Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht: Nationale, staatlose und globale Formen menschenrechtsgestützter Demokratisierung. Elemente einer Verfassungstheorie VIII [1 ed.] 9783428511655, 9783428111657

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Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht: Nationale, staatlose und globale Formen menschenrechtsgestützter Demokratisierung. Elemente einer Verfassungstheorie VIII [1 ed.]
 9783428511655, 9783428111657

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FRIEDRICH MÜLLER Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht

Schriften zur Rechtstheorie Heft 214

Demokratie zwischen Staatsrecht und Weltrecht Nationale, staatlose und globale Formen menschenrechtsgestützter Demokratisierung

Elemente einer Verfassungstheorie VIII

Von Friedrich Müller

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-11165-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Für Jacques Derrida und sein Engagement

Vorwort Der sich abzeichnende Weg zu einer Art Weltrecht, das weltweite Gewebe aus hard law und soft law, das Entstehen eines globalen Konstitutionalismus sind Vorstellungen und Vorhaben einer Zukunft, die bereits begonnen hat. Soll diese menschenwürdig und also demokratisch sein, müssen entsprechende Politikziele, Normen und Verfahren transnational durchgesetzt werden. Eine auch auf diesem Feld realistische Theorie von Recht und Verfassung lässt sich von dem nicht nur verständlichen, sondern notwendigen Elan dieses Aufbruchs aber nicht mitreißen. Sie sollte die Konzepte nationaler Demokratie nicht nur weiterhin im Blick behalten, sondern sie angesichts der neuartigen Herausforderung auch erneut in Frage stellen und vertiefen. Was sind überhaupt die Eigenschaften, Bedingungen und Grenzen dessen, das da als „Demokratie" in den Raum globaler Diskurse, Konflikte und Entscheidungen hinein fortzuschreiben ist? Entlang dieser Frage wird hier zunächst auf Texte Rousseaus als auf eine grundlegende Formulierung modernen Denkens von Demokratie zurück gegangen; wird dann analysiert, wie sich demokratisch erlassene Gesetze angesichts der Macht der Verfassungsjustiz besser behaupten können und inwieweit das geltende Demokratierecht, das von Exekutive und Gerichtsbarkeit umzusetzen und zu kontrollieren ist, dabei dem Schicksal bloßer Virtualität entkommen kann. Auch darf nicht vergessen werden, dass Demokratisierung - unbeschadet ihrer globalen Perspektiven - in zahlreichen Nationen erst noch dringlich anzustreben ist; als Beispielsfall dafür werden hier die teils theokratisch, teils sonst diktatorisch oder autoritär beherrschten arabisch-islamischen Länder untersucht. Schließlich geht die Analyse darauf, in welch prekärer werdenden Zustand der bisherige Verlauf der Finanz-und Wirtschaftsglobalisierung die einzelstaatlichen Demokratien versetzt hat; was alles im nationalen Rahmen, etwa durch neue Formen von politischer Bürgerbeteiligung, dagegen getan werden kann; wie sich vernetzte Gruppierungen und Aktionsweisen eines graswurzel-demokratischen transnationalen Widerstands herausbilden und wie schließlich die Strukturen der Elemente eines künftigen Weltrechts vorgezeichnet werden können, sich zum Teil auch schon real abzeichnen. Es wird das Konzept einer dreifachen Verfassungsstruktur eingeführt, um die vielfältigen Ansätze der Praxis auch theoretisch zu integrieren.

Vorwort

8

Das hier bearbeitete Prinzip Demokratisierung zip" an.

spielt auf ein anderes „Prin-

Der Text ersetzt dann Ernst Blochs Verheißung durch ein Vorhaben und seinen Wegweiser „Lenin" ( welcher Lenin als Avantgarde an Stelle des Volkes handeln wollte ) durch das Volk selber, das man sollte handeln lassen: das Aktiv- und das Zurechnungsvolk, das Adressatenvolk und das partizipierende Volk der politischen (Welt-)Öffentlichkeit. Ubi demos, ibi Jerusalem: aber nur ein irdisches; nicht die Stadt auf dem Berg, eine im Jammertal. Und selbst dieses Konzept werden nur Demokraten akzeptieren wollen. So lange es noch viele von deren Verächtern gibt, hat das Jammertal um so bessere Aussichten, ein solches zu bleiben. Anfang März 2003

F. M.

Inhaltsverzeichnis

I. Prinzip Demokratisierung: Rousseau

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II. Mikroprozesse: Wie behauptet sich Demokratie im Rahmen des nationalen Rechts?

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1. Demokratische Legislative vor der Macht der Verfassungsjustiz: Strategien zeitlicher und inhaltlicher Abstufung

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2. Demokratierechtliche Normtexte in der „Virtualität" des Rechts

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III. Makroprozesse: Demokratisierung im Nationalstaat und auf dem Feld des Interund des Transnationalen

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1. Bedingungen für menschenrechtsgestützte Demokratisierung im Nationalstaat: Besonderheiten der arabischen Länder

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2. Was die Globalisierung der Demokratie antut und was Demokraten gegen die Globalisierung tun können

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3. Der Nationalstaat in der Globalisierung - Formen von Demokratisierung im Nationalstaat

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4. Staatlose und globale Elemente von Demokratisierung Literaturverzeichnis

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I. Prinzip Demokratisierung: Rousseau (1) Demokratie hat das empirisch Unerträgliche normativ zu heilen, die Herrschaft von (dadurch selber unfrei werdenden) Menschen über (doch frei geborene) Andere. „Ich weiß es nicht", antwortet Rousseau in den Eingangssätzen von „Du Contrat Social" auf die selbst gestellte Frage: „Wie ist es zu dieser Veränderung gekommen?" - dazu, dass das mit gleichen Rechten zur Welt gekommene Menschenkind „überall in Ketten liegt". Dabei weiß er es, sein Zweiter Diskurs hat es soeben auf den Punkt gebracht: Eigentum als Institution, Knotenbildungen von Gewalt, Zusammenballungen von Übermacht, auf Ungleichheit gestützte und sie systematisch ins Übergroße steigernde Rechtsinstitute des ersten, des entfremdenden Sozialpakts in Form eines Unterwerfungsvertrags. Die Reichen und Mächtigen haben ihn ausgeklügelt, um den Status quo legal zu machen. Die Verschriftlichung dessen, was gesellschaftlich der Fall ist, fügt ein neues Element hinzu. Zum Empirischen kommt der Schein des Normativen: eine Textoberfläche, die allen gleiches Recht zu-schreibt und damit die tatsächliche Ungleichheit unsichtbar zu machen versucht1. „Ich weiß es nicht" ist insoweit eine Koketterie; und ist die Wendung ins Normative: „Was kann sie rechtmäßig machen? Ich glaube dieses Problem lösen zu können" (DCS I I ) : durch Formulieren von „Principes du Droit Politique", durch demokratisierende Anstöße für ein Verfassungsrecht, das ein Recht des Politischen sein wird. In diesem neuartigen Pakt „soll sich jeder mit allen vereinigen und dennoch nur sich selbst gehorchen und ebenso frei bleiben wie zuvor"; anders gesagt, unterstellt jeder „der Gemeinschaft seine Person und alles, was sein ist, unter der höchsten Leitung des Gemein willens; und wir als Körperschaft empfangen jedes Mitglied als vom Ganzen unabtrennbaren Teil" (DCS II 6). Da alle „als Menschen und frei zur Welt" kommen: „ihre Freiheit gehört ihnen, niemand hat das Recht, darüber zu verfügen"; da „kein Mensch eine natürliche Autorität über seinesgleichen hat" (DCS I 4), bringt es der neue Pakt als „Kunsttrick und ( . . . ) Spiel der politischen Maschinerie" zu Stande, dass alle, die ihn miteinander abschließen, „vor jeder persönlichen Abhängigkeit bewahrt" bleiben (DCS 17). 1 Beispielsweise Anmerkung (d) zum Buch I von „Du Contrat Social" (DCS): „Unter den schlechten Regierungen ist diese Gleichheit bloß scheinbar und vorgespiegelt. Sie dient nur dazu, den Armen in seinem Elend und den Reichen in seiner Usurpation festzuhalten. In Wirklichkeit sind die Gesetze immer denen, die besitzen, nützlich und denen, die nichts haben, schädlich: woraus sich ergibt, daß der Gesellschaftszustand den Menschen nur so lange vorteilhaft ist, als sie alle einiges haben und keiner von ihnen zuviel hat".

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I. Prinzip Demokratisierung: Rousseau

Der Kunsttrick liegt im Sprachgestus dieser Phase der Aufklärung des 18. Jahrhunderts; und dieser Gestus folgt daraus, dass als wahr nur das auf solche Art rationalistisch Konstruierbare galt. In der Sache folgen daraus nach vorne weisende Wegmarken der praktischen Vernunft: dass jeder Mensch zu gleichem Recht Mitglied von Gesellschaft und Staat ist; dass es weder Exklusion noch Hierarchie in den Rechten geben darf; dass Rechte und Pflichten strikt gegenseitig begründet werden. (2) Weil er an der Verfassungsform Demokratie als der einzig legitimen festhält, kann Rousseau für die Regierungsform pragmatisch sein; kann er alle seit Aristoteles als tragbar geltenden einschließlich gemischter Formen ins Auge fassen (ζ. B. DCS III 1,4, 8, 15). Sobald man „gesehen (hat), dass die legislative Gewalt dem Volke gehört und nur ihm gehören kann" (DCS IV 1,2), dass nur der Volkssouverän sich in allgemeinen und gleich behandelnden Akten, in Gesetzen, zu äußern vermag und die Regierung lediglich „die gesetzmäßige Ausübung der exekutiven Gewalt" darstellt (DCS III 1, im Original nicht hervorgehoben; ebd. die folgenden Wendungen), versteht es sich, dass dieses Konzept „stets bereit ist, die Regierung für das Volk zu opfern, nicht aber das Volk für die Regierung" und dass diese „absolut nicht mehr als eine Beauftragung, ein Dienst" am Volk ist. Dieses „kann sie einschränken, abändern und zurücknehmen, wie es ihm gefällt" 2 . Verfassungsputsch, Auflösen des Gesellschaftsvertrags und Zerfallen des Staatskörpers bedeutete es dagegen (DCS III 10; ferner ζ. B. III 1, dort das Zitat), wenn „der Sonderwille der Regierungsführung aktiver wäre als der Wille des Souveräns und sie die in ihre Hände gelegte Staatsgewalt mißbrauchte, um diesem Sonderwillen zu gehorchen - so dass man sozusagen zwei Souveräne, ein rechtmäßiges und ein tatsächliches, hätte...". Die degenerierte menschliche Individual- und Sozialnatur ist nur durch eine rechtsstaatlich3-demokratische Verfassungsform in Gestalt partizipierender moralischer und staatsbürgerlicher Freiheit heilbar. Dagegen ist eine demokratische Regierungsform für irdische Populationen, anders als für das Volk von Göttern (DCS III 4), nicht möglich; allenfalls für die „Rotten von Bauern unter einer Eiche", durch deren Evokation der Autor an sein Erweckungserlebnis unter der Eiche von Vincennes im Jahr 1749, auf dem Weg zum eingekerkerten Freund Diderot, erinnern mag. Mit ihrer kleinräumigen agrarischen Nachbarschaftsordnung ist aber kein Staat zu machen. 2 Siehe ζ. B. auch DCS III 8: „Die Sachwalter der exekutiven Gewalt sind nicht die Herren des Volkes, sondern seine Beauftragten. Es kann sie einsetzen und absetzen, wann es ihm beliebt". - Und wer ist dieses Volk? Wie immer, außer im Augenblick der Einrichtung des Mehrheitsprinzips, „die Meinung der größeren Zahl" (DCS IV 2 und I 5). 3 Rousseau verlangt als unabdingbar eine „gesetzmäßige Ausübung der exekutiven Gewalt", DCS III 1 ; zu dieser zählt auch die zu Montesquieus wie zu Rousseaus Zeit organisatorisch noch in die Exekutive eingegliederte, rechtlich abhängige Justiz, bekanntlich „en quelque façon nulle".

I. Prinzip Demokratisierung: Rousseau

Menschen regieren sich also notgedrungen undemokratisch (im Sinn von: nicht direkt demokratisch). Aber ihre Regierungsform bleibt an die Verfassungsform, ihre Regierungsmannschaft ist an Beauftragung, regelmäßige Kontrolle und jederzeitige Abberufbarkeit durch die Mehrheit des Volkes gebunden - ein Vorhaben rigoroser Demokratisierung von Bürokratie und Justiz. Rousseau sieht dafür, neben den von der Regierung einzuberufenden, auch noch besondere periodische Volksversammlungen vor, auf deren Abhaltung die Exekutive keinen Einfluss haben darf. Er geht dabei bis in Einzelheiten der Tagesordnung: sie müssen zwei obligatorische und stets getrennt zur Abstimmung gestellte Anträge behandeln, nämlich „ob es dem Souverän beliebt, die gegenwärtige Regierungsform beizubehalten" und „ob es dem Volk beliebt, die Verwaltung denen zu belassen, die gerade damit beauftragt sind" (DCS III 18). Eine so weit getriebene Demokratisierung kann nur in kleineren Republiken wirklich werden, in Schweizer Kantonen, gegebenenfalls in Irland und Korsika (ζ. B. DCS I I 10) oder vielleicht auch in einzelnen Exemplaren aus der italienischen und der überbordenden deutschen Kleinstaaterei der Zeit. Große Flächenstaaten wie Frankreich und England (dessen repräsentative Demokratie für Rousseau nicht legitim ist 4 ) hält er im Sinn der direkten Demokratie eines neuen Gesellschaftspakts bereits für hoffnungslos. Technische Mittel der Umorganisation wie Föderalisierung und Regionalisierung würden im englischen wie im französischen Fall schon nicht mehr helfen. Denn den Hauptgrund für das vorauszusehende Scheitern einer Verfassungsrevolution, die das Volk als den Souverän einsetzen würde, sieht Rousseau in der inzwischen verhärteten und bereits politikresistent gewordenen Übermacht der Wirtschafts- und Interessenblöcke im modernen, nach der Unterscheidung Max Webers rational betriebsförmigen, den Nationalstaat in seinen Dienst nehmenden Kapitalismus. Der im Weberschen Sinn „irrationale" antike hat unmittelbare Demokratie dagegen nicht verhindern können: vierhunderttausend stimmberechtigte Bürger im Rom der Republik seien nicht zu viele gewesen (DCS III

4 DCS III 15: „Das englische Volk glaubt frei zu sein; es täuscht sich gar sehr. Es ist nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder frei; sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts. Der Gebrauch, den es in den kurzen Momenten seiner Freiheit von dieser macht, verdient wohl, dass es sie verliert". - Rousseau weist zu Recht darauf hin, dass „Repräsentation" aus der ständischen Überlieferung des Feudalismus stammt: „Der Begriff des Abgeordneten ist modern. Er ist uns von der Feudalregierung überkommen, von jener unbilligen und widersinnigen Regierung, unter der das Menschengeschlecht erniedrigt wird ...", DCS III 15. - Über den „Ausweg . . . , Abgeordnete oder Repräsentanten des Volkes in die Nationalversammlung zu schicken", sagt er, „das wagt man in gewissen Ländern den dritten Stand zu nennen", ebd. Man versteht, dass die Jakobiner nur Auszüge aus „Du Contrat Social" in den Straßen von Paris verteilen ließen.

Systematisch folgerichtig hält Rousseau fest: „Die Souveränität kann nicht stellvertretend ausgeübt werden, und zwar aus demselben Grund, aus dem sie nicht übereignet werden kann. ... Ein Mittleres gibt es nicht. Die Abgeordneten des Volkes sind also weder seine Stellvertreter, noch können sie es sein. Sie sind nur seine Beauftragten; sie können nichts endgültig beschließen. Jedes Gesetz, das das Volk nicht in Person ratifiziert hat, ist nichtig; es ist kein Gesetz" (DCS III 15).

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I. Prinzip Demokratisierung: Rousseau

12). „Die Betriebsamkeit im Handel", „das habgierige Gewinnstreben", das nunmehr paradigmatisch Neuartige des menschlichen Tuns, seinen Gewinn „nach Belieben steigern zu können", sind nach-feudal, sind Erscheinungen des Kapitalismus der Moderne; sie „lösen die persönlichen Dienstpflichten durch Geldleistungen ab". All dies im Gegensatz zur Antike, so weit sie sich demokratisiert hatte; und kristallisiert im „Wort Finanzen", das „ein Sklavenwort" ist - „im Stadtstaat ist es unbekannt" (DCS III 15, im Original hervorgehoben). Die geografische Größe eines zu organisierenden Territoriums war für Rousseaus Skepsis, anders als es gewöhnlich dargestellt wird, nicht das Entscheidende. Wo er für den Flächenstaat Polen im Jahr 1772, wieder im Auftrag wie im Fall von Korsika, eine Verfassung entwirft, sieht er aus diesem Grund eine repräsentative Versammlung vor; er behält aber den Plan der Demokratisierung nicht nur von Exekutive und Justiz, sondern auch des Parlaments unbeirrt bei: Die geografische Ausdehnung ist „einer der größten Nachteile der großen Staaten, der die Freiheit am schwierigsten bewahren läßt" (Considérations sur le Gouvernement de Pologne, Kapitel VII). Rousseau verbindet aber solchen Pragmatismus mit Treue zum Ziel der Demokratisierung: imperatives Mandat mit genauen Instruktionen für die Delegierten und deren häufiger Wechsel sollen selbst unter erschwerten Bedingungen das Entstehen nicht nur exekutivischer, sondern auch parlamentarischer Oligarchien verhindern, es zumindest nach Kräften erschweren. (3) Rousseaus nur in den zeitgebundenen Mitteln ihrer Illustration zuweilen naiven Analysen des „politischen Körpers" brauchen nicht platt umsetzbar zu sein, um uns nachzugehen. Als Problemsammlung, als Fernziele für praktische Politik, als Negativkatalog des vorrangig zu Vermeidenden, als Irritation legitimistischer Verfassungstheorie der selbsternannten Freien Welt, als Aufruf gegen zu kompakte Macht und irreversible Gewalt bleiben sie uns auf den Fersen. Warum ist für ihn Demokratisierung unumgänglich? Weil das Menschenwesen sie braucht. Worin besteht dieses Wesen? In gleicher Freiheit für alle. Welchen Sinn soll menschliche Freiheit haben? Wählen zu können, ein moralisches Dasein zu werden, sich selbst eine Ethik zu geben. Deren Normen verpflichten den Einzelnen. Und wen verpflichten die staatlichen Gesetze? Alle die, aber auch nur die, von denen sie aus freier Entschließung mitgeschaffen worden sind - der demokratische Urgedanke. An die Stelle persönlicher Herrschaftsverhältnisse und eines kitschigen „Zurück zur Natur", das allein Voltaires boshaft eifersüchtiger Polemik, nirgends aber dem Denken JeanJacques' entstammt, hat die Herrschaft der Gesetze zu treten: direkt demokratisch durch Mehrheit beschlossener und alle Betroffenen inhaltlich gleich behandelnder Rechtssätze: „Denn der Antrieb der Begierde allein ist Sklaverei, und Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich vorgeschrieben hat, ist Freiheit" (DCS I 8) 5 .

I. Prinzip Demokratisierung: Rousseau

Geschichte als Pathographie und Demokratisierung mit rechtsstaatlichem Respekt vor der Gesetzgebung neuen Typs als Chance einer Heilung - Rousseaus Vorschläge in der Vertikalen. Und horizontal, gegen die gesellschaftlichen Metastasen der Ungleichheit, wenden sich gleichfalls Verfassung und Gesetzgebung neuen Typs. Angeborene Ungleichheiten der Individuen zählen nicht länger, weil sie die im Staat der bürgerlichen Neuzeit systemisch ausgebaute riesenhafte Ungleichheit nicht rechtfertigen können. Der neuartige Pakt setzt „an die Stelle der von der Natur aus etwa zwischen den Menschen bestehenden physischen Ungleichheit eine moralische und gesetzmäßige Gleichheit" (DCS I 9); die Einzelnen „werden durch Konvention und Recht alle gleich", erhalten gleiche Menschenrechte und politische Rechte, gleiche Pflichten auch. Rousseau geht es weder um faktische Gleichmacherei (DCS II 11) noch um Illusionen; es geht um bewusst zu haltende Politikziele: „Gerade, weil die Macht der Dinge immer nach Unterhöhlung der Gleichheit strebt, soll die Macht der Gesetzgebung immer nach ihrer Bewahrung streben" (DCS II 11). Macht ist nicht als solche illegitim, aber sie ist daran zu hindern, in „Gewaltanwendung" übergehen zu können; und Eigentum an materiellen Gütern ist so lange vertretbar, als es nicht Ausmaße erreicht, die zur Beherrschung anderer Menschen verwendbar sein werden (DCS II 11). Demokratie ist die Verfassungsform der Freiheit; und wie hängt diese nun mit Gleichheit zusammen? Rousseau sieht, dass „arm/reich" und „unterworfen/herrschend" ineinander übergehen. Daher sind „die äußersten Rangunterschiede" einander möglichst anzunähern, ist die Einkommens- und Vermögensschere, von der die Nationalökonomie spricht, so eng wie möglich zu halten. Denn aus den „Bettlern" gehen „die Helfershelfer der Tyrannen" hervor und aus den Schwerreichen „die Tyrannen". Und - weit über die vorgeblich unpolitischen, auf die private Freiheit (der Reichen und Einflußreichen) bedachten liberalistischen Konzepte hinaus - der atemberaubende Satz: „Der Ausverkauf der öffentlichen Freiheit spielt sich immer unter diesen ab: der eine kauft, der andere verkauft sie" 6 .

5 Der uns damit so viel über Demokratie aufgibt, fügt an: „Jedoch ich habe über diesen Punkt schon mehr als genug gesagt. Der philosophische Sinn des Wortes Freiheit ist hier nicht mein Thema". - Rousseau unterscheidet, durch Praxis, bemerkenswert bewusst zwischen Signifikaten und Signifikanten: „das Wort Freiheit"; „das Wort Recht", „das Wort Gewalt" (DCS I 3); „das Wort Gleichheit" (DCS I I 11); „diese Worte: Sklaverei und Recht" (DCS I 4); „der Name Republik„der Name Volk" (DCS I 6). - Auch „das Wort Abgeordneter" war „in den antiken Republiken" nicht bekannt, so wenig wie das „Sklavenwort Finanzen DCS III 15; „Repräsentation", „Parlament", „Deputierter" kommen in der Tat nicht aus der demokratischen, sondern aus der ständischen Tradition; sie sind „uns von der Feudalregierung überkommen, von jener unbilligen und widersinnigen Regierung, unter der das Menschengeschlecht erniedrigt wird", DCS III 15. 6 DCS II, Anmerkung (o). - Schon in seinem Artikel „Politische Ökonomie" für den fünften Band (1755) der „Grande Encyclopédie" gibt es immer wieder Ansätze zu solch unbestechlicher Klarsicht. - Der „Discours sur l'Économie politique" liegt ζ. Β. als zweisprachige Ausgabe vor mit: J.-J. Rousseau, Politische Ökonomie, H.-P. Schneider/B. Schneider-Pachaly (Hrsg.), 1977.

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Der sich heute imperial gebärdende Neo-und Ultraliberalismus schickt sich in der Tat an, sie zu verkaufen; dabei ist öffentliche Freiheit - so wie der öffentliche Raum des politisch reflektierten Teils der Urbanistik und Planungswissenschaft eine notwendige Bedingung für demokratische Verhältnisse. Diese brauchen eine inklusive Gesellschaft; aber die Exkludierten haben weder Freiheit noch Gleichheit und der absteigende Mittelstand hat von beidem immer weniger. Die liberale Freiheit als formale, als eine Ermächtigung nur vorgeblich an alle, ist scheinheilig. Demokratie steht unter den Zwängen liberalistischer Globalisierung in den zentrischen Ländern nicht nur auf dem Prüfstand, sondern schon in der Defensive („Zweidrittelgesellschaft"), in den Schwellenländern und der Peripherie der Überzähligen („Einzehntelgesellschaften") bereits im Abseits7. Der demokratische Staat ist institutionell der einzige Schutz dagegen; denn, sagt Rousseau, im Verhältnis zwischen dem Schwachen und dem Starken unterdrückt „die Freiheit" und ist es das Gesetz, das befreit. Dieses Gesetz ist das demokratische, nicht im formalliberalen Sinn, sondern im gleichheitlichen, alle Betroffenen materiell gleich behandelnden Verständnis: die volonté générale ist kein statistischer, sondern ein normativer Begriff. Etwas anderes verdient nicht den Titel „Gesetz"8; nicht maskierte Diktate im Interesse der mächtigen Marionettenspieler, sondern Mehrheitsbeschlüsse, die erst durch das gemeinsame inhaltliche Interesse, das diese Stimmen verbindet, den Rang des verbindlichen Gesetzes erhalten. An diesem Punkt des Konzepts gibt es keine Zweideutigkeit: reale Bürgerfreiheit, Aktivität und Interaktivität in einer Gesellschaft der „liberté civile" bauen deshalb auf Gleichheit auf, weil Alle in gleich notwendiger Freiheit ihrer Menschenwürde und Menschenrechte geboren werden 9. Auferlegte Lasten, Einschränkungen der fortbestehenden Einzelinteressen 10 werden nicht allein durch demokratischen Mehrheits-

7 Dazu F. Müller, Demokratie in der Defensive, 2001, S. 73 ff.; H. Brunkhorst/M. Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie, 2000; H. Brunkhorst, Solidarität, 2002, ζ. B. S. 162 ff., jeweils mit zahlreichen Nachweisen. 8 „Unter dem Namen Gesetz verabschiedet man fälschlich schnöde Dekrete, die nur das Sonderinteresse im Auge haben", DCS IV 1. - Zu dem im Text Folgenden ζ. B. DCS I I 4. Zum Mehrheitsprinzip ζ. B. DCS IV 2. - Zum inhaltlich-normativen Konzept der volonté générale vgl. F. Müllen Entfremdung, 2. Auflage 1985, S. 20 ff., 36 ff., 42 ff., und öfter. - Zu den theoretisch/praktischen Kontinua von Gleichheit und Freiheit vgl. dens., Essais zur Theorie von Recht und Verfassung, 1990, z. B. S. 147 ff. („Diesseits von »Freiheit und Gleichheit*") und 197 ff. („Gleichheit und Gleichheitssätze"). 9 DCS I 1 und durchgehend; ζ. B. DCS I 4 darüber, dass „kein Mensch eine natürliche Autorität über seinesgleichen hat" ... Sie kommen als Menschen und frei zur Welt. Ihre Freiheit gehört ihnen; niemand hat das Recht, darüber zuverfügen". - DCS I 4: „Auf seine Freiheit verzichten heißt, auf seine Würde als Mensch, auf die Menschenrechte, ja sogar auf seine Pflichten verzichten Seinen Handlungen jede Moralität nehmen heißt: seinem Willen jede Freiheit nehmen ...". 10 „In der Tat kann jedes Individuum als Mensch einen Sonderwillen haben, der dem Gemeinwillen, den es als Staatsbürger hat, entgegengesetzt ist. Sein Einzelinteresse kann ihm etwas ganz anderes einflüstern als das Gemeininteresse. Seine absolute und von Natur aus

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beschluss, sondern auf dessen Grundlage vor allem durch die inhaltliche Gleichheit der Belastungen und durch Reziprozität mit den anderen Staatsbürgern erträglich. Auch wenn der demokratische Staat durch deformierende Gruppenmacht und nachlassendes staatsbürgerliches Bewusstsein („vertu") „seinem Ruin nahe, nur noch in einer illusorischen und nichtigen Form besteht" und „das schmählichste Interesse sich schamlos mit dem geheiligten Namen des Gemeinwohls schminkt", bleibt der Gemeinwille dennoch „immer gleichbleibend, unveränderlich und rein, aber er ist anderen Willensrichtungen untergeordnet, die über ihn siegen"11: die volonté générale ist eben nicht die rechnerische Summe der einzelnen Willen; sie ist normativ, bleibt als Maßstab dafür weiterhin operational, was - trotz ins Oligarchische entgleister politischer Praktiken - als allgemeinstes und grundlegendes inhaltliches Interesse, als fundamentales Bedürfnis des Landes und (der Mehrheit) seiner Bevölkerung ermittelt werden kann. (4) Anthropologisch gesprochen, denkt Rousseau an die Umwandlung des Naturmenschen (und dann des falsch vergesellschafteten Untertanen) zum citoyen. Sein Vorschlag dafür ist nicht autoritär-herrschaftlich, sondern gesellschaftlich-politisch. Es geht ihm um liberté civile, um politische Teilhabe durch direkte (notfalls auch durch partizipative) Demokratie. Im Rahmen der Tradition des rationalistischen Naturrechts drückt er das dadurch aus, den Unterwerfungsvertrag zu streichen und die Republik allein durch den Gesellschaftsvertrag (contrat social) entstehen zu lassen. Der citoyen wird allein durch eine demokratische Verfassung geschaffen, also durch Recht; und nicht durch Gewalt oder Versklavung. Dem entsprechend gibt Rousseau im dritten Kapitel des ersten Buchs von „Du Contrat Social" eine so kurze wie schneidende Dekonstruktion vom „Recht des Stärkeren und zwar durch semantische Erörterung von „physische Macht - Moralität", „Notwendigkeit - Pflicht" und „Gewalt - Recht". Die institutionalisierte Heuchelei der Stärkeren entgeht ihm nicht: „Man tut zwar so, als nehme man dieses Recht ironisch, aber in Wirklichkeit setzt man es als Prinzip" 12 . In der Redeweise vom unabhängige Existenz kann ihm das, was er der gemeinsamen Sache schuldet, als eine willkürliche Steuer vor Augen stellen", DCS I 7. 11 DCS IV 1. - Eine funktionierende Demokratie „setzt ( . . . ) voraus, dass alle Kennzeichen des Gemeinwillens noch bei der Mehrheit zu finden sind. Sobald sie nicht länger bei dieser sind, gibt es keine Freiheit mehr, welche Partei man auch ergreife", DCS IV 2. - Ebd. Näheres zum Konzept „volonté générale". 12 DCS I 3. - Ebd.: „Nun, was ist das für ein Recht, das vergeht, wenn die Macht aufhört? Wenn man auf Grund von Gewalt gehorchen muß, braucht man nicht auf Grund von Pflicht zu gehorchen". ... Man sieht also, dass dies Wort Recht nichts zu dem Wort Gewalt hinzufügt; es bedeutet hier überhaupt nichts. Gehorcht der Macht. Wenn das heißen soll: weicht der Gewalt, ist die Lehre gut, aber überflüssig. Ich bürge dafür, dass sie nie verletzt werden wird". - Zur Sklaverei: DCS I 4: „Diese Worte: Sklaverei und Recht sind kontradiktorisch; sie schließen sich gegenseitig aus". - Rousseau sieht die Begnadigung des versklavten Gefangenen durch den militärischen Sieger nüchtern: „Der Sieger hat ihm keine Gnade erwiesen, da er einen Gegenwert für sein Leben nimmt; statt ihn ohne Nutzen zu töten, hat er ihn nutzbringend getötet". 2 F. Müller

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Recht des Stärkeren ist der Sache nach nur von Gewalt die Rede, nicht von Legitimität. Gewalt schafft kein Recht, allein freie Zustimmung. Und Beherrschung legitimiert nicht, nur Demokratie. Was die Sklaverei angeht - zum Beginn des 21. Jahrhunderts floriert sie planetar, globalisiert sich in bemerkenswerter Parallelität zu weltweit zunehmend „freien" Märkten und vernetzten Börsen - , so dekonstruiert Rousseau die seit der Antike für sie angeführten Argumente (wie Übereignung von Kindern, Verkauf, Garantie der Ruhe durch den Diktator, Menschen als Kriegsbeute). Den Krieg stiftet „nicht die Beziehung der Menschen", nur die „der Sachen"; gegnerische Soldaten, die sich ergeben, werden „wiederum Menschen schlechthin, und man hat kein Recht mehr auf ihr Leben" - sie dürfen auch nicht versklavt oder sonst unmenschlich behandelt werden. Während der marginale Pariser Literat und Ex-Landstreicher hier auf dem Ansatzpunkt des modernen Kriegsvölkerrechts beharrt, haben sich weder der liberale Sklavenhandels-Aktionär John Locke noch später der liberale Sklavenhalter Thomas Jefferson mit derartigem „droits-de-rhommisme" aufgehalten. Für Rousseau wird die real existierende Herrschaft von Menschen über Menschen weder durch Krieg noch Eroberung, weder durch Versklavung noch allgemein durch das Recht des Stärkeren gerechtfertigt; sondern ausschließlich durch aktiv teilnehmende Zustimmung im Rahmen einer demokratischen Republik, die sich auf Menschenwürde und auf die gleichen Rechte freier Staatsbürger gründet. Nur so, durch Freiheit nicht als privatisierende, sondern als politische, kann es unter günstigen Umständen gelingen, „Macht in Recht und den Gehorsam in Pflicht (zu verwandeln)" 13 . In dieser Republik solidarischer citoyens, in der die Gesetze direkt demokratisch beschlossen werden und die Regierungen jederzeit verantwortlich und abrufbar sind, sehen sich Zivilgesellschaft und Staat durch das ausdrückliche Bemühen verbunden, das größtmögliche Interesse aller, das alte bonum commune zu verwirklichen. Darum ist Rousseau gegen das Agieren der Interessenverbände, Großkirchen, Parteien, der Handelsgesellschaften, pressure groups und ökonomischer Oligopole jeder Art. Sie sind nur volontés particulières, organisierter Egoismus; sie gründen auf privatem Eigentum und der aus ihm folgenden Organisationsmacht. Gesetze, die von ihnen vorformuliert und durchgedrückt werden, bleiben volontés particulières in der missbrauchten Form des allgemeinen Gesetzes. In (textlich als solche ausgewiesenen) Demokratien, die von ihnen geprägt werden, sind der Staat und die ihn besetzenden Oligarchien oben; und was sich dort unten 14 über Wasser hält - durch Gestus und Sprache der wirtschaftlichen Werbung wie der politischen Propaganda zu Käufern, Nutzern, Wählern individualisiert, isoliert - ist nicht ein DCS I 3. - Eingehend zu „Solidarität" als einem geschichtlich zu erinnernden und demokratisch „zur globalen Rechtsgenossenschaft" der Zukunft weiterzuentwickelnden Grundsatz: H. Brunkhorst, Solidarität, 2002. 14 Nicht immer sind Regierungschefs so mitteilsam wie der im Frühjahr 2002 frisch ins Amt gekommene Jean-Pierre Raffarin, der unbefangen sogleich von „la France d'en haut et la France d'en bas" redete.

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Volk; dieser Begriff setzt mehr voraus. Es ist das, was Rousseau eine „Menge" im Gegensatz zur „Gesellschaft" nennt, und „keineswegs ein Volk", nur „ein Massengebilde, aber keine Gemeinschaft" 15, denn es fehlen ebenso der „politische Körper" wie das „Gemeinwohl". Es sind vielmehr die aktiven Staatsbürger, die „Teilhaber" der Republik, die „gemeinschaftlich den Namen Volk (annehmen)". Sie sind das Volk einer unmittelbaren Demokratie; das folgert Rousseau aus der Gleichheit der Freiheitsrechte für alle und aus der Untrennbarkeit der privaten von der politischen Freiheit. Es wäre voreilig, das mit dem unklaren, zumeist abschätzig besetzten Begriff der Utopie abzutun. Solche Gedanken lassen sich als Maßstäbe lesen, bei entsprechend konsistenter Begründung als regulative politische Ideen. In ihrer Entstehungszeit waren sie noch mehr als das: Rousseau dachte für sein Gemeinwesen eines beständigen Plebiszits auf der Grundlage einer relativ kleinen, überschaubaren, sozial möglichst homogenen Gemeinschaft von Bürgern mit politischer „vertu" zu Recht an die Schweizer Kantone, als künftige Kandidaten an Irland und Korsika. Deutschland und Italien boten wahre Wimmelbilder an Kleinstaaterei und jedenfalls der Möglichkeit nach ein weites Versuchsfeld für dieses Konzept; und die anti-federalists der US-amerikanischen Verfassungsdebatte strebten gleichfalls nach einer aus direkt demokratischen kleinen Agrarstaten zusammengesetzten Republik. Für die Insel Korsika, die erst 1789 endgültig an Frankreich kam, konnte Rousseau in sinnvoller Weise eine direkt demokratische Konstitution entwerfen; für das große Flächenland Polen hat er dann 1772 in den „Considérations sur le Gouvernement de Pologne" eben deshalb ein Parlament vorgesehen, weil die direkte Legislation nicht praktikabel gewesen wäre. Aber er vergisst seine vernichtende Analyse des liberalen Parlamentarismus nicht und sieht für die Abgeordneten imperatives Mandat und häufige Rotation vor, für die Regierung präzise Aufträge (vom Parlament) und jederzeitige Abrufbarkeit durch dessen Mehrheit, mit anderen Worten das moderne Parlaments(im Gegensatz zum Präsidial-)System. Im vollen Sinn legitim ist für ihn die unmittelbare Demokratie im Kleinstaat; und Ansätze zu einer partizipativen sind es als Ersatzlösung für Flächenstaaten. So weit seine Gedanken uns weiterhin angehen, sind sie nicht etwa auf einen Erfolg der weltweit zahlreichen Separatismen oder auf Staatszerfall (wie um die 20./21. Jahrhundertwende zum Beispiel in Somalia) angewiesen. Sie können sich in kleineren politischen Einheiten auf verschiedener Ebene erproben lassen: in Bundesländern einer Föderation (selbst in Deutschland kennen, im Gegensatz zum Bund, die meisten Länder Formen von Volksbegehren und Volksentscheid), in Regionen, Gemeindeverbänden und Gemeinden. Die Beteiligung der Bürger als der praktisch Betroffenen an Planung und Entscheidung in Infrastruktur-, Verkehrs15 DCS 15: „II y aura toujours une grande différence entre soumettre une multitude et régir une société ... je ne vois là qu'un maître et des esclaves, je n'y vois point un peuple et son chef: c'est, si l'on veut, une agrégation, mais non pas une association; il n'y a là ni bien public, ni corps politique". - Zu dem im Text unmittelbar Folgenden: DCS 16.

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und Haushaltsfragen (von Porto Alegre ausgehend) sind solche Beispiele mit einer unleugbaren Strahlkraft, die sich nicht mehr so leicht abtun lassen. Rousseaus Einsichten und Vorschläge zur Notwendigkeit von Demokratisierung haben nicht die Kraft verloren, uns zu beunruhigen.

II. Mikroprozesse: Wie behauptet sich Demokratie im Rahmen des nationalen Rechts? Unter Vorgängen von „Demokratisierung" wird allgemein das Einrichten neuer oder zusätzlicher Institutionen und Verfahren verstanden, durch die Wahlen und Abstimmungen möglich werden. Auf diese Weise sollen, mehr als bis dahin, Gesetze, allgemeiner: Normtexte durch Beschluss einer Mehrheit der Wahl- oder Stimmberechtigten in Kraft gesetzt werden können. „In Kraft" ist Demokratie aber nur in dem Maß, in dem die so erzeugten Normtexte tatsächlich befolgt, redlich konkretisiert, wirksam umgesetzt werden. Andernfalls hängt das demokratisch produzierte Volksrecht in der Luft; verbleibt es auf dem geduldigen Papier der Gesetz- und Verordnungsblätter; die Realität der Gesellschaft wird durch das Amtsrecht der oligarchischen Eliten bestimmt. Das Denken von Demokratisierung allein in normierten Einrichtungen und Verfahren bleibt zu stark dem veralteten Diskurs von Demokratie als bloßem Herrschaftsdiskurs verhaftet (deutlich auch darin, wie etwa Geschichts- und Sozialwissenschaften herkömmlich von Demokratie handeln). Statt dessen sollten auch die der Rechtsordnung immanenten, ja sogar die professionell juristischen, die fachinternen Seiten eines Mehr oder Weniger an demokratischer Mitbestimmung der Gesellschaft untersucht werden; und damit auch die Spielräume für eine innere Demokratisierung des nationalen (im Prinzip übrigens auch: inter- und supranationalen) Rechts.

1. Demokratische Legislative vor der Macht der Verfassungsjustiz: Strategien zeitlicher und inhaltlicher Abstufung (1) Ein Normtext kann in Kraft treten, sobald er im Gesetzblatt verkündet wurde. Bis dahin hat er in der Regel einen Leidensweg hinter sich, den die amtlichen Materialien der Entstehungsgeschichte (die Grundlage für die genetische Konkretisierung) nur bruchstückhaft nachzeichnen. Das Setzen solcher Texte ist oft jahrelang, in ideologisch umstrittenen Bereichen auch jahrzehntelang umkämpft, umstritten bis in kleinste Nuancen der Formulierung und ihrer Systematik. Diese Ergebnisse der Gesetzgebung wirken sich aber nur dann tatsächlich aus, wenn die Adressaten und die im Konfliktfall damit befassten Fachjuristen sich durch sie verpflichtet fühlen, sie als demokratische Direktiven praktisch respektieren. Im weitgehenden Befolgen durch die Betroffenen wie im unzweideutig rechts staatlichen

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II. Mikroprozesse: Demokratie im Rahmen des nationalen Rechts?

Handeln der Rechtsarbeiter liegt die einzige Chance dafür, dass die Gesellschaft auch durch demokratisch zu Stande gekommene Impulse mitbestimmt wird. Mehr als eine Chance ist es nicht, sonst bräuchten wir, zum Beispiel, weder Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht noch Implementationsforschung. Den Normtexten droht aber noch mehr als Nichtbeachtung oder Mangel an Professionalität. Denn ihr Setzen rechtfertigt sich nicht nur dadurch, dass die dafür zuständigen Organe die normierten Verfahren eingehalten haben; die Textresultate der Legislative dürfen auch nicht solchen der Verfassunggebung widersprechen. Die in langwierigen Vorgängen „politischer Willensbildung des Volkes" (Art. 21 I 1 GG), besonders aber bürokratischer und parlamentarischer Grabenkämpfe und semantischer Scharmützel mühsam in Geltung gesetzten Normtexte sind bekanntlich zudem in Gefahr, mit gegebenenfalls nur einem Federstrich der Verfassungsjustiz als verfassungswidrig außer Gefecht gesetzt zu werden. Diese Aussage „verfassungswidrig" wirft unter anderem Fragen in zeitlicher Dimension auf. Vorab soll aber daran erinnert werden, wovon dabei die Rede ist. „Verfassungswidrigkeit" verneint die Verfassungsmäßigkeit, aber was bedeutet eigentlich diese? Beide Ausdrücke sind den Juristen aus dem Prozessrecht geläufig, aber nicht immer werden sie begrifflich genauer gefasst. (2) Es ist die Aufgabe der modernen Verfassungen, die rechtliche Gestalt einer Nation zu begründen, zu rechtfertigen, zu limitieren. Daraus ergibt sich ihre wichtigste Eigenschaft: im nationalen Rahmen bilden sie die höchste Normebene, allen anderen Akten des Staates und allen Rechtsbeziehungen in der Gesellschaft im juridischen Rang überlegen. Der demokratische Rechtsstaat gründet sich auf eine Hierarchie der Normen. Auch die Gesetze haben sich dem Code „verfassungsgemäß/verfassungswidrig" zu beugen; und das muss prozessual kontrolliert und sanktioniert werden können. Im deutschen Recht kann das Bundesverfassungsgericht, neben vielem anderen, Grundrechte auch gegen Gesetze schützen; es kann abstrakte und konkrete Normenkontrollen durchführen, also gleichfalls Verfahren über den Bestand legislativ in Kraft gesetzter Normtexte. Die Rede von „verfassungsmäßig / verfassungswidrig" setzt zunächst das Dasein eines Verfassungsstaats voraus. Das Ziel, dass dieser tatsächlich dem Verfassungsrecht gemäß handelt, erfordert ferner im einzelnen die Organisation eines Rechtsstaats. Und im demokratischen Rechtsstaat schließlich ist diese Organisation nicht mehr nur ein System technischer und formaler Art. Verfassungsgemäßheit ist jetzt auch material zu verstehen, soll die Gesellschaft inhaltlich bestimmen. Das führt zu einem doppelten Begriff von „verfassungsgemäß"; und es ergibt sich ein dreistufiges Modell der Theoriekonzepte: Konstitutionalität für die erste, Legalität für die zweite, Legitimität für die dritte Stufe 1.

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Dazu näher F. Müller, Demokratie in der Defensive, 2001, S. 54 ff.

1. Demokratische Legislative vor der Macht der Verfassungsjustiz

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Diese Konzepte können jetzt näher bestimmt werden. Legalität wird oft etwas pejorativ als „bloße" Gesetzmäßigkeit gesehen. Im Dreistufenmodell ist sie eine ausgesprochen positive Aussage - dass nämlich allen vorgeschriebenen Formen und Verfahren korrekt genügt worden ist. Das ist nicht selbstverständlich, sei es aus Gründen mangelnder Legalität oder auch aus inhaltlichen. Denn, drittens, die Legitimität ist der anspruchsvollste Begriff in diesem Zusammenhang. Traditionell wird sie gerne aus überpositiven „Werten", aus „der Rechtsidee" oder dem „Naturrecht" abgeleitet. Im demokratischen Verfassungsstaat ist sie dagegen positivrechtlich. Das neue Modell erlaubt, sie klar zu formulieren: Legitim ist staatliches Handeln, hier: ein Gesetz, dann, wenn (1. Stufe) am Maßstab der Konstitution und (2.Stufe) in legal untadeligen Verfahren schließlich auf der dritten Stufe die Zentralnormen der Verfassung ebenso wie die betroffenen einzelnen Verfassungstexte inhaltlich respektiert worden sind; und wenn über diese Fragen nach wie vor eine offene, freie Diskussion über die Argumente erlaubt bleibt. Das - die Maßstäbe der ersten plus der zweiten plus der dritten Stufe - ist Konstitutionalität im weiteren Sinn. Daneben bleibt der erste Begriff weiterhin verwendbar. Nach der Konstitutionalität im engeren Sinn wird die Verfassung durch tatsächliche Praxis als positiv geltend anerkannt. Alles staatliche Handeln muss an ihr gemessen werden. Auch beispielsweise in Brasilien - als einem Land mit gleichfalls höchst problematischer Verfassungsgeschichte - hat sich seit 1988 das Konzept nach und nach durchgesetzt, dass alle Verfassungsnormen verpflichtend sind; dass nicht die ganze Verfassung oder Teile von ihr „nur symbolisch" oder „nur nominalistisch" seien, wie es die vor- bzw. undemokratische Tradition behauptet hatte2. Darin treffen sich die brasilianische Verfassung von 1988 und das deutsche Grundgesetz von 1949: normative Geltung der ganzen Verfassung und direkte Anwendbarkeit der Grundrechte (Art. 1 bis 3 und Art. 5 § 1 BrasVerf, Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 GG). Deutlichster Ausdruck dafür ist die Tatsache, eine Verfassungsgerichtsbarkeit eingerichtet zu haben, welche diese Normativität kontrolliert 3. Daraus ergibt sich das folgende praktische Schema: (a) „ Verfassungsmäßig im engeren Sinn": Die Verfassung muss für jede praktische Rechtsfrage nicht nur der Idee nach, sondern tatsächlich der operationale Maßstab sein. Das heißt, dass im Einzelfall alle Verfassungsvorschriften, die den Fall sachlich betreffen, vertretbar verarbeitet werden müssen; und nicht nur einige von ihnen, die sich das Gericht herausgesucht hat, während es 2 J. A. da Silva, Aplicabilidade das normas constitucionais, 1982 (2. Auflage), S. 61 ff., 141 ff.; jetzt in 3. Auflage 1998; Μ. Ν eves, Teoria da inconstitucionalidade das leis, 1988; ders., Symbolische Konstitutionalisierung, 1998. 3 So schon Wolf Paul, Das Fortschrittsprofil der neuen Verfassung, in: ders. (Hrsg.), Die Brasilianische Verfassung von 1988, 1989, S. 113 ff.

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II. Mikroprozesse: Demokratie im Rahmen des nationalen Rechts?

andere, gleichfalls einschlägige verschweigt. Wenn ein Gericht eine oder mehrere von ihnen auf solche Art „unter den Tisch fallen" lässt, dann riskiert das Urteil selber unkonstitutionell im engeren Sinn zu sein, schon im ersten Prüfungsschritt seinerseits verfas-sungswidrig. (b) Am Kriterium „ verfassungsmäßig im weiteren Sinn " muss sich jedes Gesetz vom Verfassungsgericht überprüfen lassen: Ist die Konstitution als konkreter Maßstab herangezogen worden (1.Stufe)? Ist das Staatshandeln - ζ. B. das Gesetzgebungsverfahren in seinen sämtlichen Instanzen - legal oder illegal verlaufen (2. Stufe)? Und: ist das Gesetz nach seiner Stellung zum einschlägigen speziellen Verfassungsrecht und zu den Zentralnormen der Konstitution legitim oder nicht? (3.Stufe). Alle drei Prüfungsstadien sind bei der Normenkontrolle zu berücksichtigen, weil diese drei Aspekte gemeinsam das Gelten einer Verfassung im demokratischen Rechtsstaat sicherzustellen haben. (3) So weit zu den begrifflichen Elementen von „verfassungsgemäß / verfassungswidrig"; nun zu den verschiedenen Dimensionen der Nichtigerklärung eines Gesetzes wegen Verfassungswidrigkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat die Prüfungskompetenz für Bundesrecht gegenüber der Bundesverfassung, für Landesrecht gegenüber dem Grundgesetz des Bundes und von Landesrecht gegenüber sonstigem Bundesrecht, also besonders gegenüber Bundesgesetzen. In drei Falltypen können dabei (Bundes- oder Landes-)Gesetze für verfassungswidrig erklärt werden: bei der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 I 2 GG, § 13 Nr. 6, 6 a und §§ 76 ff. BVerfGG ), bei der konkreten Normenkontrolle ( Art. 100 I GG, § 13 Nr. 11, §§ 80 ff. BVerfGG) und schließlich bei der Verfassungsbeschwerde , die sich auch gegen Gesetze richten kann (Art. 93 I 4a, b GG, § 13 Nr. 8 a, §§ 90 ff. BVerfGG). Hier kann kann also ein Einzelner ein Gesetz angreifen; hält das BVerfG es für verfassungswidrig, so wird es mit Gesetzeskraft für nichtig erklärt (§§ 93 c 13, 95 III, 31 II BVerfGG). Die Erklärung der Verfassungswidrigkeit führt auch in den anderen Falltypen zur Erklärung des Gesetzes als nichtig (§ 78 BVerfGG), und diese Entscheidung wirkt ihrerseits wie ein (aufhebendes) Gesetz (§ 31 II BVerfGG). Das ist ein unmittelbarer Eingriff der Justiz in die Legislative, der dritten Gewalt in die erste. Insoweit wird die Zentralnorm der Gewaltenteilung durchbrochen. Der Fall bekräftigt aber die zweite Funktion der Gewaltenteilung, nämlich die gegenseitige Kontrolle der Staatsgewalten. Deren Zweck ist es, die Verfassungsmäßigkeit aller Staatstätigkeit zu sichern - im Dienst der Suprematie und der tatsächlichen Geltung der Verfassung. Dieser Gedanke ist bekanntlich älter als das „system of checks and balances" der US-amerikanischen Bundesverfassung von 1787; so suchte Montesquieu in „De l'esprit des lois" von 1748 das Gleichgewicht der Gewalten und gab als Ziel an, „que le pouvoir arrête le pouvoir".

1. Demokratische Legislative vor der Macht der Verfassungsjustiz

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Die Erklärung der Verfassungswidrigkeit (und Nichtigkeit) bleibt dennoch ein scharfer Eingriff; daher ist das Bundesverfassungsgericht bemüht, sie zu vermeiden. Sie soll gegenüber der demokratischen Legislative die ultima ratio bleiben, so lange ein als verfassungswidrig erscheinendes Gesetz auch noch auf eine andere Weise als verfassungsmäßig interpretiert werden kann. Die verfassungskonforme Interpretation ist sozusagen das Extrem der zeitlichen Dimension, deren Formen hier besprochen werden: die Negation der gerichtlichen Sanktionierung eines Gesetzes4. Der Erklärung der Verfassungswidrigkeit wird eine Zeitdimension gar nicht erst eröffnet, obwohl dies mit rechtsstaatlicher Methodik möglich wäre (denn beide Interpretationen des Gesetzes - als verfassungsmäßig oder als verfassungswidrig - sind voraussetzungsgemäß vertretbar). Diese Form des Respekts vor demokratisch beschlossenen Normtexten wäre durch die US-amerikanische Rechtsfigur des judicial self-restraint nicht ersetzbar. Das Bundesverfassungsgericht spielt gelegentlich auf sie an (ζ. B. als den Verzicht der Justiz, „Politik zu treiben", im Urteil über den deutsch-deutschen Grundlagenvertrag, BVerfGE 36, 1, 14), entwickelt und praktiziert selbst aber wirksamere Formen dieses Respekts. Denn die Frage ist nicht, ob sich die Richter im konkreten Fall zurückhalten möchten, sondern ob entweder Zurückhaltung oder gerichtliches Eingreifen den normativen Anordnungen der Verfassung besser entspricht. Das Gebot verfassungskonformer Konkretisierung wird dem weit besser gerecht, ist auch genauer kontrollierbar. Dem entsprechend hält das Gericht in ständiger Judikatur seit 1953 (BVerfGE 2, 266, 282) „im Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes" für geboten. Gesetze, die demokratisch geschaffen werden, haben sozusagen die Vermutung für sich, die Verfassung korrekt zu konkretisieren bzw. ihr nicht zu widersprechen. Entweder wird bei diesem Verfahren diejenige interpretative Variante gewählt, die mit dem Grundgesetz vereinbar erscheint; oder es kann dieser Einklang mit der höheren Normebene auch dadurch erst hergestellt werden, dass ein mehrdeutiges Gesetz durch Direktiven der Verfassung gleichsam aufgefüllt wird (so ζ. B. in BVerfGE 11,168,190; 41,65, 86; 59, 336, 350 ff.). Auch ernste Zweifel daran, ob das überprüfte Gesetz dem Grundgesetz entspreche, sollen nicht dafür ausreichen, es zu annullieren; das ist nach dieser Judikatur erst bei Evidenz der Verfassungswidrigkeit erlaubt (ζ. B. BVerfGE 9, 167, 174; 12, 281, 296). Schon in seiner Leitentscheidung aus dem Jahr 1953 fügt das Gericht jedoch hinzu, dass „dabei nicht der Gesetzeszweck außer acht gelassen werden darf". Auch das folgt wiederum aus dem schuldigen Respekt vor der Legislative und zeigt damit die Zweischneidigkeit eines die demokratische Hauptfunktion des Staates schonenden Verfahrens, die Gegenläufigkeit der praktischen Ziele. Denn gegen „das gesetzgeberische Ziel" oder gegen „Wortlaut und Sinn" (ζ. B. BVerfGE 8, 28, 34 und 70, 35, 63 f. bzw. BVerfGE 2, 380, 398 oder 63, 131, 147 f.) dürfe dabei nicht entschieden werden. Andernfalls könnte das Gericht durch sein eigenes 4

öfter.

F. Müller/R.

Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl. 2002, Bd. I, S. 104 ff., und

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inhaltliches Gestalten im Weg der Interpretation noch stärker in die Zuständigkeit der Legislative eingreifen als beim Annullieren des Gesetzes; denn im zuletzt genannten Fall kann (und wird zumeist) der Gesetzgeber erneut tätig werden. Vor demselben Hintergrund verbietet es sich die Verfassungsjustiz, Gesetze in Richtung auf größere Zweckmäßigkeit oder „Vernünftigkeit" hin umzuinterpretieren oder der Legislative allgemeine Empfehlungen zu geben (ζ. B. BVerfGE 54, 11, 26 und 7, 377, 442). Die Achtung vor der Gewaltenteilung, und hier besonders vor deren demokratischem Gehalt, verpflichtet die Justiz dazu, „von der Absicht des Gesetzgebers das Maximum dessen aufrechtzuerhalten, was nach der Verfassung aufrechterhalten werden (kann)" (so seit BVerfGE 8, 28, 34 - dort auch die im Text folgende Wendung). Auch nicht nur „in einem wesentlichen Punkt" dürfe verfassungskonforme Auslegung „das gesetzgeberische Ziel verfehlen oder verfälschen". Deshalb kann es, je nach Sachstand, auch genügen, dass „lediglich die durch eine bestimmte Auslegung konkretisierte Normvariante" und nicht die Vorschrift insgesamt für nichtig erklärt wird (diese Formel in BVerfGE 40, 88, 93). Hinter den Redeweisen vom „Zweck", vom „Ziel", vom „wesentlichen Punkt" des zu prüfenden Gesetzes lauert - aus der praktischen Situation des Gerichts in solchen Fällen verständlich - die Falle namens „Eindeutigkeit": der Richter dürfe „einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht durch ,verfassungskonforme Auslegung' einen entgegengesetzten Sinn geben" (seit BVerfGE 8,28,33). Dies oder der „aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte eindeutig zu folgernde Wille des Gesetzes" ist allenfalls in seltenen Grenzfällen zu haben; nicht einmal die Ja/Nein- Struktur eines Normtextsatzes garantiert dergleichen. Denn es sind ζ. B. gemäß Art. 38 12 GG die Bundestagsabgeordneten „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden", die das „nicht" umgebenden Ausdrücke bleiben aber interpretationsbedürftig. Oder es darf nach Art. 19 II GG ein Grundrecht „in keinem Falle ... in seinem Wesensgehalt angetastet werden" - was aber heißt „Wesensgehalt" oder „angetastet"? Die Diskurse darüber sind nicht still zu stellen, ihre Ergebnisse also konstitutionell un-eindeutig. Für Eindeutigkeit braucht man Normtexte, die rein gar nichts als Fristen oder besser noch explizite Termine angeben - also seltene Grenzfälle und gerade nicht die Typen von Normtexten, die Juristen täglich in Atem und die Rechtsordnung in Bewegung halten. Im ganz überwiegenden Normalfall, mit den Worten des Gerichts „im Zweifel", somit bei mehr als nur einer vertretbaren „Normvariante", ist das Verfahren verfassungskonformer Konkretisierung also nicht nur erlaubt, sondern rechtsstaatlich-demokratische Pflicht. Es ist dies ein weiteres Beispiel für das Hineinwirken methodenbezogener und -relevanter Rechtsstaats- und Demokratienormen in die methodischen Arbeitsweisen der Praxis 5. Es bietet auch ein gutes Beispiel für Virtualität im Recht, wie sie hier in diesem Buch noch entwickelt werden wird: Geset5 Entwickelt ebd., durchgehend. Weiter entfaltet bei R. Christensen/H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, v.a. S. 286 ff. - Zur dreifachen Virtualität im Recht: F. Müller/R. Christensen, a. a. O., S. 432 ff.

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zes„zweck", -„sinn", -„ziel", „Wille des Gesetzes" stehen nicht in diesem, sind nicht sein Inhalt, sind dem Normtext nicht inkorporiert. Sie sind bereits Ergebnisse von Konkretisierungen, nicht ein ruhender Pol oder fester Ausgangspunkt. In einem zweiten Sinn sind sie deshalb nur virtuell, weil sie kein reines Sollen ausdrücken (was Termini wie Zweck, Sinn, Ziel oder Wille suggerieren könnten), sondern - zumal als bereits konkretisierte - auch Seinselemente umfassen; in den Anfängen der Entscheidungsarbeit solche des Sach- und Fallbereichs, beim Formulieren der allgemeinen Rechtsnorm dann die des Normbereichs. Die dritte Spielart von Virtualität betrifft die Unterstellung von Eindeutigkeit und verweist diese aus dem Feld der den Juristen weit überwiegend gestellten Aufgaben ins Reich der liebgewordenen Illusionen. Sinn, Ziel, Zweck und Wille des Gesetzes sind, mit anderen Worten, nicht ein vorsprachlich gegebenes Etwas, das anschließend „nur noch sprachlich ausgedrückt werden" müsste. Sie treten auch als „erst einmal nur gedachte, vorgestellte" Daten bereits als Sprache auf. Zu Normtexten gemacht, sind sie dann Texte, die (so lange sie in Kraft sind) in nicht abschließbare und vorab nicht fixierbare Semantisierungsprozesse hineingezogen werden. Wäre das anders, hätten sie keine praktische Funktion. Somit bestehen sowohl die schützenden Instrumente (hier: das Verfahren verfassungskonformen Interpretierens) als auch die bedrohlichen Faktoren (möglicherweise grundgesetzwidrige Gesetze) und das zu Schützende (die betroffenen Vorschriften der Verfassung) aus demselben Material, eben aus Sprache. Begrenzungsformeln der besprochenen Art (gegen den eindeutigen Willen oder Zweck des Gesetzes dürfe nicht verfassungskonform interpretiert werden) sind gegenstandslos. Ins Realistische gewendet, würden sie besser lauten: Der erörterte Grundsatz stellt weder eine extravagante „Methode" dar, noch erlaubt er solche. Die (mindestens zwei) nebeneinander vertretbaren Deutungsvarianten des fraglichen Gesetzes wurden mit den normalen methodischen Mitteln entwickelt. Auch die zugleich als Kontroll- wie als Sachnormen heranzuziehenden Vorschriften der Verfassung sind ihrerseits normal zu konkretisieren. Die Verfassungskonformität sichernde Operation ist nicht ein eigenständiges, ein zusätzliches Arbeitselement. Sie erscheint als Vorzugsregel, um zwischen (mit den üblichen Vorgehensweisen erarbeiteten) alternativen Ergebnissen zu entscheiden. Tadelfreie verfassungskonforme Gesetzesauslegung bewegt sich somit genau in dem normalen Spielraum der Verfassungsjustiz, in dem dieser auch sonst funktionell zugewiesenen Rahmen; und die Grenzen des Verfahrens sind nicht methodeninterne, sondern ergeben sich, wie so oft, aus dem geltenden Recht: Gewaltenteilung, Zuweisung von Kompetenzen, hier vor dem bedeutsamen Hintergrund des demokratischen Zustandekommens der zu überprüfenden Normtexte. Das Gericht hat also auch hier, wie stets, methodisch vertretbar zu argumentieren und einsehbar zu begründen. Und so weit es in der mit natürlicher (Rechts-)Sprache verknüpften Virtualität überhaupt möglich ist, respektiert es dabei die Rolle des demokratisch legitimierten Gesetzgebers mit dankenswert differenziert entwickelten Strategien.

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(4) Die verfassungskonforme Interpretation ist eine besonders wichtige, aber nicht die einzige Figur, mit der die Judikatur Eingriffe in die Ergebnisse der Legislative herabzustufen sucht. Wenn die Verfassungswidrigkeit als unbezweifelbar erscheint, das Gericht aber die Folgen der Nichtigerklärung mildern will, hat es einige Zwischenlösungen entwickelt: den Ausspruch, die Rechtslage sei „nur verfassungswidrig" (ohne Nichtigerklärung); den Schluss, es sei nur ein Teil des Gesetzes nichtig; die Setzung von Übergangsfristen und den Appell an den Gesetzgeber, die Rechtslage innerhalb dieser Frist konstitutionell zu machen6. Das kann mit dem Feststellen der Verfassungswidrigkeit einhergehen oder - im Fall von Verfassungsbeschwerden - mit folgender Strategie: Die Beschwerde wird zurückgewiesen, der beschwerdeführende Bürger also enttäuscht; das Gericht führt aus, es könne „jedenfalls zur Zeit weder das Gesetz für nichtig erklärt noch eine Grundrechtsverletzung festgestellt werden" (so ζ. B. BVerfGE 21, 12, 39). Doch wird dem Gesetzgeber, im selben Atemzug, die dringliche Pflicht auferlegt, die Gesetzeslage mit der Verfassung in Einklang zu bringen. Nach der mittelbar durchaus erkennbaren Ansicht des Gerichts ist diese Lage materiell verfassungswidrig; das wird aber im Moment nicht formalisiert. Der Verfassungsverstoß wird sozusagen noch im Zustand der Virtualität gehalten. Im anderen Falltypus, der mit der „Feststellung" einhergeht, wird der Erklärung der Verfassungswidrigkeit zwar eine Zeitdimension eröffnet - aber nur für die Zukunft (falls der Gesetzgeber nicht reagieren wird) beziehungsweise nur vorübergehend (falls die Legislative entsprechend reagiert). Das ist eine interessante Variante. Vorläufig (bis zur Behebung des Mangels durch den Gesetzgeber) verstößt das Gesetz zwar gegen das Grundgesetz; doch soll das - ebenfalls vorläufig - noch keine Folgen haben, weil der Legislative die Chance der Wiedergutmachung eingeräumt wird. Das erinnert an so etwas wie eine Strafe auf Bewährung unter Auflagen. Verfassungspolitisch betrachtet, kann das recht sinnvoll sein: nämlich angesichts der erheblichen Komplexität heutiger Gesetzgebung sozusagen eine Arbeitsteilung zwischen dieser und der Verfassungsjustiz zu installieren, um die Verfassungslage wieder in Ordnung zu bringen, ohne in der Zwischenzeit unverhältnismäßig schwerwiegende Nebenfolgen einer Nichtigerklärung hervorzurufen. Dazu kommt wiederum der Respekt der Verfassungsjustiz vor den Organen der Gesetzgebung,

6 Vgl. zu dieser Praxis etwa A. Gerontas, Die Appellentscheidungen, Sondervotumsappelle und die bloße Unvereinbarkeitsfeststellung als Ausdruck der funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: DVB1. 1982, S. 486 ff.; M. Schulte, Appellentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: DVB1. 1988, S. 1200 ff.; Benda/ Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozessrechts, 1991, S. 529 ff. - Im Verlauf der 90er Jahre ist das Bundesverfassungsgericht, besonders im Abgabenrecht, immer häufiger dazu übergegangen, nur die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz festzustellen und dem Gesetzgeber eine „Pro-futuro-Reform" aufzugeben, statt das verfassungswidrige Gesetz gemäß § 78 BVerfGG für nichtig zu erklären; zu den damit einhergehenden verfassungsrechtlichen Bedenken vgl. Seer, Die Unvereinbarkeitserklärung des BVerfG am Beispiel seiner Rechtsprechung zum Abgabenrecht, in: NJW 1996, S. 284 ff.

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die immerhin das als souverän vorgestellte Volk vertreten; also der cantus firmus der funktionellen Zurückhaltung der dritten gegenüber der ersten Staatsgewalt. Die Abwägung der vorhersehbaren Folgen und Nebenfolgen steht dagegen bei der Figur „bloße Feststellung des Verfassungsverstoßes" im Vordergrund. Anders wäre es auch nicht zu rechtfertigen, dass die klaren Anordnungen des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen umgangen werden: kommt das Gericht zum Ergebnis der Unvereinbarkeit der fraglichen Vorschriften mit höherrangigem Recht, „so erklärt es das Gesetz für nichtig" (§ 78 BVerfGG) - im deutschen Fachsprachgebrauch steht die indikativische Wendung bekanntlich für eine Muss-Vorschrift. Sprachlich noch deutlicher, aber dogmatisch auf derselben Ebene, statuiert § 95 III BVerfGG: „Wird der Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz stattgegeben, so ist das Gesetz für nichtig zu erklären". Das Gericht belässt es beim bloßen Feststellen des Verfassungsverstoßes, wenn die Nichtigerklärung zu einem Zustand führen könnte, „welcher der verfassungsmäßigen Ordnung noch weniger entsprechen würde" als jener, der mit der Beschwerde angegriffen worden war (so seit BVerfGE 8, 19) - wenn es sich beispielsweise um Besoldungsregelungen oder um Gesetze über die Organisation öffentlich-rechtlicher Körperschaften handelt und auch eine bloße Teilnichtigerklärung kein erträgliches Ergebnis verspricht. (5) Aufschlussreich sind nicht nur die Folgen der Entscheidung über die Annullierung eines Gesetzes, sondern auch ihre zeitlichen Dimensionen: nur Vergangenheit - nur Zukunft - oder Vergangenheit und Zukunft; sowie noch die Gestaltungen: endgültig oder nur vorläufig und: bereits aktual oder erst noch nur virtuell. In Deutschland sind die Folgerungen aus einer solchen Entscheidung nicht in der Verfassung, wohl aber in § 79 BVerfGG geregelt, der für alle Arten der Verfassungswidrigerklärung von Gesetzen gilt - abstrakte und konkrete Normenkontrolle sowie Verfassungsbeschwerde (vgl. §§ 79, 821, 95 III 3 BVerfGG). Meint das Gericht, das geprüfte Gesetz verstoße gegen höherrangiges Recht, so erklärt es die Norm für nichtig (§ 78 S. 1 BVerfGG). Diese Entscheidung hat Gesetzeskraft und wirkt im Prinzip rückwirkend (ex tunc): alle Gerichtsurteile, Rechtsverordnungen und Verwaltungsakte, die in der Vergangenheit auf der Basis der nichtigen Norm ergangen sind, haben jetzt keine Rechtsgrundlage mehr. Dasselbe gilt für Wahlen, die auf Grund eines später sanktionierten Wahlgesetzes ergangen sind7. Nur heißt das nicht, diese Rechtsakte würden nachträglich ungültig. Was mit ihnen zu geschehen hat, richtet sich nach dem Prozess- bzw. Verfahrensrecht der betroffenen Rechtsmaterie. Wenn im Übrigen niemand Klage oder einen sonstigen Rechtsbehelf ergreift, bleiben sie bestehen. § 79 hat aber besonders wichtige Materien unmittelbar geregelt: gegen rechtskräftige Strafurteile, die auf einer später für verfassungswidrig oder nichtig erklärten Norm beruhen, ist die 7 Dazu mit Nachweisen: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995 (20. Auflage), Randnummer 688.

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Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig. Nicht mehr angreifbare Entscheidungen in den sonstigen Rechtsgebieten bleiben aber „unberührt", können also nicht mehr beseitigt werden. Wenn aus ihnen - ζ. B. im Zivilrecht - noch nicht vollstreckt worden ist, dann darf es ab jetzt nicht mehr geschehen. Und falls in der Vergangenheit bereits aus ihnen vollstreckt wurde, kann diese Leistung nicht mehr zurückgefordert werden (sind „Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung ... ausgeschlossen", § 79 I I 4). In diesen Fällen wird die Zeitdimension der Vergangenheit sozusagen stillgestellt, gegenüber der Zukunft blockiert. Eine Ausnahme - die fakultative Eröffnung der Zukunftsdimension - gilt nur für das Strafrecht. Der Grund ist einleuchtend, weil durch dieses besonders scharf in die persönlichen Verhältnisse eingegriffen wird und weil mit der Strafe ein Unwerturteil über menschliches Verhalten verbunden ist - aber eben auf Grund einer jetzt als verfassungswidrig erklärten Norm. § 79 hatte den Konflikt zwischen der Gerechtigkeit im Einzelfall und der objektiven Rechtssicherheit zu lösen - in einer Konstellation, die verschiedene Zeitdimensionen umspannt; mit anderen Worten, in einem klassischen Fall von intertemporalem Recht. In den genannten Fällen - Blockierung der Vergangenheit gegenüber der Zukunft - hat sich § 79 für die Rechtssicherheit entschieden und ist dafür vom Bundesverfassungsgericht gelobt worden. Dieses hat dem § 79 sogar einen „allgemeinen Rechtsgrundsatz" entnommen; dahin gehend, „dass eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der eine Vorschrift für nichtig erklärt wird, grundsätzlich keine Auswirkung auf abgewickelte Rechtsbeziehungen haben soll, von der Ausnahme eines rechtskräftigen Strafurteils abgesehen"8. Aufschlussreich ist eine grundsätzliche Diskrepanz, die sich im Hintergrund dieser Regelungen abzeichnet. Zwar wird gesagt, dass die Entscheidung, gleichsam ihrem Wesen nach, ex tunc wirke. Sieht man näher zu, so ergibt sich, dass für alle in der Vergangenheit abgeschlossenen Rechtsverfahren (außer den strafrechtlichen) das Gegenteil gelten soll. Die Frage: rückwirkend oder nicht rückwirkend? ist offenbar nicht einheitlich zu beantworten. Unsere zeitlichen Dimensionen verlieren ihren vorgeblich soliden Charakter - was ja auch anderswo beobachtet werden kann. Das erinnert an den grundsätzlichen Streit über die Zeitdimension der Erklärung einer Verfassungswidrigkeit bzw. Nichtigkeit von Gesetzen. In der deutschen Tradition, und nicht nur hier, wird diese Frage meist so formuliert: Ist die Erklärung der Verfassungswidrigkeit ein konstitutiver Rechtsakt oder nur ein deklaratorischer? Anders gefragt: war das Gesetz, sozusagen ontologisch qualifiziert, immer schon verfassungswidrig gewesen; oder wird es, bloß juristisch-pragmatisch gesehen, erst jetzt durch die Entscheidung zu einem unkonstitutionellen?

8 BVerfGE 32, 389 (389); vgl. auch schon BVerfGE 11, 263 (265); 20, 230 (235 ff.); 37, 217 (262 f.); 53, 115 (130 f.) und ständige Rechtsprechung.

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In Deutschland sagt die herrschende Lehre, das Urteil sei nur deklaratorisch; es spreche aus, was das Gesetz immer schon gewesen sei. Diese Auffassung ist traditionell, sie ergibt sich nicht aus dem positiven Recht. Die deklaratorische Lehre der Gerichtsentscheidungen wurde im England des 17. und 18. Jahrhunderts von Haie und Blackstone entwickelt. In England hat sie sich nicht halten können; heute herrscht dort die Auffassung, solche Gerichtsentscheidungen seien konstitutiv. Der deutsche Mainstream ist noch nicht so weit, erscheint auch in Bezug auf avanciertere Rechtstheorie und Methodik als veraltet. Diese haben zeigen können9, dass überhaupt keine Entscheidung eines Gerichts rein deklaratorisch ist; aber dieser weitere Zusammenhang ist hier nicht das Thema. Die in Deutschland noch tonangebende Ansicht geht also davon aus, die Zeitdimension einer Erklärung der Verfassungswidrigkeit reiche notwendig in die Vergangenheit zurück. Das Hauptargument hiergegen ergibt sich aus dem geltenden Recht: vor der Entscheidung des Verfassungsgerichts kann sich niemand darauf berufen, ein Gesetz verstoße gegen das Grundgesetz. Das darf kein Einzelner, keine Vereinigung oder Partei, keine Firma; nicht einmal ein Gericht darf es: „Hält ein Gericht ein Gesetz ... für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und ... die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen" (Art. 100 I 1 GG). Rechtlich gesehen, ist die Entscheidung also konstitutiv; erst ab ihr gilt eine Norm als unkonstitutionell und dürfen daraus Konsequenzen gezogen werden. Es ist eine andere Frage, was aus der Nichtigerklärung folgen soll. Die legislatorische Antwort darauf (§§ 78, 79 BVerfGG) ergibt ein gemischtes Bild. Je nach Rechtsmaterie und Verfahrensstand werden verschiedene Folgen angeordnet: keine Rückwirkung außerhalb des Strafrechts bei abgeschlossenen Verfahren; differenzierte Regelungen einzelner Bereiche ζ. B. im Bürgerlichen Gesetzbuch bzw. der Zivilprozessordnung. Rückwirkung dagegen im Strafrecht - aber auch hier wird das rechtskräftige Urteil nicht automatisch nichtig, wie es bei einer „nur deklaratorischen" Entscheidung doch zu erwarten wäre. Das alte Verfahren muss auch nicht neu aufgerollt werden; es ist nur „die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozessordnung zulässig" (§ 79 I BVerfGG). Die Frage „Rückwirkung oder nicht" steht damit sogar zur Disposition der betroffenen Prozessbeteiligten. Es leuchtet nicht ein, dass das Urteil der Verfassungsjustiz einmal „konstitutiv" und ein anderes Mal „nur deklaratorisch" sei, so lange die Tradition die Frage so abstrakt stellt: entweder das eine oder das andere. Die herrschende Meinung scheitert dann mit ihrer Position am geltenden Recht. Die Frage als abstrakte ist vom Zuschnitt her eher metaphysisch; in der Rechtswissenschaft zeigt es sich, jedenfalls für Deutschland: die Entscheidung, die ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, ist konstitutiv. Der Denkfehler der alten Schule liegt darin, beide Fragen 9 F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1994 (2. Auflage); ders./R. Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl. 2002, Bd. I, durchgehend, mit zahlreichen Nachweisen aus Praxis und Literatur.

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nicht ausreichend zu unterscheiden. Denn es liegt in der politischen Freiheit und Verantwortung der Legislative, die folgenden Probleme anzupacken: zu prognostizieren und zu bewerten, welche Folgen das Urteil in der gesellschaftlichen Wirklichkeit haben kann und wird; und dann zu entscheiden, welche dieser Konsequenzen hingenommen werden können und welche vermieden werden sollten. Der Gesetzgeber könnte davon ausgehen, das Verfassungsgerichtsurteil sei nur deklaratorisch, und trotzdem für einzelne Materien oder Falltypen Ausnahmen machen und die Wirkung erst für die Zukunft einsetzen lassen. Oder er kann die Erklärung eines Gesetzes als verfassungswidrig für konstitutiv halten, und dennoch für einzelne Konstellationen die Wirkung in die Vergangenheit reichen lassen, wie etwa für das Strafrecht. Wie immer bei pragmatischen Fragestellungen macht die Legislative von ihrer Gestaltungsfreiheit Gebrauch, und es ergibt sich ein gemischtes Bild. (Pseudo-) Metaphysische Problemstellungen tendieren dagegen zum „Entweder - oder". Übrigens behandelt auch im supranationalen Recht der Europäischen Gemeinschaften der Europäische Gerichtshof seine eigene Judikatur als konstitutiv 10 . Hier ist für das nationale Recht gezeigt worden, was das bedeutet: Die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen erzeugt einen neuen rechtlichen Tatbestand für Gegenwart und Zukunft; die praktischen Folgerungen im einzelnen können so oder auch anders geregelt werden, natürlich auch für die Vergangenheit. (6) Die genannte Fallgruppe der Appellentscheidungen bestätigt diesen Befund. Bei ihnen appelliert das Verfassungsgericht an den Gesetzgeber, eine unkonstitutionelle Rechtslage zu bereinigen, sie der Verfassung gemäß zu ändern. Normalerweise hätte die Justiz die fragliche Norm für nichtig erklärt. Hier aber wird die Verfassungswidrigkeit als „objektiver" Tatbestand zunächst einmal nur „festgestellt" und fürs erste noch geduldet. Daraus folgen dann Klauseln wie: diese Rechtslage " ist... nur noch bis ... hinzunehmen" ( mit Datierung auf ein Jahr oder das Ende einer bestimmten Frist) bzw. „ist bis spätestens zum Ende der laufenden Legislaturperiode verfassungsgemäß zu ändern" 11 - wie gesagt, eine von Fall zu Fall sinnvolle Form der Arbeitsteilung zwischen Justiz und Normsetzung in einer hochkomplexen Gesellschaft. Das Gericht kann dabei auch seine Grenzen überschreiten, wie 1997 im Fall der „Überhangmandate" (also zusätzlicher Direktmandate, die eine Partei bei Wahlen über ihren verhältnismäßigen Stimmanteil hinaus behalten darf). Dabei stellte sich heraus, dass sich wegen der Bevölkerungsentwicklung die 10 Dazu B. Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: B. Feldner/N. Forgo (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 289 ff. h Zu diesem Problem siehe ζ. B. BVerfGE 33, 303 (347 f.); 34, 9 (43 f.); 45, 376 (377); 82, 126 (154 ff.); 87, 114 (135 ff.); 91, 389 (404 f.). - Ferner ζ. B. Chr. Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, 1977; J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980.

1. Demokratische Legislative vor der Macht der Verfassungsjustiz

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Zahl der Wahlkreise im Verhältnis der Bundesländer nunmehr so ungleich gestaltete , dass die fraglichen Vorschriften des Wahlgesetzes inzwischen „verfassungswidrig geworden" waren 12 - so das Ergebnis der abweichenden vier Richter. Die vier anderen Mitglieder des Senats mussten ebenfalls eingestehen: „Die Größe der gegenwärtigen Wahlkreise ist deutlich ungleich; ihre Zahl in den einzelnen Ländern entspricht nicht mehr hinreichend deren Bevölkerungsanteil". Dennoch wollten diese Richter die klare Verfassungswidrigkeit nicht sanktionieren. Nach ihrer Behauptung genügte es, dass der Gesetzgeber die Frage für die übernächste Bundestagswahl im Jahr 2002 korrekt regeln könne 13 . In der Demokratie sind Wahlen das politisch wichtigste regelmäßige Ereignis; und sie müssen rechtmäßig durchgeführt werden. Das Gericht nahm es hier also in Kauf, dass die nächsten Wahlen auf verfassungswidriger Basis stattfanden. Das war zu viel an politischem Pragmatismus und erscheint als selber verfassungswidrig. Für das Thema der zeitlichen Abstufung ist dieser Typus von Entscheidung sehr bemerkenswert. Dass ein solches Urteil nichts anderes als konstitutiv sein kann, springt dabei in die Augen. Mehr noch, es ist voluntaristisch. Es wird ein zukünftiger Zeitraum („von der Gegenwart bis zum Zeitpunkt X") artifiziell erzeugt, für den gelten soll: die Verfassungswidrigkeit ist nur vorübergehender Natur, sie ist vorläufig hinzunehmen. Sie wird mit der grundgesetzkonformen Regelung durch den Gesetzgeber in zwei, drei Jahren oder am Ende der Legislaturperiode enden. Kommen die Legislativorgane diesem Appell des Gerichts nicht nach, so tritt dann die Verfassungswidrigkeit endgültig ein. Bei dieser extravaganten Figur der Rechtsprechung treten also noch zwei intertemporale Besonderheiten auf. Die endgültige Wirkung der Erklärung für verfassungswidrig wird aufgeschoben. Und aus der vorläufigen Erklärung der Verfassungswidrigkeit dürfen noch keine praktischen Folgerungen gezogen werden. Man kann auch sagen, diese Verfassungswidrigkeit ist - vorläufig - nur virtuell. Auf diese Art erweitern sich die zeitlichen Dimensionen dieser Art von Entscheidung noch in den Bereich der Virtualität hinein 14 . Dabei kann das Gericht deren Dauer und den späteren Umschlag in Aktualität selber konkret bestimmen und nicht nur abstrakt bezeichnen. Noch eine Fallgruppe ist für das Thema der zeitlichen Dimensionierung aufschlussreich; auch sie wurde durch die Rechtsprechung entwickelt. Sie betrifft die Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze. Anders als gegen Verwaltungsakte oder gegen Urteile der unteren und mittleren Instanzen gibt es hier keinen „Rechtsweg"; die Beschwerde kann eigentlich sofort nach Inkrafttreten des Gesetzes erhoben werden (§ 93 III BVerfGG).

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Bundesverfassungsgericht in: Neue Juristische Wochenschrift 1997, S. 1553 ff., 1558 ff. 13 Ebd., S. 1557. 14 Zu dieser: F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, 8. Auflage 2002, Bd. I, S. 342 ff. und der Abschnitt „Demokratierechtliche Normtexte in der »Virtualität' des Rechts" im vorliegenden Band. 3 F. Müller

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II. Mikroprozesse: Demokratie im Rahmen des nationalen Rechts?

Nun hat die Judikatur neuerdings gelegentlich15 hervorgehoben, über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm solle besser erst dann entschieden werden, wenn anhand mindestens eines entschiedenen Falls feststehe, ob und in welchem Ausmaß ein Bürger durch sie betroffen werde. Das soll vor allem, aber nicht nur dann gelten, wenn das Gesetz einen Auslegungsspielraum offen lässt; im Übrigen ist das praktisch immer gegeben. Das Gericht möchte also nicht nur den Wortlaut im Gesetz überprüfen, den Normtext; sondern abwarten, bis zumindest eine erste Entscheidung mit ihm (und den übrigen Konkretisierungselementen) gearbeitet und die dabei entwickelte Rechtsnorm auf den realen Rechtsfall umgesetzt hat. Diese neuere Spruchpraxis ist rechtstheoretisch bemerkenswert. Sie geht - implizit - zu Recht davon aus, dass eine Gerichtsentscheidung unausweichlich konstitutiv ist; und dass der bloße Wortlaut einer noch nicht im Fall durchgearbeiteten neuen Vorschrift noch nicht das geeignete normative Prüfungsobjekt darstellt. Auch hier wird artifiziell in die Zukunft hinein eine neue Zeitdimension eröffnet - da nach dem Gesetz die Verfassungsbeschwerde sofort zulässig wäre. Auf eine andere Art als in der vorherigen Fallgruppe wird dabei nicht die Verfassungswidrigkeit virtuell gemacht, sondern bereits die Frage, ob die Norm gegen das Grundgesetz verstoße oder nicht. Hier virtualisiert das Gericht sozusagen seine eigene Entscheidung, indem es sie vorerst noch aufschiebt. Allerdings kann es hier den zukünftigen Zeitpunkt nicht, wie bei den Appelljudikaten, selbst bestimmen. Der Zeitpunkt X ist nur abstrakt umschreibbar: er ist der Moment, in dem (mindestens) das erste Gericht sein Urteil über ein Gesetz ausgesprochen hat, das dann später vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig (und gegebenenfalls nichtig) erklärt werden wird - oder auch nicht. Dieses „oder auch nicht" kann somit folgende Gründe haben: Das Gericht hält die geprüfte Vorschrift für mit dem Grundgesetz vereinbar. Oder es kommt zu dem gegenteiligen Ergebnis, interpretiert sie jedoch verfassungskonform. Oder es erklärt sie nur für mit der Konstitution unvereinbar, ohne sie zu annullieren 16. Oder 15 Vgl. Bundesverfassungsgericht in: Neue Verwaltungsrechtszeitschrift 1998, S. 1286. Dazu F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl. 2002, Bd. I, S. 71 ff. 16 So die Judikatur seit ζ. B. BVerfGE 33,303 (347 f.); 34, 9 (43 f.); Erläuterung der Auswirkungen in BVerfGE 87, 114 (135 ff.). Vgl. ferner ζ. Β. H. Maurer, Zur Verfassungswidrigkeitserklärung von Gesetzen, in: Im Dienst an Recht und Staat, Festschrift für W. Weber, 1974, S. 345 ff. - Vor allem im Sozial- und im Abgabenrecht hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen ein noch stärker differenziertes Arsenal von Abstufungen ersonnen, um die Nichtigerklärung zu umgehen. Vgl. dazu für das Abgabenrecht: Seer, a. a. O. (Anm. 6), S. 290: es sei inzwischen nicht mehr verlässlich abzuschätzen, „ob das BVerfG auf die Verfassungswidrigkeit einer Gesetzesnorm in Gestalt einer Nichtigkeitserklärung, einer Unvereinbarkeitserklärung mit Ex-tunc- oder Ex-nunc- Reformpflicht, einer Unvereinbarkeitserklärung mit oder ohne Fristsetzung bzw. mit oder ohne Übergangsregelung oder einer Appellentscheidung mit oder ohne Fristsetzung reagiert". - Durch den Unterschied zwischen Ex-nuncund Ex-tunc-Reformpflicht des Gesetzgebers, an den das Gericht „appelliert", ergibt sich noch eine weitere Eröffnung und Abstufung der zu beobachtenden Zeitdimensionen. - Dabei

2. Demokratierechtliche Normtexte in der „Virtualität" des Rechts

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die Verfassungsjustiz entschließt sich, den Verstoß gegen höherrangiges Recht für eine Übergangszeit vorläufig hinzunehmen, und setzt eine Frist, die der Legislative eine Art zweiter Chance einräumt. Oder sie wartet schließlich mit einem Verdikt ab, bis zu dem fraglichen Gesetz zumindest ein praktischer Fall entschieden worden ist. Durch die demokratisch vermittelte Wahl der Verfassungsrichter (Art. 94 GG, §§ 2 ff. BVerfGG) ist die Verfassungsjustiz in Deutschland in dieser Richtung stärker legitimiert als in Ländern, die wie die USA oder nach deren Vorbild (ζ. B. Brasilien) die Auswahl der Richter weithin der Exekutive überlassen. Und zusätzlich haben in der Praxis des Gerichts die hier erörterten Abweichungen von der rigorosen Konsequenz „Verfassungswidrigkeit —> Nichtigkeit" (neben der wichtigen Rücksicht auf schwerwiegende Nebenfolgen) die Wirkung einer fach-internen Demokratisierung; haben sie vor allem den Sinn, den Gesetzgeber zu schonen; die hinter den angegriffenen Normtexten stehenden Vorgänge demokratischer „Willensbildung des Volkes" möglichst weitgehend zu respektieren - wie vielfach bis zur Unkenntlichkeit vermittelt und institutionell gebrochen diese in der Wirklichkeit heutiger Parteien- und Interessendemokratie auch sein mögen.

2. Demokratierechtliche Normtexte in der „Virtualität" des Rechts (1) Demokratie ist eine riskante Staatsform. Die ihr innewohnende Dynamik ist mit dem Beiwort „politisch-existenziell" nicht übertrieben benannt; sie gab sich zuerst bei Rousseau zu erkennen. Die Ergebnisse ihrer Mehrheitsbildung sind, sich selbst überlassen, nicht kontrollierbar. Aristoteles' Typisierung nach Volksherrschaft und Pöbelherrschaft, die panische Furcht der nordamerikanischen Gründerväter vor einer Übermacht des „man in the street" oder bemühte Unterscheidungen zwischen Demokratie und Populismus unterstreichen nur, ohne es zu lösen, das beständige Problem. Verfassungen bieten, wenn sie sich auf das Normieren demokratischer Einrichtungen und Verfahren beschränken, keine politische Lebensversicherung4 für das Fortbestehen demokratischer Freiheit. Konstitutionen von Ländern, die Erfahrungen mit entgleistem Populismus gesammelt, die Geschichtsabschnitte mit zunächst formaldemokratisch an die Macht gekommenen autoritären, diktatorischen oder totalitären' Regimen hinter sich gebracht haben, bauen häufiger demokratie-externe Sicherungen ein, um die immanente Dynamik abzubremsen (Aberkennung von Grundrechten, Parteiverbote, Sperrklauseln) oder einzuhegen (materiale Grenzen der Verfassungsänderung wie ist dieser erste Falltypus der bloßen „Pro-futuro- Verpflichtung" (die künftige Gesetzesreform muss nur ex nunc wirksam werden) verfassungsrechtlich nicht mehr vertretbar. Denn in ihm „wird ein verfassungswidriger Zustand für die Vergangenheit sanktionslos hingenommen und ein effektiver Grundrechtsschutz vereitelt", ebd. Eine verfassungswidrige Zeitspanne wird dabei als solche unrepariert belassen, wird in der Vergangenheit blockiert. 3*

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II. Mikroprozesse: Demokratie im Rahmen des nationalen Rechts?

in Italien, Deutschland, Brasilien ). „Extern" sind solche Begrenzungen wegen ihrer Abkunft vom Rechtsstaat und seiner Normenhierarchie und dank ihrer Kontrolle durch spezifische Verfassungsgerichte oder durch Supreme Courts. Die so genannte streitbare Demokratie streitet also gegen die Gefahr, kraft Entscheidungen der Mehrheit in undemokratisches Fahrwasser zu geraten. Sie könnte sich, gälte diese Referenz als koscher, auf Antoine Saint-Justs zweischneidiges Diktum „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!" berufen. All das bleibt im Bereich des Politischen und des Versuchs, dessen Risiken durch rechtsstaatliche Vorsorge zu vermindern. Grundsätzlicher, im Wortsinn radikaler wird das Verwirklichen angeordneter Demokratie durch die Bedingtheiten der Sprachlichkeit der Normtexte in Frage gestellt: hier derjenigen, die demokratische Institutionen schaffen und demokratische Prozeduren anordnen sowie der in der Folge demokratisch gesetzten. Die Verfassungsartikel, die etwa im deutsche Grundgesetz Demokratie begründen (wie z. B. Art. 20, 21, 38 ff.) und die Vorschriften, die sie auf der Ebene der Legislative dann weiter ausarbeiten (z. B. Parteiengesetz, Wahlgesetze), sind nichts als Normtexte, sind - wie alle anderen Normtexte auch - noch nicht Rechts- und Entscheidungsnormen. Zwischen beide Textstufen schieben sich unbestimmbar viele reale Vorgänge der Konkretisierung durch die Justiz und durch andere Instanzen vorbereitender (wissenschaftliche Texte, praktische Gutachten, forensische Plädoyers) oder entscheidender Kompetenzausübung (Exekutive). (Auch) Demokratie ist letztlich nur auf Texte gestützt, ist den Wellenschlägen der Textualität ausgesetzt. Sollte (auch) sie - vor dem Hintergrund des inzwischen Karriere machenden Konzepts „Virtualität" - bloß virtuell sein?* (2) Wenn wir philosophischen Wörterbüchern trauen wollen 1 , dann heißt „virtuell" so etwas wie „der Möglichkeit nach oder scheinbar". Die Etymologie führt vom lateinischen ,vis' für Kraft über das Wort für Mann (,vir') zu ,virtus 4 (männliche Tugend), also in ein patriarchalisches Sprachspiel; ich verfolge es hier nicht weiter. Ein anderer Ansatz versteht den zu untersuchenden Begriff als die Art, auf die das Erfahren von Wirklichkeit codiert ist, versteht ihn als symbolisch bedingt4: * Zum folgenden rechtstheoretischen Teil der Untersuchung von „Virtualität im Rahmen der Strukturierenden Rechtslehre" vgl. auch den gleichnamigen Beitrag in: RECHTSTHEORIE 32 (2001), S. 359 ff. 1 Siehe Vilém Flusser, Vom Virtuellen, in: F. Rötzer/P. Weibel (Hrsg.), Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk, o.O. 1993, S. 65 f.; ebd. das folgende Zitat. - Ebd., S. 66, zur Begriffsgeschichte von „Wirklichkeit" im Gefolge von Meister Eckhart. - Für einen Autor, der sich in seiner Postmodernität so sehr gefällt wie Jean Baudrillard, hat offenbar (außer vielleicht dem Trojanischen) kein Krieg stattgefunden; vgl. dens., La guerre du Golfe n'a pas eu lieu, Paris 1991. Bei einer Diskussion am 19. Februar 2003 in Paris unter der Freudschen Frage „Warum Krieg?" („Pourquoi la guerre?") weitete Baudrillard seine Entdeckung auf die Attentate vom 11.9. 2001 und auf den bevorstehenden nächsten Golfkrieg aus: „Das alles ist nur virtuell!". - Jacques Derrida antwortete ihm: „Es gibt Dinge, die nicht virtuell sind: das Leiden und das Erdöl".

2. Demokratierechtliche Normtexte in der „Virtualität" des Rechts

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„Alle Wirklichkeit ist symbolisch vermittelt und wird somit, virtuell· wahrgenommen" 2 . Das ist für die Welt des Rechts, in der sich die Sachen hart im Raum stossen, zu unverbindlich allgemein; und der hybride Ausdruck „reale Virtualität" bleibt in dem für das Recht (in dem gehandelt werden muss) unterkomplexen Rahmen des Symbolischen. Nicht in eine Sackgasse führt dagegen eine andere Bedeutung von „virtuell", nämlich Wirkungsmacht. Wir könnten auch sagen: Wirkpotenzial und wären dann bei dem Wortfeld potentia - potenziell - Potenz. Das zeigt, dass „der Möglichkeit nach" nicht allein heißen mag: nur eventuell real sein können nach der Art einer ausgedachten Fiktion. Sondern es kann auch bedeuten: über einen Vorrat an Energie, über ein Potenzial verfügen, das es zulässt, unter veränderten Umständen, in einem anderen Medium Einfluss auszuüben oder auf einen anderen Aggregatzustand einzuwirken, in ihm effektiv zu sein. Diese vorläufige Klärung reicht vielleicht schon aus, um damit zu arbeiten. Doch ich füge noch an, auf welchem Weg der (Medien-)Philosoph Vilém Flusser die Antwort in einem Bild zu geben versuchte. Der nach dem Fluss genannt war, wählte die schöne Metapher vom Meer: „Stellen Sie sich den Ozean der Möglichkeiten vor. Das ist ein uns bereits ziemlich geläufiges Bild. Dieser Ozean der Möglichkeiten wirft schäumende Wellen, die irgendwo nach oben greifen. Die Wellen versuchen, ... wirklich zu werden, die Möglichkeiten versuchen, sich zu realisieren, sie neigen mit Kraft in Richtung der Wirklichkeit. Die Wellen, die diesem Ziel am nächsten kommen, kann man ,virtuell' nennen. Ich schlage Ihnen also vor, virtuell bedeutet das, was aus dem Möglichen auftaucht und beinahe ins Wirkliche umschlägt. Aber das nützt wenig, denn jetzt wissen wir zwar ein wenig, was virtuell heißt, aber wir haben noch immer keine Ahnung, was Wirklichkeit ist". Nun wurde „Wirklichkeit" im 13. Jahrhundert von Meister Eckhart und anderen Mystikern als deutsche Übersetzung von efficiencia (von efficere = wirken, bewirken) ersonnen. Es entspricht der zweiten Bedeutungsspielart von vis (zu virtuell) im Sinn von Wirkungsmächtigkeit. Synonym für „Realität" wurde „Wirklichkeit" erst später; also für: Dinghaftigkeit als Eigenschaft von etwas, nach Art eines Dings, einer Sache (res) „da zu sein". Diese Variante einschließlich des erkenntnistheoretischen Realismusproblems beunruhigt im hiesigen Kontext weniger. Im Recht legt sich „wirklich" als „wirksam, wirkend" nahe, als effizient. Juristen geht es jedenfalls nicht in erster Linie an, was eine Norm „ist". Mehr betrifft uns die Frage nach den Eigenschaften dessen, was wir als „Norm" verwenden - genauer: nach den Anforderungen und den Mitteln, die unser Arbeiten mit „Normen" bestimmen. Rechts- und Entscheidungsnorm3 werden erst in der Situation des be2 Frank Hartmann, Medienphilosophie, 2000, S. 19; ebd., S. 16 ff.; S. 17: „ . . . es wäre wohl besser, angesichts der Telefonstimmen, der Fernsehbilder, der akustischen Umwelt und der graphischen Benutzeroberflächen . . . , wenn w i r . . . von einer zunehmend realen Virtualität sprechen würden" (Hervorhebung im Original). 3 Zu diesen Begriffen Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994, ζ. B. S. 263 ff., 196 ff., 263 ff.; ders./R. Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl. 2002, Bd. I, z. B. S. 196 ff.

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stimmten Rechtsfalls und durch die Arbeit an seiner Lösung produziert. Erst sie sollen „normativ" genannt werden. Denn erst durch ihre Texte wird konkret genug angeordnet, wie der Fallkonflikt zu lösen und wie zur Durchführung der Entscheidungsnorm zu verfahren ist. Erst Rechts- und Entscheidungsnorm, am Ende unsrer Arbeit, können dies bewirken, sind in diesem Sinn „wirklich". Noch genauer gesagt, sie sind dann „aktual". Diese Redeweise folgt Gilles Deleuze , der sich dabei auf Henri Bergson stützt4. Bergson unterschied die Begriffspaare „virtuell/aktual" und „möglich/wirklich". Demnach ist das Mögliche aktual; was ihm fehlt, ist Wirklichkeit. Und das Virtuelle ist zwar wirklich, aber nicht aktual. In meiner Sicht ist dabei aber folgendes das wichtigste: Das „Mögliche" unterstellen wir als immer schon vorgegeben, präformiert. Es bleibt nur noch zu realisieren. Es steht sozusagen im stand-by, auf Abruf bereit. Sein Verwirklichen stellt dann dieses Abrufen dar, die „Anwendung" des Vorgegebenen. Das entspricht der abgelebten Sicht des Gesetzespositivismus: das law in the books sei schon die Norm, stehe zum kognitiven syllogistischen Anwenden zur Verfügung. (3) Die nachpositivistische Rechtslehre setzt dagegen seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts anders an: Im Gesetz stehen nicht bereits Normen, sondern erst „Normtexte". Diese sind nicht „anwendbar", da noch nicht präformiert normativ. Wenn wir sie bearbeiten, läuft kein logischer Syllogismus ab. Sondern wir „konkretisieren"; und das heißt: nach Regeln der Vertretbarkeit schaffen, erzeugen, produzieren wir erst die Rechtsnorm (und leiten anschließend aus ihr die Entscheidungsnorm, den Tenor, ab). Diesem realistischen Konzept der Strukturierenden Rechtslehre entspricht das andere Begriffspaar „virtuell/aktual": Das Virtuelle ist nur Vorform, Eingangsdatum. Es erfordert noch Produktion, hervorbringendes Tun, um zu einem Aktualen werden zu können; und dessen Wortgeschichte weist auf „actio" und actus" zurück, auf „agere". Es liegt schon bei diesem Stand der Überlegung nahe, Virtualität handlungstheoretisch zu interpretieren. Das erlaubt noch zwei weitere Aussagen. Erst die nachpositivistische Rechtslehre erfasst die Virtualität des Gesetzesrechts sowie das Produktive seines „aktuaP'-Machens. Und: Das Recht ist nicht nur schon lange vor dem Internet virtuell gewesen, sondern vielleicht auch mit größerem Recht so zu nennen. Denn das Internet hat schon jetzt mit der akuten Gefahr zu kämpfen, vergegenständlicht, das heißt ent-netzt, reterritorialisiert zu werden - im technischen Bereich durch zunehmendes Abspulen

4 Gilles Deleuze, Die Falte. Leibniz und der Barock, deutsche Ausgabe 1995, v.a. S. 170 ff. - Ders., L'actuel et le virtuel, in: Gilles Deleuze/Claire Parnet, Dialogues, 1996, S. 177 ff. Dazu auch: Martin Stingelin, Das Netzwerk von Gilles Deleuze. Immanenz im Internet und auf Video, 2000. - Zur Referenz auf Henri Bergson v.a.: ders., Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, deutsche Ausgabe 1991.

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vorgeformter Programme, im gesellschaftlichen Zusammenhang durch wachsende Kommerzialisierung. Dagegen ist der Normtext - in demokratisch-rechtsstaatlicher Allgemeinheit - in „Gesetzeskraft" gesetzt, lange bevor er situativ in einen bestimmten Einzelfall verstrickt wird. Der Normtext versucht nur, durch typisierende Antizipation in Normativität umzuschlagen. Ohne durch diesen bestimmten Einzelfall provoziert zu sein - also ante casum - , kann er das aber noch nicht bewirken. So sei der Normtext denn ohne Einschränkung „virtuell" genannt. (4) Eher unabhängig von Wörterbüchern, von Etymologie und poetischer Metaphorik wird „virtuell" im heutigen Computeijargon verwendet; nämlich um zu sagen, „dass etwas nur als elektronisches Bild existiert, aber sonst keine konkrete Gegenständlichkeit hat. Es ist, als wäre es da, aber es ist nicht" 5 . „Konkret" oder „gegenständlich" sein sind tautologische Ausdrücke für „sein" im Sinn von „da sein". Beim Virtuellen sei das nicht der Fall; aber es habe - so wird der Ausdruck gebraucht - etwas an sich (nämlich eine Art von Wirklichkeit),das den Anschein erweckt, es sei da. Das Virtuelle gibt uns ein Bild von dem, wie es wäre, wäre es aktual. Da es aber nicht da ist, können wir nicht wissen, wie weit wir uns auf dieses Bild verlassen können; können wir es nicht Abbild nennen. (Falls wir dazu überhaupt je imstande sind. Von etwas, von dem wir zu sagen pflegen, es sei da, es habe „konkrete Gegenständlichkeit", können wir uns nur im Plural Abbilder machen.) Das Virtuelle ist ein Vor-Bild, eine Vorform. Es fehlt diesem „es" das Da-sein und damit auch dessen Grenze: so und nicht anders. Das zu sagen, ist aber mehrdeutig. Die Abbilder, die wir uns von einem Gegenstand verfertigen, sind eben gerade so und auch anders. Allerdings ist der Gegenstand schon als da-seiender begrenzt; seine Begrenztheit gibt unserer prüfenden Reflexion wichtige Hinweise: für eine Kontrolle nicht dessen, was das ,,so-"(sein) „ist"; wohl aber dafür, das „und / oder auch anders-"sein seinerseits einzugrenzen. Also Hinweise dafür, nicht Vertretbares von Vertretbarem zu unterscheiden - mit anderen Worten nicht mehr akzeptabel Begründbares von noch akzeptabel Begründbarem. Das Virtuelle als Vor-bild kann uns diese Begrenztheit des Daseienden und die Begrenzbarkeit seiner Abbilder noch nicht liefern. Aber es liefert uns durchaus Anhaltspunkte; sonst wäre es nicht einmal Vorform („virtuell"). Es zeigt uns einige Richtungen an, zwischen denen sich Pfade anlegen lassen; nicht aber bereits einen Rahmen (framework), denn ein solcher grenzt sich nach außen ab. Es lässt ein unfertiges Mosaikbild von Aktualem erscheinen. Und dieses ist (unvollkommen, fragmentarisch) gerahmt. Mit seinen Elementen können wir - auch an dem Rahmen - weiter arbeiten. 5 Jaron Lanier, Was heißt „virtuelle Realität"? Ein Interview, in: M. Waffender (Hrsg.), Cyberspyce. Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten, 1993, S. 67 ff., 69.

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II. Mikroprozesse: Demokratie im Rahmen des nationalen Rechts?

Was dabei immer wieder ins Spiel kommt, ist unsere Arbeit. Vilém Flussers Seestück rührt ästhetisch an, bleibt aber bloße Anschauung. Im Tatsächlichen der (virtuellen) Meereswellen tun nur Schwerkraft, Strömung und Wind das Ihre. Das Virtuelle dagegen, von dem wir sprechen (und das auch Flusser anzielte), ist Menschenwerk. Es ist Ergebnis von Arbeit:, von wissenschaftlich-technischer Erfindung und industrieller Produktion. Und es appelliert an unser weiteres Tun, nicht nur an passive Betrachtung. Mit unserer Arbeit kommt noch etwas anderes' ins Spiel'. Ein Spiel spielt sich ab, ist dynamisch, setzt etwas in Bewegung. Es kreiert, um es so zu sagen, kinetische Energie, die ihre Masse an dem virtuellen Etwas hat, an seinem Potenzial an bildhaften Hinweisen, an seiner imaginären Kraft. In diesem Sinn sind „virtuell" und „aktual" keine einander ausschließenden Gegensätze. Analog dazu setzt der paradigmatische Wechsel vom positivistischen zum nachpositivistischen Normbegriff am Überschreiten des neukantianischen Gegensatzes von „Sein vs. Sollen" ein. Und Vilém Flusser 5 versuchte den Paradigmensprung zwischen Moderne und Postmoderne daran festzumachen, diese „habe die neuzeitliche Überzeugung ad absurdum geführt, dass wahr und falsch Gegensätze sind, dass infolgedessen auch wirklich und fiktiv Gegensätze sind, und dass zwischen diesen zwei Horizonten ... kein Kompromiß stattfinden kann". Schon nach dem bisher Gesagten würden wir dem Virtuellen, als solchem ernst genommen, nicht gerecht, wenn wir es statisch als einen in sich ruhenden, auch in der Zeit auf sich beruhenden Zustand „sein lassen" wollten. Die Zeit ist ein Besucher, den hinaus zu komplimentieren noch niemand gelang. Anders gesagt: wie kommen wir denn dazu, das Virtuelle als etwas, das doch angeblich „nicht ist", der Virtualität zu bezichtigen, es sei (fast wie) da („es ist, als wäre es da")? (5) Wir kommen dazu, weil sein Anschein, sein Vorschein auf uns trifft. Das Virtuelle betrifft uns, die wir, in der Zeit da seiend, nicht umhin können, auf es wie auch immer zu reagieren - „durch Tun oder Unterlassen", wie die Juristen ebenso schlicht wie zutreffend formulieren. Das Virtuelle provoziert uns - und wenn ich bei den Juristen bleibe: provoziert sie, eine anders als rechtlich nicht beantwortbare Frage zu beantworten, weil sie sich dazu verpflichtet haben - als Rechtsanwalt, Gutachter, Forscher und Lehrer (Tätigkeitstypus 1); bzw. dazu, einen anders als im Weg des Rechtsverfahrens nicht entscheidbaren Konflikt zu entscheiden - als Regierungsstelle, als Verwaltungsfunktionär, als Richter (Typus 2). Wir Juristen gehen in unserer Argumentations- (Typus 1) bzw. Entscheidungsarbeit (Typus 2) von Normtexten aus, also von den Sätzen in der Kodifikation. Wir erarbeiten mit ihnen als sehr wichtigen, wenn auch bei weitem nicht einzigen, Elementen den Text der Rechtsnorm und leiten abschließend aus ihm den der Entscheidungsnorm ab. Diese ist die prozessuale Aussage des geltenden Rechts för 6 Vilém Flusser (Fn. 1), S. 67 f.

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diesen Fall (ζ. B. „Die Klage wird abgewiesen" oder „Die Vorschrift X wird als verfassungswidrig annulliert"). Die Rechtsnorm ist die inhaltliche Aussage des geltenden Rechts für einen Fall wie diesen, also generell formuliert; denn im demokratischen Rechtsstaat ist Normativität nur dann legitim, wenn sie generalisierbar ist. In beiden Fällen tun wir Juristen das, was der technische Begriff der nachpositivistischen Rechtslehre sagt, wir konkretisieren. „Virtuell" ist somit nicht „tatsächlich gegeben"; es ist - durch unsere Arbeit ,auf der Zeitschiene ' erst zu vermitteln - noch nicht aktual. Nun wäre es zu gewaltsam, zu sagen, der Normtext sei wie das elektronische Bild (die Bild-, die Textoberfläche) der späteren Rechts- und Entscheidungsnorm. Aber es lässt sich vertretbar formulieren, dass - sowenig „virtuell" dasselbe meint wie „aktual" - ante casum durch Verfassungs-, Gesetz- und Verordnungsgeber nur Normtexte gegeben werden, erst unzureichend genaue und insoweit noch nicht normative Potenziale. Normativität gibt es in diesem Sinn erst in casu. Und damit sie demokratisch-rechtsstaatlich gerechtfertigt sei, braucht sie allgemein vertextete Vorformen ante casum. Diesen Normtexten fehlt noch die tatsächliche Provokation durch die einzelne Rechtsfrage, den aktuellen Rechtsfall. Ohne die Tatsächlichkeit dieser Provokation fehlt es dem Normtext - wie dem Phänomen des Virtuellen - noch an der „konkreten" (und in diesem Sinn bestimmbaren) „Gegenständlichkeit". Der Normtext „ist, als wäre er (sc. als Norm) da, aber er ist es nicht". Konkretisierend erarbeiten wir die Texte von Rechts -und Entscheidungsnorm; das heißt, im Ausgang und mit Hilfe von etwas noch nicht Normativem, von etwas als Norm noch erst Virtuellem schaffen wir etwas, das den bestimmten Fall dann hinreichend konkret ,normiert'. Die Strukturierende Rechtslehre hat diesen Ansatz seit „Normstruktur und Normativität" entwickelt. Niklas Luhmann, beispielsweise, hat ihn Anfang der 90er Jahre als eine Art Wetterleuchten wahrgenommen; und Jacques Derrida kommt in seiner Auseinandersetzung mit Walter Benjamin, auf anderem Terrain, in untechnischer Weise in die Nähe dieser Position: der Richter handle im Augenblick der auf Gerechtigkeit zielenden Entscheidung „so, als würde am Ende das Gesetz zuvor nicht existieren, als würde der Richter es in jedem Fall selbst erfinden" 7. In der Tat, die Rechtsnorm ,existiert 4 noch nicht, der entscheidende Jurist erschafft sie. Nicht aus Virtuellem, wohl aber im Ausgang von Virtuellem und (neben anderen Elementen) mit dessen Hilfe kreiert er sie erst. (6) Elektronisch hervorgebrachte Virtualität in der Welt der Neuen Medien bringt, jedenfalls für Kommunikation, nach weit verbreiteter Auffassung einen Wechsel des Paradigmas mit sich. Und wie steht es damit in der Welt des Rechts? Wann können wir hier - nicht »zwingend richtig', aber jedenfalls vertretbar - von einem solchen reden? 7 Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität", deutsche Ausgabe 1991, S. 47. Zu Niklas Luhmann: ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, z. B. 404 f.

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Bestimmen sich epochale Brüche danach, wie die Frage nach der Gerechtigkeit gestellt wird? Diese mag für das Recht aller Zeiten ein Leitstern sein, für unsere den Einzelheiten des positiven Rechts verpflichtete theoretische Frage ist sie nicht trennscharf. „Gerechtigkeit" wirkt als eine regulative Idee; als glücklicherweise nicht zum Schweigen zu bringende Unruhe im Getriebe. Sie ist aber kein Gegenstand, der dem Recht praktische Festigkeit geben könnte, ist gerade keine Gegebenheit. Oder orientieren sich solche Brüche an der Stellung zum Naturrecht? Dessen Geschichte bietet, nüchtern angeschaut, kaum mehr als ein katalogisiertes Chaos. Wie die Gerechtigkeit ist auch das Naturrecht keine Antwort; sondern ein Problem, so lange es Konflikte zwischen Menschen und Gruppen und so lange es positive Rechtsordnungen gibt. Doch ist auch es kein bestimmter, die Tätigkeit der Juristen abstützender Faktor mehr. Dagegen ist der Mittelpunkt der täglichen Rechtsarbeit etwas, das klar formuliert werden kann: die Rechtsnorm. An der konzeptionellen Stellung zu ihr unterscheiden sich Grundansätze der Jurisprudenz. In der Demokratie ist das Gesetz der legitimierende Mittelpunkt juristischen Handelns; und es ist eine für alle Betroffenen (Juristen wie Nichtjuristen) verpflichtende Vorschrift, die - jedenfalls in letzter Instanz - vom Volk ausgehen soll. Daraus folgen zwei Forderungen: unzweideutiger Respekt vor dem Gesetz im Leben von Gesellschaft und Staat; sowie seine sorgfältige und unbestechliche Realisierung durch die fachliche Arbeit der Juristen. Dies ist das einzige, das die Herrschaft „of the people, by the people and for the people" rechtfertigen kann. Aber was heißt „das Gesetz", was wollen wir unter „Rechtsnorm" verstehen? An den Antworten auf diese Frage scheiden und unterscheiden sich längerfristige Paradigmata. Das positivistische hat sie nicht bewusst gestellt. Denn „Gesetz" ist für den (in der akademischen Lehre noch immer vorherrschenden) Positivismus etwas fraglos Gegebenes: die Schriftzeichen auf dem Papier der Gesetzblätter. Der die Rechtswelt der industriell entwickelten Länder seit der Mitte des 19. Jahrhunderts prägende Positivismus verwechselt die Rechtsnorm mit dem Normtext im Gesetzbuch. Er will sie daher auf den Streitfall „anwenden"8. Dieses Modell scheitert bei ungezählten Einzelproblemen. Das wurde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts offenkundig und führte zu den bekannten „Überwindungs"versuchen im Verlauf des 20. - von der Freirechtslehre bis zu Soziologismus und ökonomischer Analyse des Rechts, von der Interessenjurisprudenz bis zu Hermeneutik und Neufrankfurter Diskurstheorie. 8 Die Rede ist von dem allgemein so genannten Gesetzespositivismus, genauer: vom Positivismus der Normbehandlung. - Zu diesem und zu seiner Abgrenzung von anderen Formen von Positivismus: Friedrich Müller, Artikel „Positivismus", in: N. Achterberg (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1986, 2/400.

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Dieses Scheitern ist kein Zufall. Es betrifft bereits die Grundfragen: Wirklichkeit und Recht, Sein vs. Sollen, die der Bedeutungs -und der Referenztheorie, der Grenzen der Leistungsfähigkeit der natürlichen Sprache und nicht zuletzt das Thema juristischer Konfliktentscheidung als eines zeitlich strukturierten Vorgangs. Die antipositivistischen Diskurse des vorigen Jahrhunderts gehen dem insoweit unüberwundenen positivistischen Paradigma in die Falle. Sie korrigieren an Oberflächensymptomen herum, überschreiten es nicht vom Normkonzept her. Sie sind für den Gesetzespositivismus in etwa das, was für das spätptolemäische System astronomischer Erklärung die immer komplizierter werdenden Vermutungen über „Epizykeln" waren - nämlich eine (im Sinn der Wissenschaftslehre von Imre Lakatos) „degenerative Problem Verschiebung". Nicht Ani/positivismus kommt in der Sache weiter, sondern eine «öc/zpositivistische Rechtslehre (mit diesem Ausdruck eingeführt seit „Juristische Methodik", 1971). Sie ist der Sache nach seit dem Beginn der 60er Jahre konzipiert und seit 1966 („Normstruktur und Normativität") veröffentlicht worden 9. Sie versteht die Rechtsarbeit als einen in der Zeit zu realisierenden Vorgang; und die Sätze in den Kodifikationen als Normtexte, d. h. als legislatorische Vorformen der Rechtsnorm. Analog spricht man in der Linguistik von vorläufigen „Textformularen" gegenüber dem später in der bestimmten Situation wirkenden „Text"; und in der Sprachphilosophie seit Charles S. Peirce von Ausdrücken mit vorgängiger „Bedeutsamkeit", aber noch ohne die später situativ zu konstituierende „Bedeutung". Die Rechtsnorm bleibt im zeitlichen Verlauf der Entscheidung erst noch hervorzubringen. Es gibt sie nicht „ante casum", der Entscheidungsfall ist für sie mitkonstitutiv. Der Normtext im Gesetzbuch ist (nur) ein Eingangsdatum der Konkretisierung, wenn auch ein - und zwar aus demokratischen und rechtsstaatlichen Gründen - hervorgehobenes Arbeitselement. Die im Fall geschaffene Rechtsnorm 9

Friedrich Müller, Normstruktur und Normativität, 1966; ders., Juristische Methodik, 1971; ders./R. Christensen, 8. Auflage 2002, Bd. I; ders., Strukturierende Rechtslehre, 1984; 2. Auflage 1994; ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts, 1997; ders. /Ralph Christensen/Michael Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997; ders., Die Frage der Linguistik in der Strukturierenden Rechtslehre, in: ders./R.Wimmer (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik 2001 (im Erscheinen). - Ralph Christensen, Artikel „Strukturierende Rechtslehre", in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, hrsg. von N. Achterberg, 1987, 2/560; ders., Das Problem des Richterrechts aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 1987, S. 75 ff.; ders., Was heißt Gesetzesbindung?, 1989; Bernd Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989; Dietrich Busse, Recht als Text, 1992; ders., Juristische Semantik, 1993; Frank Laudenklos, Juristische Methodik bei Friedrich Müller, in: Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny, hrsg. von J. Rückert, 1997, S. 259 ff.; ders., Rechtsarbeit ist Textarbeit. Einige Bemerkungen zur Arbeitsweise der „Strukturierenden Rechtslehre", in: Kritische Justiz 30 (1997), S. 142 ff.; Olivier Jouanjan, Faillible Droit, in: Revue européenne des sciences sociales 38 (2000), S. 65 ff.; ders.,Nommer/Normer. Droit et langage selon la »Théorie structurante du droit«, in: Le Temps des savoirs 1 (2000), S. 39 ff.; Olivier Beaud, Repenser la démocratie constitutionelle. Le pari d'une théorie „post-positiviste" du droit, in: Critique. Juristes et Philosophes, 642 (2000), S. 940 ff.

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kann gesehen werden als nach „Normprogramm" und „Normbereich" strukturiert, d. h. nach dem Ergebnis sprachlicher Interpretation und der Menge der hiermit konformen individuellen und generellen Fakten des Falles / Falltypus. „Rechtsnorm" ist demnach also ein zusammengesetzter Begriff; dies macht das seit jeher ungelöste Problem von „Sein und / vs. Sollen" operational, bearbeitbar. Damit können die unrealistischen Dualismen der jüngeren Wissenschaftsgeschichte wie „Norm/Fall" oder „Recht/Wirklichkeit" ebenso verabschiedet werden wie die Illusion der Rechts„anwendung" als Subsumtion und Syllogismus oder wie das linguistisch sinnlose Konstrukt einer definierbaren, einer lexikalisch verdinglichten „Wortlautgrenze" - all dies waren gescheiterte Zentralideen des historischen Positivismus. An dessen Stelle kann eine rational genauer nachvollziehbare, durchgehend induktive Arbeitsweise treten; eine nunmehr realistisch werdende Rechtstheorie. Sie löst den normativen Anspruch des Rechts nicht auf, verrät nicht seine gesellschaftliche Aufgabe. Der neue Ansatz ist induktiv, indem er seine Konzepte innerjuristisch entwickelt: aus den eigenen Beobachtungen der Rechtswelt, ohne „Deduktion" oder „Übertragung" von sogenannt höherer Ebene, ohne philosophisch- weltanschauliche Kolonisierung von außen. Er ist induktiv, indem er ,νοη unten nach oben4 arbeitet. Er beginnt nicht bei abstrakter Theorie - etwa bei der Allgemeinen Wissenschaftslehre oder bei sei es transzendentalen, sei es universalen Idealismen - , sondern bei den gewöhnlichen Aufgaben der Rechtspraxis in ihrem sozialen Umfeld. Von hier aus entwickelt er, in Kontakt mit dieser Realität, schrittweise theoretische Konzepte. Diese sind induktiv, indem sie bei der Dogmatik des positiven Rechts anfangen und weitere Folgerungen für Methodik, Rechtstheorie, Verfassungslehre und Rechtslinguistik immer wieder an ihrer Auswirkung für die Dogmatik überprüfen. Sie sind induktiv auch für die Frage der Interdisziplinarität: Der zusammengesetzte Normbegriff führt dazu, die Arbeit der Sozialwissenschaften in die Rechtsarbeit einzubeziehen. Der strukturierende Ansatz versteht die Tätigkeit der Juristen als gesellschaftlich zu verantwortende und ist handlungstheoretisch reflektiert; auf seinem linguistischen Forschungsfeld wird die pragmatische Dimension betont - d. h. das Verhältnis zwischen Zeichen und Benutzer, hier: zwischen Rechtstexten und (amtlich/ fachlich) Betroffenen. (7) Die neue Rechtslehre wird, ursprünglich von der Dogmatik ausgehend, bis in die Einzelheiten konkret in der Methodik. Der demokratische Rechtsstaat fordert Rationalität und Bestimmtheit - aber welcher Faktoren? Und was soll „bestimmt" heißen? Realistisch gesehen , d. h. in den Grenzen der Leistungsfähigkeit der natürlichen (Rechts-)Sprache, handelt es sich nicht um ein-eindeutige Fixierungen, sondern um Methodenehrlichkeit, Nachvollziehbarkeit für die anderen Teilnehmer am Rechtsleben. Also um eine (so verstandene) Bestimmtheit der Rechtsarbeit und nicht um eine solche der Rechtsbegriffe und ihrer Bedeutung. „Bedeutung" gibt es

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kraft der natürlichen Polysemie der Sprache nur im Plural; umso größer wird die Mehrdeutigkeit außerhalb der relativ einfachen Semantik einzelner Wörter. Denn die Aufgaben juristischen Handelns sind ohne Satzsemantik, Text -und Kontextsemantik nicht zu bewältigen. Die Spätformen des Gesetzespositivismus, herkommend von Analytischer Philosophie und Logischem Positivismus, möchten sich nach wie vor auf die unzureichende Merkmalssemantik einzelner Rechtsterme beschränken. Dagegen muss sich eine nachpositivistische Methodik, die sich der Realität stellt, mit komplexeren Mitteln der tatsächlichen Komplexität von Rechtssprache und rechtlicher Entscheidung nähern.

Für das alte Paradigma ist das Recht ein reines Sollen; und, da notwendig Sprache, eine Anordnung. Das Sollen befiehlt dem Sein; die Sätze im Gesetzbuch, als bereits normativ missverstanden, befehlen den Fakten des Falles, der Fallgruppe. Nun gehorchen in diesem Sinn allenfalls Menschen; und wie unsicher das ist, weiß man. Der nobelste Euphemismus für diese Ungewissheit heißt „Freiheit". Da Tatsachen einem Sprachbefehl nicht gehorchen werden, musste sie der Positivismus seit anderthalb Jahrhunderten ausschalten, sie durch Verwertungsverbot aus der Arbeit der Juristen verbannen. Dass Hans Kelsen das dann „rein" nannte, war nur folgerichtig. Das ganze konnte nicht gut gehen, und es ging auch nicht gut. Die Alltagspraxis werkelte mit Routine vor sich hin, oft mit gut vertretbaren Entscheidungen, immer wieder mit gesundem Menschenverstand und auch mit Sachkunde (jedenfalls im Sinn der „Alltagstheorien"). Die Praxis tut ohnehin, was sie tun muss, ohne auf Rechtstheorie warten zu können. Sie wird durch Funktionsimperative der Gesellschaft erzwungen. Kein bisheriges Gemeinwesen kam und kommt ohne Institutionen aus, die auf die Art des Rechts Entscheidungen treffen. Aber unter dem alten Paradigma blieb die Praxis unbegriffen; und eben das begreifen, was tatsächlich geschieht - sollte Theorie leisten. Der Positivismus musste, um das „reine" Sollensrecht als das wirkliche ausgeben zu können, die vom Recht angezielte Wirklichkeit virtualisieren. Das rächte sich, und die Antipositivismen des 20. Jahrhunderts waren die Racheengel. Doch besser als Rache ist Arbeit: vom Positivismus diejenigen seiner Ziele aufrecht erhalten, die es wert sind (ζ. B. Rationalität im Sinn von Nachprüfbarkeit; Konsistenz der Argumentation; Systematik, aber nicht länger als „geschlossene"); und seine Grundirrtümer fallen lassen, die sich als Illusionen herausgestellt haben. Nicht antipositivistisch polemisieren, sondern nachpositivistisch arbeiten. Unter dem Gesichtspunkt des Pragmatismus wird das Konzept der Strukturierenden Rechtslehre etwa in Frankreich der rechtswissenschaftliche „tournant pragmatique" parallel zur Pragmatischen Wende in der Linguistik seit Wittgenstein II genannt; oder in den USA „a departure from the abstract-logical towards the empirical-pragmatical (which) brings this method closer to that of Anglo-American

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common law" 1 0 . Dabei handelt es sich beim strukturierenden Ansatz nicht um einen allgemeinen (gegebenenfalls auch ideologischen) Pragmatismus; vielmehr um einen spezifisch rechts- und sprachwissenschaftlichen, der durch seine Art der Begriffsbildung und seine Verfahrensweisen praktisch operationalisiert ist. So erscheinen, wie schon gesagt, Recht und Wirklichkeit nicht länger als abstrakte Gegenkategorien. Sie wirken jetzt als in tatsächlicher Rechtsarbeit von Fall zu Fall synthetisierbare Elemente juristischen Handelns - synthetisiert in Gestalt der jeweils hervorgebrachten Rechtsnorm. Und unter dem Aspekt, wie der hier mehrfach so genannte Realismus zu verstehen ist, nämlich auch pragmatisch, heißt es zusammenfassend in DROITS: »Wenn sich der Wert einer Theorie danach beurteilt, wie weit sie fähig ist, von den Tatsachen Rechenschaft abzulegen, dann kann man gewiss sein, dass der Strukturierenden Rechtslehre eine große Zukunft gehört«. Ich halte es in diesem einfachen Sinn in der Tat für die Aufgabe von Theorie, von den Tatsachen zu handeln. Jedenfalls ging das Bestreben immer dahin, auf allen Arbeitsfeldern des Strukturkonzepts von der Realität Zeugnis abzulegen, in der das Recht gebraucht wird und in der es (sich) orientiert; davon, was im Recht der Fall ist. (8) Wenn es in der Gegenwart und von nun an Tatsachen gibt, die neuartig sind, so gehören die der digitalen Revolution sicherlich dazu 11 . Die Neuen Medien konfrontieren auch uns Rechtsarbeiter, unter anderem , mit dem Phänomen Virtualität. Untersuchen wir, was daraus werden kann. Aber räumen wir wir zuerst ein, dass das Recht in sich selbst an entscheidenden Punkten nichts anderes als virtuell in dem Sinn genannt werden kann, der hier begründet wurde. Die Position, die das (ohne den Ausdruck „virtuell" zu verwenden) seit einem Dritteljahrhundert, und bisher als einzige, entwickelt hat, ist die Strukturierende Rechtslehre: (a) Gegen die Sicht der Tradition stehen in Verfassungen, in Gesetz- und Verordnungsblättern keine Rechtsnormen, steht nicht schon „das Recht". Nur virtuelles Recht enthalten sie, nur Normtexte als Ausgangspunkte der praktischen Rechtsarbeit. (b) Die Rechtsnorm in praxi, das law in action, lässt sich sinnvoll als strukturiert denken, als aus Normprogramm und Normbereich zusammengesetzt 10 Olivier Jouanjan, Présentation du traducteur, in: F. Müller, Discours de la méthode juridique, 1996, S. 21; Vera Bolgàr, Legal Methodology, in: Modern Law and Society 1978, S. 160 ff.; das im Text folgende Zitat in: DROITS. Revue Française de Théorie Juridique 14 (1992), S. 172 f. 11 Theoretisch aufgearbeitet zum Beispiel bei: Hartmut Winkler, Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, o.O. 1997; Lawrence Lessig, Code, and other laws of cyberspace, o.O. 1999.

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traditionell ausgedrückt: aus Sollens- und aus Seinselementen. Sollen als ein angeblich „reines" bleibt bloß virtuell Real wirksam wird Sollen nur als ein durch Faktizität mit-konstituiertes, als durch Realität verunreinigtes. (c) Die einzig richtige Lösung des Rechtsfalls, dieser Fetisch positivistischer Tradition, ist nichts als virtuell. Real - in allen typischen Fällen der Praxis - ist die „vertretbare". Neben ihr gibt es in aller Regel noch andere, die mit akzeptablen Gründen gleichfalls vertreten werden können. Die Aussage des geltenden Rechts zu einem einzelnen rechtlichen Problem / Konflikt bringt nichts (ein-eindeutig, wie im mathematischen Algorithmus) „auf den Punkt". Die legitimierbaren Entscheidungen reduzieren sich nicht auf die „einzig richtige". Den singulär herausgehobenen Punkt der Falllösung gibt es nicht, weil der Archimedische oberhalb der natürlichen Sprache, deren Teil die Rechtssprache darstellt, nicht auffindbar ist. Das geltende Recht eröffnet, nochmals bildlich gesprochen, einen Raum. Er ist nicht a priori begrenzt, wohl aber durch Rechtsarbeit im einzelnen Fall begrenzbar. Das Recht macht eine Arena für Auseinandersetzungen um Bedeutung auf, für semantische Kämpfe. In diesem Streitraum, Spielraum sind, in aller Regel, mehrere Lösungen rechtlich vertretbar. Die genannten Fragen sind zentral: Welche Eigenschaften können wir einer Rechtsnorm realistisch zuschreiben? Wo überhaupt finden wir die Rechtsnormen, die unsere Arbeit rechtfertigen sollen? Und: wie kann, realistisch bewertet, die Lösung von Rechtsproblemen konzipiert werden? In diesen drei Grundfragen weist die Strukturierende Rechtslehre - bestrebt, von den Tatsachen Zeugnis abzulegen - auf Virtualität hin: Virtualität des Rechts, noch bevor sich dieses der technisch, insofern von außen induzierten Virtualität als einer Erscheinungsweise der Neuen Medien zu stellen hat. Dieser Ansatz bietet angemessene und auch schon ausgearbeitete Parameter, nicht zuletzt in der Form der Juristischen Methodik. Sie machen es besser möglich, uns [neben der Globalisierung 12 und anderen Beunruhigungen des Hergebrachten] auch mit der technisch provozierten Variante von Virtualität zu befassen. Das neuartige technische Paradigma sollten wir Rechtsarbeiter nicht mit dem juristischen von vorgestern angehen, mit dem Gesetzespositivismus. Das gestrige war ein Versuch geblieben: die bunte Schar von Antipositivismen im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat es nicht zum Status des detailliert konsistenten und, vor allem, des den Positivismus im normtheoretischen Zentrum treffenden, von der Wurzel her überschreitenden Neuansatzes gebracht.

12 Dazu, als Thema der Rechtswissenschaft: Friedrich Müller, Welcher Grad an sozialer Ausgrenzung kann von einem demokratischen System noch ertragen werden?, in: ders., Demokratie in der Defensive, 2001, S. 73 ff.; siehe auch: Was die Globalisierung der Demokratie antut und was Demokraten gegen die Globalisierung tun können, im vorliegenden Buch.

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(9) Die nachpositivistische Rechtslehre erlaubt es, die Virtualitäten im Recht, an seinen strategischen Punkten, aufzudecken und zu formulieren. Für die Normtexte, durch die Demokratie eingerichtet wird und gesichert werden soll (wie in Art. 20, 21, 38 ff., 79 III GG), heißt das, dass auch sie nur virtuelles Recht bieten können, im Sinn von: nur Eingangsdaten der auf sie in Zukunft zu beziehenden Konkretisierungsvorgänge. Es heißt ferner, dass auch die ihnen auf diese Weise zugerechneten Rechtsnormen zahlreiche faktische, potenziell also auch undemokratische Elemente enthalten werden, die nur durch das Normprogramm (und damit wieder allein auf dem Weg nur sehr begrenzt antizipierbarer Konkretisierungsprozesse) im Dienst der demokratischen Grundvorschriften gebändigt werden können. Und es heißt schließlich, dass über und auf Grund von „Demokratie" zu treffende praktische Rechtsentscheidungen diesem Ziel nicht punktgenau, und vor allem: nicht ein-eindeutig werden entsprechen können. Auch sie werden im Spielraum von mehr als einer vertretbaren verbleiben - was Abschattierungen gegenüber dem demokratischen Ideal in sich schließt. Machen, was dieses Ideal angeht, die beschriebenen Eigenschaften des Rechts dann nicht „die Demokratie" als Ganzes virtuell? Auch für das Sprachspiel „Demokratie" inmitten der anderen Sprachspiele des Gesellschaftlich-Politischen kann das nicht anders sein und war es noch nie anders: government from a speaking , by a speaking and for a speaking people - mit aller Unsicherheit, die das mit sich bringt. Normtexte über Demokratie haben der Tradition, welche die Verfassungen gesetzespositivistisch traktiert, schon immer einen eigenartigen Widerstand entgegengesetzt - soweit nicht die Schwierigkeiten, Demokratiepostulate in gesellschaftliche Realität umzusetzen, durch Unterschleif erledigt oder mit Zynismus beantwortet wurden. Was sensiblere Autoren wie Rousseau („ein Volk im Werden"), Renan („plébiscite de tous les jours") oder Sartre („das Volk ist erst zu erschaffen") der Vorläufigkeit demokratischer Vorschriften metaphorisch ablauschten, wird vom rechtstheoretischen Strukturkonzept gleichsam technisch bestätigt - mit Beobachtungen, deren Ergebnisse man im oben begründeten Sinn versuchsweise „virtuell" nennen mag. (10) Im Einzelnen dagegen können eine realistische Rechtslehre und Methodik viel dafür tun, dass solche Virtualität nicht Willkür bedeutet. Juristische Methodik soll Mittel ausarbeiten, die es leichter machen, die praktischen Entscheidungen redlich und transparent zu begründen; soll (rechts-)politischen Argumenten den ihnen gebührenden, aber auch begrenzten Platz innerhalb der Konkretisierungselemente zuweisen; soll machtgeleitete Mystifizierungen, also Gewaltmaßnahmen in Rechtsform, aufdecken und wo möglich im normierten Verfahren neu aufrollen lassen; kann durch Genauigkeit ihrer Operationen dazu beitragen, Interessen, Konfliktlinien und praktische Folgen ihres Tuns klarer zu machen. Demokratische Rechtsarbeit kann ein wichtiger Faktor bei dem Vorhaben sein, innerhalb des gesellschaftlichen Transfers von Gewalt diese wenigstens ein Stück weit reversibel zu machen, sie also rückzuverwandeln in verfassungsmäßig legitime Macht. Die

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Mittel professioneller Rechtsarbeit reichen im Ganzen der sozialen Realität nicht allzu weit; aber so weit sie reichen, muss die demokratische Haltung der Rechtsarbeiter unzweideutig sein 13 . Dabei dient es der Sache der Demokratie, unangenehme Sachverhalte wie die nur begrenzte Reichweite rechtsstaatlichen Handelns - vor dem Hintergrund der Grenzen der Leistungsfähigkeit der natürlichen (Fach-)Sprache - offen zu legen; so werden sie immerhin bearbeitbar. So wie sich hier gezeigt hat, mit welchen Mitteln zeitlicher und sachlicher Abstufung die Verfassungsjustiz die demokratische Legislative zu schonen unternimmt, so erweisen sich auch zugleich realistische und bewusst rechtsstaatliche Konzepte juristischer Dogmatik, Methodik und Theorie als fachspezifische Beiträge zur inneren Demokratisierung einer Rechtsordnung. Darüber hinaus hat Demokratie als Verfassungsform institutionell und gesellschaftlich höchst anspruchsvolle, entsprechend auch leicht störbare Voraussetzungen. Mit Formen sozialer Exklusion ist sie nicht vereinbar; und das betrifft inzwischen auch schon deutlich die Metropolen, nicht mehr nur die so genannte dritte Welt oder die peripheren Schwellenländer: ein Mechanismus, der den Ausschluss aus einem der gesellschaftlichen Funktionssysteme für die betroffenen Menschen nach und nach kettenreaktiv verallgemeinert 14. „Volk" meint keine de facto homogene Gemeinschaft; sondern eine in sich differente, gemischte und gruppierte, aber gleichheitlich und undiskriminiert organisierte Bevölkerung. De jure ist kein Ausschluss im Sinn von Exklusion legal oder legitim, nicht zuletzt wegen der Demokratie. Diese braucht ihrerseits, um lebensfähig zu sein, institutionell einen ausgebauten Rechtsstaat, damit die Umsetzung demokratisch beschlossener Normtexte operational wird; sie braucht Menschen- und Bürgerrechte für alle, damit auch die politische Kultur einer menschenrechtsgestützten Öffentlichkeit; und sie wird nicht ohne eine sozial ausgleichende Politik überleben, die den Rahmen dafür schafft, dass de facto das ganze Volk demokratisch partizipieren kann. Solches Teilnehmen ist geeignet, der Oligarchie aus Parteien und Fraktionen, aus Regierung und Staatsapparat, aus pressure groups und den hinter ihnen stehenden Zusammenballungen gesellschaftlicher Macht das Herrschen schwerer zu machen - eben durch Demo„kratie" nicht als Herrschaft des Volkes, wohl aber als Mechanismus einer Mitentscheidung und Kontrolle „von unten nach oben". Eine Formen partizipativer Demokratie umfassende Verfassungsordnung bietet die einzige Chance dafür, dass sich Demokratie - abgesehen von ihrer Bedingtheit durch die Ambivalenzen natürlicher (Rechts-)Sprache - nicht als politisches Dispositiv ins Virtuelle verflüchtigt. Demokratie und inklusive Gesellschaft benötigen einander.

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Zum Ganzen des Verhältnisses von juristischer Methodik und Rechtspolitik vgl. F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl. 2002, Bd. I, S. 435 ff. 14 Untersuchung und zahlreiche Nachweise bei F. Müller, Demokratie in der Defensive, 2001, S. 73 ff.; vgl. auch den Beitrag im vorliegenden Text (Fn. 12). - Zum Reden von „Volk" vgl. dens., Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995; Wer ist das Volk?, 1997. 4 F. Müller

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Was die Last der Sprachlichkeit angeht, so widerstehen demokratierechtliche Normtexte verschieden stark. Die sich an Staats- und Parteifunktionäre richten, unterliegen einer erheblichen Erosion. Mehr „nur virtuell", als es der Demokratie bekommt, sind Sätze des Grundgesetzes wie „Ihre (sc. der politischen Parteien) innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben" (Art. 21 I 3, 4 GG) oder „Sie (sc. die Abgeordneten des Deutschen Bundestags) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" (Art. 38 I 2 GG). Statt zu Demokratie und Transparenz tendiert, auch unter der Geltung solcher Normtexte, der betreffende Bereich zu Oligarchie und Korruption. „Aufträge und Weisungen" beispielshalber sind an der Tagesordnung: Fraktionsdisziplin, Fraktionszwang", von Pressure groups ins Parlament „entsandte" Interessenvertreter. All das gehört zum Sachbereich des Art. 38 I 2 GG; dagegen nicht zu seinem Normbereich, denn der Text des Artikels nimmt Weisungen und Aufträgen dieser Art die rechtliche Wirkung. So lange aber die tatsächlichen Mittel der Nötigung nicht angetastet werden - vor allem im Rahmen des Aufstellens der Kandidaten - , bleibt innerparteiliche Demokratie, die das Grundgesetz ohne Wenn und Aber verlangt („muss", Art. 2112 GG), im schlechten Sinn nur virtuell. Dem wäre gesetzlich abzuhelfen: durch eine Aufstellung der Kandidaten nur noch durch Urwahl unter den Parteimitgliedern; sowie durch den Zusatz, dass die gegenwärtigen Mandatsträger, falls sie weiterhin in der Politik bleiben wollen, automatisch mit zu den Kandidaten zählen, die sich der Urwahl stellen. Auf einem anderen Gebiet, dem der tatsächlichen Repräsentativität des Parlaments („sind Vertreter des ganzen Volkes", Art. 3812 GG) wäre ein Kürzen der Zahl der verteilten Sitze proportional zur jeweiligen Wahlenthaltung ein Schritt zu mehr Demokratisierung (wobei die Proportion nicht 1:1 zu sein brauchte und in jedem Fall die Verfassung geändert werden müsste). Beides ist durchaus denkbar, gilt aber als „undenkbar", soll heißen: mit diesen Abgeordneten und diesen Parteien nicht zu realisieren; so wenig wie ein anständiges, ein verfassungsgemäßes Finanzstatut der Parteien. Diese vom gesunden Menschenverstand reflexartig vorgebrachte Undenkbarkeit zeigt zugleich, wie verhärtet die real existierende oligarchische Herrschaft und wie schwach die Initiativen zu stärkerer Demokratisierung sind. Weniger virtuell sind demokratierechtliche Normtexte, die sich an das Demos richten, als Basis für und Aufforderung zu politischer Aktivität. Demokratie als lebendiger Zustand einer Gesellschaft ist wesentlich auf Grundrechte (Menschenund Bürgerrechte) gestützt, auf Initiativen der Einzelnen und Gruppen in den Handlungsräumen, die grundrechtliche Garantien (wie Meinungs-, Versammlungs-, Demonstrationsfreiheit, freie Tätigkeit von Vereinigungen, Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen jeder Art) eröffnen. Insoweit sie in Ermächtigungen dieser Art bestehen, ziehen sich demokratisch relevante Normtexte auch angesichts der dem Recht und seiner Sprache eingeborenen Virtualität relativ gut aus der Affäre.

III. Makroprozesse: Demokratisierung im Nationalstaat und auf dem Feld des Inter- und des Transnationalen Das „Ende des Nationalstaats" wird von allen Seiten eingeläutet, wenn nicht bereits konstatiert; zusammen mit dem „Ende der Demokratie" (da diese, dem alten Paradigma beinahe nur unbewusst inhärent, als an einen - nationalen - Staatsapparat gebundene gesehen wird). Ein näherer, ein neuer Blick zeigt aber, dass sich das als willkürlich herausstellen könnte: der Demos ist nicht der Gewaltapparat, noch auch von dessen Gnaden. Man amputiert Demokratie, wenn man sie bloß als Positionswechsel innerhalb des alten, ja archaischen Herrschaftsdiskurses auffasst. Man nimmt ihr den Wurzelboden weg, wenn man nur das Aktivvolk der Wahlberechtigten und allenfalls noch das Zurechnungsvolk der Staatsangehörigen anerkennen will - und nicht auch zugleich immer das Adressatenvolk aller von den Normen Betroffenen, aller Menschen im Bereich der „demo"kratischen Herrschaftsordnung. Und das erste der beiden Totenglöcklein stellt sich als zumindest voreilig heraus: der Nationalstaat hat immer noch wichtige Funktionen und Wirkungen, nicht zuletzt auch Potenziale für weitere Demokratisierung. Ganz abgesehen von all den unverdrossenen Sekten der Jüngsten Tage, hatte man uns ja auch schon das „Ende der Geschichte" zu dekretieren versucht.

1. Bedingungen für menschenrechtsgestützte Demokratisierung im Nationalstaat: Besonderheiten der arabischen Länder (1) „Rechtsstaat": Ohne - mindestens Ansätze zum - Rechtsstaat sind Menschenrechte im Nationalstaat nicht wirksam, auch nicht als normative und praktische Grundlage für Demokratisierung. Der Begriff ist nicht eindeutig; so besagt die deutsche Version „State of Law" nicht genau dasselbe wie „Constitutional State" oder das angelsächsische „Rule of Law". Die moderne Diskussion ist sich aber darin einig, dass nicht nur formale (wie in der Tradition), sondern auch inhaltliche Elemente dazu gehören. Standard ist ferner, dass im Rechtsstaat das Recht zu herrschen hat; auch der Staat ist ihm unterworfen. Alle seine Funktionen, einschließlich der Gesetzgebung, stehen unter der Verfassung; und Exekutive wie Justiz zusätzlich unter dem Gesetz. 4*

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III. Makroprozesse: Nationale und transnationale Demokratisierung

Zur Gesetzmäßigkeit kommen als weiterer Minimalinhalt Gewaltenteilung und wirksame Grundrechte; sowie für den Einzelnen: Rechtssicherheit, möglichst weitgehender Schutz vor Missbrauch der Macht, Recht auf faires Verfahren. Institutionell entscheidend - gerade auch für die arabisch-islamischen Länder - ist die Wirkung der Gewaltenteilung: sie differenziert Recht von Politik, emanzipiert damit Verwaltung und Justiz ein Stück weit vom Zentrum der Macht. (2) „Menschenrechte": Im einzelnen brauchen sie hier nicht genannt zu werden. Gruppiert werden diese Rechte nach ihren Adressaten oder ihrer Funktion, heute auch nach so genannten Generationen; schließlich, besonders wichtig, nach,Rechtsquelle4 und normativem Rang. Zum ersten Kriterium empfiehlt sich als Oberbegriff „fundamental rights" (Grundrechte). Zu diesen gehören die human rights, deren Träger alle Menschen sind (wie bei der Menschenwürde, der Religions -und Meinungsfreiheit), und die civil rights. Diese gelten jeweils für die Staatsbürger (wie Versammlungs -und Vereinigungsfreiheit, aktives und passives Wahlrecht). Nach dem Kriterium der Funktion unterscheiden sich die Abwehrrechte von den Leistungsrechten. Die liberale Abwehr zielt gegen den Staatsapparat, ζ. B. Menschenwürde, Gleichheit, Leben und Freiheit, Verbot der Folter (Art. 1, 3, 5 der Allg. Erkl. der MR); sie sind gerichtlich einklagbar. Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leistungs- und Teilhaberechte verpflichten die Staaten zu positivem Handeln - so die Rechte auf soziale Sicherheit, auf Arbeit und Bildung (Art. 22 ff. der Allg. Erkl. der MR). Sie verpflichten die nationalen Regierungen, Prioritäten beim Verteilen öffentlicher Mittel zu setzen. Das ist eine klassische Aufgabe der Parlamente, und diese haben die Leistungsgrundrechte als Richtlinien zu beachten. Einklagbar sind diese vor nationalen wie internationalen Gerichten in aller Regel nicht. Ein Beispiel dafür bietet, dass sich die Staaten 1996 auf der Habitat Ii-Konferenz nicht auf ein einklagbares Recht auf Wohnung einigen konnten. Die Einteilung nach „Generationen" meint mit der ersten die Abwehrrechte gegen staatlichen Übergriffe und mit der zweiten die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auf staatliches Handeln. Erst zum Teil anerkannt ist die dritte Generation: kollektive Rechte wie die Selbstbestimmung der Völker, das Recht auf Entwicklung, Frieden und gesunde Umwelt und die Befugnis der Völker, über ihre natürlichen Reichtümer frei zu verfügen - sehr aktuell für eine Reihe arabischer Staaten. Ganz neu in der internationalen Debatte ist die „vierte Generation": ein auf Menschenrechte gestütztes Recht auf Demokratie. Ebenfalls später zu erörtern bleibt die normative Qualifikation der Grundrechte nach Rechtsquelle und Rang: innerhalb der Staaten auf Gesetzes- oder (zumeist) auf Verfassungsebene; im Internationalen Recht als Völkergewohnheitsrecht oder

1. Menschenrechtsgestützte Demokratisierung im Nationalstaat

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als Menschenrechtskonvention sowie, mit höchster Rangstufe, einzelne Menschenrechte von zwingender Natur („ius cogens" im Völkerrecht). Die supranationalen Rechte als eine daneben selbständige Kategorie betreffen bisher nur die Europäische Gemeinschaft und sind, im Übrigen, als prozessual einklagbare noch nicht normiert worden. (3) „Demokratie": Hier herrschen bekanntlich die verschiedensten Auffassungen. Entscheidend ist jeweils, wie die einzelne Verfassung die demokratischen Institutionen ausgestaltet hat. Als Basis geht es um einen offenen politischen Prozess, an dem alle Angehörigen des Volkes gleichberechtigt teilhaben können; nicht nur die Mitglieder einer Staatspartei oder einer „staatstragenden" Religionsgemeinschaft, Volksgruppe oder sozialen Schicht. Politische Gleichheit aller, Chancengleichheit für politische Parteien und das Recht auf legale Opposition gehören zum ,harten Kern' von Demokratie. Andernfalls ist der Wechsel von Mehrheit und Minderheit keine reale Option. Dieser normative Mindeststandard hat zudem noch soziale Voraussetzungen - Exklusion und Massenelend lassen keine lebendige Demokratie zu. Und: Der demokratische Rechtsstaat stützt die wichtige Trennung von Politik und Verwaltung. Der bürokratische Apparat hat demokratisch erlassene Gesetze auszuführen und bekommt dadurch eine eigene Legitimation, einen besseren Stand gegen Pressionen durch die Staatsmacht. Dieses Thema lenkt den Blick besonders auf Vorgänge von Demokratisierung; von „transformation", die im Jargon der Sozialwissenschaft nach „transition" und „consolidation" strukturiert wird. Unstreitig sind je nach Region und Kultur, aber auch nach Land die Wege dorthin verschieden1. Historisch verliefen der angelsächsische vor allem via Industrialisierung, der französische vor allem via Bürokratisierung, der preußisch-deutsche über beides (weshalb die demokratische Transformation Deutschlands bis weit in das 20. Jahrhundert hinein dauerte ). Mein Eindruck ist, dass heute und in Zukunft ein vierter Weg entscheidend sein wird: der einer Demokratisierung „von unten", auf dem Weg über zunächst informelle Partizipation, durch die Tätigkeit von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), also aus der Dynamik der Zivilgesellschaft. Deren Stärkung hängt sicherlich stark von Angeboten ab, welche die Verfassung macht, wie Grundrechte, Gewaltenteilung, Wahlrecht und faire Verfahren. Aber im Übrigen speist sie sich aus informellen Faktoren wie einer günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und der längerfristigen Tendenz der Änderung von Einstellungen und Verhaltensweisen, zum Beispiel: soziale, religiöse, ggf. auch nationale Konfliktlinien innerhalb der Gesellschaft; kulturelle Transformationen wie Säkularisierung, Wertewandel in Familie und Erziehung; das Handlungspotenzial der Eliten, die Mobilisierbarkeit größerer Teile der Bevölkerung; nicht zuletzt auch ausländische bzw. internationale Einflüsse.

1

Zu den folgenden Kriterien: Puhle, S. 317 ff.

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(4) „Partizipation": Seit längerem, und zunehmend im vergangenen Jahrzehnt haben unüberschaubar viele NGOs (Bürgervereinigungen, Rechts -und Umweltinitiativen, Menschenrechtsgruppen, politische Gruppierungen) eine Art von Weltgewissen zu begründen begonnen. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft in emerging democracies oder in Ländern auf dem Weg dorthin soll nicht mehr einfach geduldig abgewartet werden; die Rolle des Einzelnen und des kollektiven „Akteurs" ist zur neuen Leitfigur geworden. Auch in den scheinbar sicher etablierten Demokratien ist Partizipation dringend nötig - als Mittel gegen oligarchische Verkrustung des Parteienstaats, gegen mediale Manipulation, gegen um sich greifende politische Apathie. Das „freie" Mandat, das Fehlen eines demokratischen re-call, die Reduktion plebiszitärer Entscheidungen, die Oligarchisierung gerade auch der Parlamente selbst lassen gerade in den „alten" Demokratien der westlichen Länder das demokratische System sehr „alt aussehen". Hier wird nur verstärkte Partizipation das Abrutschen der Demokratien in eine Farce verhindern können; und in Ländern auf dem Weg zur Demokratie wie den meisten islamisch-arabischen muss sie geradezu die Basis für diesen process of democratic transformation liefern. (5) Interkulturelle Diskussion: Diese Konzepte beschreiben politisch eine Wünschbarkeit, rechtlich ein Sollen. Sind sie dann überhaupt interkulturell verhandelbar? Politisch kann man sagen: ja, falls erhebliche, mehrheitliche Teile der betroffenen Völker einen solchen Wandel wollen; falls das Vorhaben „Demokratisierung" dort von sehr vielen Menschen getragen wird, statt nur von Eliten verwaltet bzw. von den Oligarchien, die an der Macht sind, verraten. Aber ist es zulässig, etwa die Menschenrechte in ihrer „westlichen" Form als Modell zu nehmen? Die Vorwürfe des nur partikulären hegemonialen Denkens, des Kulturimperialismus sind schnell zur Hand. Aber ich höre sie vor allem von den Mächtigen (und ihren Intellektuellen); und nicht von betroffenen Menschen, die darunter leiden, sich politisch nicht äußern und sich nicht frei informieren zu können. Ich hüte mich also, eine akademische Debatte über „Universalismus" zu führen und nehme die Frage von ihrer empirischen Seite: von jener der körperlichen, seelisch-geistigen, politisch-sozialen Grundbedürfnisse, die von den Menschen geäußert werden. Zu Rechtsstaat, Menschenrechten und Demokratie darf niemand gezwungen werden; und wo das geschieht - etwa in Verbindung mit der Annahme der sogenannt freien Marktwirtschaft oder mit einem Militärbündnis ist das ein Missbrauch, eine unverzeihliche Instrumentalisierung. Der Westen, der sich - unter einem edlen Etikett - aufdringlich oder imperial aggressiv verhält, denunziert „seine" eigenen normativen Werte. Von den Menschenrechten wird hier dagegen aus der Sicht der Opfer gesprochen, nicht aus jener der Gewaltapparate. So gesehen, sind sie empirisch unverzichtbar, weil die Gewalt universal ist und die Grundbedürfnisse der Menschen es auch sind. Mit anderen Worten: Grundrechte und Demokratie taugen aus diesem Grund als

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praktische Ziele, und nicht weil der Westen (seit Reformation und Aufklärung) sie entwickelt hat. Das ist kein anthropologischer, es ist nur ein chronologischer Vorsprung: es sind Erfahrungen weiterzugeben, nicht etwa Lektionen zu erteilen. Ferner sind Rechtsstaat und Demokratie sehr verschieden ausgeprägt, können also unterschiedlichen Kulturen jedenfalls ein Stück weit angepasst werden. Unvereinbar sind beide aber mit (auf sozialer beruhender) politischer und rechtlicher Exklusion von Teilen des Volkes oder von ethnischen bzw. religiösen Minderheiten; unvereinbar damit, dass es als Subversion behandelt wird, wenn ausgeschlossene (Unter-)Bürger die Grundrechte beanspruchen wollen, die ihnen der Text des geltenden Rechts zuspricht, oder dass für sie auch Rechtsschutz und politische Mitwirkung nur auf dem Papier stehen2. Phänomene solcher Exklusion sind allerdings nicht nur älteren Kulturtraditionen anzulasten; durch die zum Teil grausamen Folgen weltweiter Deregulierung und turbokapitalistischer Globalisierung werden sie verschärft. Demokratie erfordert es, wirtschaftliche Vorgänge in soziale Regulierung einzubetten; neben den noch zu schaffenden transnationalen Regelwerken bleiben die nationalen unerlässlich. So braucht, als Beispiel, der UNO-Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte von 1966 (WSK Rechte, in Kraft getreten 1976) zu seiner tatsächlichen Umsetzung die Staaten und ihre Vertragstreue Politik. Global angekurbeltes, bloß monetär und makrostatistisch ausgewiesenes Wirtschaftswachstum ohne rechtsstaatliche Verfahren und good governance befriedet die Gesellschaften der wenig entwickelten und der Schwellenländer nicht etwa, es füllt sie mit Konfliktpotenzial an und destabilisiert sie. Es gibt also rechtliche Standards, deren internationale (und damit auch interkulturelle) Diskussion sich aus der Sache ergibt. Dazu kommt noch, dass ein wichtiger Teil der Rechtsstaatlichkeit (vor allem die Verfahrensgarantien) und demokratischer Partizipation (ζ. B. Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit) auf internationalen Menschenrechten beruhen, insoweit also normativ gestützt sind. Und die Menschenrechte selbst - falls und so weit verbindlich - können nicht mehr als unzulässige Einmischung abgetan werden; übrigens von niemandem, angefangen mit den G-7 / 8-Ländern. Wie weit sind sie nun aber normativ? Seit dem Zweiten Weltkrieg werden, tendenziell, immer mehr Rechte der Einzelnen völkerrechtlich abgesichert; insoweit werden sie auch Gegenstand der internationalen Politik und können sich die Staaten nicht mehr allein auf ihre innere Zuständigkeit („domaine réservé") berufen 3. Trotz regionaler Differenzen, trotz kulturell verschiedener Gewichtung von Gemeinwohl und Individualrechten tendiert die Anerkennung der Menschenrechte zum Universellen. 2

Hierzu und zum Folgenden: Müller, Welcher Grad an sozialer Ausgrenzung kann von einem demokratischen System noch ertragen werden?, in: ders. (2001), S. 73 ff.; ders., Globalisierung und Demokratie, in: ebd., S. 84 ff. 3 Dazu Kokott.

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(6) Dieses Thema lenkt den Blick zunächst auf die Arabischen Charta der Menschenrechte von 1994; sie wurde (durch Resolution 5437) vom Rat der Arabischen Liga angenommen, ist aber (durch hinreichend viele nationale Ratifikationen) noch nicht in Kraft getreten. Eine ganze Reihe ihrer Garantien entsprechen aber internationalen Normen - also kommt es auf deren allgemeine Verbindlichkeit an. Verbindlich sein können diese als Völkergewohnheits- oder als Völkervertragsrecht. Seit der UN-Charta von 1945 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hat sich ein immer dichter werdendes Gewebe aus positivem Recht gebildet. Inzwischen gibt es Hunderte von - oft partiellen - Menschenrechtskonventionen, so die beiden Pakte von 1966 über bürgerliche und politische sowie über die WSK-Rechte; auch wurde auf der Wiener Konferenz von 1993 ein UN-Hochkommissariat für Menschenrechte eingerichtet. Ferner können nicht strikt bindende Standards (wie die Pflichten im Rahmen der OSZE) als sogenanntes „soft law" eine Brücke zwischen nationalem und internationalem Recht bilden, international wirksame Prinzipien, Wertorientierungen ausbilden. Konservative politische Eliten klammern sich noch an die Vorstellung traditioneller Staatssouveränität; aber auf dem Feld der Menschenrechte geht die Tendenz in die Gegenrichtung. So hatte die Allgemeine Erklärung von 1948 als solche nur Empfehlungscharakter. Sie wird aber heute vielfach als Charta der anerkannten Standards angesehen, d. h. als verbindliches Völkergewohnheitsrecht 4. Allerdings setzt dies eben eine von diesen Überzeugungen getragene Staatenpraxis voraus, eine allgemein als Recht anerkannte Übung. Daran mangelt es im Fall einiger islamisch geprägter Staaten, und zwar in zwei Fragen: der von Diskriminierung freien Garantie der Religionsfreiheit sowie der Gleichberechtigung der Frauen. Insofern reicht das internationale Gewohnheitsrecht nicht aus; und das Diskriminierungsverbot (auch bezüglich des Geschlechts und der Religion) des Art. 2 der Arabischen Charta der Menschenrechte sowie deren Freiheit der Religionsausübung (Art. 27, 37) sind, wie gesagt, noch nicht in Kraft gesetzt worden. Dagegen sind unter den „negativen" Abwehrrechten heute unbestritten verbindliches Völkergewohnheitsrecht die Rechte auf Leben und Freiheit, das Folterverbot, die Meinungs- und Informationsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinsfreiheit, der Schutz vor willkürlicher Festnahme und Inhaftierung - also auch gegenüber den arabischen Staaten, die es nicht riskieren, diese Garantien zu bestreiten. Eine andere Frage ist die inoffizielle menschenrechtswidrige Praxis - aber das gilt für alle Staaten. Hier geht es zunächst um die normativen Grundlagen. Zu diesen zählt dann noch das Völkervertragsrecht: universelle und regionale Konventionen. Die arabische ist noch nicht ausreichend ratifiziert worden; und den beiden internationalen Pakten der UNO von 1966 (in Kraft seit 1976) sind ζ. B. Bahrain, Katar, Oman und Saudi-Arabien noch nicht beigetreten; als nicht-arabi4 s. Verdross/Simma,

S. 822 f.

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sches islamisches Land aber auch nicht die Türkei und - beim Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte - etwa auch nicht die USA. Das ist aber kein Trost für den schlechten normativen Standard mancher arabischer Länder; wie es auch kein ausreichender Trost ist, dass - abgesehen von diesen - die Konvention zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung der Frau einen sehr hohen Ratifikationsstand aufweist 5. Den höchsten normativen Rang haben Grundrechte, die zum zwingenden Völkerrecht gehören und ausnahmslos gegen alle Staaten gelten („ius cogens", „erga omnes-Verpflichtungen"): diese sind das Sklaverei verbot, das Verbot der Folter oder unmenschlicher bzw. erniedrigender Strafe und Behandlung sowie der Schutz des Rechts auf Leben gegen willkürlichen Entzug ohne fair trial. Ein Blick auf die Wirklichkeit zeigt wieder, wie weit sie den Normen widerspricht. Da jetzt der Internationale Strafgerichtshof - trotz des erbitterten Widerstands der USA - eingerichtet worden ist, kann jedenfalls ein gewisser Teil dieser Verstöße im Rahmen seiner eingeengten Zuständigkeit verfolgt werden. Davon abgesehen, gibt es nur das Instrument der sogenannten humanitären Intervention, das aber noch heftig umstritten und nicht als Völkergewohnheitsrecht anerkannt ist. Was zur - juristischen - Durchsetzung der Menschenrechte in arabischen Ländern und anderswo daneben noch bleibt, ist ebenfalls nur sehr schwach: die Menschenrechtskommission der UNO besteht aus Regierungsvertretern und ist insoweit nicht operational; der UNO-Menschenrechtsausschuss ist unabhängig, hängt aber wiederum von der Anerkennung durch den angeschuldigten Staat ab6. Regional ist das Schutzsystem in Europa hochgradig ausgebaut; weniger juridifiziert ist das interamerikanische (weshalb es leichter nach Afrika und Asien exportiert' werden kann). Am schwächsten organisiert ist der Schutzmechanismus der Arabischen Charta (Art. 40, 41): nur ein Expertenausschuss sowie Menschenrechtsberichte, keine Untersuchungen in den Einzelstaaten, kein Gerichtshof. Aber selbst diese schwachen Schutznormen waren noch nicht in Kraft zu setzen. (7) Einige Ansatzpunkte für die arabischen Länder: Über das bisher Gesagte hinaus sind zuerst noch zwei Punkte festzuhalten: Einmal bedingen und brauchen Rechtsstaat, Grundrechte und Demokratie einander. Ohne „State of Law" und ohne wirksame Freiheitsgarantien funktioniert keine Demokratie; und schon gar keine, die auf die Partizipation der civil society setzt. Der Rechtsstaat wiederum basiert seinerseits auf Freiheitsrechten und umgekehrt brauchen diese inhaltlichen Garantien rechtsstaatlich korrekte Verfahren, um im Konflikt durchgesetzt werden zu können.

5 Bereits am 1.1. 1998: 161 Ratifikationen. 6 Vgl. Kokott, S. 189 ff. zu den internationalen Systemen der Durchsetzung der Menschenrechte.

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III. Makroprozesse: Nationale und transnationale Demokratisierung

Und zweitens wird an der Front der internationalen Diskussion die Demokratie zunehmend direkt auf die Menschenrechte gestützt 7 und insoweit von den Grundrechten der „vierten Generation" gesprochen. Was die Verhältnisse in den arabischen Ländern angeht, so sind die Begriffe „Integrismus", „Fundamentalismus" und „Islamismus" im vorliegenden Zusammenhang nicht nützlich. Wir sprechen hier besser vom politischen Islam. Dieser umfasst Parteien und Bewegungen über die gesamte Skala hinweg: von theokratischtotalitären bis zu weltlich-demokratisch orientierten (wie die Partei Wasat [„die Mitte"] in Ägypten, die auf Pluralismus und Menschenrechte setzt); von marxistischen, sozialdemokratischen oder reformistisch-liberalen bis zu konservativen und reaktionären (wobei für die wahhabitische Richtung der Ausdruck „Fundamentalismus" durchaus trennscharf ist). Gruppen des politischen Islam mögen eine Diktatur exekutieren, wie im Sudan, oder im bewaffneten Untergrund agieren, wie in Algerien; sie werden in einer Reihe arabischer Länder (ζ. B. Syrien, Tunesien, Irak) gnadenlos unterdrückt oder sind in anderen (Libanon, Jordanien, Kuweit, Jemen) in die offizielle Politik eingebunden, mit Parlamentsabgeordneten und z.T. auch als Regierungsmitglieder. Demgemäß verschieden wurden und werden sie von einheimischen Regierungen wie auch von ausländischen Mächten, besonders skrupellos von den USA, politisch instrumentalisiert. Entscheidend ist das ihnen Gemeinsame: der Bezug auf die Religion des Propheten, die von ihnen aber unterschiedlich bis gegensätzlich interpretiert wird. Das war in der Geschichte des Christentums nicht anders - es ist das Schicksal aller Heiligen Schriften. Mit anderen Worten: der Islam ist nicht als solcher ein Hindernis dafür, den Weg von Rechtsstaat, Menschenrechten und Demokratie zu gehen. Für die Vorkämpfer dieser Projekte in islamischen Ländern bietet das die Möglichkeit, mit den entsprechenden Gruppen des politischen Islam zusammenzuarbeiten. Kein grundsätzliches Hindernis ist dabei, was oft als solches bezeichnet wird: der unter Anklage stehende Individualismus „des Westens", dem das islamische Verständnis von Gemeinschaft (innerhalb der Umma, der umfassenden Gemeinde) und der Pflichten gegenüber dieser entgegengestellt wird. Der Gedanke von Pflichten als Korrelat der Rechte des Einzelnen ist der westlichen Menschenrechtstradition aber nicht fremd; nur als Beispiel war der 2. Hauptteil der Weimarer Verfassung mit „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen" überschrieben; und heute wichtiger - formuliert Art. 29 Absatz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948: „Jeder Mensch hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist". Angeknüpft werden kann auch an die islamische Tradition in der Theologie, die „Gerechtigkeit" vom Prinzip der Gleichheit her denkt, vom „Ewigen Pakt" (fi'ra), 7 Vgl. dazu etwa: Müller (1997), S. 57 ff., 62. - Zu diesem: Bronkhorst. - Zur philosophischen Argumentation ζ. B. Habermas (1999), S. 401 u.ö. - Zur „vierten Generation der Menschenrechte": Bonavides.

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der nirgends eine Ungerechtigkeit zulässt, somit auch keinen Zwang in der Religion und der damit auch Andersgläubigen ihr Recht auf eigene freie Wahl einräumt 8. Der Islam hat denn auch in seiner Geschichte die Toleranz auf, wie oft hervorgehoben wird, erstaunliche und das Christentum beschämende Weise praktiziert. Allerdings betrifft dies nur die individuelle Religionsfreiheit. In diesem Sinn formuliert (enger als die AllgErkl.d.MR, Art. 18) Art. 27 der Arabischen Charta der Menschenrechte das Recht, jede Religion „zu praktizieren und ... zu bekunden". Zentral für unser Thema ist allerdings die Frage der institutionellen Religionsfreiheit im Sinn einer Differenzierung religiöser und säkularer Funktionen, der Entwicklung eines weltlichen Staatsaufbaus neben der Umma. Das würde (und wird) bedeuten: den Übergang von einer hierarchischen Gesellschaft älteren Stils, einer „stratifizierten", zur modernen funktionalen Differenzierung. Das System der Religion steht dann neben denen der Politik, der Wirtschaft und Wissenschaft, der Familie und Erziehung, etc. Die religiöse Moral kann ihren Universalismus beibehalten, herrscht aber nicht mehr hierarchisch über die ganze Gesellschaft. „Säkularisierung" heißt so, dass die Religion mit anderen Bereichen, Diskussionen und Wertvorstellungen in Konkurrenz steht9. Das ist unvereinbar mit dem „absoluten" und darum auch gewaltsam durchzusetzenden Wahrheitsanspruch eines fundamentalistisch verstandenen Islam (aber auch Judaismus oder Christentums). Die internationale Menschenrechtsentwicklung seit dem Ende des 2. Weltkriegs ist jedoch nicht metaphysisch gestützt, sondern auf demokratische Autonomie und gesellschaftliche Säkularisierung. Die normative Toleranz, auf der sie beruht, richtet sich nicht gegen den Wahrheitsanspruch der Religion; sie verlangt auf der anderen Seite, dass auch andere Überzeugungen mit dieser gleichberechtigt koexistieren dürfen. Ein faszinierendes „Spielfeld" (und hoffentlich nie: „Schlachtfeld") für einen solchen Umbruch bietet der Iran als ein nicht-arabisches islamisches Land. Beim Bilanzieren der ersten Amtszeit von Staatspräsident Chatami im Jahr 2001 zeigte sich 10 , dass gerade die Demokratisierung - und zwar im institutionellen Bereich - nicht vorangekommen war. Die Theokratie behauptete sich gegen die liberalen Vorschriften der Verfassung; vergeblich hatte der Staatspräsident vor dem Parlament 120 Verfassungsverstoße eingeklagt. Anders stellt sich die Lage auf dem Feld der informellen Demokratisierung dar. Nach den Angaben des Dachverbandes der reformerischen Organisationen haben zahlreiche politische Gruppen die Zulassung erreicht, wurden weit über 1000 unabhängige Publikationsorgane und etwa 4000 NGOs gegründet, auch Wahlen zu 8

Dazu Abu Zayd. 9 Vgl. Luhmann (1977; 1996, S. 609 ff.). - Zur Frage der Toleranz: Habermas (Fn. 7), S. 401 ff. 10 Dokumentation nach: Le Monde diplomatique vom 15. 6. 2001, S. 8.

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Dorfräten und Kommunalparlamenten abgehalten. Das bedeutet, wenn es sich konsolidieren könnte, eine dezentrale Demokratisierung von unten mit den Kräften der Zivilgesellschaft. Der Dachverband weist zugleich auf einen entsprechenden „Klimawechsel" der politischen Redeweise sowie im Kulturleben hin. In Ländern mit theokratischen oder sonst autoritären Machtzentren wird diese Form von Demokratisierung entscheidend werden, basierend auf Meinungs-und Informations-, auf Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit, so weit sie in Verfassungstexten schon einmal enthalten und von den Menschen gegen theokratischautoritäre Intervention mutig beansprucht werden. Auch intern (noch) nicht demokratische, sondern ζ. B. klientelistische Einzelgruppen tragen wenigstens zum Pluralismus der civil society bei. Wenn erhebliche Teile der Bevölkerung auf diese Art organisierbar werden, können sich Machteliten - jedenfalls auf längere Sicht nicht ohne Zusammenwirken mit ihnen halten. Der Widerstand der NGOs ist Menschenrecht und er ist friedlich. Sie setzen sich der Kommunikation und Kritik aus, schaffen dadurch allmählich politische Öffentlichkeit. Dass es nur Minderheiten sind, spricht nicht gegen sie; in den etablierten Demokratien ist das nicht anders. In den emerging democracies sind die NGOs demokratisch legitimiert, indem sie undemokratische Herrschaft erschweren, politische Alternativen entwickeln und auf pluralistische Weise das Gemeinwohl anstreben. Sie sind, in sehr schwieriger Umgebung, der Kern von Demokratisierung. Dabei geht es nicht darum, „die" Nichtregierungsorganisationen im allgemeinen emphatisch zu bejahen - mit einer Art von hochgestimmter Naivität, die etwa im Französischen „angélisme" oder im Deutschen „Blauäugigkeit" genannt wird. Unter ihnen finden sich alle Formen innerer Ordnung, von absolutistischer Hierarchie (wie z. B. in religiös motivierten Verbänden) bis zu kaum regulierter Demokratie und spontaner Organisation. Bei Nichtregierungsorganisationen aus den G 7-Ländern sind, auf dem Terrain der Dritten und der Vierten Welt, Erscheinungen wie übergroße Bürokratisierung oder Demonstration von Überlegenheit festzustellen, oft auch nicht leicht vermeidbar. Die Tätigkeit von NGOs aus den reichen Ländern verschleiert nicht selten auch die wirklichen Macht-und Gewaltverhältnisse, ähnlich der kirchlichen Mission im historischen Kolonialismus11. Das hier Gesagte stützt sich entscheidend auf die Rolle der autochthonen, der in den Ländern selbst und vor allem im Widerstand gegen politische und / oder wirtschaftliche Gängelung und Übermacht gegründeten Organisationen. Vor allem durch deren Aktivitäten kann etwas entstehen, das ich „Parallelverfassungen" nennen möchte. Das System der Theokratie - wie im Iran - bildet in dieser Sicht die offizielle Verfassung. Daneben gibt es eine säkulare als die „erste Parallelverfassung". Eine derartige Verfassungsurkunde kann Politik nicht ersetzen und Demokratie nicht erzwingen; aber die demokratischen Kräfte können, sich auf sie berufend, „einen Fuß in die Tür setzen". Und das kann, trotz aller Sabotage 11

Dazu Petras / Veltmeyer.

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durch das traditionelle Machtzentrum, zu einer fortschreitenden Strukturierung der Zivilgesellschaft und damit zu einer „zweiten Parallelverfassung" führen. In arabischen Ländern, in denen eine säkulare Verfassungsurkunde noch nicht besteht (so wenig wie die Arabische Charta der Menschenrechte schon in Kraft getreten ist), muss die „zweite" Parallelstruktur, die civil society, vorerst die ganze Last auf sich nehmen. Die Lage ist also kompliziert und wird es auch bleiben. Vielleicht sollte man sagen: hoffentlich. Denn wenn die Ent-Komplizierungen kommen, die großen Vereinfachungen in Staat und Gesellschaft, dann ist es mit der beginnenden Freiheit meist wieder vorbei. Vorstehend wurden Elemente eines normativen Konzepts vorgestellt. Sie können als notwendige Bedingungen verstanden werden, um Rechtsstaaten mit Grundrechten und partizipativer Demokratie zu entwickeln. Die zureichenden Bedingungen müssen in den einzelnen Ländern selber hervorgebracht werden. „Demokratie" ist nichts ein für alle Mal Gegebenes; so erleben die politischen Systeme der G 7 / 8-Staaten ohne Zweifel eine Periode der Dekadenz, der drohenden regressiven Transformation. Auch das „Volk" ist keine vorgegebene Größe, sondern durch demokratisierendes Handeln immer erst zu schaffen. Angesichts der ungeheuren Schwierigkeiten in den Ländern, von denen hier die Rede war, ist es gut, an den sehr langen Atem zu erinnern, den die Menschenrechts- und die Rechtsstaatsbewegung, die Demokratie- und die Arbeiter-, die Entkolonialisierungs-, die Friedensund die Frauenbewegung gebraucht haben und unvermindert brauchen; sie sind zugleich Vorbilder und Verbündete.

2. Was die Globalisierung der Demokratie antut und was Demokraten gegen die Globalisierung tun können (1) Wie wirkt, nach bisheriger Erfahrung, Globalisierung auf Demokratie? Genauer gefragt: Wie wirkt das, was wir inzwischen „Globalisierung" nennen, auf das, was wir bisher „Demokratie" genannt haben? „Globalisierung" braucht man hier nicht umfassend zu erklären. Es wäre auch vergeblich. Dafür ist das Phänomen nicht transparent noch gar einheitlich genug: ein Kontext aus weltweiten Wechselwirkungen, die ineinander greifen und auf die einzelnen Faktoren zurückschlagen. Dazu kommen die sehr unterschiedlichen Einschätzungen. Auf jeden Fall zählen zur Globalisierung eine komplexe weltweite Arbeitsteilung, ein rasantes unternehmerisches und volkswirtschaftliches Umstrukturieren und das Anwachsen gegenseitiger ökonomischer Abhängigkeit. Man mag es auch wirtschaftliche Integration der Welt nennen; nicht nur symbolisiert, sondern betrieben durch die neuen Machtzentren: Internationaler Währungsfond (IWF), Welt-

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III. Makroprozesse: Nationale und transnationale Demokratisierung

bank, Welthandelsorganisation (WTO) und Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) - sie bilden seit einem Jahrzehnt klammheimlich eine Art planetarer Exekutive. Mit ihrer Hilfe wendet der Westen seine ökonomischen Modelle ebenso abstrakt wie brutal auf Gesellschaften der sogenannten Dritten Welt an. Was global wird, ist so erst einmal das Gesetz des Kapitals: Profitmaximierung für wenige durch Entfesselung der internationalen Finanzmärkte. Die Mondialisierung ist eine mondiale Monetarisierung. Der Kampf marktradikaler Ökonomen und Politiker seit den 80er Jahren, besonders in den USA und im Vereinigten Königreich, für Angebotspolitik, Sozialabbau und Deregulierung, für hire and fire, „Flexibilität" der Lohnabhängigen, Privatisierung, niedrige Steuern und freie Wechselkurse, ihr und ihrer heutigen Epigonen Krieg gegen historisch erkämpfte sozialstaatliche Normen und gegen die Gewerkschaften diente letztlich dem Zweck, der selbstbezüglichen Logik der Finanzmärkte global zum Durchbruch zu verhelfen. Heute haben sich die zeitlich und räumlich unbegrenzten Bewegungen von Kapitalströmen von den grundlegenden Wirtschafts- und Konjunkturdaten selbständig gemacht. Nach dem System von Bretton Woods (1944) wurden Devisen nur getauscht, um damit Handel und Investitionen zu finanzieren - also in einem Rahmen, der stets auch Feld der Politik und demokratischer Verantwortung gewesen war. Jetzt hat die Spekulation jede rationale, jede im Sinn des Wortes ökonomische Beziehung zum realen Warenverkehr abgestreift. Noch 1971 bezogen sich 90% der internationalen Finanzgeschäfte auf reales und 10% auf spekulatives Kapital; bereits 1995 waren 95% davon spekulativ geworden, zur jetzigen Jahrhundertwende schon 97 bis 98% - bei einer täglich umher floatenden Kapitalmenge von rund eineinhalb Billionen US $. „Anlagekapital" bedeutet typisch nicht mehr langfristiges (ζ. B. in Produktionsstätten oder in Dienstleistungen, also in Wertschöpfung), sondern kurz-und kürzestfristiges (Rendite innerhalb eines Monats, einer Woche, eines Tags als ,,Investitions"ziel). Das uneingeschränkt und ohne Zweifel globale an der bisherigen Globalisierung ist präzise diese Entfesselung der Finanzmärkte. Ihre irrationalen Capricen haben inzwischen Vorrang vor den Ergebnissen allgemeiner demokratischer Wahlen. Was dem zugrunde liegt - seit den 40er Jahren mit F.A. von Hayek und Richard Weaver bis zu Milton Friedman und den heutigen Ultraliberalen, die den Namen des historischen Liberalismus entehren - , ist in der Wissenschaft eine Aneinanderreihung von Glaubenssätzen und in der Praxis das Gesetz des Stärkeren. Legitimieren soll all das die Lebenslüge, schließlich habe der Markt den Kommunismus historisch besiegt. Die Unwahrheit ist doppelt: einmal war es kein immanent ökonomischer Sieg, sondern, auf dem kalten Weg des Kalten Kriegs, ein militärökonomischer („totrüsten!"). Und dann hat nicht der heutige marktradikale Kapitalismus den Realsozialismus in die Knie gezwungen. Es war vielmehr die demokratisch verantwortliche Politik gewesen, die traditionell die Bedingungen für die Märkte des Westens setzte: sozialstaatliche Modelle und solche der

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gemischten Wirtschaft wie „Ordoliberalismus", „soziale Marktwirtschaft", „New Deal", „Great Society". Sehr im Gegensatz hierzu wurde in den USA, begonnen unter Reagan und fortgesetzt durch Clinton, der Schwerpunkt von Innen- und Außenpolitik auf Außenwirtschaft verlagert, von Washington nach Wall Street und Silicon Valley. Auch der britische Euphemismus „Dritter Weg" meint nichts anderes, als sich dieser Globalisierung - hingenommen wie eine Naturgesetzlichkeit, ja vergötzt als historische Notwendigkeit - widerstandslos anzupassen. Das heißt dann „modern"; und für den Rest ist der Blairismus gemäßigt reformerisch im Sozialen, konservativ auf dem Feld der öffentlichen Moral. Der Vorgang des Globalisierens ist selbstbezüglich; über Wirtschaft und Finanzmärkte hinaus wird er auch zu einem politischen und kulturellen, seit Ende der 80er Jahre nach „transnationalem Regieren" verlangend. Nicht nur etwaige moralische Fundamentalisten, auch Sozialwissenschaftler 1 halten fest, dass „nur individualistisch-egoistisches Wachstum, nicht aber Solidarität globalisiert wird". In einer auf längere Sicht vor allem hirnlosen Egozentrik versuchen diejenigen das Turbomodell durchzupeitschen, die es privilegiert. Unter den anderen wächst trotz aller Propaganda der großen Medien, die heute in der Regel Mischkonzernen gehören, der Unmut darüber, dass der Staat die demokratische Kontrolle über all das verliert, was den Interessen der Grosswirtschaft überlassen wird. Bei einer Umfrage aus Anlaß der WTO-Konferenz in Seattle glaubten nur 37% der Amerikaner in der unteren Hälfte der Einkommenspyramide an die Vorteile der Globalisierung. Dagegen waren 63% der Wohlhabenderen überzeugt, dass die globale Wirtschaft gerade ihnen helfe. Die Globalisierung vermindert nicht Ungleichheit, wie ihre Herolde sagen. Sie hat sie bisher verbreitert und verschärft - der Weltsozialgipfel 1995 in Kopenhagen, die UN- Vollversammlung in New York Ende Juni 2000 und der Armutsbericht 2000 des Entwicklungsprogramms der UNO (UNDP) haben bittere Folgerungen gezogen. Die Globalisierung verbessert zwar den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr, den Handel mit Gütern und den Austausch von Arbeitskräften. Aber wenn der Wohlstand auf diese Weise steigt, steigt er nur im abstrakten Durchschnitt. Gewinner sind die Vermögenseigner, ferner die Anbieter hoch qualifizierter Arbeitskraft. Verlierer sind die Arbeiter und einfachen Angestellten, zu schweigen vom Milliardenheer der Arbeitslosen und Ausgeschlossenen. Inzwischen genießen 20 Prozent der Menschen knapp 90 Prozent der Güter. Die reichsten 200 Weltbürger verfügen über ein Vermögen von weit über einer Billion US $. Das entspricht dem jährlichen Einkommen der Hälfte der Menschheit. Eine Milliarde Personen lebt in Wohlstand, vier Milliarden am Existenzminimum, eine Milliarde in grausamem Elend. Nicht nur private Verfügung, auch weltweite Öffentliche Güter 2 1

de Souza e Silva 2000. 2 Global Public Goods, vgl. I. Kaul et al. 1999.

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III. Makroprozesse: Nationale und transnationale Demokratisierung

wie Recht auf Frieden, auf eine intakte Natur, auf Information, auf unbestechliche Behörden und eine faire Justiz werden gerade den Armen und Exkludierten zunehmend vorenthalten, die wegen ihrer verzweifelten Lage all das nicht kompensieren können. Adam Smith, der differenzierter hinschaute, als seine heutigen Fanatiker glauben machen wollen, unterscheidet durchaus zwischen den Gütern und verweist für derartige Gemeinschaftsgüter zunächst auf den regulierenden Staat. Auch über diese klassische Fallgruppe hinaus sprechen gegen den Ultraliberalismus ernste Gründe dafür, dass eine bestimmte Klasse von Problemen, die der Verteilungspolitik, nach wie vor den Staat braucht. Gerade die Demokratie erfordert es, wirtschaftliche Vorgänge in soziale einzubetten - in der heutigen Lage auch mit internationalen Regelwerken3. Sonst machen staatsfreie Marktvorgänge die Verantwortung der Verfassungsstaaten und ihre demokratische Legitimierbarkeit allmählich noch mehr zur Farce. Demokratische Politik hat sich den sogenannten Marktkräften keineswegs unterzuordnen; diese sind weder natürlich noch sind sie historische Gesetze von höherer Dignität. Die zum Teil selbst überbürokratisierte und korrupte Privatwirtschaft scheut demokratische Kontrolle und versucht dabei, gleich den Staat im ganzen aus dem Spielfeld zu kippen. „Die zwanghafte Staatskritik der Marktideologen spiegelt die Furcht wider, dass der Staat das öffentliche Interesse zu effizient vertreten könnte"4. (2) Wann und wodurch begann dieses Abtrennen zentraler Entscheidungen der Gesellschaft vom demokratischen Kontext der Tradition? Man sagt, in den 60er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und nennt es heute etwa Informationsrevolution, digitale Revolution; mit älteren Ausdrücken: Ende des Industriezeitalters, Wechsel vom fordistischen zum postfordistischen Zivilisationsmodell5 oder Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Das ganze hat keinesfalls nur technische Gründe, seit den 70er (und dann weiter verstärkt in den 80er) Jahren griffen massive politische Entscheidungen ein; zur technischen Beschleunigung kamen globale Deregulierung und Abstrahierung von traditionellen gesellschaftlichen Parametern. Das System von Bretton Woods sah sich verabschiedet, die Kontrollen des Kapitalverkehrs wurden aufgegeben, die Wechselkurse wurden flexibel gemacht; innerstaatlich flankierten Sozialabbau und Privatisierung - wiederum politisch entschieden - diese weltweite Entwicklung. Sie verschränkte sich mit der technischen. In der vorherigen Industriegesellschaft konnten die Unternehmen die Konkurrenz bestehen, indem sie beispielsweise Qualität und Produktivität verbesserten. In der „Neuen Wirtschaft" dagegen wächst der Wissensvorsprung der Branchenführer immer rascher, von der Konkurrenz kaum mehr aufholbar. Technisch-industrielle Produktion, wirtschaftliche Nutzenorientierung

3 Scharpf 1997; Streeck/ Crouch 1997. 4

Birnbaum 1997; s. a. dens., 1998. 5 Revelli 1999.

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und demokratische Regulierung über Rechtsvorschriften kennzeichneten das alte Modell. Kapital, Arbeit und Staat als seine Hauptakteure sind typisch in ein rechtlich bestimmtes Netz von Konflikt- und ein rechtlich gerahmtes von Konsensprozeduren eingebunden. Die realen Stützen dieses Typus sind stetiges Wachstum von Wirtschaft und Arbeitsproduktivität sowie zunehmende Massenkaufkraft. Seit der wirtschaftspolitischen Wende Mitte der 70er Jahre - auf der Basis der älteren technischen - wächst die Wirtschaft, indem sie tendenziell Beschäftigung beseitigt; wird punktueller Reichtum rascher und rascher angehäuft, indem ganze Bevölkerungsgruppen, ganze Regionen, ganze Branchen ins Abseits gestellt werden. Die Unternehmen konzentrieren sich rasant, die Konzerne agieren zunehmend transnational; sie sind es, die für erhebliche Teile des wirtschaftlichen Geschehens die Staaten als steuernde Instanz ablösen. Unter dem Druck der Dauerarbeitslosigkeit reduzieren diese ihre Sozialleistungen, können die Haushalte dennoch nicht dauerhaft sanieren und reiben sich in der Konkurrenz um den billigsten, rechtlich am konvenabelsten deregulierten „Standort" angesichts rücksichtsloser Forderungen der Konzerne auf. Auf der Strecke bleiben, unvermeidlich, zentrale Ziele herkömmlicher reformistischer Politik: sozialer Ausgleich, materielle Umverteilung, im Prinzip egalitäre Bildungs- und faire Aufstiegschancen 6. All dies spielt sich seit etwa einem Vierteljahrhundert gerade auch in den zentrischen, den G 7-Ländern ab, sinnfällig am Übergang von älterer konjunktureller zu „neuer", zu struktureller Unterbeschäftigung. Nicht die Konjunktur stockt, sondern das ältere Zivilisationsmodell der Arbeit als Ganzes. Die Arbeitslosigkeit ist „nicht das Resultat einer mehr oder weniger temporären Entwicklungskrise. Im Gegenteil: Sie ist die Form der Entwicklung selbst"7. Die neue Wirtschaft der „Wissens"gesellschaft, auf der Grundlage der Informationstechnik, ist mit anderen Worten immateriell. Ihre Art der Vernetzung wird mit einem noch wenig klaren Ausdruck gerne als virtuell bezeichnet. Auf jeden Fall spottet sie des traditionellen Nationalstaats und seiner Rechtsregeln. Die Akteure der Neuen Wirtschaft sind transnational, sind die wahren „vaterlandslosen Gesellen". Im alten Produktionsmodell brauchte der Reiche den Armen und er sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, die Arbeiter auszubeuten. In der Neuen Wirtschaft braucht er die Armen nicht mehr ohne weiteres; die er braucht, beutet er - immer weniger daran gehindert - weiterhin aus. Aber schwindelerregend riesige Gruppen von Menschen werden überflüssig - wirtschaftlich, sozial, kulturell und rechtlich exkludiert. Diese Vierte Welt der Überzähligen globalisiert sich zusehends, die entwickeltsten kapitalistischen Gesellschaften eingeschlossen. Und die traditionelle Demokratie als repräsentatives Modell unterliegt angesichts dessen ihrerseits einer immer schlechter zu versteckenden Exklusion.

6 Revelli 1999. 7 Revelli 1999; vgl. auch Rifkin 5 F. Müller

1996.

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Ihre Basis kommt ihr abhanden; nämlich sozial und kommunikativ integrierte Menschen, auf die sie angewiesen ist. Wachsende Exklusion, formulierte Niklas Luhmann mit Blick auf Indien, Afrika, Brasilien, aber etwa auch auf Teile der USA, bedeutet die „Produktion" von Millionen menschlicher Wesen, die aus allen gesellschaftlich notwendigen Kommunikationen fallen: „Während im Inklusionsbereich Menschen als Personen zählen, scheint es im Exklusionsbereich fast nur auf ihre Körper anzukommen"8. Besonders gefährlich sind diese Folgen für Entwicklungs- und für Schwellenländer der Weltperipherie. Zum einen wird ihre Wirtschaft von den (in den G 7-Ländern registrierten) Zentralen transnationaler Konzerne gesteuert; es gelingt ihnen immer weniger, einen nennenswerten eigenen Industrie- bzw. Dienstleistungssektor zu schaffen. Zum andern sind sie meistens erst dabei, sich demokratisieren; d. h. mehr oder weniger weit auf dem jahrzehntelangen Weg der Transformation vorangekommen. Zudem belastet sie - so wie Lateinamerika und besonders Brasilien das vor-demokratische Erbe , Gesetze und Verfassungen „symbolistisch", „nominalistisch" zu traktieren: sie als bloßes ius dispositivum, anzuwenden, nur je nachdem und insoweit es den Interessen der dominierenden Schichten dient9. (3) Zunächst ein Zwischenergebnis: Man mag durchaus sagen, über die späteren Folgen einer multidimensionalen Globalisierung bestehe noch wenig an „sicherem Wissen"; schließlich ist sowohl diese selbst als auch das Reden über sie unvermeidlich von Interessen geprägt. Das hier verfolgte Interesse ist es, Demokratie zu verteidigen, zu bewahren, zu stärken. Nicht nur die Blickwinkel, auch die (jeweils in sich kontroversen) Inhalte der Aussagen von Ökonomie, Soziologie, Politikwissenschaften und „cultural studies" mögen (noch) auseinander driften. Aber die bisherigen und - wenn nicht energisch dagegen gehandelt wird - absehbar künftigen Folgen für demokratische Legitimierung sind fatalerweise unzweideutig. Globalisierung ist dabei, die Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen Akteuren und Objekten ihrer Aktion, zwischen Inkludierten und Exkludierten zu vertiefen und zu verbreitern. Jedenfalls die Tendenz geht dahin, die neoliberalen Zweidrittelgesellschaften der Ersten Welt für die Peripherie durch dortige Vi0-Gesellschaften zu ergänzen. Den (entstehenden) Demokratien kommen die (möglichen) Demokraten abhanden; politische Rechte auf dem Papier brauchen soziale Voraussetzungen, um ausgeübt werden zu können. Aber auch von den globalen Akteuren her wird Demokratie zur Farce gemacht. Als Beispiel diene der Internationale Währungs-

» 1998, S. 632 f. F. Müller, 1997 ,S. 57 ff. - Ich merke an dieser Stelle an, dass die Redeweise von „zentrischen und peripheren Ländern" offensichtlich eine Weitung enthält, eine first-world-zentrische. Diese teile ich nicht. Wenn ich diese Ausdrücke hier verwende, dann daran denkend, dass die Menschen der Weltperipherie an die Front gestellt sind, im Erleiden wie im Widerstand; dass sie uns, den im scheinbar selbstverständlichen Wohlstand abgestumpften Bevölkerungen der Ersten Welt, um vieles voraus sind. 9

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fonds. Der IWF behauptet, die demokratischen Institutionen der Länder, mit denen er sich befasst, zu unterstützen. „Tatsächlich aber unterminiert er den demokratischen Prozess, indem er eine bestimmte Politik vorschreibt. Offiziell schreibt der IWF natürlich nichts vor. Er,verhandelt' nur über die Bedingungen zur Gewährung von Hilfe. Aber die Verhandlungsmacht ist nur auf einer Seite - auf der des IWF". Zudem „räumt der Fonds selten den betroffenen Regierungen ausreichend Zeit für Beratungen mit den Parlamenten oder der Bevölkerung ein. Manchmal verzichtet der IWF sogar ganz und gar darauf, Offenheit vorzuspielen, und handelt geheime Abkommen aus" 10 . Wenn dieses Eingeständnis von dem Mann kommt, der von 1997 bis 2000 Vizepräsident und Chefökonom der Weltbank war, kann man es für verlässlich halten. Der Fonds ist innerhalb realer demokratischer Prozesse so wenig verantwortlich wie die anderen Säulen der informellen Welt-Exekutive; entsprechend verantwortungslos können sie handeln. Von der demokratischen Debatte nehmen sie keine Notiz, allgemeinen Wahlen brauchen sie sich nicht zu stellen. Die alten Gegeninstanzen - Parlamente, Parteien - sind nur national zuständig und häufig ohnehin explizit oder implizit einverstanden. Von demokratischer Kontrolle ist keine Rede; und von demokratischer Gegenmacht - im traditionellen Rahmen immer weniger. Dem steht leider nicht entgegen, was (in Ulrich Becks teleskopischer Formel) „Glokalisierung" genannt wird. Zwar geht es immer weniger allein um das ständige Wachsen von Makrostrukturen, welche die globalen Akteure transnational verflechten. Das Neue wird wegen der neuen globalen Vernetzung auch „fassbar ( . . . ) im Kleinen, Konkreten, im Ort, in eigenen Leben, in kulturellen Symbolen". Technische Universalisierung, vereinheitlichende Standardisierung, zentrale Formation neuer Macht auf der einen Seite - Desintegration, teilweise Dezentrierung, Partikularismus, Regionalisierung auf der anderen. Die Aspekte der Globalisierung wie der Regionalisierung / Lokalisierung versucht der genannte Neologismus ineinander zudenken. Doch ist der Rahmen für dieses Ineinander eben immer weniger der demokratische Nationalstaat mit seiner rechtlichen Kompetenz und Verantwortlichkeit. Durch informationsgestützte Ökonomie, Technik, Machtpolitik und Kultur werden „die überlieferten Nationalstaaten und ihre Souveränität durch transnationale Akteure, ihre Machtchancen, Orientierungen, Identitäten und Netzwerke unterlaufen und querverbunden .. . " n . (4) Daneben führt die gefährlichste Attacke auf Demokratie über soziale Exklusion. Nach dem bisherigen Erfahrungswelt ist Globalisierung dabei, sie zu verschlimmern und zu chronifizieren. Exklusion entlegitimiert. Sie lässt das politische Aktivvolk, das legitimierende Zurechnungs- und das Adressatenvolk zum „Volk"

io Stiglitz 2000; eingehend: 2002. n Beck 1997, S. 29, 91. 5*

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als ideologischer Ikone entarten. In dem Grad, in dem globale Märkte Politik diktieren und Steuerungschancen der Regierungen ins Leere laufen lassen, entwerten sie den anspruchsvollen Gehalt des demokratischen Rechts- und Sozialstaats. Mobiles Kapital auf einem staat(en)losen Markt überspielt gewählte Parlamente und Regierungen, durch Erpressung mit „Standortwechsel" im Dienst rein privaten Nutzenkalküls auch deren (etwaige) Orientierung am Gemeinwohl. Es wird genau den demokratischen Methoden der Boden entzogen, mit denen Errungenschaften wie die Menschenrechte und Politikziele wie Umweltschutz zu behandeln sind. Ein früherer Vertreter Frankreichs bei der Europäischen Kommission belehrt denn auch die demokratischen Politiker, sie hätten endlich zu begreifen, „dass die Märkte regieren" 12. Die Bürger Europas können nach wie vor frei sagen, was sie denken, und frei wählen; aber über die für sie entscheidenden Fragen befindet die Europäische Zentralbank, die demokratische Rechenschaft nicht schuldig ist. Und in den weniger entwickelten und den Schwellenländern wächst die Erfahrung, dass global angekurbeltes, nur monetär definiertes und makrostatistisch erfasstes Wirtschaftswachstum rechtsstaatliche Sicherungen und good governance nicht ersetzt; dass es ohne sie die Gesellschaften nicht etwa befriedet, sondern mit noch mehr Konfliktpotential anfüllt, sie destabilisiert. Für die USA und andere Industrieländer sagen Autoren wie J.K. Galbraith , William Lewis und Lester Thurow angesichts eines weiterhin ungehemmten Marktes voraus, die Gesellschaft werde in Stücke reißen: „Der Kapitalismus kann damit fertig werden, die Demokratie aber nicht" 13 . Ländern in Transformationsprozessen, labilen oder „defekten" demokratischen Systemen können die Folgen der Globalisierung gesteigert schaden. Diese sind oft stärker als die Nachwirkung vorautoritärer Traditionen aus einer früheren demokratischen Phase; und sie können die Handlungschancen der civil society leicht überfordern. Dabei sind nicht alle unter den Gegenkräften der neoliberalen Globalisierung intern demokratisch, viele sind ihrerseits autoritär oder klientelistisch verfasst. Doch fördern ihre Aktivitäten wenigstens den Pluralismus des Ganzen. Dabei ist es unverzichtbar, die Organisierbarkeit der Massen zu verbessern; ohne Zusammenarbeit und Kommunikation mit diesen kann sich keine Elite unbegrenzt behaupten. Doch wird dieses überkommene Schema jetzt global überrollt. Demokratisierung von unten, durch eine Vielzahl von Selbstschutz-, Bürgerrechts- und Widerstandsinitiativen, wird durch die Folgen zunehmender Exklusion geschwächt. Diese muss um der (künftigen) Realität eines demokratischen Gemeinwesens willen mit allen Kräften bekämpft und zurückgedrängt werden. (5) In welchen Formen kann Demokratie dem widerstehen? „Die" Demokratie gibt es nicht; nur unterschiedlich Versuche, eine Gesellschaft auf der Grundlage von Souveränität und Selbstbestimmung des Volkes zu organisieren; auf der Basis 12 Thibault de Silguy, zitiert in DIE ZEIT vom 12. 9. 1997, S. 39. 13 Thurow, zitiert in DIE ZEIT vom 26.11. 1998, S. 27 f.

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freier Entfaltung eines jeden und der Gleichheit aller, der Chancengleichheit für eine legale Opposition und auf der Basis der Entscheidung kraft jeweiliger Mehrheit. Das setzt voraus, damit der Wechsel möglich ist, das ganze Volk könne sich auch tatsächlich am politischen Prozess beteiligen. Dem wirkt massiv die Exklusion entgegen. Die ausgeschlossenen Menschen stehen im täglichen Überlebenskampf, können sich in etablierten Institutionen kein Gehör verschaffen. Ihnen fehlt die soziale Grundlage dafür, ihre Rechte auszuüben. Denn es geht nicht nur um Armut oder Marginalisierung; sondern um die fatale „Kettenreaktion der Exklusion" von wirtschaftlich / finanzieller über soziale, soziokulturelle, politische bis zur rechtlichen (Abwesenheit von Rechtsschutz, praktische Verweigerung von Menschenrechten und der Anerkennung menschlicher Würde). Exklusion kann eine primäre sein oder - als Verarmung, sozialer Abstieg wie in den USA, Großbritannien und anderen Industrieländern - eine sekundäre. Deren Ursachen liegen zu einem großen Teil in globalisierenden Prozessen, die ältere Ursachen wie wirtschaftliche Unterentwicklung und Rückständigkeit der sozialen Strukturen (Kazikentum, Klientelismus) überlagern. Überlagert werden auch Verfassung und Gesetze mit ihrem Code Recht / Unrecht durch den Metacode Inklusion / Exklusion - verschärft durch die Auswirkungen rasant globalisierender Monetarisierung und Deregulierung. Entsprechend nehmen die Gefahren für die demokratische Vitalität der politischen Systeme zu. Globalisierung - je nach Entwicklungsstand der betroffenen Gesellschaft fixiert in primärer und stößt in sekundäre Exklusion. Ausschluß aus einem wichtigen sozialen Bereich treibt allzu oft kettenreaktiv auf „politische Armut" zu 1 4 . Die ausgegrenzten Personen werden in vielen Ländern für das Rechtssystem zu Freiwild, angesichts so gut wie systematischer Straffreiheit für staatliche und unternehmerische Täter sowie in Bürokratie und Politik durch Korruption. Schützende Zölle werden aufgehoben, kleine Produzenten einem für sie hoffnungslosen internationalen Wettbewerb ausgesetzt; den einheimischen Regierungen die Möglichkeit genommen, gegenzusteuern. Das tendenzielle Globalisieren des Arbeitsmarkts vermindert den Einfluss der Gewerkschaften, hebelt die Wirkung nationalen Rechts zum Schutz der Arbeit aus. Solche Regeln entstanden seit dem 19. Jahrhundert in langen Kämpfen der Arbeiterbewegung, um den sonst zügellosen Missbrauch durch Ausbeutungs- und Kolonialsysteme zu begrenzen. Sie werden jetzt de-reguliert, einschließlich der neueren Vorschriften über den Schutz von Umwelt und elementaren Lebensgrundlagen aller - ein von den USA ausgehender revolutionärer Wandel, eine neue Form von Kolonialismus: neben Wachstum von Welthandel, Produktivität und Investitionen, neben zusätzlicher Arbeit und höherem Lebensstandard für die Gewinner verschärftes Elend für die wachsende Zahl der Verlierer; und ganze Regionen, etwa in Afrika, die von diesem 14 Schräder 1995.

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Weltmarkt gleichsam vergessen werden. Insoweit werden die Früchte der Globalisierung nicht angemessen und zum Teil überhaupt nicht verteilt. Die Angriffe auf das demokratische Potenzial, durch Krisen zu steuern, kommen von allen Seiten. Die Souveränität nationaler Parlamente und Regierungen schrumpft; und es fehlt an global wirksamen politisch-demokratischen Mitteln, das labile, weithin destruktive marktliberale System zu stabilisieren. Das Massenelend schlägt aber zunehmend auf die reichen Länder zurück: als Massenflucht und weltweit steigende Migration, als Terrorismus, als Rück-Import von „exportiertem" Giftmüll auf dem Weg über die ökologischen Kreisläufe, als Herannahen von Klimakatastrophen, als Bildung von Armutsghettos in den Ballungsgebieten der Industrieländer, als Zunahme kaum mehr sanktionierbarer organisierter Kriminalität - legal und kriminell agierendes Kapital gehen ineinander über 15 . (6) Globalisierung steigert primäre und verursacht sekundäre Exklusion. Auch auf diese Art trägt sie dazu bei, das Entstehen demokratischer Systeme zu verhindern, bestehende Demokratien, wie in den G 7-Ländern, zu schwächen und Demokratisierung in Transformationsgesellschaften zu bremsen: vor allem indem sie gewählten Parlamenten und Regierungen zentrale Entscheidungen aus der Hand nimmt und den demokratischen Systemen immer größere Teile ihres demos entzieht. Das Wahl verhalten in einer historischen Demokratie wie jener der USA ist auch unter diesem Aspekt aufschlussreich: Präsidenten, die mit weniger als 40 %, mit unter 30% oder, so bei Clintons Wiederwahl 1996 oder im Fall von Bush jr., mit knapp 25 % „Mehrheit" der Zahl der Berechtigten ins Amt kommen; Wahlbeteiligungen von 38% (US-Kongress im Herbst 1994) oder von 36 % (US-Kongress im Herbst 1998). Andere Krisenerscheinungen in den führenden Industriestaaten gehen (auch) auf globalisierende Trends zurück: strukturelle Massenarbeitslosigkeit, Schwächung der Mittelschichten, Stärkung von nationalistischen Bewegungen mit zum Teil faschistoidem Habitus, zunehmende Anomie (Jugendkriminalität auf der Basis von Jugendarbeitslosigkeit, Organisiertes Verbrechen, Drogenproblem). Dazu kommt mit dem Diktat der Werbung, mit der Herrschaft von Bestseilerei und Einschaltquote und mit rasanter Konzentration gerade auch in den Medien eine Schwächung kultureller Eigenwilligkeit und Vielfalt, die für die Lebendigkeit demokratischer Systeme ein schlechtes Omen ist. All das wiegt umso schwerer, als - von der historischen Abfolge der Konzepte her - heutige Demokratie ohnehin schon mehrfach zurückgenommen ist. Da das „Volk von Göttern" noch auf sich warten lässt, können wir uns, worauf JeanJacques Rousseau aufmerksam machte, nicht „demokratisch regieren Der Urgedanke irdischer Demokratie ist demnach, in erster Reduktion, die SelbstCodierung: die von rechtlichen Normen Betroffenen sollen diese Normen selbst erzeugt haben - filigran fortlebend in rätedemokratischen Vorstellungen. Weiter verdünnt sieht 15 Kühnl 1994; See/Spoo 1997.

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sich die Mitbeteiligung des Volkes am Schaffen des Code durch das repräsentative Dispositiv, das vor allem die real existierende Oligarchie und weniger die beanspruchte Demokratie beflügelt; sowie durch die (von geringen Ausnahmen in einigen Ländern abgesehen) NichtVerantwortlichkeit der Justiz vor dem Wahlvolk der Justiz, die den Code umsetzt und ihn dabei konkret erst produziert. Angesichts all der heute marktgängigen sozialen und technischen Mittel der Manipulation sowie einer schwer vermeidbaren funktionellen Abnutzung demokratischer Instrumente findet sich Demokratie ohnehin schon in der Defensive - und auf diesen Schwächezustand treffen nun die deutlich spürbaren Folgen von Globalisierung. Das Geheimnis des Vitalität der westlichen Demokratien war die Politik eines gewissen sozialen Ausgleichs und Aufstiegs, einer noch hinreichenden materiellen Umverteilung und Gleichheit der Bildungschancen gewesen. Auch die Legitimationsgrundlagen dieses sozialdemokratischen Reformismus drohen durch die neue Herrschaft von global players an die Wand gedrückt zu werden. All das ist für das traditionelle Denken von Demokratie gesagt. Es hat der Globalisierung, die keine Sackgasse, sondern eine Schnellstrasse ist, zu wenig entgegenzusetzen. Daher genügt es nicht, Globalisierung zu kritisieren, zu verdammen; sie geht, davon unbeeindruckt, weiter. Besser ist es, sie zu studieren, in ihren Folgen nüchtern einzuschätzen und - gerade auch durch ein neues Denken - zu zügeln. In den heutigen Staaten ist Demokratie, wo sie auftaucht, juridifiziert. Der herkömmliche juristische Begriff von „demos", der in der Demokratie ja „herrschen" soll, ist jener der Wahlberechtigten. Ich nenne deren Gesamtmenge das Aktivvolk. Seine Mitglieder dürfen wählen sowie - wo das vorgesehen ist - in Referenda abstimmen. Als alleinige Basis für eine Demokratie ist dieses Konzept unbrauchbar; es versagt schon für die Tätigkeit von Exekutive und Justiz. Schon für sie ist der Kreislauf der Legitimierung unterbrochen. Das Volk fungiert hier auf andere Weise: nämlich, soweit die Entscheidungen korrekt sind, als Instanz einer globalen Zurechnung von Legitimität. Dieses Zurechnungsvolk umfasst, über das Aktivvolk hinaus, alle Staatsangehörigen. Ist das richterliche oder exekutivische Handeln dagegen illegal, wirkt das Volk, in dessen Namen entschieden wird („Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil" ... ), nur noch als ideologisches Versatzstück, als ikonisches Volk. Das neue Konzept, Demokratie zu denken16, geht noch weiter und erfasst in einer vierten Begriffsschicht die gesamte Bevölkerung, ob volljährig oder minderjährig, mental gesund oder krank, Inländer oder Ausländer, Inhaber der Bürgerrechte oder nicht. Denn alle „to whom it may concern", alle „die es angeht", sind von den Beschlüssen der normsetzenden, normkonkretisierenden und -kontrollierenden Staatsorgane betroffen. Eine Demokratie ist nicht zuletzt danach zu beurteilen, wie sie die auf ihrem Gebiet tatsächlich lebenden Menschen tatsächlich behandelt. Das schließt - nicht in der Rechtskompetenz, wohl aber im Adressatenkreis - endlich wieder an den demokratischen Kerngedanken an: Einschluß aller

16 Müller 1997; dazu z. B. Beau 2000; Brunkhorst 2002.

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vom normativen Code Betroffenen: des Adressatenvolks, dem die zivilisatorischen Leistungen des demokratischen Rechts- und Sozialstaats gelten. Als Basis für das Vorhaben, als Demokraten auf die Globalisierung zu antworten, ist dieses Konzept zentral. Denn es überschreitet den traditionellen Herrschaftsdiskurs. Dieser ist nicht nur veraltet; gerade wegen „demos" war er immer schon fragwürdig: als archaisches Schema von Oben und Unten. Die autoritäre Deformation bleibt nämlich auch dann bestehen, wenn nur das Herrschaftssubjekt ausgewechselt und jetzt das Volk zuoberst gesetzt wird. Diese Imago gesellschaftlicher Beziehungen ist vor-demokratisch. Nach dem neuen Vorschlag heißt „kratein" in „Demokratie" nicht mehr bloß „Subjekt legitimer Gewaltausübung sein" („herrschen"); sondern auch und vorrangig: „als legitimierender Faktor staatlichen Verhaltens , als maßgeblich behandelt werden". Daher ist die Forderung nicht nur, den wissenschaftlichen Volksbegriff neu zu fassen; sondern, auf der so erneuerten Basis, das reale Volk als maßgebende Instanz ernst zunehmen. Das geht weit darüber hinaus, „Demokratie" stets nur nach den Techniken von Repräsentation zu traktieren; es entspricht in etwa dem „government for the people" in der Lincolnschen Formel. Ob das ausreicht, muss sich noch erweisen; immerhin ist diese neue Konzept zunächst für den Nationalstaat und noch nicht für das globale Spielfeld entwickelt worden. Aber hinter seine Linie ist nicht mehr zurückzugehen: avancierte Demokratie ist nicht mehr nur status activus (der immer häufiger nur auf dem Papier steht). Sie ist vor allem auch ein nicht zu unterschreitendes Anforderungsniveau mit Blick darauf, wie die Menschen in diesem Herrschaftsbereich real behandelt werden - weder als Untertanen noch als Untermenschen; sondern ausnahmslos als Mitglied des legitimierenden Adressatenvolks. Demokratie ist positives Recht eines jeden menschlichen Wesens. Und für wen soziale Exklusion, inklusive der durch Globalisierung verschlimmerten, hierbei keine Rolle spielt, der verwendet „Volk" nur als leere Ikone, er ist kein Demokrat. (7) Demokraten „sind" nicht solche kraft eines ontologischen Titels. Sie sind einfach Menschen, die sich demokratisch verhalten. Dafür müssen sie dies aber können, statt um täglich prekäres Überleben zu kämpfen. Durch den Skandal aller Formen kettenreaktiver Ausschließung von Personen von den gesellschaftlichen Leistungssystemen fehlt ihre geäußerte Meinung, ihr moralischer Diskurs, fehlen ihre Wahlaktivität und politisches Engagement. Wie kann man diese schiefe Ebene wieder hochklettern? Viele Maßnahmen werden von globalisierungsskeptischen Demokraten diskutiert. Zunächst seien einige rechtspolitische genannt: neue sozialstaatliche Ausgleichsziele, wirksame Landreformen, systematische Steuerkredite für die working poor, dramatisch höhere Staats- und Unternehmensinvestitionen in Bildung und Ausbildung, Ernstnehmen und Durchsetzen des geltenden Rechts (Arbeits- und Sozialrecht, Strafrecht, pro-

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zessualer Rechtsschutz, Menschenrechte, und mehr). Im Wahlrecht ist an Sanktionen zu denken; aber nicht gegen Bürger, die ihre Stimme verweigern (wie ζ. B. in Brasilien), sondern gegen politische Parteien und ihre Kandidaten: so durch verbindliche Quoren mit der Folge der Beschränkung der tatsächlich verteilten Parlamentssitze, d. h. nur in einer normativ bestimmten Proportion der gültigen Stimmen zur Zahl der Wahlberechtigten (40% Wahlbeteiligung ziehen in der Maximalversion nur 40% verteilter Abgeordnetensitze nach sich, usw. ). Demokratische Systeme können weder ein „Mehr" der bisherigen Art deregulierter weltweiter Monetarisierung ertragen noch überhaupt deren bisher erreichten Grad. Die Transitionsprozesse in wenig entwickelten und in Schwellenländern nehmen dadurch einen vielleicht irreparablen Schaden; die Demokratie in den zentrischen Ländern ist schon dabei, Schaden zu nehmen. Wo immer die Indikatoren der Exklusions„kette", addiert mit dem Ausmaß chronischer Wahlenthaltung, die Schwelle der verfassungsändernden Mehrheit des Politischen Systems erreichen, steht die Demokratie des Landes nur noch auf dem Papier, ist sie nur noch law in the books, nicht mehr law in action - ein Zustand, den kein Demokrat tolerieren darf. Die Frage, wie der globalisierte Weltmarkt demokratisch kontrolliert werden könne, ist eine „schwindelerregende Frage" 17 . „Die Globalisierung der Märkte, des Rechts, der Politik und der Erziehung hat ( . . . ) mit unvermittelter Wucht die beiden alten Probleme der europäischen Moderne wieder auf die Tagesordnung gesetzt, für die der demokratische Rechtsstaat eine so eindrucksvolle Lösung innerhalb seiner territorialen Grenzen gefunden hatte: Das Problem des Pluralismus der Weltbilder, Religionen und Kulturen, die mit unvermittelter Härte aufeinanderprallen; und das Problem des Kapitalismus, der sich zu einem globalen ,Räuberkapitalismus'" in der Formulierung Max Webers fortentwickelt hat 18 . Auch an wirtschaftlichen und sozialen Ansatzpunkten, dagegen anzugehen, ist kein Mangel: Zunächst der Kampf für die weltweite Emanzipation der Frauen. Dann auf ökonomischem Feld ζ. B. die spürbare Besteuerung von (vor allem spekulativen) Kapitaleinkünften, Boykott und Austrocknung von Steueroasen, Annullierung eines Großteils der öffentlichen Schulden, besonders die der armen Länder, drastische Erhöhung der Entwicklungshilfe zugunsten autozentrierter Strategien von Entwicklung, Nachdruck auf einen gerechten und fairen Handel. Gewisse Kontrollen des internationalen Kapitalverkehrs sind unerlässlich, darunter auch höhere Steuern für Auslandsinvestoren. Besonders wichtig wird es sein, neue Institutionen für den Umgang mit der globalen Monetarisierung zu schaffen, so eine erneuerte Bretton-Woods-Übereinkunft auf der Höhe der heutigen Situation und eine weltweit agierende Sicherungsstelle für Kreditvergabe - was wieder mit neuen Formen einer ausreichenden Kontrolle des internationalen Geldhandels zusammenhängt. Auch ist es eine dringliche Aufgabe der Welthandelsorganisation, Ansätze für eine Weltkartellbehörde zu entwickeln. 17 Brunkhorst/Kettner

2000, S. 10.

ι» Brunkhorst 2000, S. 284 f.; eingehend auch ders. 2002.

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III. Makroprozesse: Nationale und transnationale Demokratisierung

Diese und andere Vorhaben, Kampffronten, sollen die Formen und Folgen von Globalisierung wenn schon nicht humanisieren (so sehr das zu wünschen wäre), so doch zivilisieren (was unerlässlich ist). Sie lassen sich systematisieren nach staatlich-nationalen Maßnahmen, nach internationalen und supranationalen (dazu gehören ζ. B. das Projekt „Soziales Europa" oder die Bildung strukturierter Regionen wie Saar-Lor-Lux, Katalonien, Mercosur). Von den neuartigen, den transnationalen, ist später die Rede. Denn die Reihe der eher konventionellen setzt sich vorerst noch fort. So werden interparlamentarische Arbeitsgruppen zu globalen Themen, ein „Comeback der Parlamente" und eine Weltversammlung der Parlamente ins Auge gefasst 19, was wenig aussichtsreich erscheint; selbst auf dem engeren Feld der Europäischen Gemeinschaft steckt nicht zufällig die traditionelle Form der Demokratie noch in den Kinderschuhen. Überhaupt sind Forderungen, die bestehenden internationalen Organisationen zu stärken und demokratisch zu reformieren, nahe dem Illusionären. All dies würde, wenn überhaupt, nur auf gewaltigen öffentlichen Druck geschehen - und dieser organisiert sich besser selbst. Das „Ziel eines wirksam institutionalisierten Weltbürgerrechts liegt in weiter Ferne"; gegenwärtige Tatsache ist dagegen „die unklare Gemengelage supranationaler Einrichtungen und Konferenzen, die fragwürdige Legitimationen ausleihen können, aber nach wie vor auf den guten Willen mächtiger Staaten und Allianzen angewiesen sind". 20 Unter dieser Abhängigkeit leiden auch so dringende Forderungen wie die an den IWF, die weltweite Finanzarchitektur im oben genannten Sinn zu ändern; oder an die Internationale Arbeitsorganisation, weltweite Mechanismen für Arbeitsstandards zu schaffen. Interessanter ist der Ansatz, den die UNO in Form der global public policy groups einzurichten beginnt: als Vorstufe der politischen Prozesse in den traditionellen Institutionen kontroverse Vorhaben von Wissenschaftlern, Politikern, Medien und Unternehmen aufbereiten zu lassen - unter dem erfreulichen (aber auch gefährlichen) Einbezug von NGOs. Dies kann sich zu einer innovativen Praxis entwickeln, wie man überhaupt um Innovation in den Aktions- und Kampfformen nicht herumkommen wird. (8) Dieser Kampf ist friedlich. Er wird darum geführt, begründete Meinung und Überzeugung, in der Folge politischen Willen zu bilden. Er ist - außerhalb der Regierungsmacht und transnational - kein durch Staatsgewalt gestützter. Daher wird er von Vorwürfen nicht getroffen, die unter (der näheren Befragung bedürftigen) Etiketten wie „Menschenrechtsimperialismus" erhoben werden. Er wird um Werte geführt, für deren wünschbare Universalität sehr gute Gründe sprechen. Wer sie nicht anerkennen will, muss sich an diesem Kampf nicht beteiligen - d. h. wer Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechte weder zu verlieren hat noch anstrebt.

19 Petrella 2000. 20 Habermas 1999, S. 217.

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Dabei sind Universalität und Pluralität als zwei Seiten einer kohärenten Anforderung zu verstehen. Die monetär deregulierende Globalisierung wird dem nicht gerecht; sie überzieht die Welt mit einer westlich / ultralibéral" definierten ökonomischen Monokultur. Die Gegenbewegung hat darauf zu achten, dass die Formen ihres Widerstands stets an beidem zu messen sind. Dieser Widerstand ist Menschenrecht; und die normativen Menschenrechte gehen in dieselbe Richtung wie Demokratie. Schon für den Vater modern demokratischen Denkens, für Rousseau, sind Freiheit und Gleichheit der Endzweck jeder demokratischen Gesetzgebung. Auch leitet sich nach ihm die Notwendigkeit demokratischer Organisation überhaupt aus vorstaatlichen, aus angeborenen und unverzichtbaren Menschenrechten ab 21 . Sein Schüler Kant ist ihm darin gefolgt; und heute ist jedenfalls darüber Einigkeit erzielbar, dass die Differenzen in der Interpretation der Menschenrechte dadurch akzeptabel sind, dass sie einer ständigen demokratischen Kommunikation, Kritik und Kontrolle ausgesetzt werden 22. Angesichts der globalen Vorgänge müsste der demokratische Rahmen des menschenrechtlichen Widerstands weltweit gegeben sein. Mangels eines Weltstaats ist vorerst für zusammenwachsende und konkretisierte Rahmenkompetenzen eines Weltrechts einzutreten, das die Menschenrechte schützt. Eine derart neue Form globaler „Staatlichkeit besteht in einer gestuften Rechtsordnung und nicht etwa in einem zentralistisch gewaltsamen Megastaat. Wo das überlieferte Staats- und Völkerrecht angesichts der Globalisierung nicht mehr greift, wird das föderal und subsidiär strukturierte globale Rahmenrecht seine Aufgabe finden: „den rechtlichen Rahmen für globales politisches Handeln von Einzelstaaten, Staatenverbänden und Kontinentalstaaten ebenso (zu) bilden wie für das weltweite Handeln von regionalen Körperschaften und von nichtstaatlichen Akteuren" 23 . Das wird unerlässlich sein, um demokratische Politik durch den rabiaten Handlungsstil der global players und der übermächtigen Finanzkräfte nicht zur Farce machen zu lassen. Diese Rahmenrechtsordnung wird nicht zuletzt dafür einstehen müssen, allen Menschen eine zum physischen Überleben nötige materielle Mindestversorgung zu sichern, sie also als demokratisch legitimierendes Adressatenvolk zu respektieren. Zusammenzudenken mit diesen Ansätzen ist das Ziel eines globalen Konstitutionalismus 24. Staatliche Souveränität schrumpft nach außen hin; nur um einen zu hohen Preis können sich Staaten und Staatenverbände noch aus dem sich verdichtenden globalen Netzwerk heraushalten. Dieses Netz ist nicht nur ökonomisch, militärisch, politisch, technisch und kulturell. Seit Dokumenten wie der UN-Charta von 1945 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hat sich, ausgehend von Absichtserklärungen, allmählich ein solider werdendes Gewebe aus positivem Recht gebildet. Inzwischen gibt es Hunderte von Menschenrechtsverein21 Rousseau 1962, zum Beispiel II, 11 Abs. II; 1,4. Abs. 6. 22 Michelman 1999. 23 Lutz-Bachmann 1999, S. 213 ff. 24 Rosas 2000; Thürer 2000; Brunkhorst 2002.

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barungen; so die beiden Pakte von 1966 (über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle [sog. WSK-] Rechte) oder die Einrichtung eines UN-Hochkommissariats für Menschenrechte auf der Wiener Konferenz von 1993. Konservative politische Eliten klammern sich vorläufig noch an die Vorstellung herkömmlicher Staatssouveränität; aber das Recht, aus internationalen Konventionen wieder auszutreten, wird mit zunehmender Globalisierung und größerer Bedeutung internationaler Institutionen immer weniger praktikabel. Auch kann „soft law" (nicht im streng juristischen Sinn bindende Standards) - wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder die Verpflichtungen im Rahmen der OSZE - dazu beitragen, international durchaus wirksame Wertorientierungen, Prinzipien auszubilden. Die „Gesetze der Menschheit und die Forderungen des öffentlichen Gewissens" aus der Martens-Klausel der 2. Landkriegskonvention von 1899 sind ein altes Beispiel hierfür; Art. 38 § 1 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs („die allgemeinen Rechtsprinzipien, die unter zivilisierten Nationen anerkannt sind") bietet ein besonders wichtiges. Auch soweit solche Prinzipien weder zwingendes Recht (jus cogens) noch Völkergewohnheitsrecht sind, können sie als Brücke zwischen nationalem und internationalem wie auch zwischen hard law und soft law interessant werden. (9) Wie verhalten sich zu diesen neuen Formen transnationaler Rechtsbildung die neuen Formen transnationalen Widerstands? Während der letzten Jahrzehnte haben Zehntausende von NGOs , Bürgervereinigungen und Rechts- wie Umweltinitiativen eine Art sozialen Weltgewissens begründet: durch konstruktive Vorschläge, durch Protest, durch symbolische Aktion. „Lokale" i.S. von konkret themenbezogener Demokratie auf kommunaler, nationaler und transnationaler Ebene vitalisiert - in der Terminologie des neuen Konzepts - das Aktiv- und das Zurechnungsvolk. Der Kampf dafür, jedem Menschen alle individuell wie kollektiv lebenswichtigen Rechte tatsächlich zu geben, zielt auf ein weltweites Adressatem olk. Ortsnamen wie Seattle, Davos, Prag und besonders Porto Alegre - stehen daher für eine Anstrengung, die globalen Vorgänge demokratisch in Frage zu stellen und, als Fernziel, sie legitim zu ändern. Die global players werden kritisch beobachtet, ihr räuberisches Agieren wird vor einer entstehenden Weltöffentlichkeit delegitimiert; der Appell an Änderungen des Konsumverhaltens kann ferner ein Drohpotential aufbauen, das über den politisch-moralischen Druck auf nationale Regierungen erheblich hinausgeht. Statt abzuwarten, wie eine globale Öffentlichkeit sich aufgrund globalisierender Kommunikation durch die Neuen Medien „von selbst" ergibt, ist energisches, vielfältiges Handeln nötig. Damit vergleichbar ist in emerging democracies die Entwicklung der Zivilgesellschaft nicht einfach geduldig zu beobachten, sondern durch Gruppen, Initiativen und überlegt voluntaristische Einzelaktionen (zu denen Pilotverfahren und Musterprozesse im Rechtssystem zählen) voranzutreiben 25: neben spontanem, ver25 Müller 1997.

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netztem zivilen Widerstand, der Wurzelgeflechte („Rhizome" im Sinn von Gilles Deleuze) bildet, und neben kritisch-konstruktiver Themenarbeit nicht zuletzt auch Formen zunehmender partizipativer Demokratie - der Ortsname „Porto Alegre" hat hier schon eine Strahlkraft entwickelt, auf die das Abhalten der ersten Weltsozialgipfel in dieser Stadt eine Antwort war. Diese neuartigen Maßnahmen aus dem Wurzelgrund der civil society haben eine andere Funktion als die früher genannten mehr oder weniger konventionellen: nicht nur Abschwächung des Gifts, sondern Gegengift; nicht nur Abschwächung der Globalisierung, sondern Stärkung der Demokratie durch neuartige Mobilisierung der Demokraten. Schlagworte wie „global governance", „global citizenship" und „global civil society" sind dabei noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Auch in nationalen Transitionsgesellschaften ist die Rolle der civil society in den meisten Teilbereichen präsent. Sie stützt sich vor allem „auf die miteinander konkurrierenden und kooperierenden Akteure, Initiativen, Assoziationen und Interessengruppen", hier im transnationalen Raum, „die ihre materiellen oder immateriellen Interessen selbstorganisiert vertreten" 26. Entscheidend dafür, wie Demokratisierung vorankommt, sind unter anderem der Grad autonomer Organisation und Vernetzung sowie die Öffentlichkeitskompetenz der Akteure der (intern durchaus konfliktiven) civil society. Es kommt jetzt darauf an, wie wirkungsvoll die schon vorhandenen Kerne der globalen civil society gefestigt, ausgebaut und im Sinn eines beweglichen Systems miteinander verbunden werden können. Je mehr Menschen auf diesem Feld aktiv sind, desto schwerer wird ihre Aktion als unmaßgeblich abgetan werden können. Aber da die Teile des Netzwerks dezentriert begründet sind, ist es auch nötig, die Debatte über gemeinsame bzw. jedenfalls kompatible Codes lebendig zu erhalten. Zwischen den globalen Märkten, der Aktivität transnationaler Konzerne und den etablierten Institutionen internationaler Politik ist der Ort für ein weltweites „networking" einer beginnenden globalen Zivilgesellschaft, einer „Globalisierung von unten" 27 . Es bleibt die selbstkritische Frage, wie diese mit dem „Volk", mit dem legitimierenden Akteur von Demokratie zusammengedacht werden kann. (10) Der konventionelle Weg war der, gewählte Parlamente / Regierungen handeln zu lassen. Die Völker, könnte man sagen, sollen doch globalisierungskritische Mehrheiten wählen, deren Politik stützen und vor allem auch zwischen den Wahlterminen Druck über die öffentliche Meinung erzeugen. Das ist nicht falsch, aber auch nicht allzu wirksam. Schließlich haben sich beispielsweise im Sommer 2000 in Berlin 15 Mitte-links-Regierungen zu einem Festival getroffen, um unter dem Stichwort „progressive governance" den globalen Kapitalismus herauszufordern. Die Themen waren die richtigen; aber das Tun der versammelten Stars hat den glo26 Puhle 1999, S. 326 ff. 27 Falk 1995.

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III. Makroprozesse: Nationale und transnationale Demokratisierung

balen Kapitalismus offenbar nicht zum Zittern gebracht. Eher ging es um einen rhetorischen Schönheitswettbewerb; und darum, warum Tony Blair nicht kam - er musste bekanntlich babysitten. Immerhin ist festzuhalten, dass weit mehr als die „Dritter-Weg"-Briten oder die deutschen Sozialdemokraten etwa die französische Linke dazu neigt, die Demokratie über ein Netzwerk der NGOs gegen den Totalitarismus der Globalökonomie zu stärken. Das „Volk" im Sinn der herkömmlichen Demokratie ist „Subjekt", also eine Fiktion. Heute muss Akteur sein, wer wirken will. Akteur des notwendigen Widerstands sind transnational handelnde Demokraten. Wer sind diese Demokraten? Die mit nicht gewaltsamen Mitteln arbeiten (was symbolische Aktionen ohne Schädigung nicht ausschließt); die darauf abzielen, die Mehrheit der betroffenen Menschen zu überzeugen; die alle Menschenrechte nachhaltig einfordern und sie selber beachten; die dafür kämpfen, die Gleichstellung von allem, was Menschenantlitz trägt, wirklich werden zu lassen. Nun schwächt die Globalisierung die Nationalstaaten auf wohl irreversible Weise. In demselben Maß entmündigt sie die nationalen Völker (im herkömmlichen Sinn), weil Demokratie ohne ständige weitere Demokratisierung nicht lebendig bleibt. Auch das nationale „Volk" bleibt stets neu zu erschaffen. Umso dringlicher stellt sich diese Aufgabe für das transnationale Volk als Akteur einer politischen und direkt agierenden Kultur globalen Widerstands. Transnational zu regelnde Probleme sind nun einmal solche, deren Handlungsraum „nicht als demokratische Handlungseinheit konstituiert (ist), und die demokratisch konstituierten Handlungseinheiten können das Problem nicht je für sich innerhalb ihrer jeweiligen Handlungsräume lösen". Wenn die Ergebnisse von Verhandlungspolitik in heterogenen Netzwerkstrukturen zu beurteilen sind, kann daher der Maßstab „auch nicht die unverfälschte Durchsetzung des jeweiligen internen ,Mehrheitswillens4 in jeder der beteiligten Einheiten sein - und Verhandlungsergebnisse sind nicht deshalb kritisierbar, weil sie nicht dem Ergebnis entsprechen, das unter Souveränitätsbedingungen in der internen Willensbildung bevorzugt worden wäre" 28 . Bedenken dagegen, dies sei also nicht demokratisch, gründen sich auf den traditionellen Begriff von „Demokratie" als einer bestimmten, repräsentativ vermittelten Form von Selbstgesetzgebung, als einer Herrschafisorganisation. Der neue Begriff, der hier vorgestellt wird, geht mit dem Ensemble „Aktivvolk plus Zurechnungsvolk plus Adressatenvolk" über den alten Herrschaftsdiskurs hinaus und umfasst vor allem auch das minimale materielle Anspruchsniveau an eine Gesellschaft, die „demokratisch" zu nennen ist. Nun wird aber im Rahmen der Globalisierung das Aktivvolk immer weniger gebraucht: für wachsende Teile zentraler Politikfragen, die von der globalisierenden Wirtschaft usurpiert werden. In demselben Ausmaß kann es dann auch nicht mehr als Zurechnungsvolk legitimieren. Und als Adressatenvolk bekommt es auf dem Weg über die Resultate von Globalisierung keine fair verteilten Leistungen. Diese erhalten vor allem die schon vorher Privile28 Scharpf Ì99S, S. 236 f.; Kettner/Schneider.

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gierten: die „zwei Drittel" in den Zweidrittelgesellschaften der zentrischen Länder, das „eine Zehntel" in den Einzehntelgesellschaften der peripheren. Die Globalisierung lässt, wenn sie nicht konterkariert werden kann, selbst diesen fortentwickelten Volksbegriff zum „Volk" als ideologischer Ikone schrumpfen. Er ist, angesichts dieser Herausforderung, daher noch einmal neu auf den Begriff zu bringen; nunmehr einschließend das Volk als unmittelbaren Akteur einer sozialen und politischen Kultur der Résistance , die sich außerstaatlich, transstaatlich organisiert; zwar auf der Grundlage der eigenen Lebenswelt, aber konzeptuell global und global verantwortlich. Sie verändert bereits das Bewusstsein von Massen von Menschen; schon muss der Gastgeber von Davos eingestehen: „wir können nicht gegen die Gesellschaft wirtschaften" 29. Die Beteiligten wollen nicht auf das Entstehen einer weltweiten „politischen Kultur" und „Zivilgesellschaft" warten; sondern darum kämpfen, sie durch intern demokratische Organisationen, Interaktionen und Prozesse real werden zu lassen. (11) Traditionell benötigt Demokratie einen „Staat" genannten institutionellen Rahmen; braucht sie die „stateness" ihrer territorialen Organisation. Für das globale Feld ist das weder gegeben noch auf Sicht zu erwarten. Die Vorschläge sollten dem Rechnung tragen und sich mehr am Diskurs der Transformationsvorgänge orientieren: das globale Spielfeld als Herausforderung für Demokratisierung. Eine solche setzt sich historisch stets von Diktaturen oder sonst undemokratischen Regimen ab. Die durchweg autoritären, virtuell totalitären Erscheinungsformen der Finanz- und der ökonomischen Globalisierung machen einen Weg zur Demokratie nicht weniger nötig. Ansätze, die Partizipation an den weltweit vernetzten neuen Machtstrukturen anstreben oder welche die Weltbevölkerung in einem Weltparlament repräsentiert sehen wollen, scheitern an innerer Widersprüchlichkeit bzw. am Mangel einer ausreichenden gesellschaftlichen Basis 30 . Aussichtsreich sind dagegen die civil societyAnsätze. Dass sie Demokratie als Öffentlichkeit, hier als globale, ins Werk zu setzen versuchen, ist folgerichtig. Wo es kein (globales) Volk gibt, wird es obsolet, auf der alten Kombination von Öffentlichkeit und Volkssouveränität beharren zu wollen. Demokratie ist eben schon für den Nationalstaat neu zu denken; und global sind NGOs und andere Netzwerke keine „Zentralinstanz" oder sonstige Akkumulation von Macht im alten Stil. Sie sind vielmehr eine wirksame Kraft der ständigen Beunruhigung, der Erschwerung faktischer (und undemokratischer) globaler Herrschaft. Dies ist die realistische Wendung des neuen Konzepts der Demokratietheorie 31. Es geht also um eine nicht zuletzt auch durch Neue Medien gestützte transnationale civil society, um die spontan-kollektive, d. h. im ganzen nicht steuerbare Evo-

29 Schwab 2000. 30 Maus 1999, S. 291 f. 31 Christensen 1997 zu Müller 1997.

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III. Makroprozesse: Nationale und transnationale Demokratisierung

lution dezentraler Netzwerke. Die NGOs oder PINGOs (organisierte Interessen von Gemeinwohlaspekten wie Greenpeace und Amnesty , sowie von Professionen und nicht-staatlichen Gruppen wie Weltkirchenrat, Islamische Weltkonferenz, Weltdachverband der Gewerkschaften, u. a.) sind oft im Lokalen bzw. Regionalen verwurzelt; in ihren Normvorstellungen jedoch meist universalistisch und in ihren Aktionen weiträumig oder global 32 : Vorhut eines sich langsam herausbildenden transnationalen „Volks". Die Globalisierung hat den Nationalstaat nicht nur in eine Krise seiner Legitimation gestürzt. Sie schwächt ihn auf wohl unwiderbringliche Weise; und das „Zurück zum starken Nationalstaat!" ist bloße Reaktion, keine sinnvolle Devise mehr. Eine sich immaterialisierende Ökonomie und „virtuelle" Handlungsräume vermag er, an Territorialität gebunden, nicht mehr zu beherrschen. Multilaterale Agenturen und Vereinbarungen, supranationale Mechanismen und Normen, globale Zusammenballungen von Macht sind inzwischen alltägliche Realitäten. Diese Art von Wirtschaften ruft ζ. B. an einem geografisch „Brasilien" genannten Ort ökonomische Entwicklung hervor, aber ohne dabei Brasilien ökonomisch zu entwickeln 33 . Die großindustrielle Epoche, orientiert an Wachstum und (gemäßigter) Verteilung von Wohlstand, mit Trend zum sozialpolitischen Reformismus und erheblicher Macht der Gewerkschaften, mit Sozialversicherung, Verallgemeinerung des Lohnarbeiterdaseins und Ausweitung des Massenkonsums gehört, jedenfalls typologisch gesehen, der Vergangenheit an. Der für die Globalisierung typische Abschreckungs- und Dumpingwettbewerb führt allerorten zum Abbau des Sozialstaats. Die weltweite Niedriglohnkonkurrenz erfordert verstärkten sozialstaatlichen Schutz; zugleich verringert sich de facto die Möglichkeit, diesen noch ausreichend zu gewähren. Der Felsblock, den die Globalisierung gegen den überkommenen Staat erhoben hat, kann ihr aber auf die eigenen Füße zurückfallen: der globale Markt und seine Agenten sind dabei, in Legitimationsnot zu geraten. Ohne politische Rahmen kann die transnationale Wirtschaft die Frage ihrer Akzeptanz nicht auf unbegrenzte Zeit verdrängen - vor der Mehrheit der betroffenen Menschen, vor den sozial und politisch aktiven Bürgern. Diese haben für eine verstärkt partizipative Demokratie verzweigte und beweglich verbundene kollektive Handlungsformen neu zu erarbeiten. Wenn die Gewählten nicht mehr entscheiden und die Entscheider nicht gewählt sind, müssen die im exemplarischen Widerstand Stehenden auch nicht auf traditionell nationalstaatliche Weise „gewählt" sein. Sie legitimieren sich - vorerst - durch ihr Engagement und durch die Offenheit der Diskussion darüber, auf die sie selbst den größten Wert zu legen haben. Diese Form von Demokratisierung ist nicht an „Nation" gebunden. Eine unabschließbare Anzahl von staatsexternen Identifikationsfaktoren kann in postnationalen Zusammenhängen an die Stelle dessen treten, was der Nationalstaat als „interner" Schauplatz für die Bildung kollektiver Identität geboten hatte. Fraglos brau32 Sreberny 2000. 33 de Souza e Silva 2000.

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chen postnationale Handlungsformen neue politische Legitimation; und zwar nicht nur dort wo bisher staatliche Aufgaben internationalisiert oder globalisiert worden sind. Fühlbare und oft äußerst belastende Auswirkungen auf die betroffenen Menschen und Gruppen haben auch Maßnahmen, die erst im globalen Rahmen denkbar und wirklich werden. „Soll Entstaatlichung von Politik nicht zugleich Entdemokratisierung von Herrschaft bewirken, so entsteht daraus die Notwendigkeit von Demokratisierung postnationaler Organisationen" 34. (12) Sind diese neuen Formen aber nicht unzureichend repräsentativ? Das könnte man nur nach dem alten Denken bejahen; angesichts einer neuartigen Lage und im erneuerten Konzept von Demokratie geht diese Frage am Problem vorbei. NGOs und andere Akteure des Widerstands üben keine effektive zentrale Macht aus. Sie leisten Sacharbeit, werten die Bedeutung öffentlicher Debatten auf, bieten abweichende Optionen an; sie bilden Gegengewichte gegen die etablierten Interessen und Gewaltpotenziale durch öffentliche Kommunikation, die „ihre einzige Ressource" ist, durch politische Public Relations und durch Lobbying 35 . Sie bemühen sich, die Auferlegung einer autoritären Ordnung zu verhindern; sie halten die Konflikte offen und den politischen Widerstreit aufrecht, arbeiten dadurch an der grundlegenden Aufgabe pluralistischer Demokratie 36. Die Institutionen, die es dafür auch braucht, sind im Weltmaßstab (noch) nicht gegeben und als solche einer zentralen Machtfülle auch nicht wünschenswert. Mangels und anstelle einer solchen global stateness geht es darum, auf eine weltweite Rahmenrechtsordnung, die Menschenrechte und Demokratie schützt, und auf das offene System eines globalen Konstitutionalismus hinzuwirken. Wie schwer eine Demokratisierung jenseits des alten Nationalstaats es hat, lehrt das traurige Beispiel der Europäischen Union 37 . Allerdings verläuft sie dort in den traditionellen Denkbahnen von Demokratie und in deren herkömmlichen Institutionen. Der Widerstand der NGOs vor der Weltöffentlichkeit hat demgegenüber mehr an Möglichkeiten. Denn der Epochenwandel findet nicht nur in Technik und Ökonomie statt. Er drückt sich seit den 60er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zugleich durch eine sozio-kulturelle Revolution aus, für die etwa Bürger- und Menschenrechtsbewegung, Feminismus und Umweltbewegung frühe und heute mehr denn je wichtige Zeugen sind. Dass diese Einschätzung im Streit steht, ist nichts Ungewöhnliches. Wenn, ein anderes Beispiel, wirtschaftsliberal ausgerichtete Kommentatoren das Fiasko der WTO-Ministerkonferenz von Seattle als einen Sieg der USA bezeichnen, lassen sich mit noch größerem Recht die verstärkte Weltöffentlichkeit und die Bürgerbewegungen als die Sieger von Seattle sehen, die dem Abbruch aller kollektiven politischen Strukturen durch allgemeine Handels34 35 36 37

Gusy 2000, S. 132; s.a. Brunkhorst 2002. Kettner/Schneider 2000, S. 402 ff.. Mouffe 1999, S. 26 ff. Gusy 2000; Kettner/Schneider 2000; vor allem auch Brunkhorst 2002 (Europa).

6 F. Müller

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III. Makroprozesse: Nationale und transnationale Demokratisierung

Vereinbarungen Einhalt gebieten konnten; und ferner die Regierungen des Südens, die sich jedenfalls für künftige Verhandlungen als vollwertige Partner behauptet haben. Was dagegen reale Sorgen macht, sind die materiellen Grenzen für das Herstellen globaler Öffentlichkeit. Die technischen Chancen der Neuen Medien sind noch lange nicht überall der Allgemeinheit zugänglich. Der direkte Kampf gegen Analphabetismus, gegen die Unterdrückung der Frauen und gegen die aus sozialem Elend folgenden Formen von Exklusion ist zugleich, indirekt, ein Kampf für das weltweite Forum, ohne das die neue Form von Demokratisierung nicht möglich wäre. Diese wäre auch dann bedroht, wenn sich ihre Akteure zu einer abgehobenen Elite entwickeln würden. Auch wenn besondere Sachkunde und oft hochgradige Spezialisierung dazu verleiten könnten: „Elite" ist eine Erscheinung aus Privilegiensystemen und den Gegnern des Turbokapitalismus unangemessen. Besser passt die Vorstellung einer funktionellen Avantgarde. Diese sollte sich hüten, eigene steile Hierarchien sich einschleichen zu lassen. Dass es sich bei ihr um aktive und informierte Minderheiten handelt, schwächt ihre demokratische Legitimierbarkeit nicht. Auch innerhalb des einzelnen Nationalstaats waren und sind es stets nur Minderheiten, die in Parteien, Verbänden, in Initiativen aller Art aktiv werden und - je nach dem Inhalt ihrer Projekte - Arrière- oder Avantgarden bilden. Sie „wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit" (Grundgesetz der BRD, Art. 21) - wie es die Parteien auch nur tun sollten, sich aber in der heutigen Parteienstaatlichkeit zu Oligarchien verhärtet haben. Gegen die Globalisierung oligopolistischen Kapitals ist die Demokratie zu globalisieren - in Formen, die selber demokratisch strukturiert sind, als bewegliche Selbstorganisation, mit einem durch den Widerstand nach und nach zu schaffenden globalen „Volk" als Akteur und Medium weltöffentlicher Kommunikation, Kritik und einer Erarbeitung besserer Optionen. Was diese Bewegung mit den betroffenen Menschen tut, ist gerade nicht, sie nach Art des alten Demokratiediskurses als Herrschaftssubjekt zu fingieren. Was sie tut, ist vielmehr, sie als die einzig akzeptable Quelle von Legitimität in ihrer tatsächlichen Lage ernst zu nehmen, sie als die für Legitimierung zentrale Instanz in täglicher Praxis zu behandeln. Im Sinn des erneuerten Konzepts von Demokratie ist die globale Résistance demokratisch und braucht sich von Vertretern des alten Denkens keine „Defizite" vorrechnen zu lassen. Defizitär wäre sie nicht einmal im Rahmen rein nationalstaatlicher Reminiszenzen. Die Gruppen des Widerstands legitimieren sich durch das, wofür sie arbeiten, und durch die Form ihrer Arbeit. Sie kämpfen für global public goods und machen damit policy for the people. Für die Verfahren müssen sie strikt auf Transparenz ihrer Infrastruktur, einschließlich der finanziellen, und auf Ehrlichkeit ihrer Kooperation achten, die ja von Konflikten um Einfluss und Einflusschancen nie frei ist. Es ist auch nicht zu verschweigen, dass traditionelle NGOs wie Gewerkschaften und Kirchen oft intern hierarchisch, autoritär, klientelistisch verfasst sind, also un-

3. Der Nationalstaat in der Globalisierung

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demokratisch. Sie bilden aber nolens volens jedenfalls einen Teil des sich bildenden globalen Pluralismus und sind von den anderen Beteiligten an die Pflicht zu Transparenz und Aufrichtigkeit zu erinnern. Auch die nichttraditionellen NGOs haben darauf zu achten, dass mit wachsendem Erfolg zugleich der Grad an Strukturierung und Institutionalisierung zunimmt, dass auch Konsolidierung ein Doppelgesicht hat. Besonders selbstkritisch ist die Teilnahme an bestehenden gegnerischen Foren (wie ζ. B. Davos) oder die Einbindung in etablierte internationale Organisationen - vor allem in solche der UNO zu beobachten. Sie eröffnen Chancen, fordern aber auch einen Preis. Unbestreitbar ist dieser Preis einer gegenseitigen Instrumentalisierung im Verhältnis zu den Medien: „Während die Medien spektakuläre Anlässe für die Berichterstattung suchen, müssen die Bewegungsakteure Aufmerksamkeitsmarker wie Konflikt, Dramatik, Eindeutigkeit und einfache Kausalattribution einsetzen und die medienästhetisch eingespielten Konventionen einer visualisierten, personalisierten, ästhetisierten Darbietungsweise bedienen"38. Der globale Widerstand stellt das Demokratische seines Tuns auf den Prüfstand der globalen Öffentlichkeit, die er selber schafft. Und er ist dadurch urdemokratisch, dass er auf mehr und vertiefte Demokratie zielt. Er tut das stärker als all jene dem formalen Verfahren nach demokratisch Gewählten weltweit, die auf ganz anderes zielen, besonders gern auf neoliberale Globalisierung. Und deren Nutznießer wollen den Anderen ein „Ende der Geschichte" einreden. Der Widerstand ist aber schon dabei, zunächst die weltweite Defensive zu organisieren. Dazu hat Bertolt Brecht, noch nicht von Globalisierung herausgefordert, etwas vorausgesprochen: „Aber die Herrschenden / Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich." Zunehmend viele Demokraten sehen das auch so und arbeiten dafür, dass die Geschichte nicht zu Ende ist.

3. Der Nationalstaat in der Globalisierung Formen von Demokratisierung im Nationalstaat (1) Der Nationalstaat ist heute in seiner Wirkung deutlich eingeschränkt, behält aber unverzichtbare Funktionen bei. Auf dem Feld von Demokratisierung war er im Verlauf der neueren Geschichte ihr realer Schauplatz gewesen. Das zu sagen, erscheint besser vertretbar als jene Sicht1, nach der Industrialisierung, Steigerung des Wohlstands, Sozialstaat, Rechtsstaat und eben auch Demokratie historisch nur zufällig in die Epoche des Nationalstaats gefallen und eher trotz als dank seiner entstanden seien. Hier wird der Nationalismus („nationale Interessen", „nationale Identität", usw.) nicht genug vom Nationalstaat als einer verfassungsrechtlichen Größe unterschieden. Dieser bot den rechtlich gesicherten Raum für die genannten 38 Kettner/Schneider; 1

6*

Wittwen

1995.

Entwickelt bei H.-U. Wehler, Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. 2001.

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III. Makroprozesse: Nationale und transnationale Demokratisierung

Entwicklungen. Auch die Demokratisierung hat sich in ihm abgespielt; in dem Sinn auch dank seiner, als er den hinreichend organisierten und zugleich auch (in positiver Funktion) begrenzen Rahmen für sie bereit gestellt hat. Nimmt man im übrigen diesen demokratischen nationalen Verfassungsstaat in den Blick, so erscheint er als das leistungsfähigste aller politischen Systeme, die bisher hervorgebracht worden sind; und für eine nicht mehr archaisch stratifizierte, sondern vor allem funktional differenzierte Gesellschaft als die angemessenste Form, die jedenfalls dem westlichen „Zentrum" der Weltgesellschaft den institutionellen Rahmen für die Menschenrechte, für eine politische Inklusion und eine auf Abbau von Ungleichheit zielende Sozialpolitik geboten hat. (2) Als formales Gebilde hat sich der Nationalstaat weltweit ausgedehnt. Dabei war er in seiner Entstehung eng begrenzt gewesen: auf das Europa des 15. bis 19. Jahrhunderts. Dort trat er als politisch und rechtlich souveräne Organisation auf einem bestimmten Territorium auf; soweit der Machtaspekt, die sogenannte Staatsnation, bis heute lebendig zum Beispiel in Frankreich oder, als emphatischer Patriotismus, in den USA. Daneben steht der Gedanke der Kulturnation, weniger auf den Staatsapparat gestützt als auf das Volk: eine Gruppe von Menschen, die durch Sprache, Tradition und politisches Bewusstsein (angeblich) geeint ist. Das Ganze kann problematisch sein, vor allem in Nationalitätenstaaten wie der Ex-Sowjetunion oder Ex-Jugoslawien; oder es kann pathologisch werden: im Chauvinismus, der zum Krieg und im Separatismus, der zum Bürgerkrieg führt; im expansionistischen National-Imperialismus - etwa des faschistischen Italien, des nazistischen Deutschland - oder in der Barbarei „ethnischer Säuberungen" wie in den Balkankriegen der 90er Jahre und anderswo - sie beruhen auf der Wahnidee, eine Nation müsse „homogen" sein. Im verfassungsrechtlichen Rahmen des Nationalstaats erschienen Republik, positivierte Menschenrechte, demokratischer Rechtsstaat und Sozialstaat. Sie sind moderne Standards für den Anspruch an Politik. Sie sind und bleiben wichtiger als je zuvor, gerade auch für den Widerstand gegen eine Globalisierung, welche die Demokratie bedroht. Was dagegen überholt sein könnte, ist der Nationalstaat als nach außen abschließbare Organisationsform. Die wichtigsten Entscheidungen wurden ihm bereits aus der Hand geschlagen; sie sind heute nicht mehr territorial oder materiell begrenzbar. Der Nationalstaat wurde längst zu klein für die großräumigen Probleme, die heute planetar sind: das Ökosystem der Erde treibt auf einen weltweiten Kollaps zu, die von realem Wirtschaften abgekoppelten Finanzmärkte sind schon, Produktion, Distribution und Arbeitsmarkt werden globalisiert. Der Nationalstaat hat in mehr als einer Hinsicht seine Grundlage verloren. De jure wird noch immer von „Volk" oder „Nation" geredet; aber die individualistisch differenzierte Gesellschaft ist de facto dabei, zu einer Weltgesellschaft zu werden: nicht nur alle in der Welt produzierten Kommunikationen, sondern auch die gesell-

3. Der Nationalstaat in der Globalisierung

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schaftlichen Grundfunktionen wie Wirtschaft, Politik, Erziehung, Wissenschaft werden transterritorial, weltweit „simultan" erfüllt 2 . Diese Weltgesellschaft ist dezentriert, durch Vorstellungen von „nationaler Souveränität" immer weniger berührt, geschweige denn beherrschbar. Das zeigt sich deutlich am wichtigsten Steuerungsinstrument des alten Nationalstaats, der einzelnen Rechtsordnung. Sie wird inzwischen ergänzt, aber auch unterlaufen, umgangen durch ein immer umfangreicheres Corpus von informellem „Weltrecht". Damit sind nicht die - in Geltung gesetzten, also formellen - internationalen Menschenrechte gemeint, sondern etwa die Geschäftsbedingungen des elektronischen Handels oder multinationaler Konzerne. Dieses de-facto-Weltrecht ist keine Rechtsordnung im bisherigen Sinn; nicht in dem Sinn, den Generationen der Menschenrechts-, der Rechtsstaats-, der Demokratie-, Arbeiter- oder Frauenbewegung unter Opfern erkämpft hatten. Es funktioniert ohne Staat, ohne zentrale Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit, unterhalb der Ebene normierter Institutionen und des positivierten demokratischen Rechts - zum Teil bereits als transnationale Privatjustiz, als transnationales „ Recht des Stärkeren Allein deshalb ist davor zu warnen, den Nationalstaat als Konzept und als Mittel praktischer Politik über Bord werfen zu wollen. Damit fiele man hinter Begründer modernen Denkens von Demokratie wie Rousseau zurück; dieser hat vor einem Vierteljahrtausend Menschenrechte und Demokratie eng miteinander verbunden und das „Recht" des Stärkeren als eine auch logisch unerträgliche Zumutung schneidend dekonstruiert. Es gibt noch weitere Gründe. Der europäische Nationalstaat hatte es vermocht, schwer wiegende Fragen wie den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit oder den Zusammenprall von Ideologien im Prinzip friedlich zu beantworten. Diese Probleme und Widersprüche lösen sich jetzt aber nicht zusammen mit der Dominanz des Nationalstaats einfach auf; sie bestehen in der Weltgesellschaft fort, auf regionalem, transnationalem und globalem Niveau, teilweise in veränderter Form. Die nationale Politik ist deshalb aber nicht zu Ende, obwohl es à la mode geworden ist, das zu behaupten. Die politischen Einrichtungen und Verfahren des demokratischen Rechtsstaats können für diesen selbst neuen Aufgaben dienen und für den Widerstand gegen eine entdemokratisierende Globalisierung noch eine Rolle spielen. (3) Die territorial „souveräne" Rechts- und Verfassungsordnung stützte sich, wie jedes Gemeinwesen, auf eine Ökonomie; auf eine „nationale" Wirtschaft, die nach Standort und Aktionszentrum territorial verwurzelt war, so vor allem für die Fragen der Rohstoffe und der materiellen Produktion. Das schloss internationalen Handel natürlich nicht aus, und dem entsprach - im Recht - das Nebeneinander von staatlichem und von Völkerrecht. Denn der Nationalstaat gründete sich, etwa 2 N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, 1986; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 609 ff.

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III. Makroprozesse: Nationale und transnationale Demokratisierung

seit Mitte des 17. Jahrhunderts, auf das labile Gleichgewicht einer gegenseitigen Anerkennung von Souveränitäten; ebenso wie im Innern auf Zentralisierung mit Bürokratisierung; und ökonomisch auf Agrarwirtschaft und Manufaktur, später Industrie, samt territorialer Steuerhoheit und auf eine seit dem Merkantilismus bis zum modernen Sozialstaat mehr oder weniger aktive staatliche Ingerenz - kurz: auf das Modell der alten Industrie- und Arbeitsökonomie. Kapital, Arbeit und Nationalstaat waren, territorial jeweils definierbar, deren Hauptfaktoren. Das änderte sich seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts grundlegend. Die Globalisierung beruht auf technischen Entwicklungen und zugleich auf politischen Entscheidungen. Beide verstärken sich gegenseitig: Übergang von der Arbeits- zur „Wissens"-gesellschaft, zur „digitalen Revolution", zur „New Economy". Der Gang der Technik lässt sich kaum beeinflussen, die Politik aber durchaus. Dafür bleibt der Nationalstaat wichtig. Vorerst schrumpft seine herkömmliche Bedeutung. In Europa wird sein Rechtssystem von supranationalen Vorschriften verdrängt; im Übrigen hat es, angesichts globaler Technik, Produktion und Kapitalbewegung, immer weniger an Wichtigem zu regeln. Für den Rest wird es zunehmend von globalem hard law und soft law ausgehebelt und besonders auch von informellen privaten Codes. Diese bieten den betroffenen, oft schwer geschädigten Menschen, Gewerkschaften und sonstigen Gruppen immer weniger an Rechtssicherheit. Das Territorium als solches bleibt bestehen; wie in früheren Zeiten bietet es auch weiterhin Anlass für Grenzkonflikte und Kriege. Es bedeutet aber immer weniger: zum Beispiel demografisch wegen weltweit wachsender Migration und Immigration, einschließlich der massenhaften illegalen; strafrechtlich angesichts der sich globalisierenden Organisierten Kriminalität; steuerrechtlich wegen des Auslagerns von Firmensitzen, auf Grund häufiger Fusionen und mehr oder weniger „feindlicher" Übernahmen, nicht zuletzt auch durch das Ausweichen in Steuerparadiese. Die multinationalen Konzerne handeln transnational. Die Arbeitsmärkte werden, etwa durch Auslagerung der Produktion, durch Lohn- und Steuerdumping entnationalisiert. Produziert wird in Billiglohnländern; und soweit noch in den zentrischen Ländern, dann sehr oft auf der Grundlage von den Regierungen erpresster Standortprivilegien. Die Finanzmärkte sind ohnehin global entgrenzt und durch die nationalen Ökonomien seit langem nicht mehr bestimmbar. Die Konzerne haben, für erhebliche Teile des wirtschaftlichen Geschehens, die Staaten als steuernde Instanz - de facto - abgelöst; das liegt weniger an einer gezielten Absicht der Unternehmen - die ihre zielt auf Profit - , als teils an der Passivität, teils an der Komplizität der Nationalstaaten. Zudem führte die digitale Revolution auch dazu, dass sich die Wertschöpfung von der materiellen Seite der Erzeugnisse zu deren „intelligenter" Seite verschiebt: im industriellen Symbolprodukt der zwei ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, dem Auto, machen die Rohstoffe 30-40 % des Wertes aus; im Symbolprodukt der neuen Ära, dem elektronischen Bauteil, gerade noch 1 %.

3. Der Nationalstaat in der Globalisierung

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Der Nationalstaat, herkömmlich an Territorialität gebunden, vermag eine sich immaterialisierende Ökonomie und „virtuelle" globale Aktionsräume nicht mehr zu beherrschen. Das Herrschen besorgen auf der einen Seite die Multinationalen mit ihrem transnationalen Agieren, auf der anderen die kapitalistischen Zentralagenturen wie vor allem IWF, Weltbank, OECD und Welthandelsorganisation als eine de-facto-Weltexekutive. Die Konzerne streben die Maximierung des Profits dort an, wo es ihnen am leichtesten gemacht wird. Mit der eigenen, aber auch mit der fremden „Nation" des Billiglohnlandes hat das kaum mehr etwas zu tun: auch dort werden Steuervorrechte erpresst, werden ökologische Auflagen umgangen, wird nach einem wirtschaftlichen Misserfolg das Wertvolle demontiert, der Rest in der zerstörten Landschaft stehen gelassen. Wird, etwa in Brasilien, durch einen ausländischen Konzern investiert, so findet, im Fall des Erfolgs, eine wirtschaftliche Entwicklung statt auf einem Territorium, das geografisch „Brasilien" heißt, und in einem Nationalstaat, der sich „Föderative Republik Brasilien" nennt. Aber es ist nicht Brasilien, das da wirtschaftlich entwickelt wurde. (4) Sind Prognosen möglich? Damit ist nicht Hellseherei gemeint - „wie es kommen wird"; sondern das Formulieren von Maßstäben für Wahrscheinlichkeiten, „wie es kommen könnte". Quantitative Parameter: Weltweit gibt es (Stand von 2003) 193 Nationalstaaten. In Zukunft dürften es nicht weniger sein, sondern mehr; zahlreiche Befreiungsund separatistische Bewegungen machen das wahrscheinlich 3. Als Form hat der Nationalstaat nicht ausgedient; die Bildung eines neuen kann in bestimmten Fällen (ζ. B. Palästinenser, Kurden) endlich historische Gerechtigkeit zulassen oder kann unabsehbar dauernde (Bürger-)Kriege beenden helfen. Die Beibehaltung eines bisherigen Nationalstaats hilft oft - nicht immer - die internationalen Beziehungen zu stabilisieren. Aber die regulative Kraft, Kompetenz und Wichtigkeit der National Staatlichkeit als eines ökonomisch-politischen Typus (und damit auch der einzelnen Staaten) dürften weiterhin abnehmen. Das kann dazu verführen, stärker auf das Symbolische auszuweichen: von der Folklore, auch im weitesten Sinn, über neue chauvinistische Ideologien bis zu Konflikten über Territorien und Grenzverläufe. Das zeichnet sich deutlich ab, nach den Balkankriegen des Jahrhundertendes beispielsweise weiterhin im Nahen Osten, zwischen Indien und Pakistan, zwischen Volks- und Nationalchina. Parallel zu dem, was „Glokalisierung" genannt wurde, will sich der an territorialer Wichtigkeit schrumpfende Nationalstaat, in einzelnen Fällen, angesichts einer nunmehr globalen Zusammenballung von Finanz- und Entscheidungsmacht gleichsam als Großform des Lokalismus / Regionalismus behaupten. 3 Die Europäische Union (EU) ist dabei nicht als künftiger Kandidat gemeint; sie wird kein „vereinigter Nationalstaat" werden.

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III. Makroprozesse: Nationale und transnationale Demokratisierung

Qualitative Parameter: Die territorial gebundenen und in der Vergangenheit nützlichen Wirkungen des Nationalstaats (Befriedung, Schutz, Ausgleich) sind zu verteidigen. Seinen rechtlichen Zuständigkeiten und Verfahrensmöglichkeiten sind aber auch neue Funktionen abzugewinnen. Diese sind in ihren Zielen und Aktionsfeldern nicht mehr an das Staatsgebiet geknüpft, gehen aber de iure nach wie vor von ihm aus. Dafür ist auf die Wahl sozial sensibler und ökologisch bewusster Mehrheiten und auf die Bildung globalisierungskritischer Regierungen hinzuwirken; sind bestehende Regierungen über parlamentarische und außerparlamentarische Aktionen, über Medien und öffentliche Meinung argumentativ unter Druck zu setzen. Auf diese Weise kann versucht werden, die Restbestände an Regelungsmacht des Nationalstaats bzw. supranationales Potenzial wie das der EU gegen ungehemmt globale Monetarisierung und Deregulation im bisherigen Stil demokratisch einzusetzen. Hier sind zahlreiche Maßnahmen im Einzelstaat bzw. innerhalb der Europäischen Union wichtig, um das Gift dieser Art von Globalisierung abzumildern (vgl. oben Kapitel III. 2). Auch sollte nicht vergessen werden, dass eine an den Menschenrechten orientierte Politik in den Nationalstaaten den Mitgliedern der „Rebellischen Internationale", die ja jeweils nationale Staatsbürger sind, ihre Aktivität als eine offene und demokratische de iure erst möglich macht. Die verbleibende nationale (und in Europa die supranationale) Einflusschance ist auch als Transmissionsriemen für demokratische und soziale internationale Politik nutzbar. Dabei geht es darum, durch völkerrechtliche Verträge und Konventionen, durch politisch gezielte Zusammenarbeit (vor allem EU und Mercosur) und durch politischen Druck auf die Organisationen der UN auf Ziele hinzuwirken, für die es an Beispielen nicht mangelt: etwa die Regelung und Besteuerung internationaler Finanztransaktionen, einen weit großzügigeren Schuldenerlass für Schwellen· und vor allem Drittweltländer, eine global wirksame Kartellbehörde, ein von Grund auf erneuertes Bretton-Woods-II-Abkommen und auch darauf, dass der Internationale Strafgerichtshof de lege ferenda in gleicher Weise wie für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch für schwerwiegende transnationale Wirtschaftskriminalität zuständig wird. All das ist notwendige, aber noch nicht ausreichende Bedingung dafür, die neomanchesterkapitalistische Globalisierung rechtlich, sozial und kulturell durchgreifend zu zivilisieren. Soweit dieser Widerstand nicht nur zu globalen ethischen Standards, Prinzipien und zu soft law führen soll, sondern auch zu normativer Absicherung, wird eines wichtig sein: nicht einen „globalen Nationalstaat (Weltstaat, Megastaat) anzustreben; sondern normative Netzwerke, eine Weltrahmenrechtsordnung aus soft law und ausreichend hard law. Sie hat frühere progressive Funktionen des alten Nationalstaats nunmehr in der globalen Arena möglichst fortzuschreiben und auch durch Neuartiges zu ersetzen. Das Zu-Ende-Gehen der alten „klassischen" Nationalstaatlichkeit führt zu einer Art von Aufschaukeln der Gegenpole: des Globalen einerseits, andrerseits des

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Lokalen / Regionalen. Wer will, kann darin Thesis und Antithesis einer neuen historischen Dialektik erblicken. Auf keinen Fall sollte auf etwaige Synthesen vertraut, gewartet werden. Globalisierung hat keine höhere Dignität, kommt nicht als Naturgesetz noch auch als reiner Selbstlauf der Technik daher. Sie war immer und bleibt es weiterhin auch Ziel und Ergebnis von Politik - das heißt, von etwas, das so aber auch anders gemacht werden kann. Nicht „die Geschichte" geht zu Ende. Die Kämpfe, welche die Geschichte ausmachen, gehen weiter. Sie betreffen jetzt zusätzlich zu den überkommenen und nicht abgearbeiteten (so die national und global sich verschärfende Ungleichheit, das ökologische planetare Desaster, Gewalt und Militarismus, nichtstaatlicher und staatlicher Terrorismus) - den Aufbau eines nationalen, transnationalen und weltweiten Mobiles aus Aktionen, Netzen und Institutionen, um staatliche und staatlose Elemente wachsender Demokratie zu erarbeiten. (5) Für eine vitale Demokratie ist das bloße Wahlrecht zwar eine notwendige, aber bei weitem keine zureichende Bedingung. Ihre uns bekannte bürgerliche Form ist bereits das Endergebnis einer langen Reihe von Reduktionen jener Selbstbestimmung via Selbst Codierung des Volkes, die den Kern des Gedankens der Demokratie ausmacht. Deren ursprünglichste Idee, die Selbstregierung der Gruppe als Ganzes, behält Jean-Jacques Rousseau (Du Contrat Social I I 4, III 4) einem „Volk von Göttern" vor, an die auch er nicht glauben mag; allenfalls noch den „Rotten von Bauern unter einer Eiche" (ebd., IV 1), mit deren kleinräumiger Nachbarschaftsordnung aber kein Staat zu machen ist. In einer ersten Rücknahme des Anspruchs wird eine Regierung als Ausschuss eingerichtet, mit inhaltliche bestimmtem Auftrag und durch die Mehrheit der Volksversammlung jederzeit auswechselbar. Diese Mehrheit erlässt auch die Gesetze. Auf der nächsten Stufe werden die Gesetze durch Abgeordnete beschlossen, daneben auch durch Plebiszite. Die Regierung hängt vom Vertrauen der Mehrheit der Volksvertreter ab (Parlamentssystem); diese haben ein gebundenes (imperatives) Mandat und können jederzeit zurückgerufen werden (recall). Das Gewinde der Reduktionen einer realen „Kratie" des Demos dreht sich weiter: in einem neuen turn of the screw wird diese Möglichkeit eines Rückrufs fallen gelassen, ebenso das inhaltlich gebundene Mandat. In einer nächsten Schicht des Abbaus an Selbstbestimmung gibt es keine Volksentscheide mehr; oder nur noch unter sehr erschwerten Bedingungen (die politische Elite bestimmt allein, ob und mit welcher Fragestellung sie abzuhalten sind) oder auch nur noch, wie auf Bundesebene in Deutschland, für einmalige Situationen, typischerweise Fragen der Gliederung des Territoriums. Die Selbstcodierung als der verbleibende Erdenrest von Demokratie - filigran fortlebend in Wunschbildern einer Räteorganisation, hierarchisch abgeflachter Gemeinschaften - ist damit schon so verdünnt, dass die real existierende Oligarchie kaum mehr etwas zu befürchten hat. Nun kommen, in einer fünften Reduktion, Instrumente wie Mehrheitswahlrecht und Sperrklauseln auf die Tagesordnung, die in

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der Praxis zum „Verlust" von zum Beispiel 5 oder 10%, bei der Mehrheitswahl von so gut wie der Hälfte der abgegebenen Stimmen führen können. Für solche Rechtsinstitute können vernünftige pragmatische Gründe sprechen, doch entstammen sie einem anderen Sprachspiel. Die Topoi „Erleichtern der Regierungsbildung" oder „Stabilität der Regierung" sind vorwiegend exekutivische Argumente. Dazu gesellen sich noch, aus der älteren Geschichte demokratischer Ansätze, von der Exekutive überwachte zusätzliche Dispositive der „Verknappung" der Stimmrechte des Volkes: bekannt aus dem Modell des Perikleischen Athen (keine Stimme für Frauen, Sklaven und nicht schon seit längerem ansässige Männer), ähnlich aber bereits in den sumerischen Stadtstaaten); ferner die Ausgrenzung der Frauen bis tief in das 20. Jahrhundert hinein; Pluralwahlrechtssysteme, gestützt auf (Grund-)Eigentum, Steueraufkommen, Bildungsabschlüsse; oder auch Einschränkungen der Zuständigkeiten der gewählten Parlamente - kennzeichnend für den europäischen Frühkonstitutionalismus im 19. Jahrhundert, auf der Ebene des Europaparlaments aber noch den Beginn des 21. prägend. Noch weiter eingeschränkt wird die Möglichkeit einer „Herrschaft des Volkes" durch die Realität des heutigen Parteienstaats („Parteiendemokratie"), der die Abgeordneten de facto zu solchen ihrer politischen Gruppierung oder der hinter dieser stehenden Interessengruppe sowie ihrer parlamentarischen Fraktionen macht, statt zu denen der Wähler. Nicht diesen, sondern ihrer jeweiligen Oligarchie sind sie faktisch verantwortlich, wenn man Fragen wie Fraktionsdisziplin, Finanzierung oder Abhängigkeit von der Nominierung als Kandidat durch den Apparat der Partei realistisch beurteilt. Dann ist es eigentlich keine Verirrung, sondern nur mehr eine Verdeutlichung der Verhältnisse, wenn beispielsweise in Brasilien die Stimmen häufig nur noch von den Vorsitzenden der Parlamentsfraktionen, global für ihre jeweilige bancada, abgegeben werden. In jedem Fall ist im Parteienstaat die Oligarchie auch auf der Ebene der Repräsentanten (und nicht nur mehr auf jener der Regierung und der Lobbys) solide installiert. Dieser Stand der Dinge ist gemeint, wenn in der bekannten {Naomi Klein zugeschriebenen) Formel gesagt wird, die heute ganz vorherrschende politische Form sei „eine Fotokopie einer Fotokopie einer Fotokopie von Demokratie". (6) Fatalerweise gibt es noch weitere Reduktionen. Angesichts all der bereit stehenden sozialen und technischen Mittel der Manipulation der „politischen Willensbildung des Volkes", des unfairen Beeinflussens von Wählern und Wahlen, sowie der im Lauf der Zeit schwer vermeidbaren funktionellen Abnutzung demokratischer Instrumente findet sich Demokratie ohnehin schon in der Defensive - und auf diesen Schwächezustand treffen nun noch spürbar destruktive Folgen der Globalisierung 4.

4 Vgl. F. Müller, Demokratie in der Defensive, 2001; ebenso H. Brunkhorst, Solidarität, 2002; ders. /M. Kettner (Hrsg.), Globalisierung und Demokratie, 2000; jeweils mit zahlrei-

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Die zuerst genannten Defizite hängen wenigstens zum Teil vom „guten" bzw. „bösen Willen" der Beteiligten ab; sie sind, mit anderen Worten, im Rahmen einer politischen Kultur, die diesen Namen verdient, öffentlich bearbeitbar. Für das Ob der Globalisierung gilt das inzwischen nicht mehr, dagegen bleibt das Gestalten ihres Wie unzweifelhaft von Politik abhängig und stellt damit eine erstrangige Aufgabe. Das gilt auch für das Demo„kratie" gleichfalls reduzierende allgemeine Problem der Implementation, also der Durchführung der förmlich in Kraft getretenen Gesetze. Alle Anstrengungen, sie in Kraft zu setzen, waren einzig dadurch motiviert, in Zukunft den betroffenen Teilbereich der Gesellschaft (anders) zu gestalten. Eine eigene Forschungsrichtung ist den Schwierigkeiten gewidmet, die sich hier auftürmen können - technischen, sehr oft finanziellen, immer wieder auch parteipolitisch inspirierten. Auch Volksgesetze, etwa durch Initiative und /oder Entscheid der Wahlberechtigten verabschiedete Normtexte, nützen kaum etwas, wenn sie nicht in der Folge rechtstreu implementiert werden. Die Fragen, die damit ständig gestellt bleiben, sind wiederum politisch zu bearbeiten und verdienen das in viel größerem Umfang, als es üblich ist. Parlamente wie zuständige Ministerien sollten gut ausgestattete, auch für Sanktionen hinreichend kompetente Ausschüsse bzw. Abteilungen aktivieren, die das Umsetzen des geltenden Rechts überwachen, es in der Diskussion halten und notfalls mit Staatsgewalt einfordern. Auch diesem Zweck dienende förmliche prozessuale Verfahren sind de lege ferenda erwägenswert; etwa nach dem Beispiel der verfassungsrechtlichen Verpflichtungsklage (mandado do injunçâo) der Brasilianischen Bundesverfassung von 1988.5 Eine letzte, sehr grundsätzliche Reduktion belastet nicht spezifisch das Demokratierecht; aber da sie alle Normen im Allgemeinen betrifft, besonders alle rechtlichen (Gesetze, Normtexte) einschließlich der demokratisch erzeugten, muss sie hier wenigstens in Kürze analysiert werden. Es geht dabei um das „Umsetzen" in einem anderen Sinn als bei der Implementation, die auf das Ob und das inwieweit bezogen ist: Wie werden die Texte des geltenden Rechts durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung „angewendet", besser: konkretisiert, und was bleibt dabei „von ihnen übrig"? Diese Frage ist für die Realität von Demokratie entscheidend; denn auch Volksgesetze nützen wenig, wenn sie von exekutivischen oder judiziellen Amtsträgern im Einzelfall ausgehebelt, verbogen oder ignoriert werden und wenn es dafür an operationalen rechtlichen Kontrollmaßstäben und an Instanzen einer wirksamen Korrektur fehlt.

chen Nachweisen. - Vgl. auch oben Kapitel III. 2. - Vgl. allg. V.-N. Nguyen , Die Rolle des Staates im Zeitalter der Globalisierung, 2002. 5 Dazu, mit Nachweisen, F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, 8. Auflage 2002, Band I, S. 211 f.

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Auch der Sache der Demokratie dient es nicht, ihre Schwächen verschweigen, ihren Ist-Zustand beschönigen, ihre Grenzen nicht untersuchen zu wollen. Die im Folgenden erörterte sprachliche Bedingtheit 6 der Ergebnisse demokratischer Willensbildung gehört ebenso hierher wie die vorstehende Bilanz der Reduktionen von etwas, das seit alters „Volksherrschaft" genannt wird. Dieses Problemfeld hat eine sprachwissenschaftliche Schicht und eine zweite, die sich verfassungsrechtlich, rechtspolitisch und rechtsethisch formulieren lässt. Im Rahmen der ersten müssen an der - im Sprachspiel der Sonntagsreden noch vorkommenden - Idee von Gesetzes„anwendung" so grundsätzliche Abstriche gemacht werden, dass sie angesichts der realen Praxis ausgedient hat. Recht kommt außerhalb der Sprache nicht vor; und die Sprache des Rechts ist eine fachterminologisch angereicherte und versuchsweise präzisierte natürliche Sprache mit der dieser anhaftenden wortsemantischen Polysemie und textsemantischen Offenheit. Traditionell verstand man „Auslegen" als das Erkennen des normativen Sinns oder Gehalts von positivierten Vorschriften. Man habe es mit einem „Gegenstand" der Auslegung zu tun: nicht nur mit der Ausdrucksseite des Rechtstexts (der eine Kette von Zeichen darbietet), sondern von vornherein mit der Inhaltsseite als seiner vermeintlich vorgegebenen objektiven Bedeutung. Kern dieser Tradition ist der semantisch gewendete - „Mythos des Gegebenen"7: so als hätten (rechts)sprachliche Ausdrücke eine in ihnen fixierte Bedeutung, die sie zuverlässig mit sich führen. Dieser Idee hatte schon Quine vor nunmehr einem halben Jahrhundert den Todesstoß versetzt. Damit hält auch die Forderung nach normativen Sprachregeln als einer sicheren Basis juristischer Auslegung der neueren Wissenschaft und Theorie von Sprache nicht mehr stand. Sprache ist ohne Praxis nicht zu haben, wirkt nur als - verändernde, verschiebende - Praxis. Mit der Frage nach der Praxis von Sprache im Recht stellt sich nicht mehr das Problem der richtigen Erkenntnis, sondern nunmehr das der vertretbaren Entscheidung. Im demokratischen Rechtsstaat benennt also „Geltung" eines Gesetzes den Anspruch, dass beim Begründen der Entscheidung der Transfer von Legitimation vom gesetzlichen Normtext auf die Entscheidungsnorm plausibel und nachvollziehbar vollzogen wird. Diesen Zielen der argumentativen Konsistenz und der methodischen Ehrlichkeit dient die gemeinsame Anstrengung von Rechtstheorie, Juristischer Methodik und Rechtslinguistik.8 6 Diese Frage ist im avancierten Sinn Thema von Rechts-und Verfassungstheorie, Rechtsmethodik und Rechtslinguistik seit: F. Müller, Recht - Sprache - Gewalt, 1975; z. B. S. 37: „Rechtszusammenhänge enthalten immer wesentlich sprachliche Elemente. Das spezifisch Rechtliche an Herrschaftszusammenhängen und an der die Rechtsentscheidung letztlich sanktionierenden Gewaltanwendung ist an Sprache gebunden und damit an deren allgemeine Bedingungen " (im Original hervorgehoben). 7 W. V. O. Quine, Zwei Dogmen des Empirismus, in: ders., Von einem logischen Standpunkt, 1979, v.a. S. 27 ff. - Zum „Mythos des Gegebenen": W. Sellars, Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, 1999; G. W. Bertram, Prolegomena zu einer Rekonstruktion der linguistisch-epistemischen Wende, in: Journal Phänomenologie 13, 2000, S. 4 ff.

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So weit sich Juristen auf eine möglichst rationale Arbeitsmethode verpflichten, sich rechtsstaatlicher Nachprüfbarkeit bewusst unterstellen, um ihre demokratische Bindung an die demokratische Verfassung nicht nur ein leeres Wort sein zu lassen - so weit können die in Normtexten formulierten Ergebnisse demokratischer Politik dann auch tatsächlich den Rechtszustand in der Gesellschaft prägen. An die Stelle traditioneller Rechtfertigung der - alleinigen - „Richtigkeit" einer Rechtserkenntnis kann die vom demokratischen Rechtsstaat geprägte Plausibilität einer Rechtserzeugung treten. Der demokratische Rechtsstaat, in täglicher Rechtsarbeit ernst genommen, hat so die praktische Rolle einer hinreichend konkreten kommunikativen Ethik übernommen. Die Rechtsordnung erscheint nicht mehr als Gesamtheit der Normen; sondern als die aller Handlunge, die Normen erzeugen - und das heißt als Kommunikationssystem.9 Von hier aus sollte man die Judikatur nicht mehr als das Erkennen des Rechts aus dem Text des Gesetzes begreifen, sondern als aktive Erzeugung von Recht in funktioneller Zusammenarbeit mit der demokratischen Legislative. Die Plausibilität und Nachvollziehbarkeit dieses Handelns ist um so wichtiger, als in den meisten Ländern die Richter (und besonders die der höheren Instanzen) nicht demokratisch in ihr Amt gewählt werden. Die alte Lehre bietet nur auf den ersten Blick 1 0 ein Modell an, nämlich das der Rechts„anwendung", welches den demokratischen Postulaten besser zu entsprechen scheint als die realistisch avancierte Theorie gerichtlicher Rechts erzeugung. Tatsächlich aber mündet die traditionelle legalistische Verkürzung der Demokratietheorie in eine idealistische Verkürzung der Sicht von Sprache; und beide verbinden sich zur Ikone einer rechtsstaatlichen Demokratie, welche abgehoben, ohne operationalen Anschluss, über der staatlichen Praxis schwebt. Man kann die Forderung nach einer demokratischen Genese von Rechtsentscheidungen nicht dadurch einlösen, dass man dem Gesetzgeber ein - fiktives - Monopol auf die Aktivität sprachlicher Sinngebung zuschreibt. Avancierte Rechtstheorie, juristische Methodik und Theorie der natürlichen Sprache haben diesen frommen Wunsch verab8 Vgl. F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 2. Aufl. 1994; ders./R. Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl., Bd. I, 2002; Bd. II, 2003; F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989; ders./R. Wimmer (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, 2001; jeweils mit zahlreichen Nachweisen auf andere Autoren und auf die Praxis. 9 Hiermit übereinstimmend, für die Diskurstheorie: J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 1981; ders., Faktizität und Geltung, 1992; aus der Sicht der Systemtheorie: N. Luhmann, Soziale Systeme, 1984; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993; s.a. G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989. 10 Dieser Blick bei I. Maus, Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Abendroth/ Blanke/Preuß, Ordnungsmacht, 1981, S. 153 ff. - Kritisch zu I. Maus: F. Laudenklos, Rechtsarbeit ist Textarbeit. Einige Bemerkungen zur Arbeitsweise der „Strukturierenden Rechtslehre", in: Kritische Justiz 1997, S. 142 ff. - Vgl. ferner F. Müller, Demokratie und juristische Methodik, in: H. Brunkhorst/P. Niesen, Das Recht der Republik, 1999, S. 191 ff.: zu den hier diskutierten Fragen besonders S. 200 ff., 202 ff.

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schiedet. Ihr von solcher Illusion freier Beitrag wirkt als unmittelbare Arbeit an der - fachlich, professionell vermittelten - Demokratisierung innerhalb der Feinstruktur und der realen Funktionsweisen einer - zunächst nationalen, in der Folge auch transnational / globalen - Rechtsordnung. Ziel der Demokratie ist es nicht, in langwierigen und konfliktreichen politischen Bemühungen Texte in die Welt zu setzen, die fortan in den Gesetzbüchern schlummern werden. Ziel ist es, dass diese Texte als normative Regeln den von ihnen betroffenen Teil der Gesellschaft mitbestimmen. Entscheidend ist also ihre Umsetzung: einmal durch ihre unmittelbare Wirkung auf die Teilnehmer am Rechtsverkehr (amtliche Veröffentlichung, vielfältige Formen der Information, Debatte) und, in den zahlreichen Streitfällen, durch Exekutive und Justiz. Deren Arbeit darf nicht irgendwie vor sich gehen; sondern als ein rational einsichtiges, inhaltlich vertretbares und gleichheitliches Argumentieren und Entscheiden. Das ist die verfassungsrechtliche Seite des Problems. Sie prägt die Rechtspolitik und bestimmt die Berufsethik der Juristen, die nicht nur wie Alle an das Recht generell, sondern auch noch durch spezielle Vorschriften und / oder Amtseide und amtliche Pflichten gebunden sind 11 . Durch demokratische Vorgänge wird mittelbar parlamentarisch oder unmittelbar durch Initiativen, Referenden oder Plebiszite Volksrecht hervorgebracht. Dessen in den Gesetzblättern und Kodifikationen gruppierte Normtexte dürfen nicht durch das Amtsrecht der vollziehenden und der richterlichen Gewalt vernachlässigt oder verbogen werden - das ist der Fall bei Entscheidungen, die das Volksrecht überspielen wollen, sich von ihm abkoppeln, es auszutricksen versuchen. Ein ehrliches und rechtstreues Arbeiten der Funktionsträger hat dagegen, trotz all der beschriebenen von innen (ζ. B. die Probleme der Sprachlichkeit des Rechts) wie von außen (ζ. B. Mangel an plebiszitären Verfahren, Wirkung der Globalisierung) kommenden Schwierigkeiten eine erstrangige Bedeutung für die tägliche, die konkrete Demokratisierung nationaler wie in Zukunft auch transnational / globaler Rechtsordnungen. (7) Das Gesagte denunziert nicht das Streben nach Demokratie; es erklärt, warum diese Aufgabe so vielgestaltig und voraussetzungsvoll ist, warum Demokratie als immer und ewig auf dem Weg und oft auch als gefährdet erscheint. Aber: warum überhaupt sollte man sich für eine derart anspruchsvolle und fragile Verfassungs- und Regierungsform einsetzen; warum, wie es hier geschieht, gegen so viele Widerstände für vertiefte und erweiterte Demokratisierung? Manches ist dazu im bisherigen Text schon gesagt worden, einiges zum „Grund" sei noch angefügt. Als Gott sich aus Staat und Gesellschaft zurückzuziehen begann, durfte sein Ort im Politischen nicht vakant bleiben. Vom Gottesgnadentum nach und nach im 11

Zum Ganzen der damit verbundenen normativen, rechtspolitischen und berufsethischen Fragen vgl. F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl. 2002, Bd. I, ζ. B. S. 107 ff., 435 ff.; R. Christensen/H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001.

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Stich gelassen, entdeckten die Herrschenden, dass es sich auch unter Berufung auf das Volk (das schon für die Könige des Ancien Régime „notre bon peuple" gewesen war) gut herrschen ließ, so lange man es nur nicht befragte 12. Das Modell des Frühkonstitutionalismus („konstitutionelle Monarchie") - etwa im Vereinigten Königreich nach der Glorreichen Revolution, in Deutschland ab dem frühen 19. Jahrhundert - befragte es dann, aber selektiv und selten: ohne die Frauen, ohne die Ärmeren, und nur im Turnus der Wahlrechtsperioden. Die Oligarchien - einst die spätfeudalen, nun die frühbürgerlichen - machten weiterhin alles Wichtige unter sich aus. Rousseau hatte das scharf karikiert (Du Contrat Social III 15, u.ö.). Man erfährt aber nicht, wer das Volk ist und was es will, wenn man es nur alle vier oder fünf Jahre an die Wahlurne ruft. Eben dies behaupteten jedoch die Lehrbücher und Sonntagsreden des Bürgertums: ihre Form von Demokratie bedeute in Gesellschaft und Staat die „Herrschaft des Volkes"; alle Staatsgewalten führten des Willen des Volkes aus: in der normierenden Funktion durch die gewählten Repräsentanten, in der implementierenden durch die Exekutive, in der konfliktentscheidenden durch die Justiz. Ein solches Beispiel an Formaldemokratie ist die nordamerikanische. Zentrale Regeln ihrer Bundesverfassung von 1787 wurden mit dem Ziel eingeführt, den unmittelbaren Einfluss des Volkes so klein wie möglich zu halten: das Einschalten von „Wahlmännern", die Spaltung der Gesetzgebung in zwei Kammern; die starke Stellung der Länder im Bundesstaat als Gegengewicht gegen die Zentralgewalt; das Vetorecht des Präsidenten, also der Exekutive, gegen Gesetzesbeschlüsse; das Absehen vom Parlamentssystem, also der Abhängigkeit der Regierung von der Parlamentsmehrheit; das zugespitzte system of checks and balances im Ganzen. Das Schreckgespenst, das im Federalist immer wieder auftaucht, ist „der Mann auf der Straße", der Einfluss der normalen Menschen, deren alltägliche Interessen von der Politik betroffen sind. Sie sollen im System der USA in ihrem politischen Gewicht beschränkt, sie dürfen nicht zur mächtigsten Instanz werden können. Die Folge ist, dass sie es tatsächlich nicht sind: Präsidenten (Reagan bei seiner ersten Wahl, Clinton, Bush jr.) kommen mit der Unterstützung eines Viertels der Wahlberechtigten in ihr Amt, die Wahlenthaltung bei Kongresswahlen übersteigt die Marke von 60% (62% 1994, 64,7% 1998, 2002 rund 61%).Diese Apathie kommt der Logik des formaldemokratischen Systems gerade zupass, das durch eine Kaste von wirtschaftlichen und politischen Honoratioren und Lobbyisten oligarchisch gelenkt wird. Nach den schlechten Erfahrungen des 19. und den katastrophalen des 20. Jahrhunderts lässt sich sagen: um eine Ordnung demokratisch vital zu erhalten, genügt auf der institutionellen Ebene der Mechanismus von Wahl und Repräsentation allein nicht. Demokratie muss auf den Menschen- und Bürgerrechten für alle gründen. Sie erfordert einen ausgebauten Rechtsstaat, damit das Umsetzen der demokratisch beschlossenen Normtexte möglichst operationale Parameter hat. Und sie 12 Analyse dieser zynischen Variante bei F. Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995, S. 11 ff., u.ö.

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braucht vor allem auch eine sozial ausgleichende, eine in diesem Sinn gerechte Politik, damit sich das ganze Volk de facto demokratisch beteiligen kann. Die Diagnose des bloßen Fassadencharakters einer liberalen Formaldemokratie hat das Vierteljahrtausend, vor dem sie formuliert wurde, unbeschädigt überstanden. Träume von Rätedemokratie konnten sich nicht halten, Kommunen und Phalangen blieben ephemer; wobei man hinzufügen muss, dass diese gar nicht erst die Chance bekamen, an inneren Widersprüchen gegebenen Falls zuscheitern - sie wurden schon vorher blutig zusammengeschossen, von Canudos über Paris und München bis Kronstadt. Selbst unpolitische und ganz friedfertige Formen von Selbstverwaltung, Gemeineigentum, informeller sozialer Organisation wie, beispielshalber, die „gratte-plages" in der südfranzösischen Camargue, die ihren elektrischen Strom selbst erzeugen, das Meerwasser filtern und vom Fischfang leben, werden jetzt durch die Staatsgewalt eliminiert. Die Hilflosigkeit diktatorischer wie auch formaldemokratischer Autoritäten angesichts glückender Beispiele basisdemokratischen Lebens ist verräterisch. Angesichts dieser bekannten Reflexe des Machtapparats ist es um so sinnvoller, mit erneuerten Konzepten nach einem Mehr an vertiefter Demokratie zu streben. Welchen Wert hat es, Demokratie zu praktizieren? Rousseau (vgl. oben Kapitel I) gab darauf eine Antwort im Rahmen philosophischer Anthropologie: Was den Menschen auszeichnet, ist Freiheit. Deren Sinn ist es, eine eigene, selbstverantwortliche Ethik zu entwickeln; ist es, dem Gesetz zu gehorchen, „das man sich selbst gegeben hat". Für das Kollektiv, für ein Volk heißt das, sich auf der Basis gleicher Rechte aller argumentativ zu verständigen und über die eigenen Angelegenheiten unter dem Polarstern des Gemeinwohls demokratisch zu entscheiden. Der Mensch muss als sittlich autonomes Wesen gewürdigt werden. Dieser Menschenwürde ist als politische Form allein Demokratie angemessen13. Über Rousseaus Schüler Kant ist dieser Grundgedanke des Menschen als eines freien zoon politikon für das Denken von Demokratie in der Moderne immer wichtiger geworden. Entscheidend ist, welche Vorstellung vom Recht und vom Politischen dabei gewählt wird. Im altliberalen bürgerlichen Rechtsstaat beruhte dessen formales Konzept, ebenso wie das Demokratie, auf dem positivistischen Verständnis des Rechts. Scheinbar paradox galt dasselbe für die frühere marxistisch-leninistische Doktrin: Recht als bloßes Mittel, eine von den Subjekten unabhängige weltanschauliche Gesetzmäßigkeit dominieren zu lassen. Die Demokratie hat unter der „Diktatur des Proletariats" dann nicht einmal mehr, wie im bürgerlichen Staat, eine formale Bedeutung; sie schrumpft noch weiter zur Akklamation bereits fest stehender Entscheidungen zusammen14. Die Jurisprudenz wird zur „sozialtechnischen Leitungs13

Eingehend zum Ganzen: F. Müller, Entfremdung. Folgeprobleme der anthropologischen Begründung der Staatstheorie bei Rousseau, Hegel, Marx, 2. Auflage 1985. 14 Dazu F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl. 2002, Bd. I, S. 172 ff. m. Nw.en.; F. Müller, Entfremdung, 2. Aufl. 1985.

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Wissenschaft", das Recht zum Rädchen im Wirkungsmechanismus vorgegebener objektiver Gesetze. Die scharfe Kritik hieran hatte schon lange vor dem Ende des Sowjetsystems klar gestellt, dass der auf solche Art vorausgesetzte homogene Gesamtwille des Volkes eine Fiktion ist; dass er in der Realität allenfalls jeweils erst zu bilden wäre. In diesem Rahmen hatte etwa Ernst Bloch die subjektive Seite des Naturrechts wieder aufgenommen. Das führte zu Herrschaftskritik; zu dem Gedanken, dass Recht die staatliche Macht einschränken und den Einzelnen den Anspruch auf politische Mitgestaltung der Gesellschaft garantieren kann. Die Zweideutigkeit angesichts der fortbestehenden Vorstellung eines homogenen gesellschaftlichen Gesamtwillens blieb aber auch bei Bloch unaufgelöst. Das hat sich mit dem Neuansatz der marxistischen Theorie geändert 15. Angesichts des pluralen und vielfältigen Charakters der heutigen weltweiten sozialen Kämpfe wird es dort endlich als unmöglich erkannt, Gesellschaft von einer einzigen universalen Logik der zu denken. Es wird jetzt gesehen, dass die „Undurchsichtigkeit" oder „Nichtrepräsentierbarkeit" 16 das Entstehen von Demokratie nicht etwas verhindert, sondern eine Demokratie, die diesen Namen verdient, überhaupt erst möglich macht. Allerdings verhindert dieser Sachverhalt zugleich, dass Demokratie jemals „vollständig" oder „endgültig" verwirklicht sein wird. Als diskursive Konstitution der Gesellschaft bleibt die Demokratie notwendig „im Kommen". Dabei gewinnt das Politische eine Bedeutung, die weit über den Staat hinaus reicht, die grundlegend für Gesellschaftlichkeit wird. Es erscheint jetzt als die eigentliche Basis aller Sozialität, so wie Gesellschaft als das komplexe und instabile Ergebnis vielfältiger politischer Artikulationen deutlich wird. Das Politische ist also nicht mehr, wie in den Konstrukten von Luhmann oder Habermas, nur ein Teilsystem der Gesellschaft; insoweit ist auch Luhmanns Verdikt überholt, ein Primat der Politik müsste für moderne Gesellschaften destruktiv wirken 17 . Der Primat des Politischen drückt nicht aus, es stehe im Zentrum 18 . Vielmehr bezeichnet der „Primat" des Politischen die antagonistische Situation der Unentscheidbarkeit als Bedingung der Möglichkeit des Politischen. Somit lässt sich die Politik nicht als ein soziales System unter vielen auf „ihren" Teilbereich eingrenzen. Phänomene von Macht und Entscheidung kommen in allen sozialen Systemen vor 19 . Politik ist nicht auf ein einzelnes Funktionssystem beschränkt. Sie tritt viel15

Dazu E Müller, Entfremdung; F. Müller/R. Christensen, ebd. (vorige Anm.), S. 175 ff. Diese Ausdrücke bei E. Laclau/Ch. Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, 2. Aufl. Wien 2000, S. 32; zum Folgenden S. 27. 17 Dazu J. Derrida , Bemerkungen zu Dekonstruktion und Pragmatismus, in: Ch. Mouffe (Hrsg.), Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien 1999, S. 171 ff. 18 So aber Luhmann, Theorie der politischen Opposition, in: Zeitschrift für Politik 36 (1989), S. 13 ff., 23. 19 Vgl. J. Derrida, Bemerkungen zu Dekonstruktion und Pragmatismus, in: Ch. Mouffe (Hrsg.), Dekonstruktion und Pragmatismus, Wien 1999, S. 171 ff., 181 f. - Hier kann ein 16

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mehr immer dann auf, wenn die systemische Schließung zusammenbricht. Das Politische ist kein Sachgebiet, sondern ein besonders intensiver Aggregatzustand der Auseinandersetzung auf verschiedenen Sachgebieten der Gesellschaft. Die auf solche Art plurale und umkämpfte Natur des Symbolischen als des sozialen Bandes kann etwa mit dem Begriff der „Überdeterminierung" 20 erfasst werden. Es geht um einen semantischen Konflikt um die Hervorbringung der Gesellschaft; in seinem Rahmen wird auch die konstruktive Bedeutung von Macht erkennbar. Die Machtverhältnisse der Politik haben die Aufgabe, den offenen Prozess des Gesellschaftlichen jeweils vorläufig zu schließen - eine nie endgültig lösbare Aufgabe und zugleich das Feld für die notwendig pluralen und differenzierten Formen von Demokratie und Demokratisierung. Wie legitimiert sich Demokratie? Durch das Volk. Und wie geschieht dieses „durch das Volk"? Die Rousseauschen Götter der ersten, unreduzierten Stufe bilden keines, nur einen inzestuösen Pantheon. Das „glücklichste Volk der Welt" (Du Contrat Social IV 1), wo sich die Bauern unter der Eiche wie zu Staatsgeschäften zusammenrotten, übt sich in Selbstbestimmung, das heißt in unmittelbar-realer Regulierung der anstehenden Streitfragen. Regulierung meint dabei beides: eine Regel aufstellen und, ihr gemäß, die Sache auch gleich regeln; im Sinn von: entscheiden und ausführen, das Problem zum Verschwinden bringen bzw. es auf ein gemeinschaftsverträgliches Maß herabstufen. Beides kann auch in einem einzigen Akt erfolgen - abstrakte Regelformulierungen nach der Art von Normtexten (förmlichen Gesetzen) brauchen weder Bauern noch Götter. Doch die Wiederholung typischer Situationen, die Nötigung, Regulierungen zu erneuern, sie „wieder auf den Weg zu bringen" (zu re-iterieren), führt zu jeweils ähnlichen Regelformulierungen im neuen Fall - auf kurze Sicht zu Rechtsgewohnheiten, auf längere zu Gewohnheitsrecht. Erst in einem stärker, das heißt überwiegend funktional ausdifferenzierten Stadium, seit den sumerischen Stadtstaaten, bilden sich offiziell verschriftete und publizierte Normtexte heraus. Folgerichtig wies die sumerische Polis neben dieser Gesetzgebung auch schon eine Exekutive und ein nach Instanzen gestaffeltes Justizwesen auf, alle drei im Tempelbezirk konzentriert. Im demokratischen Staat einer funktional differenzierten Gesellschaft wird die Regulierung mit Hilfe von Normtexten vor und nach dem Legislativakt in der Gesellschaft diskutiert 21 , und diese Debatte muss frei geschehen können. Freiheiten wie die von Information und Meinung, Presse und Rundfunk, Versammlung und

Versagen der Systemtheorie gesehen werden; dazu auch D. Barben, Theorietechnik und Politik bei Niklas Luhmann, 1996, S. 262. 20 Bei E. Laclau/Ch. Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, 2. Aufl. Wien 2000, S. 132 f. 21 Die Theorie des doppelten Diskurses bei E Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl. 2002, Bd. I, S. 412 ff. 419 ff. zu den „primär" und „sekundär diskursiven" Prozessen in Fachwelt und Rechtsinstitutionen zum einen, in der vom Recht betroffenen Gesellschaft zum andern.

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Vereinigung, Gewerkschaften und Parteien tragen in der täglichen Realität die Wahlen und Abstimmungen durch das Aktivvolk, die Diskussionen des Zurechnungs- und des Adressatenvolks. Demokratie kann nur dort legitimieren, wo der demos in seinen Funktionsschichten22 Menschen- und Bürgerrechte hat und sie tatsächlich ausüben kann, wo er nicht durch Maßnahmen der Unterdrückung daran gehindert wird. Nur dort wird „das Volk" einigermaßen realistisch als „Quelle" der Staatsgewalt bezeichnet (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Eine legitimierende Demokratie gibt es nicht ohne öffentlichen Raum, in dem sich die Grundrechtsgarantien politisch auswirken können; schon die altrömische Wortgeschichte von „publicus" (aus „populicus" und damit von „populus") drückt dieses Bestimmtsein durch den demos aus 23 . Das „Volk", auf das sich Demokratie in Verfassungsurkunden und anderen Normtexten beruft, legitimiert nicht als ideologische Ikone, die gleichsam wie eine Sichtblende vor rechts- und verfassungswidriges Handeln der Staatsgewalt gehalten wird: verschleiernd, dass sich hier illegitime Gewalt statt legitimer Macht durchsetzt. Es legitimiert dagegen als Aktivvolk, das die Wahlberechtigten umfasst; ferner als das Zurechnungsvolk der Staatsangehörigen, „in" dessen „Namen" die Entscheide von Exekutive und Justiz ergehen. Und die de-facto-Bevölkerung, kann auch sie demokratisch legitimieren? Sie tut es als Adressatenvolk, das von den Entscheidungen der Staatsgewalt, aber auch von den zivilisatorischen Staatsleistungen tatsächlich betroffen wird. Zu diesen Leistungen zählen an zentraler Stelle die staatlich gewährten Grundrechte sowie - vom Einzelstaat abgelöst - die Internationalen Menschenrechte. Das Respektieren der allgemeinen Menschenrechte, dieser nicht im engeren Sinn staats- und wahlbürgerlichen Garantien, stützt das politische System gerade in seiner demokratisch-rechtsstaatlichen Qualität. Die einfache Tatsache, dass sich Menschen in einem Staatsgebiet aufhalten, ist rechtlich alles andere als belanglos. Ihnen kommt rechtliche Menschqualität zu, Menschenwürde, Rechtsfähigkeit. Sie werden durch geltendes Verfassungs- und Gesetzesrecht verpflichtet und belastet, aber ebenso geschützt - im Rahmen der allgemeinen zivil-, straf- und öffentlichrechtlichen Vorschriften, wobei ihnen die Menschenrechte als Menschen unmittelbar zustehen. Während die Ergebnisse der Gesetzgebung auf die Repräsentanten des Aktivvolks zurück gehen, betrifft die Implementation der Gesetze in ihrer Rechtmäßigkeit das Zurechnungsvolk, in ihrer praktischen Auswirkung alle, das Adressatenvolk. Rousseaus Gedanke einer direkten Demokratie hatte, mit anderen Worten, darauf gezielt, Aktiv-, Zurechnungs- und Adressatenvolk in der Republik einer vollständig inklusiven Gesellschaft zusammenzuzwingen. 22

Entwickelt bei F. Müller, Wer ist das Volk?, 1997; vgl. auch schon dens., Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995. - Im vorliegenden Text kommt als vierte Funktion das partizipierende Volk hinzu. 23 Die Republik ist die res publica, die „Sache des Volkes". - „Der öffentliche Raum ist der des Volkes, so wie der Himmel des Kondors ist" (Castro Alvez [1847-1871]: „A praça é do povo corno ο ceu é do condor"). 7*

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Das wird (vgl. oben Kapitel I, und öfter) in dieser historischen Form nicht weiter verfolgt; aber das erneuerte Konzept von Demokratie mit seinen vier legitimierenden Funktionsschichten von „Volk" hält daran fest, dass dieser Begriff normativ und dass er inklusiv ist, sich mit Exklusion nicht verträgt. Es hält daran fest, dass Demokratie die Staatsform der Inklusion ist, dass sie auf der textuellen Garantie und der gesellschaftlichen Realität gleichheitlich gewährter und ausgeübter Menschen· und Bürgerrechte beruht - auf der Basis der Entwicklung Internationaler Menschenrechte auch von den Einzelstaaten abgelöst. Die theoretische Grundlage für dieses Konzept wurde 24 dort geschaffen, wo die Frage der Demokratie aus dem archaischen Herrschaftsdiskurs des „Unten und Oben" - „ wer herrscht im Staat?" - herausgenommen wird; auch in der repräsentativen Demokratie herrscht das Volk nicht. Die Frage geht jetzt dahin, für wen die „demokratische" Politik gemacht, wer tatsächlich als der im Gemeinwesen maßgebliche Faktor behandelt wird. Government for the people: für die Wahlberechtigten und für die Staatsangehörigen und für alle hier lebenden, für alle vom demokratischen Recht betroffenen Menschen. Und für das und mit dem partizipierenden Volk der politischen Öffentlichkeit. Zu dieser vitalen Demokratie, auf die Menschenrechte gegründet, gehören Rechts- und Sozialstaat als notwendige Bedingungen. Systemische soziale Ungerechtigkeit exkludiert aus allen von ihnen, negiert das zentrale demokratische Politikziel einer inklusiven Gesellschaft. Dann kann nicht das Volk, also das ganze, demokratisch partizipieren. Auch nützen demokratisch erzeugte Normtexte nicht viel, wenn nicht die Instanzen eines ausgebauten Rechtsstaats ihre Umsetzung kontrollieren. Die nur gelegentlich eingeholte, noch nicht überholte Formulierung des neuen Gesellschaftsvertrags von 1762 drückt, in der rationalistischen Konstruktivität des Stils ihrer Zeit 2 5 , bereits diese Grundpostulate aus: Jeder Mensch ist zu gleichem Recht Mitglied von Gesellschaft und Staat - keine Exklusion in den Rechten! Und: Rechte und Pflichten sind reziprok, strikt gegenseitig - keine Hierarchie in den Rechten! Was wir inzwischen Rechts- und Sozialstaat nennen, basiert in seinem Zusammenhang mit Demokratie auf Freiheit und Gleichheit als dem „Ziel jedes Systems der Gesetzgebung" - auf der Freiheit, weil sie der Lebensatem von Demokratie ist; auf der Gleichheit, weil ohne sie „die Freiheit nicht bestehen kann" 26 . Der Autor kannte das überlegene Lächeln des liberalen Bürgertums über die „natürliche" Ungleichheit der Menschen, kannte die panische Aversion gegen „Gleichmacherei": „Diese Gleichheit, sagt man, ist eine Chimäre des reinen Den24 F. Müller, Wer ist das Volk?, 1997. 25 Du Contrat Social II 6. 26 Du Contrat Social I I 11: „Si l'on recherche en quoi consiste précisément le plus grand bien de tous, qui doit être la fin de tout système de législation, on trouvera qu'il se réduit à deux objets principaux, la liberté et Végalité: la liberté, parce que toute dépendance particulière est autant de force ôtée au corps de l'État ; l'égalité, parce que la liberté ne peut subsister sans elle" (im Original hervorgehoben).

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kens, die in der praktischen Wirklichkeit nicht zu existieren vermag. Wenn aber der Missbrauch unvermeidlich ist - folgt daraus schon, dass man ihn zumindest nicht regulieren müsse? Gerade weil die Macht der Dinge immer nach Unterhöhlung der Gleichheit strebt, soll die Macht der Gesetzgebung immer nach ihrer Bewahrung streben" 27. In unseren heutigen Begriffen ausgedrückt, entwickelt schon Rousseau aus der demokratischen Gleichheit als regulativer Idee die Forderung nach einer aktiven Sozialpolitik: keine rechtliche oder ökonomische Exklusion, Bekämpfung der Armut, Schaffen und Bewahren eines tragfähigen Mittelstands, Verhinderung großer Zusammenballungen von Kapital. Diese inhaltlich bestimmte Demokratie ist kein formales Staatsgehäuse für Bourgeois, sondern ein Gemeinwesen für Citoyens: statt der „Subjekte" der idealistischen Philosophie der Neuzeit bedarf es praktischer Subjekte. Als solche erweisen sie sich eben durch Praxis: als Akteure, die täglich bereit sind, für Ehrlichkeit und für die sachliche Gleichbehandlung der Menschen in Gesellschaft und Staat gerade zu stehen. Solche Freiheit ist nicht privatistisch; sie ist (immer auch) Freiheit zur aktiven Teilhabe am Politischen. Die Demokratie erscheint dann nicht mehr nur als Ernest Renans „plébiscite de tous les jours", das schließlich auch durch Untätigkeit, durch Hinnahme, durch Nicht-Auswandern sei es aus dem Territorium, sei es einfach aus dem öffentlichen Diskurs der Gesellschaft erfolgen kann. Stattdessen: die gleichen Menschenrechte wahrnehmen - im doppelten Sinn dieses Worts - und sie, für sich selbst und für Andere, durch Praxis festigen, erweitern. Diese Gesellschaft ist politisch eine permanente Werkstatt im öffentlichen Raum Baustelle einer Demokratie, die als Arena semantischer Kämpfe und als Forum der Entscheidung des „von selbst" nicht Entscheidbaren unvermeidlich nicht zu Ende kommt. Legitimität wird, noch einmal auf den Volksbegriff hin reflektiert, gegenüber dem Adressatenvolk durch sozial ausgleichende Politik erreicht, gegenüber ihm und dem Zurechnungsvolk durch rechtsstaatlich vertretbare Konkretisierung der Gesetze, gegenüber dem Aktivvolk durch Verbesserung des repräsentativen Mechanismus und durch erweiterte Formen der Partizipation (partizipierendes Volk). (8) Der Mechanismus der Repräsentation kann „im Nachhinein", nach dem Erlass der Normtexte in repräsentativen Verfahren, verbessert werden - durch rechtsund verfassungstreue einsichtige Arbeit der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt; wie auch durch ein systematisches staatliches Überwachen der Vorgänge, in denen die erlassenen Gesetze implementiert werden. Beides ist in diesem Kapitel schon behandelt worden. „Im Vorhinein" geht es darum, die Repräsenta27 Du Contrat Social I I 11: „Cette égalité, disent-ils, est une chimère de spéculation qui ne peut exister dans la pratique. Mais si l'abus est inévitable, s'ensuit-il qu'il ne faille pas au moins le régler? C'est précisément parce que la force des choses tend toujours à détruire l'égalité, que la force de la législation doit toujours tendre à la maintenir."

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tion auf dem Weg zum Erlass von Normtexten ehrlicher zu machen, eben „repräsentativer". Dazu seien hier zwei Gesetzesvorschläge gemacht. Im Wahlrecht sollte über gesetzliche Sanktionen gegen die politischen Parteien und ihre Kandidaten diskutiert werden (vgl. oben Kapitel III. 2.): durch Quoren, welche die nach der Wahl tatsächlich verteilten Parlamentssitze in einer normativ festgelegten Proportion der abgegebenen Stimmen zur Zahl der Wahlberechtigten beschränken. Nach der Maximalversion würden dann nach einer Wahl mit 60% Wahlbeteiligung nur 60 % der Abgeordnetensitze verteilt werden. Selbstverständlich sind mildere Formen der Staffelung diskutabel. Das Ganze klingt, da den uns auferlegten Gewohnheiten entgegengesetzt, unsinnig; es wäre aber nur folgerichtig. Dass Politiker und Parteien ohne jede Sanktion eine Politik machen können, die in den reichen Industrieländern ein Drittel (Europa) bis zwei Drittel (USA) der Wahlberechtigten konstant vom Wählen und Abstimmen abhält, ist eine Zumutung, ist undemokratisch - sei es dass sich die Menschen angewidert abwenden, sei es dass chronische Misere und Exklusion ihnen weder Kraft noch Zuversicht übrig lassen, sei es dass im besten Fall (der gar nicht gut ist) kollektive Gleichgültigkeit gegenüber dem Politischen erzeugt worden ist. Diese euphemistisch „Politikverdrossenheit" genannte Katastrophe für die Demokratie wird dann auch noch den Wahlberechtigten moralisierend vorgeworfen; die vollzählig auf ihre Posten Gewählten kommen davon, als sei nichts gewesen. Mit schmerzender Deutlichkeit zeigt dieses inzwischen strukturell gewordene Massenphänomen, was die Repräsentanten und ihre oligarchischen Apparate in Wahrheit, und das heißt in ihrer Praxis, vom Anspruch einer „Repräsentation des Volkes" halten. Statt dieses Vorschlags die Wahlpflicht einzuführen, wie dies eine Reihe von Staaten getan hat, erscheint nicht sinnvoll. Wegen des unverzichtbaren Wahlgeheimnisses kann niemand dazu verpflichtet werden, eine gültige Stimme abzugeben. So summierten sich bei den brasilianischen Präsidentschafts-, Gouverneurs-, Senats-, Bundes- und Landtagswahlen vom Herbst 1998 trotz der herrschenden Wahlpflicht die Zahl der nicht abgegebenen, der weißen und der ungültigen Stimmzettel auf 34, 17 % und damit auf einen grosso modo „europäischen Durchschnitt" 28 . Der zweite Vorschlag, der hier beispielhaft für mögliche Verbesserung im Mechanismus von Repräsentation gemacht sei, betrifft die Rechtsstellung der Abgeordneten und das Parteienrecht. De jure sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages29. „Vertreter des ganzen Volkes" (Art. 38 Abs. 1 Satz 2/1. Satzteil 28 Für die entsprechenden Wahlen im Herbst 2002 liegen noch keine abschließenden offiziellen Zahlen vor. 29 Art. 38 Abs. 1 GG: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzes Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Der im Text folgende Art. 21 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 lautet: „Die Parteien wirken bei der poli-

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GG), de facto vertreten sie ihre Partei und Fraktion und, in vielen Fällen, dahinter stehende Interessenverbände. Diese Form von „Parteien- und Interessendemokratie" lebt davon, das Volk aus der Politik hinauskomplimentiert zu haben, es in der geschniegelten Sprache eines Teils der Wissenschaft zu „mediatisieren". Diesen Vorgang aus der so allgemeinen wie restriktiven Formulierung des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG („Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit") rechtfertigen zu wollen, bleibt dem noch herrschenden Mainstream des Öffentlichen Rechts vorbehalten. Das oft beschworene „Spannungsverhältnis" lässt sich, zum Schaden der demokratischen Verantwortlichkeit der Abgeordneten, aber nur zwischen diesem Satz (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) und dem zitierten ersten Satzteil des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 aufbauen; mit der vollständigen Vorschrift geht es schon nicht mehr: „Sie [ die Abgeordneten ] sind ... an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". „Aufträge" (an die Lobbyisten, die ins Parlament geschleust wurden) und „Weisungen" gibt es in Fülle: Fraktionsdisziplin, Fraktionszwang"; Druck durch die Drohung, nicht wieder nominiert zu werden, und Anderes. Diese Tatsachen gehören zum Sachbereich der genannten Verfassungsartikel. Dagegen schneiden der zweite und dritte Satzteil des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG jeder rechtlichen Relevanz dieser Phänomene den Zugang zum Normbereich der Art. 21 und 38 GG ab - dank der wiedergegebenen expliziten Formeln, welche die Bildung eines abweichenden Normprogramms verhindern 30. Das auf solche Art mit differenzierter Methodik zu ermittelnde Ergebnis folgt im Übrigen bereits aus dem deutlichen Wortlaut des Art. 38 Abs. 1 in seinem Verhältnis zu Art. 21 Abs. 1 GG. Die praktische Lösung dafür, von den Abgeordneten den genannten erheblichen Druck zu nehmen, bestünde in folgender Änderung der bisherigen Rechtslage: Die Kandidaten der Parteien werden durch Urabstimmung unter den Parteimitgliedern bestimmt. Die gegenwärtigen Abgeordneten dürfen, sofern sie nicht etwa selbst aus dem aktiven politischen Leben ausscheiden wollen, von dieser Urabstimmung nicht ausgeschlossen werden. Erst dann entspräche die „innere Ordnung" der Parteien - angesichts des genannten Sachbereichs aus Aufträgen, Weisungen und Pressionen - „demokratischen Grundsätzen" im Sinn des Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG. Eine Demokratie ist so ehrlich, wie es die demokratische innere Ordnung ihrer Parteien zulässt. Änderungen des repräsentativen Modells im Detail, etwa nach der Art dieser beiden Vorschläge, könnten die kompakte hierarchische Oligarchie des Parteienstaats für die „politische Willensbildung des Volkes" ein Stück durchlässiger machen. Sie beträfen, wie schon erörtert, die Stellung des Aktivvolks und wären Schritte einer inneren Demokratisierung dieser Art von Parlamentarismus. tischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen". 30 Zu den genannten Begriffen vgl. F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, 8. Aufl. 2002, Bd. I.

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Andere Konzepte und Vorhaben richten sich auf eine in dem Sinn externe Demokratisierung, als sie im Wesentlichen außerparlamentarisch ansetzen und die Verfahren parlamentarischer Erarbeitung von Normtexten durch Formen der Volksgesetzgebung, durch „plebiszitäre" Elemente ergänzen wollen. Eine genauere Analyse ergibt aber, dass der Formenreichtum einer direkteren Mitwirkung des Volkes an den politischen Entscheidungen vielfältiger ist und noch mehr umfasst als die Verfahren der Volkslegislative. (9) Nicht in diesen Zusammenhang gehören Bewegungen informeller Partizipation wie zum Beispiel Kampagnen und Boykottaktionen von Konsumenten gegen menschenrechtswidrig oder illegal erzeugte Produkte. So wie dieses Buch Demokratisierung auf dem politischen Feld untersucht und nicht auch Formen von „Wirtschaftsdemokratie" und „Mitbestimmung" einbezieht, so geht es jetzt um erweiterte Partizipation des Volkes in normierten staatlichen Prozeduren von Entscheidung. Dazu zählen auch Neuerungen wie der von den Bürgern maßgeblich mitgestaltete Haushalt von Kommunen („Beteiligungshaushalt", orçamento participativo), der ganz den öffentlichen Raum betrifft, normativ geregelt ist und erhebliche politische Wirkung hat. Er geht von Porto Alegre aus, erweckt weltweites Interesse und wird hier noch erörtert werden. Partizipative Demokratie handelt vom „kratein" in diesem Begriff; von hier aus gesehen, soll Demokratie ein Mechanismus der Bestimmung und Kontrolle von „unten nach oben" sein. Damit ist nicht mehr nur das Recht des Volkes gemeint, Parlamente zu wählen, also nach Rousseau alle vier oder fünf Jahre vier oder fünf Sekunden lang, während der Stimmabgabe, sich frei fühlen zu können, während der Dauer der folgenden Legislatur aber „Sklave" zu sein, ja politisch „nichts". Dass, wird „kratein" ernst genommen, im reinen Parlamentarismus eine Oligarchie aus Deputierten, Regierung und Interessengruppen herrscht, wird nicht mehr plausibel bestritten. Das zu ändern, ist das Ziel der vielfältigen Diskussionen um ein Mehr an politischer Teilhabe31. Staaten, die solche „plebiszitär" genannten Elemente bereit stellen, tun das meist in den bekannten Formen der konsultativen Volksbefragung, des bindenden Volksentscheids, gelegentlich auch des (einen Gesetzesvorschlag einbringenden) Volksbegehrens 32. Diese sind die hauptsächlichen 31 Vgl. für Deutschland etwa: /. Maus, Basisdemokratische Aktivitäten und rechtsstaatliche Verfassung, in: Th. Kreuder (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan, 1992, S. 99 ff.; S. Jung, Die Logik direkter Demokratie, 2001. - Auf der Grundlage der Entwicklungen vor allem in Lateinamerika: P. Bonavides, Teoria constitucional da democracia participativa por um direito constitucional de luta e resistência, por urna nova hermeneutica, por urna repolitizaçâo da legitimidade, Säo Paulo 2001; R. Amarai, A democracia representativa està morta; viva a democracia participativa!, in: E. R. Grau/W. S. Guerra Filho (eds.), Direito Constitucional. Estudos em homenagem a Paulo Bonavides, Säo Paulo 2001, S. 19 ff. 32 Wesentlich weiter geht die Konstitution Venezuelas von 1999, die nach Simon Bolivar genannte „Bolivarianische Verfassung". Sie wurde von einer Verfassunggebenden Versammlung beraten, die durch Plebiszit zu Stande gekommen war; deren Vorschlag wurde anschließend durch Referendum angenommen. - Diese Verfassung sieht (in Art. 70) „soziale und

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Figuren der Volksgesetzgebung. Auf den zweiten Blick zeigen sich aber noch mehr Möglichkeiten des Aktiv- plus des Zurechnungs- plus des Adressatenvolks - auch außerhalb der typischen Situationen und Verfahren - an Entscheidungen des Staates teilzunehmen. Systematisch lassen sich formelle von informellen Rechten der Partizipation unterscheiden; diese sind auf Grundrechte gestützt und betreffen die „politische Willensbildung des Volkes" (Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG) in der Gesellschaft, jene beruhen auf Grundrechten und auf staatlich normierten Verfahren. Sie sind also regulär; eine Ausnahme bildet - im deutschen Verfassungsrecht - das Widerstandsrecht. Nach Art. 20 Absatz 4 GG haben „alle Deutschen", also das Zurechnungsvolk (und damit auch in aller Regel das Aktivvolk) „das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist". Es besteht „gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen"; somit, wie in den vorstehenden Sätzen desselben Artikels 20 GG genannt, die Republik, den demokratischen Rechtsstaat und den sozialen Bundesstaat. Das Widerstandsrecht kann kein normales Institut von Demokratisierung sein, da es auf den Ausnahmezustand beschränkt ist; aber es ist, in diesem, der Rückgriff auf den demos und seine Verantwortung, die demokratische Ordnung, zusammen mit den anderen genannten Errungenschaften der Verfassung, aufrecht zu erhalten. Mit welchen Mitteln das bewerkstelligt werden soll, lässt der Text der Verfassung offen. Dagegen stützen sich die regulären Formen von Teilhabe an den staatlichen Gewalten, neben den Grundrechten, auch auf geregelte Verfahren. Auf die Justiz kann das Volk indirekt durch Richterwahl einwirken - zum Beispiel für bestimmte - untere - Instanzen; oder nur für Sonderformen wie Friedensrichter, Betriebsgerichte, Schiedsgerichte; oder nur für ausgewählte Rechtsgebiete wie das Arbeitsrecht. Hierher zählt auch das Verfassungsrecht. Die Wahl der Verfassungsrichter durch das Volk sollte jedenfalls, wie in Deutschland, mittelbar durch parlamentarische Gremien erfolgen und nicht, wie etwa in den USA und Brasilien, politisch entscheidend von der Spitze der Exekutive ausgehen. Schließlich können die Verfassungsgerichte demokratisch erzeugte Gesetze außer Kraft setzen und damit - wegen einer oft unerkennbaren oder nur in Nuancen bestehenden Verfassungswidrigkeit - tief in die zentrale Kompetenz des Parlaments eingreifen (vgl. dazu oben Kapitel II. 1.). An der vollziehenden Gewalt kann sich das Volk durch die Wahl von Exekutivbeamten, besonders auf den verschiedenen Ebenen der Selbstverwaltung, beteili-

wirtschaftliche" Formen wie auch „politische" vor. Zu den ersten gehören: Selbstverwaltung, Mitverwaltung, Kooperativen, selbstverwaltete Sparkassen und Unternehmen im Gemeineigentum; zu den zuletzt Genannten: Volkswahl der Kandidaten für öffentliche Ämter, konsultative, bestätigende und revokative Referenden (d. h. Volksbefragung, Volksentscheid und Volksveto), „offene" Parlamente und daneben die „Bürgerversammlung" mit dem Recht zu bindenden Entscheidungen. - Die Einzelheiten sollen hier nicht dargestellt werden; vgl. dazu R. Amarai , ebd. (vorige Anmerkung), S. 52 ff.

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gen; aber auch durch gesetzlich eingeräumte Mitwirkungsrechte (Information, Einspruch, gerichtliche Gegenwehr gegen Pläne der Verwaltung, so im Planungs- oder im Umweltrecht). Denkbar sind auch Initiativrechte des Aktivvolks zur Absetzung von Beamten, von Ministern (Ministerverantwortlichkeit) oder Spitzen der Exekutive (Präsidentenanklage). Partizipation an der Legislative kann die parlamentarische wie auch eine außerparlamentarische betreffen. Zur ersten Gruppe gehört die Volksinitiative (das Volksbegehren), also eine Gesetzes vorläge, über die zu entscheiden das Parlament verpflichtet ist. Oder es kann die Verfassung verlangen, dass bestimmte Gesetzesbeschlüsse des Parlaments - angesichts der „Volkssouveränität" und der „verfassunggebenden Gewalt des Volkes" durchaus sinnvoll bei Verfassungsänderungen nachträglich dem Volk vorgelegt werden müssen (notwendige Bestätigung durch Plebiszit bzw. im Fall der Ablehnung Volks veto). Es können auch Gesetzesvorlagen innerhalb des Parlaments in bestimmten Fällen dem Volk direkt zur Entscheidung vorgelegt werden müssen. In beiden Fällen handelt es sich um Sachplebiszite, die unmittelbare Entscheidung einer Sachfrage durch die Wahl- und Stimmberechtigten; im Unterschied zu Personalplebisziten wie der Volkswahl eines Präsidenten - hier wird nur eine Person ins Amt gebracht, im unverbindlichen Sinn (ohne imperatives Mandat) beauftragt. Die genannten Sachplebiszite sind insofern demokratischer, als die Mehrheit der Wähler unmittelbar über die inhaltliche Frage befinden kann. Weniger demokratisch sind einmal das Volksbegehren, insofern die politische Elite frei ist, es folgenlos abzulehnen; sowie die bloßen Plebiszite, die nicht, wie in den oben genannten Fällen, von der Verfassung für bestimmte Fälle vorgeschrieben werden, sondern dem Ermessen von Parlament oder Regierung überlassen bleiben. Hier bestimmen die parlamentarisch / bürokratischen Funktionseliten nicht nur über das Ob eines Plebiszits, sondern sie beherrschen auch die Art der Fragestellung. Das Volk wird dabei vor eine „von oben" vorformulierte und oft auch enge („ja/ nein") Wahl gestellt 33 . Es geht weit weniger um direkte Demokratie als um eine zusätzliche Legitimation des Parlaments durch das (instrumentalisierte) Volk. Ein vollgültiges Instrument der Volksgesetzgebung ist nur die Verbindung von Volksbegehren und Volksentscheid. Hier formuliert ein normativ festgelegtes Quorum der Wahlberechtigten eine Gesetzesmotion, über die anschließend ein Plebiszit zu veranstalten die Regierung rechtlich verpflichtet ist - ein Fall direkter Demokratie in der Legislative. Hier ist es dann nicht mehr so, dass entweder das Volk initiativ werden kann, die politische Oligarchie aber allein entscheidet; oder dass

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Eine Sonderform stellen die als einmalig geplanten Volksentscheide dar; typisch für Gebietsänderungen, vgl. Art. 29, 118, 118 a GG, oder für die Auswahl der Art der politischen Grundordnung innerhalb der Demokratisierung nach einer Diktatur. Dazu etwa Art. 2 der Übergangsvorschriften der Brasilianischen Verfassung von 1988: Volksentscheid über die Staatsform (Monarchie oder Republik ?) und auch über die Regierungsform (parlamentarisches oder präsidiales System?), ausgeübt durch das Plebiszit vom 21. 4. 1993.

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zwar das Volk entscheidet, die Funktionselite aber über das Ob und über das Wie frei befinden kann 34 . Eine Variante ist dort gegeben, wo nach einem im Parlament gescheiterten Volksbegehren die Regierung verpflichtet ist, dem Volk eine zweite Chance einzuräumen, also ein abschließendes Plebiszit über die vorgelegte Frage durchzuführen. Gegen bindende Volksinitiativen (mit inhaltlichen Vorgaben an das Parlament) wie allgemein gegen Sachplebiszite kämpft traditionell der Konservatismus mit der Behauptung, zu ihnen sei das Volk „nicht fähig"; dabei fällt auf, dass dies nicht auch für Personalplebiszite gelten soll. Das Argument ist zunächst suspekt, weil offenkundig strategisch ins Feld geführt. Bei Volkswahlen einzelner hervorgehobener Amtsträger, so des Staatspräsidenten (wie unter der Verfassung von Weimar), hat der konservative Teil des politischen Spektrums in der Regel strukturelle Vorteile: Die Personalisierung lässt meist irrationale Emotionen vorwiegen, die Rechte hat typischerweise weit mehr finanzielle Mittel als ihre Gegner und sie beherrscht (nicht zuletzt aus demselben Grund) weitgehend die massenwirksamen Medien der Kommunikation. Bei Sachentscheiden geht es dagegen um nachprüfbare Interessen; und hier fürchten die Verächter der Volksbeteiligung, die betroffenen Menschen könnten für ihre eigenen statt für jene der Oligarchien stimmen. Das Argument ist zusätzlich aber auch noch unwahr. Die einzelnen Abgeordneten verstehen, wie ihre Wähler, durchaus nicht die fachliche und/oder politische Komplexität der Gesetze, für oder gegen sie im Parlament stimmen; zudem stimmen sie meist aus parteipolitischen Erwägungen, wenn nicht sogar aus Gründen der Interessen ihrer Lobby ab. Abgeordneten wird das Recht eingeräumt, nicht Experten für alles sein zu können - den einzelnen Staatsbürgern vom konservativen „Lager" aber nicht. In der Realität liegt das nötige Sachwissen für die Gesetzgebung weder beim einzelnen Wahlberechtigten noch beim einzelnen Volksvertreter. Im Parlament kommt es von Fachleuten der Fraktionen sowie aus der Bürokratie, besonders aus den Ministerien; teilweise, auf dem Weg über Politikberatung und externe Gutachten, auch aus Wissenschaft und Gesellschaft. Auf der anderen Seite kommt es bei den Formen der Volksgesetzgebung gleichfalls von Experten, sei es 34

Idealtypische Beispiele für solche Zähmung des „politischen Willens des Volkes" bietet die Brasilianische Verfassung von 1988: Plebiszit und Referendum (auf der Basis von Art. 14) stehen gemäß Art. 49 XV völlig zur Disposition des Nationalkongresses (d. h. des Abgeordnetenhauses plus des Senats), dem die „competência exclusiva" zugeschrieben wird, Referenden und Plebiszite zu organisieren. Und die Volksinitiative ist nach Art. 14 i.V.m. Art. 61 § 2 nicht mehr als eine zusätzliche Form der Gesetzes vorläge; sie erlaubt es dem initiativ werdenden Aktivvolk nicht, bindende inhaltliche Vorgaben zu machen, sondern belässt die inhaltliche Entscheidung im ganzen Umfang beim Nationalkongress. - Deutschland kennt, abgesehen von den als einmalig gedachten Fällen der Gebietsreform (Art. 29, 118, 118 a GG) bekanntlich im Bund weder Sach- noch Personalplebiszit.

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außerhalb, sei es innerhalb der aktiv werdenden Parteien, Gewerkschaften oder sonstigen Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs). Dieselben Menschen, die - sofern sie konservative Parteien wählen - sich als „vernünftig" und „verantwortungsvoll" erweisen, verlieren offenbar diese Eigenschaften, sobald sie die Möglichkeit erhalten, über inhaltlich umschriebene Sachfragen konkret abzustimmen. Diese alte Mär wurde erst wieder im Sommer 2002 aktualisiert. Die rot-grüne Berliner Regierung hatte ein Gesetzesvorhaben bereits durch den Bundestag gebracht, das landesweite (also bundesrechtliche) Formen partizipativer Demokratie vorsah (Volksinitiative plus Volksentscheid) und das verfassungspolitisch ein für Deutschland als Ganzes bemerkenswerter Schritt zu mehr Demokratie gewesen wäre. Das Gesetz scheiterte jedoch an der christlich-liberalen Mehrheit im Bundesrat - mit dem genannten erbärmlichen Argument. Dieses ist bereits nach positivem Verfassungsrecht unhaltbar. In rund zwei Drittel der Bundesländer gibt es Formen der Volksgesetzgebung, und das ist vom Grundgesetz her verfassungsmäßig und legitim. Die „Staatsgewalt", die nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 „vom Volke ausgeht", wird von diesem laut Satz 2 „in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt". Damit sind parlamentarische wie auch Volkslegislative neben einander vorgesehen; Art. 20 schränkt seine Aussage keineswegs auf die Fälle der Neugliederung von Ländern oder des Bundesgebiets (Art. 118, 118 a, 29 GG) ein. In demselben Sommer, in dem das Einführen von Elementen partizipativer Demokratie im Bund scheiterte, hat die Rechtsprechung zum wiederholten Mal deren Gleichberechtigung mit der parlamentarischen festgehalten 35 . Dabei hatte der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen über die oben erörterte wirkungsvoll partizipative Kombination aus Volksbegehren (Volksantrag) und Volksentscheid in der Landesverfassung zu befinden. Er bekräftigt ihre Verfassungsmäßigkeit und hält fest, dass dieses Verfahren „dem Volk in seiner mehrstufigen Anlage vielmehr die Möglichkeit (eröffnet), auf den parlamentarischen Gesetzgeber mit Sachanliegen Einfluss zu nehmen und - für den Fall als unzureichend angesehener Reaktion - eine eigene Entscheidung in einer Sachfrage herbeizuführen" 36. „Etwaige Reibungsverluste" im Verhältnis zum parlamentarischen 35

Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen mit Urteil - Vf. 91-VI-012 - vom 20.6. 2002, abgedruckt in: Recht und Schule 2002, Heft 3, S. 9 ff. mit zahlreichen Nachweisen aus Judikatur und Literatur. - Aus der Diskussion vgl. etwa Weixner, Direkte Demokratie in den Bundesländern, 2002; Schmidt, Demokratietheorien, 2. Aufl. 1997; ferner bereits Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung, 1991; Jürgens, Direkte Demokratie in den Bundesländern, 1993; Przygode, Die deutsche Rechsprechung zur unmittelbaren Demokratie: Ein Beitrag zur Praxis der Sachentscheide in Deutschland, 1995. - Die Volksgesetzgebung ist durch die Landesverfassungen in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg, Bremen, Berlin sowie in allen „neuen Bundesländern" eingeführt. 3 Recht und Schule 2002, Heft 3, S. 10; ebd. das im Text folgende Zitat. Vgl. auch ebd., S. 14: Gerade „wegen der möglichen Defizite" der repräsentativen Demokratie würden „Elemente plebiszitärer Demokratie ... als ergänzendes Korrektiv des politisch-parlamenta-

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Gesetzgeber seien hinzunehmen, weil von der (Landes-)Verfassung gewollt. Sie könnten vor allem auch „nicht Anlass sein, das Volksgesetzgebungsverfahren interpretatorisch zurückzuschneiden im Interesse der ungestörten Funktion des parlamentarischen Regierungssystems". Dieses solle ja gerade modifiziert und beeinflusst werden; insofern könne „das parlamentarische Regierungssystem für den Bereich der Gesetzgebung nicht den unveränderten Gravitationspunkt der Verfassungsinterpretation bilden, auf den hin das Institut des Volksgesetzgebungsverfahrens gleichsam abzustimmen ist". Wenn nun dem Volk in den meisten Bundesländern diese verfassungsrechtliche (und damit, im Hintergrund, diese politische) Kompetenz zugeschrieben ist, dann kann sich für das Volk „im Bund" nichts Anderes ergeben; im Sinn einer Unterscheidung oder gar Entgegensetzung (wie in der konservativen Rhetorik) existiert dieses gar nicht. Das Grundgesetz spricht in Art. 20 Abs. 2 Sätze 1 und 2 und in Art. 28 Satz 2 vom „Volk", in Art. 1 Abs. 2 vom „Deutschen Volk", ebenso wie die Präambel Satz 1 und („das gesamte Deutsche Volk") Satz 3. Und dieses bilden nach der expliziten Formel von Satz 2 der Präambel „die Deutschen in den Ländern" - so wie es ja auch kein von den Territorien der Länder abgehobenes Bundesterritorium gibt. Deutschland ist kein Staatenbund, sondern ein Bundesstaat: geteilt und gestaffelt ist (von den drei klassischen Faktoren der Staatslehre) die Staatsgewalt, nicht aber sind es Staatsvolk und Staatsgebiet. Nun hat in dem genannten Konflikt die Christlich-Demokratische Union, die wenige Monate vorher den Gesetzentwurf für Volksgesetzgebung (Volksinitiative gekoppelt mit Volksentscheid) zu Fall gebracht hatte, Anfang 2003 verkündet, sie sei durchaus dafür, die (bloße) Initiative auf Bundesebene einzuführen. Das ist kein Widerspruch, es hat Methode. Gefährlich für das Monopol der Oligarchen ist nur die Kombination beider Formen, nur sie bedeutet eine wirksame Demokratisierung. Die Volksinitiative allein kann, wie gesagt, vom Parlament zwar auch angenommen werden, dann wird sie den Interessen der dortigen Mehrheit im Zweifel nicht widersprechen. Widerspricht sie ihnen aber, wird sie abgelehnt - sang-, klang- und folgenlos. Die staatsrechtliche und politische Rechte in Deutschland hat Tradition darin, die Teile der Verfassung, die ihr ideologisch wie auch für ihre Interessen nicht passen, hochgradig wählerisch für nicht-normativ zu erklären bzw. ganz zu ignorieren - hier für die Aussagen des Grundgesetzes über das Volk und über seine Kompetenz, die Staatsgewalt neben Wahlen auch durch „Abstimmungen" auszuüben. Die sonst hoch gehaltene deutsche Rechtsstaatlichkeit („Die Verfassung steht zuhöchst!", „Gesetz ist Gesetz!") erlebt dann „lateinamerikanische" Einbrüche („norischen Systems für sinnvoll erachtet. Die Auffassung, Volksgesetzgebung sei eine »Prämie für Demagogen', lässt sich heute mit dem Stand der Forschung über Voraussetzungen und Wirkungen direkter Demokratie nicht belegen ... Normativ ist ein Generalverdacht partikularer Interessenverfolgung gegenüber der Volksgesetzgebung durchaus nicht mit der prinzipiellen Gleichwertigkeit beider Verfahren vereinbar...".

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minalistisches" Verständnis der Konstitution, „Verfassungssymbolismus", „bloßes Programm") 37. So geschah es schon mit den Grundrechten der Weimarer Reichsverfassung von 1919, soweit sie störten („unverbindliche Programmsätze"); so versuchte es nach 1949 Ernst Forsthoff mit dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes („nicht auf Verfassungsebene" normiert, nur auf jener der Verwaltung relevant) 38. Kurz vor seinem Tod noch hat er diesen Vorstoß zu seiner wichtigsten Lebensleistung erklärt, womit er seinem übrigen wissenschaftlichen Werk Unrecht tat, aber die Fokussierung des konservativen Flügels im deutschen Staatsrecht auf strategische Punkte ungewollt hervorhob. Schließlich hatte schon Carl Schmitt die Chuzpe gehabt, die Weimarer Reichsverfassung im Ganzen zum „bloßen Verfassungsgesetz" herabzustufen, das der „Verfassung" („das Ganze der politischen Einheit hinsichtlich ihrer besonderen Existenzform", „Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit") in dem von ihm, später dann auch von anderen zu definierenden Sinn zu weichen hatte 39 . Was in diesem Abschnitt bisher erörtert wurde, waren die Volksbeteiligung an der parlamentarischen Legislative (Volksbegehren, Volksentscheid) und die konsequente Völksgesetzgebung (Volksbegehren plus Volksentscheid). In den heutigen Überlegung zum Thema Demokratisierung gibt es noch eine weitere Perspektive, nämlich die, reine Volkslegislative bzw. Beteiligung des Volkes im genannten Sinn mit dezentraler Gesetzgebung zu verbinden 40. Auf deren Feld könnte die Beteiligung des Aktivvolks in der ersten oder der zweiten der soeben genannten Formen durch die Verfassung in bestimmten Fällen zur Pflicht und durch Verfahrensvorschriften praktikabel gemacht werden, wie es sich nach dem oben Gesagten auch für Verfassungsänderungen begründen lässt. Passende Materien hierfür sind einzelne Bereiche des Sozialstaats, so zum Beispiel Tarifrecht, Organisation und Besetzung der Arbeitsgerichte, Mietrecht; aber auch Umweltschutz, Verbraucherschutz, Normierung der Bedingungen des Geschäftsverkehrs der Banken mit ihren Kunden. Besonders geeignet und politisch wirksam ist der von Porto Alegre aus entwickelte Gedanke des Beteiligungshaushalts. Er bildet aus mehreren Gründen einen der Brennpunkte des Denkens von Demokratisierung. Für Rousseau war die im vollen Sinn legitime Demokratie nur die direkte gewesen (vgl. oben Kapitel I.). Er 37 Dazu F. Müller, Konstitutionalität - Legalität - Legitimität in der rechtsstaatlichen Demokratie, in: ders., Demokratie in der Defensive, 2001, S. 54 ff., 62 ff. 66 ff., 69 ff. Grundsätzlich Μ. Ν eves, Symbolische Konstitutionalisierung, 1998 m. zahlr. Nw.en. 38 Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 12 (1954), S. 37 ff. 39 Carl Schmitt, Verfassungslehre, 3. Auflage 1957, S. 3 ff., 11 ff., besonders 20 ff. u.ö. 40 Dazu etwa I. Maus, Basisdemokratische Aktivitäten und rechtsstaatliche Verfassung, in: Th. Kreuder (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan, 1992, S. 99 ff.

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sah schon zu seiner Zeit, dass sie im großen Staat wie auch in kapitalistisch verzerrten Gesellschaften nicht praktikabel ist. Er sah auch die zentrale Rolle des öffentlichen Raums und der öffentlichen Freiheit für eine lebendige Demokratie. Im Raum des Öffentlichen oszillieren die informellen Vorgänge von Beteiligung, auf welche sich die formellen stützen können: um es dem Volk zu ermöglichen, sich in konkreten Lagen und angesichts konkreter Fragestellungen politisch kenntlich zu machen. Rousseaus Ziel war die Republik und nur sie, aber nicht als formales Gehäuse, sondern als vom Streben nach dem Gemeinwohl geprägte res publica. Dieser öffentliche Raum nun ist im Flächenstaat als konsistenter nicht mehr gegeben. Soll gegen das überaus reduktionistische Modell des bürgerlichen (Neo-)Liberalismus dennoch so viel Demokratie wie möglich verwirklicht werden, sollen die förmlichen und nicht-förmlichen Dispositive demokratischer Teilhabe nicht aufgegeben sein, richtet sich der Blick auf kleinteilige öffentliche Räume. Für den Autor von Du Contrat Social waren das Kleinstaaten, an denen in seiner Epoche kein Mangel herrschte. Heute ist es für Einzelstaaten einer Föderation, für Verwaltungsregionen, Gemeindeverbände und Gemeinden ein praktisch handhabbares Politikziel, Demokratisierung zu erproben. Dabei zeigt sich, dass die von den Bürgern mitbestimmte Aufstellung des munizipalen Haushalts erfolgreich auf in praxi miteinander verbundene Bereiche wie Stadt- und Verkehrsplanung und überhaupt auf alle Fragen der Infrastruktur und der Verwaltung für den Alltag wichtiger öffentlicher Funktionen ausdehnbar ist. Anders als die wünschenswerten Versuche einer Demokratisierung innerhalb der Betriebe oder innerhalb einzelner Zweige der Exekutive (Schule, Universität) bedeutet das orçamento participativo eine demokratisierende Verschiebung innerhalb der im engeren Sinn politischen Entscheidungsvorgänge. Es betrifft die vollziehende Gewalt, die Legislative, die Zivilgesellschaft und die im Rahmen der Partizipation aktiven Gruppen und Initiativen von Bürgern 41 . Es wird gesagt42, Porto Alegre erschaffe damit eine „Vierte Gewalt", nämlich die der sich unmittelbar beteiligenden Bürger; aber nicht, um die überkommenen drei Gewalten zu konterkarieren oder sie auf längere Sicht zu verdrängen, sondern um sie durch Mitverwalten, Arbeitsteilung, offene Debatte von Aspekten des Gemeinwohls und im Ganzen durch einen deutlich verstärkten Kontakt zwischen Verwaltern und Betroffenen anzureichern. Auf diese Weise hat sich seit der Einfüh41 Dazu M. Gret/Y. Sintomer, Porto Alegre. L'espoir d'une autre démocratie, Paris 2002, S. 29 ff. u.ö. - Vgl. ferner etwa G. Ο' Donnei/Ph. Schmitter/L. Whitehead (eds.), Transition from Authoritarian Rule. Prospects for Democracy, Baltimore 1986; T. Genro/U. De Souza, Quand les habitants gèrent vraiment leur ville. Le budget participatif: l'expérience de Porto Alegre au Brésil, Paris 1998; L. Fedozzi, Orçamento participativo. Relexöes sobre a experiência de Porto Alegre, 2. Aufl. Porto Alegre 1999; R. Abers , Inventing Local Democracy. Grassroots Politics in Brasil, Boulder/London 2000. - Allg. aus der deutschsprachigen Literatur S. Jung, Die Logik direkter Demokratie, 2001. 42 T. Genro/U. De Souza, ebd., S. 24, 105 ff., u.ö. Ferner M. Gret/Y. Sintomer, ebd., S. 129 ff.; ebd., S. 132 ff. zu Schwierigkeiten wie: ungleichmäßige Beteiligung der Betroffenen oder zu starke Institutionalisierung der partizipativen Gremien; und zu Lösungsansätzen wie: Teilversammlungen, thematische Foren, u. a.

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rung dieses Modells im Jahr 1989, nach den vorliegenden Quellen, die Lebensqualität für die große Mehrheit der Bevölkerung Porto Alegres fühlbar verbessert. Die öffentlichen Transport- und Entsorgungsunternehmen gelten international als vorbildlich, 84% der Bevölkerung verfügen über einen Ab Wasseranschluss, 99% über sauberes Trinkwasser. Bekämpfung der Armut, Bau von Sozialwohnungen und eine ausgeglichene Stadtentwicklung sind erste Prioritäten. Nach den Kriterien der UNO ist Porto Alegre während der bisherigen Dauer seines Beteiligungsmodells zu einer der lebenswertesten Städte der südlichen Hemisphäre geworden. Auf der UNO-Konferenz „Habitat II" 1996 in Istanbul wurde es zur „Hauptstadt der Demokratie" proklamiert und die Weltbank lobte es als Modell für nachhaltige Stadtentwicklungspolitik. Besonders bemerkenswert ist, wie die vorher chronische Finanzkrise gemeistert und der Haushalt ausgeglichen wurde - ohne die sonst üblichen negativen Begleiterscheinungen (wie: unsoziale kommunale Steuerpolitik, massiver Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst, Reduzieren der öffentlichen Dienstleistungen, Steigerung von Arbeitslosigkeit und sozialer Ausgrenzung). All das nicht, weil die Bürokraten Porto Alegres wesentlich erleuchteter als andere wären, sondern nachweislich wegen der praktischen Vernunft, des Sachverstands und des Engagements der sich beteiligenden Bürger. Inzwischen arbeiten mehr als zweihundert brasilianische Kommunen mit dem Beteiligungshaushalt, darunter Metropolen wie Belém, Säo Paulo und Belo Horizonte; seit 1999 gilt das sogar für einen Einzelstaat der Brasilianischen Föderation, für Rio Grande do Sul 43 . Alle bisher besprochenen Formen, vom außerordentlichen Widerstandsrecht bis zur alltäglichen Beteiligung der Bürger, sind formalisierte, normierte Ausprägungen partizipativer Demokratie. Wenn, nach dem Federalist , die Notwendigkeit einer Regierung nichts anderes ist als „the greatest of all reflections on human nature" 44 , ist es dringend notwendig, Demokratie zu vertiefen und sie so formenreich wie durchdacht zu erweitern. Denn „demgegenüber bedeutet jeder Appell an die Tugend der Amtsverwalter oder das Vertrauen auf Self restraints eine Bankrotterklärung des Verfassungsstaates wie der Volkssouveränität". Es ist „aufgeklärter 43 Durch den Ausgang der Wahlen (im Herbst 2002) in Rio Grande do Sul und Porto Alegre ist der Fortbestand des Modells inzwischen in Frage gestellt. Dasselbe gilt für Frankreich (Wahlen vom Frühsommer 2002). Hier gibt es hie und da seit Jahren in einzelnen Gemeinden (z. B. La Roche-sur-Yon, Nancy, St. Denis) Formen von partizipativer Demokratie wie Stadtteilräte und Beteiligungshaushalte, vor allem in Umwelt- und Verkehrsfragen. Auf Landesebene erging am 27. 2. 2002 ein Gesetz über die „démocratie des quartiers" („démocratie de proximité"); verpflichtend für alle Gemeinden über 80 000 Einwohnern, aber nicht mit Entscheidungs-, sondern nur mit konsultativen Zuständigkeiten ausgestattet - also gerade nicht wie in Porto Alegre, obwohl dessen Vorbild ständig im Mund geführt wird. - Bis zum März 2003 hatte die neue Rechts-Regierung keine einzige der im Gesetz eingeführten 69 Maßnahmen durch die dort vorgesehenen Dekrete umsetzbar gemacht. 44 Eine Anspielung auf Rousseau, da die Träger der human nature eben keine sich selbst regierenden Götter sind. - Die im Text folgenden Zitate bei /. Maus, in: Th. Kreuder (Hrsg.), Der orientierungslose Leviathan, 1992, S. 99 ff., 116, 106.

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Absolutismus", wie in den USA von der Rechtsprechung des Supreme Court zu erwarten, sie werde sich (vor allem in „political questions") gegenüber dem demokratisch verantwortlichen Gesetzgeber freiwillig zurückhalten. Hier bedarf es differenzierterer Strategien (dazu oben Kapitel II. 1.). Und auf dem Feld demokratischer Willensbildung und Entscheidung ist dafür zu sorgen, dass sich die Betroffenen vielfältig beteiligen können - fand doch der nicht aufgeklärte Absolutist Thomas Hobbes das Gemeinwohl im Gewissen des Herrschers ausreichend gut aufgehoben. Diese Beteiligung ist nun aber in einem Ausmaß auch informell dessen Wichtigkeit kaum überschätzt werden kann - jedenfalls wenn es sich um eine lebendige Demokratie handelt. Sie ist, da „frei", nicht an normierte Verfahren gebunden, stützt sich aber auf die für Alle geltenden Menschen- und die für Staatsangehörige geltenden Bürgerrechte: Freiheit der Meinung und Information, der Versammlung und Demonstration, der Wissenschaft, Universität und Kunst, der Gründung politischer Parteien und Gewerkschaften einschließlich ihrer Betätigung; kurz auf diese und andere materielle Garantien von Grundrechten und auf die prozessualen rechtsstaatlicher Verfahren (Rechtsschutz, rechtliches Gehör und andere), welche unter dem Anspruch des modernen Verfassungsstaats die rechtliche Basis einer politischen Zivilgesellschaft bilden. Entscheidend geworden ist dabei nicht zuletzt die Medienfreiheit - nicht nur im Sinn des Aktionsraums für die einzelnen Presseoder Rundfunkorgane, sondern vor allem der Freiheitlichkeit des Ganzen. Das deutsche duale System hat sich als nachahmenswertes Vorbild für alle Länder herausgestellt, in denen ganz oder so gut wie ganz das ökonomisch fundierte Diktat privater Medien- oder Mischkonzerne den immateriellen öffentlichen Raum von Kommunikation und Information parteiisch verfälscht, ihn undemokratisch verengt und versteinert. Mindestens eine große pluralistisch organisierte Rundfunkstation (wie auch mindestens ein unabhängiges oder pluralistisch gebildetes Institut der Meinungsforschung) pro Land erweisen sich als unerlässlich dafür, dass die Zivilgesellschaft ihre Konflikte frei austragen kann 45 . Eine weitere notwendige Voraussetzung dafür ist, dass die Ausübung der Rechte als Basis demokratischer Teilnahme soziale Mindestvoraussetzungen hat (dazu oben vor allem Kapitel III. 2.). Wer in Misere und Exklusion lebt, hat weder Kraft noch Zeit noch große Chancen, individuell in der Zivilgesellschaft mitzuarbeiten. In Ländern, die von besonders ausgedehnter Exklusion geschlagen sind, bilden sich daher kollektive Möglichkeiten heraus, das zu tun; so, am Beispiel Brasiliens, Bewegungen von Landlosen, Basiskirchen, politisch agierende Gewerkschaften, (auch elektronische) Informationsstrukturen in den Favelas - all dies in Zusammenarbeit mit politisch nahe stehenden Parteien. Demokratien in Transitionsgesellschaften mit massenhafter Exklusion, ohne gesicherten Rechtsstaat, ohne stabiles 45 Das Internet ist aus den bekannten Gründen jedenfalls bisher kein stabiler und ausreichender Ersatz hierfür - rasante Kommerzialisierung auf der einen, geplante energische Einflussnahme durch Regierungen (wie z. B. Volksrepublik China, USA) auf der anderen Seite lassen zur Zeit keine für die Demokratie beruhigenden Voraussagen zu.

8 F. Müller

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Parteiensystem sind darüber hinaus besonders auf das Bewusstsein und die Aktion der gut ausgebildeten Mitglieder des Mittelstands angewiesen, etwa der Lehrer, Professoren und Studenten, der Journalisten und nicht zuletzt der Juristen und Sozialwissenschaftler. Die informellen Möglichkeiten partizipativer Demokratie hängen mit den formellen zusammen; auf Grundrechte und Verfahrensgarantien der Verfassung gestützt, bereiten sie jene vor. Und die förmlichen, beispielsweise eine Volksinitiative, sind ihrerseits auf die politische Vorbereitung durch Aktionen im Rahmen der Zivilgesellschaft, der „politischen Willensbildung des Volkes" gestützt. Wie praktisch wichtig die ethische Seite des Redens von Demokratie ist, zeigen in Deutschland umlaufende wissenschaftliche Konzepte, denen sie abgeht. Als Beispiele seien ein juristisches und eines aus der Soziologie herausgegriffen. So wird unter dem Anspruch einer „Demokratisierung der Verfassungsauslegung" von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" gesprochen; alle Bürger und Gruppen dürften sich als solche betätigen, die letzte Instanz bleibe aber in jedem Fall ohnehin das Bundesverfassungsgericht 46. Das läuft, gegen den erhobenen Anspruch, darauf hinaus, die Gesellschaft zu ent-demokratisieren. Der demokratische Prozess, der vorliegend in vielen seiner Facetten untersucht wird, schrumpft dort auf „Verfassungsauslegung" zusammen, und diese ist gegenüber der allein entscheidenden Instanz Bundesverfassungsgericht im Fall des Widerspruchs wirkungslos. So wird der Staat vom Volk nicht kontrolliert werden können. Die „Interpretation" bietet kein Verfahren für Initiativen der Bevölkerung, auch fehlt es dieser an amtlichen Kompetenzen. Vom Normieren neuer basisdemokratischer Aktivitäten ist nicht die Rede, das Volk erscheint nicht als souveränes, sondern als Diener des bestehenden hierarchischen Rechtssystems. Dessen Struktur folgt aus der Normenhierarchie des Rechtsstaats und ist geltendes Recht; das ent-demokratisierende Element liegt jedoch darin, dass das Volk aller demokratierechtlichen Kompensationen beraubt bleiben soll, aller Verfahren einer Partizipation, die über seine beträchtliche Entmündigung im ausschließlich repräsentativen Modell hinausgehen würden. Die Luhmannsche Fassung der Systemtheorie lässt in diesem Zusammenhang das Volk als Akteur gleich ganz verschwinden 47. Weder das Volk noch auch seine Vertreter bringen hiernach eine neue Verfassung hervor, sondern allein der abstrakte (System-)Code Recht/Unrecht „etabliert den (Verfassungs-)Text". Die Konstitution wird von „der Verfassungsgeschichte" „evolutionär" geschaffen, und nicht etwa durch Diskussion, Konflikt und Kompromiss, Willens- und Mehrheitsbildung des Volkes bzw. einzelner seiner aktiven Gruppen (constituent groups). Das erin46 R Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 155 ff. - Hiergegen und gegen die im Text folgende Position N. Luhmanns: /. Maus, Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus, 1986, S. 102 ff., 193 f. 47 Vgl. N. Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176 ff.; die im Text folgenden Zitate ebd., S. 189.

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nert in seinem entpolitisierenden Drall an gewisse Weltgeister des Deutsche Idealismus sowie an „die Weltgeschichte" und entlastet alle, die in der empirischen Geschichte stehen und sich dort (sei es durch Tun, sei es durch Unterlassen) unausweichlich verhalten - sofern sie nur an die konstruktivistische Systemlehre glauben - in der Tat davon, für Demokratie und Demokratisierung um sie herum mitverantwortlich zu sein.

4. Staatlose und globale Elemente von Demokratisierung (1) Von einer Weltgesellschaft wird inzwischen ohne größere Umstände gesprochen. Seit Marshall McLuhan unter Aspekten der Kommunikationstechnik die Wendung global village einführte, ist viel geschehen. Das Kommunikationsnetz hat sich rasant entwickelt; die Globalisierung hat sich verbreitert, beschleunigt, radikalisiert (vgl. oben Kapitel III 2 und 3) - auf der Grundlage von Wissen, Technik und - tendenziell - Recht, die frühere territoriale Bindungen abstreifen. Hier nun geht es darum, ob und welche Elemente von Demokratie für die sich herausbildende Weltgesellschaft entwickelt werden können. Diese schließt, jedenfalls gemäß der soziologischen Systemtheorie, heute alle in der Welt hervorgebrachten Vorgänge von Kommunikation ein und weist in diesem Sinn „uniforme" Gesellschaftsbedingungen auf. Das lässt sich nur dann sagen, wenn Kommunikation als das „Letztelement", als das Ein und Alles sozialer Systeme aufgefasst wird. Denn die kulturellen Formen sind nach wie vor vielgestaltig, die sozialen Unterschiede riesig. Was allerdings „uniform" genannt werden kann, was in der Realität auf Uniformität zugeht, ist die Struktur des Sozialen - diese in Europa, auf der Basis des okzidentalen Rationalismus (i.S. Max Webers) erfundene Figuration hat sich Verkehrs· und medientechnisch global ausgebreitet: Die Weltgesellschaft ist funktional differenziert; ihre unterschiedlichen Funktionen werden weltweit simultan erfüllt 1 . Als solche Funktionen werden Bereiche wie Wirtschaft, Erziehung, Wissenschaft, Recht und Politik angegeben - was bereits beim systemtheoretischen Stilisieren nationaler Gesellschaften das Politische erheblich zu kurz kommen lässt. Angesichts einer Weltgesellschaft leuchtet es noch weniger ein. Die globalen sozialen Kämpfe sind in ihrer Vielschichtigkeit kaum überblickbar, sind durch eine universale Logik des Wissens nicht repräsentierbar. Beides macht Demokratie möglich, bietet ihr jedenfalls ein Aktionsfeld an: immer gefährdete, immer weiter anzustrebende Demokratie als diskursive Konstitution der (Welt-)Gesellschaft. Auch für diese hat das Politische eine grundlegende Bedeutung; nicht nur die, eine ι N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 609 ff. - s. a. H. Brunkhorst, Solidarität, 2002. *

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ihrer thematischen Unterabteilungen darzustellen. Weder ist „Politik" ein einzelnes Funktionssystem, noch lässt sie sich von den anderen fern halten. Demokratisierende Politik wird daher hier eine deutlich größere Rolle spielen als im systemtheoretischen Klassizismus oder im diskurstheoretischen Prinzip Hoffnung. Demokratie ist sehr schwer einzurichten und nicht leicht aufrecht zu erhalten; warum überhaupt diese Anstrengung? Im vorliegenden Text wurde mit Rousseau und Kant und dem von ihren Impulsen ausgehenden Konzept schon geantwortet: wer denkt, alle, die Menschenantlitz tragen, seien mit gleichen Rechten und gleicher Würde in diese Welt geboren, optiert für demokratische Regierungs- und Verfassungsformen. Diese eignen sich am besten dafür, Freiheit und Gleichheit aller nicht nur zu proklamieren, sondern zu praktizieren. Nun ist das ein philosophisches Argument, das viele nicht teilen. Es fragt sich, wie plausibel die (elitären, rassistischen oder noch auf andere Art gleichheitswidrigen) Argumente der Verächter von Demokratie sind. Aber alle, die es teilen, setzen sich erfahrungsgemäß für Demokratisierung ein. Eine andere Überlegung entstammt der Wirtschafts- und Rechtspolitik. Nach dem sozialistischen und dem antisozialistischen „Totalitarismus" des 20. Jahrhunderts besteht aller Grund, das ihm folgende vor einer neuen Tendenz zum Totalitären zu bewahren: jener einer ungebremsten Herrschaft der Märkte, vor allem des globalisierten Finanzmarkts, einer allzuständigen lex mercatoria und der zugehörigen winzigen Minderheit nicht gewählter, aber entscheidender Oligarchen und ihrer transnationalen Agenturen (vgl. oben ζ. B. Kapitel III. 2.). Wenn schon liberaler Markt im Wirtschaftlichen, dann auch in der politischen Organisation; der „Markt" des Politischen heißt Demokratie. Sie ist unvollkommen und teilt - entgegen der neoliberalen Ideologie - dieses Schicksal mit dem ökonomischen Markt, der nie ein vollkommener ist 2 . Er kann ohne demokratische Institutionen und die ihnen entsprechenden subjektiven Rechte und juridischen Verfahren zwar gewaltsam exekutiert werden (wie die Wirtschaftspolitik der „Chicago boys" unter Diktator Pinochet), nicht aber als das Gemeinwohl und das Beste aller Mitglieder der Gesellschaft fördernd legitimiert. Ein weiteres Argument ergibt sich aus der politikwissenschaftlichen Bewertung der Neueren Geschichte. Innerhalb ihrer entwickelte sich (in Europa und von hier ausgehend) eine Demokratie, die auf Menschen- und Bürgerrechte gestützt und rechtsstaatlich strukturiert ist. Sie erwies und erweist sich angesichts ideologischer Differenzen (seit Reformation und Religionskriegen) und der das Gemeinwesen andernfalls zerreißenden Sozialevolution als das leistungsfähigste, integrativste aller politischen Systeme; allein dazu fähig, im Prinzip eine inklusive Gesellschaft herzustellen3. Die moderne Gesellschaft ist nicht mehr primär stratifiziert, sondern 2 Vgl. Stiglitz y Globalization and Its Discontents, 2002. - Die liberalen Klassiker waren sich des Problems offenbar bewusst: Adam Smith argumentierte nur für idealtypisch gedachte vollkommene Märkte; David Ricardo sah, dass Freihandel allein unter etwa gleich Starken für alle vorteilhaft sein kann.

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primär funktional differenziert; ihr entspricht Demokratie erfahrungsgemäß noch am ehesten. Nun kennzeichnet sich die Weltgesellschaft gleichfalls weitgehend durch funktionale Differenzierung, ist aber nicht inklusiv, sondern hochgradig exkludierend organisiert: krass gespalten in „reiche" bzw. „Schwellen- und arme Länder", in G 7 / 8-Staaten und Dritt- und Viertweltstaaten, in Zentrum und Peripherie. Allerdings ist die Weltgesellschaft eben auch nicht demokratisch verfasst, und beides hat allem Anschein nach mit einander zu tun. Das führt zu einer weiteren Gruppe an Argumenten für Demokratie, den normativen. In vielen Nationalstaaten ist -so wie ζ. B. durch das deutsche Grundgesetz Demokratie verbindlich vorgeschrieben. Dasselbe gilt seit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam für die Europäische Union. Dagegen fehlt es global an solchen Vorschriften; Demokratie ist nicht im internationalen jus cogens, in völkerrechtlichen erga-omnes-Regeln festgeschrieben. Direkt normative Forderungen sind also nicht möglich, nur normativ gestützte Argumente. Als Internationales Recht ist ein ausgedehntes Corpus von Menschenrechten in Geltung: in einem harten Kern als jus cogens; im übrigen auf der Basis von Konventionen (ζ. B. die WSK-Rechte) verbindlich für alle Unterzeichnerstaaten; außerhalb spezieller Konventionen (vor allem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) verbindlich für die übergroße Mehrheit der Staaten, die ihnen nicht widersprechen (vgl. oben vor allem Kapitel III. 1.). Menschenrechte sind mit undemokratischen politischen Systemen nicht zu vereinen; es ist empirisch nicht abstreitbar, dass autoritäre und noch mehr diktatorische Regime sie regelmäßig unterdrücken. Auf der anderen Seite laufen Grundrechte dort, wo sie legal ausgeübt werden dürfen, folgerichtig (und empirisch gleichfalls vielfältig belegt) auf Demokratie als institutionellen und prozeduralen Rahmen hinaus. Für diesen sind ausübbare und ausgeübte Menschenrechte eine notwendige Bedingung. Menschenrechte allein ersetzen Demokratie nicht; aber Demokratie, wo sie diesen Namen verdient, ist menschenrechtsgestützt (siehe oben etwa Kapitel III. 3.). Die Stütze in den international gültigen Rechten erweist sich auch für alle Vorhaben einer staatlosen globalen Demokratisierung als wesentlich. Das herkömmliche Denken von Demokratie hat der Globalisierung zu wenig entgegen zu setzen. Es berücksichtigt nur das Aktivvolk, und dessen gewählte Abgeordneten haben von den in der Weltgesellschaft anstehenden Fragen immer weniger zu entscheiden. „Demos" allein als die Gruppe der Wahl- und Abstimmungsberechtigten bietet (in der Sprache der Wirtschafts- und Politikwissenschaft) zwar eine herrschaftsbegründende „input"-Legitimation, greift aber für das Ganze des politischen Systems viel zu kurz; davon war hier in früheren Kapiteln schon die Rede. Das herkömmliche Schema bleibt bereits für die Fragen einer (legal / illegal arbeitenden) vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung die demokratiebezogene Antwort schuldig, schiebt sie allein auf den Rechtsstaat. Deswegen war zweitens die Be3

Vgl. die Darstellung und Nachweise bei Brunkhorst, Solidarität, 2002.

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deutungsschicht Zurechnungsvolk einzuführen, d. h. die Gruppe aller Staatsangehörigen, „in" deren „Namen" von Exekutive und Justiz entschieden wird. Das Adressatenvolk schließlich umfasst „alle, die es angeht", alle vom normativen Code und seinen Umsetzungsakten Betroffenen - die tatsächliche Bevölkerung. Deren (bei Schumpeter noch elitär gemeinte) „output"-Legitimation4 gehört gleichfalls unabdingbar zu den legitimierenden Faktoren einer avancierten Demokratielehre. Damit ist der bloße Herrschaftsdiskurs der Tradition überschritten, die in Wahrheit vor-demokratische Imago von „Oben und Unten" endlich aufgegeben, deren Figuren bei konstanter Struktur einfach ausgetauscht werden sollen („von nun an herrscht das Volk"). Entscheidend ist, wie jene, die herrschen (es sind immer Oligarchien), mit dem Volk tatsächlich umspringen; wie weit sie es in den durchaus verschiedenen Funktionen des Adressaten-, Zurechnungs- und Aktivvolks als maßgeblich oder unmaßgeblich behandeln. Der Handlungsraum jener Probleme, die zunehmend nur noch transnational geregelt werden können, ist (noch) nicht demokratisch normiert, lässt insoweit die beiden ersten Funktionsschichten von „Volk" bis auf Weiteres ins Leere laufen. Für wachsende Anteile der globalisierten Politikfragen wird das Aktivvolk nicht mehr gebraucht; diese Fragen werden von den global players der Großwirtschaft und ihren zentralen Agenturen (wie vor allem IWF, Weltbank, WHO,, OECD) erledigt. Immer weniger spielt sich auf dem Weg über Staatssouveränität ab, verstanden als die des Nationalstaats. Immer mehr an der doch unverzichtbaren Legitimation wird passivisch der Volkssouveränität des Adressatenvolks und, viertens, aktivisch der des partizipierendes Volks der politischen (Welt-)Öffentlichkeit abgefordert. Mittelbar bleiben Aktiv- und Zurechnungsvolk im Spiel: als Quellen von Legitimation derjenigen Nationalstaaten, die etwa auf dem Weg über EU oder UNO transnationale Fragen durch ihre Politik zu beeinflussen versuchen; aber unmittelbar sind sie aus dem Spiel, so lange es keine organisationsrechtlichen Rahmenwerke eines transnationalen Konstitutionalismus gibt, die Wahl- und Stimmrecht enthalten. Und da weder eine demokratisch begründete Welt-Legislative noch eine demokratisch kontrollierbare Welt-Exekutive und -Justiz in Sicht sind, fehlt auch ein transnationales Zurechnungsvolk samt der Legitimität, die es verschaffen könnte. Dagegen ist das Adressatenvolk weltweit vorhanden und täglich betroffen, sind die durch seine Behandlung aufgeworfenen Fragen der Rechtfertigung nicht einfach ruhig zu stellen. Eben das schafft und motiviert die anwachsende globale Zivilgesellschaft; den Teil der betroffenen Menschheit, der in der Lage ist, sich zur Aktion zu entschließen, das im Werden begriffene partizipierende (Welt-)Volk einer

4 Das nicht demokratische, sondern technokratische Modell der output- Legitimierung prägt das bisherige Recht der EU; dazu: F. Scharpf, Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch?, 1999; H. Brunkhorst, Globale Demokratie ohne Staat?, 2003, S. 4. - Die Entwicklung des erneuerten Demokratiekonzepts bei F. Müller, Wer ist das Volk?, 1997.

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Kultur der Kritik, des Widerstands, des Denkens in Alternativen - auf der Grundlage der Erfahrungen in der eigenen Lebensumwelt und mit zugleich territorial unbegrenzter Kommunikation und Vernetzung. Dieses partizipierende Volk wartet in einem doppelten Sinn nicht auf einen Weltstaat - es erhofft ihn nicht, ganz zu Recht; und es bleibt bis zum etwaigen Kommen eines solchen nicht untätig. Daran lässt sich beobachten, dass Demokratie auch staatfrei praktiziert werden kann; und ferner, dass Elemente von Staatlichkeit (stateness) begrifflich nicht immer nur und zeitgeschichtlich nicht mehr nur in der Gestalt des Nationalstaats auftreten müssen. Warum eigentlich sollen liberale, politische, soziale und kulturelle Grundrechte ausschließlich von Nationalstaaten normiert werden - die Entwicklung der Internationalen Menschenrechte seit dem Ende des 2. Weltkriegs gibt darauf bereits eine ermutigende Antwort. Warum sollen demokratische Institutionen und Verfahren stets nur nationalstaatliche sein? Warum soll der demos denn nicht in der Gesellschaft herrschen - der demos stellt die Gesellschaft dar, er allein bildet sie; und sie ist das Feld der Auseinandersetzung darüber, in welcher Form von Arbeitsteilung, mit welchen Zuständigkeiten, in welchen Verfahren Herrschaft zwischen dem Volk und dem Staatsapparat praktisch verteilt sein soll. Innerhalb dieses Apparats herrscht die Staatlichkeit ohnehin - gleichsam per definitionem, da diese Art von Staat ein künstliches Gebilde ist. So wie der Rechtsbegriff „Volk" von der Umklammerung durch den alten Herrschaftsdiskurs zu befreien war 5 , so ist - als Folge daraus - „Demokratie" nicht mehr allein als Institution und normiertes Verfahren zu denken. Demokratie ist zuerst Tätigkeit und Gruppierung der Menschen, die sich als politische Wesen begreifen und daraus eine Praxis formen wollen. Das fundiert - als Arbeit am Denken des Konzepts „Demokratie" - die seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert anwachsende Aktivität einer nach Demokratisierung strebenden weltweiten Zivilgesellschaft. Sie ist als politische dabei, sich in ungleichzeitigen und unvollkommenen, aber auch unleugbar realen Schritten als globales Volk zu kristallisieren. Auf diesem Weg kann eine transnationale Legitimität eigener Art entwickelt werden; und das in einem Moment, da der Nationalstaat als Ganzes (und seine einzelnen Institutionen, sogar die außerhalb des eigentlichen Apparats stehenden politischen Parteien) in eine tiefe Krise der Legitimation geraten ist 6 . Die Globalisie5 Siehe bei F. Müller, Wer ist das Volk?, 1997; vgl. auch Brunkhorst, S. 191 ff., 203 ff. und durchgehend. 6

Solidarität, 2002,

Im Jahr 2000 stellte der Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, eine der größten weltweit unter repräsentativen Bürgern durchgeführten politischen Umfragen vor, die je gemacht wurden. Ihr zufolge glauben zwei Drittel der Staatsbürger nicht, ihr Wille werde von ihrer Regierung vertreten; in den USA z. B. waren 62% dieser Ansicht. - Politiker stünden überall auf der Skala des öffentlichen Ansehens an letzter Stelle; in Italien rangierten sie noch hinter Prostituierten und der Mafia - von den betreffenden Befragten damit begründet, bei diesen „wisse man wenigstens, was sie tun". - Zitiert nach M. Castells, Das Netz und sein Werk, Die Zeit/Literatur, Dezember 2001, S. 56.

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rung spielt dabei eine erhebliche Rolle (vgl. oben ζ. B. Kapitel III. 2. und 3.). Die territorial entgrenzte (Finanz-)Wirtschaft macht, was sie macht. Die Märkte produzieren das ihnen eigene Chaos. Die nationale Politik, in Wechselwirkung mit diesen Vorgängen in ihrer Legitimität geschwächt, interveniert keineswegs so, wie es notwendig wäre - was sie verständlicherweise noch mehr in Frage stellt. In Weltwirtschaft und globaler Kommunikation („Internetverfassung", „Verfassung" der Welthandelsorganisation, usw.) wandert selbst die Kompetenz, Verfassungsrecht zu schaffen und zu garantieren, zunehmend aus den Nationalstaaten aus. Diese sich entwickelnden entstaatlichten Teilverfassungen scheren sich ganz und gar nicht um die „verfassunggebende Gewalt des Volkes" 1. Dem kann nur noch durch kreative Demokratisierung innerhalb der Nationalstaaten (oben Kapitel III. 3.) und im Rahmen der entstehenden globalen Zivilgesellschaft begegnet werden, will man nicht auf längere Sicht Demokratie am Rand eines Wegs liegen lassen, der die Menschheit in eine fatale Zukunft führen müsste. Dabei geht es nicht darum, die Nationalstaaten würden im Zug der Globalisierung quantitativ schwächer; sie werden es qualitativ - gemessen am eigenen Anspruch ihrer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassungen und deren Legitimität. Die Tendenz, über angestammte Territorien hinauszugreifen, also die Bildung des supranationalen Europa und das Vernetzen und Zusammenarbeiten von Staaten in bi- und multilateralen Gruppen, betrifft klassisch administrative Bereiche wie Militär, Geheimdienste, Polizei - daneben natürlich die Wirtschaft, aber diese zählt nicht zu den Staatsgewalten. In deren Umfeld dagegen wird die Exekutive gestärkt; geschwächt werden Demokratie und Rechtsstaat einschließlich der Abwehrfunktion geltender Grundrechte. Nicht die so durch Globalisierung normativ geschwächte Staatlichkeit sollte zum Teil entstaatlicht und in einzelnen Elementen transnational entwickelt werden; sondern die legitime eines demokratischen Rechtsstaats mit wirksamen Menschenrechten und fairen Verfahren. Entscheidend ist dabei besonders der Transfer von Demokratie. Es war in der Geschichte des politischen Denkens kein Schritt zu mehr Demokratie gewesen, als sie ver„staat"licht wurde - so als gehöre der demos dem Staatsapparat. Demokratie ist gerade auch dort, wo normale Leute sich um das Gemeinwohl abmühen - bereit, von ihren individuellen und Gruppeninteressen im gegebenen Fall auch einmal abzusehen, über ihren Schatten zu springen; dort also, wo im Sinn Rousseaus die Menschen nicht als „Menge" (multitude) vorhanden sind, sondern als „Volk" handeln. Dieser real gegebene demos ist heterogen8, nicht einmal unter den Aspekten von Staatsbürgerschaft (Zurechnungsvolk) bzw. des Wahlrechts (Aktivvolk) zu 7 Grundsätzlich zu dieser: F. Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995. 8 F. Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995, S. 91: „Volk" als „eine in sich differente, gemischte, gruppierte, aber gleichheitlich und undiskriminiert organisierte Vielheit".

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homogenisieren. Dem Gras der in „alten", aber dekadenten Demokratien gerne beschworenen „grassroots" sollte, so lange legal, sein staatloser Wildwuchs gelassen werden, statt es sogleich wieder zu staatstragend homogenem Rasen zu trimmen. Demokratie legitimiert sich am Volk, nicht am Staat; und nicht an der zu Individuen vereinzelten multitude der Werbe-Unterworfenen und Umfrage-Objekte in einer exekutivisch dominierten Umgebung. Sie rechtfertigt sich an dem mit Grundrechten versehenen und sich selber politisierenden Volk des Gesellschaftsvertrags (durch den Rousseau den Herrschaftsvertrag der von der Exekutive her denkenden Tradition ersetzt hatte). In dieser und nicht in der exekutivischen Perspektive will die Verfassung auch die politischen Parteien. Diese sind keine verstaatlichten Einrichtungen, und in der Demokratie dürfen sie es nicht sein. Sie „wirken", sagt das Grundgesetz in Art. 21 Abs. 1 Satz 1, „bei der politischen Willensbildung des Volkes mit". Dieses Volk ist noch weniger verstaatlicht als sie; schließlich wird es nicht, wie sie, vom Staat ausgehalten. Es hält ihn aus. Unabhängig vom Apparat der Macht und seinem Vorrat an Wahlprozeduren und Organen der Repräsentation ist das Volk das unstaatlichste Element in einer Demokratie; das Volk, auf dessen „politischen Willen" es ankommt und welches das Recht hat, ihn sich in Freiheit zu „bilden"; das Volk auch, das heterogen bleibt - so wie die Parteien, deren „Gründung ... frei" ist (Art. 21 Absatz 1 Satz 2 GG) und die damit als notwendig heterogen vorausgesetzt werden. Das Konzept „Demokratie (auch) ohne Staat" kann zweierlei heißen: Einmal Demokratie ohne konventionellen Nationalstaat, transnational sich bildende Elemente von Demokratie. Und zweitens auch: Demokratie in einem nicht-konventionellen „Staat", etwa im Sinn der Europäischen Union. Diese weist zunehmend supranational bindendes Recht auf - eine Art Funktionsäquivalent zu internationalen jus cogens- und erga-omnes- Normen für das globale Feld. Die EU belässt die Eigenschaft „Staat" (im Sinn von: konventionelle Nationalstaatlichkeit) bei den Mitgliedsstaaten; doch ist die Union gleichzeitig immer mehr so etwas wie eine föderale Verfassungsordnung - im Ganzen eine föderale Ordnung ohne föderalen Staat. In Zukunft mag „Staatlichkeit" durchaus auch hierin erblickt werden, eben in einem neuen Sinn. Die EU erscheint als ein Experiment einer noch unbekannten Art von Staatlichkeit. Damit, dass sie sich im Vertrag von Maastricht als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" selbst benennt, kann sie - von ihrem bisherigen Defizit an Demokratie einmal abgesehen - für einen globalen Konstitutionalismus vorbildlich werden. (2) Normative Menschenrechte gehen als praktizierte sachnotwendig in die Richtung von Demokratie; diese Einsicht steht schon am Anfang des modernen demokratischen Denkens9. Differenzen darüber, wie die Menschenrechte zu interpretieren und umzusetzen seien, stehen ihrerseits in demokratischer Kommunikation, 9 Rousseau, Du Contrat Social, ζ. Β. I I 11; I 4: demokratische Organisation leitet sich aus vorstaatlichen, angeborenen und unverzichtbaren Menschenrechten ab; dazu oben Kapitel I.

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werden debattiert und insoweit kontrolliert; gerade auch über die Grundrechte gibt es einen ständigen Diskurs unter Demokraten 10. Dieser findet seit geraumer Zeit und zunehmend intensiv weltweit statt. Das entspricht der funktionalen Differenzierung der entstehenden Weltgesellschaft; ebenso wie das Bedürfnis, in die globale Gesellschaft Elemente demokratischer Legitimierung und Entscheidung einzuführen. Anders kann die rasant verbreiterte und beschleunigte Sozialevolution mit ihren wirtschaftlichen und sozialen Kämpfen, ihren politischen und kulturellen Auseinandersetzungen nicht mehr zivilisiert bearbeitet werden (dazu oben ζ. B. Kapitel III. 2.; 4. [1]). Dazu braucht es eine wachsende Erzeugung und Implementation verbindlichen Völkerrechts - von Menschenrechten als Basis von Demokratie und ferner dieser demokratischen Elemente selbst, indem sie institutionelle Stützen eingezogen bekommen. Nur so können Gegengewichte zu den übermächtig werdenden Medien Geld und Macht 11 eingeführt werden. Dabei zeigt schon die Erfahrung aus den Nationalstaaten, dass Grundrechte dadurch, dass die Legislative sie ausgestaltet, oft konkreter werden und besser zu handhaben sind 12 . Deswegen ist das Fernziel im Weltrecht nicht nur ein Äquivalent für den „Grundrechtsteil", sondern auch für einen - fragmentarischen - „organisatorischen Teil" der konstitutionellen Vorschriften. „Fragmentarisch" deshalb, weil ein Weltstaat, der ein globaler „Nationalstaat wäre (ein Megastaat), nicht zuletzt aus Gründen der Demokratie nicht zu wünschen ist. Der organisatorische Teil muss aber ein Minimum an Rechtsstaatlichkeit verpflichtend machen, so die Normenhierarchie; das heißt, den Vorrang von Verfassungsrecht, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes. Und für diese globale Gesetzgebung sind demokratische Prozeduren erforderlich, um der Barbarei vom „Recht des Stärkeren" entgegenzutreten. Menschenrechte können Demokratie nicht ersetzen; sie ermöglichen sie als eine notwendige (allein noch nicht zureichende) Bedingung. Beide Corpora von Garantien und Institutionen / Verfahren brauchen einander. Als lebensfähige ist Demokratie schon im Rahmen der Nationalstaaten ganz wesentlich auf Grundrechte gestützt; diese Erfahrungen sind in eine noch ungleich komplexere transnationale Situation fortzuschreiben. Ein Teil der Debatte geht zu Recht darüber, in welcher Form globale demokratische Institutionen konzipiert und verwirklicht werden könnten. Eine Gruppe von 10 Zur rechtsdogmatischen und rechtsmethodischen Stützung der rechtsstaatlichen Demokratie durch Menschen- und Bürgerrechte bereits F. Müller, Moderne Interpretation und Konzepte der Menschenrechte, in: Anais da XV Conferência Nacional da Ordern dos Advogados do Brasil (1994), Säo Paulo 1995, S. 535 ff.; auch ders., in: Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts, 1997, S. 9 ff. - In diesem Zusammenhang weiterführend: H. Brunkhorst, Die Politik der Menschenrechte: Verfassungsfragen in der fragmentierten Weltgesellschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2002, S. 981 ff. - Sehr viel allgemeiner: O. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 2002.

11 Brunkhorst, Solidarität, 2002, S. 196 ff., 202 (im Anschluss an Habermas), u.ö. Dazu G. Teuhner, Das Recht der globalen Zivilgesellschaft, in: Frankfurter Rundschau Nr. 253/2000, S. 20. 12

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Vorschlägen bleibt dabei im Administrativen verfangen: sie setzt an den bestehenden supranationalen (EU) oder Wirtschaftsgemeinschaften (Mercosur) bzw. an grenzüberschreitenden Regionalverbänden (wie Katalonien, Saar-Lor-Lux) an und empfiehlt deren verstärkte Zusammenarbeit. Die Sorge um demokratische Verfahren steht dabei nicht im Vordergrund. Anders ist das bei Plänen, zu globalen Themen interparlamentarische Arbeitsgruppen zu bilden, ein „Comeback der Parlamente" zu betreiben oder deren Weltversammlung. Schließlich soll Partizipation an den weltweit vernetzten neuen Machtstrukturen gesucht oder die Weltbevölkerung unmittelbar in einem Weltparlament repräsentiert werden (siehe oben Kapitel III. 2.). All das erscheint schon nach der Art seiner Konstruktion zu wenig aussichtsreich, um näher debattiert zu werden. Selbst auf dem engeren Feld der EU hat gerade die (traditionelle Form der) Demokratie größte Schwierigkeiten, Recht und Politik der Gemeinschaft zu prägen. Das globale Parlament setzt - als Verlängerung herkömmlicher Nationalstaatlichkeit - einen Weltstaat mit entsprechendem Bürgerrecht für alle Erdbewohner voraus. Sich ausgerechnet den Megastaat als demokratisch eingerichtet vorzustellen, fällt leider sehr schwer. Näher läge es, auf eine Reform der UNO-Statuten hinzuwirken: den Sicherheitsrat durch klare Vorschriften auf Fragen militärischer Sicherheit im strikten Sinn zu beschränken und die rechtlichen Kompetenzen der Vollversammlung zu stärken. In ihr dürfte es - weiterhin - kein Veto geben; im Bereich ihrer Zuständigkeiten müssten ihre Beschlüsse Priorität haben. Gewiss ist das nur ein Gedanke - aber Vorschläge wie „Weltparlament" sind auch nicht mehr als das und zudem schon im Ansatz nicht operational. Neben solchen Planspielen zu einer globalen Legislative wird auch die Exekutive nicht vergessen; d. h. eine im klassischen Sinn von Regierungsinstitutionen mit globaler Reichweite13, nicht im Sinn der bereits wirksamen - so informellen wie undemokratischen - Weltexekutive der globalen Finanz- und Wirtschaftsagenturen nach der Art von IWF und WTO. Ein andersartiger Weg, an transnationaler Macht jedenfalls deliberativ teilzuhaben, ist mit der neuen Praxis der UNO schon begonnen worden: auf einer Vorstufe der Entscheidungsvorgänge in ihren Institutionen umstrittene Vorhaben von Vertretern der Unternehmen, der Politik, der Medien und der Wissenschaft aufbereiten zu lassen (global public policy groups) - eine Möglichkeit, die an den Machtverhältnissen nichts ändert. Sie sollte dennoch weiter verfolgt und ausgebaut werden, um vielleicht einmal die Keimzelle für künftige weniger marginale Formen demokratischer Beteiligung abzugeben. Ein hochherzig aussehender Vorschlag will jede Art von Weltregierung vermeiden und stattdessen eine über den Staaten stehende „Weltinnenpolitik" einführen. Diese soll „die Übertragung von Funktionen, die bisher Sozialstaaten im nationa13 Z. B. bei U. Beck, Gegengifte, 1988.

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len Rahmen wahrgenommen haben, auf supranationale Instanzen", also „die Herstellung eines globalen Wohlfahrtsregimes" bewerkstelligen. Ferner sollen gegen Menschenrechtsverletzungen in vielen Teilen der Welt „humanitäre Interventionen" im Recht der internationalen Organisationen verankert werden 14. Vorschläge dieser Art sind aber machtlos gegen die anwachsende primäre Exklusion in den armen und den Schwellenländern wie gegen die sekundäre in den reichen Ländern des Zentrums 15. Sie spielen „eine »ideologische' Rolle" und sind sachlich um so ungeeigneter, die globalen Probleme (eben gerade unter „Einbeziehung des Anderen ") anzugehen, als sie weit eher „eine Wohlfahrtspolitik des entwickelten Westens" darstellen - sinnfällig exekutiert an den Flüchtlingen, den Opfern weltweiter Exklusion, die an die Tore der Festung Europa klopfen. Und angesichts der undemokratischen Struktur des Weltsicherheitsrats und seiner oft willkürlich machtpolitischen Beschlüsse diesem „humanitäre" Interventionen anvertrauen zu wollen, hat nichts mehr mit „ Weltinnen^oMiik zur Durchsetzung der Menschenrechte" zu tun; es ist vielmehr „eine oligarchisch strukturierte Westaussenpolitik zur Aufsicht der Menschenrechtspolitik der in der internationalen Machtkonstellation schwächeren Staaten". Weniger hochfliegend idealistisch, dafür aber auch ehrlicher sind Erwägungen 16, keinesfalls einen zentralistisch gewaltsamen Megastaat, dafür aber Rahmenkompetenzen eines Weltrechts anzustreben. Dieses soll rechts- und sozialstaatliche Inhalte haben, demokratisch geprägt sein und für alles globale Handeln den verbindlichen juridischen Rahmen bieten - sei es von nichtstaatlichen Akteuren, sei es von Einzelstaaten, regionalen Körperschaften oder Staatenverbänden. Da es im nationalen Bereich bereits rechtsstaatliche Demokratien gibt, sollen diese im Bereich ihrer Zuständigkeit nicht verdrängt werden, soll das Rahmenrecht vielmehr nur subsidiär gegenüber dem bisherigen Staats- und Völkerrecht eingreifen. Seiner Struktur 14

J. Habermas, Jenseits des Nationalstaats?, in: U. Beck (Hrsg.), Politik der Globalisierung, 1998, S. 67 ff.; ders., Die postnationale Konstellation: politische Essays, 1998; ders., Zur Legitimation durch Menschenrechte, in: H. Brunkhorst/P. Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, 1999, S. 386 ff.; ders., Die Einbeziehung des Anderen: Studien zur politischen Theorie, 1996. - Mit weiteren Nachweisen dargestellt bei Μ. Ν eves, Gerechtigkeit und Differenz in einer komplexen Weltgesellschaft, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 88 (2002), S. 323 ff. - Ebd. die Darstellung des Vorschlags von G. Teubner, auf plurale und heterarchische Rechtsordnungen im globalen Maßstab zu setzen - wobei jedoch die lex mercatoria Wirtschaft und Geld nicht zügeln, sondern sich ihrem Diktat unterwerfen wird; sie wird auch in Zukunft „ein korruptes Recht" bleiben, Zitat nach Teubner bei M. Neves, ebd., S. 346. 15 Diese Unterscheidung seit: F. Müller, Wer ist das Volk?, 1995, S. 50 ff. - Die im Text zitierte berechtigte Kritik an Habermas' „globalem Wohlfahrtsregime" wie an der „humanitären Intervention" bei M. Neves, ebd., S. 347. 16 Bei M. Lutz-Bachmann, „Weltstaatlichkeit" und Menschenrechte nach dem Ende des überlieferten „Nationalstaats", in: H. Brunkhorst/W. R. Köhler/M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), Recht auf Menschenrechte, 1999, S. 199 ff., bes. 213 ff. - Ebd. wird allerdings nicht gesagt, wie das angestrebte Welt-Rahmenrecht normiert werden und über welche juristischen Mechanismen es wirken soll.

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nach soll es öffentliches Recht sein, föderal und vielfach abgestuft - als Hauptelement einer neuartigen „Staatlichkeit. Es hätte die Internationalen Menschenrechte nicht zuletzt durch Normieren wirksamer Rechtsschutz verfahren besser abzusichern, als das bisher (dazu oben Kapitel III 1) möglich ist. Man kann den inzwischen eingerichteten ständigen Internationalen Strafgerichtshof einschließlich seiner Statuten als ein normativ und institutionell vorbildliches Beispiel aus einer derartigen Rahmenrechtsordnung ansehen. Auch lehrt die Art seines Zustandekommens durch mulilateralen Vertrag (Konvention), wie solches globale Recht vornehmlich zu Stande kommen kann: mangels transnational demokratischer Organe vor allem durch Konventionen, die demokratisch regierte Staaten gemeinsam in Kraft setzen. (3) Es hat sich gezeigt, dass „Demokratie" und „Staat" nicht begriffsnotwendig gekoppelt sind. Zu untersuchen bleibt diese Frage noch für „Staat" und „Verfassung", außerhalb des üblichen Wortgebrauchs „Verfassungsstaat" in der modernen Tradition. Gewiss trägt ein verfasster demokratischer Rechtsstaat diesen Titel zu Recht. Doch geht es in der Europäischen Union inzwischen um das Erarbeiten einer Verfassung und ist global nach Elementen transnationalen Verfassungsrechts auszuschauen - ohne dass im einen oder im anderen Fall das Begründen eines Staates im Sinn dieser Tradition angestrebt wird. Identifizierungen von Staat und Gesellschaft (wie bei Rawls) oder die Unterordnung dieser unter jenen (wie bei Hegel) konnten nicht überzeugen17. Politische Restaurationen oder Reaktionen des 19. Jahrhunderts oktroyierten Verfassungen mit den Mitteln der Staatsgewalt; die Gründungstexte der Vertassungsrevolutionen des 18. Jahrhunderts dagegen waren das Werk der sich in Frankreich wie in den USA als republikanische Nation konstituierenden Gesellschaft gewesen18. In der Theorie des Absolutismus erfolgte noch der Übergang vom Naturzustand zum Gesellschaftszuder den Staat als Gewaltappastand nicht zufällig durch den Unterwerfungsvertrag, rat erschuf. Dieser konnte sich dann nachträglich einen von ihm kontrollierten Gesellschaftsvertrag erlauben. Bei Hobbes wird die „natürliche" Menge allein durch den König zum Volk als der Gesamtheit der Untertanen. Rousseau hatte daraufhin diesen Pakt der Über- und Unterordnung gestrichen und durch den Gesellschaftsvzrtrag ersetzt, der die demokratisch agierende société civile begründet. „Verfassung" begriffsnotwendig an „Staat" ketten zu wollen, hieße also, den Staat vor-zuordnen; ihn nicht als rechtlich überhaupt erst zu konstituierenden auf17 Zur Geschichte der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft vgl. F. Müller, Korporation und Assoziation, 1965, S. 314 ff.; zu Hegel in diesem Zusammenhang: ebd., S. 146 ff.; zu Rousseau: 42 ff. - Vgl. ferner etwa //. Ehmke, „Staat" und „Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, in: Staatsverfassung und Kirchenordnung, Festgabe für R. Smend, 1962, z. B. S. 24 f.; E. W. Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973. 18 Siehe etwa /. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1992.

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zufassen, sondern (wie bis heute im obrigkeitsstaatlichen Denken) als vor-konstitutionelle schlichte Gegebenheit nach der Art eines Naturphänomens. So hatten es die Herrscher etwa des deutschen Frühkonstitutionalismus tatsächlich beurteilt und die von ihnen gnädig oktroyierten oder unwillig zugestandenen Verfassungen im Sinn des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV als „aus Dreck und Letten gebacken"19. Hiervon ganz abgesehen, kommen in der Gegenwart „funktionale Äquivalente für Staatsverfassungen" 20 wie die Gründungsverträge der Vereinten Nationen (die UNO-Charta als Verfassung der Weltgesellschaft), der Welthandelsorganisation (Verfassung des Funktionssystems Weltwirtschaft 21) oder der Europäischen Union ganz ohne „Staat" im herkömmlichen Verständnis aus und werden die Römischen Verträge der EU vom deutschen Bundesverfassungsgericht wie vom Europäischen Gerichtshof funktionell wie Verfassungen behandelt. Die seit dem Jahr 2002 ausgearbeitete Europäische Verfassungsurkunde wird diese Entwicklung bekräftigen, ohne doch damit die Union als Ganzes zum Staat zu machen. Es geht aber um Experimente mit neu artigen Formen von Staatlichkeit, um zu erkundende Konfigurationen einer „poststaatlichen"22 oder, bescheidener gesagt, staatlosen Verfassung der Weltgesellschaft. Das schwierigste dieser Experimente wird darin bestehen, diese staatlos-konstitutionellen Institutionen sei es zu demokratisieren, sei es als demokratisch begründete und kontrollierte noch zu schaffen. Andernfalls würden die transnationalen Handlungsformen auf Dauer die neue Form von Tyrannis fortsetzen und ins Unerträgliche verstärken, die sich schon abzeichnet. Demokratie war im modernen Verfassungsstaat durchgesetzt worden, auf national begrenztem Territorium. Unter dem Aspekt der Demokratisierung 23 sollte die Weltgesellschaft als Tranformationsgesellschaft betrachtet und bearbeitet werden. 19 Friedrich Wilhelm IV soll das angesichts der Kaiserkrone („ein Reif, ....") geäußert haben, die ihm auf Grund der liberalen Reichsverfassung der Paulskirche angetragen worden war. - [ „Letten" = Schlamm ]. 20 Hierzu und zum Ganzen, mit weiteren Nachweisen: H. Brunkhorst, Globale Demokratie ohne Staat? Schwache Öffentlichkeit, starke Öffentlichkeit - globaler Konstitutionalismus, 2003 (unveröffentlicht). 21 Dazu St. Langen Grundlagen einer internationalen Wirtschaftsverfassung, 1994. 22 So Brunkhorst (Anm. 20), S. 7. 23 Über „Demokratisierungsprobleme in Europa und Amerika", also nur im je nationalen Rahmen, aber exemplarisch für die Analyse von Transformationsvorgängen: H.-J. Puhle, in: H. Brunkhorst/P. Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, 1999, S. 317 ff. mit zahlreichen Nachweisen. - Über „die sich seit den zwanziger Jahren abzeichnende Entstaatlichung der Politik" und ihre Ursachen in globaler Individualisierung und sozialer Exklusion: H. Brunkhorst, Europa im Prozess der Globalisierung - zwölf Thesen, 2002 (unveröffentlicht), S. 3 ff. - Die weltweite Individualisierung bestehe demnach gerade darin, dass „jede Kommunikation an jede beliebige andere anschlussfähig " sei. - Auch für Kollektive war hier schon (oben Kapitel III. 2.) davon die Rede gewesen, dass weltweite Standardisierung ihren Gegenpart in Partikularismus, Separatismus und Regionalisierung findet. Geht es dabei darum, dass „les

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Auch die Europäische Union ist noch nicht mehr als eine Gesellschaft im Übergang zu Demokratie und bietet darin ein eher trauriges Beispiel 24 . Allerdings wird Demokratisierung dabei mehr in den traditionellen Bahnen gesucht und weniger in denen, die hier für die Weltgesellschaft zu erörtern sind. Die EU ist, so gesehen, kein Staat - mag sie auch nach außen („Festung Europa") gelegentlich so auftreten und nach innen (im Rahmen ihrer Zuständigkeit) ein Gewaltmonopol ausüben, das eines autoritären Staates würdig ist. Sie nennt sich seit dem Vertrag von Maastricht, wie schon gesagt, einen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" - dass die Demokratie dabei nicht erwähnt wird, ist leider nicht nur ein Lapsus. Über ihre (national-)staatlose Rechtsordnung übt sie supranationale Gewalt im Innern aus, über die europäische Gesellschaft, über die Völker der Mitgliedsländer 25. Die auch den Nationalve//