worte versteht, wenn sie sich ausschließlich auf die Fähigkeiten ihrer rechten Hirnhälfte stützen kann. Wiederholt man das Experiment auf der rechten Seite des Gehirns, kann man das Leistungsvermögen der beiden Hemisphären vergleichen und prüfen.

Die Durchführung dieses Experiments mit Gruppen von Männern und Frauen förderte folgende interessante Ergebnisse zu Tage: Bei den Frauen verschlechtert sich die sprachliche Ausdrucksfähigkeit erheblich, und zwar unabhängig davon, welche Hemisphäre betäubt wird. Bei Männern gerät der Sprachfluss nur ins Stocken, wenn sie eine Spritze für die linke Hemisphäre bekommen. Das stimmt mit anderen Ergebnissen von Lateralitätsstudien überein.23 Mein vor kurzem verstorbener Freund Donald Cohen, ein führender Kinderpsychologe von der Yale University, nannte diese Beweise scherzhaft die »Ersatzreifen«-Theorie über Frauen und Sprache. »Hey, Jungs«, witzelte er in seiner typisch jovialen Art vor einer Gruppe von amüsierten Wissenschaftlern, die sich (ausgerechnet) in einem asketischen Mönchskloster zu einer Konferenz getroffen hatten, »setzt nicht alles auf einen Reifen. Seid schlau, und macht es wie die Mädels: Nehmt einen Ersatzreifen mit.« Nach der Theorie von Norman Geschwind fördern die fötalen Androgene auch die allgemeine Entwicklung der rechten Körperhälfte (also nicht nur das Wachstum der rechten Gehirnhälfte). So kommen denn bei Männern einige (aber nicht alle) Studien zu dem Ergebnis, dass der rechte Fuß größer ist als der linke und der rechte Hoden größer als der linke. Bei Frauen sind der linke Fuß und der linke Eierstock größer als das Gegenstück auf der rechten Seite. Zudem berichten Frauen im Durchschnitt häufiger, dass ihre linke Brust größer ist als ihre rechte.24 Natürlich sind das statistische Durchschnittswerte. Sie gelten nicht für jeden Mann oder für jede Frau. Doreen Kimura hatte die originelle Idee, ihre Probanden in zwei Gruppen aufzuteilen, je nachdem ob sie einen größeren Hoden oder eine größere Brust auf der linken oder auf der rechten Seite hatten. Auf diese Weise ließen sich die »Links-größer-Individuen« mit den »Rechts-größer-Individuen« vergleichen (unabhängig vom Geschlecht). Als sie ihnen sprachliche Tests vorlegte (für die das weibliche Gehirn vermeintlich besser gerüstet ist), schnitt die Gruppe mit den größeren linken Hoden oder Brüsten besser ab als die Gruppe mit den größeren rechten Hoden oder Brüsten. Mithilfe dieser Ergebnisse ist vielleicht zu erklären, weshalb Männer unter Umständen einen eher weiblichen Hirntyp oder Frauen

einen eher männlichen Hirntyp aufweisen. Die Erklärung ergibt sich aus dem frühen fötalen Androgenspiegel der Person und der daraus resultierenden asymmetrischen neuronalen Entwicklung. Bei den »Rechts-größer-Individuen« kann man davon ausgehen, dass sie einen höheren fötalen Androgenspiegel gehabt haben. Selbst Wissenschaftlern ist es unangenehm, Probanden aufzufordern, sich zu entkleiden, um Brüste und Hoden vermessen zu lassen. Deshalb kam Doreen Kimura auf die Idee, ein weniger intimes, neutraleres biologisches Merkmal der fötalen Asymmetrie, nämlich die Fingerspitzen, zu messen. Zum traditionellen System für die Klassifizierung von Fingerabdrücken gehört, dass man die Anzahl der Rillen auf den Fingerspitzen der linken und rechten Hand zählt.25 Kimura zählte die Rillen auf Daumen und kleinem Finger jeder Hand und fand das Ergebnis bestätigt, dass die meisten Männer und Frauen eine höhere Rillenzahl an der rechten Hand aufweisen. Sie nennt dies das »Rechts-größer-Schema« (oder R>-Schema). Sie fand aber ebenfalls bestätigt, dass das Links-größer-Schema (L>Schema) wiederum mehrheitlich bei den Frauen auszumachen war. Das passt zu dem früheren allgemeinen Befund, wonach ein verstärktes Wachstum der linken Seite bei Frauen wahrscheinlicher ist.26 Da die Fingerabdrücke während der ersten vier Monate der fötalen Entwicklung festgelegt werden und sich (außer bei sehr schweren Verletzungen) für den Rest des Lebens nicht mehr verändern, dienen sie als eine Art »Fossilienfund«, an dem man ablesen kann, welche Körperhälfte sich beim Fötus zuerst entwickelte. Sie gelten als Indikatoren für das Niveau des fötalen Testosterons, das diese asymmetrische Körperentwicklung steuert. Wie bei den Messungen der Hoden- oder Brustgröße zeigten die Angehörigen der L>-Gruppe bei den Fingerabdrücken (unabhängig vom Geschlecht) überlegene Leistungen bei denjenigen Tests, bei denen Frauen normalerweise besser abschneiden. Die sprachliche Leistung steht wahrscheinlich in Zusammenhang mit der Empathie (da beide an der Kommunikation beteiligt smd). Bestimmte Aspekte von Sprache sind dabei enger mit dem Einfühlungsvermögen verbunden - vor allem der »pragmatische«

Bereich, in dem es darum geht, die Wünsche und Absichten des Sprechers zu deuten. Andere Aspekte von Sprache, vor allem Syntax (Grammatik) und Wortschatz, erfordern eher die Fähigkeit zum Systematisieren. Von daher wäre es sehr wichtig, Kimuras interessante Ergebnisse mit Tests zu untermauern, die eine direktere Messung des Einfühlungsvermögens erlauben. Es liegen eindeutige Anzeichen dafür vor, dass bei Jungen eher die rechte Hirnhälfte und bei Mädchen eher die linke Hirnhälfte aktiviert wird, wenn es darum geht, mimisch auf den emotionalen Gesichtsausdruck einer anderen Person zu reagieren.27 Es ist allgemein bekannt, dass die rechte Hirnhälfte stärker an räumlichen Fähigkeiten beteiligt ist wie zum Beispiel am Orientierungssinn oder dem Einprägen von Straßen und Wegen. Diese allgemeine Erkenntnis wird durch neuere neurologische Studien, die mit bildgebenden Verfahren arbeiten, bestätigt. Wenn man zum Beispiel den Blutfluss im Gehirn misst, während Testpersonen eine sprachliche Aufgabe ausführen, kann man beobachten, dass die linke Hirnhälfte während dieser Aktivität stärker durchblutet wird. Wenn dagegen das räumliche Vorstellungsvermögen getestet wird (wenn die Testteilnehmer zum Beispiel die Ausrichtung von Linien beurteilen sollen), wird die rechte Hemisphäre stärker durchblutet. Das legt nahe, dass eine hemisphärische Spezialisierung vorliegt. Wie an früherer Stelle erörtert, lassen sich Aufgaben zum räumlichen Vorstellungsvermögen durch einen systematisierenden Denkansatz (Richtungshinweise) lösen. Von daher kann man voraussagen, dass Testteilnehmer unterschiedliche Punktzahlen beim Systematisieren erzielen werden, je nachdem ob sie die rechte oder die linke Hand für eine Aufgabe einsetzen, weil die linke Hand von der rechten Hirnhälfte gesteuert wird und umgekehrt.28 In einer großen Studie wurden Kinder aufgefordert, nacheinander unterschiedliche Objekte zu ertasten, die sie nicht sehen konnten. Es ist wie bei dem alten Party-Spiel, das wir alle kennen: Steck deine Hand in den Beutel und versuche, dir ein Bild von dem ertasteten Gegenstand zu machen. Da man nicht weiß, welchem Kontext die Objekte entstammen, ist es schwierig, sie zu benennen. Nachdem die Kinder eine Weile gründlich getastet hatten, wurde eins der Objekte aus dem Beutel herausgenommen (während die

Kinder die Augen immer noch geschlossen hielten) und zusammen mit fünf anderen Gegenständen, die die Kinder nicht ertastet hatten, offen ausgelegt. Dann durften die Kinder die Augen öffnen und sollten angeben, welches der sechs Objekte sie im Beutel gefühlt hatten (ohne sie nochmals zu berühren). Ein schwieriger Test. Er erfordert einen systematischen Denkansatz, weil man Informationen über die gefühlte Form (Input) in Informationen über die sichtbare Form (Output) umwandeln muss (Operation). Die Frage ist also: Macht es einen Unterschied, ob man die rechte oder die linke Hand benutzt? Die Forscher gelangten zu folgenden Ergebnissen: Jungen können das Objekt besser mit der linken Hand identifizieren, was darauf hindeutet, dass die Aktivität von der rechten Hirnhälfte gesteuert wird. Bei den Mädchen macht es keinen Unterschied, welche Hand sie benutzen, was darauf schließen lässt, dass ihre rechte Hirnhälfte weniger auf die Aufgabe spezialisiert ist und sie dafür genauso gut die linke Hemisphäre aktivieren können. In der oben verwendeten Fachsprache heißt das, dass die Fähigkeit bei den Mädchen offenbar bilateral repräsentiert ist. Da Jungen und Mädchen bei diesem Spiel alles in allem ganz ähnliche Ergebnisse erzielen, hat dies anscheinend keinerlei Einfluss darauf, wie viel Spaß das jeweüige Geschlecht daran hat oder wie motiviert es an die Sache herangeht. 29 Wie zu erwarten, spielt die Rechts- oder Linkshändigkeit ebenfalls eine Rolle. Bei einem Linkshänder zeigen sich weniger Unterschiede zwischen den beiden Hirnhälften, wenn er sprachliche oder räumliche Aufgaben bearbeitet. Das lässt darauf schließen, dass die Hemisphären weniger stark spezialisiert sind. Möglicherweise ist ein Teil der rechten Hemisphäre bereits der Kontrolle der Linkshändigkeit gewidmet, sodass in der rechten Hemisphäre weniger Kortex für eine starke Spezialisierung auf das Systematisieren zur Verfügung steht. Folglich wären diese Fähigkeiten dann zum überwiegenden Teü in der linken Hirnhälfte angesiedelt. Dadurch würde die linke Hemisphäre daran gehindert, sich auf die Sprach Verarbeitung zu spezialisieren. Doch selbst wenn man die Händigkeit berücksichtigt, findet man dieselben geschlechtsspezifischen Unterschiede: Bei Männern ist die Fähigkeit zum Erfassen von Systemen stärker auf die

rechte Seite konzentriert. All diese Ergebnisse stimmen mit Geschwinds Theorie vom Testosteron und dessen Einfluss auf die Hirnentwicklung überein. 30 Studien über Ratten geben uns die Möglichkeit, einen direkten Blick auf die Lateralisierung im Gehirn zu werfen - also nicht nur das Lösen von Aufgaben zu beobachten, sondern die »graue Masse« als solche zu betrachten. Bei den männlichen Nagetieren ist der Kortex auf der rechten Seite dicker. Vielleicht dient dies der Unterstützung ihrer überlegenen räumlichen (Systematisierungs-) Fähigkeiten. Auch hier stellt man wieder fest, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Dicke des Kortex auf das fötale Testosteron, die vermännlichenden Hormone zurückzuführen sind.31 Kehren wir schließlich noch einmal zu dem Gedanken zurück, dass man die menschliche Population in eine »Rechts-größer«Gruppe (d.h. größerer rechter Hoden oder größere rechte Brust) und eine »Links-größer«-Gruppe aufteilen könnte: Die R>-Gruppen schneidet bei Tests des Systematisierungsvermögens besser ab als die L>-Gruppen, unabhängig vom Geschlecht. Menschen mit dem R>-Schema bei Fingerabdrücken erzielen bei Aufgaben, die das Systematisieren testen (etwa bei Rotationsaufgaben), höhere Punktzahlen. Diese Ergebnisse werden unabhängig vom Geschlecht der Testpersonen erzielt. Interessanterweise sind Architekten und büdende Künstler (die wahrscheinlich gute räumliche oder rechtshemisphärische Fähigkeiten brauchen) häufiger Linkshänder (was von der rechten Hemisphäre gesteuert wird), als man bei Zufallsstichproben erwarten würde. Doch das gilt auch für Musiker und Mathematiker, die gute Systematiker sein müssen. 32 All das sagt uns, dass Testosteron sowohl den Körper als auch das Gehirn beeinflusst. Je mehr von dieser speziellen Substanz am Anfang der Entwicklung vorhanden ist, desto schneller entwickelt sich die rechte Körper- und Gehirnseite. Und wenn das Systematisieren eine Funktion der rechten Hirnhälfte ist, könnte das erklären, weshalb Männer besser in Systemen denken können. Man könnte vermuten, dass die männliche Überlegenheit beim treffsicheren Werfen oder beim räumlichen Vorstellungsvermögen

weniger auf einen speziellen Vorteil beim Systematisieren oder ein schnelleres Wachstum der rechten Hirnhälfte zurückzuführen ist, sondern vielleicht einfach damit zusammenhängt, dass Jungen ganz generell schneller heranreifen als Mädchen. Doch dieser Eindruck täuscht, denn in Wahrheit reifen die Mädchen schneller. Bei der Geburt sind zum Beispiel Mädchen im Durchschnitt vier bis sechs Wochen weiter in ihrer Entwicklung als Jungen. Wenn sie die Pubertät erreichen, sind die Mädchen den Jungen bemerkenswerte zwei Jahre voraus. Der allgemeine Entwicklungsstand kann also die männliche Überlegenheit beim Umgang mit Systemen nicht erklären.33 Es ist vielmehr das pränatale Testosteron, das eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von individuellen Unterschieden hinsichtlich Einfühlungsvermögen, Sprache und räumlichem Vorstellungsvermögen (Systematisierungsfahigkeit) spielt. Auf die Rolle weiterer Hormone (z.B. Östrogen), die möglicherweise ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Entstehung von geschlechtsspezifischen Unterschieden im Fühlen und Denken spielen, kann hier nicht näher eingegangen werden, denn dieses Thema würde ein weiteres Buch füllen.34

Gehirn-Surfing Um die Entstehung dieser geschlechtsspezifischen Unterschiede im Gehirn zu erforschen, kann man auch in denjenigen Hirnregionen nach geschlechtsspezifischen Unterschieden suchen, die bekanntermaßen eine Rolle beim Einfühlungsvermögen und der Systemwahrnehmung spielen. Leslie Brothers beschreibt folgende Regionen, aus denen sich seiner Ansicht nach das »soziale Gehirn« zusammensetzt:35 Da ist zunächst ein mandelförmiger Bereich im Gehirn, der nach dem griechischen Wort für Mandel als Amygdala bezeichnet wird. Wie bei den meisten Regionen im Primatenhirn gibt es auch hier zwei Exemplare. Sie liegen hinten an den Temporallappen, im subkortikalen Hirnbereich des so genannten limbischen Systems. Das Einfühlungsvermögen ist zwar nicht die einzige Funktion der Amygdala (sie ist zum Beispiel auch dafür zuständig, bestimmten Reizen

eine emotionale Bedeutung zuzuschreiben), aber sie spielt eindeutig eine Rolle, wenn es darum geht, die Gefühle anderer Menschen einzuschätzen. Wir wissen das, weil mithilfe bildgebender Verfahren nachgewiesen wurde, dass die Amygdala aktiv wird, wenn ein Mensch auf Gefühlsäußerungen im Gesicht eines anderen reagiert, und weil Verletzungen dieser Region dazu führen, dass Menschen oder Tiere ihre empathischen Fähigkeiten verlieren. Man hat geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Amygdala festgestellt. Studien mit modernen Techniken wie der funktionellen Magnetresonanz-Bildgebung (functional magnetic resonance imaging, fMRI) haben zum Beispiel ergeben, dass sich bei Jungen, die Fotos von ängstlichen Gesichtern betrachten, ein anderes Reaktionsmuster der Amygdala ergibt als bei Mädchen. Die Amygdala ist auch mit sehr vielen Testosteron-Rezeptoren ausgestattet. Wenn man einer weiblichen Ratte kurz nach der Geburt Testosteron in die Amygdala injiziert, entwickelt sie ein Spielverhalten, das sonst eher typisch für die männlichen Ratten ist. Bei männlichen Ratten ist ein Abschnitt der Amygdala besonders groß (posterodorsaler Nukleus der medialen Amygdala oder MePD). Wenn man ein erwachsenes Rattenmännchen kastriert, schrumpft die Amygdala innerhalb von nur vier Wochen auf die Größe zusammen, die man normalerweise bei den Weibchen findet. Behandelt man eine weibliche Ratte mit Testosteron schwillt der MePD auf die Größe an, die man normalerweise bei den Männchen findet. Schädigungen der Amygdala bei der Ratte oder beim Menschen führen zu abnormen sozialen Verhaltensweisen. 36 Die Amygdala steht in enger Verbindung mit den übrigen Hirnregionen, insbesondere mit Bereichen des präfrontalen Kortex. Zwei Bereiche des präfrontalen Kortex, die eine Rolle bei der Empathie spielen, sind die orbito- und medial-frontalen Bereiche (häufig auf der linken Seite des Gehirns). Wie Gehirnscans zeigen, sind diese Bereiche aktiv, wenn Testpersonen herausbekommen wollen, was andere Leute denken oder beabsichtigen; Schädigungen dieser Hirnbereiche führen zu Schwierigkeiten bei genau dieser Art von Tests. 37 Ein weiterer Bereich, der offenbar wichtig für die Empathie ist,

ist der so genannte Sulcus Temporaiis Superior oder STS, eine Hirnfalte des Schläfenlappens. Hier hat man Zellen entdeckt, die speziell auf die Blicke eines anderen Menschen oder Tieres reagieren. Was geschieht im Gehirn, wenn wir einer anderen Person in die Augen schauen, um festzustellen, ob sie aggressiv, freundlich, kokett oder aus einem anderen Grund an uns interessiert ist? Das heißt, welche Regionen »leuchten auf«, wenn man versucht, sich in eine andere Person hineinzuversetzen, um ihre Gefühle und Absichten zu ergründen? Die Ergebnisse aus Studien mit bildgebenden Verfahren zeigen, dass Verbindungen zwischen STS und Amygdala aktiviert werden.38 Bei diesen bildgebenden Verfahren wird normalerweise der Blutstrom in verschiedenen Hirnregionen als Anhaltspunkt für die Hirnaktivität gemessen. Die relevanten Hirnregionen leuchten dabei nicht im wörtlichen Sinn auf, aber durch Computeranalysen kann ermittelt werden, in welchen Hirnregionen der Blutfluss bei bestimmten Aktivitäten besonders intensiv ist. Durch Computersimulationen entsteht dann der Eindruck, dass diese Regionen »aufleuchten«. Diese Methoden haben zwar auch ihre Grenzen und gehen von zahlreichen unbewiesenen Annahmen aus, dennoch geben sie uns wichtige Hinweise darauf, welche Hirnregionen an den unterschiedlichsten Aufgaben beteiligt sind. Eine weitere wichtige Hirnstruktur ist das Corpus callosum. Dabei handelt es sich um ein Gruppe von Nervenverbindungen, die Informationen zwischen den beiden Hirnhälften vermitteln. In einigen (aber nicht in allen) Studien wurde festgestellt, dass der hintere Abschnitt des Corpus callosum bei Frauen größer ist als bei Männern. Eine Kontroverse hat sich daran entzündet, ob die absolute oder die relative Größe des Corpus callosum gemessen werden sollte, das heißt, ob die Gesamtgröße des Gehirns berücksichtigt wird. Dieser geschlechtsspezifische Unterschied zeigt sich bei post mortem durchgeführten Untersuchungen des Gehirns. Einige Studien sind zu dem Ergebnis gekommen, dass bei Frauen der Splenium-Abschnitt des Corpus callosum größer ist, während andere zu dem Ergebnis kamen, dass es die vordere Kommissur ist (eine weitere Übertragungsstelle zwischen den Hemisphären). Bei homo-

sexuellen Männern wurde ebenfalls festgestellt, dass die vordere Kommissur größer ist als bei heterosexuellen Männern und genauso groß wie bei Frauen. Die Massa intermedia (die die beiden Seiten des Thalamus verbindet) ist in diesem Zusammenhang ebenfalls relevant: Bei Männern ist sie häufiger gar nicht vorhanden oder kleiner als bei Frauen. Den Studien zufolge, die den Frauen ein größeres Corpus callosum attestieren, resultiert der größere Umfang aus einer höheren Anzahl von Nervenfasern, die die beiden Hirnhälften verbinden. Bei Aufgaben, die von einem schnellen Informationstransfer zwischen den Hemisphären abhängen (wie Kommunikation und Empathie), müssten Individuen mit größeren Verbindungsteilen besser abschneiden. Das wurde von einigen (aber nicht allen) Studien über Frauen bestätigt. Personen, bei denen die splenialen Bereiche des Corpus callosum größer waren, schnitten zum Beispiel besser ab, wenn der Sprachfluss getestet wurde. Selbstbeherrschung ist entscheidend für das Einfühlungsvermögen. Es ist schwer, Rücksicht auf die emotionale Befindlichkeit eines anderen Menschen zu nehmen, wenn man nur an sich selbst denkt. Natürlich schaltet man seine eigenen Gefühle nicht ab, wenn man sich in einen anderen Menschen hineinversetzt, denn zur Empathie gehört ja gerade eine angemessene eigene Gefühlsreaktion auf die Gefühle des anderen. Dennoch braucht man Selbstbeherrschung, um das eigene (egozentrische) Ziel beiseite zu schieben und sich auf die andere Person zu konzentrieren. Man hat die Selbstbeherrschung bei männlichen und weiblichen Kindern in Studien untersucht, die sich auf den berühmten »A-nicht-B«-Test des Kinderpsychologen Jean Piaget stützen. Bei dieser Aufgabe versteckt man einen Gegenstand (an Ort A) und lässt das Kind danach suchen. Dann versteckt man ihn an einem anderen Ort (Ort B). Jungen, die jünger sind als 12 Monate, suchen das Objekt hartnäckiger an Ort A. Manche deuten dies als Reifungsverzögerung des präfrontalen Kortex, also jener Hirnregion, die mit der Planung von Handlungssequenzen verbunden wird. Das könnte relevant für den weniger geduldigen Sprechstil der Jungen sein (die eher befehlen als verhandeln) und für ihre Grobheit im Umgang mit anderen (eine höflichkeitsarme Sprache). 39

Sowohl Verhandeln als auch Höflichkeit erfordern mehrstufige Strategien zur Erreichung eines Ziels und nicht einfach eine schnelle Schlussfolgerung (zugreifen oder schlagen). Es gibt einige weitere relevante Beispiele für einen geschlechtsspezifischen Unterschied bei der Selbstbeherrschung: Bei Mädchen führt die Reinlichkeitserziehung meist früher zum Erfolg, und bei Jungen besteht ein größeres Risiko, dass sie unter Aufmerksamkeitsschwächen, Störungen der Impulskontrolle sowie motorischer Hyperaktivität (ADHD) leiden. Bei einem besonders harten Test zur Selbstbeherrschung forderte man Kinder, die zum Teil erst drei Jahre alt waren, dazu auf, ein Bonbon möglichst lange auf der Zunge liegen zu lassen, bevor sie es hinunterschluckten oder zerkauten. Der Test umfasste noch einige weitere Aufgaben - so wurden die Kinder unter anderem gebeten, leiser zu sprechen oder auf ein Signal zum Losgehen zu warten. Den Jungen fiel es schwerer, sich zu beherrschen, als den Mädchen. Wodurch die überlegene Selbstbeherrschung der Mädchen im Einzelnen verursacht wird, ist nicht klar. Es ist nur eine Hypothese, dass diese Ergebnisse mit dem Entwicklungsstand des präfrontalen Kortex zusammenhängen. Das Gehirn des Mannes ist größer und schwerer als das der Frau. Wenn man das Verhältnis von Gehirn zu Körpergröße berücksichtigt, indem man gleich große Männer und Frauen untersucht, erweist sich das männliche Gehirn trotzdem als schwerer. Postmortale Untersuchungen haben ergeben, dass der männliche Kortex etwa 4 Milliarden Neuronen mehr aufweist als der weibliche. Das schwerere Gehirn ist also möglicherweise auf diese größere Anzahl von Hirnzellen zurückzuführen. Mehr Hirnzellen könnten zu größerer Aufmerksamkeit für Details führen, was schon aus sich heraus zu einem besseren Systemverständnis führen würde. Der Preis der besseren Detailwahrnehmung ist möglicherweise eine verzögerte Wahrnehmung des Gesamtbildes. Zur Bestätigung dieser Thesen sind allerdings weitere Tests erforderlich. An der Rückseite des Parietallappens liegt das so genannte Planum parietale, das sich auf die rechte und die linke Seite des Gehirns erstreckt. Das rechte Planum parietale ist größer als das 40

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linke Äquivalent, und diese Rechtslastigkeit ist bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen. Bei Rechtshändern ist das linke Planum parietale am Sprechen und an den Handbewegungen beteiligt, und das rechte Planum parietale am räumlichen Denken. Bei Linkshändern ist es umgekehrt. Es ist nicht bekannt, ob der geschlechtsspezifische Unterschied beim Planum parietale vom pränatalen Testosteron beeinflusst wird. Ob diese Hirnregion am Systematisieren beteiligt ist, muss durch weitere Studien geklärt werden. Beim Rattengehirn besteht auch ein geschlechtsspezifischer Unterschied beim Hippokampus, der bei den Männchen größer ist als bei den Weibchen. Wenn diese Hirnstruktur geschädigt wird, haben Ratten größere Schwierigkeiten, einen Weg durchs Labyrinth zu finden. Das deutet daraufhin, dass der Hippokampus e ine Rolle beim Systematisieren spielt. Vögel, die ihre Nahrung an verschiedenen Orten in einem größeren Gebiet verstecken (und deshalb ein gutes räumliches Gedächtnis brauchen, um sich an die Verstecke zu erinnern) haben einen größeren Hippokampus als Vögel, die ihr Futter nicht verstecken müssen. Auch hier gilt wieder, dass der Hippokampus umso größer ist, je größer die Menge des pränatalen Testosterons war. Soweit mir bekannt ist, gibt es bisher keine Nachweise für einen vergleichbaren geschlechtsspezifischen Größenunterschied beim menschlichen Hippokampus Schließlich findet sich im Hypothalamus eine Region, das so genannte präoptische Areal (POA), das zum Teil bei männlichen Ratten größer ist als bei weiblichen. Deshalb nennt man diesen Teil den »sexuell dimorphen Nukleus des präoptischen Areals« (SDN-POA). Je höher der pränatale Testosteronspiegel der Ratte, desto größer ihr SDN-POA. Als menschliches Pendant zu dieser Region gelten die »interstitiellen Nuklei des anterioren Hypothalamus« (INAH). Aus postmortalen Untersuchungen wissen wir, dass die INAH-Areale bei Frauen kleiner sind (auch wenn dies möglicherweise nur die Bereiche INAH2 und INAH3 betrifft, nicht das entscheidende Areal INAH1). Ob dies in einem Zusammenhang mit dem Systematisierungsvermögen steht, ist eine interessante Frage für künftige Forschungen. 42

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Gene

Wir haben gerade geschlechtsspezifische Unterschiede in der Hirnstruktur betrachtet, doch es gibt noch eine weitere wichtige Ursache für Abweichungen zwischen den Geschlechtern, nämlich die Gene. Wir wissen, dass einige Gene mit dem Geschlecht zusammenhängen, und das könnte eine entscheidende Determinante für den männlichen und weiblichen Gehirntypus sein. Außerdem müssen sich genetische und hormonelle Auswirkungen nicht gegenseitig ausschließen. Gene können zum Beispiel dieTestosteronproduktion beeinflussen. Es gibt Erbeinheiten in beiden Geschlechtschromosomen X und Y und in einigen anderen Chromosomen, die die geschlechtstypische Gehirnentwicklung und das Verhalten beeinflussen. Man hat dies bei Nagetieren erforscht, aber wichtige Erkenntnisse über die Bedeutung der X-Chromosomen für geschlechtsspezifische Verhaltensunterschiede beim Menschen hat man auch durch das so genannte Turner-Syndrom, eine schwer wiegende Entwicklungsstörung, gewonnen. Beim Turner-Syndrom (TS) handelt es sich um eine nur bei Mädchen bzw. Frauen auftretende genetische Störung, bei der an Stelle der üblichen zwei X-Chromosomen nur eines vererbt wird. In den meisten Fällen von TS stammt das X-Chromosom von der Mutter, aber in einigen Fällen kommt das X-Chromosom auch vom Vater. Bei einem Fragebogen, mit dem soziale Fähigkeiten gemessen werden, erzielen normal entwickelte Mädchen typischerweise höhere Punktzahlen als Jungen. Das gilt auch für Mädchen mit TS, die das X-Chromosom vom Vater geerbt haben, im Gegensatz zu Mädchen mit TS, die das X-Chromosom von der Mutter haben. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Gene im väterlichen X teilweise zu sozialen Fähigkeiten beitragen, und machen verständlicher, wodurch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Soziabilität verursacht werden, weil Jungen im Normalfall nur das X der Mutter erben. Zu den wenigen Studien über das Einfühlungsvermögen bei Zwillingen gehört eine Untersuchung, die von der Psychologin Ciaire Hughes und ihren Mitarbeitern in London durchgeführt 45

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wurde. Zwillingsstudien sind eine bekannte Methode der Genforschung, um die Erblichkeit einer Eigenschaft zu testen, wenn man die spezifischen Gene noch nicht ermittelt hat. Bei der genannten Studie wurde verglichen, wie eineiige und zweieiige Zwillinge bei einem »Theory of Mind«-Test abschnitten. Bei diesem Test wird die kognitive Komponente der Empathie ermittelt. Die »Konkordanz« oder Ähnlichkeit der erzielten Werte zwischen den eineiigen Zwillingen lag signifikant höher als bei den zweieiigen Zwillingen, was die Wissenschaftler zu dem Schluss veranlasste, dass das Empathievermögen zum Teil erblich ist. Die Messung sozialer Fähigkeiten in einer gesonderten Zwillingsstudie bestätigte dieses Ergebnis. Über die Genetik des Systematisierungsvermögens ist wenig bekannt, aber es gibt Anhaltspunkte dafür, dass die Gene eine Rolle spielen. Zwillingsstudien über die mathematische Begabung (eines der wichtigsten Beispiele für systematisches Denken) zeigten, dass sich eineiige Zwillinge in ihren mathematischen Fähigkeiten ähnlicher sind als zweieiige Zwillinge. Und Kinder mit Rechenschwäche (Dyskalkulie) »sind dazu geboren, nicht zu zählen«, wie Brian Butterworth von der Universität London es formuliert. Diese Kinder sind von normaler Intelligenz und gesellig, können aber aus genetischen Gründen keine Systeme erfassen. Nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms und seit die Bestimmung der Genfunktionen sich zu einem Riesengeschäft entwickelt hat, können wir zuversichtlich darauf hoffen, dass man die Gene finden wird, die das Einfühlungs- und das Systematisierungsvermögen steuern. Die Existenz solcher Gene schließt den Einfluss kultureller und umweltbedingter Faktoren nicht aus. Genetisch und/oder hormonell bedingte neurale Systeme, die der Empathie und dem strukturellen Denken zu Grunde liegen, brauchen den richtigen »Input« von der Umwelt (im Fall der Empathie zum Beispiel ein sensibles Eltern verhalten), damit sie sich normal entwickeln können. Doch die Ermittlung solcher Gene oder Hormone wird dazu beitragen, dass wir besser verstehen, weshalb sich manche Kinder trotz aller relevanten Umweltfaktoren schlechter in andere einfühlen können oder besser in Systemen denken können als andere. 47

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Wenn wir die genetischen Grundlagen des Systematisierungsvermögens und der Empathie besser verstehen, stellt sich automatisch die Frage, weshalb diese Fähigkeiten in den genetischen Code aufgenommen wurden. Die herkömmliche Antwort auf diese Frage liefert Charles Darwin im Rahmen seiner Evolutionstheorie: Eigenschaften gelangen normalerweise nur unter genetische Kontrolle, wenn sie dem Organismus in zwei Bereichen einen Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteil bieten: Sie müssen die Chancen für ein Überleben bis ins Erwachsenenalter und die Chancen bei der Partnerwahl verbessern. Im nächsten Kapitel wollen wir uns direkt mit dieser Evolutionsthematik auseinander setzen. Inwiefern könnte es vorteilhaft gewesen sein oder die Anpassungsfähigkeit erhöht haben, einen männlichen oder einen weiblichen Gehirntypus zu entwickeln? 49

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Die Evolution des männlichen und des weiblichen Gehirns

Nach den teilweise komplizierten Erläuterungen von Kapitel 8 können wir nun eine kleine Verschnaufpause einlegen und erst einmal Bilanz ziehen. Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Einfühlungs- und Systematisierungsvermögen werden sowohl durch soziale als auch durch biologische Faktoren bedingt. Wenn man physiologische Ursachen für Unterschiede im Denken von Mann und Frau findet, stellt sich automatisch die Frage, ob diese Unterschiede im Laufe der Evolution entstanden sind. Das heißt, die Gene, die diesen geschlechtsspezifischen Unterschieden zu Grunde liegen, könnten sich durch natürliche Auslese herausgebildet haben, weil sie die Überlebens- und Fortpflanzungschancen des Einzelnen erhöhten. Auch wenn die spezifischen Gene noch nicht ermittelt sind, lassen Zwillingsstudien den Schluss zu, dass sowohl das Einfühlungs- als auch das Systematisierungsvermögen eine genetische Komponente hat. Einigen Theorien zufolge besetzten unsere männlichen und weiblichen Vorfahren ganz unterschiedliche Nischen und übernahmen sehr unterschiedliche Rollen. Wenn das zutrifft, war jedes Geschlecht wahrscheinlich sehr unterschiedlichen Auslesezwängen ausgesetzt, was zur Entwicklung von unterschiedlichen Formen kognitiver Spezialisierung geführt haben könnte. Was für das eine Geschlecht ein Anpassungsvorteil gewesen sein mag, könnte für das andere ein Nachteil gewesen sein und umgekehrt. Im vorliegenden Kapitel will ich einige Vermutungen dazu anstellen, warum es für Frauen unter Umständen vorteilhafter war, den Gehirntyp E zu entwickeln, während es für Männer unter Umständen vorteilhafter war, den Typ S zu entwickeln. (Wie in Kapitel 1 ausgeführt, bezieht sich der Begriff Gehirntyp E auf Personen, die sich besser in andere Menschen einfühlen können, als 1

Systeme zu erfassen, während Typ S den umgekehrten Fall beschreibt.) Da die Empathie eine so elementare menschliche Eigenschaft ist, akzeptiert man vielleicht bereitwillig, dass sie genauso alt ist wie das Gehirn des Homo sapiens selbst und dass eine gewisse Begabung zur Empathie charakteristisch für das weibliche Gehirn sein könnte. Dagegen ist man im Hinblick auf das Systematisieren vielleicht eher der Ansicht, dass eine derartige Begabung unmöglich kennzeichnend für etwas so Altes wie das männliche Gehirn sein kann, weil Systematisierung irgendwie nach Wissenschaft klingt und das wissenschaftliche Denken eine relativ junge Entwicklung in der Menschheitsgeschichte darstellt. Doch das ist ein Irrtum. Obwohl die akademische Wissenschaft relativ jung ist - erst einige Jahrhunderte alt ist die »Volkswissenschaft« so alt wie die Menschheit. Stammesvölker haben seit vielen tausend Jahren ihre eigenen Erkenntnisse über natürliche Systeme gesammelt, eigene Technologien entwickelt, eigene medizinische Systeme eingeführt und Kontrollsysteme für ihre sozialen Gruppen begründet. Was könnte also der evolutionäre Vorteil eines Individuums gewesen sein, das Empathie zeigen oder Systeme erfassen konnte? 2

Die Vorteile des männlichen Gehirns Die Herstellung und der Gebrauch von Werkzeugen

Ein guter Systematiker versteht sich besser auf die Herstellung und Anwendung von Werkzeugen, einschließlich mechanischer Systeme und Waffen. Mithilfe von Werkzeugen kann der Mensch eine Vielzahl von Aktivitäten effizienter erledigen - er kann besser jagen, kämpfen, bauen, reparieren oder arbeiten. Eine gewisse Überlegenheit in solchen Belangen hat dem Einzelnen vermutlich nicht nur bessere Überlebenschancen eröffnet, sondern ihm auch zu mehr Wohlstand und/oder sozialem Status verholfen. Und eine höhere soziale Stellung hat wiederum den Fortpflanzungserfolg verbessert. Ein begabter Systematiker bemerkt vielleicht, dass die lYeff

Sicherheit leidet, wenn ein Pfeil zu lang oder zu kurz geraten ist. Oder dass eine Axt länger hält, wenn die Klinge mit einem bestimmten Knoten am Griff befestigt wird. Oder dass ein Dach aus Palmblättern, die nach einem genauen Muster gefaltet sind, besser vor Regen schützt. Ein gutes Systematisierungsvermögen in Bezug auf Wurfgeschosse (das Werfen von Steinen und Speeren oder das Schießen mit Pfeilen) erklärt vielleicht die männliche Überlegenheit beim Werfen (im Hinblick auf Genauigkeit, Distanz und Geschwindigkeit), beim Abblocken von feindlichen Wurfgeschossen und bei der Einschätzung, wann ein Objekt auf ein anderes trifft. Wer geschickt mit Wurfgeschossen umgehen und sich gut dagegen verteidigen konnte, hatte vermutlich einen entscheidenden Vorteil bei Wettkämpfen zwischen Männern.3 Jagen und Spurenlesen

Wer ein Gespür für Systeme hat, begreift auch die Systeme in der Natur und erkennt, wie man Nutzen daraus ziehen kann. Versetzen Sie sich in die Situation eines Jägers oder Fährtenlesers. Er m u s s den Wald nach Spuren möglicher Beutetiere absuchen. Während Sie oder ich möglicherweise nur Bäume und Sträucher sehen, wenn wir auf eine Waldlichtung schauen, entdeckt ein guter Spurenleser vielleicht eine flach gedrückte Stelle im Gras, die anzeigt, dass hier ein Tiger genächtigt hat, oder bestimmte Spuren auf einem Baum, die ihm sagen, dass hier ein vorbeilaufender Elefant seinen Rücken an der Rinde gerieben hat. Er achtet auf Tierrufe, die ihm anzeigen, ob sich Raubtiere nähern: dieser Affenschrei zeigt an, dass ein Adler am Himmel kreist, jener Affenruf zeigt an, dass ein Tiger durchs nahe Gehölz schleicht. Die Gesamtheit dieser Beobachtungen versetzt den Spurenleser in die Lage, genau vorherzusagen, wo sich bestimmte Tiere aufhalten. Der systematisch vorgehende Spurenleser, der einer Fährte folgt, untersucht vielleicht auch sehr sorgfältig am Boden liegende Fäkalien, weil sie ihm nicht nur sagen, wie lange sich das Tier an diesem Ort aufgehalten hat, sondern auch, um was für ein Tier es sich handelt und wovon es sich ernährt. Er ist vielleicht auch in der Lage, die

900 Vogelarten in seinem Wald nach Gesang und äußeren Merkmalen voneinander zu unterscheiden. Er weiß genau, welche Vögel essbare Eier legen, wo sie nisten und wann sie in wärmere Gefilde ziehen. Ein erfolgreicher Jäger und Spurenleser braucht zudem einen hervorragenden Orientierungssinn, damit er auch nach stundenoder tagelangen Wanderungen immer noch genau weiß, wie er wieder nach Hause findet. Denn im Wald gibt es keine von Menschen errichteten Schilder oder Straßenkarten. Eine gute Systematisierungsfahigkeit versetzt den Einzelnen jedoch in die Lage, sich schnell eine innere Vorstellung oder eine mentale Landkarte von dem unbekannten Terrain zu machen. Anstatt sich ausschließlich auf einzelne Erkennungszeichen zu verlassen (War dies der Baum, an dem ich in die Richtung wechselte, um das Wild zu verfolgen?), kann eine systematisch vorgehende Person geometrische Anhaltspunkte und Richtungshinweise nutzen wie etwa ihre eigenen Bewegungen im Verhältnis zur Sonne. (Wenn ich die untergehende Sonne im Rücken habe, weiß ich, dass ich in Richtung Osten gehe.) Wer sich auf systematisches Denken versteht, kann auch das Verhalten anderer natürlicher Systeme erkennen und vorhersagen - ich denke dabei zum Beispiel an das Wetter (diese Wolkenformation kündet von einem aufziehenden Sturm), den Wind (mein Fischerboot ist seetüchtig, wenn ich das Segel auf diese Weise benutze) oder die Sterne (als Kompass-System zum Navigieren). Im Hinblick auf die natürliche Auslese könnte ein Individuum mit guten Systematisierungsfähigkeiten also bei schwierigen Umweltbedingungen einen Überlebensvorteil gehabt haben. 4

Handel

Wer über gute Systematisierungsfähigkeiten verfügt, erkennt Veränderungen am Markt, die ihm anzeigen, wann er etwas kaufen und wann er es verkaufen sollte. Wenn ich zum Beispiel einkaufe, solange der Preis niedrig ist (Input) und verkaufe, wenn der Preis hoch ist (Operation), mache ich Gewinn (Output). Auch der Markt funktioniert nach denselben Gesetzen wie alle Systeme. In diesem

Fall kann es sich bei dem konkreten System um die Währung handeln oder auch um etwas weit weniger Abstraktes wie etwa den Tausch von Waren. Tauschhandel und Warenbörsen sind so alt wie der Homo sapiens. Die Meister dieses Fachs erkennen, wenn Nachfrage nach gewissen Dingen herrscht und wenn Überschuss besteht und haben einen Riecher für ein wirklich gutes Geschäft. Mit einigen Dingen lassen sich Riesengewinne erzielen und mit anderen nicht. Eine sorgfältige und präzise Systemanalyse könnte sich auch in diesem Fall in Form von Wohlstand und einem höheren sozialen Status auszahlen (und dadurch zum Fortpflanzungserfolg führen). Ein guter Händler muss sich auf die Analyse von Systemen verstehen, aber auch ein gewisses Maß an Menschenkenntnis und Empathie mitbringen (er darf seinen ahnungslosen Kunden nicht verraten, dass sie im Begriff sind, ein Verlustgeschäft zu machen, oder muss sie sogar anlügen, um ihnen das Verlustgeschäft schmackhaft zu machen). Die Fähigkeit, andere zu täuschen, hat allerdings wenig mit menschenfreundlichem Einfühlungsvermögen zu tun. Dem erfolgreichen Händler ist es ziemlich gleichgültig, ob sein Kunde Verlust macht oder sich niedergeschlagen fühlt. Er interessiert sich nur für seinen eigenen Gewinn, den er sich mithilfe seines Systemverständnisses ausgerechnet hat. 5

Macht

Die meisten Primaten sind soziale Wesen. Doch was gehört alles zu dieser sozialen Interaktion? Wie sich herausstellt, geht es bei einem Großteil des sozialen Austauschs darum, an Status zu gewinnen, die eigene Stellung zu sichern oder zu verbessern und darüber hinaus genau im Blick zu behalten, welchen Rang die anderen Gruppenmitglieder gerade bekleiden. Als Faustregel gilt: Je höher der soziale Rang, desto besser die Überlebenschancen. Wer sich also gut darauf versteht, das Hierarchiesystem in einer sozialen Gruppe zu durchschauen, kann sich erfolgreicher behaupten. Es ist nicht schwer zu verstehen, weshalb die soziale Stellung und die Fähigkeit, die Rangfolge erfolgreich auszuhandeln, die

Überlebenschancen entscheidend beeinflussen. Zum einen verlieren soziale Außenseiter den Schutz der Gruppe. Wer seinen Platz in der sozialen Hierarchie nicht erkennt, riskiert zudem einen Konflikt mit einem ranghöheren Individuum, das seine soziale Stellung ebenfalls verteidigen muss. Das ist unproblematisch, wenn man sich gute Chancen ausrechnet, den »Oberen« zu schlagen, kann einen aber andernfalls teuer zu stehen kommen. Bei Affen werden zum Beispiel erschreckende 50 Prozent der heranwachsenden Männchen bei Statuskämpfen getötet. Es ist also unter Umständen überlebenswichtig, den eigenen Platz zu kennen und die Stellung der anderen im Blick zu behalten. Obwohl wir in diesem Beispiel von einem sozialen System sprechen, gelten dieselben »Wenn-dann«-Regeln (Input-OperationOutput) wie für alle Systeme. Wenn ich die Nummer 5 in der Hackordnung bin (Input), dann kann ich diejenigen, die sozial »unter mir stehen« (die Nummern 6, 7 und 8), relativ gefahrlos (Output) bedrohen (Operation). Wenn ich dagegen diejenigen bedrohe, die sozial »über mir stehen« (Nummer 4, 3, 2 oder 1), laufe ich Gefahr, verletzt oder getötet zu werden. Wenn ich die Nummer 3 bin und Nummer 2 herausfordere und den Kampf gewinne, dann werde ich die Nummer 2. So funktionieren soziale Systeme. Durch einige Aktivitäten erleidet man Statusverluste, durch andere kann man seine Stellung verbessern. Wer sich darauf versteht, Systeme zu erfassen und zu analysieren, wird diese unterschiedlichen Ergebnisse genau im Blick behalten. Man kann das Ganze auch als politisches Taktieren bezeichnen. Das kann die Ebene der individuellen Beziehungen betreffen, zum Beispiel den subtilen Konkurrenzkampf unter Arbeitskollegen, die um Anerkennung und mögliche Beförderungen wetteifern (um die Chance, nach oben zu kommen). Es kann sich auch auf ganze Personengruppen beziehen, wie bei einer territorialen Expansion oder bei kriegerischen Auseinandersetzungen um Ressourcen. Das heutige Pendant zu dieser Form des Systematisierens in Bezug auf Menschengruppen findet sich in der Länder- oder Bundespolitik, Hier kann ein versierter Systematiker genau verfolgen, wie viele Anhänger seine Partei für die Wahl mobilisieren konnte, wie viele Sitze gewonnen oder verloren wurden und Ähnliches mehr.

Der andere Grund, aus dem Menschen die soziale Stellung im Auge behalten, ist deren Bezug zu dem, was Darwin als »geschlechtliche Zuchtwahl« oder sexuelle Auslese bezeichnete. Bei vielen Spezies, aber insbesondere bei den Primaten, sind die weiblichen Mitglieder das wählerischere Geschlecht (mit anderen Worten, sie spielen eine größere Rolle bei der Auslese). Das ist verständlich, weil sie normalerweise mehr Zeit und Kraft in den Nachwuchs investieren. Ein einzelner Geschlechtsakt kostet den Mann vielleicht einige Sekunden oder Minuten, aber die Frau bezahlt dafür möglicherweise mit neun Monaten Schwangerschaft, vom Rest ganz zu schweigen. Nach welchen Kriterien trifft die Frau ihre Auswahl? Ein erfolgversprechender Anhaltspunkt ist die soziale Stellung. Daraus folgt für den Mann, dass er besser an Frauen herankommt, wenn er eine höhere soziale Stellung innehat. Je höher der soziale Status des Mannes, desto größer seine Anziehungskraft, weil sein Aufstieg in der sozialen Hierarchie von gesunden Genen zeugt und ihn zudem als fähigen Ernährer und Beschützer ausweist. Wie bereits an früherer Stelle erläutert, wird ein guter Systematiker sehr wahrscheinlich einen höheren sozialen Status erringen. 6 Von daher werden Frauen einen Mann mit ausgeprägten Systematisierungsfähigkeiten möglicherweise sehr attraktiv finden. Ein solcher Mann gilt als schlauer, unabhängiger Kopf, der die relevanten Informationen erkennt, entschlossen handelt und weiß, wie man vorankommt und sozial aufsteigt. Soziale Dominanz Die Kombination von schwachem Einfühlungsvermögen und starkem Systematisierungsvermögen könnte einen raschen Aufstieg an die Spitze der sozialen Gruppe fördern. Das hängt damit zusammen, dass Männer in jeder Kultur um ihre Stellung in der sozialen Hierarchie konkurrieren. Wie oben erwähnt, hat die Stellung des Mannes in der sozialen Hackordnung direkten Einfluss auf seinen Fortpflanzungserfolg. Bei einigen Spezies bekommt zum Beispiel nur das Alpha-Männchen die Chance, sich fortzu-

pflanzen. Und sogar beim Homo sapiens unserer Tage haben Männer mit höherem sozialen Status tendenziell mehr Kinder und mehr Ehefrauen als Männer mit niedrigerem sozialen Status. Um eine sozial dominierende Position zu erringen, benutzen Männer körperliche Gewalt, die Androhung von Gewalt oder andere Formen der Bedrohung (zum Beispiel den Entzug von Unterstützung). Deshalb sind bei den meisten Spezies die Männchen größer, stärker und aggressiver als die Weibchen. Männer konkurrieren jedoch nicht nur durch gegenseitige Drohungen, sondern auch durch das Zurschaustellen von Stärke und Status und werden von den Frauen nach diesen Kriterien ausgewählt. Neben der körperlichen Stärke gehören dazu möglicherweise auch die Fähigkeit und der Drang, sich an die Spitze der sozialen Gruppe zu setzen. Weniger Einfühlungsvermögen erleichtert es dem Einzelnen, andere zu schlagen oder zu verletzen, sie bei einem Konkurrenzkampf auszustechen oder auch im Stich zu lassen, wenn sie nicht länger nützlich sind. Wie in Kapitel 4 aufgezeigt, schneiden Männer im Allgemeinen schlechter als Frauen ab, wenn sie Gefühle bei anderen Personen erkennen sollen. Doch wenn es um das Wahrnehmen von Bedrohung beim direkten Blickkontakt geht (entscheidend für die Antizipation eines möglichen Statusverlusts im sozialen System) oder um die Sensibilität für Dominanzhierarchien (entscheidend im rein männlichen Wettbewerb) erzielen Männer bessere Ergebnisse als Frauen. Das sind keine Anzeichen für ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen, sondern für ein ausgeprägtes Systemverständnis. In bestehenden vor-industriellen Gesellschaften streifen Männer weiter umher als Frauen. Sie tun dies nicht nur, um zu jagen oder eine Partnerin zu finden, sondern auch um andere Gruppen zu überfallen. Ähnlich wie durch Kriege gewinnt man auch durch Übergriffe auf andere Gruppen an Macht. Vermutlich ist es umso leichter, Gewalt gegen andere auszuüben, je weniger man sich in sie einfühlen kann. Wer über hervorragende methodisch-analytische Fähigkeiten und sehr wenig Einfühlungsvermögen verfügt, hat ausgezeichnete Voraussetzungen, um einen Überfall zu planen (Welches ist das effizienteste taktische Manöver oder die beste körperliche Technik?) und um über die besten Angriffs- und Riick7

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zugswege nachzudenken. Selbst wenn man direkte Überfälle einmal außer Acht lässt, hätte ein schwaches Einfühlungsvermögen zur Folge, dass eine Person relativ unbelastet von Skrupeln und Schuldgefühlen soziale Kontrolle ausüben könnte. 9

Sachverstand

Die andere Möglichkeit, über die man eine höhere Position in einer sozialen Hierarchie erreichen kann, ist der kulturelle Erfolg das heißt, indem man sich als der Beste in einem Bereich erweist, der hohes gesellschaftliches Ansehen genießt und/oder indem man Kontrolle über wichtige Ressourcen erlangt. Die Tendenz zum Systematisieren entspricht im Wesentlichen dem Bedürfnis, ein System auf höchstem Niveau zu beherrschen oder von Grund auf zu verstehen. Die Konkurrenz beim Systematisieren kann den Einzelnen also dazu anspornen, den besten Pflug oder den besten Speer, das beste Musikinstrument oder das beste Haus herzustellen und dadurch seinen sozialen Rang zu verbessern. Einsamkeit ertragen

Einige Tätigkeiten, die gute Systematisierungsfähigkeiten verlangen, wie das Spurenlesen bei der Jagd oder die Erfindung eines neuen Werkzeugs erfordern Zeit. Man braucht unter Umständen Tage, Monate oder Jahre dafür. Einige Aufgaben lassen sich erfolgreicher bewältigen, wenn man nicht abgelenkt wird und sich ganz auf sie konzentrieren kann, am besten in völliger Abgeschiedenheit. Von daher ist es also möglich, dass ein begabter methodischanalytischer Kopf nie irgendetwas Großartiges zu Stande bringt, wenn er gleichzeitig ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen besitzt, weil er dann unter Umständen auch ein sehr starkes Bedürfnis nach Gesellschaft hat. Doch angenommen, das Einfühlungsvermögen hält sich in Grenzen. Dann ist man vielleicht ganz zufrieden damit, sich tagelang einzuschließen und kaum ein Wort mit jemandem zu wechseln, um sich intensiv auf das System des aktuellen Projekts zu konzentrieren. In vor-industriellen Gesell-

Schäften gehörte hierzu vielleicht, dass man sich der Reparatur alter Äxte widmete oder zu einer mehrtägigen Wanderung in die Wälder aufbrach, um Nahrung für die Familie zu besorgen (möglicherweise das stammesgeschichtliche Gegenstück zu unseren modernen Piloten). Es könnte sich also durchaus als vorteilhaft erweisen, nicht so sehr auf andere Menschen angewiesen zu sein. Aggressionen

Bei Menschen und anderen Primaten versucht der Mann bzw. das Männchen mitunter, die sexuellen Aktivitäten der Partnerin durch Drohungen zu kontrollieren. Die Bereitschaft, der Partnerin mit Gewalt zu drohen, setzt einen niedrigen Empathielevel voraus. Wer einen anderen Menschen verletzt oder ihm Angst einjagt, verhält sich definitiv nicht fürsorglich. Wenn die Methode funktioniert, erhöht der Mann die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder, für deren Überleben er sorgt, tatsächlich seine genetischen Nachfahren sind. Selbst heutzutage ist Monogamie nicht die Norm. Die häufigste Form der Ehe ist die Polygynie (ein Mann, mehrere Ehefrauen), während die Polyandrie (eine Frau, mehrere Ehemänner) sehr selten vorkommt. Die Polygynie entwickelte sich vermutlich zur häufigsten Form der Ehe, weil einige Männer durch die Ansammlung und Kontrolle wertvoller materieller Ressourcen eine dominierende soziale Stellung errangen. Um die Kontrolle über derartige Ressourcen zu erlangen, bilden Männer für gewöhnlich Koalitionen miteinander, die auf verwandtschaftlichen Beziehungen beruhen. Sogar in den monogamen Gesellschaften der westlichen Welt ist ein polygynes Paarungsverhalten von Männern, die über Macht und eine hohe gesellschaftliche Stellung verfügten, seit jeher die Norm gewesen. Ein aggressives Verhalten ist nicht nur ein Zeichen eingeschränkter Empathie. Es ist auch eine sehr effiziente Strategie für die Begründung gesellschaftlicher Dominanz oder für die Lösung sozialer Konflikte, vor allem wenn andere soziale Demonstrationen oder Rituale keine Wirkung zeigen. In evolutionären Begriffen ausgedrückt: Die tapfersten und geschicktesten Kämpfer im Wen10

bewerb unter Männern erringen den höchsten sozialen Status und sichern sich dadurch die meisten Frauen und Nachkommen. In Studien über die Aggressivität in vor-industriellen Gesellschaften hat man festgestellt, dass sie folgende Formen annimmt: Blutrache (Rache für den Mord an einem Verwandten), wirtschaftliche Ausbeutung (Plünderungen oder die Verschleppung von Gefangenen in die Sklaverei), die Gefangennahme von Frauen als zusätzliche Ehefrauen oder die Verteidigung des persönlichen Ansehens und Rufes. All diese Ansätze können dazu führen, dass ein Mann einen höheren sozialen Status innerhalb der Gemeinschaft erwirbt, was ihn zu einem attraktiveren Ehepartner macht. David Geary verweist auf eine Studie über den YanomamoStamm, um den Reproduktionserfolg von Männern zu veranschaulichen, die das Risiko eines Wettstreits mit anderen Männern eingehen. Bei den Yanomamo handelt es sich um eine heute existierende vor-industrielle Gemeinschaft, die in den Regenwäldern des Amazonas in Brasilien und Venezuela lebt. In der Studie wurde festgestellt, dass einige Männer überhaupt keine Kinder hatten, während ein einzelner Mann (Shinbone) 43 Kinder hatte. Shinbones Vater hatte vierzehn Kinder (eine kleine Familie), doch sie schenkten ihm 143 Enkelkinder, durch die er wiederum zu 335 Urenkeln und 401 Ur-Ur-Enkeln kam. Damit hatte Shinbones Vater genau 401 Ur-Ur-Enkel mehr als sein Nachbar, der überhaupt keine Ur-Ur-Enkel vorweisen konnte. Falls der Vater von Shinbone bestrebt war, seine Gene zu verbreiten, so ist ihm das sehr gut gelungen. In Gesellschaften, in denen die Polygamie erlaubt ist, können solche Männer offenkundig ungeheuer viele Kinder in die Welt setzen. Die Geschichte hat allerdings auch ihre Schattenseiten. So lesen wir bei Laura Betzig über die frühesten Kulturen (das alte Mesopotamien, Ägypten, die Atzeken und Inkas sowie die alten Kaiserreiche in Indien und China): »Die mächtigen Männer paaren sich mit Hunderten von Frauen, geben ihre Macht an einen Sohn weiter, der ihnen von einer einzelnen rechtmäßigen Ehefrau geboren wurde, und töten alle Männer, die ihnen in die Quere kommen.« Wie an früherer Stelle ausgeführt, sind diese Männer möglicherweise an die Macht gelangt, weil sie über gute Systematisierungs11

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fähigkeiten verfügten. Die Tatsache, dass sie alle Widersacher aus dem Weg räumten, deutet darauf hin, dass ihr Einfühlungsvermögen nicht besonders stark ausgeprägt war. Außerdem hatten sie offenkundig ein effizientes Mittel für die Verbreitung ihrer Gene gefunden (Polygynie). Man kann sich also vorstellen, dass sich der Genotyp für den S-Gehirntypus in einer männlichen Population sehr weit verbreitet hat. Gehört ein aggressiver Konkurrenzkampf unter Männer der Vergangenheit an? Haben wir uns grundlegend verändert? Kehren wir noch einmal zu den Yanomamo zurück, die man als Beispiel für eine vor-industrielle Gesellschaft betrachten kann. Hier stellen wir fest, dass zwei von fünf Männern in diesem Stamm an mindestens einem Mord beteiligt waren. Auf uns wirkt das befremdlich. Ich habe keine Mörder in meinem persönlichen Bekanntenkreis, und den meisten Lesern geht es vermutlich ähnlich. In Industriegesellschaften ist es also offenkundig schwieriger, evolutionäre Anpassungszwänge zu entdecken. Noch schlimmer scheint, dass bei den Yanomamo diejenigen Männer, die andere Männer töten, höheres Ansehen genießen als andere, die es nicht tun. In einer industrialisierten Gesellschaft kommen Mörder normalerweise ins Gefängnis, steigen also sozial ab. Nicht so in vor-industriellen Gesellschaften. In Übereinstimmung mit der Evolutionstheorie haben diejenigen Männer, die einen Mord begangen haben, letztlich mehr als doppelt so viele Ehefrauen und mehr als drei Mal so viele Kinder wie diejenigen Männer, die keine Leichen im Keller haben. Dieses düstere Bild ist nicht auf die Yanomamo beschränkt, sondern gilt nachweislich auch für andere vor-industrielle Gesellschaften. 13

Führung

Teamprojekte brauchen Anführer. Der Erfolg eines Projekts hängt häufig von der festen Hand des Leiters ab. Denken Sie an den Teamführer, der alle Energien auf das übergreifende Ziel ausrichtet, sei es die Herstellung eines Produkts oder die Eroberung eines neuen Territoriums. Der Anführer überlegt, wie man das Ziel mit so wenig taktischen Schritten wie möglich und dem effizientesten

Zeitplan erreichen kann, was in der modernen Wirtschaft und Technik als »Critical Path« bezeichnet wird. Eine Führungsperson mit guten analytisch-methodischen Fähigkeiten hat den Vorteil, dass sie eine Personengruppe als System betrachten kann: Wie Rädchen in einem Getriebe übernehmen alle Personen (oder Gruppen) eine bestimmte Funktion im System. Jedes System, sei es eine Menschengruppe oder ein Werkzeug, muss sorgfältig beobachtet und überwacht werden. Eine Führungsperson mit geringer Empathie wird nicht lange darüber nachgrübeln, mit welchen Gefühlen die einzelnen Teammitglieder an ihre jeweilige Aufgabe im Projekt herangehen. Sie wird sich vielmehr darauf konzentrieren, welche Funktion der Einzelne erfüllt und inwieweit seine Tätigkeit zum übergeordneten Ziel des Systems beiträgt. Die Funktionen mögen unverzichtbar sein, aber die einzelnen Mitarbeiter, die diese Aufgaben erfüllen, sind durchaus austauschbar. Wenn ein bestimmter Mitarbeiter unproduktiv arbeitet, fällt es einer Führungskraft mit schwachem Einfühlungsvermögen und starker Systematisierungsfähigkeit leichter, ihn einfach als Problem zu betrachten und zu ersetzen. Um diesem Mitarbeiter zu kündigen, muss die Führungskraft in der Lage sein, den Gedanken an das persönliche Schicksal des Betroffenen beiseite zu schieben und nicht darüber nachzudenken, was die Kündigung für ihn bedeutet. Wer ein schwach ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und ein stark ausgeprägtes Systematisierungsvermögen mitbringt, eignet sich also in der Regel besser zum Anführer als andere. Er erhält Zugang zu größeren Ressourcen und damit zu einer höheren sozialen Stellung und besseren Fortpflanzungschancen. Die Vorteile des weiblichen Gehirns

Ein schwach ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und eine stark ausgeprägte Systematisierungsfähigkeit (männlicher Gehirntyp) haben sich also offenkundig als Anpassungsvorteil erwiesen, doch wie sieht es mit dem gegensätzlichen Profil aus - dem weiblichen

Gehirntyp? Inwiefern könnte es dem Individuum einen evolutionären Vorteil verschafft haben? Ein großer Freundeskreis

Damit man sich gut in andere Menschen einfühlen kann, muss man verstehen, wie Beziehungen funktionieren, und zwar nicht nur in einem machtpolitischen Sinne. Meister der Empathie sind Meister der Kommunikation, die sich Gedanken darüber machen, ob ein Freund ihre Worte als kränkend empfindet oder sich ungerecht behandelt fühlt. Es fällt ihnen leicht, die Bedürfnisse eines anderen Menschen zu erahnen, weil sie schnell und angemessen auf die Gefühle des anderen reagieren. Menschen mit einer Begabung zur Empathie haben in der Regel eine demokratischere Einstellung als Menschen mit geringem Empathievermögen; sie fragen andere um Rat und verhalten sich in Gesprächen diplomatischer. Sie zwingen einer anderen Person oder Gruppe nicht rücksichtslos ihre eigene Meinung auf. Wer sich in dieser Weise verhält, gewinnt Sympathien und Freunde. Wer gute Freunde hat, verfügt über einen klaren Überlebensvorteil, weil er sich auf soziale Bündnisse stützen und auf die Hilfe anderer zählen kann, wenn es hart auf hart kommt. Eine Frau mit ausgeprägtem Einfühlungsvermögen, die sich um die Kinderbetreuung kümmert, wird eher darauf ausgerichtet sein, Freundschaften mit anderen zu schließen, die auf die Kinder aufpassen können, wenn sie selbst keine Zeit hat. Wem es leicht fällt, Freunde zu gewinnen, hat noch einen weiteren Vorteil. Menschen, die einander freundschaftlich verbunden sind, stabilisieren die Gemeinschaft und verringern das Risiko von Aggressionen zwischen Erwachsenen. Die Instabilität einer Gemeinschaft wirkt sich negativ auf die kindliche Entwicklung aus, sowohl in emotionaler Hinsicht als auch im Hinblick auf die Kindersterblichkeit. Alles, was zur Stabilität der Gemeinschaft beiträgt, kann also die Überlebenschancen von Kindern und Frauen nur verbessern. Da Frauen weit mehr Zeit und Ressourcen in die Elternrolle investieren, lässt sich argumentieren, dass ihnen die Vorzüge reziproker Beziehungen wichtiger sind als Männern. 14

Bemutterung

Seien wir ehrlich: Babys können einem manchmal ziemliche Rätsei aufgeben. Sie schreien, aber sie können einem nicht sagen, was sie wollen oder fühlen. Älteren Kindern oder Erwachsenen dient die Sprache als partieller Ausdruck ihrer inneren Verfassung. Aber woher weiß man, was im Kopf eines Babys vor sich geht, wenn es brüllt? Man könnte versuchen, den Säugling als System zu betrachten und die sechs wahrscheinlichsten Optionen überprüfen: Ist es nass, hungrig, müde, krank? Friert es? Kratzt die Decke? Falls nichts davon zutrifft und das Kind weiterbrüllt, stößt diese Methode schnell an ihre Grenzen. Menschen mit ausgeprägtem Einfühlungsvermögen fällt es im Allgemeinen leichter, sich auf die Bedürfnisse und Gefühle des Kindes einzustellen. Sie können sich vorstellen, was in dem Baby vorgeht, und haben Zugang zu einem weit größeren und subtileren Spektrum möglicher Ursachen für seinen Kummer. Vielleicht ist das Kind wütend, weil es zu grob angefasst wurde. Vielleicht grollt es, weil man es zu lange allein gelassen hat. Vielleicht fühlt es sich auch vernachlässigt, weil die Bezugsperson zwar körperlich anwesend, aber in Gedanken weit weg und dem Kind innerlich nicht verbunden war. Vielleicht braucht es auch einfach ein bisschen mehr Zuwendung als sonst, weil es sich in einer fremden Umgebung befindet. Wenn man sich all diese Möglichkeiten vorstellen kann und dazu noch unzählige andere Gefühle, die ein Baby innerlich bewegen, gewinnt es den Eindruck, dass man auf seine Bedürfnisse eingestellt ist. Da es sich umsorgt und geborgen fühlt, kann es eine besonders sichere Bindung entwickeln. Und sicher gebundene Kinder lernen nicht nur schneller, sondern finden auch leichter Anerkennung in ihrer Peer-Group. Sie sind beliebter und entwickeln ihr ganzes Leben lang stabilere Beziehungen zu anderen Menschen. Kinder von einfühlsamen Eltern haben von klein auf gelernt, wie man stabile Beziehungen anknüpft. Diese Fähigkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass auch ihre Kinder wiederum zu physisch und psychisch gesunden Erwachsenen heranreifen. So wird ein

generationsübergreifender Kreislauf in Gang gesetzt, der offenkundig langfristige Fortpflanzungsvorteile bietet. Und auf kurze Sicht verringert die Sensibilität für die Bedürfnisse des eigenen Kindes die Gefahr der Vernachlässigung und dadurch das Risiko der Kindersterblichkeit durch tödliche Unfälle. Auf diese Weise konnten Mütter mit ausgeprägtem Einfühlungsvermögen dann vielleicht besonders viele Nachkommen vorweisen. Dieser Ansatz hat sich zu einer weit reichenden Theorie entwickelt, derzufolge die Empathie zusammen mit dem elterlichen Engagement der Primaten entstand. Das klingt durchaus einleuchtend und erklärt unmittelbar die weibliche Überlegenheit in Bezug auf das Einfühlungsvermögen. Die weiblichen Angehörigen der Spezies waren (bei nichtmenschlichen Primaten und deshalb vermutlich bei unseren Hominiden-Vorfahren) die primären Fürsorgepersonen. Wenn eine Affenmutter mit ihrem am Bauch festgeklammerten Affenbaby durch ein tieferes Gewässer watet, überprüft sie nicht, ob sein Gesicht aus dem Wasser herausragt. Ihr Nachwuchs droht also unter unter Umständen zu ertrinken. Das lässt vermuten, dass Affenweibchen nicht in der Lage sind, die Perspektive und Bedürfnisse eines anderen Tieres (in diesem Fall des Babys) zu berücksichtigen. Bei den Menschenaffen wie etwa den Schimpansen ergibt sich ein völlig anderes Bild. Nach Ansicht des Primatologen Frans de Waal ist dies darauf zurückzuführen, dass Menschenaffen zu einer rudimentären Empathie fähig sind. Das Einfühlungsvermögen bei den Menschenaffen umfasst zum Beispiel »gezielte Hilfe« (bei der ein Tier genau die Art von Hilfe leistet, die das andere Tier braucht) und Trost (zum Beispiel das zärtliche Streicheln eines Tieres, das einen Verlust erlitten hat). 15

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Klatsch

Ein gutes Einfühlungsvermögen ermöglicht nicht nur eine reziproke Kommunikation und lohnende Gespräche mit guten Freunden, sondern auch Klatsch und Tratsch. Die beste Methode, um Informationen über die eigene soziale Gruppe zu sammeln, besteht darin, zum Kreis der Auserwählten zu gehören. Wer weni-

ger einfühlsam ist, findet vielleicht nicht so viele enge Freunde oder hat einfach weniger Spaß am Plaudern und hört demzufolge auch weniger Klatschgeschichten. Wer sich dagegen gut in andere hineinversetzen kann, hat wahrscheinlich einen relativ großen Freundeskreis und versteht sich darauf, Konversation zu treiben. Auf diese Weise bekommt er wichtige Informationen über Menschen, zum Beispiel über deren Vertrauenswürdigkeit. Noch wichtiger ist nach Ansicht des Anthropologen Robin Dunbar von der Universität Liverpool, dass Klatsch das menschliche Gegenstück zum gegenseitigen »Lausen« darstellt - das soziale Schmiermittel, um sich besser kennen zu lernen und verlässliche Bündnisse zu schließen. So gesehen ist gut nachvollziehbar, dass ein Mensch, der viel Empathie zeigt, bessere Überlebenschancen hat. Soziale Mobilität

Für die Gattung des Menschen, aber auch für andere Primaten gilt, dass die Männer dazu neigen, in ihrer Ursprungsgruppe zu bleiben, während die Frauen eher in die Gemeinschaft ihres Partners wechseln. Männer sind also häufiger von leiblichen Verwandten umgeben und stehen natürlich mit diesen Familienangehörigen auf vertrautem Fuß. Von daher waren die Männer vielleicht nicht im selben Maße wie die Frauen gezwungen, ihre empathischen Fähigkeiten zu trainieren, weil sie weit weniger Anstrengungen in den Aufbau und die Pflege von Beziehungen investieren mussten. Eine gute Beziehung zu Menschen, mit denen man nicht verwandt ist, erfordert viel mehr Sensibilität für Gegenseitigkeit und Gerechtigkeit, weil diese Beziehungen nicht selbstverständlich sind. Eine Frau mit wenig Einfühlungsvermögen hatte aber vermutlich weit größere Schwierigkeiten, von ihren neuen Verwandten akzeptiert und unterstützt zu werden, als eine Frau mit gutem Einfühlungsvermögen. 18

Verständnis für den Partner

Frauen, die ein Talent dafür hatten, die Absichten ihres Partners zu erahnen, konnten Gewaltausbrüche vermutlich besser verhindern.

Wenn sie ein Gespür für Lügen und Täuschungen hatten, verstanden sie sich wahrscheinlich auch besser darauf, einen aufrichtigen Partner zu finden, und konnten besser einschätzen, ob ein Mann sie gut behandeln oder einfach nur schwängern würde. Man kann also festhalten, dass ein gutes Einfühlungsvermögen durchaus ein Anpassungsvorteil für Frauen gewesen ist. Die Fähigkeit, sich in den Partner hineinzuversetzen, führt auch zu mehr Mitgefühl und Toleranz, was die Lebensdauer einer Beziehung verlängern kann. Eine Frau mit gutem Einfühlungsvermögen hatte also unter Umständen bessere Chancen, ihre Beziehung stabil zu halten, solange die Kinder klein und verletzlich waren, und konnte auf diese Weise deren Überleben und die Verbreitung ihrer eigenen Gene fördern. Keinen Sinn für Systeme: Irgendwelche Nachteile?

In diesem Kapitel haben wir aus einer evolutionären Perspektive betrachtet, welche Anpassungsvorteile sich durch ein ausgeprägtes Systematisierungsvermögen, ein gutes Einfühlungsvermögen und sogar durch ein schlechtes Einfühlungsvermögen ergeben haben könnten. Aber wie sieht es aus, wenn jemand wenig Talent zum Systematisieren mitbringt? Kann sich das auch vorteilhaft auswirken? Ein schlechter Systematiker hätte Mühe, Werkzeuge zu benutzen oder Dinge zu reparieren, wäre weniger auf soziale Systeme wie etwa das Statussystem fixiert und hätte Schwierigkeiten, sich Orte und Wege einzuprägen. Man kann sich kaum irgendein Szenario vorstellen, in dem geringe Systematisierungsfähigkeiten der Anpassung gedient hätten. Dennoch ist es denkbar, dass eine solche genetisch begründete Eigenschaft im Genpool verbleibt, solange sie der Anpassungsfähigkeit nicht direkt schadet. Ein schlechtes Systematisierungsvermögen könnte der Anpassungsfähigkeit schaden, wenn die Person gleichzeitig in gefühlsmäßiger Hinsicht ein Klotz wäre. Möglicherweise würde diese Person unter einer generellen Lernschwäche leiden, da sie sowohl in sozialer Hinsicht als auch im Hinblick auf ein Verständnis ihrer physischen

Umwelt erheblich eingeschränkt wäre. Sie würde vermutlich i beiderlei Hinsicht die niedrigste soziale Stellung bekleiden und die schlechtesten Aussichten auf eine erfolgreiche Fortpflanzung haben. Wenn der Mangel an Systematisierungsvermögen dagegen mit einer besonderen Begabung zur Empathie einhergegangen wäre, muss er sich nicht nachteilig auf die Anpassungsfähigkeit ausgewirkt haben. Dieses Defizit hätte das Individuum nicht daran gehindert, alle oben beschriebenen Vorteile der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zu nutzen. Und das überlegene Einfühlungsvermögen hätte unter Umständen sogar zur Folge gehabt, dass der Einzelne im Falle einer notwendigen Reparatur (ein kaputtes Werkzeug, ein ausgetrockneter Brunnen) über alle sozialen Fähigkeiten verfügt hätte, um sich durch seine Überredungskünste die Hilfe eines begabten Systematikers zu sichern. Die Mischung aus geringen Systematisierungsfähigkeiten und ausgeprägtem Einfühlungsvermögen (weiblicher Gehirntyp) war also höchstwahrscheinlich kein Nachteil. n

Evolution des ausgewogenen Gehirntyps

Man sieht also, dass es klare Vorteile für das Überleben und die Fortpflanzung hat, wenn man entweder gut systematisieren (männlicher Gehirntyp) oder sich gut in andere einfühlen kann (weiblicher Gehirntyp). Aber es wäre sicherlich ein größerer Vorteil gewesen, in beidem gut zu sein, mit anderen Worten, einen ausgewogenen Gehirntyp zu entwickeln. Es gibt zwar eine Variante des ausgewogenen Gehirntyps (schwach im systematischen Denken und schwach in der Empathie), die eindeutig keine Vorteile für die Anpassungsfähigkeit bietet, doch wie sieht es bei einer durchschnittlichen bis hohen Begabung in beiden Bereichen aus? Auch wenn ein solch ausgewogener Gehirntyp alle Vorzüge in sich vereinen würde (systematisches Denken und Einfühlungsvermögen), ist zu vermuten, dass sich diese Variante für den Mann als weniger erfolgreich erweist als der rein männliche Gehirntypus. In jedem Wettbewerb zwischen zwei Anführern würde nämlich der

gute Systematiker, der etwas weniger Empathie aufbringt, alles Notwendige tun, um als Sieger aus dem Wettstreit hervorzugehen, auch wenn er dafür die Gefühle anderer verletzen müsste. Denken Sie an den Armeegeneral, der zum Wohl des Gesamtregiments beschließt, die Verwundeten zurückzulassen, um die Gesunden zu retten. Ein Mensch mit ausgewogenem Gehirntyp mag der angenehmere Chef sein, aber ihm fehlt unter Umständen das Quäntchen Rücksichtslosigkeit, auf das es ankommt, wenn die Existenz des Unternehmens auf dem Spiel steht. Bei einer Frau könnte ein solch ausgewogener Gehirntyp bedeuten, dass sie weniger Zeit in die Pflege von Beziehungen investiert und dadurch Gefahr läuft, weniger soziale Unterstützung zu erhalten. Nach dieser Theorie sind das männliche und das weibliche Gehirn also perfekt an bestimmte, spezialisierte Nischen angepasst - einerseits das Überleben in der Gruppe und die soziale Integration, andererseits die Vorhersage und Kontrolle von Ereignissen. Ein weiterer Grund, weshalb man relativ selten auf den ausgewogenen Gehirntyp trifft (was noch durch Studien belegt werden muss), könnte sein, dass die Entwicklung von Empathie und systematischem Denken ein »Nullsummen-Spiel« ist. Mit anderen Worten: Je mehr Einfühlungsvermögen der Einzelne entwickelt, desto schlechter wird sein Systematisierungsvermögen und umgekehrt. Auch wenn dies nicht zwangsläufig so sein muss (wir alle kennen Menschen, die gut in beidem sind), gilt es, diesen Punkt genauer zu erforschen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Weder Gehirntyp E noch S ist besser oder schlechter. Beide Typen sind offenbar als Spezialisierungen für ganz unterschiedliche Ziele und Nischen entstanden. Bisher wurden nur jene Gehirntypen betrachtet, die in der allgemeinen Bevölkerung am häufigsten vorkommen. Doch wie steht es mit den Extremformen, die an den Rändern des Kontinuums angesiedelt sind? Im folgenden Kapitel soll eine weitere spezifische These aufgestellt werden: Danach ist die Extremform des männlichen Gehirns weniger verbreitet, weil diese Variante in gewisser Weise schlecht angepasst ist.

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Autismus: Die Extremform des männlichen Gehirns

Bis zu diesem Punkt der Untersuchung haben wir Nachweise betrachtet, die für die Existenz eines männlichen Gehirntyps sprechen, also für ein geringeres Einfühlungsvermögen und ein besseres systematisches Denkvermögen, und für einen weiblichen Gehirntypus mit umgekehrten Eigenschaften. Dabei handelt es sich um normale Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Sie sind klein, aber real (das heißt, statistisch relevant). Doch was ist mit den Extremfällen? Wie verhalten sich Individuen, die eine erheblich geringere Fähigkeit zur Empathie, gepaart mit einer durchschnittlichen oder sogar überdurchschnittlichen Begabung zum Systematisieren aufweisen? Das sind die Menschen (überwiegend Männer), die sich, wenn überhaupt, nur am Arbeitsplatz mit anderen Menschen unterhalten, und zwar rein beruflich, oder nur reden, weil sie etwas brauchen oder um Informationen auszutauschen. Sie antworten auf eine Frage mit den relevanten Fakten und kommen oft gar nicht auf die Idee, eine entsprechende Gegenfrage zu stellen, weil sie nicht automatisch überlegen, was andere denken oder fühlen. Es sind die Menschen, die einfach nicht verstehen, wieso irgendjemand seine Zeit mit Smalltalk vergeudet. Diesen Menschen macht es nichts aus, mit anderen über ein konkretes Problem zu diskutieren (wohlgemerkt diskutieren, nicht plaudern) und nach einer Lösung zu forschen (bzw. den anderen von ihrer Lösung zu überzeugen). Doch eine oberflächliche Unterhaltung, nur so zum Spaß? Wozu sollte das gut sein? Und worüber um alles in der Welt? Wie geht das überhaupt? Belanglose Plaudereien empfinden diese Menschen als ebenso quälend wie überflüssig. Sie denken in erster Linie darüber nach, wie sie eine Aufgabe im Alleingang, durch eigene Anstrengungen lösen können. Ihr Denken kreist ausschließlich um den Gegenstand oder das System, mit dem sie gerade beschäftigt sind. Sie halten nicht inne, um sich mit einer ande-

ren Person auszutauschen, zu beraten oder deren Wissen zu nutzen. Das sind die Menschen mit der Extremform des männlichen Gehirns. Man präsentiert ihnen ein System, und sie sind sofort eifrig bestrebt, die grundlegenden faktischen Gesetzmäßigkeiten zu ergründen. Sie konzentrieren sich so angestrengt auf die winzigsten Details, dass sie in ihrer Begeisterung alles um sich herum vergessen. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich wie ein Scheinwerfer auf eine klitzekleine Variable, sodass alles andere ins Dunkel versinkt und sie vermutlich nicht einmal bemerken würden, wenn direkt neben ihnen ein Mensch in Tränen ausbräche. Sie sind vollständig darauf fixiert, die unveränderlichen »Wenn-dann«-Regeln zu bestimmen, durch die man das System beherrschen und sein Verhalten vorhersagen kann. Wenn man diese Menschen dagegen mit Vermutungen über die Gefühle oder Gedanken anderer Leute konfrontiert oder mit einem Thema, bei dem es letztlich nicht um reine Fakten geht, schalten sie in der Regel ab oder gehen überhaupt nicht darauf ein, weil dieser ganze emotionale Bereich immer mit Unwägbarkeiten behaftet und daher nicht vorhersagbar ist. Ein Verhalten an diesem extremen Ende des Spektrums ist nach meiner Auffassung ein Ausdruck von Autismus. Bevor wir diese Behauptung weiter verfolgen, sollen noch einmal die Hauptmerkmale des Autismus erläutert werden. Autismus

Die Diagnose »Autismus« wird gestellt, wenn eine Person Anomalitäten in ihrer sozialen Entwicklung und Kommunikation zeigt und schon in früher Kindheit ungewöhnlich starke obsessive Interessen an den Tag legt. Als ich Anfang der Achtziger jähre mit der Erforschung des Autismus begann, beschäftigte sich in Großbritannien nur eine Hand voll Wissenschaftler mit diesem Phänomen. Damals hielt man Autismus für die schwerste psychische Störung bei Kindern und für ein relativ seltenes Phänomen. 1

Als besonders schwer wiegend galt diese Störung, weil die Hälfte der Kinder, bei denen man Autismus diagnostizierte, nicht sprechen konnte, und die meisten (75 Prozent) von unterdurchschnittlicher Intelligenz (IQ) waren. Unzureichende sprachliche Fähigkeiten und ein niedriger IQ galten als deutliche Hinweise auf besonders gravierende Störungen. Außerdem litten die Kinder unter den zentralen Merkmalen des Autismus: mangelnde soziale Fähigkeiten, begrenzte Fantasie und obsessive Interessen, wie zum Beispiel das Sammeln unterschiedlicher Steinarten oder der Drang, zu allen Bahnstationen in Großbritannien zu fahren, nur um einen Blick darauf zu werfen. Diese Kinder lernten in sozialer Hinsicht nicht von anderen, und ihre beschränkten Obsessionen hinderten sie häufig daran, sich Allgemeinwissen anzueignen. Viele lebten in ihrer eigenen Welt »wie unter einer Glasglocke« und galten als unerreichbar. Andere zeigten zwar soziales Interesse, mieden aber jeden Blickkontakt mit ihrem Gesprächspartner oder starrten ihn im anderen Extrem viel zu lange an, berührten ihn auf unangemessene Weise oder löcherten ihn mit Fragen zu einem selbstgewählten Thema, um ihn dann wieder abrupt und ohne Vorankündigung stehen zu lassen. Als selten galt Autismus, weil nur vier von 10000 Kindern diese schweren Störungen aufwiesen. Die autistischen Kinder zogen aus mehreren Gründen die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf sich. Einerseits verlangte das gestörte Sozialverhalten nach einer Erklärung, weil andere Kinder mit gleichem IQ relativ gesellig und umgänglich waren. Andererseits zeigten einige der Kinder bestimmte »Inselbegabungen«: Obwohl sie nicht richtig kommunizieren konnten, waren einige zum Beispiel blitzschnell im Rechnen. Andere konnten genau sagen, auf welchen Wochentag ein beliebiges (aktuelles oder früheres) Datum fiel, das man ihnen nannte (die so genannten »Kalenderrechner«). Einige konnten bei jeder Zahl sofort angeben, ob es sich um eine Primzahl handelte oder, falls nicht, durch welche anderen Zahlen sie teilbar war. Manche konnten EisenbahnFahrpläne bis ins kleinste Detail aus dem Gedächtnis aufsagen. Wieder andere lernten die Vokabeln und die Grammatik einer 2

Fremdsprache in ungeheurem Tempo, obwohl sie unfähig waren, sich in dieser Sprache (oder auch in ihrer Muttersprache) zu unterhalten. Bei diesen Kindern zeigte sich eindeutig eine andere Art von Intelligenz. Soweit das damalige Bild vom Autismus. Kinder wie diese gibt es auch heute noch, und ihre Probleme gelten immer noch als selten und schwer wiegend. Doch Anfang der Neunziger jähre ließ sich eine interessante Veränderung beobachten. Man hatte schon lange gewusst, dass ein kleiner Anteil (25 Prozent) der Kinder mit Autismus von durchschnittlicher oder auch überdurchschnittlicher Intelligenz (IQ) war, aber allmählich wurden diese so genannten »high-functioning«-Fälle, also autistische Personen mit hohem Entwicklungsniveau, früher erkannt. Ende der Neunzigerjahre schienen solche Kinder nicht mehr in der Minderheit zu sein. Zu den Diagnose-Kriterien des Autismus gehört unter anderem, dass solche Kinder erst spät zu sprechen beginnen. Mit spät meine ich, dass ein Zweijähriger noch keine einzelnen Wörter spricht und ein Dreijähriger noch keine Sätze. Doch bei diesen high-functioning-Fällen von Autismus hält die verzögerte Sprachentwicklung die Kinder offenbar nicht davon ab, ein hohes oder auch sehr hohes Leistungsniveau in Mathematik, Schach, mechanischem Wissen und anderen faktischen, naturwissenschaftlichen, technischen oder regelorientierten Domänen zu erreichen. 3

Asperger-Syndrom

In den Neunzigerjahren diskutierte man unter Ärzten und Forschern auch zunehmend über eine Gruppe von Kindern, die nur einen kleinen Schritt von den autistischen Personen mit hohem Entwicklungsniveau entfernt waren. Man stellte die Diagnose auf, dass diese Kinder unter einer Störung namens Asperger-Syndrom (AS) litten, das als eine Variante des Autismus beschrieben wurde. Kinder mit AS weisen die gleichen Probleme mit sozialen und kommunikativen Fähigkeiten und die gleichen obsessiven Interessen auf. Sie verfügen allerdings über einen normalen oder hohen

IQ (wie beim high-functioning-Autismus), und ihre Sprachentwicklung ist nicht verzögert. Von daher sind die Probleme dieser Kinder mitunter weniger augenfällig. Heute wird bei etwa einem von 200 Kindern eine Störung aus dem autistischen Spektrum, einschließlich Asperger-Syndrom, diagnostiziert, und viele dieser Kinder besuchen normale Regelschulen. Wir müssen also unser Autismuskonzept von Grund auf überarbeiten. Kamen in den Siebzigerjahren noch vier Fälle von Autismus auf 10000 Kinder, beträgt das Verhältnis heute fast das Zehnfache. In erster Linie spiegelt sich in diesen Zahlen wahrscheinlich das gestiegene Bewusstsein für den Autismus und die Erweiterung der Diagnose auf das Asperger-Syndrom wider. Die Probleme, unter denen Kinder mit AS leiden, sind auf den ersten Blick nicht so gravierend wie bei stummen oder lernbehinderten Kindern mit Autismus. Gleichwohl sind die meisten Kinder mit AS sehr unglücklich in der Schule, weil es ihnen nicht gelingt, Freundschaften zu schließen. Man kann sich schwer vorstellen, wie das ist. Die meisten Menschen halten es für selbstverständlich, dass man sich hinlänglich in eine Gemeinschaft einfügt, um verschiedene Freunde zu finden. Doch Kinder mit AS leben in einer Welt, in der sie von Bekannten oder Fremden umgeben sind und häufig keine Freunde im eigentlichen Sinne haben. Viele werden gehänselt und schikaniert, weil sie sich nicht in die Gruppe einfügen können oder kein Interesse daran zeigen. Ihr mangelndes Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen kann sogar dazu führen, dass sie nicht einmal versuchen, ihre »Macken« zu verbergen. 4

Das artistische Spektrum

Wenn man den klassischen Autismus, den Autismus mit hohem Funktionsniveau und das Asperger-Syndrom nebeneinander stellt, erhält man das so genannte »autistische Spektrum«. Wie hat man sich Menschen, die unter diesen Störungen leiden, vorzustellen? Wie bereits deutlich wurde, sind die Fähigkeiten unterschiedlich gestreut. Verglichen mit einer gleichaltrigen Person mit gleichem

IQ ohne Autismus zeigen Menschen mit Autismus oder AS ein eigenartiges Sozialverhalten, kommunizieren auf eigenartige Weise und legen mehr oder weniger ungewöhnliche Obsessionen an den Tag. Einige Menschen mit Autismus können nur wenig oder gar nicht sprechen, während andere sehr wortgewandt sind. Einige haben zusätzliche Lernschwierigkeiten, während andere bei MENSA aufgenommen werden (dem Verband für hoch begabte Menschen mit hohem IQ). Im nächsten Kapitel werde ich eine Person mit derartigen Begabungen vorstellen. Doch zunächst noch einige weitere Erläuterungen zum autistischen Spektrum. Die darin zusammengefassten Störungen sind vom Ursprung her rein genetisch. Die Nachweise dafür stammen aus Zwillings- und Familienstudien. Wenn ein eineiiger Zwilling unter Autismus leidet, ist das Risiko, dass sein Zwilling ebenfalls eine Störung aus dem autistischen Spektrum entwickelt, sehr hoch (es liegt zwischen 60 und 90 Prozent). Wenn ein zweieiiger Zwilling eine Störung aus dem autistischen Spektrum zeigt, ist das entsprechende Risiko für seinen Zwilling erheblich geringer (etwa 20 Prozent). Dies ist ein starkes Indiz für die Erblichkeit von Autismus, weil ein wichtiger Unterschied zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingen darin besteht, dass erstere 100 Prozent ihrer Gene gemeinsam haben, während letztere im Durchschnitt nur etwa 50 Prozent miteinander teilen. Nach den Ergebnissen von Familienstudien besteht zudem ein höheres Risiko, dass Kinder eine Störung aus dem autistischen Spektrum entwickeln, wenn bereits ein Geschwisterkind in der Familie unter Autismus leidet.

Männer sind offenbar weitaus häufiger von Störungen aus dem autistischen Spektrum betroffen als Frauen. Bei Menschen mit high-functioning-Autismus oder Asperger-Syndrom beträgt das Verhältnis von Männern und Frauen mindestens zehn zu eins. Auch das spricht dafür, dass die Störungen aus dem autistischen Spektrum erblich sind. Interessanterweise hat man dem Geschlechterverhältnis beim Autismus noch nicht die wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt, die es vielleicht verdient hätte, weil die Natur uns hier offenbar einen deutlichen Hinweis auf die Ursache der Krankheit gibt. Die Störungen aus dem autistischen Spektrum hängen zudem 5

mit der neuronalen Entwicklung zusammen. Das heißt, sie beginnen sehr früh, vermutlich pränatal, und beeinträchtigen die Entwicklung und Funktion des Gehirns. Es gibt Hinweise auf hirnorganische Störungen bei einem gewissen Prozentsatz der Fälle (zum Beispiel Epilepsie). Manche Studien deuten auch daraufhin, dass strukturelle und funktionelle Veränderungen bei bestimmten Hirnregionen vorliegen (etwa eine anomale Größe der Amygdala und eine geringere Empfänglichkeit gegenüber emotionalen Reizen). Kennzeichnend für den Autismus ist ein gestörtes Einfühlungsvermögen: Menschen mit Autismus haben große Probleme, die Gedanken und Gefühle eines anderen Menschen zu deuten oder sich in ihn hineinzuversetzen. Es fällt ihnen schwer, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen und angemessen auf die Gefühle des Gegenübers zu reagieren. In einem früheren Buch habe ich den Autismus als Blindheit für Bewusstseinszustände oder als »mentale Blindheit« (mindblindness) bezeichnet. Menschen mit Autismus erweisen sich oft als die loyalsten Verbündeten und Verteidiger, wenn sie glauben, dass jemand ungerecht behandelt wird. So gesehen ist ihnen das Schicksal anderer also durchaus nicht gleichgültig. Sie sind keine hartherzigen Psychopathen, die darauf aus sind, andere zu verletzen. Im Gegenteil: Wenn sie feststellen, dass sie einen anderen Menschen ungewollt gekränkt oder durch eine ungeschickte Äußerung vor den Kopf gestoßen haben, sind sie in der Regel ganz entsetzt und können gar nicht verstehen, wieso ihr Verhalten diese Reaktion ausgelöst hat. Genauso verwirrend finden sie allerdings die Frage, wie man eine solche Kränkung wieder gutmacht. Auf jeden Fall verletzen sie andere Menschen nicht absichtlich. Sie haben nur ganz generell Schwierigkeiten, die Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen anderer zu deuten und einzuschätzen. Autismus kann auch mit zahlreichen ungewöhnlichen Begabungen verbunden sein. Kinder mit Autismus achten penibel auf Details und entdecken oft als Erste etwas, das niemand sonst bemerkt hat. Sie treffen feine Unterscheidungen zwischen Dingen, die anderen Menschen vielleicht unwichtig erscheinen oder außerhalb ihrer Wahrnehmung liegen. So bemerken sie vielleicht 6

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die feinen Fasern in ihrer Bettdecke und entwickeln eine Vorliebe für eine spezielle Decke, auch wenn die zur Auswahl stehenden Decken für jeden anderen Betrachter völlig identisch aussehen. Sie lieben strukturierte Informationen, sind immer auf der Suche nach Gesetzmäßigkeiten und Ordnungsmustern und entdecken deshalb wiederkehrende Zahlenreihen in ansonsten unverbundenen Kontexten, bestimmte Ähnlichkeiten von Blattadern oder die regelmäßige Abfolge von Veränderungen beim Wetter. Ich kenne zum Beispiel einen Jungen, der im Alter von fünf Jahren seine Lehrerin fragte, wie Computer funktionieren. Sie erklärte ihm, dass Computer Informationen in einem zweiteiligen oder binären Code speichern, sodass jede kleinste Information entweder da ist oder nicht. Der Junge erwiderte daraufhin sofort: »Genauso funktioniert mein Gehirn!« und verlieh sich selbst den Spitznamen »Binär-Junge«. Seine Mutter erläuterte mir an einem praktischen Beispiel, wie sein außergewöhnliches Denken funktioniert. Die beiden wohnten in Fulham, im Westen Londons, und die Mutter brachte ihren Sohn jeden Tag zu Fuß zur Schule. Eines Tages sagte der fünfjährige Knirps zu seiner Mutter: »Wir sollten der Frau, die in Nummer 105 wohnt, lieber sagen, dass ihre Parkerlaubnis nächsten Dienstag ausläuft.« »Woher weißt du das?« fragte seine Mutter erstaunt. »Na ja, das Datum steht auf der Parkscheibe, die hinter der Windschutzscheibe steckt«, erklärte er. »Dieser rote Landrover hier - das ist ihr Wagen.« Wie sich herausstellte, hatte der Fünfjährige zuerst für alle parkenden Autos in der Straße in Erfahrung gebracht, zu welchem Haus sie gehörten. Das allein war schon eine beachtliche Leistung, da es Hunderte von Wohnungen an jeder Straßenseite gab. Dann hatte er sich bei jedem Auto das Datum eingeprägt, das auf der Parkscheibe stand. Seine völlig perplexe Mutter beschloss, sein Wissen zu überprüfen. »Und wem gehört der grüne Saab?«, fragte sie. »Der gehört dem alten Mann in Nummer 62«, antwortete der Sohn mit monotoner Stimme. Das war korrekt. »Und wann muss seine Parkerlaubnis verlängert werden?«, fragte sie. »Am 24. April nächsten Jahres«, entgegnete er im selben sachlichen Ibntall

wie zuvor. Seine Mutter ging zu d e m Auto und überprüfte seine Angaben. Es stimmte. »Willst du damit etwa sagen, dass du für jedes Auto in dieser Straße das Ablaufdatum der Parkerlaubnis kennst?« »Klar«, erklärte er in leicht gelangweiltem Ton. »Weißt du sonst n o c h irgendetwas über diese Parkgenehmigungen?« »Ich kann dir auch n o c h die Seriennummer für jede Genehmigung sagen. Der grüne Saab ist ein Saab 900 und seine G e n e h m i g u n g hat die Serienn u m m e r A4 73253. Der rote Landrover hat Z534221.«

Menschen mit Autismus merken sich solche winzigen Details und können sich oft mit verblüffender Genauigkeit daran erinnern. Sie möchten am liebsten alles ganz genau vorhersagen und kontrollieren können. Unberechenbare und/oder unkontrollierbare Phänomene (wie Menschen) lösen normalerweise Angst oder Gleichgültigkeit aus, doch je berechenbarer das Phänomen ist, desto anziehender wirkt es auf sie. Einige Kinder mit Autismus drehen immer wieder am Rad eines Spielzeugautos und starren stundenlang auf die wiederkehrende Bewegung. Andere sitzen unermüdlich vor der Waschmaschine und beobachten fasziniert, wie die Trommel sich dreht. Wieder andere verfolgen gebannt das Muster, das entsteht, wenn sie Bohnenkerne oder Sandkörner durch ihre Finger und in ein Gefäß gleiten lassen, oder sie vertiefen sich in Zahlenreihen wie Geburtsdaten oder Telefonnummern. Wenn diese Kinder in Kontakt mit der unberechenbaren Welt der zwischenmenschlichen Kontakte treten müssen, versuchen sie häufig, ihr dieselbe Vorhersagbarkeit und Gleichförmigkeit aufzuzwingen. In dem Versuch, andere Menschen zu kontrollieren und berechenbar zu machen, neigen sie häufig zu Wutanfällen oder beharren auf stereotypen Wiederholungen. So wie es ihnen Vergnügen bereitet, einer Spielzeugeisenbahn zuschauen, die immer wieder auf demselben Schienenweg im Kreis fährt, weil es sich dabei um einen genau kontrollierten, von der Stellung der Weichen abhängigen Vorgang handelt, so möchten sie Gleiches oft auch in der Welt des menschlichen Miteinanders bewirken, wenn sie andere Leute beispielsweise dazu drängen, immer wieder dieselben Antworten auf dieselben Fragen zu geben. Uns liefert

dieses Verhalten einen klaren Anhaltspunkt für die Art ihres Gehirntyps. Viele Menschen mit Autismus fühlen sich automatisch von den berechenbaren Dingen der Welt angezogen - wie etwa von Computern. Für den Durchschnittsmenschen sind Computer Geräte, die »abstürzen«, und daher alles andere als berechenbar. Doch im Gegensatz zu Menschen halten sich Computer an strenge Gesetzmäßigkeiten. Wenn der Computer abstürzt, gibt es eine begrenzte Anzahl von Ursachen dafür, und wenn man genügend Geduld aufbringt, um sich gründlich mit dem System vertraut zu machen, kann man nach dem logischen Ausschlussprinzip den Fehler und dessen Beseitigung ermitteln. Computer sind geschlossene Systeme: Sie sind (theoretisch) durchschaubar, vorhersagbar und kontrollierbar. Bei den Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen von Menschen handelt es sich dagegen um offene Systeme, die man nicht restlos ergründen, nicht wirklich kontrollieren und vorhersagen kann. Einige Menschen mit Asperger-Syndrom lösen Computerprobleme auf eine Art, die Außenstehenden wie reine Intuition erscheinen mag, in Wahrheit jedoch das Ergebnis eines methodischen Denkens ist, das Regeln, Muster und Sequenzen auf geordnete, logische Weise speichert. Andere Menschen mit AS konzentrieren ihre Wissbegierde vielleicht nicht auf Computer, sondern auf andere genauso geschlossene Systeme (wie das Verhalten von Zugvögeln oder das Sammeln von Lokomotiven- und Eisenbahnnummern). Ein junger Mann mit AS war zum Beispiel besessen von den Druckpunkten des menschlichen Körpers und erklärte mir, dass man Menschen sogar töten könne, wenn man mit dem Daumen Druck auf bestimmte Stellen ausübe. Er hatte sich intensiv mit dieser Thematik beschäftigt (und konnte demonstrieren), wie man einen Menschen in Sekundenschnelle auf Dutzende von Arten mit einer so simplen Waffe wie dem eigenen Daumen töten kann. Geschlossene Systeme weisen oberflächlich betrachtet vielleicht starke Unterschiede auf, aber ihnen allen ist gemeinsam, dass sie begrenzt, exakt berechenbar und vorhersagbar sind. Ein Kind ist vielleicht ganz verrückt nach Harry Potter, liest immer wieder die Bücher, schaut sich die Videofilme unzählige Male an und 8

kann jede Sachfrage mit erstaunlicher Präzision beantworten. Ein anderes Kind sammelt vielleicht mit Begeisterung kleine Spielzeugsoldaten, die man vollständig unter Kontrolle hat und immer wieder nach Herzenslust in wechselnden Formationen aufstellen kann. Ein junger Mann mit AS wurde zum Experten für das Nonplusultra geschlossener Systeme - das Jonglieren. Er hatte sich intensiv mit den mathematischen Gesetzmäßigkeiten des longlierens beschäftigt, das heißt mit den Gesetzen, die bestimmen, ob ein Jonglierakt gelingt oder scheitert. Er erklärte mir, dass es zwei entscheidende Faktoren gebe, nämlich zum einen den Winkel, in dem die Bälle die Hand verlassen, und zum anderen den höchsten Punkt, den die Bälle erreichen, bevor sie wieder nach unten fallen. Über diese beiden Faktoren kann man absolute Kontrolle erlangen, vor allem wenn man (wie er) drei Stunden pro Tag übt. Er konnte mit neun Bällen gleichzeitig jonglieren. Vor allem Personen mit high-functioning-Autismus oder mit Asperger-Syndrom finden es besonders reizvoll, zum Experten für geschlossene Systeme zu werden. Bei ihnen zeigen sich die mentalen Mechanismen des Autismus ohne die mit dem klassischen Autismus verbundenen Sprachstörungen, Entwicklungsverzögerungen oder Lernbehinderungen. Die größten Schwierigkeiten für Menschen mit AS ergeben sich als Kind auf dem Spielplatz, und später als Erwachsene bei Freundschaften und Partnerschaften sowie am Arbeitsplatz. In all diesen Bereichen haben Menschen mit AS zu kämpfen, weil es sich um unstrukturierte und unberechenbare Situationen handelt, in denen es auf Beziehungen, soziales Einfühlungsvermögen und Gegenseitigkeit ankommt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Menschen mit Autismus und AS durch das Bedürfnis nach Kontrolle über ihre Umwelt gekennzeichnet sind. Wenn Menschen mit AS eine Beziehung eingehen, so läuft diese ausschließlich nach ihren Bedingungen. Ein Junge mit AS ist ein guter Spielkamerad, solange gespielt wird, wozu er Lust hat. Und wie wir noch sehen werden, ist eine Beziehung zu einem Erwachsenen mit AS nur möglich, wenn die andere Person in der Lage ist, sich in extremer Weise an dessen Bedürfnisse, Wünsche und Gewohnheiten anzupassen. Je kontrol-

lierbarer ein Element der Umweit ist, desto stärker empfinden Personen mit Autismus oder AS den Drang, es in allen Einzelheiten zu erforschen und zu beherrschen. Erwachsene mit Asperger-Syndrom

Ich leite in Cambridge eine Klinik für Erwachsene, die unter AS leiden, deren Probleme in der Kindheit aber unentdeckt geblieben sind. Als sie die Schule besuchten, gab es die Diagnose AS einfach noch nicht. Also haben sie sich mühsam durch Kindheit, Adoleszenz und junges Erwachsenenalter gekämpft, und ihre Probleme sind im Laufe der Zeit immer weiter angewachsen. Irgendwann erreichen diese Menschen dann den Punkt, an dem sie eine Klinik aufsuchen, weil sie verzweifelt nach einer Erklärung dafür suchen, weshalb sie ihr Leben lang nirgends dazugehörten und immer »anders« waren. In den meisten Fällen leiden diese Menschen auch unter klinischen Depressionen, weil sie kein berufliches oder privates Umfeld gefunden haben, das sie in ihrer Andersartigkeit akzeptiert. Sie sehnen sich danach, sie selbst zu sein, fühlen sich aber gezwungen, eine Rolle zu spielen, und versuchen verzweifelt, das Richtige zu sagen oder zu tun, um andere Menschen nicht vor den Kopf zu stoßen. Sie wissen aber nie, wann oder warum der andere negativ reagiert oder sie eigenartig findet. Viele bemühen sich, eine Fülle von Verhaltensregeln für alle erdenklichen Situationen zu erlernen, und verwenden enorme Anstrengungen darauf, für jede einzelne Situation eine Art mentale Tabelle mit den richtigen Anweisungen abzurufen. Sie versuchen, eine Art Handbuch für die soziale Interaktion zusammenzustellen, das auf Wenn-dann-Regeln basiert. Es ist dies wieder der Versuch, das soziales Verhalten in ein System zu bringen, während der Austausch mit anderen doch eigentlich via Empathie funktionieren sollte. Sie müssen sich eine Art Knigge für die gesellschaftlichen Umgangsformen bei größeren Abendessen vorstellen (welche Gabel man benutzen soll; was man auf Fragen wie: »Möchten Sie

noch etwas Nachtisch?« antwortet etc.), nur zehn Mal so dick, damit wirklich jede Eventualität im sozialen Diskurs abgedeckt wird. Natürlich ist es unmöglich, auf absolut jede Situation vorbereitet zu sein, und obwohl einige Personen mit AS diesem Ziel erstaunlich nahe kommen, zehrt es an ihren Kräften. Wenn sie am Abend ihren Arbeitsplatz verlassen, wo sie den ganzen Tag lang vorgegeben haben, ganz normal mit anderen zu interagieren, ist soziale Interaktion das Letzte, wonach ihnen der Sinn steht. Sie möchten einfach nur die Tür hinter sich schließen und endlich tun oder sagen können, was sie wollen. Ihnen ist nicht klar, weshalb sie nicht aussprechen dürfen, was sie denken, und weshalb die anderen nicht einfach offen reden. Für sie ist schwer zu verstehen, weshalb andere sich gekränkt fühlen oder man in soziale Schwierigkeiten gerät, wenn man seine Meinung ehrlich äußert. So sagt ein Mitarbeiter mit AS unter Umständen (wahrheitsgemäß) zu einem potenziellen Kunden: »Unsere Firma stellt unzuverlässige Produkte von niedriger Qualität her.« Oder ein junger Mann mit AS äußert gegenüber seiner Kollegin: »Du hast große Brüste.« Ein anderer erklärt vielleicht auf einer Dinnerparty: »Ihre Stimme ist zu laut und klingt unangenehm.« Oder ein Kind mit AS eröffnet seiner Lehrerin: »Sie sind dumm.« Diese Bemerkungen mögen alle der Wahrheit entsprechen, doch es liegt auf der Hand, dass man sie besser für sich behält. Für einen Menschen mit AS ist das jedoch alles andere als selbstverständlich. Man könnte Personen mit AS empfehlen, bestimmte Themen einfach zu meiden, um den Zuhörer nicht vor den Kopf zu stoßen. Doch die geringe Empathie veranlasst sie häufig zu dem Gedanken, dass es nicht ihr Problem ist, wenn andere sich gekränkt fühlen. Ein Mann mit AS brachte diese Haltung mir gegenüber einmal folgendermaßen zum Ausdruck: Was ich sage, ist meine Überzeugung. Wie ein anderer meine Äußerungen auffasst, hat nichts mit mir zu tun. Wenn er verletzt oder beleidigt ist, ist das nicht mein Problem. Ich sage einfach, wie es ist. Ich bringe meine Meinung zum Ausdruck, und wo meine Worte landen, hat nichts mit mir zu tun. Es ist genau dasselbe, als wenn ich eine Toilette benutze. Wenn die Fäkalien meinen Körper verlassen haben, bin ich nicht länger dafür verantwortlich, was in der Toilette oder darüber hinaus mit ihnen geschieht. 9

Diese Äußerung verdeutlicht, dass dieser Mann (dessen IQ im oberen Bereich lag) nicht wirklich begreift, dass sich Menschen von Toiletten oder anderen unbelebten Objekten unterscheiden. Er kann nicht verstehen, dass Menschen Gefühle haben, die man nicht einfach verletzen darf. Viele Menschen mit AS lernen jedoch zu schweigen und keine persönlichen Bemerkungen über eine andere Person zu machen. Sie tun das nicht aus empathischem Verständnis oder aus Anteilnahme, sondern weil sie auf diese Weise Ärger vermeiden können. Auch hier gilt wieder, dass sie eher eine Regel lernen und weniger durch Empathie motiviert sind. Ein anderer Mann mit AS erklärte mir das kurz und bündig mit den Worten: »Wenn du nichts empfindest, tu so als ob.« Ich hatte ihn gefragt, wie er sich verhalten würde, wenn jemand traurig wäre oder weint. Er meinte, er habe gelernt, seiner Stimme einen tröstenden Klang zu verleihen und etwas zu sagen wie: »Möchtest du eine Tasse Tee?«, aber in Wahrheit seien ihm die Tränen der anderen Person völlig gleichgültig. Viele Erwachsene mit AS müssen sich selbst durch viele Versuche und noch mehr Irrtümer antrainieren, was man sagen oder tun darf und was nicht. Eine ganz schöne Ochsentour! Im Folgenden will ich die typischen Merkmale vorstellen, die wir bei den - überwiegend männlichen - Erwachsenen mit AS in unserer Klinik festgestellt haben. Kindheit

Wenn man auf die Kindheit von Menschen mit AS zurückblickt, zeichnet sich ein allgemeines Muster ab. Diese Menschen waren fast immer Einzelgänger. Auch wenn sie sich der anderen Kinder auf dem Spielplatz bewusst waren, wussten sie häufig nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollten. Einige berichten, dass sie sich fühlten, »wie ein Marsmensch auf dem Spielplatz«. Viele gaben an, dass sie lieber mit Erwachsenen wie Lehrern als mit den anderen Kindern gesprochen hätten. Leider wurden diese Kinder selten von anderen Kindern nach 10

Hause oder zum Geburtstag eingeladen, und wenn es doch einmal vorkam, blieb es meist bei diesem einen Mal. Wenn wir die Eltern fragten, welche Art von Spiel ihre Kinder bevorzugten, stellten wir fest, dass sie kaum Interesse an abwechslungsreichen Symboloder Rollenspielen zeigten. Sie interessierten sich eher für Spiele, bei denen man etwas aufbauen oder zusammenbauen konnte, oder für das Lesen von Sachbüchern (Enzyklopädien u.Ä.). Wenn andere Kinder zum Spielen kamen, benahm sich das Kind mit AS auf eine Weise, die oft als »herrschsüchtig« beschrieben wurde, und versuchte, die anderen herumzukommandieren. Dabei bestimmte das Kind nicht nur, was gespielt wurde, sondern schrieb den anderen auch vor, was sie sagen und tun sollten. Als Kinder konnten sich viele von ihnen stundenlang allein mit Puzzles, Lego, Maccano und anderen Konstruktionssystemen beschäftigen. Einige bauten auch Häuser aus Kartons in der Wohnung oder Höhlen im Garten, vertieften sich in den Modellbau oder spielten mit Armeen aus kleinen Rittern, Soldaten oder Fantasy-Figuren. Alle lernten im üblichen Alter sprechen (das gehört zu den Diagnosekriterien), aber einige erwarben sehr früh einen ungewöhnlich präzisen Wortschatz. So berichtete mir eine Mutter, dass das erste Wort, das ihr (inzwischen erwachsener) Sohn kurz nach seinem ersten Geburtstag sagte, »Gelenk-Laster« war (nicht einfach »Laster«). Viele Erwachsene mit AS berichteten, dass sie auf Grund ihrer ungewöhnlichen Interessen und des Mangels an normaler Geselligkeit in der Schule von den anderen Kindern gehänselt worden waren. Bei einigen führte das zu Depressionen, während andere die Wut und Enttäuschung, die diese ungerechte Behandlung durch Gleichaltrige bei ihnen auslöste, durch eigene Aggressionen abreagierten. Typischerweise verfolgten sie als Schulkinder ihre eigenen geistigen Interessen sehr intensiv und auf hohem Niveau, lernten bücherweise Fakten auswendig, erforschten den Wechsel von Sonne und Schatten auf ihren Schlafzimmerwänden oder versuchten sich in der Züchtung tropischer Fische, bis sie sich in ihrem jeweiligen Fachgebiet sehr gut auskannten. Doch viele scheiterten

gleichzeitig an den geforderten Hausaufgaben, sodass sie in bestimmten Fächern durchfielen. Da sie nicht das Bedürfnis hatten, dem Lehrer zu gefallen, befassten sie sich einfach nur mit denjenigen Unterrichtsfächern, die sie interessierten, und nicht mit dem gesamten Stoff. Die ganze Kindheit hindurch gab es Anzeichen obsessiven oder starken Interesses an eingegrenzten Spezialgebieten: Einige sammelten komplette Sätze von Tier-Fotokarten, andere trugen mathematische Gleichungen in den Hosentaschen mit sich herum und wieder andere lernten eine Fremdsprache nach der anderen. Viele dieser Kinder bauten Wissenssammlungen auf. Was die weiblichen Patienten mit AS betrifft, so erinnerten sich viele daran, dass man sie auf Grund ihrer Verhaltensweisen und Interessen häufig als »halbe Jungen« oder Wildfänge (Tomboys) bezeichnete. jugend

Als wir unsere Patienten mit AS baten, sich an ihre Adoleszenz zu erinnern, erklärten die meisten, sie seien vor allem in »Sachfächern« wie Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte und Geographie erfolgreich gewesen oder auch beim Lernen von Vokabeln und Grammatikregeln einer Fremdsprache. Viele (aber nicht alle) erbrachten ihre schwächsten Leistungen im Literaturunterricht, wenn die Aufgabe darin bestand, fiktionale Texte zu interpretieren, reine Fantasiegeschichten zu schreiben oder sich in das Gefühlsleben einer Romanfigur hineinzuversetzen. Einige lernten Regeln, um die Analyse der fiktionalen Texte in ein System zu bringen, und erhielten auf diese Weise gute Noten. In einem extremen Fall kaufte sich eine junge Frau mit AS Vorbereitungsbücher für die Prüfungen und lernte literaturkritische Aufsätze über bestimmte Texte auswendig, ohne die eigentlichen Texte gelesen zu haben. Viele wurden sich in dieser Zeit schmerzlich bewusst, dass sie nicht besonders beliebt waren und kaum Freunde hatten. Die männlichen Jugendlichen mit AS hatten insbesondere Schwierigkeiten, Beziehungen zu Mädchen anzuknüpfen. Ihre Obsessionen

setzten sich in dieser Zeit fort. Die Jugendlichen wechselten nur dann zu einem neuen Interessengebiet, wenn das letzte voll ausgeschöpft war, was im Allgemeinen einige Jahre dauerte. Die Frauen mit AS empfanden in ihrer Adoleszenz insbesondere die gleichaltrigen Mädchen als irritierend und wussten nicht, wie sie sich ihnen anschließen sollten: »Dieses ganze Gekichere in Fahrstühlen und das ewige Gerede über Mode und Frisuren. Es war mir schleierhaft, warum sie das machten.« Einige handelten sich Ärger mit ihren ungewöhnlichen Hobbys ein (die Chemie von Giften, der Bau von Sprengkörpern). Den meisten war es schon mehr oder weniger häufig passiert, dass sie mit einer Äußerung die Gefühle anderer verletzt hatten; trotzdem verstanden sie nicht, warum die andere Person gekränkt reagierte, wenn die Äußerung der Wahrheit entsprach. Zu solchen Wahrheiten gehörten zum Teil recht drastische Bemerkungen wie: »Sie ist fett« oder auf einer Beerdigung: »Es ist so langweilig hier.« Erwachsenenalter

Viele Erwachsene mit AS haben mehrere Stellenwechsel hinter sich, weil sie an den jeweiligen Arbeitsplätzen mit sozialen Problemen zu kämpfen hatten, die zu Zusammenstößen mit Kollegen und Arbeitgebern und schließlich zu ihrer Entlassung oder freiwilligen Kündigung führten. Ihre Arbeit gilt häufig als fachlich sehr kompetent und gründlich, auf Grund ihrer eingeschränkten Sozialkompetenz werden sie aber unter Umständen nie befördert. Einige hatten eine Reihe von kurzfristigen sexuellen Beziehungen. Diese Beziehungen sind für gewöhnlich nicht von Dauer, zum einen weil der Partner sich extrem kontrolliert oder benutzt fühlt und zum anderen weil die Person mit AS in emotionaler Hinsicht keine Stütze ist und nicht über Gefühle spricht. Die Umwelt registriert, dass Leute mit AS ein eigenartiges Sozialverhalten zeigen (auch wenn dies bei weiblichen Patienten schwerer zu entdecken ist); und ihre wenigen Freunde sind häufig selbst ein bisschen eigenartig. Typischerweise schlafen die Freundschaften mit der Zeit ein, weil sie nicht gepflegt werden.

Ein signifikanter Prozentsatz von Erwachsenen mit AS leidet an klinischen Depressionen, und einige tragen sich auch mit Selbstmordgedanken, weil sie sich in sozialer Hinsicht als Versager fühlen, die nirgends dazugehören. Eine Frau beschrieb mir ihre Empfindungen mit folgenden Worten: Bin ich der Ansicht, dass man AS als Behinderung oder einfach als Unterschied in der Persönlichkeit betrachten sollte? Es sollte eindeutig als Unterschied behandelt werden, weil man den Menschen dadurch ihre Würde lässt und ihnen den schuldigen Respekt zubilligt. Aber wünsche ich mir trotzdem, dass ich nicht mit AS geboren worden wäre? Ja, ich hasse mein AS, und wenn ich mich davon befreien könnte, würde ich es auf der Stelle tun.

Ein anderer Mann mit AS beschrieb sein Leben mit folgenden Worten: Jeder Tag ist so, als würde man in Stiefeln aus Blei durch zähflüssigen Sirup auf den Mount Everest steigen. Jeder Schritt in jedem Bereich meines Lebens ist ein Kampf.

Viele Personen mit AS sammeln auch als Erwachsene noch unzählige Exemplare einer bestimmten Objektart (Fußballprogramme, CDs und Ähnliches mehr). Ihre Bücher und CD-Sammlungen sind häufig höchst systematisch geordnet. Wenn etwas in Unordnung gerät, reagieren diese Sammler sehr nervös. Aber auch wenn nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, dass die Sammlung geordnet ist, sondern ein wüstes Durcheinander zu herrschen scheint, weiß die Person mit AS ganz genau, was in der Sammlung enthalten ist - in ihrem Kopf ist die Sammlung sehr gut geordnet. Das Leben von Menschen mit AS wird häufig von Aktions-Listen beherrscht. Einige fertigen auch Listen von den Listen an, Ihr häusliches Leben ist häufig durchsetzt von selbsterschaffenen Systemen. Ein Mann hatte zum Beispiel immer fünf Tuben Zahnpasta im Badezimmer, die er in einer Reihe neben dem Waschbecken aufstellte. Wenn eine Tube leer sei, so erklärte er, hole er die nächste nach vorn, um sie gegen die leere auszutauschen. Bei seinem nächsten Einkauf besorge er dann eine neue Tube und stelle sie an den frei gewordenen Platz (hinter Tube Nummer 4), sodass er

immer genügend Vorrat habe. Viele Erwachsene mit AS verbringen einen Großteil ihrer Zeit damit, ihren Alltag in allen Einzelheiten zu planen, um die Systeme, an denen sich ihre Lebensführung orientiert, aufrechtzuerhalten. Viele äußern auch als Erwachsene immer wieder verletzende Bemerkungen gegenüber anderen, auch wenn dies nicht in böser Absicht geschieht. Sie lernen vielleicht, offenkundige Affronts, wie Anspielungen auf das Gewicht, zu unterlassen, treten dafür aber in andere Fettnäpfchen. So wandte sich beispielsweise ein Mann mit AS an seine Schwester, die gerade mit ihrem frisch angetrauten zweiten Ehemann an der Hochzeitstafel saß, und fragte unverblümt: »Wie geht's David [der erste Ehemann]? Triffst du ihn in letzter Zeit häufiger?« Menschen mit AS haben zwangsläufig wenig Interesse an Smalltalk und wissen nicht, wie man über belanglose Themen plaudert oder wozu das gut sein soll. Sie haben häufig den Eindruck, dass sie nicht sagen dürfen, was sie denken, weil viele Leute schockiert auf ihre unabhängigen, extremen, wenig einfühlsamen und manchmal anstößigen Ansichten reagieren. So beschrieb ein Mann mit AS seine politische Einstellung als »grünen Faschismus«. Er war der Meinung, dass alle Umweltsünder erschossen werden sollten. Ein anderer erklärte seine »leistungsbedingte Frauenfeindlichkeit« damit: Frauen seien einfach nicht so fähig wie Männer und deshalb hätten sie auch nicht so hohe gesellschaftliche Positionen erreicht. Die meisten Personen mit AS nehmen sich nicht die Zeit, darüber nachzugrübeln, ob ihre Äußerungen politisch korrekt oder taktisch klug sind. Ihrer Ansicht nach sollte man sagen, was man denkt, und die Wahrheit nicht beschönigen oder verbrämen. Viele Erwachsene mit AS verabscheuen Menschenansammlungen oder auch unangemeldete Besuche. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass sie es beängstigend oder ärgerlich finden, wenn Menschen sich unberechenbar verhalten. Dazu kann auch gehören, dass Leute sich ohne Vorwarnung bewegen oder dass ein Gast einen Gegenstand von seinem gewohnten Platz auf dem Kaminsims entfernt und woanders hinstellt. Wenn der Partner Gäste zum Essen einlädt, kann es passieren, dass die Person mit

AS einfach ins Nebenzimmer geht und ein Buch liest, während die Gäste am Tisch sitzen. Politisch treten sie oft sehr vehement für ihre Überzeugungen ein und neigen zum Schwarz-Weiß-Denken. Normalerweise sind sie felsenfest von der Richtigkeit ihrer Ansichten überzeugt und reden mitunter stundenlang auf den Gesprächspartner ein, um ihn zu einem Meinungswandel zu bewegen. Sie verstehen nicht, dass Meinungen etwas Subjektives oder einfach eine Frage des Blickwinkels sein können. Sie glauben vielmehr, dass ihre eigenen Überzeugungen einfach die Tatsachen widerspiegeln und daher richtig sind. Wenn man beim Essen neben einem Menschen mit AS sitzt, fühlt man sich unter Umständen leicht an die Wand gedrückt, weil er oft zu weit geht, wenn er seine Ansichten erläutert. Auf eine harmlose Frage nach dem Wochenende breitet sich die Person mit AS unter Umständen endlos über die technischen Einzelheiten ihres Hobbys aus und merkt überhaupt nicht, dass der Zuhörer sich zu Tode langweilt. Andere Personen mit AS reagieren ziemlich kurz angebunden und antworten auf Fragen nur mit den allernotwendigsten Fakten. Es scheint, als ob sie nicht einschätzen können, was ein Gesprächspartner hören möchte oder interessant findet. Häufig wird das Leben von AS-Patienten auch von festen Gewohnheiten beherrscht: Sie fahren jedes Wochenende oder in jedem Urlaub an denselben Ort, essen immer im selben Restaurant, befolgen Abend für Abend dieselbe Feierabend-Routine etc. Die meisten Menschen mit AS hätten keine Lust, einen Roman zu lesen oder einen gefühlvollen Fernsehfilm anzuschauen, es sei denn, er würde auf einer historischen Tatsache, wissenschaftlichen Erkenntnis (Science-Fiction) oder aktuellen Frage (Politik) basieren. Sie bevorzugen Sachbücher oder Dokumentarfilme. So sind ihre Überzeugungen im Grunde wie Datenbanken, in denen Tatsachen gespeichert werden. Sie beschreiben ihr Gehirn häufig als einen Computer - der entweder bestimmte Informationen gespeichert hat oder nicht. Mit anderen Worten, ihr mentales System ist auf eine binäre, digitale und methodisch-exakte Arbeitsweise ausgerichtet. Sie denken nicht in Annäherungen, wie viele andere

Menschen. In einem neueren Buch über einen Künstler mit AS haben Sally Wheelwright und ich dafür einen speziellen Begriff geprägt: »the exact mind«. Manche Erwachsene mit AS sind besessen von Hinweisen, die ein Ursachenmuster ergeben, und lesen zum Beispiel mit großer Faszination Verbrechensberichte, um bestimmte Gesetzmäßigkeiten zu ergründen wie etwa: Wenn das Opfer die körperlichen Anzeichen a, b und c aufwies, dann umfasste die Tötung aller Wahrscheinlichkeit nach die Techniken x, y und z. Andere entwickeln eine Leidenschaft für Katastrophen aller Art wie Hurrikans, Tornados, Erdbeben, Überschwemmungen oder Bombenanschläge, wobei ihr Hauptinteresse dem physikalischen Ereignis und weniger der Not der Opfer gilt. Manche Menschen mit AS bezeichnen das als »forensische« Weltanschauung, wie sie zum Beispiel sehr treffend durch die Gestalt des Sherlock Holmes symbolisiert wird, und erweitern diesen Ansatz auf das Verständnis sozialer Situationen. Ein Patient von mir schaute sich immer wieder Nachrichtenberichte an, die zeigten, wie Gebäude infolge von terroristischen Anschlägen zusammenstürzten. Er wollte sich über die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Bauarten informieren und verstehen, wie sich ein Anschlag darauf auswirkte. Er konnte mir genaue Statistiken über die Anzahl der Todesopfer bei jedem Gebäudeeinsturz nennen und die Materialien benennen, aus denen die Bauten bestanden, ebenso wie die physikalischen Eigenschaften der einzelnen Materialien. Doch er räumte ein, dass er bei all dem kaum je an die Opfer oder ihre Familien dachte. Menschen mit AS geben häufig auch zu, dass sie nicht wissen, wie man einen anderen Menschen tröstet. Ihnen fällt meistens gar nicht auf, dass jemand Kummer hat, es sei denn, er spricht es offen aus oder zeigt unübersehbare Anzeichen wie heftiges Weinen. Einige AS-Patienten geraten schließlich auch in Konflikt mit dem Gesetz, nicht weil sie etwas Unredliches tun, sondern weil sie aggressiv reagieren, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen können. Manche entwickeln eine Obsession für Rollenspiele, die einem festen Drehbuch folgen und nach bestimmten Regeln ablaufen, wie etwa das Computerspiel Dungeons und Dragons. 11

Einige heiraten, bleiben aber nur mit dem Partner zusammen, wenn dieser eine Engelsgeduld aufbringt und in der Lage ist, nicht nur das Familienleben an die Rigidität der autistischen Routinen und Systeme anzupassen, sondern auch einen exzentrischen, distanzierten und häufig kontrollierenden Partner akzeptieren kann. Manche Menschen mit AS heiraten einen ausländischen Partner, vielleicht weil ihre soziale Auffälligkeit und gestörte Kommunikationsfahigkeit für einen Menschen mit anderer Muttersprache nicht so offensichtlich ist. Häufig lernen die Partner mit der Zeit, dass es besser ist, keine Freunde einzuladen, weil es immer wieder zu peinlichen Situationen kommt. Ihr gesellschaftliches Leben beschränkt sich unter Umständen auf das, was speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist, zum Beispiel durch kirchliche oder ähnliche Einrichtungen. Ich muss betonen, dass die oben beschriebenen sozialen Schwierigkeiten nur für diejenigen AS-Patienten charakteristisch sind, deren Leidensdruck so groß ist, dass sie eine Klinik aufsuchen. Man darf nicht vergessen, dass Menschen mit AS quasi als Gegengewicht zu dieser Liste sozialer Schwierigkeiten eine besondere Art von Intelligenz aufweisen. Der starke Drang zum Systematisieren bedeutet, dass der Mensch mit AS zum Spezialisten für ein bestimmtes Thema bzw. für jedes Thema wird, in das er sich vertieft Ein Däne mit AS drückte das einmal folgendermaßen aus: »Ihr Leute [ohne AS] seid Generalisten, zufrieden damit, ein kleines bisschen über viele verschiedene Themen zu wissen. Wir dagegen sind Spezialisten. Wenn wir einmal anfangen, ein Thema zu erforschen, hören wir erst wieder auf, wenn wir so viele Informationen darüber gesammelt haben wie irgend möglich.« Das Bedürfnis nach Systematisierung bei AS ist häufig gleichbedeutend mit dem Bedürfnis, ursächliche Strukturen oder die grundlegende Ordnung der Dinge zu entschlüsseln. Nachdem wir nun eine genauere Vorstellung von Autismus und Asperger-Syndrom gewonnen haben, ist es an der Zeit, diese mit der Theorie von der Extremform des männlichen Gehirns zu verknüpfen. 12

Die Theorie vom Autismus als einer Extremform des männlichen Gehirns

Die Theorie vom Autismus als einer Extremform des männlichen Gehirns (EMG) wurde ursprünglich von Hans Asperger formuliert. Er schrieb: Der autistische Psychopath ist eine Extremvariante der männlichen Intelligenz, des männlichen Charakters. Schon innerhalb der normalen Variationsbreite finden sich typische Unterschiede zwischen Knaben- und Mädchenintelligenz ... Beim autistischen Psychopathen ist dieses Verhalten ins Extreme gesteigert. 1 3

Asperger formulierte diese Aussage 1944 auf Deutsch. Die englischsprachige Welt erfuhr erst im Jahr 1991 durch die Übersetzung von Uta Frith von seiner These. Damit blieb Aspergers bahnbrechende Idee also fast fünfzig Jahre lang relativ unbemerkt, und erst 1997 machte man sich daran, den Wahrheitsgehalt dieser kontroversen Hypothese zu überprüfen. Was meinte Asperger mit extremer männlicher Intelligenz? Psychologen definieren Intelligenz normalerweise sehr eng als Leistung bei IQ-Tests. Asperger ließ den Begriff Undefiniert, meinte aber wahrscheinlich im weitesten Sinne, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede im Hinblick auf Persönlichkeit, Fähigkeiten und Verhalten gibt. Um ein halbes Jahrhundert später die EMGTheorie empirisch überprüfen zu können, braucht man eine feste Definition des männlichen und weiblichen Gehirns. Nach der Definition, die in diesem Buch immer wieder herangezogen wurde, ist es kennzeichnend für den weiblichen Gehirntyp, dass die Fähigkeit zur Empathie stärker ausgeprägt ist als die Fähigkeit zum Systematisieren (E>S). Betrachtet man Abbildung 8, befinden sich diejenigen Personen mit dem weiblichen Gehirntyp in der grau-gepunkteten Zone. Das männliche Gehirn ist als das genaue Gegenteil hierzu definiert (S>E). Dieser Typus befindet sich im schwarz-gepunkteten Bereich. Man erkennt sofort, dass viele Menschen weder zum einen noch zum anderen Gehirntypus gehören. Ihre Empathie- und Systematisierungsfähigkeiten befinden sich in einem relativ ausge14

wogenen Verhältnis (E=S). Das sind die Personen in der hellgrauen Zone. Nach der EMG-Theorie müssten Personen mit Autismus oder AS generell in die schwarze Zone fallen. Bei Männern ist es nur ein kleiner Schritt vom S-Typus zum extremen S-Typus (von schwarz-gepunktet zu schwarz). Bei Frauen besteht ein größerer Abstand zwischen E-Typus (grau-gepunktet) und extremem STypus (schwarz). Welche Hinweise sprechen nun für die Theorie vom extremen männlichen Gehirntyp? Die unterschiedlichen Beweisansätze sollen im Folgenden kurz zusammengefasst werden. 15

Eingeschränkte Empathie

Beim Empathie-Quotienten (EQ) erzielen Frauen regelmäßig höhere Punktzahlen als Männer, doch Personen mit AS oder highfunctioning-Autismus schneiden in der Regel noch schlechter ab als normale Männer (Anhang 2). Frauen erzielen auch bei sozialen Tests bessere Ergebnisse als Männer, zum Beispiel wenn sie Gefühle an der Mimik oder am Ausdruck der Augen ablesen sollen (»Reading the Mind in the Eyes-Test«, Anhang 2). Am schlechtesten schneiden auch hier wieder Personen mit AS ab. Frauen stellen häufiger Blickkontakt her als Männer; Menschen mit Autismus oder AS stellen gewöhnlich noch weniger Blickkontakt her als durchschnittliche Männer. Mädchen lernen schneller Vokabeln als Jungen; Kinder mit Autismus lernen Vokabeln üblicherweise noch langsamer als durchschnittliche Jungen. Wie in Kapitel 4 ausgeführt, sind Frauen den Männern tendenziell überlegen, wenn es ums Plaudern und die Praxis der Kommunikation geht; genau dieser Aspekt von Sprache bereitet Menschen mit AS die meisten Schwierigkeiten. 16

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Auch beim »Fauxpas-Test« schneiden Männer schlechter ab als Frauen; noch schlechter schneiden allerdings Personen mit Autismus oder AS ab. Bei Standardtests zur »Theory of Mind«, bei denen man über die Gedanken und Gefühle anderer nachdenken muss, erzielen Jungen ebenfalls niedrigere Punktzahlen als Mädchen. Personen mit Autismus oder AS schneiden bei diesen 21

Empathie

Schlüssel Extremer E-Typ E-iyp (E>S) B - i y p (E=S)

s-iyp (s>E) Extremer S-Typ

* Achsen zeigen Standardabweichungen vom Mittel Abbildung 8: Modell des männlichen und weiblichen Gehirntyps und dessen Extremform Tests jedoch noch schlechter ab als die normalen Jungen. Frauen schneiden schließlich auch besser beim Freundschafts- und Beziehungsfragebogen ab (Friendship and Relationship Questionnaire, FQ), bei dem das Einfühlungsvermögen im Hinblick auf Beziehungen ermittelt wird. Erwachsene mit AS schneiden beim FQ in der Regel noch schlechter ab als durchschnittliche Männer. 22

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Personen mit Autismus Männer Frauen

Prozentsatz der Bevölkerung

Niedrig

Hoch

Abbildung 9: Punktwerte von männlichen, weiblichen, autistischen Teilnehmern beim Empathie-Test

Überlegenheit beim Systematisieren

Wird das intuitive oder Alltagsverständnis für Physik getestet, erreichen männliche Teilnehmer in der Regel höhere Punktzahlen als weibliche. Personen mit AS erzielen hier die höchsten Punktzahlen. Männer sind zudem in mathematischen Bereichen überrepräsentiert, und Mathematik wird von Menschen mit AS häufig als Lieblingsschulfach genannt. Wie in Kapitel 2 ausgeführt, spielen Jungen lieber mit Bauklötzen oder Spielzeugautos als Mädchen, und bei Kindern mit Autismus oder AS tritt diese Vorliebe oft besonders deutlich zu Tage. Als Erwachsene beschäftigen Männer sich lieber mit Mechanik und Computern als Frauen, und für viele Menschen mit AS sind Technik und Computer die liebsten Freizeitbeschäftigungen. Beim Systematisierungsquotienten (SQ) schneiden männliche Teilnehmer besser ab als weibliche, und Teilnehmer mit Autismus erzielen die höchsten Punktwerte (Anhang 3). Beim Test mit eingebetteten Figuren (Embedded Figures Task, EFT), bei dem die Aufmerksamkeit für Details geprüft wird, erzielen Männer höhere Werte als Frauen, und Leute mit AS oder HFA erzielen die höchsten Werte. Beim EFT (siehe Abbildung 6) wird die räumliche Detailwahrnehmung getestet, die eine Voraussetzung des Systematisie24

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rens ist, aber möglicherweise auch selbst ein gewisses Systematisierungsvermögen erfordert, weil die Zielfigur sich nach bestimmten Regeln in die verschiedenen möglichen Lücken einfügt (ähnlich wie bei den Regeln beim Zusammensetzen eines Puzzles oder einer Maschine). Bei visuellen Aufgaben zeigen männliche Teilnehmer mehr Aufmerksamkeit für Details als Frauen, und Menschen mit Autismus oder AS nehmen die visuellen Details noch schneller und präziser wahr. Auch diese Fähigkeit ist eine Voraussetzung für ein gutes Systematisierungsvermögen, obwohl sie selbst kein Systematisieren erfordert. 26

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Abbildung 10: Punktwerte von männlichen, weiblichen, autistischen Teilnehmern beim Systematisierungstest Biologische und familiengenetische Nachweise

Beim Autismus-Spektrum-Quotienten (AQ) erzielen Männer höhere Punktzahlen als Frauen, aber Menschen mit AS oder HFA erzielen die höchsten Punktzahlen von allen (Anhang 4) Wenn man sich somatische (körperliche) Zeichen wie das Verhältnis der Fingerlänge anschaut, stellt man fest, dass bei Männern der Ringfinger tendenziell länger ist als der Zeigefinger; bei Menschen mit Autismus oder AS ist dieses Ergebnis noch ausgeprägter. Die Fingerlänge ist angeblich abhängig vom pränatalen Testosteronspiegel. Beim »Wildfang-Fragebogen« (TQ, Tomboyism Questionnaire) 28

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zeigt sich, dass Mädchen mit AS weniger Interesse an »typisch weiblichen« Aktivitäten zeigen. Bei einer kleineren Studie wurde festgestellt, dass bei Männern mit Autismus die Pubertät frühzeitig einsetzt, was mit höheren aktuellen Testosteronspiegeln in Zusammenhang steht. 30

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Frauen Männer Personen mit Autismus

Prozentsatz der Bevölkerung

Hoch

Niedrig

Abbildung 11: Punktwerte von männlichen, weiblichen, autistischen Teilnehmern beim Autismus-Spektrum-Quotienten (AQ)

Wenn man das weitere Familienumfeld betrachtet, um Hinweise auf genetische Einflüsse zu erhalten, stellt man fest, dass Väter und Großväter von Kindern mit Autismus oder AS (auf beiden Seiten der Familie) in technischen Berufen wie etwa dem Ingenieurwesen überrepräsentiert sind. Diese Tätigkeiten erfordern gute Systematisierungsfähigkeiten, während eine leichte Beeinträchtigung des Einfühlungsvermögens dem beruflichen Erfolg (nachweislich) nicht abträglich ist. Es gibt eine leicht erhöhte Autismusrate in den Familien von Personen, die besondere Begabungen in Bereichen wie Mathematik, Physik und Technik aufweisen, verglichen mit Personen, die eher in den Geisteswissenschaften begabt sind. Die letzten beiden Ergebnisse deuten daraufhin, dass der kognitive Stil des extrem männlichen Gehirntyps zum Teil erblich ist. Doch genug der Daten und Zahlen. Ich will den trockenen Statistiken etwas Leben einhauchen, indem ich von einem ganz besonderen Menschen mit AS berichte, den ich kennen lernte. 32

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Ein Mathematikprofessor 1

Im Jahr 1998 erhielt Richard Borcherds die Fields-Medaille, das Gegenstück zum Nobelpreis für Mathematik und die höchste Auszeichnung, die Mathematiker erreichen können. Der Preis wurde ihm für seine Arbeit über ein Thema verliehen, das so schwer verständlich ist, dass die meisten seiner ehemaligen Fachkollegen von der Cambridge University keine Ahnung haben, worum es dabei geht.* Sein mathematisches Genie wird von anderen Mathematikern neidlos anerkannt, auch wenn sie Schwierigkeiten haben, seinen Ideen im Einzelnen zu folgen. Trotz dieser herausragenden Begabung litt Richard Borcherds unter dem Gefühl, anders zu sein als andere. Menschen erschienen ihm als komplexe, rätselhafte Wesen, die schwer zu verstehen waren, weil sie sich nicht an mathematische oder physikalische Gesetze hielten. Natürlich war ihm klar, dass sie Gefühle und Gedanken hatten (so gesehen war er nicht mit völliger mentaler Blindheit geschlagen), doch um was für Gedanken und Gefühle es sich dabei handelte, blieb ihm meistens ein Rätsel. Leicht erkennbare Gemütsverfassungen stellten dabei kein Problem dar. Er konnte sich vorstellen, dass eine Person traurig war, wenn sie sich gekränkt fühlte oder nicht bekam, was sie wollte, und dass ihre Stimmung ins Gegenteil umschlug, wenn sich ihr Wunsch doch noch erfüllte. Er konnte sogar nachvollziehen, dass eine Person traurig war, weil sie dachte, dass sie etwas bekommen würde, was sie nicht wollte. Doch dieses Maß an Einfühlung ist eigentlich nichts Besonderes, denn dazu ist auch jeder durchschnittliche Sechsjährige in der Lage. Die Zusammenhänge in der Welt zwischenmenschlicher Beziehungen sind weit komplexer und können sich zudem von einer 2

* Borcherds erhielt den Preis für die Untersuchung von »Monstern«, mathematischen Gebilden, die er selbst als »Schneeflocken in 196883 Dimensionen« bezeichnet.

Minute zur nächsten vollständig verändern. Wenn Borcherds Besuch von anderen Menschen erhielt, empfand er die Konversation und Interaktion stets als äußerst verwirrend, auch wenn sich das Gespräch nur um ganz normale Alltagsdinge drehte. Es war einfach alles zu viel für ihn - dieses Meer von Worten und verborgenen Bedeutungen, von Blicken und lächelnden Mienen, von Anspielungen und Doppelbedeutungen, von Bluff und Täuschung, von Verlegenheit und versteckter Koketterie. Hinterher erzählte man ihm immer, was dieser oder jener Witz tatsächlich bedeutet hatte - oder warum Michelle in jenem Moment plötzlich beleidigt von dannen gerauscht war. Doch während des laufenden Gesprächs begriff er einfach nicht, weshalb sie gekränkt reagierte oder warum alle (außer ihm) plötzlich in schallendes Gelächter ausbrachen. Im Grunde war ihm dieser ganze soziale Kram auch ziemlich gleichgültig. Wenn Besuch kam, setzte er sich anfangs eine Weile dazu, zog sich dann aber oft zum frühestmöglichen Zeitpunkt in eine Ecke des Raumes zurück, nahm sich ein Buch und war kurz darauf in die Lektüre vertieft. Wer ihm das erste Mal begegnete, konnte ihn leicht für ungehobelt halten, doch wer ihn kannte, akzeptierte ihn einfach so wie er war. Mein erstes Treffen mit Richard fand in seinem Büro in Cambridge statt. Als ich sein karg möbliertes Zimmer betrat, starrte er mich wortlos an. Nach einigen Minuten war klar, dass er mir keinen Platz anbieten würde, also sagte ich: »Na gut, dann setz ich mich mal hier hin«, und schnappte mir einen Stuhl. Elementare Begrüßungsformeln oder Höflichkeitsfloskeln gehörten offenkundig nicht zu seinem Verhaltensrepertoire. Richard thronte über mir auf der Ecke seines Schreibtisches, die Hände unter die Oberschenkel geschoben, und begann, sachte vor und zurück zu schaukeln. Er starrte auf den Fußboden, warf mir ab und zu einen verstohlenen Blick zu und fixierte dann schnell wieder den Teppich. Er hatte definitiv nicht die Absicht, das Schweigen zu brechen, also begann ich mit der Konversation. Ich erkundigte mich, warum er der Meinung sei, möglicherweise am Asperger-Syndrom zu leiden - eine Bemerkung, die er in derselben Woche gegenüber einem Journalisten des Guardian

gemacht hatte. Er erklärte, ihm sei schon immer bewusst gewesen, dass er mit anderen Menschen wenig anfangen könne, und dann sei er im Internet auf das Asperger-Syndrom gestoßen, dessen Beschreibung auf ihn zu passen schien. Aber er freue sich, dass ich vorbeigekommen sei, um mit ihm darüber zu sprechen und die Richtigkeit seiner Diagnose zu überprüfen. Meiner Ansicht nach war die beste Methode, mit dieser ungewöhnlichen Situation umzugehen, ihm ein bisschen mehr über AS zu erzählen. Ich erklärte ihm, dass einige Leute das Asperger-Syndrom für eine Form von high-functioning-Autismus halten. Das bedeute, dass solche Individuen alle Anzeichen von Autismus zeigten (ich gab ihm eine kurze Beschreibung, die in groben Zügen Kapitel 10 dieses Buchs entspricht), aber mit normaler oder auch überdurchschnittlicher Intelligenz ausgestattet seien. »Wie ich«, pflichtete er nickend bei. Richard war kein Mann, der viele Worte machte. Ich erklärte weiter, dass man unterschiedliche Grade von Autismus unterscheide und man mehr oder weniger davon betroffen sein könne. An diesem Punkt meiner Ausführungen schaute er hoch, weil er sich für einen leichten oder einen Grenzfall hielt. Ich erläuterte ihm, dass es eine Methode gebe, um dies messen zu lassen, sodass wir, falls er daran interessiert sei, genau feststellen könnten, wie sein Fall im autistischen Spektrum einzuordnen wäre. Messungen, mengenmäßige Bestimmungen, statistische Mittel und Verteilungen - Richard war sofort Feuer und Flamme und erklärte sich bereit, sich am Forschungszentrum für Autismus in Cambridge testen zu lassen. Ich interessierte mich im Weiteren für sein Selbstbild, aber Richard war der Ansicht, dass er abgesehen von seiner mathematischen Begabung in vielerlei Hinsicht ein ganz normaler Durchschnittsmensch sei - ein großer Irrtum, wie sich später herausstellen sollte. Seine Fähigkeiten zur Selbstreflexion waren nicht besonders ausgeprägt, und er konnte auch nur schwer einschätzen, wie andere Menschen sein Verhalten beurteilten. So meisterhaft er sich auf mathematische Einschätzungen verstand, war er doch bei der 3

Beurteilung sozialer Zusammenhänge kaum über die Anfänge hinausgekommen. So fragte ich ihn zum Beispiel, ob er sein Verhalten in irgendeiner Hinsicht für sozial auffällig oder ungewöhnlich halte. Ein merkwürdiges Sozialverhalten ist ja das wichtigste Symptom für AS. Er antwortete, ihm falle nichts Bestimmtes ein, obwohl manche Leute die Art und Weise, wie er immer durch die Straßen haste, auch wenn er gar nicht in Eile sei, etwas sonderbar fänden. Ich hörte ihm schweigend zu. Das klang tatsächlich nicht besonders merkwürdig. Vielleicht war Richard einfach ein Mann, der gern viele Dinge am Tag erledigte und jede sich bietende Gelegenheit nutzte, um sich ein bisschen sportlich zu betätigen. Ich fragte ihn, ob er sich noch in anderer Hinsicht anders benehme als andere. Er verneinte. »Wie steht es mit der Kommunikation?« fragte ich gezielt nach dem zweiten Schlüsselsymptom für AS. Gab es in dieser Hinsicht irgendwelche Unterschiede zu anderen Leuten? Richard fiel nichts Konkretes ein, obwohl er einräumte, dass er nicht gerade ein Unterhaltungskünstler oder Partylöwe sei. Aus seiner Sicht dienten Gespräche in erster Linie der Sammlung notwendiger Informationen. Auffällig war, dass er eine der wichtigsten Funktionen von Sprache, nämlich sich mit einem anderen Menschen über Gedanken und Gefühle auszutauschen, nicht erwähnte. Als ich ihn darauf hinwies, entgegnete er, daran habe er kein wirkliches Interesse. Ich fragte nach, ob er sich per E-Mail mit anderen Leuten unterhalte oder ob er Freunde habe, mit denen er gern zusammen sei oder telefoniere, aber Richard gab an, dass er E-Mails ausschließlich zum beruflichen Informationsaustausch nutze. Er habe eigentlich keine richtigen Freunde, auch wenn der eine oder andere Kollege gelegentlich bei ihm zu Hause vorbeischaue. Solche Gäste unterhielten sich dann häufig mit seiner Frau, während er sich in ein Buch vertiefe. Mit Einzelpersonen könne er sich für kurze Zeit unter vier Augen unterhalten, erklärte er. In Gruppen gerate er schnell durcheinander und ziehe sich dann lieber zurück. So sei er schon immer gewesen. Was das Plaudern am Telefon anging, so räumte er ein, dass er Telefone mied. »Wieso?« erkundigte ich mich stirnrunzelnd. »Als ich jünger war«, erklärte er, »so mit Anfang zwanzig hatte ich Angst

vor Telefonen, weil ich einfach nicht verstand, wie man damit umgeht.« Damit war nicht die Technik dieser Apparate gemeint. Er konnte einen langen Vortrag über die Physik von Telefonen halten - über Elektronik, Schallwellen und Ähnliches mehr. Was ihm Rätsel aufgab, war die soziale Komponente. Was sollte man zu der Person am andere Ende der Leitung sagen? Wann war man selbst mit Sprechen dran und wann überließ man dem anderen das Wort? Woran erkannte man, dass das Gespräch zu Ende war? Woher wusste man, wie man ein Gespräch beenden oder anfangen sollte? Oder welche Richtung man der Unterhaltung geben sollte? Manchmal fragte er sich sogar, warum die Leute überhaupt telefonierten. Richard wusste, dass andere Menschen ihn manchmal für einen Rüpel hielten, obwohl er nie absichtlich grob war. Er hatte keine Ahnung, was man in unterschiedlichen Situationen sagen oder nicht sagen durfte. Ich bemühte mich um ein neutrales, nicht schockiertes Gesicht. Hier saß ein Mann, der jedes beliebige mathematische Problem mühelos lösen konnte, der aber unfähig war, die Voraussetzungen von Freundschaften oder den Sinn eines Telefongesprächs zu begreifen. Gab es ein drastischeres Beispiel für die Trennung zwischen Empathie und Systematisierungsvermögen? Meine Kollegen und ich hatten bereits seit einigen Jahren über den »Modul-Charakter« der Empathie diskutiert. Damit ist die Unabhängigkeit der Empathie von anderen mentalen Prozessen gemeint, und Richard war hierfür das beste Beispiel, das ich mir vorstellen konnte. Rückblickend bin ich der Ansicht, dass das Telefonieren ein guter Gradmesser der Kommunikationsfähigkeit ist. Am Telefon können wir unsere Deutungen nicht im größeren Kontext wie zum Beispiel an der Mimik und Gestik der anderen Person festmachen. Tatsächlich war auffällig, dass viele der Erwachsenen mit AS, die ich kennen gelernt habe, eine deutliche Anomalität in Bezug auf das Telefonieren zeigten. Einige redeten viel zu lange, zehn Minuten oder länger, ohne ein einziges Mal Luft zu holen, auch wenn der Zuhörer kein einziges zustimmendes »Hmhm« oder »Verstehe« oder »Tatsächlich?« von sich gab. Andere redeten nur das Aller-

notwendigste, gaben einsilbige Antworten oder äußerten sich ziemlich unhöflich, obwohl dies nicht in ihrer Absicht lag. Richard zeigte eine besonders extreme Abweichung in Bezug auf Telefongespräche - er ging ihnen nach Möglichkeit ganz aus dem Weg, weil er nicht einmal die Grundprinzipien verstand, etwa die Regel des abwechselnden Sprechens, oder was den Gesprächspartner interessieren könnte. »Und?« fragte Richard anschließend. »Habe ich nun das Asperger-Syndrom?« Ich entgegnete ihm, dass ich nach einem halbstündigen Gespräch noch keine endgültige Diagnose stellen könne, aber gern bereit sei, gründlicher zu untersuchen, ob er unter dieser Störung leide. Dazu bräuchte ich weitere Informationen von Leuten, die ihn im Laufe seines Lebens, insbesondere in der Kindheit, gekannt hätten. Er gab mir daraufhin die Namen seiner Mathematik-Tutoren aus dem Grundstudium, nannte einen Freund der Familie, mit dem er sich in seiner Jugend oft getroffen hatte, und schlug mir vor, seine Eltern zu besuchen. Ich nahm diesen Vorschlag dankbar an, weil seine Eltern am ehesten in der Lage sein würden, mir die entscheidenden Informationen für eine Diagnose zu geben. Das hängt damit zusammen, dass das Syndrom entwicklungsimmanent und nicht erworben ist. Mit anderen Worten: Anzeichen des Syndroms treten für gewöhnlich schon ab der frühesten Kindheit auf. Zweifellos lieferte Richards derzeitiges Erwachsenenleben bereits einige Anhaltspunkte dafür, dass sein soziales Verhalten und Wissen nicht dem entsprach, was man von einem (damals) 38jährigen, hochintelligenten Mann erwartete. Doch es war wichtig festzustellen, ob seine Eltern unabhängige Hinweise auf seine eingeschränkte Empathiefähigkeit in Verbindung mit seiner Begabung fürs Systematisieren beisteuern konnten. Richards Eltern

Richards Vater war als Physiker an einer anderen Universität tätig. Er hatte ursprünglich auch Mathematiker werden wollen, doch man hatte ihm geraten, in einen »praktischeren« Beruf zu gehen.

Daraufhin hatte er zunächst ein Ingenieurstudium aufgenommen, war dann aber zur Physik gewechselt und hatte sich schließlich auf den theoretisch-mathematischen Teil der Physik spezialisiert. Er gab mir einen Überblick über die Familienverhältnisse. Richard hatte drei Brüder, von denen zwei als Mathematiklehrer arbeiteten. Ich scherzte mit Richards Vater, dass es kein Zufall sein könne, wenn drei Söhne als Mathematiker endeten, aber sein Sinn für Humor war nicht besonders ausgeprägt. Er verwies nur darauf, dass seine Eltern, also Richards Großeltern, ebenfalls eine naturwissenschaftliche Neigung gehabt hätten, genauso wie die Eltern seiner Frau. Die Großmutter mütterlicherseits sei Chemikerin gewesen, erläuterte Richards Mutter und fügte hinzu, dass er insofern nach beiden Familien komme, weil er von seiner Einstellung her sehr unabhängig sei und keine anderen Menschen brauche. Richards Eltern stammten beide aus Südafrika und beschrieben ihre eigenen Väter als Männer, die tage- oder wochenlang allein durch die Wildnis ziehen konnten, ohne einen Gedanken an die Familie zu verschwenden oder die Gesellschaft anderer Menschen zu vermissen. Dieses minimale soziale Interesse oder Engagement in Verbindung mit der mathematischen oder wissenschaftlichen Begabung war offenbar eine Anlage, die sich durch diese ganze bemerkenswerte Familie zog. Die größte Überraschung erlebte ich jedoch, als die Rede auf Richards dritten Bruder kam. Wahrscheinlich noch ein Mathematiker, mutmaßte ich insgeheim, doch wie sich herausstellte, war dieser dritte Bruder ziemlich schwer behindert, und zu den Leiden, die man bei ihm diagnostiziert hatte, gehörte - Autismus. Da diese Störung eine starke genetische Komponente aufweist, galt mein Interesse natürlich der Frage, ob vielleicht auch der Autismus in der Familie lag. Ich beschloss jedoch, mich nicht von dieser Tatsache beeinflussen zu lassen, weil wir noch nicht alle Informationen über Richards eigene Lebensgeschichte gesammelt hatten. Seine Familienangehörigen lieferten zwar indirekte Hinweise, die aber für sich genommen noch nicht für eine Diagnose ausreichten. Ich erkundigte mich nach Richards sprachlicher Entwicklung. Seine Eltern erinnerten sich, dass er erst im Alter von zweieinhalb

Jahren zu sprechen angefangen hatte. Sie hielten das damals nicht für besonders spät und hatten, da sie keinen Grund zu ernsthafter Besorgnis sahen, keinen Sprachtherapeuten aufgesucht. Sie waren sich allerdings bewusst gewesen, dass Richard verglichen mit den anderen Kindern in der Nachbarschaft zu den sprachlichen Spätzündern gehörte. Nachdem Richards Eltern in letzter Zeit Kontakt mit mehreren Kleinkindern gehabt hatten, waren sie rückblickend zu dem Schluss gekommen, dass Richard »anders« gewesen war. Obgleich er erst relativ spät einzelne Wörter gesprochen hatte (die überwiegende Mehrheit der Kinder spricht im Alter von zwei Jahren einzelne Wörter), war er im Alter von drei Jahren in der Lage gewesen, ganze Sätze zu bilden - ein wichtiger Hinweis, der mich zu dem Schluss führte, dass Richard die Kriterien für eine verzögerte Sprachentwicklung nicht erfüllte. Richard war ein stiller kleiner Junge gewesen, der gern für sich allein spielte. Seine Eltern konnten sich nicht daran erinnern, dass er Spaß am Symbolspiel gehabt hätte, außer in der Schulzeit, als er sich eine Zeit lang für »Schiffe versenken« begeisterte, das er stundenlang spielen konnte. Dieses Spiel hat eine Als-ob-Dimension, da man die Symbole auf dem Papier so behandeln muss, als wären es echte Schlachtschiffe. Doch als ich nachfragte, stellte sich heraus, dass es Richard bei dem Spiel in erster Linie um räumliche Positionen und mathematische Koordinaten gegangen war. Abgesehen davon hatte er kein besonderes Interesse daran, sich zu verkleiden oder in fremde Rollen zu schlüpfen. Ein geringes Interesse am Fantasiespiel mit all seinen kreativen Variationen ist ein weiteres Kennzeichen von Störungen aus dem autistischen Spektrum im Kindesalter. »Hatte er als Kind irgendwelche Freunde?« fragte ich seine Eltern. »Sicher«, antwortete seine Mutter. »Er brachte oft einen einzelnen Freund mit, um >Schiffe versenken< zu spielen. An größeren Gruppen hatte er dagegen kein Interesse.« Das stimmte mit dem Bild des erwachsenen Richard überein. In sozialer Hinsicht hatte er sich in der Schule nicht besonders gut eingefügt. Er dachte nie darüber nach, wie anderen zu Mute sein könnte. Seine Mutter machte sich zum Beispiel einmal große 4

Sorgen, als ihr halbwüchsiger Sohn die halbe Nacht unterwegs war Als er dann schließlich nach Hause kam, war sie mit den Nerven völlig am Ende. »Ach, Richard«, klagte sie. »Warum hast du denn nicht angerufen, um Bescheid zu sagen, wo du bist?« Woraufhin er antwortete: »Wozu denn? Ich wusste doch, wo ich bin.« Wie sich herausstellte, hatte er auch einige leichte Obsessionen gehabt, war zum Beispiel ziemlich wählerisch, was das Essen anbelangte, und bestand darauf, immer dieselbe Kleidung zu tragen. Als er ins Teenageralter kam, stand eine Obsession klar im Vordergrund: Schach. Er verbrachte seine gesamte Freizeit mit dem Schachspiel und las jedes Schachbuch, das ihm in die Hände fiel. Drei oder vier Abende die Woche ging er aus, um an Turnieren teilzunehmen, und hatte gute Aussichten, einen Titel als Schachmeister zu erringen. Dann gab er das Schachspiel aus heiterem Himmel auf, als er erkannte, dass es von einem bestimmten Punkt an nur noch um Konkurrenz und nicht um den Spaß am Spiel ging. Seine zweite große Obsession während der Schulzeit war natürlich die Mathematik. Sein Vater erzählte, dass Richard mit zwölf Jahren nach Oxbridge hätte gehen können, um Mathematik zu studieren, aber seine Eltern versuchten nicht, ihn dazu zu überreden. Sie hielten es für besser, wenn er im üblichen Alter an die Universität ging. Trotzdem gewann er nationale Mathematikwettbewerbe und dekorierte sein Zimmer und das gesamte Haus mit selbst gebastelten, sauber angemalten Polyedern. Jeder dieser Polyeder war ein Einzelstück im Hinblick auf Größe, Form und Anzahl der Flächen, die den Körper begrenzten. Seine Eltern zeigten mir einen Teil der Sammlung, die immer noch in mehreren Zimmern des Hauses von der Decke hingen. Der Rest wurde in der Schule, an der einer von Richards Brüdern unterrichtete, in einem Glasschrank verwahrt. Es gab unzählige von diesen Polyedern. Ihre Herstellung erfüllte zweifellos die Kriterien für ein obsessives, ungewöhnliches und eng gestecktes Interesse. Richards Kindheit wies eindeutig alle Merkmale des AspergerSyndroms auf. Ich schickte ihm eine E-Mail, um einen Termin mit ihm auszumachen und einige Implikationen der Diagnose mit ihm durchzusprechen. Solche Informationen vermittelt man am besten persönlich, in einem Gespräch unter vier Augen, damit man

sensibel auf die Reaktion der betroffenen Person eingehen kann. Richard entgegnete, ihm reiche es, die Diagnose per E-Mail zu bekommen. Ich suchte ihn trotzdem persönlich in seinem Büro auf. Er schien nicht sonderlich überrascht von der Diagnose und erklärte, dass sie ihm in jüngeren Jahren genützt hätte, jetzt aber eigentlich keinen Unterschied mache. Er fragte meine Kollegin Sally Wheelwright und mich, ob wir Lust hätten, ihn zum Lunch zu begleiten, und wir nahmen das Angebot gern an. In Begleitung von zwei Kollegen, die regelmäßig mit ihm zusammen zu Mittag aßen, machten wir uns auf den Weg zum örtlichen Sandwich-Laden. Richard rannte uns auf der Straße voraus, so wie er es seinen eigenen Angaben zufolge immer tat. Wir folgten einem Treidelpfad am Fluss und plauderten mit Richards Kollegen, während er immer noch voraus lief. Plötzlich bog er vom Weg ab, und ich sah, wie er quer über ein Feld lief. Ich wollte ihm gerade folgen, weil ich dachte, dass er den Weg zu unserem Picknickplatz eingeschlagen hätte, als sein Kollege sagte: »Oh, Sie müssen ihm nicht folgen. Wir können hier auf diesem Pfad bleiben. Richard geht gern den matschigen Weg.« Sally und ich wechselten einen Blick, ein wenig überrascht, dass Richard einfach allein losmarschierte, nachdem er uns zum Essen eingeladen hatte; doch dann wurde uns klar, dass dies alles Teil des Asperger-Syndroms war. Er hatte kaum eine Vorstellung davon, was andere Menschen dachten, was sie verwirrte oder was sie erwarteten. Mir wurde klar, dass er ganz wundervolle Kollegen hatte, die ihn einfach so akzeptierten, wie er war. In der darauf folgenden Woche kam Richard, wie abgesprochen, zu uns ins Labor. Er marschierte in mein Büro, steuerte schnurstracks auf meinen Computer zu und las den Text, der sich zufällig auf dem Bildschirm befand. Genau genommen war es ein vertrauliches Beurteilungsschreiben über einen Studenten, aber Richard schien das nicht im Geringsten peinlich zu sein. Er nahm einige Papiere von meinem Tisch und legte sie geistesabwesend wieder ab. Ich sagte nichts, weil mich sein spontanes Verhalten interessierte. Sally und ich waren der Ansicht, dass es gut wäre, einige quantitative Messungen seines sozialen Verständnisses und seiner

autistischen Merkmale vorzunehmen. Deshalb baten wir ihn, den Test auszufüllen, bei dem man Gefühle an den Augen ablesen soll (»Reading the Mind in the Eyes«). Richard erzielte 25 von 36 möglichen Punkten. Im Durchschnitt erreichen die Probanden etwa 30 von 36 Punkten. Richards Wert lag also signifikant niedriger, als man erwarten würde. Beim Empathie-Quotienten schnitt er sehr schlecht ab, 12 von 80 Punkten, während der durchschnittliche Wert in der allgemeinen Bevölkerung bei etwa 42 von 80 liegt. Beim Freundschafts- und Beziehungstest (Friendship and Relationship Questionnaire, FQ) erzielte er auch nur wenige Punkte (55 von 135); die meisten Teilnehmer dieses Tests erzielen 80 von 135. Der FQ misst, inwieweit ein Individuum mehr Wert auf vertraute oder empathische Beziehungen legt als auf Beziehungen, die sich um gemeinsame Aktivitäten drehen. Beim Autismus-SpektrumQuotienten (AQ), der die autistischen Merkmale bei Erwachsenen mit normaler Intelligenz misst, erzielte Richard 32 von 50 möglichen Punkten. Das ist ebenfalls typisch für die meisten Menschen mit AS. Ein durchschnittlicher Mann ohne Autismus oder AS erzielt 17 von 50 Punkten. Bei einem Test der Alltagsphysik (Folk Physics Test), bei dem die Problemlösungsfähigkeiten im Umgang mit physikalischen Kausalzusammenhängen ermittelt werden, erreichte Richard 19 von 20 möglichen Punkten. Er erzielte auch sehr hohe Werte beim Systematisierungsquotienten (Systemizing Quotient, SQ), nämlich 41 von 80, was weit über dem Durchschnittswert der Bevölkerung liegt (27 von 80). Durch diese Tests erhielten wir also einige quantitative Nachweise für Richards ungewöhnliches Profil - extrem geringes Einfühlungsvermögen, extrem hohe Systematisierungsfähigkeit und jede Menge autistischer Eigenschaften. Das Beispiel von Richard Borcherds zeigt, dass AS kein Hindernis für herausragende Leistungen im Erwachsenenleben sein muss. Doch gerade in seiner Schulzeit wäre die Diagnose wichtig für ihn gewesen, weil er in sozialer Hinsicht nie dazugehörte und sich als Außenseiter fühlte. Er selbst räumt ein, dass es hilfreich für ihn gewesen wäre, wenn er die Diagnose damals schon gekannt hätte. Durch seine mathematischen Begabungen hat er schließlich eine Nische gefunden, in der er sich (gelinde gesagt) hervortun

kann und in der sein merkwürdiges soziales Verhalten toleriert wird. Die Tatsache, dass er außerdem eine Partnerin gefunden hat, die diese Eigenschaften akzeptiert, bedeutet, dass seine AS-Merkmale ihn zurzeit nicht an einer erfolgreichen Lebensführung hindern. Richard ist somit ein Paradebeispiel für einen Erwachsenen, der sein Asperger-Syndrom so gut an die Umwelt angepasst hat, dass es keine gravierende bzw. gar keine Behinderung darstellt. Angesichts der exzellenten Anpassung von Richard Borcherds könnte man sich fragen, ob er überhaupt eine Diagnose braucht. Die Symptome, die er derzeit als Erwachsener aufweist, sind zweifellos nicht so schwer wiegend, dass sie eine Diagnose erfordern. Sie hindern ihn nicht an der erfolgreichen Bewältigung seiner Aufgaben. In der Fachsprache der Diagnosekriterien ist seine Funktionsfähigkeit im Alltag nicht eingeschränkt. So leidet er (glücklicherweise) nicht unter Depressionen im Gegensatz zur Mehrheit der Patienten, die in unsere Klinik kommen. Er ist ein außergewöhnliches Beispiel für einen Mann, der in gewisser Weise über seine Diagnose hinausgewachsen ist. Doch sein Fall macht auch deutlich, wie wichtig die Umwelt ist, denn wenn derselbe Richard Borcherds in einer weniger verständnisvollen sozialen Umgebung leben würde, würde sein AS ihm höchstwahrscheinlich wesentlich schwerer zu schaffen machen. Innovation in Silicon Valley

Der Fall von Richard Borcherds wirft die allgemeine Frage auf, ob gute Systematisierungsfähigkeiten (häufig begleitet von eingeschränkten Empathiefähigkeiten) den Vorteil einer besonderen Innovationsbegabung mit sich bringen. Das soll an einem Beispiel erläutert werden. William Shockley gründete 1955 eine Forschungs- und Entwicklungsfirma im kalifornischen Palo Alto. Ein paar Jahre zuvor hatte er in den Bell Laboratorys in New Jersey an der Erfindung des Transistors mitgewirkt. Gibt es einen besseren Beweis für seine Systematisierungsfähigkeiten? Einige sehen in Shockley den Mann, der maßgeblich zum Aufbau von Silicon Valley beigetragen hat, weil es

ihm gelungen ist, hoch begabte Leute aus der ganzen Welt anzulocken und auszuwählen. Ende 1957 verließen acht ehemalige Mitarbeiter aus Shockleys Team die Firma und gründeten ihr eigenes Unternehmen (Fairchild Semiconductor), das bahnbrechende Arbeit leistete und die ersten integrierten Schaltkreise auf Silikon (für »Chips«) herstellte. Kurz darauf hatte sich diese Technologie explosionsartig im gesamten Gebiet ausgebreitet. Shockley war eindeutig ein exzellenter Systematiker, und er wählte seine Mitarbeiter auf Grund ihrer einzigartigen technischen Fachkenntnisse (oder auf Grund ihrer Systematisierungsfahigkeiten) aus. Die Tatsache, dass er zugleich nicht besonders einfühlsam war, lässt sich daran ablesen, dass er den brutalen eugenischen Vorschlag unterbreitete, eine Prämie von 1000 Dollar für jeden IQ-Punkt unter 100 zu zahlen, wenn Leute mit niedrigem IQ sich freiwillig sterilisieren ließen. In mehreren Medienberichten (Wired, Dez. 2001) wurde darauf hingewiesen, dass der Prozentsatz von Autismus- und AS-Fällen (die man beide in kränkender Weise auch als »Geek«-, also Außenseiter» Syndrom bezeichnet) in Gebieten wie Silicon Valley außergewöhnlich hoch sei. Da solche Gegenden begabte Systematiker anziehen, die florierende Unternehmen gründen und dort auch gleich gesinnte Partner mit ähnlichen Begabungen finden, so der Tenor der Berichte, steige das Risiko, dass die Kinder, die aus diesen Verbindungen hervorgehen, Autismus oder AS entwickeln. Gegen diese Auffassung ist anzuführen, dass zurzeit keine konkreten Beweise dafür vorliegen, dass die AS- und Autismusrate in solchen Hightech-Umgebungen höher ist als andernorts: Hohe Raten von 1 auf 200 Kinder findet man in vielen Gegenden, nicht nur in so reichen wie dem Silicon Valley. Doch das schließt die Möglichkeit nicht aus, dass ein Zusammenhang zwischen hohem Systematisierungsvermögen und niedrigem Einfühlungsvermögen einerseits und einer Begabung für Innovationen oder einem erhöhten AS-Risiko andererseits besteht. 5

Physik

Das Bild des begabten Systematikers, das ich in diesem Buch entworfen habe, weckt Assoziationen mit so manchen Physikern unserer Tage. Es ist interessant, dass eine Studie über die Persönlichkeitsstruktur von erfolgreichen Physikern zu dem Ergebnis kam, dass sie weniger gesellig sind als die allgemeine Bevölkerung. Helenka Przysiezniak gehört zu der seltenen Minderheit weiblicher Physikwissenschaftler - nur jeder achte Physiker ist eine Frau. 1998 gab Przysiezniak einem Reporter von Times Higherem Interview, in dessen Verlauf sie sich über ihre männlichen Kollegen bei CERN (Europäische Organisation für Kernforschung) äußerte: 6

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Ihnen fehlen die elementarsten sozialen Fähigkeiten und einige geben nicht auf sich selber Acht... Es gibt eine Charaktereigenschaft, sagt sie, die von allen Physikern, einschließlich ihr selbst, geteilt wird, und das ist »Arroganz«. »Du willst beweisen, dass du Recht hast, dass deine Überzeugung richtig ist. Genauso funktioniert es auch, wenn du die >Wahrheit< diskutierst«, behauptet sie. Nach Auffassung von Przysiezniak würde eine psychologische Analyse der Personen, die sich von der Physik angezogen fühlen, zu dem Ergebnis kommen, dass Physiker sehr fokussiert, zielstrebig, ja sogar obsessiv sind. Bei ihren sonstigen Interessen neigen sie zu einer ähnlichen Leidenschaftlichkeit - viele Physiker bei CERN sind angesehene Musiker und beinahe täglich werden Konzerte veranstaltet. Die Berge und Seen, von denen CERN umgeben ist, bieten Gelegenheit zum Skifahren, Bergsteigen und Segeln, und viele Physiker nutzen diese Möglichkeiten.

Alle drei Sportarten erfordern ebenso wie die Physik gute Systematisierungsfähigkeiten. Wer zudem von der arroganten Annahme ausgeht, dass er selbst Recht und alle anderen Unrecht haben, verfügt offenbar über ein geringes Empathievermögen, denn er ignoriert nicht nur, dass auch andere eine begründete Auffassung vertreten könnten (vielleicht gibt es mehrere mögliche Sichtweisen des Problems), sondern auch, dass man möglicherweise die Gefühle der anderen verletzt, wenn man ihre Meinung einfach abschmettert.

Paul Dirac

Ein weiterer interessanter Fall ist der Physiker Paul Dirac (1902-1984). Er wurde in Cambridge zum »Lucasian-Professor« für Mathematik ernannt und übernahm damit den Lehrstuhl, den einst Isaac Newton innehatte und der heute von Stephen Hawking bekleidet wird. Zwischen seinem 23. und 30. Lebensjahr arbeitete Dirac an seiner eigenen Interpretation der Quantenmechanik und formulierte eine Quantentheorie über die Emission und Absorption von Atomstrahlung, die relativistische Wellengleichung des Elektrons, die These der Anti-Partikel und sogar eine Theorie magnetischer Monopole. Im Alter von 31 Jahren erhielt Dirac den Nobelpreis. Der deutsche Physiker und Biologe Walter Elsasser beschrieb Dirac als »einen Mann ... von überragender Größe auf einem begrenzten Gebiet, aber mit wenig Interesse oder verbleibenden Fähigkeiten für andere menschliche Aktivitäten«. Dirac selbst bestätigte diese Aussage, als er sich an seine Studienzeit in Cambridge erinnerte: Ich beschränkte mich ausschließlich auf die wissenschaftliche Arbeit und setzte sie Tag für Tag recht kontinuierlich fort, außer an den Sonntagen. Da entspannte ich mich, und wenn das Wetter gut war, machte ich einen langen einsamen Spaziergang auf dem Land.

Ein Kommilitone aus Cambridge beschrieb Dirac zudem als einen Menschen, der »ziemlich unfähig war, irgendetwas vorzutäuschen, was nicht seiner echten Überzeugung entsprach«. Um 1950 betreute Dirac das Graduiertenstudium von Dennis Sciama. Eines Tages stürzte Sciama aufgeregt in Diracs Büro: »Professor Dirac, mir ist gerade eine Idee gekommen, wie die Stellung der Sterne mit der Entstehung des Weltalls zusammenhängen könnte. Soll ich es Ihnen erzählen?« »Nein«, entgegnetet Dirac. Er schien sich gar nicht bewusst zu sein, dass man seine knappe Antwort als unhöflich auffassen könnte. Wenn ein Student in den Vorlesungen von Dirac einen bestimmten Punkt nicht verstanden hatte und ihn bat, diesen speziellen Sachverhalt noch einmal zu wiederholen, wiederholte Dirac seine Ausführungen wortwörtlich.

Ihm war nicht klar, dass er gebeten wurde, die Sache noch einmal mit anderen Worten zu erklären, um dem Zuhörer das Verständnis zu erleichtern. Der Vater von Dirac wurde als harter Mann beschrieben, der eiserne Disziplin verlangte und emotionale Distanz zu seinen Kindern hielt. Paul heiratete später Margit, eine Witwe und Schwester eines ungarischen Physikers. Er hatte zwei Kinder mit ihr, aber auch er wahrte immer ein distanziertes Verhältnis zu seiner Familie. Margit erklärte: »Obwohl Paul nicht so dominierend war wie sein Vater, hielt er sich von seinen Kindern fern.« Das Bild, das sich in Bezug auf die Familie Dirac abzeichnet, zeugt von extrem ausgeprägten Systematisierungsfähigkeiten und schwach ausgeprägten empathischen Fähigkeiten. 8

Isaac Newton und Albert Einstein

Was haben diese beiden Physiker gemeinsam? Außer dass es sich um zwei der bedeutendsten Physiker aller Zeiten handelt, gibt es noch ein weiteres Merkmal, das sie miteinander teilen: Beide verfügten nicht nur über eine große Begabung zum systematischen Denken, sondern auch über eine entsprechend geringe Begabung zur Empathie. Tatsächlich hatten sie vermutlich so gravierende Probleme im Umgang mit anderen Menschen, dass ihr gestörtes Sozialverhalten die Diagnose AS gerechtfertigt hätte. Doch das hat sie nicht davon abgehalten, in ihren Spezialdisziplinen einmalige Spitzenleistungen zu erbringen. Ein Beobachter von Newton schrieb: 9

Er hielt sich immer in der Nähe seines Arbeitszimmers auf, machte sehr selten Besuche und empfing auch selbst nur selten Besuch... Ich wüsste nicht, dass er sich je eine Erholung oder einen Zeitvertreib gegönnt hätte weder einen Ausritt an der frischen Luft noch einen Spaziergang, eine Partie Bowling oder irgendeine andere sportliche Ertüchtigung, denn jede Stunde, die er nicht in seinem Arbeitszimmer verbrachte, galt ihm als verlorene Zeit.

Einsteins Sohn Hans Albert berichtet Folgendes über die Kindheit seines Vaters: Er war e i n sehr ruhiges Kind. Ein einsamer, schüchterner Junge, der sich s c h o n d a m a l s vor der Welt zurückzog. Seine Lehrer hielten ihn sogar für zurückgeblieben. Er erzählte mir, dass s e i n e Lehrer gegenüber seinem Vater äußerten, er sei l a n g s a m im D e n k e n , ungesellig u n d hänge ständig i r g e n d w e l c h e n törichten Träumen nach.

Einstein wurde als »einsam und verträumt« beschrieben, als Kind, dem es schwer fiel, Freunde zu finden. Er beschäftigte sich angeblich am liebsten mit »einsamen, anspruchsvollen Spielen«, fertigte komplexe Konstruktionen aus Bauklötzen an oder errichtete Kartenhäuser, die bis zu vierzehn Stockwerke umfassten. Er wiederholte immer wieder »leise jeden Satz, den er sprach - eine Angewohnheit, die er bis zum siebten Lebensjahr beibehielt«. Noch von dem Neunjährigen hieß es, dass er nicht flüssig sprechen könne. Außerdem war er ein Einzelgänger: »Ich bin nicht oft mit Menschen zusammen«, pflegte er zu sagen. »Ich bin nicht gesellig, weil soziale Begegnungen mich von meiner Arbeit ablenken würden, und ich lebe tatsächlich ausschließlich für meine Arbeit, und es würde die ohnehin sehr begrenzte Zeit, die einem im Leben dafür zur Verfügung steht, weiter verkürzen.« Diese beiden Weltklasse-Physiker zeigten sicherlich viele Anzeichen von AS, doch ob diese Merkmale eine Diagnose gerechtfertigt hätten, ist fraglich, da beide eine Nische fanden, in der sie sich erfolgreich entfalten konnten. Michael Ventris: Der Inbegriff des Code-Knackers

Zum Schluss will ich noch kurz Michael Ventris (1922-56) erwähnen, den Mann, der Linear B, eine kretische Silbenschrift, entzifferte. Nachdem er diese alte, von Archäologen entdeckte Hieroglyphenschrift als Vierzehnjähriger erstmals gesehen hatte, arbeitete er in den folgenden sechzehn Jahren wie besessen an der Entschlüsselung dieser uralten Schrift. Seine einzigen Anhaltspunkte waren Kringel und Schnörkel, aber der enorm sprach10

begabte Ventris (er beherrschte unter anderem Englisch, Französisch, Deutsch, Polnisch, Latein, Dänisch und Griechisch) war fest entschlossen, die Bedeutung und die richtige Aussprache jedes einzelnen Schnörkels zu entschlüsseln. Den Durchbruch erzielte er, als er erkannte, dass es sich bei Linear B tatsächlich um Griechisch handelte. Nach 4000 Jahren war er als erster Mensch auf diesem Planeten wieder in der Lage, Linear B zu lesen und zu sprechen. Was ihn antrieb, war der Drang, das Geheimnis dieses Systems und seiner Gesetzmäßigkeiten zu knacken. Ventris wird von seiner Familie und von Kollegen als emotional distanziert beschrieben - ein Mann, der für sich bleiben wollte und der besessen davon war, den Code zu knacken. Sein Haus in Hampstead richtete er so ein, dass die Kinder unten wohnten, während er mit seiner Frau im oberen Stockwerk lebte; er wollte damit verhindern, dass seine Kinder in den Raum der Erwachsenen eindrangen. Irgendwann hörte er auf, mit seiner Frau zu sprechen, weil er meinte, dass es nichts mehr zu sagen gebe. Seine Tochter berichtete, er habe nie echtes Interesse am Zusammensein mit seinen Kindern gehabt. 11

Das waren einige Personen, die repräsentativ für die Extremform des männlichen Gehirntyps sind. Manchmal entdeckt man sie in der akademischen Welt (typischerweise in den »harten« Wissenschaften oder der Mathematik), manchmal in praktischen Berufen (wie im Tischlerhandwerk) oder auch in sozial isolierten Tätigkeiten (zum Beispiel als Archivar oder Gärtner). Manchmal sind sie die Technikgenies in einer Firma oder die Erneuerer eines Unternehmens. Sie sind nicht immer so herausragend wie Richard Borcherds, aber es gibt einen roten Faden, der sich durch ihr Leben zieht und alle miteinander verbindet, nämlich die Leidenschaft für Systeme und ein schwaches Einfühlungsvermögen. Hans Asperger meint dazu: Zu unserer eigenen Verwunderung haben wir gesehen, dass d e n autist isehen Psychopathen, sofern sie nur intellektuell intakt sind, in fast allen Fällen eine Berufseinstellung gelingt, den meisten in ausgesprochen Intel*

lektuellen, hochspezialisierten Berufen, vielen in hervorragender Stellung. Bevorzugt werden abstrakte Wissensinhalte. Wir finden eine größere Anzahl deren mathematisches Können den Beruf bestimmt - neben den »reinen Mathematikern« Techniker, Chemiker, auch Beamte... Jede Berufseinstellung ist ein Zwang zur Einseitigkeit, bedeutet ein Aufgeben von Möglichkeiten ... Bei den autistischen Psychopathen jedoch hat man den Eindruck, dass sie mit gesammelter Energie und selbstverständlicher Sicherheit... ihren Weg gehen, zu dem sie meist schon von Kind an nach ihren Anlagen vorbestimmt erscheinen.

Bei einigen Personen mit der Extremform des männlichen Gehirns wird schließlich AS diagnostiziert, weil dieses Eigenschaftsprofil sekundäre Probleme nach sich zieht wie Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, Aggressivität, Depression oder auch Trennung und Scheidung. Doch einige brauchen glücklicherweise nie eine Diagnose, weil sie zwar dasselbe Profil an Stärken und Schwierigkeiten aufweisen, aber eine Nische für sich finden und einige Menschen (oder Lebenspartner mit Nerven wie Drahtseilen) kennen lernen, die ihre Macken für irgendwie charmant und exzentrisch halten und ihre Originalität zu schätzen wissen.

12 Die Extremform des weiblichen Gehirns: Zurück in die Zukunft

Wir sind jetzt beinahe am Ende unserer Untersuchung angelangt, jedenfalls was das bekannte Terrain betrifft. Wir haben gesehen, dass nach dem in Abbildung 8 wiedergegebenen Modell etwa 95 Prozent der Bevölkerung einem der drei folgenden Hirntypen zuzurechnen sind: dem ausgewogenen Hirntyp (B), dem männlichen (S) oder dem weiblichen Typ (E). Bei einem kleinen Prozentsatz (etwa 2,5 Prozent) findet man die Extremform des männlichen Hirntyps. Und dann betreten wir Neuland: Es gibt einen kleinen Prozentsatz (weitere 2,5 Prozent) von Personen, die vermutlich eine Extremform des weiblichen Hirntyps aufweisen. Was weisen sie genau auf? Diesen Typ habe ich bis jetzt kaum erwähnt. Doch jetzt ist es an der Zeit, sich mit diesem Thema eingehender zu beschäftigen, da es ein Gegenstand künftiger Forschungen sein sollte. Die Extremform des weiblichen Gehirns

Über die Extremform des weiblichen Gehirntyps weiß die Wissenschaft eigentlich nur, dass man seine Entstehung vorhersagen kann, wie aus dem Modell in Abbildung 8 ersichtlich wird. Die Forschung hat sich bisher noch nicht genauer mit diesem Personenkreis auseinander gesetzt. Es scheint fast so, als würde man theoretisch die Existenz einer neuen, unbekannten Tierart behaupten und dann losgehen und überprüfen, ob sie in der Natur tatsächlich vorkommt.

Die Existenz chronischen Schmerzes deutet für Neurowissenschaftler darauf hin, dass es tatsächlich Leute gibt, die keinen Schmerz empfinden. Die Existenz von Phobien deutet für Psychiater darauf hin, dass es tatsächlich Menschen gibt, die keine Angst

empfinden. In beiden Fällen handelt es sich nicht um die Art von Problemen, die den Einzelnen dazu veranlassen, eine Klinik aufzusuchen - vielleicht weil er mit diesen Problemen gar nicht lange genug überlebt. Wer keinen Schmerz empfindet, lernt nichts über Gegenstände, an denen man sich verbrennt, oder über Stürze, bei denen man sich verletzt, und lernt daher auch nicht, solche riskanten Situationen zu meiden. Wer keine Angst empfindet, lernt nichts über die vielfältigen Formen von Gefahr und stellt sich vielleicht sorglos auf den Rand einer Klippe oder geht mitten in der Nacht mutterseelenallein durch eine dunkle Allee. Unter evolutionären Gesichtspunkten hätten diese Individuen möglicherweise nicht lange genug gelebt, um ihre Gene weiterzugeben, und würden daher heute nur noch in der Theorie existieren oder zumindest Seltenheitswert haben. Trotzdem gibt es vielleicht immer noch einige seltene Exemplare. Auf ähnliche Weise deutet die Extremform des männlichen Gehirns darauf hin, dass es eine spiegelbildliche Entsprechung geben muss, nämlich die Extremform des weiblichen Gehirns. Was wäre charakteristisch für diesen Typus? Personen mit der Extremform des weiblichen Gehirns würden in den oberen linken Quadranten der Grafik in Abbildung 8 fallen, in den dunkelgrauen Bereich. Ihr Einfühlungsvermögen wäre durchschnittlich oder signifikant besser als das der allgemeinen Bevölkerung, aber ihre Systematisierungsfähigkeiten wären beeinträchtigt. Es wären also Leute, die Schwierigkeiten hätten, die Gesetzmäßigkeiten von Mathematik, Physik, Mechanik oder Chemie zu begreifen und in Systemen zu denken. Doch sie könnten sich ausgesprochen gut in andere Menschen hineinversetzen und sehr genau nachvollziehen, was andere fühlen und denken. Würde ein solches Profil zwangsläufig irgendeine Behinderung mit sich bringen? Hyperempathie könnte durchaus als großer Pluspunkt gelten, und schlechtes Systematisieren muss kein allzu gravierendes Handicap darstellen. Möglicherweise findet man die Extremform des weiblichen Gehirns nicht in Krankenhäusern, weil diese Variante einer erfolgreichen Anpassung nicht im Wege steht. Wie wir gesehen haben, leiden Personen mit der Extremform des männlichen Gehirns sehr wohl unter einer Beeinträchtigung,

aber nur wenn die Umwelt eine bestimmte Sozialkompetenz erwartet. Fällt diese Erwartung weg, kann der Einzelne sich erfolgreich entfalten. Leider trifft man jedoch in unserer Gesellschaft überall auf diese Erwartung: in der Schule, am Arbeitsplatz und im Privatleben. Von daher ist es schwierig, sie zu vermeiden. Dagegen empfinden sich Personen mit der Extremform des weiblichen Gehirns möglicherweise nur in Situationen beeinträchtigt, in denen ein systematisches oder technisches Verständnis gefordert wird. Die Person mit der Extremform des weiblichen Gehirns ist blind für Systeme. Glücklicherweise besteht in unserer Gesellschaft eine erhebliche Toleranz für solche Menschen. Wer beispielsweise als Kind »systemblind« ist, kann Mathematik und Naturwissenschaften einfach in der frühestmöglichen Klasse abwählen und sich auf die Fächer konzentrieren, in denen seine Stärken liegen. Als systemblinder Erwachsener können Sie einfach einen Mechaniker rufen (der mit hoher Wahrscheinlichkeit zumindest dem S-Typus angehört), wenn Ihr Auto nicht mehr läuft. Wenn Sie einen Computer zusammenbauen wollen und nicht wissen, welches Kabel zu welchem Anschluss gehört, können Sie eine Vielzahl von technischen Kundendiensten zu Hilfe holen. Und im Laufe der Evolution gab es aller Wahrscheinlichkeit nach entsprechende Pendants, an die der Systemblinde sich wenden konnte, wenn seine Unterkunft durch einen Sturm zerstört oder sein Speer zerbrochen war. Doch wie steht es mit der Hyperempathie? Ist das immer etwas Positives, oder kann es sich auch als Problem erweisen? Anwärterlnnen für die Extremform des weiblichen Gehirns

Es ist durchaus vorstellbar, dass Hyperempathie zu Problemen führt. Wenn man zum Beispiel ständig versucht, die innere Befindlichkeit anderer Menschen zu ergründen, schreibt man ihnen unter Umständen Absichten zu, die sie gar nicht haben; man bewegt sich möglicherweise an der Grenze zur Paranoia oder wirkt auf jeden Fall überempfindlich. Könnte es sein, dass man bei hypersensiblen oder paranoiden Personen die Extremform des weiblichen Gehirns findet?

Als weitere Kandidaten könnten Menschen mit hysterischer Persönlichkeitsstörung in Frage kommen — eine Diagnose, die gestellt wird, wenn Personen so stark von (ihren eigenen und fremden) Emotionen überwältigt werden, dass sie nicht mehr in der Lage sind, klar zu denken. Zeigt sich also bei Individuen, die unter solchen psychischen Störungen leiden (denn darum handelt es sich bei Paranoia und bei Persönlichkeitsstörungen), die Extremform des weiblichen Gehirns? Diese Frage kann man klar verneinen. Wer anderen Menschen zu viele Absichten zuschreibt oder von seinen eigenen Gefühlen besessen ist, kann per definitionem keine übertriebene Empathie zeigen. Hyperempathie meint die Fähigkeit, sich mit ungewöhnlicher Genauigkeit und Sensibilität in die mentale Befindlichkeit eines anderen Menschen einzufühlen, und ist nur möglich, wenn man sich angemessen auf die Gefühle des anderen einstellt. Ein Paranoiker oder ein Mensch, dessen Zorn sich leicht entzündet, weil er immer denVerdacht hat, dass andere ihm feindselig gesinnt sind, hat ein Problem. Aber das Problem ist nicht seine Hyperempathie. Ähnlich versteht sich möglicherweise auch ein Psychopath außerordentlich gut darauf, die Gedanken anderer Leute zu ergründen. Aber auch hier handelt es sich nicht um Hyperempathie, weil der Psychopath nicht mit angemessenen Gefühlen auf den emotionalen Zustand des anderen reagiert (denken Sie an unsere ursprüngliche Definition von Empathie). Er empfindet möglicherweise sogar Vergnügen am Leid anderer, was wenig mit Empathie zu tun hat. Auch von den Persönlichkeitsstörungen kommt keine für den Sonderstatus eines extremen weiblichen Gehirns in Betracht, weil zu den Merkmalen der Persönlichkeitsstörungen gehört, dass sie zutiefst egozentrisch sind. Wenn überhaupt, ist diese Gruppe eher durch Empathie-Defizite gekennzeichnet. Schließlich gingen einige Überlegungen dahin, ob nicht das Williams-Syndrom ein Beispiel für die Extremform des weiblichen Gehirns sein könnte, weil Personen, die unter diesem Syndrom leiden, gute oder sogar überlegene Aufmerksamkeit für Gesichter zeigen und sich mühelos unterhalten können, auch wenn sie in 1

anderen Bereichen ihrer Lernfähigkeit und Kognition eingeschränkt sind. Doch diese Soziabilität ist häufig ziemlich oberflächlich - eine Person mit Williams-Syndrom kann vielleicht mühelos ein Gespräch in Gang halten, geht aber nicht mit besonderer Sensibilität auf die Gedanken und Gefühle des anderen ein. Von daher qualifiziert sich also auch diese Personengruppe nicht für die Extremform des E-Typs. Wir haben demnach eine recht gute Vorstellung davon, was die Extremform des weiblichen Gehirns (oder E-iyps) nicht ist. Wir können diese Schlüsse ziehen, weil Williams-Syndrom, Persönlichkeitsstörungen, Psychopathie und Paranoia allesamt zum erforschten Terrain gehören. Doch um zu bestimmen, was der E-iypus tatsächlich ist, müssen wir Mutmaßungen darüber anstellen, was wir auf dem vor uns liegenden, unbekannten Terrain finden könnten. 2

Neue Bewerberinnen

Zu diesen Vermutungen gehört, dass Menschen, die dazu neigen, an solche Dinge wie Telepathie zu glauben, als Bewerber für die Extremform des weiblichen Gehirntyps in Frage kommen. Dabei handelt es sich nicht um Personen, die an irgendwelche alten parapsychologischen Phänomene (wie Geister oder Telekinese) glauben, auch leiden sie nicht unter einer leichten Form von Psychose oder Schizophrenie. Es müssten vielmehr Personen sein, die in jeder Hinsicht normal und gesund sind, außer dass sie fest daran glauben, die Gedanken und Gefühle anderer mit bemerkenswerter Klarheit erkennen zu können. Genauso wichtig wäre, dass sie bei ihren diesbezüglichen Einschätzungen eine erstaunliche Treffsicherheit zeigen, weil der Glaube an die eigenen telepathischen Fähigkeiten andernfalls eine simple Selbsttäuschung sein könnte. Eine zweite und meines Erachtens wahrscheinlichere Bewerbergruppe für die Extremform des weiblichen Gehirntyps sind außergewöhnlich fürsorgliche Menschen, von denen man sich auf Anhieb verstanden fühlt. Ein Beispiel wäre ein grenzenlos geduldi3

ger Psychotherapeut, der sich im Nu auf die Gefühle und die Situation des Patienten einstellt, der nicht nur sagt, dass die Traurigkeit des anderen ihn traurig stimmt oder dessen Freude ihn freudig stimmt, sondern diese Gefühle auch auf so lebendige Weise zum Ausdruck bringt, als ob es seine eigenen wären. Zudem müsste allerdings jeder Kandidat für die Extremform des weiblichen Gehirns in technischer Hinsicht regelrecht behindert sein. Ein solcher Mensch hätte nicht das geringste Interesse an Mathematik oder Computern oder politischen Ismen oder Do-ityourself-Aktivitäten. Im Grunde wäre ihm jede Tätigkeit, die irgendeine Form von Systematisierungsfähigkeit erfordert, ein Buch mit sieben Siegeln. Jeder kennt wahrscheinlich solche Menschen, aber sie landen sehr wahrscheinlich nicht in Kliniken, es sei denn als Personal in den Pflegeberufen. Das ganze Buch hindurch habe ich diese beiden Gebiete, das Einfühlungsvermögen und das Systematisierungsvermögen erforscht, und dennoch gibt es immer noch sehr viel zu entdecken. In welche Richtung gehen die Fragen und Probleme, die man in den nächsten Jahren hoffentlich klären wird? Sie beziehen sich tendenziell auf drei zentrale Themen: theoretisches Modell, Autismus und schließlich die Möglichkeiten und Pflichten der Gesellschaft. Werfen wir einen kurzen Blick auf jeden dieser drei Bereiche. Die Theorie

Gibt es einige wesentliche mentale Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die von dem in Abbildung 8 dargestellten Modell nicht erfasst werden? Lassen sich die einzigen wichtigen Unterschiede beim Gehirn des Durchschnittsmannes und der Durchschnittsfrau tatsächlich auf die beiden Dimensionen Einfühlung und Systematisierung reduzieren? Die vertrauteren Beispiele von geschlechtsspezifischen Unterschieden wie etwa Aggression oder sprachliche Kompetenz sind bereits in Kapitel 4 erörtert worden, wo wir zu dem Schluss gekommen sind, dass ein verringertes Einfühlungsvermögen bei Männern möglicherweise einen Anstieg der

Aggressivität begünstigt, während ein besseres Einfühlungsvermögen bei Frauen möglicherweise die Kommunikationsfähigkeiten fördert. Zu den künftigen Herausforderungen gehört die Aufklärung von psychischen Unterschieden, die sich nicht so nahtlos in diese Modell einfügen. Einige Autoren sind zum Beispiel der Auffassung, dass es einen geschlechtsspezifischen Unterschied im Hinblick auf Angst gibt (nach dieser These haben Männer weniger Angst als Frauen). Doch auch das könnte letztlich auf die besseren Systematisierungsfähigkeiten der Männer zurückzuführen sein. (Mit anderen Worten: eine sorgfältige und objektive Analyse von Flugrisiken oder eine logische Analyse der Frage, wie man ein Raubtier einfängt und tötet, verringert die Angst.) Man könnte sich auch fragen, wie die beiden Prozesse des Einfühlens in andere und des Systematisierens konkret beschaffen sind. Handelt es sich um getrennte Module im Gehirn? Sind es wirklich voneinander unabhängige Bereiche? Wie an früherer Stelle erwähnt, scheint es bei vielen Leuten eher eine Art Austausch zu geben: Eine höhere Fähigkeit bei dem einen Prozess geht tendenziell mit einer geringeren Fähigkeit beim anderen Prozess einher. Warum ist das so? Es könnte sein, dass diese beiden Prozesse sich auf etwas Allgemeineres reduzieren lassen. Diese Möglichkeit zeichnet sich ab, wenn wir einen Schritt zurücktreten und über das Wesen der beiden Prozesse nachdenken. Zum Systematisieren gehört Genauigkeit, extreme Aufmerksamkeit für lokale Details und ein leidenschaftliches Interesse für Phänomene, die man im Prinzip als gesetzmäßig und kontext-unabhängig betrachten kann. Mit anderen Worten, was man über die Gesetze des Auftriebs oder der Temperatur herausfindet, sollte in jeder Situation Gültigkeit haben. Zur Empathie gehören im Gegensatz dazu ganz andere Elemente, nämlich: Ungenauigkeit (man kann sich der inneren Verfassung eines anderen Menschen nur immer weiter annähern), Aufmerksamkeit für den größeren Zusammenhang (zum Beispiel, dass man einschätzt, wie der andere die Situation empfindet und beurteilt), Abhängigkeit vom Kontext (Gesicht, Stimme, Verhalten und persönliche Erfahrungsgeschichte liefern allesamt wichtige

Informationen, wenn man die innere Verfassung einer anderen Person bestimmen will) und fehlende Gesetzmäßigkeiten (was uns gestern glücklich machte, macht uns morgen noch lange nicht froh). Künftige Forschungen werden sich mit der Frage beschäftigen müssen, ob diese beiden Prozesse weniger von ihrem Inhalt, als vielmehr von diesen allgemeineren Merkmalen bestimmt werden. Das autistische Denken

Ich habe in diesem Buch ein bestimmtes Autismus-Modell beschrieben, nämlich das Modell vom Einfühlungs- und Systematisierungsvermögen. Aber es wäre nicht korrekt von mir, die anderen Modelle zu unterschlagen, die ebenfalls zur Erklärung des Rätsels Autismus herangezogen werden. Zu künftigen Forschungsanstrengungen wird gehören, dass man diese konkurrierenden Theorien mithilfe von wissenschaftlichen Experimenten überprüft, doch lassen Sie uns einen kurzen Blick auf die alternativen Modelle werfen. Menschen mit Autismus weisen angeblich Defizite bei den so genannten »excecutive functions« auf, zum Beispiel Defizite bei den Planungsfähigkeiten. Executive functions (EF) ist der Oberbegriff für die (präfrontalen) Steuerungszentren des Gehirns, die nicht nur für die Planung, sondern auch für die wechselnde Richtung der Aufmerksamkeit und die Hemmung impulsiven Handelns zuständig sind. Es ist sicherlich zutreffend, dass Personen mit Autismus, die unter Lernschwächen (oder einem niedrigen IQ) leiden, Probleme mit diesen Steuerungsfunktionen haben, aber es ist noch nicht klar, ob dies auch für die Fälle von »reinem« Autismus gilt, also für Personen mit völlig normalem oder überdurchschnittlichem IQ. Man hat zwar Störungen der executive functions bei autistischen Personen mit hohem Entwicklungsniveau (high-functioning-autism, HFA) festgestellt, doch diese Bezeichnung ist häufig sehr irreführend. Mit dem Begriff HFA wird jede Person mit Autismus bezeichnet, deren IQ höher ist als 70, weil dies der akzeptier4

te Punkt ist, an dem man allgemeine Lernprobleme (geistige Retardation) und durchschnittliche Intelligenz diagnostizieren kann. Tatsächlich ist es bei einem IQ von ungefähr 70 immer noch sehr wahrscheinlich, dass erhebliche schulische Probleme auftreten. Ein häufiges Argument ist zum Beispiel, dass ein Individuum mit einem IQ von 70 wahrscheinlich nicht die erforderlichen Prüfungen bestehen wird, um eine höhere Schule erfolgreich abzuschließen, oder dass eine Person mit einem IQ von weit unter 100 wahrscheinlich nicht für einen Studienplatz an der Universität ausgewählt wird. Ein Mensch mit einem IQ von 70 ist also nur »high functioning« im Vergleich mit einer Person, die einen noch niedrigeren IQ hat und unter einer deutlich erkennbaren Lernschwäche oder geistigen Retardation leidet. Die Entdeckung, dass bei diesen Personen gewisse Störungen der Steuerungsfunktionen vorliegen, ist wahrscheinlich keine Überraschung und hängt vermutlich mit ihrem relativ niedrigen IQ zusammen. Wenn der Autismus eine intakte oder überlegene Systematisierungsfähigkeit umfasst und wenn zu diesem methodisch-analytischen Denken gehört, dass man vorhersagen kann, ob Input X in einem System zu Output Y führt, dann lässt dies darauf schließen, dass Menschen mit Autismus durchaus zu gewissen Steuerungsfunktionen (Planung, Impulskontrolle etc.) im Stande sind. Richard Borcherds, den wir im letzten Kapitel kennen lernten, ist ein glänzender Systematiker (wenn es um Mathematik geht), hat erhebliche Probleme bei der Einfühlung in andere, zeigt aber keine Spur von gestörten Steuerungsfunktionen. Es könnte also sein, dass Störungen dieser executive functions kein notwendiges oder universelles Merkmal des Autismus sind. Menschen mit Autismus weisen angeblich auch Defizite bei der »zentralen Kohärenz« auf, das heißt, bei der Fähigkeit, aufgenommene Informationen zusammenzuziehen, sie in einen Kontext zu integrieren und Bedeutungen zu konstruieren, was u.a. die Fähigkeit erfordert, zwischen bedeutungsvollem und sinnlosem Material zu unterscheiden. Nach dieser These konzentrieren sich Menschen mit Autismus auf die Verarbeitung von Details oder Teilen, statt das Ganze zu sehen. Doch wenn zum Autismus ein intaktes oder überlegenes Systematisierungsvermögen gehört, 5

dann müssen Personen mit Autismus größere Zusammenhänge wahrnehmen können, zumindest, wenn es um Systeme geht. Zwischen Input X und Output Y kann durchaus eine größere Entfernung liegen und trotzdem wird die wechselseitige Abhängigkeit erkannt. Auch hier stellt sich wiederum die Frage nach dem Zusammenhang der beiden Erklärungen. Tatsächlich wäre es durchaus denkbar, dass ein gutes Systematisierungsvermögen mit einer geschwächten Fähigkeit zur Kohärenzbildung einhergeht. Gute Systematisierungsfähigkeiten würden die Person dazu veranlassen, einen einzelnen möglichen Bereich als System zu erfassen, und sie würde ihre Aufmerksamkeit zunächst auf einige isolierte Details richten, da diese sich als Variablen entpuppen könnten, die bestimmten Gesetzesmäßigkeiten folgen. Nachdem das Individuum sich (systematisch) durch alle einzelnen Details in dem Bereich gearbeitet hätte, würde es schließlich eine gute Vorstellung vom größeren System im Kopf haben, also ein anderes Ergebnis erzielen, als die Theorie von der beeinträchtigten zentralen Kohärenz prognostiziert. Gibt es bestimmte Fakten über den Autismus, die nicht mit der Theorie von der Extremform des männlichen Gehirns vereinbar sind? Wenn etwa, wie einige Studien vermuten lassen, im autistischen Gehirn eine verringerte Lateralisierung der Sprache in der linken Hemisphäre besteht, entspricht das den Annahmen über die Extremform des männlichen Gehirns? Um den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Lateralität bei den Extremfällen aufzuklären, sind dringend weitere Studien erforderlich. Eine potenzielle Kritik an der Theorie vom Autismus als einer Extremform des männlichen Gehirns ist, dass das Geschlechterverhältnis bei vielen Krankheiten (nicht nur beim Autismus) zu Lasten der Männer verschoben ist und die Theorie von daher vielleicht nicht spezifisch genug ist. Vom Stottern sind zum Beispiel Jungen häufiger betroffen als Mädchen, und das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom in Verbindung mit Hyperaktivität (ADHD) ist bei Jungen ebenfalls weiter verbreitet als bei Mädchen. Das Gleiche gilt für Verhaltensstörungen. Zeigt sich hier einfach eine physiologisch bedingte Anfälligkeit, durch die Männer grundsätzlich einem höheren Risiko für alle möglichen Störungen ausgesetzt sind? 6

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Das ist unwahrscheinlich. Es gibt einige Entwicklungsstörungen (wie Magersucht oder Depressionen bei Jugendlichen), von denen Mädchen häufiger betroffen sind als Jungen. Deshalb brauchen wir spezifische Erklärungen für das Geschlechterverhältnis bei jeder einzelnen Störung. Außerdem liegt der Männeranteil beim Asperger-Syndrom (etwa 10:1) weit höher als bei anderen Entwicklungsstörungen (in der Regel kommen zwei oder drei betroffene Männer auf eine betroffene Frau). Bemerkenswert ist, dass die Theorie von der Extremform des männlichen Gehirns keine bestimmte Größenordnung hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses beim Autismus prognostiziert. Es ist möglich, dass das Geschlechterverhältnis beim Autismus niedriger als 10:1 ist, dass jedoch bei Frauen mit AS seltener eine Diagnose gestellt wird, weil sie über bessere schauspielerische Fähigkeiten verfügen oder weil sie gesellschaftlich eher akzeptiert werden. Möglicherweise bestehen auch Verbindungen zwischen den Störungen des autistischen Spektrums und einigen anderen Entwicklungsstörungen, von denen Männer häufiger betroffen sind als Frauen. Verzögerungen der Sprachentwicklung und Sprachstörungen umfassen unter Umständen einen ähnlichen neurobiologischen Mechanismus wie der Autismus. Einige genetische Studien haben bereits ergeben, dass sie möglicherweise eine Abnormalität auf dem langen Arm des siebten Chromosoms gemeinsam haben, auch wenn diese Ergebnisse noch ganz neu sind und durch weitere Untersuchungen bestätigt werden müssen. In anderen Studien wurde außerdem nachgewiesen, dass der pränatale Testosteronspiegel nicht nur die soziale Entwicklung, sondern auch die Sprachentwicklung beeinflusst. Von daher könnte man sich also durchaus vorstellen, dass hier ähnliche Mechanismen am Werk sind. Man sollte auch berücksichtigen, dass vergleichbare psychische Prozesse unterschiedliche Diagnosen nach sich ziehen können. Geringere Empathie ist kein exklusives Merkmal von Störungen aus dem autistischen Spektrum, sondern zeigt sich auch bei der antisozialen Verhaltensstörung. Die Existenz dieser anderen Störungen ist also offenbar alles andere als problematisch für das Modell, sondern könnte im Gegenteil unser Verständnis erweitern und zu einem komplexeren Wissen führen. 8

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Das am Einfühlungs- und Systematisierungsvermögen ausgerichtete Modell des Autismus ist von besonderem Reiz, weil es die Gruppe der Symptome erklären kann, die man bei diesem Zustand beobachtet (soziale ebenso wie nicht-soziale). Das Modell verdeutlicht außerdem einige Symptome des Autismus, die vorher vernachlässigt wurden, wie das repetitive Verhalten (manchmal auch als »ziellos« beschrieben), zum Beispiel das ständige Drehen einer Flasche. Die Zusammenhänge sind in Abbildung 12 wiedergegeben. Soziale Sensibilität Verständnis für Sensibilität für Kommunikation Gedanken und Gefühle anderer

Inselbegabungen

Besessenheit von Systemen

Repetitives Verhalten

Abbildung 12: Was das Empathie- und Systematisierungsmodell erklären kann Der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman hat als Doktorand angeblich seine Nachmittage in der Universitätskantine verbracht und Teller gedreht, aber niemand beschrieb diese Angewohnheit als zielloses, sich wiederholendes Verhalten. Feynman folgte in gewisserWeise einem Zwang, so wie eine Spinne, die ganz automatisch ein Netz spinnt. Er brachte die Welt in ein System. Ob er das auf dem Papier mit Gleichungen tat oder mit einem Teller in der Kantine - er war vollständig in Anspruch genommen

von dem faszinierenden Muster der Informationen (den Gesetzmäßigkeiten, den Regeln), die man immer wieder testen kann, wenn man systematisch mit Variablen spielt. Man sollte sich vor der Behauptung hüten, dass ein Kind mit Autismus, das zur Echolalie neigt (das jede Äußerung mit haargenau der gleichen Betonung echohaft wiederholt) oder immer wieder dasselbe Musikstück spielt oder wie gebannt auf einen Ventilator starrt, ein zielloses Verhalten an den Tag legt. Das Kind versucht vielleicht menschliches Verhalten (Sprache), mechanische Bewegungen oder auditive Inputstränge in ein System zu bringen, und zwar auf einem Niveau, das durchaus seinem allgemeinen IQ entspricht oder sogar noch darüber liegt. Ein Beispiel ist die Kunst von Lisa Perini, einer italienischen Malerin, die als Kind unter klassischem Autismus litt. Als Fünfjährige füllte sie seitenweise Papier mit der identischen, sich wiederholenden Form des Buchstaben »W«. Es war, als ob sie diese Variable als Symbol oder Input für den Schreib- oder Malprozess isoliert hätte. Dann arbeitete sie dieses Motiv auf höchst systematische Weise aus, variierte zum Beispiel nur einen Winkel der Form, bis sie die erforderlichen Bewegungsabläufe perfekt beherrschte und den ästhetischen Effekt erzielte, den sie angestrebt hatte. Später wiederholte sie diesen Prozess in gleicher Weise mit einem Blumenmotiv, malte unzählige oberflächlich ähnlich anmutende Blumen, auch wenn in Wahrheit jede ein Mini-Experiment darstellte, bei dem eine winzige Variable verändert wurde. Inzwischen ist sie eine erwachsene Malerin von vollendeter Virtuosität und hält sich immer noch an diese systematische Methode der Kreativität. Sabina Maffei, die italienische Grafologin, die mich mit Lisas Arbeit bekannt machte, erzählte mir, dass Lisa zum Beispiel die roten Scherben eines Blinkers, die nach einem Unfall auf der Straße liegen, aufsammelt, die Formen untersucht und andere Leute bittet, ihr ähnliche Bruchstücke farbigen Glases zu schicken, weil sie auf der Suche nach der perfekten Form für ihre Malerei sei. Das ist ein systematisches Vorgehen im Dienst der Kreativität. Das am Einfühlungs- und Systematisierungsvermögen ausgerichtete Modell des Autismus erfasst auch die »Inselbegabungen«, die vorher separat untersucht wurden, so als ob sie sich von ande-

ren Elementen des Autismus unterschieden. Kalendarische Berechnungen oder ein besonderes Zeichentalent, die Fähigkeit, Primzahlen zu erkennen, oder ein exzellentes musikalisches Gedächtnis galten als Merkwürdigkeiten, die beim Autismus häufiger auftraten als bei anderen Störungen, aber einer Erklärung nicht zugänglich waren. Nach dem in diesem Buch vorgestellten Modell sind solche Inselbegabungen einfach besonders ausgeprägte Beispiele für das, was alle Autisten automatisch tun. Das Modell kann auch die ungewöhnliche Aufmerksamkeit für Details erklären, die beim Autismus zu beobachten ist. Warum bemerkt das Kind die kleinen Ziffern auf der Rückseite von Laternenpfahlen? Oder erinnert sich an die Nummer des Sitzplatzes im Theater, das man vor acht Jahren besucht hat? Wieso fällt ihm auf, dass die Nippesfigur auf dem Kaminsims umgestellt wurde, dass Tante Becky neue Ohrringe trägt oder dass Mr. Hackett im Haus Nummer 106 wohnt? Diese ungewöhnliche Aufmerksamkeit für Details ist eine Voraussetzung für gutes Systematisieren; in all diesen Beispielen greift das Gehirn das einzelne Merkmal auf und behandelt es als Ankerpunkt, um zu überprüfen, ob es zur Grundlage für eine neue Gesetzmäßigkeit oder Regel werden könnte. Ist Sitz H24 in diesem Theater genauso oder anders als Sitz H23? Bieten die silbernen und roten Ohrringe eine verlässliche Methode, um Tante Becky wieder zu erkennen? Brennen die Glühlampen in den Laternenpfählen unserer Straße in einer bestimmten Reihenfolge aus? Wer wohnt sonst noch in Nummer 106, und befindet sich das Haus zwangsläufig auf der rechten Straßenseite, weil es eine gerade Zahl trägt? Andere Modelle zeichnen schließlich ein im Grunde negatives Bild vom Autismus, weil sie zu dem Ergebnis kommen, dass das autistische Gehirn unter einer Störung von Steuerungsfunktionen (executive functions) leidet. Es stimmt, dass Schädigungen der Frontallappen zu einer Beeinträchtigung dieser Steuerungsfunktionen führen können und dass dies bei Autisten mit unterdurchschnittlichem IQ nichts Ungewöhnliches ist. Genau genommen ist ein niedriger IQ vielleicht sogar ein Merkmal dieser gestörten Steuerungsfunktionen. Doch eine Theorie des Autismus darf sich nicht auf eine Erklärung der besonders häufigen Fälle beschrän-

ken, sondern muss auch erklären können, weshalb einige der Betroffenen wie etwa Richard Borcherds trotz ihrer Defizite in der Empathie ein extrem hohes Leistungsniveau erreichen und nicht die geringsten Anzeichen für gestörte Steuerungsfunktionen zeigen. Die Empathie-/Systematisierungstheorie verleiht Menschen mit der Diagnose Autismus eine gewisse Würde, indem sie sowohl ihre Begabungen (das Systematisieren) als auch ihre Probleme (Empathie) anerkennt und die Vorstellung fördert, dass Personen aus dem autistischen Spektrum sich einfach in ihren Eigenschaften oder Fähigkeiten von anderen Menschen unterscheiden. Wie ein junger Mann mit AS mir in Dänemark erklärte: Menschen mit AS sind wie Salzwasserfische, die gezwungen werden, im Süßwasser zu leben. Es geht uns gut, wenn man uns in die richtige Umgebung setzt. Wenn die Person mit AS und die Umwelt zusammenpassen, verschwinden die Probleme, und wir können sogar sehr erfolgreich werden. Wenn sie nicht zusammenpassen, wirken wir behindert.

Diesen Vergleich mit den Salz- und Süßwasserfischen sollte man sich merken. Ich finde, er trifft die Situation sehr genau. Die Pflichten der Gesellschaft: Intervention - ja oder nein?

Vielleicht ist ja ein Ergebnis dieses Buchs, dass Lehrer sich nicht mehr so viele Sorgen um die Mädchen machen müssen, wenn es um die Förderung der Empathie geht, und weniger Sorgen um die Jungen, wenn es um die Förderung des systematischen Denkens geht. Vielmehr könnten sie ihren Unterricht gezielt darauf ausrichten, jedes Geschlecht in demjenigen Bereich zu unterstützen, in dem es wahrscheinlich mehr Hilfe und Anleitung braucht. Einige Leser sind jetzt vielleicht angenehm überrascht, weil sie davon ausgegangen waren, dass Lehrer und Eltern keinen Einfluss auf die Entwicklung nehmen können, wenn die Persönlichkeit zum Teil von biologischen Faktoren bestimmt wird. So zu denken wäre falsch. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Einzelne durch biologische Faktoren in eine bestimmte Richtung gedrängt, doch es

gibt eine Fülle von Nachweisen dafür, dass persönliche Erfahrungen die Hirnstruktur verändern und umformen können. Aber sollten wir wirklich den Versuch unternehmen, in die Entwicklung einzugreifen? Sollte die Gesellschaft bestrebt sein, das Einfühlungsvermögen eines durchschnittlichen Mannes zu erhöhen oder das Systematisierungsvermögen einer durchschnittlichen Frau zu verbessern? Trotz aller tatsächlich bestehenden geschlechtsspezifischen Unterschiede darf man nicht vergessen, dass sich die individuellen Unterschiede bei den meisten Menschen auf einer Ebene bewegen, die weder ihnen selbst noch sonst irgendjemandem Probleme bereiten. Das bedeutet, dass die Argumente für Interventionen jedweder Art auf schwachen Beinen stehen. Die Beschreibung von grundlegenden Unterschieden im Denken von Mann und Frau könnte jedoch dazu beitragen, dass wir Unterschieden mit größerem Respekt und wachsender Akzeptanz begegnen. Ein gezielter Unterricht ist natürlich trotzdem wünschenswert, aber er sollte immer auf Grund einer Einschätzung individueller Stärken und Schwächen erfolgen. Doch dann gibt es auch noch das Spektrum der medizinischen Interventionen mit allen damit verbundenen ethischen Fragen. Falls Autismus mit dem fötalen Testosteronspiegel zusammenhängt (wofür der endgültige Beweis noch aussteht), würde dann eine Östrogentherapie während der Schwangerschaft die Autismusrisiken verringern? Oder gibt es eine andere Form von medikamentöser Behandlung, die die Auswirkungen eines hohen Testosteronspiegels mildern würde? Wie wir in Kapitel 4 gesehen haben, genügen offenbar schon ein paar Tropfen weniger von dieser kostbaren Substanz, damit der Einzelne häufiger Blickkontakt herstellt und bessere Kommunikationsfähigkeiten entwickelt. Doch ist ein solches Eingreifen aus ethischer Sicht tatsächlich vertretbar oder wünschenswert? Es könnte bedeuten, dass wir das Besondere und Außergewöhnliche, das die Extremform des männlichen Gehirns auszeichnet, für immer verlieren. Wie eine Person mit Autismus es jüngst in einer an mich gerichteten E-Mail ausdrückte: »Ohne Autismus hätten wir vielleicht weder das Feuer noch das Rad erfunden.« Wenn, wie in Kapitel 11 erwähnt, ein gutes Systema10

tisierungsvermögen mitunter zu bahnbrechenden Erfindungen führt, könnten wir zweifellos etwas Unschätzbares verlieren, sobald die Medizin versucht, die fötale Hirnentwicklung durch biochemische Behandlungen zu beeinflussen. Kontroversen um eine pränatale Autismusdiagnostik werden noch eine Weile auf sich warten lassen, weil bislang noch keine Merkmale entdeckt wurden, anhand derer sich der Autismus sicher voraussagen ließe. Bisher haben wir nur gewisse Anhaltspunkte. Doch selbst wenn solche Marker zur Verfügung stehen, wird die Gemeinde der Autisten vermutlich geteilter Meinung sein, was die Frage der Prävention oder Intervention betrifft. Einige werden folgende Ansicht vertreten: Wenn es möglich gewesen wäre, mich als Säugling von meinem Autismus zu befreien, dann hätte ich das gewollt. Mein Autismus ist Tag für Tag ein ungeheurer Kampf gewesen.

Das sagt Ros Blackburn, eine Frau mit Autismus, die öffentliche Vorträge darüber hält, wie das Leben mit Autismus aussieht. Doch andere Menschen mit Autismus vertreten die gegenteilige Ansicht. Eine Web-Seite fordert Respekt:

http:://groups.yahoo.com/group/AS-and-Proud-of-it

Genauso gespalten in dieser Frage sind möglicherweise auch Eltern, deren Kinder unter Störungen aus dem autistischen Spektrum leiden und bei denen auf Grund genetischer Faktoren ein erhöhtes Risiko besteht, dass sie ein weiteres autistisches Kind bekommen. Einige dieser Eltern sagen zum Beispiel: Die Vorstellung, ein weiteres Kind mit schwerem Autismus zu haben, ist einfach mehr, als wir ertragen können. Das schwierige Verhalten, die fehlende Anerkennung, das Desinteresse an den Gefühlen anderer Menschen und das extrem eingeschränkte Leben, das der Autismus unserer Familie aufgezwungen hat, ist einfach zu viel. Seit unser Sohn geboren wurde, hat keiner von uns mehr als zwei Stunden pro Nacht geschlafen. Und die Art, wie er sich in seine eigene Hand beißt oder mit dem Kopf gegen die Wand schlägt, zerreißt einem das Herz. Wenn es ein Heilmittel gäbe oder wenn eine Prävention möglich gewesen wäre, hätten wir die Möglichkeit genutzt.

Doch andere Eltern räumen zwar ein, dass es Probleme gibt, bestehen aber darauf, dass ihr Kind ein Recht auf seine Andersartigkeit hat, und würden es nicht zwingen wollen, wie alle anderen zu sein. Sie bewundern die ganz eigene Denkart ihrer Kinder, ihre Unangepasstheit, ihren ungewöhnlichen Intellekt und verteidigen sie grimmig gegen alle Versuche, den Zustand zu pathologisieren, mit Medikamenten zu behandeln oder von vornherein zu verhindern. Kein Zweifel, Personen mit Autismus und ihre Eltern verdienen die Freiheit, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, wenn und falls die medizinische Wissenschaft mit diesen großen gesellschaftlichen Fragen konfrontiert wird. Fehlwahrnehmungen

Ich wäre sehr enttäuscht, wenn ein Leser nach der Lektüre dieses Buches etwa denken würde: »Aha, alle Männer sind uneinfühlsame Klötze« oder »Alle Frauen sind schlecht im methodischen Denken«. Ich habe hoffentlich deutlich gemacht, dass diese Begriffe, wenn vom weiblichen Gehirn oder männlichen Gehirn die Rede ist, als Kürzel für psychische Profile stehen, die darauf beruhen, welche Durchschnittswerte Männer als Gruppe und Frauen als Gruppe bei Tests erzielen. Solche Gruppenstatistiken sagen nichts über Individuen aus. Ich habe das Glück, dass meiner Forschungsgruppe an der Cambridge University einige Frauen angehören, die über weit bessere Systematisierungsfähigkeiten verfügen, als ich sie je im Leben erlangen werde, und die auf Grund dieser Fähigkeiten hervorragende Wissenschaftlerinnen sind. Ich habe auch das Glück, einige männliche Freunde zu haben, die nicht der Norm entsprechen und über das verfügen, was wir als weiblichen Gehirntyp bezeichnet haben. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sie in sozialen Berufen tätig sind, und ihre Klienten wissen zu schätzen, wie einfühlsam sie auf ihre Bedürfnisse eingehen. Doch diese Fälle ändern nichts an der Gültigkeit des vorgestellten Modells: Um zu erklären, warum diese speziellen Frauen ein Talent zum Systematisieren haben oder warum diese speziellen Männer ein Talent zur Empa-

thie haben, müssen wir uns auf ihre besondere Physiologie und Erfahrung beziehen. Einige denken vielleicht, dass die kleinen, aber realen Unterschiede, die (im Durchschnitt) zwischen Männern und Frauen bestehen, jede Hoffnung auf funktionierende Beziehungen zwischen den Geschlechtern untergraben. Auch zu dieser Sorge besteht meines Erachtens kein Anlass. Bei der Mehrheit heterosexueller Paare oder Freundschaften ist die Kommunikation so gut, dass die Partner einander nicht nur verstehen, sondern auch ihre gegenseitigen Unterschiede respektieren können. Und schließlich gibt es ja auch noch die uralte Lösung für das Bedürfnis nach einem gleich gesinnten Gefährten, nämlich gleichgeschlechtliche Freunde außerhalb einer primären heterosexuellen Partnerschaft. Was gibt es schließlich Schöneres, als ab und zu die Nacht mit der besten Freundin durchzuquatschen oder abends mit den Kumpeln um die Häuser zu ziehen? Einige machen sich vielleicht Sorgen, dass die in diesem Buch präsentierte Sichtweise vom männlichen und weiblichen Gehirn Gefahr läuft, das männliche Gehirn als intelligenter darzustellen als das weibliche. »Systematisierungsvermögen« klingt nach einer Eigenschaft, die bei einem IQ-Test nützlich sein könnte, während so etwas wie Einfühlungsvermögen in dem Test wahrscheinlich gar nicht vorkommt. Ich glaube nicht, dass diese Gefahr wirklich besteht, weil beide Prozesse unterschiedliche Formen von »Intelligenz« fördern. Das Systematisierungsvermögen ist möglicherweise nützlich für bestimmte nonverbale (»Performanz«-)Teile des IQ-Tests, während Empathie für die eher sprachlichen Teile des IQ-Tests von Vorteil sein kann. Andere machen sich vielleicht Sorgen, dass der beschriebene Zusammenhang zwischen Autismus und hyper-männlichem Gehirn manche Leute dazu verleiten könnte, Autisten für SuperMachos zu halten. Auch diese Befürchtung gründet auf einem Missverständnis, weil Machismo nicht mit den Dimensionen des Einfühlungs- und Systematisierungsvermögens identisch ist. Tätsächlich sind die negativen Konnotationen des Macho-Gebarens, wie etwa Aggressivität, durchaus keine charakteristischen Merkmale von Menschen mit Störungen aus dem autistischen Spek-

trum. Aggressionen werden durch viele verschiedene Faktoren verursacht, und dazu kann auch ein geringes Einfühlungsvermögen gehören. Doch sogar dann führt verminderte Empathie nicht unweigerlich zu Aggressionen. Vielleicht führt sie nicht einmal in der Mehrheit der Fälle dazu. Viele Menschen mit Störungen aus dem autistischen Spektrum sind sanftmütige, freundliche Zeitgenossen, die um soziale Anpassung ringen und sich leidenschaftlich für soziale Gerechtigkeit einsetzen - also das krasse Gegenteil vom Stereotyp des Macho-Mannes. Respekt

Was Personen mit der Extremform des weiblichen Gehirns betrifft, so würde ich vermuten, dass die Gesellschaft es ihnen relativ leicht macht, eine Nische und soziale Anerkennung zu finden, ohne dass die Betreffenden das Gefühl haben, ihre Systemblindheit irgendwie verstecken zu müssen. Ich hoffe, dass dieses Buch zumindest dazu beitragen kann, etwas mehr gesellschaftliche Toleranz für grundlegende geschlechtsspezifische Unterschiede im Denken zu fördern, sodass es auch für Personen mit der Extremform des männlichen Gehirns leichter wird, ihre Nische und ein gewisses Maß an sozialer Anerkennung zu finden. Sie sollten nicht den Eindruck gewinnen, dass sie ihre Blindheit für mentale Zustände verstecken müssen (wie es heute oft der Fall ist). Eine zentrale These dieses Buches lautet, dass das männliche und weibliche Gehirn sich voneinander unterscheiden, aber dass im Großen und Ganzen keines besser oder schlechter ist als das andere. Ich hoffe, dass Männer bei der Lektüre dieses Buches auch wieder ein bisschen Stolz für das entwickeln, was sie gut können sei es, dass sie wissen, wie man ein neues technisches Gerät zum Laufen bringt, eine neue Software anwendet oder alle zufällig verfügbaren Materialien für eine improvisierte Reparatur nutzt. Diese Aufgaben erfordern allesamt gute Systematisierungsfähigkeiten. Die Gesellschaft braucht beide Gehirntypen. Personen mit weiblichem Gehirntyp geben die besten Sozialarbeiter, Grundschullehrerinnen, Krankenpfleger, Therapeutinnen, Betreuer, 11

Mediatorinnen, Gruppenleiter oder Personalmitarbeiterinnen ab. In jedem dieser Berufe braucht man ein exzellentes Einfühlungsvermögen. Personen mit männlichem Gehirntyp geben die besten Naturwissenschaftler, Ingenieurinnen, Mechaniker, Technikerinnen, Musiker, Architektinnen, Elektriker, Klempnerinnen, Banker, Werkzeugmacherinnen, Programmierer oder auch Juristinnen ab. (Menschen mit geringen Systematisierungsfähigkeiten, aber hohem Einfühlungsvermögen könnten sich für die Publicrelations-Abteilung und die Kommunikationsbereiche dieser Berufe bewerben). Und Personen mit dem ausgewogenen Gehirntyp geben die besten Ärzte ab, weil sie mit den Einzelheiten des physiologischen Systems genauso gut umgehen können wie mit den Gefühlen des Patienten. Sie könnten sich auch für den wissenschaftlichen Kommunikationsbereich ausbilden lassen, weil sie Systeme nicht nur begreifen, sondern sie auch dem Laien verständlich erklären können - das heißt, sie passen die Sprache den Bedürfnissen des Zuhörers an. Menschen mit ausgewogenem Gehirntyp erweisen sich auch als exzellente Architekten, wenn sie sich nicht nur auf Gebäude, sondern auch auf die Gefühle ihres Kunden verstehen und seine Bedürfnisse bei der Planung berücksichtigen. Personen vom ausgewogenen Typ sind auch die idealen Unternehmensleiter, die sich mit den mathematischen Details der Ökonomie und finanziellen Planung auskennen, aber gleichzeitig eine starke Mannschaft aufbauen, weil sie sensibel auf alle Mitglieder des Teams eingehen. Zurzeit tendiert die Gesellschaft eher zur Akzeptanz des extrem weiblichen Hirntyps und zur Stigmatisierung des extrem männlichen Typs. Glücklicherweise bedeutet die neue Ära der Elektronik, Wissenschaft, Technik und technischen Apparate, dass Personen mit der Extremform des männlichen Gehirns heute immer mehr Möglichkeiten finden, um sich erfolgreich zu entfalten und soziale Anerkennung zu erringen. Ich hoffe, dass die Stigmatisierung schon bald der Vergangenheit angehören wird.

Anhang

i »Die Sprache der Augen«1

Anleitung Kreuzen Sie bei jedem Augenpaar den Begriff an, der Ihrer Ansicht nach am besten beschreibt, was die dargestellte Person fühlt oder denkt.

• gereizt

verängstigt

D arrogant

zu Scherzen aufgelegt

sehnsuechtig

LI gelangweilt

Li fassungslos

• verärgert

Li aufgeregt

D überzeugt

• zu Scherzen aufgelegt

D

beharrlich



amüsiert



entspannt

D

entsetzt

D

verträumt

D

ungeduldig

D

beunruhigt



entschuldigend

D

freundlich

6

3 unsicher

• entmutigt 255



entschuldigend



freundlich

R











unsicher

mutlos

schüchtern

verärgert

entsetzt



entmutigt



erleichtert



aufgeregt



feindselig

LJ gedankenverloren

• vorsichtig

LJ beharrlich

10

D

gelangweilt



entsetzt

D

verängstigt



amüsiert

11

D

bedauernd



kokett



gleichgültig

U

verlegen

12

J skeptisch

niedergeschlagen 1 5 7



entschlossen



vorausahnt

• drohend



schüchtern



D

enttäuscht



anklagend

gereizt

• deprimiert

D sinnend



ermutigend

• nervös



amüsiert



gereizt

• nachdenklich

D

ermutigend

• teilnahmsvoll

D

zweifelnd



liebevoll

D zu Scherzen aufgelegt

D

entsetzt



entschlossen

D

amüsiert



entsetzt



gelangweilt

• arrogant



sarkastisch

CH dominant





schuldig

ö

verlegen

verwirrt

• dankbar

• vorsichtig

• freundlich



schockiert

U verträumt

• in Panik

• gedankenverloren

D dankbar

22 • beharrlich

• flehend

• zufrieden

• entschuldigend

23 D herausfordernd

• neugierig

D nachdenklich

D gereizt

24

• aufgeregt



feindselig 261

ö in Panik



ungläubig





interessiert

niedergeschlagen

G beunruhigt

D schüchtern

D feindselig

G ängstlich

• zu Scherzen aufgelegt

O vorsichtig

Q arrogant

• beruhigend

• zu Scherzen aufgelegt

• interessiert 28

• liebevoll

U zufrieden

• ungeduldig

• entsetzt 29

• gereizt

• nachdenklich

D dankbar



kokett

30

D feindselig



enttäuscht 270

D beschämt



zuversichtlich

• zu Scherzen aufgelegt



entmutigt

EU ernst



beschämt

• verwirrt

U beunruhigt

• verlegen



D verträumt

• be isorgt

schuldbewusst



entsetzt



verblüfft

34

D

misstrauisch

D verwirrt





erschrocken

nervös

35



beharrlich

D

nachdenklich

D

beschämt



nervös

36

3 argwöhnisch



unentschlossen

Antworten auf den Sprache-der-Augen-Test 1 zu Scherzen aufgelegt 2 fassungslos 3 sehnsüchtig 4 beharrlich 5 besorgt 6 verträumt 7 unsicher 8 mutlos 9 gedankenverloren 10 vorsichtig 11 bedauernd 12 skeptisch 13 vorausahnend 14 anklagend 15 sinnend 16 nachdenklich 17 zweifelnd 18 entschlossen

19 vorsichtig 20 freundlich 21 verträumt 22 gedankenverloren 23 herausfordernd 24 nachdenklich 25 interessiert 26 feindselig 27 vorsichtig 28 interessiert 29 nachdenklich 30 kokett 31 zuversichtlich 32 ernst 33 besorgt 34 misstrauisch 35 nervös 36 argwöhnisch

Auswertung Zählen Sie Ihre zutreffenden Antworten zusammen. Mit 22 bis 30 Treffern liegen Sie im Normbereich. Wenn Sie mehr als 30 richtige Antworten haben, können Sie die Gefühle anderer Menschen offenbar sehr gut an deren Augenausdruck ablesen. Wenn Sie weniger als 22 richtige Antworten haben, lässt das Ergebnis darauf schließen, dass Ihnen diese Aufgabe relativ schwer fällt.

2 Der Empathie-Quotient (EQ) 1 Anleitung Lesen Sie die folgenden Aussagen sehr sorgfältig und entscheiden Sie, inwieweit die Aussage auf Sie zutrifft oder nicht.

1. Ich erkenne leicht, ob jemand ein . Gespräch anfangen möchte. 2. Mir sind Tiere lieber als Menschen. 3. Ich versuche, mit der Mode zu gehen und mich über aktuelle Trends auf dem Laufenden zu halten. 4. Es fällt mir schwer, anderen eine Sache, die ich selbst gut beherrsche, zu erklären, wenn sie es nicht gleich beim ersten Mal begreifen. 5. Ich träume fast jede Nacht. 6. Es macht mir großen Spaß, mich um andere Leute zu kümmern. 7. Ich versuche eher, meine Probleme allein zu lösen, statt sie mit Freunden zu besprechen. 8. Ich weiß oft nicht, wie ich mich in zwischenmenschlichen Situationen verhalten soll. 9. Ich bin gleich morgens in Bestform.

10. Man wirft mir oft vor, dass ich beim Verfechten meines Standpunkts zu weit gehe. 11. Es ist mir gleichgültig, ob ich zu einer Verabredung mit einem Freund zu spät komme. 12. Freundschaften und Beziehungen sind einfach zu kompliziert, deshalb lasse ich am liebsten die Finger davon. 13. Ich würde nie gegen ein Gesetz verstoßen, auch nicht, wenn es nur eine harmlose Kleinigkeit wäre. 14. Ich finde es oft schwer einzuschätzen, wann etwas höflich oder unhöflich ist. 15. In Gesprächen konzentriere ich mich eher auf meine eigenen Gedanken, statt darauf zu achten, was der Zuhörer vielleicht denkt. 16. Mir sind handfeste Streiche lieber als erzählte Witze. 17. Ich l e b e e h e r i n d e r G e g e n w a r t a l s für d i e Z u k u n f t . 18. Als Kind h a b e i c h g e r n R e g e n w ü r m e r zerteilt, n u r u m z u s e h e n , w a s passiert. 19. Ich h a b e s c h n e l l h e r a u s , o b j e m a n d e t w a s a n d e r e s m e i n t , als e r sagt. 20. Ich h a b e i m A l l g e m e i n e n s e h r f e s t e moralische Grundsätze. 21. Ich v e r s t e h e o f t nicht, wieso die M e n s c h e n so f a s s u n g s l o s auf b e s t i m m t e Dinge reagieren.

22 es faellt mir leicht, mich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen.

sind

23 Meiner Ansicht nach gute Manieren das Wichtigste, was Eltern ihren Kindern beibringen können. 24. Ich handle gern spontan. 25. Ich kann relativ gut voraussagen, wie jemand sich fühlen wird. 26. Ich merke schnell, wenn jemand sich unbehaglich oder unwohl in einer Gruppe fühlt. 27. Wenn sich jemand durch meine Äußerungen gekränkt fühlt, ist das sein Problem, nicht meins. 28. Wenn mich jemand fragen würde, ob mir seine Frisur gefallt, würde ich wahrheitsgemäß antworten, auch wenn sie mir nicht gefällt. 29. Ich verstehe oft nicht, wieso jemand gekränkt auf eine Äußerung reagiert. 30. Man hält mir oft vor, dass ich mich unberechenbar verhalte. 31. Ich stehe gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. 32. Wenn ich jemanden weinen sehe, bringt mich das nicht wirklich aus der Fassung. 33. Ich diskutiere gern über Politik. 34. Ich bin sehr ehrlich, was manche Leute als Grobheit auslegen, obwohl es nicht so gemeint ist. 35. Ich finde zwischenmenschliche Kontakte normalerweise nicht verwirrend.

47 in diese großen Achterbahnen kriegen mich keine zehn Pferde. 48. Andere Leute werfen mir oft vor, ich sei unsensibel, obwohl ich nicht verstehe, warum. 49. Ich finde, dass es Sache des Neulings ist, auf die anderen in der Gruppe zuzugehen. 50. Ich bleibe normalerweise gefühlsmäßig unbeteiligt, wenn ich mir einen Film ansehe. 51. Ich habe es gern, wenn mein Alltag gut organisiert ist, und mache mir oft Listen von den Aufgaben, die ich zu erledigen habe. 52. Ich kann mich schnell und intuitiv darauf einstellen, wie eine andere Person sich fühlt. 53. Ich gehe ungern Risiken ein. 54. Ich merke schnell, worüber mein Gesprächspartner sich gern unterhalten möchte. 55. Ich erkenne, ob jemand seine wahren Gefühle verbirgt. 56. Bevor ich eine Entscheidung treffe, wäge ich zunächst das Für und Wider sorgfältig ab. 57. Ich stelle mir nicht bewusst irgendwelche Regeln für zwischenmenschliche Begegnungen auf. 58. Ich kann das Verhalten anderer gut vorhersagen. 59. Ich nehme normalerweise gefühlsmäßigen Anteil an den Problemen von Freunden.

60. Ich kann den Standpunkt meines Gesprächspartners für gewöhnlich verstehen, auch wenn ich selbst anderer Meinung bin.

Auswertung Geben Sie sich zwei Punkte für die folgenden Aussagen, wenn Sie mit »stimme voll zu«, oder einen Punkt, wenn Sie mit »stimme eher zu« geantwortet haben; 1,6,19,22,25,26,35,36,37,38, 41, 42,43, 44, 52, 54, 55, 57,58.59.60. Geben Sie sich zwei Punkte für die folgenden Aussagen, wenn Sie mit »stimme überhaupt nicht zu«, oder einen Punkt, wenn Sie mit »stimme eher nicht zu« geantwortet haben: 4 , 8 , 1 0 , 1 1 , 1 2 , 1 4 , 1 5 , 18, 2 1 , 27, 28, 29, 32,34,39,46,48,49,50. Die folgenden Aussagen werden nicht bewertet: 2,3, 5, 7, 13, 16, 17, 20, 23,24,30,31,33,40,45,47,51,53, 56. Zählen Sie jetzt einfach alle Punkte zusammen, um Ihren Gesamt-EQ zu ermitteln.

0-32 = niedrig (Die meisten Menschen mit Asperger-Syndrom oder highfunctioning-Autismus erzielen um die 20 Punkte.) 33-52 = durchschnittlich (Die meisten Frauen erzielen ca. 47 und die meisten Männer ca. 42 Punkte.) 53-63 ist ein überdurchschnittlicher Wert 64-80 ist sehr hoch 80 = Höchstwert

3 Der Systematisierungs-Quotient (SO) 1

Anleitung

Lesen Sie jede der folgenden Aussagen sehr sorgfaltig und entscheiden Sie, inwieweit die Aussage auf Sie zutrifft oder nicht 1. Wenn ich ein Musikstück höre, bemerke ich immer gleich, wie es aufgebaut ist. 2. Ich bin im üblichen Rahmen abergläubisch. 3. Ich fasse häufig irgendwelche Entschlüsse und habe dann Schwierigkeiten, mich daran zu halten. 4. Ich lese lieber Sachbücher als Romane. 5. Wenn ich mir ein Auto kaufe, hole ich genaueste Informationen über seine Motorleistung ein. 6. Wenn ich ein Gemälde betrachte, denke ich normalerweise nicht über die hier angewandte Mal-Technik nach. 7. Wenn es in meiner Wohnung ein Problem mit der Elektrik gibt, kann ich es selbst beheben. 8. Wenn ich nachts träume, kann ich mich am nächsten Tag nur schwer an Einzelheiten erinnern.

9. ich schaue mir einen Film lieber zusammen mit Freunden als allein an. 10. Ich finde es interessant, etwas über andere Religionen zu erfahren. 11. Ich lese selten Artikel oder Webseiten über neue Technologien. 12. Ich habe keinen Spaß an Spielen, bei denen es hauptsächlich um Strategie geht 13. Es fasziniert mich, wie Maschinen funktionieren. 14. Es ist mir wichtig, jeden Morgen die Nachrichten zu hören. 15. An der Mathematik faszinieren midi die Regeln und Gesetzmäßigkeiten, denen die Zahlen folgen. 16. Es fällt mir schwer, den Kontakt zu alten Freunden zu pflegen. 17. Wenn ich eine Geschichte erzähle, lasse ich die Einzelheiten oft weg und beschränke mich auf das Wesentliche. 18. Ich habe Probleme damit Anleitungen für den Zusammenbau von technischen Geräten zu verstehen. 19. Wenn ich ein Tier sehe, möchte ich gern genau wissen, zu welcher Spezies es gehört 20. Wenn ich einen Computer kaufe, informiere ich mich genau über alle Details der Festplattenkapazität und Verarbeitungsgeschwindigkeit. 21. Ich treibe sehr gern Sport.

22. Ich versuche, der Hausarbeit möglichst aus dem Weg zu gehen. 23. Beim Kochen denke ich nicht darüber nach, wie bestimmte Zutaten oder Zubereitungsmethoden im Einzelnen zum Gelingen des Essens beitragen. 24. Ich finde es schwierig, Landkarten zu lesen und zu verstehen. 25. Hätte ich eine Sammlung (z. B. CDs, Münzen, Briefmarken), dann wäre sie sehr gut geordnet. 26. Wenn ich ein Möbelstück betrachte, achte ich nicht darauf, wie es im Einzelnen zusammengebaut wurde. 27. Die Vorstellung, mich auf riskante Unternehmungen einzulassen, wirkt reizvoll auf mich. 28. Wenn ich etwas über historische Ereignisse erfahre, achte ich nicht auf die genauen Daten. 29. Beim Zeitunglesen reizen mich Informationstabellen wie etwa die Fußballergebnisse oder der Aktienindex. 30. Beim Erlernen einer Fremdsprache bin ich immer ganz fasziniert von den Grammatikregeln. 31. Ich habe Schwierigkeiten, mich in einer fremden Stadt zu orientieren. 32. Ich sehe mir selten wissenschaftliche Berichte im Fernsehen an und lese kaum Zeitungsartikel übei Natur und Wissenschaft.

33. Wenn ich mir eine Stereoanlage kaufen würde, hätte ich gern präzise Informationen über alle technischen Merkmale. 34. Ich weiß sofort, wie die Chancen bei einer Wette stehen. 35. Ich nehme es nicht peinlich genau, wenn ich etwas im Do-it-yourselfVerfahren herstelle. 36. Es fällt mir leicht, mich mit Menschen zu unterhalten, die ich gerade erst kennen gelernt habe. 37. Wenn ich ein Gebäude betrachte, möchte ich gern Näheres über die Bauweise wissen. 38. Ich habe kein Interesse daran, genau zu erfahren, wie die einzelnen Parteien oder Bewerber bei einer Wahl abgeschnitten haben. 39. Wenn ich Geld verleihe, erwarte ich, dass ich exakt den Betrag zurückerhalte, den ich verliehen habe. 40. Ich habe Schwierigkeiten, das Informationsmaterial zu verstehen, das mir die Bank über verschiedene Investments und Sparanlagen zuschickt 41. Wenn ich mit der Bahn reise, frage ich mich oft, wie die Eisenbahnnetze im Einzelnen geplant und aufeinander abgestimmt werden. 42. Wenn ich ein neues Gerät kaufe, lese ich mir das Bedienungshandbuch nicht sehr gründlich durch.

43 Beim Kauf einer Kamera lege ich keinen besonderen Wert darauf, die Qualität des Objektivs zu überprüfen. 44. Wenn ich etwas lese, fällt mir immer sofort auf, ob es grammatisch korrekt ist. 45. Wenn ich den Wetterbericht höre, finde ich die meteorologischen Gesetzmäßigkeiten nicht sonderlich interessant. 46. Ich frage mich oft, wie es wohl wäre, wenn ich jemand anders wäre. 47. Mir fallt es schwer, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. 48. Wenn ich einen Berg betrachte, überlege ich, wodurch seine spezielle Form entstanden ist. 49. Ich kann mir mühelos vorstellen, wie die Straßen in meiner Region zusammenlaufen. 50. In einem Restaurant kann ich mich oft nur schwer entscheiden, was ich bestellen möchte. 51. Wenn ich in einem Flugzeug sitze, denke ich nicht über Aerodynamik nach. 52. Ich vergesse häufig die genauen Details von Gesprächen, die ich geführt habe. 53. Wenn ich einen Spaziergang auf dem Land mache, interessiert mich, wie sich die verschiedenen Baumarten voneinander unterscheiden.

54. Wenn ich jemanden erst ein oder zwei Mal gesehen habe, finde ich es schwierig, mich an sein genaues Aussehen zu erinnern. 55. Ich finde es interessant, alles über den genauen Verlauf eines Flusses von der Quelle bis zur Mündung zu erfahren. 56. Juristische Dokumente lese ich mir nicht besonders gründlich durch. 57. Ich muss nicht unbedingt verstehen, wie drahtlose Kommunikation im Einzelnen funktioniert 58. Ich würde gern wissen, ob es auf anderen Planeten auch Leben gibt. 59. Wenn ich reise, interessieren mich spezifische Details über die Kultur der Orte, die ich besuche. 60. Wenn ich Pflanzen betrachte, ist es mir egal, wie sie heißen.

Auswertung Geben Sie sich zwei Punkte für die folgenden Aussagen, wenn Sie mit »stimme voll zu«, oder einen Punkt, wenn Sie mit »stimme eher zu« geantwortet haben: 1,4,5,7,13,15,19,10,25,29,30,33,34,37,41,44,48,49,53, 55. Geben Sie sich zwei Punkte für die folgenden Aussagen, wenn Sie mit »stimme überhaupt nicht zu« oder einen Punkt, wenn Sie mit »stimme eher nicht zu« geantwortet haben: 6,11,12,18,23,24,26,28, 31, 32, 35, 38, 40, 42,43,45,51,56,57,60. Die folgenden Aussagen werden nicht bewertet: 2,3,8,9,10,14,16,17, 21,22,27,36,39,46,47,50,52,54,58,59. Zählen Sie jetzt einfach alle Punkte zusammen, um Ihren Gesamt-SQWert zu ermitteln.

0-19 = niedrig 20-39 = durchschnittlich (Die meisten Frauen erzielen ca. 24 und die meisten Männer ca. 30 Punkte.) 40-50 = überdurchschnittlich (Die meisten Menschen mit AspergerSyndrom oder high-functioning-Autismus liegen in diesem Bereich.) 51-60 = sehr hoch (Menschen mit Asperger-Syndrom erzielen drei Mal so oft wie Männer eine Punktzahl in diesem Bereich. Frauen erreichen fast nie eine Punktzahl in dieser Höhe.) 80 = Höchstwert

4 Oer Autismus-Spektrum-Quotient (AQ)1 Anleitung

Lesen Sie jede der folgenden Aussagen sehr sorgfaltig und entscheiden Sie, inwieweit die Aussage auf Sie zutrifft oder nicht. Stimme Stimme Stimme Stimme voll zu eher zu eher überhaupt nicht zu nicht zu 1. Ich unternehme lieber gemeinsam mit anderen etwas als allein. 2. Ich tue alles vorzugsweise immer auf die gleiche Art und Weise.

• •

• •

• •

• •

3. Wenn ich mir etwas Bestimmtes vorstelle, fallt es mir leicht, mir davon ein inneres B3d zu machen.

















5. Ich nehme oft kleinste Geräusche wahr, wenn andere nichts hören.









6. Auto-Kennzeichen oder ähnliche Aneinanderreihungen von Informationen erregen öfters meine Aufmerksamkeit









7. Andere Leute weisen mich häufig darauf hin. dass ich etwas Unhöfliches gesagt habe, obwohl ich es höflich gemeint habe.









4.

Es passiert mir häufig, dass ich so sehr in eine Sache vertieft bin, dass ich darüber alles andere aus den Augen verliere.

Sftmmr Stimmt Stimme Stimme voll zu eher zu eher Oberhaupt nicht zu nicht zu wenn ich eine Geschichte lese, entw i c ü e ich schnell eine Vorstellung davon, wie die einzelnen Personen aussehen. 9. Ich bin fasziniert von Daten. g

'

• •

• •

• •

• •

















12. Ich neige dazu, Details zu bemerken, die anderen nicht auffallen.









13. Ich gehe lieber in eine Bibliothek als auf eine Party.









14. Ich kann mir mühelos Geschichten ausdenken.









15. Ich interessiere mich eher für Menschen als für Dinge.









16. Ich habe sehr ausgeprägte Interessen, und es setzt mir zu, wenn ich ihnen nicht nachgehen kann.









17. Ich habe Spaß an zwanglosen Gesprächen.









19. Ich finde Zahlen faszinierend.

• •

• •

• •

• •

20. Wenn ich eine Geschichte lese, fallt es mir schwer, die Absichten einzelner Personen herauszufinden.









21. Ich lese nicht gern erfundene Geschichten (Romane u. Ä.).

















10.

In einer Gruppe kann ich mehreren problemlos folgen.

Gesprächen

1 1 . Es fallt mir leicht, mit sozialen Situationen umzugehen.

18. Wenn ich einmal das Wort ergriffen habe, kommen andere häufig kaum noch zum Zug.

22. Es fällt mir schwer, neue Freunde zu finden.

23. Ich bemerke immer wieder bestimmte Muster in Dingen oder Ereignissen. 24. Ich gehe lieber ins Theater als ins Museum. 25. Es regt mich nicht auf, wenn mein gewohnter Tagesablauf gestört wird. 26. Ich stelle oft fest, dass ich Mühe habe, ein Gespräch in Gang zu halten. 27. Es fällt mir leicht, »zwischen den Zeilen zu lesen«, wenn jemand mit mir spricht 28. Ich konzentriere mich normalerweise eher auf das Ganze als auf Details. 29. Ich kann mir Telefonnummern nicht besonders gut merken. 30. Mir fallt es gewöhnlich gar nicht auf, wenn sich Situationen oder das Erscheinungsbild von Personen ein klein wenig verändern. 31. Ich merke es, wenn sich jemand in einem Gespräch mit mir zu langweilen beginnt. 32. Es bereitet mir keine Schwierigkeiten, mehrere Sachen gleichzeitig zutun. 33. Beim Telefonieren bin ich mir unsicher, wann ich wieder mit dem Sprechen »dran bin«. 34. Ich handle gern spontan. 35. Ich bin oft der Letzte, der einen Witz versteht

36 Ich erkenne schnell, was jemand denkt oder fühlt, indem ich einfach seine Mimik beobachte. 37. Nach einer Unterbrechung fällt es mir leicht, gleich wieder mit der Sache fortzufahren, mit der ich zuletzt beschäftigt war. 38. Ich bin gut im Smalltalk. 39. Man sagt mir öfter, dass ich zu ständigen Wiederholungen neige. 40. Als Kind hat es mir viel Spaß gemacht, beim Spiel mit anderen in verschiedene Rollen zu schlüpfen und »so zu tun, als ob«. 41. Ich sammle gern Informationen über verschiedene Gruppen oder Kategorien (z. B. über Autotypen, Vogelarten, Zugtypen, Pflanzenarten etc.). 42. Es fallt mir schwer, mich in andere Menschen hineinzuversetzen. 43. Ich bereite mich gern gründlich auf alle Aktivitäten vor, an denen ich teilnehme. 44. Gesellige Veranstaltungen machen mir Spaß. 45. Es fallt mir schwer, die Absichten anderer Menschen einzuschätzen. 46. Unbekannte Situationen machen mir Angst. 47. Ich lerne gern neue Leute kennen. 48. Ich bin ein guter Diplomat. 49. Ich kann mir die Geburtstage anderer Leute nur schwer merken.

5O. Eft fällt mir leicht, mit Kindern Spiele zu spielen, bei denen man sich verstellen muftft.

Auswertung Geben Sie sich zwei Punkte für die folgenden Aussagen, wenn Sie mit »stimme voll zu«, oder einen Punkt, wenn Sie mit »stimme eher zu« geantwortet haben: 2,5,6,7,9,13,16,18,19,20, 21, 22, 23, 26, 33, 35, 39, 41, 42, 43,45,46. Geben Sie sich zwei Punkte für die folgenden Aussagen, wenn Sie mit •stimme überhaupt nicht zu«, oder einen Punkt, wenn Sie mit »stimme eher nicht zu« geantwortet haben: 1,3,8,10,11,14,15,17,24,25,27,28,29, 30,31,32,34,36,37,38,40,44,47,48,49, 50. Zählen Sie jetzt einfach alle Punkte zusammen, um Ihren Gesamt-AQ zu ermitteln. 0-10 = niedrig 11-22 = durchschnittlich (Die meisten Frauen erzielen ca. 15 und die meisten Männer ca. 17 Punkte.) 23-31 = überdurchschnittlich 32-50 = sehr hoch (Die meisten Menschen mit Asperger-Syndrom oder high-functioning-Autismus erzielen ca. 35 Punkte.) 50 = Höchstwert

Grund zur Besorgnis? Keiner der In diesem Anhang enthaltenen Tests ersetzt eine professionelle Diagnose. Wenn Sie aufgrund der Testergebnisse oder aus anderen Gründen befürchten, unter AS oder einer anderen Störung zu leiden, sollten Sie einen Arzt für Allgemelnmedlzln oder Ihren Hausarzt konsultieren.

Liste der Abbildungen 1 Die normale Verteilung von Empathiefähigkeiten 2 Die normale Verteilung von Systematisierungsfahigkeiten 3 Ein Empathie-Modell 4 Man zeigt den Neugeborenen ein Gesicht und ein Mobile 5 Ergebnisse von Männern und Frauen beim Empathie-Test 6 Ein Beispiel aus dem Test mit eingebetteten Figuren 7 Ergebnisse von Männern und Frauen beim Systematisieren 8 Modell des männlichen und weiblichen Gehirntyps und dessen Extremform 9 Punktwerte von männlichen, weiblichen, autistischen Teilnehmern beim Empathie-Test 10 Punktwerte von männlichen, weiblichen, autistischen Teilnehmern beim Systematisierungstest 11 Punktwerte von männlichen, weiblichen, autistischen Teilnehmern beim Autismus-Spektrum-Quotienten (AQ) 12 Was das Empathie- und Systematisierungsmodell erklären kann

Anmerkungen Dank 1 Baron-Cohen und Hammer (1997b). 2 Baron-Cohen (1999). 3 Baron-Cohen (2002); Baron-Cohen, Wheelwright, Griffin et al. Kapitel 1 Weibliches und männliches Gehirn 1 Kimura (1987). 2 Baron-Cohen (1995). 3 Greenblatt (1963). 4 Gray (1993). 5 Widener (1979). Kapitel 3 Was ist Empathie? 1 Baron-Cohen (1995). 2 Mind Reading: the Interactive guide to emotions, Jessica Kingsley Publishers, London (2003). (www.human-emotions.com) 3 De Waal (2001). 4 Ebda. 5 Davis (1994); Wellman (1990). 6 Leslie (1987). Kapitel 4 Das weibliche Gehirn: Nachweise für ein besonderes Empathievermögen 1 Lloyd und Smith (1986); Whiting und Edwards (1988). 2 Pitcher und Schultz (1983). 3 Charlesworth und Dzur (1987). 4 Maccoby und Jacklin (1974); Maccoby (1998); Maccoby (1966).

5 Crombie und Desjardins (1993); Crick und Ladd (1990); Cairns, Cairns. Neckerman et al. (1989); Howes (1988). 6 Dodge (1980); Dodge und Frame (1982); Dodge, Murphy und Buchsbäum (1984); Happe und Frith (1996). 7 Hoffman (1977); Zahn-Waxler, Radke-Yarrow, Wagner et ai. (1992). 8 Baron-Cohen, O'Riordan, Jones et al. (1999); Bosacki (1998); Happe (1995). 9 Buck, Savin, Miller et al. (1972); Wagner, Buck und Winterbotham (1993); Hall (1978); Hall (1984); Rosenthal, Hall, DiMatteo et aL (1979). 10 Baron-Cohen, Wheelwright und Hill (2001); Baron-Cohen, Joliiffe, Mortimore et al. (1997). 11 De Waal (1993); Eibl-Eibesfeldt (1989) ; Ahlgren und Johnson (1979); Jarvinen und Bucgikksm (1996). 12 Knight, Fabes und Higgins (1989); Baumeister und Leary (1995); Wfllingham und Cole (1997). 13 Baron-Cohen und Wheelwright (im Druck); Wright (1998). 14 Ellis und Symons (1990); Buss et al. (1992). 15 Blair (1995); Independent, 12. Juli 2003, S. 13. 16 Cairns, Cairns, Neckerman et al. (1989). 17 Crick und Wellman (1997); Crick, Casas und Mosher (1997); Crick und Grotpeter (1995). 18 Daly und Wilson (1988). 19 Daly und Wilson (1983). 20 Strayer (1980). 21 Savin-Williams (1987). 22 Borja-Alvarez, Zarbatany und Pepper (1991); Maccoby (1998). 23 Golombok und Fivush (1994); Benenson, Apostoleris und Parnass (1997). 24 Maccoby (1998). 25 Sandberg und Meyer-Bahlburg (1994); Sutton-Smith, Rosenberg und Morgan (1963); Lever (1978). 26 Leaper (1991); Maccoby (1998). 27 Campbell (1995). 28 Maccoby (1990); Maitz und Borker (1983). 29 Maccoby (1966). 30 Smith (1985); Hartup, French, Laursen et al. (1993); Sheldon (1992); Miller, Danaher und Forbes (1986). 31 Leaper und Gleason (1986). 32 Tannen (1994); Tannen (1990). 33 Mannle und Tomasello (1987); Field (1978); Lamb, Frodi, Frodi et al. (1982); Power (1985); Huang (1986). 34 Haviland und Malatesta (1981); Garai und Scheinfeld (1968); Eibl-

Eibesfeldt (1989); Goodenough (1957); McGuinness und Morley (1991). McGuinness und Symonds (1977). 35 Lutchmaya und Baron-Cohen (2002). 36 Connellan. Baron-Cohen, Wheelwright et al. (2001). 37 Hall (1978). 38 Baron-Cohen, Richler. Bisarya et al. (2003); Hoffman (1977); Davis (1994); Eisenbeig und Lennon (1983). 39 Halpem (1988); Hunt. Lunneborg und Lewis (1975). 40 Huttonlocher, Haights, Bryk et al. (1991); Fagot (1978); Leaper (1991); Luchmaya, Baron-Cohen und Raggatt (2002a); Denckla und Rudel (1974); DuBois (1939); Kimura (1999); Kimura, Saucier und Matuk (1996); Nicholson und Kimura (1996); Duggan (1950); McGuinness, Olson und Chapman (1990); Bleecker, Bolla-Wilson und Meyers (1988); Jensen und Reynolds (1983); Grossi, Orsini, Monetti et al. (1979); Stumpf und Jackson (1994); Kramer, Delis und Daniel (1988); Mann, Sasanuma, Sakuma et al. (1990). 41 Shaywitz, Shaywitz, Pugh et al. (1995); Frost, Binder, Springer et al. (1999); Pugh, Shaywitz, Shaywitz et al. (1996); Pugh, Fletcher, SkudlarskietaL (1997). 42 Feingold (1988). 43 Wiffingham und Cole (1997); Hedges und Nowell (1995). Kapitels Was ist Systematisieren? 1 Premack (1995). 2 Baron-Cohen, Wheelwright, Griffin et al. (2002); Myers, Baron-Cohen und Wheelwright (2003).

Kapitels Das männliche Gehirn: Nachweise für ein besonderes Systematisiemngsvermögen 1 Christie und Johnsen (1987); Jennings (1977); Rubin, Fein und Vandenbeig (1983); Garai und Scheinfeld (1968); Hütt (1972); Eibl-Eibesfeldt (1909). 2 Connellan, Baron-Cohen, Wheelwright et al. (2001); Lutchmaya und Baron-Cohen (2002). 3 Daly und Wilson (1983). 4 McGuinness und Symonds (1977).

5 Times Higher, 3. Dezember 1999, S. 32. 6 Vetter (1979); Mitchell (1999).

7 Benbow (1988); Benbow und Stanley (1983); Kolata (1980); Benditt (1994); »Biennial survey of the National Science Foundation« (1991); Brush (1991), Lubinski und Benbow (1992). 8 Lawson, Baron-Cohen und Wheelwright (im Druck). 9 Hyde, Fennema und Lamon (1990); Hyde, Geiringer und Yen (1975); Kimball (1989); Mills, Ablard und Stumpf (1993); Wentzel (1988); Kimura (1999). 10 NAE, 1989 almanac of higher education (1989); Geary (1996); Geary, Saults, Liu et al. (2000); Engelhard (1990); Lummis und Stevenson (1990). 11 Stanley (1990); Hausman (unveroffentl. Dissertation). 12 Kalichman (1989); Thomas, Jamison und Hummel (1973); Wittig und Allen (1984); De Lisi, Parameswaran und McGillicuddy-De Lisi (1989); Robert und Chaperon (1989); Piaget und Inhelder (1956); Robert und Ohlmann (1994). 13 Witkin, Dyk, Faterson et al. (1962); McGee (1979). 14 Witkin, Dyk, Faterson et al. (1962); Elliot (1961); Sherman (1967). 15 Linn und Petersen (1985); Voyer, Voyer und Bryden (1995); Cohen und Gelber (1975); McGuinness und Morley (1991); Geary (1998);Veüe (1987). 16 Mayes und Jahoda (1988); Collins und Kimura (1997); Mann, Sasanuma, Sakuma et al. (1990); Linn und Petersen (1985); Pearson und Ferguson (1989); Shephard und Metzler (1971); Sanders, Soares und D'Aguüa (1982); Rosser, Ensing, Glider et al. (1984); Delgado und Prieto (1997); Halpern (1992); Johnson und Meade (1987); Masters und Sanders (1993); Vandenberg und Kuse (1978); Geary (1995). 17 Galea und Kimura (1993); Beatty und Tröster (1987); Maccoby (1966); Silverman und Eals (1992); Matthews (1987); Matthews (1992); Just und Carpenter (1985). 18 Silverman und Eals (1992); Herlitz, Nilsson und Backman (1997); Collins und Kimura (1997); Stumpf und Eliot (1995); James und Kimura (1997). 19 Holding und Holding (1989); Miller und Santoni (1986); Dabbs, Chang, Strong et al. (1998). 20 Willis und Schaie (1988); Robert und Tanguay (1990); Kerns und Berenbaum (1991); Johnson und Meade (1987); McGuinness und Morley (1991); Kimura (1999). 21 Rammsayer und Lustnauer (1989); Schiff und Oldak (1990); Smith und McPhee (1987); Law, Pellegrino und Hunt (1993). 22 Watson und Kimura (1991); Nicholson und Kimura (1996); Thomas und French (1985); Jardine und Martin (1983); Kolakowski und Malina (1974). 23 Atran (1994); Berlin, Boster und O'Neill (1981).

24 Guardian, 30. Nov. 1999. S. 7. 25 Baron-Cohen, Richler, Bisarya et al. (2003). 26 Connellan, Baron-Cohen, Wheelwright et al. (2001); Cohen und Gelber (1975). 27 Lutchmaya und Baron-Cohen (2002). Kapitel 7 Kultur 1 Connellan, Baron-Cohen, Wheelwright et al. (2001). 2 Condry und Condry (1976); Stern und Karraker (1989); Seavey, Katz und Zalk (1975); Sidorowicz und Lunney (1980). 3 Whiting und Edwards (1988). 4 Snow, Jacklin und Maccoby (1983); Block (1978). 5 Haviland und Malatesta (1981); Tronick und Cohn (1989), Maccoby und Jacklin (1974); Maccoby, Snow und Jacklin (1984); Lytton und Romney (1991); Huston (Hrsg.) (1983). 6 Dunn, Bretherton und Munn (1987); Langlois und Downs (1980); Russell und Russell (1987); Fivush (1989); Maccoby (1998). 7 Perry, White und Perry (1984). 8 Maccoby (1998); Perry und Bussey (1979); Barkley, Ullman, Otto et al. (1977). 9 Geary (1998). 10 Pratto (19%); Eagly (1987); Valian (1999). 11 Daly und Wilson (1983); Whitten (1987); Andersson (1994). Kapitel 8 Biologie 1 2 3 4 5

De Waal (2001); Povinelli (2000). Meaney, Stewart und Beatty (1985); Lovejoy und Wallen (1988). Watson (2001). Bixo, Backstrom, Winblad et aL (1995); Michael und Zumpe (1998). Geschwind und Galaburda (1987); Geschwind und Galaburda (1985); Martino und Winner (1995); McManus und Bryden (1991); Bryden, McManus und Bulman-Fleming (1994). 6 Reinisch (1981). 7 Reinisch und Saunders (1984); Reinisch (1977); Saunders und Reinisch (1985); Stern (1989); Goy, Bercovitch und McBrair (1988). 8 Van Goozen, Cohen-Kettenis, Gooren et al. (1995). 9 Lutchmaya, Baron-Cohen und Raggatt (2002a); Lutchmaya, BaronCohen und Raggatt (2002b); Finegan, Niccols und Sitarenios (1992). 10 Knickmeyer, Baron-Cohen und Raggatt (unveröff. MS).

11 Diamond, Dowling una jonnson u t o i j ; ue iacosu;-uuui*o.*. loway (1982). 12 Williams, Barnett und Meclc (1990). 13 Janowsky, Oviatt und Orwoll (1994). 14 Gouchie und Kimura (1991); Hampson (1990); Hampson, Rovet und Altmann (1998); Resnick, Berenbaum, Gottesman et al. (1986); Shute, Pellegrino, Hubert et al. (1983); Grimshaw, Sitarenios und Finegan (1995). 15 Hier und Crowley (1982). 16 Masica, Money, Erhardt et al. (1968). 17 Hines und Kaufman (1994); Collaer und Hines (1995); Berenbaum und Snyder (1995). 18 Van Goozen, Cohen-Kettenis, Gooren et al. (1995). 19 Shucard, Shucard und Thomas (1987); Lutchmaya, Baron-Cohen und Raggatt (2002a). 20 Kimura (1966); Kimura (1961). 21 McGlone (1980). 22 Kimura und Harshman (1984); Lake und Bryden (1976); Weekes, Zaidel und Zaidel (1995); Basso, Capitani und Moraschini ((1982); Pizzamiglio und Mammucari (1985). 23 McGlone und Fox (1982). 24 Geschwind und Galaburda (1985); Levy und Levy (1978); Chang, Hsu, Chan et al. (1960); Kimura (1994). 25 Holt (1968). 26 Kimura (1994); Sanders, Aubert und Kadam (1995). 27 Kimura und Carson (1995); Everhart, Shucard, Quatrin et al. (2001). 28 Cabeza und Nyberg (1997); GUT, Mozley, Mozley et al. (1995); Maguire, Frackowiak und Frith (1997). 29 Witelson (1976). 30 Kimura (1996); George, Ketter, Parekh et al. (1996). 31 Hines (1982). 32 Kimball (1989); Peterson und Lansky (1974); Peterson (1978); Benbow (1986); Benbow und Lubinski (1992). 33 Tanner (1970); Tanner (1990); Bayley (1965). 34 Fitch und Denenberg (1995). 35 Brothers (1990). 36 Le Doux (2000); Garavan, Pendergrass, Ross et al. (2001); Fine und Blair (2000); MacLusky und Naftolin (1981); Baron-Cohen, Ring, Wheelwright et al. (1999); Meaney und McEwen (1986); Killgore, Oki und YurgelunTodd (2001); Vinader-Caerols, Collado, Segovia et al. (2000); Rasia-Filho, Londero und Achaval (1999); Cooke, Tabibnia und Breedlove (1999); Stefanova (1998); Siddiqui und Shah (1997); Hines, Allen und Gorski (1992); Wolterink, Daenen, Dubbeldam et al. (2001).

24 Guardian, 30. Nov. 1999. S. 7. 25 Baron-Cohen, Richler, Bisarya et al. (2003). 26 Connellan, Baron-Cohen, Wheelwright et al. (2001); Cohen und Gelbe er (1975). 27 Lutchmaya und Baron-Cohen (2002). Kapitel 7 Kultur 1 Connellan, Baron-Cohen, Wheelwright et al. (2001). 2 Condry und Condry (1976); Stern und Karraker (1989); Seavey, Katz und Zalk (1975); Sidorowicz und Lunney (1980). 3 Whiting und Edwards (1988). 4 Snow, Jacklin und Maccoby (1983); Block (1978). 5 Haviland und Malatesta (1981); Tronick und Cohn (1989), Maccoby und Jacklin (1974); Maccoby, Snow und Jacklin (1984); Lytton und Romney (1991); Huston (Hrsg.) (1983). 6 Dunn, Bretherton und Munn (1987); Langlois und Downs (1980); Russell und Russen (1987); Fivush (1989); Maccoby (1998). 7 Perry, White und Perry (1984). 8 Maccoby (1998); Perry und Bussey (1979); Barkley, Ullman, Otto et al. (1977). 9 Geary (1998). 10 Pratto (19%); Eagly (1987); Valian (1999). 11 Daly und Wilson (1983); Whitten (1987); Andersson (1994). Kapitel 8 Biologie 1 2 3 4 5

De Waal (2001); Povinelli (2000). Meaney, Stewart und Beatty (1985); Lovejoy und Wallen (1988). Watson (2001). Bixo, Backstrom, Winblad et aL (1995); Michael und Zumpe (1998). Geschwind und Galaburda (1987); Geschwind und Galaburda (1985); Martino und Winner (1995); McManus und Bryden (1991); Bryden, McManus und Bulman-Fleming (1994). 6 Reinisch (1981). 7 Reinisch und Saunders (1984); Reinisch (1977); Saunders und Reinisch (1985); Stern (1989); Goy, Bercovitch und McBrair (1988). 8 Van Goozen, Cohen-Kettenis, Gooren et al. (1995). 9 Lutchmaya, Baron-Cohen und Raggatt (2002a); Lutchmaya, BaronCohen und Raggatt (2002b); Finegan, Niccols und Sitarenios (1992). 10 Knickmeyer, Baron-Cohen und Raggatt (unveröff. MS).

11 Diamond, Dowling und Johnson (1981); De Lacoste-Utamsin und Holloway (1982).

12 Williams, Barnett und Meek (1990). 13 Janowsky, Oviatt und Orwoll (1994). 14 Gouchie und Kimura (1991); Hampson (1990); Hampson, Rovet und Altmann (1998); Resnick, Berenbaum, Gottesman et al. (1986); Shute, Pellegrino, Hubert et al. (1983); Grimshaw, Sitarenios und Finegan (1995). 15 Hier und Crowley (1982). 16 Masica, Money, Erhardt et al. (1968). 17 Hines und Kaufman (1994); Collaer und Hines (1995); Berenbaum und Snyder (1995). 18 Van Goozen, Cohen-Kettenis, Gooren et al. (1995). 19 Shucard, Shucard und Thomas (1987); Lutchmaya, Baron-Cohen und Raggatt (2002a). 20 Kimura (1966); Kimura (1961). 21 McGlone (1980). 22 Kimura und Harshman (1984); Lake und Bryden (1976); Weekes, Zaidel und Zaidel (1995); Basso, Capitani und Moraschini ((1982); Pizzamiglio und Mammucari (1985). 23 McGlone und Fox (1982). 24 Geschwind und Galaburda (1985); Levy und Levy (1978); Chang, Hsu, Chan et al. (1960); Kimura (1994). 25 Holt (1968). 26 Kimura (1994); Sanders, Aubert und Kadam (1995). 27 Kimura und Carson (1995); Everhart, Shucard, Quatrin et aL (2001). 28 Cabeza und Nyberg (1997); Gur, Mozley, Mozley et al. (1995); Maguire, Frackowiak und Frith (1997). 29 Witelson (1976). 30 Kimura (1996); George, Ketter, Parekh et al. (1996). 31 Hines (1982). 32 Kimball (1989); Peterson und Lansky (1974); Peterson (1978); Benbow (1986); Benbow und Lubinski (1992). 33 Tanner (1970); Tanner (1990); Bayley (1965). 34 Fitch und Denenberg (1995). 35 Brothers (1990). 36 Le Doux (2000); Garavan, Pendergrass, Ross et al. (2001); Fine und Blair (2000); MacLusky und Naftolin (1981); Baron-Cohen, Ring, Wheelwright et al. (1999); Meaney und McEwen (1986); Killgore, Oki und YurgelunTodd (2001); Vinader-Caerols, Collado, Segovia et al. (2000); Rasia-Filho, Londero und Achaval (1999); Cooke, Tabibnia und Breedlove (1999); Stefanova (1998); Siddiqui und Shah (1997); Hines, Allen und Gorski (1992); Wolterink, Daenen, Dubbeldam et al. (2001).

37 God, Graffman, Sadato et al. (1995); Happe, Ehlers, Fletcher et al (1996); Fletcher, Happe, Frith et al. (1995) ; Baron-Cohen, Ring, Moriarty et al. (1994); Stone, Baron-Cohen und Knight (1999); Rowe, Bullock, Polkey et al. (2001); Eslinger und Damasio (1985); Adolphs (2001); Farrow, Zheng, Wilkinson et al. (2001). 38 Baron-Cohen, Ring, Wheelwright et al. (1999); Perrett, Smith, Potter et aL (1985). 39 Hines (1992); Aboitiz, Scheibel, Fisher et al. (1992); Bishop und Wahlsten (1997); Allen und Gorski (1991); Allen, Richey, Chai et al. (1991); Allen, Hines, Shryne et al. (1989), De Lacoste-Utamsin und Holloway (1982); Dreisen und Raz (1995); Holloway, Anderson, Defendini et al. (1993); Witelson (1985); Witelson (1989); Bleier, Houston und Byne (1986). 40 Kochanska, Murray, Jacques et al. (1996); Diamond (1985,1988). 41 Ankney (1992); Pakkenberg und Gundersen (1997). 42 Jancke, Schlaug, Huang et al. (1994). 43 Lucas, Lombardino, Roper et al. (1996); Sherry, Vaccarino, Buckenham et aL (1989); Sherry, Jacobs und Gaulin (1992); Roof und Havens (1992). 44 Jacobson, Csemus, Shryne et al. (1981); Allen und Gorski (1991); Swaab und Hofman (1995); LeVay (1991). 45 Maxson (1997). 46 Skuse, James, Bisop et al. (1997); Skuse (2000). 47 Hughes und Cutting (1999); Scourfield, Martin, Lewis et al. (1999); Matthews, Batson, Horn et al. (1981); Rushton, Fulker, Neale et al. (1986). 48 DeFries, Vandenberg und McClearn (1976); Butterworth (1999); Lewis, Hitch und Walker (1994). 49 Darwin (1871). Kapitd 9 Die Evolution des männlichen und weiblichen Gehirns 1 Gaulin (1995); Buss (1995); Symons (1979). 2 Mithen (1996). 3 Keely (1996); Tanner (1970); Thomas und French (1985). 4 McBurney, Gaulin, Devineni et al. (1997); Eals und Silverman (1994). 5 Too by und Cosmides (1990). 6 Betzig (1986); Casimir und Rao (1995). 7 Hrdy (1997); Altmann, Alberts, Haines et al. (1996); Andersson (1994); Chagnon (1979); Irons (1979). 8 Erwin, Gur, Gur et al. (1992); Rosenthal, Hall, DiMatteo et al. (1979); Rotter und Rotter (1988); Wagner, Buck und Winterbotham (1993); Dimberg und Ohman (1996).

9 Betzig (1986); Mealey (1995); Chagnon (1979), Keely (1996). 10 Betzig (1981); Flinn und Low (1986). 11 Chagnon (1979). 12 Betzig (1993). 13 Hill und Hurtado (1996); Knauft (1987); DaJy und Wilson (1988); Chagnon (1988). 14 Tucker, Friedman, Schwartz et al. (1997). 15 Bowlby (1969); Harlow und Harlow (1962). 16 MacLean (1985). 17 De Waal (2002); Cheyney und Seyfarth (1992). 18 Foley und Lee (1989); Hartup und Stevens (1997).

Kapitel 10 Autismus: Die Extremform des männlichen Gehirns 1 APA (1994). 2 Rutter (1978). 3 Baron-Cohen und Bolton (1993); Wing (1976); Frith (1989). 4 Attwood (1999); Gillberg (1991); Wing (1981a); Wing (1988); Frith (1991); Sainsbury (2000); Ozonoff, South und Miller (2001). 5 Folstein und Rutter (1988); Bailey, Bolton und Rutter (1998); Bailey, LeCouteur, Gottesman et al. (1995); Tsai und Beisler (1983); Wing (1981b); Szatmari (1999); Tsai, Stewart und August (1981); Lord und Schopler (1985). 6 Baron-Cohen, Ring, Wheelwright et al. (1999); Abell, Krams, Ashburner et al. (1999); Baron-Cohen, Ring, Bullmore et al. (2000); Baumann und Kemper (1988); Howard, Cowell, Boucher et al. (2000). 7 Baron-Cohen (1995); Baron-Cohen, Jolliffe, Mortimore et al. (1997); Baron-Cohen, Wheelwright und Hill (2001); Baron-Cohen, Leslie und Frith (1985); Baron-Cohen, Wheelwright, Stone et al. (1999); BaronCohen, Richler, Bisarya et al. (2003); Happe (1994). 8 Baron-Cohen und Wheelwright (1999); Baron-Cohen, Wheelwright, Stone, et al. (1999); Baron-Cohen, Wheelwright, Scahill et al. (2001); O'Riordan, Plaisted, Driver et al. (2001); Plaisted, O'Riordon und BaronCohen (1998a); Scheuffgen, Happe, Anderson et al. (2000); Plaisted, O'Riordan und Baron-Cohen (1998b); Shah und Frith (1993); Happe (1996). 9 Willey (1999). 10 Sainsbury (2000). 11 Myers, Baron-Cohen und Wheelwright (2003). 12 Howlin (2001); Tantam (2001).

13 Asperger (1944).

14 Baron-Cohen und Hammer (1997b). 15 Baron-Cohen und Hammer (1997b); Baron-Cohen, Wheelwright, Stone et al. (1999); Baron-Cohen (2000); Baron-Cohen und Wheelwright (2002); Baron-Cohen. Richler, Bisarya et al. (2003); Baron-Cohen, Jolliffe. Mortimore et al. (1997); Baron-Cohen, Wheelwright und Hill (2001); Baron-Chohen, Wheelwright und Jolliffe (1997); Lutchmaya, Baron-Cohen und Raggatt (2002b); Swettenham et al. (1998); Phillips et al. (1992); Lutchmaya, Baron-Cohen und Raggatt (2002a); ICD-10 (1994); Baron-Cohen (1988); Surian et al. (1996); Baron-Cohen, O'Riordan, Jones et al. (1999). 16 Baron-Cohen, Richler, Bisarya et al. (2003). 17 Baron-Cohen, Jolliffe, Mortimore et al. (1997); Baron-Cohen, Wheelwright und Hill (2001); Baron-Cohen, Wheelwright und Jolliffe (1997); 18 Lutchmaya, Baron-Cohen und Raggatt (2002b); Swettenham et al. (1998); Phillips et al. (1992). 19 Lutchmaya, Baron-Cohen und Raggatt (2002a); ICD-10 (1994). 20 Baron-Cohen (1988); Surian et al. (1996). 21 Baron-Cohen, O'Riordan, Jones et al. (1999). 22 Baron-Cohen, Jolliffe, Mortimore et al. (1997); Happe (1995); Charman, Ruffman und Clements (1999). 23 Baron-Cohen und Wheelwright (im Druck). 24 Baron-Cohen, Wheelwright, Scahill et al. (2001); Lawson, Baron-Cohen und Wheelwright (im Druck). 25 Baron-Cohen, Richler, Bisarya et aL (2003). 26 Jolliffe und Baron-Cohen (1997). 27 O'Riordan et al. (2001); Plaisted, O'Riordan und Baron-Cohen (1998a); Plaisted, O'Riordan und Baron-Cohen (1998b). 28 Baron-Cohen, Wheelwright, Skinner et al. (2001). 29 Manning, Baron-Cohen, Wheelwright et al. (2001). 30 Baron-Cohen und Knickmeyer (2001). 31 Tordjman, Ferrari, Sulmont et aL (1997). 32 Baron-Cohen, Wheelwright, Stott et al. (1997). 33 Baron-Cohen, Bolton, Wheelwright et al. (1998); Baron-Cohen und Hammer (1997a). Kapitel 11 Ein Mathematikprofessor 1 Baron-Cohen, Wheelwright, Stone et al. (1999). 2 Harris et al. (1989); Baron-Cohen (1991). 3 Guardian, 31. August 1998, S. 5.

4 APA (1994); Baron-Cohen, Allen und Gillberg (1992); Baron-Cohen, Wheelwright, Cox et al. (2000). 5 Caddes (1986); Blyth (1994). 6 Wilson und Jackson (1994). 7 Times Higher, 24. April 1998, S. 19. 8 Hovis und Kragh (1993). 9 James und Baron-Cohen (unveröff. MS); Fitzgerald (2002); James (2003). 10 Chadwick (1990). 11 BBC, 22. Juli 2002: A Very English Genius. Kapitel 12 Die Extremform des weiblichen Gehirns: Zurück in die Zukunft 1 Fonagy (1989). 2 Tager-Flusberg und Sullivan (2000); Karmiloff-Smith, Grant, Belluji et al. (1995). 3 Donovan (1997). 4 Russell (Hrsg.) (1997). 5 Mackintosh (1998). 6 Frith (1989); Frith und Happe (1994); Happe (1996a); Happe (1997). 7 Dawson, Warrenburg und Fuller (1982); Chiron, Leboyer, Leon et al. (1995). 8 Bailey, Bolton, Rutter et al. (1998). 9 Lutchmaya, Baron-Cohen und Raggatt (2002, 2002b). 10 Robertson (1999). 11 Willey (1999). Anhang 1 »Die Sprache der Augen« 1 Baron-Cohen, Wheelwright und Hill (2001). Eine auf Kinder zugeschnittene Version dieses Tests ist ebenfalls verfügbar; siehe BaronCohen, Wheelwright, Scahill et al. (2001). 2 Der Empathie-Quotient (EQ) 1 Baron-Cohen, Richler, Bisarya et al. (2003). 3 Der Systematisierungs-Quotient (SQ) 1 Baron-Cohen, Richler, Bisarya et al. (2003). 4 Der Autismus-Spektrum-Quotient (AQ) 1 Baron-Cohen und Wheelwright (2001).

Bibliografie

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