Das wissenschaftliche Werk: Band 2 Cervantes und seine Zeit [Reprint 2015 ed.]
 9783111618968, 9783111242484

Table of contents :
Miguel de Cervantes. Leben und Werk
Einleitung
I Leben und Werk
II Spanien um 1550
III I Der Vater
IV Alcalá de Henares
V Schüler der Jesuiten?
VI Schüler des Erasmismus in Madrid?
VII Der Jünger Garcilaso de la Vegas
VIII Ausbruch
IX Kriegsgefangenschaft
X Feindwelt
XI Die Dramatisierung der spanischen Vorgeschichte
XII Der Hirtenroman
XIII Das Theater
XIV Die Zwischenspiele
XV Cervantes und der tote Philipp
XVI „Die Exemplarischen Novellen“
XVII Die spanische Route im Lebenswerk des Cervantes
XVIII Die Vorgeschichte des „Don Quijote“
XIX Alonso Quijana
XX Roman und Novelle
XXI Der Wahn
XXII Don Quijotes Mitwelt
XXIII Der Literaturroman
XXIV Die Zeit der literarischen Erfüllung und das Lebensende
XXV Das Vermächtnis: „Die Arbeiten des Persiles und der Sigismunda“
XXVI Cervantes und die Poetik
XXVII Nachruhm
Anmerkungen
Cervantes und die moderne Welt
Palabras habladas en ocasión de la inauguración del coloquio cervantino, día 29de septiembre de 1966
Cervantes und die Jesuiten in Sevilla
Erasmus und die spanische Renaissance
Die Kritik des Siglo de Oro am Ritter- und Schäferroman
Über die Stellung der Bukolik in der ästhetischen Theorie des Humanismus
Localización y desplazamientos en la novela pastoril española
Der spanische Hirtenroman Prolegomena für seine Darstellung und Sinngebung
Zur Bezeichnungsgeschichte des spanischen Wortes „novela“ 2
Die Welt im spanischen Sprichwort
Wege der spanischen Frührenaissancelyrik
Algunos apuntes acerca de la „Araucana“ de Ercilla
Rezensionen zu Monographien über die spanische Literatur des 16. Jahrhunderts
Anhang
Nachwort. Von Werner Bahner
Zu dieser Ausgabe
Editorische Anmerkungen
Personenregister

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W E R N E R KRAUSS Das wissenschaftliche Werk 2

WERNER KRAUSS Das wissenschaftliche Werk Herausgegeben im Auftrag der Akademie der Wissenschaften der DDR von Werner Bahner, Manfred Naumann und Heinrich Scheel

Akademie-Verlag Berlin Aufbau-Verlag Berlin und Weimar

WERNER KRAUSS Cervantes und seine Zeit Herausgegeben von Werner Bahner

Akademie-Verlag Berlin 1990

Textrevision und Editorische Anmerkungen: Hörst F. Müller

1. Auflage 1990 © Akademie-Verlag Berlin 1990 (für diese Ausgabe) Einbandgestaltung Klaus Herrmann Typographie Peter Binnele Gesamtherstellung Offizin Hildburghausen GmbH i. A. Bestellnummer 754 402 1 (6841/1) Krauss, Das wiss. Werk Akademie-Verlag: Gesamt I S B N 3-05-000850-4 Bd. 2: I S B N 3-05-000851-2 Aufbau-Verlag: Gesamt I S B N 3-351-00627-6

Miguel de Cervantes Leben und Werk

Einleitung Am 23. April 1966 wiederholt sich der Todestag von Miguel de Cervantes, dem Schöpfer des modernen Romans, zum dreihundertfünfzigsten Male. Gegen die Gepflogenheit, Erinnerungsdaten zum Anlaß einer Rückbesinnung auf die Meister der Vergangenheit zu nehmen, ist sicherlich mancher Einwand möglich. Im Falle von Cervantes hat es jedoch einen besonderen Sinn, den Abstand der Zeiten zu einer schöpferischen Welt zu markieren, die in unseren Tagen eher an Aktualität gewonnen als eingebüßt hat. Seit dem Erscheinen des „Don Quijote" hat die Literatur über Cervantes und seine Schöpfung unerhörte Ausmaße angenommen. Alle geistig lebendigen Menschen fühlten und fühlen sicli offenbar aufgefordert, zu diesem einzigartigen Werke Stellung zu nehmen. Man ist versucht, zu schließen, daß es keinen Gedanken, keine Auslegung gibt, zu denen die jahrhundertelange Beschäftigung mit dem Genius des „Don Quijote"-Dichters nicht schon einmal Anlaß gegeben hätte. Einer rigoroseren Betrachtung hält diese Skepsis nicht stand. So gewiß jede neue Generation ihren eigenen Charakter mitbringt, so gewiß ist auch die Aneignung des Cervantesschen Werkes ein Vorgang, in dem sich jeweils das unverwechselbare Gepräge und die einmalige Sinnesart der zum Leben des Geistes erwachten Menschheit kundtut. Allerdings haben nur wenige Werke aus drei- oder vierhundertjähriger Vergangenheit ein solches Maß an unfehlbarer Bezugskraft, an unentwegter und nie versiegender Jugend für jede neue Gegenwart behaupten können. Cervantes hat wesentliche Probleme des modernen Romans vorweggenommen. Zugleich verrät aber der Lebensgang dieses Dichters eine unauflösliche Problematik, in die sich der produktive Genius gegenüber den unerfüllbaren Forderungen seiner Mitwelt noch und noch verstrickt sieht. Ein neuer Versuch der Annäherung an Cervantes bedarf daher keiner Rechtfertigung. Nicht die unabsehbar vor uns ausgebreitete Cervanteserudition um ein weiteres

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Miguel de Cervantes. Leben und Werk

Stück zu vermehren, ist der unbedingte Vorsatz dieses Versuches, sondern das Bestreben, die Denkungsart unserer eigenen Zeit gegenüber den unsterblichen Werken und ihrem Schöpfer zur Geltung zu bringen.

I. Leben und Werk Nicht immer verhilft die Biographie des Autors zu einem besseren Verständnis seiner Werke. Lyrische Dichtung wie die eines Gongora oder Mallarme muß vorab in der Formtradition begriffen werden, die sie zu überwinden oder zu erneuern angetreten war. Biographischen Fakten kommt jedenfalls hier die geringste Bedeutung zu. Die Werke der großen Dramatiker Lope de Vega, Calderön, Shakespeare fordern die verschiedenartigsten geschichtlichen Einlassungen; aber auch hier besitzt die Lebensgeschichte der Dichter keine besondere Relevanz. Wir kennen Lope de Vegas Leben sehr genau - es ist eine Biographie von allerhöchstem Reiz - , sie gibt aber keinen Schlüssel zum Verständnis der mehr als viertausend Komödien, die Lope binnen weniger Jahrzehnte zu Papier gebracht hat. Über Shakespeares Leben ist so gut wie nichts Sicheres ausgemacht worden, ohne daß das intime Verhältnis der Nachwelt zu seinen Dramen dadurch beeinträchtigt wäre. Demgegenüber hat für die Auslegung des Cervantesschen Lebenswerkes die Kenntnis des Lebensweges ein ganz anderes Gewicht und eine andere Bedeutung. In den Vorworten dieser Werke finden wir eine Reihe autobiographischer Züge. Cervantes versucht, den Lesern seine äußere Erscheinung nahe zu bringen. Er verrät, daß er den „Don Quijote" in einem Gefängnis konzipierte. Immer wieder kommt er auf seine Teilnahme an der Seeschlacht von Lepanto zu sprechen, als wäre dieses Ereignis der Knotenpunkt seines Daseins und als bildete seine heroische Jugendgeschichte die innere Voraussetzung für seine Existenz als Schriftsteller. Cervantes ist jedenfalls überzeugt von der inneren Kontinuität und Sinnesimmanenz seiner Lebenserfahrung. Leben und Werk treten in der Einheit eines Prozesses zusammen, der auf die Kenntnis und Darstellung der Menschenwelt und ihrer latenten Beziehungsgesetze abzielt. Jede Lebenserfahrung brachte für ihn den Zwang einer Entscheidung, die ihm letzten Endes nur den Weg der poetischen Verarbeitung ließ. Die Probleme, die sein Leben beschwerten, fanden hier ihre Lösung.

II. Spanien um 1550

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II. Spanien um 1550 Wie sah die Welt aus, in die Miguel de Cervantes 1547 hineingeboren wurde? Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts war Spanien nicht mehr, wie nodi vor einem Menschenalter, eine seit kurzem geeinte nationale Großmacht, sondern die Mitte eines weltweiten, durch dynastisches Interesse verklammerten Staatensystems. Spanische Truppen erschienen auf allen europäischen Kriegsschauplätzen. Karl V. hatte zwar Spanisch sprechen und denken gelernt, aber das Gesetz seiner Politik war allein auf die Erhaltung seiner gewaltigen Hausmacht ausgerichtet. Der 1556 mit der Inthronisierung Philipps II. sich vollziehende Regierungswechsel, der das deutsche Reich wieder von Spanien und den spanisch beherrschten Ländern trennte, verschlimmerte noch die ganze Situation. Der katholische Fanatismus des Königs, der die alte Glaubenseinheit Europas wieder herzustellen gedachte, belastete das Schicksal der spanischen Nation aufs ärgste. Bei der wahnwitzigen Repression der flandrischen Dissidenten verbluteten immer neue spanische Heere. Was die überspannte Kriegspolitik nicht vermochte, das erreichte die verheerende, von metallischem Aberglauben besessene Wirtschaftsführung: die völlige Erschöpfung der spanischen Volkskraft. Anstatt den kolonialen Reichtum planvoll zu erschließen, begnügte sich das Mutterland mit den Gold- und Silberlieferungen aus Übersee. Geopfert wurden die noch vor einem Menschenalter in allen spanischen Städten blühenden Tuchmanufakturen. Auch die Bodenbestellung verfiel zugunsten der übermäßig ausgedehnten Weidewirtschaft. Spanien hatte den Ehrgeiz, alle europäischen Länder mit Wolle zu beliefern, war jedoch gezwungen, die Fertigfabrikate aus dem mit Rohstoff belieferten Ausland für teures Geld einzuführen. Das äußere Erscheinungsbild war gleichwohl noch immer glänzend. Die Sonne ging über der spanischen Welt nicht mehr unter. Spanien war in wenigen Jahrzehnten das Zentrum der Welt, Madrid ihre Hauptstadt geworden. Das geistige Leben der Nation ging einer neuen Blüte entgegen. Die spanische Intelligenz hatte die Lehre des Desiderius Erasmus trotz aller kirchlichen Verbote mit Nachdruck aufgenommen. In Spanien, wo das sich immer üppiger ausbreitende Mönchswesen nachgerade zu einer Landplage geworden war, ließ man sich die Klosterfeindschaft des großen Humanisten gern gefallen. Dazu kam die Betonung der Willensfreiheit, die diese Lehre den Protestanten •völlig entfremdet hatte, mit der pelagianischen Richtung des spanischen Geistes aber in vollem Einklang stand. Die Losung der Willensfreiheit hatte auch der junge Orden der Jesuiten auf seine Fahnen geschrieben. Eine Einwirkung der erasmischen Lehre ist auch hier, zum mindesten für die erste Generation, licht von der Hand zu weisen.

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Miguel de Cervantes. Leben und Werk

Die spanisdie Literatur ging ihrem goldenen Zeitalter entgegen. 1553 war mit dem „Lazarillo de Tormes" eine neue Gattung geboren worden: der Schelmenroman. Fünf Jahre später begann der Hirtenroman des Jorge de Montemayor, „La Diana", seinen Siegeslauf. Diesem in Spanien erneuerten Typus der bukolischen Gattung war wie dem Schelmenroman ein Welterfolg beschieden. Die spanische Szene bevölkerten die holzschnittmäßigen Figuren Lope de Ruedas. Für Miguel de Cervantes war die Aufführung eines Stückes von Lope de Rueda ein unvergeßliches Jugenderlebnis.

III. Der Vater Die Familie des Miguel de Cervantes war ein heruntergekommenes Hidalgogeschlecht. Der gesunkene Hidalgo ist ein Typus für sich in der spanischen Literatur, nachdem er ein aktives Ferment in der spanischen Geschichte gebildet hatte. Seine ungeheuren Ausbrüche in Don Quijotes welterlösenden Exkursionen, die enthusiastische Lehre der „accion inmediata" - der unmittelbaren Tat, die Don Quijote mit dem modernen Anarchismus verbindet - , berührten freilich nicht die Prosa seines Lebens, das die verschämte Armut in Würde zu ertragen gesonnen war. Der Großvater Miguels behauptete noch die ansehnliche Stellung eines städtischen Rechtskonsulenten. Der Vater Miguels, Rodrigo de Cervantes, brachte es nur bis zum Feldscher, der seine wenig erfolgreiche Praxis von einem Ort zum anderen verlegte, von Alcalä de Henares, wo Miguel 1547 geboren wurde, nach Valladolid, von dort nach Sevilla und schließlich nach Madrid. Wie wenig einträglich das Wandergewerbe eines Chirurgen war, geht daraus hervor, daß sein Gehalt sich auf sechs Maravedi (altspanische Münzeinheit) beschränkte, während in derselben Zeit ein Medizinprofessor 145, der akademische Hausverwalter 45 und der Universitätsfriseur 16 Maravedi verdiente. Es ist möglich, daß der Vater durch verfrühte Heirat oder durch finanziellen Ruin genötigt war, sein Studium abzubrechen. Vielleicht auch gehörte er zu denen, die mit dem Leben nicht fertigwerden. Das Niveau seiner Arztkunst verrät ein Dokument, in dem er für die Weiterführung seiner chirurgischen Praxis die Herausgabe folgender Bücher als gepfändetem Besitz verlangt: Ein Buch über die vier Krankheiten Eine lateinische Grammatik (vermutlich als Lesehilfe für den Galen) Einen Leitfaden der Chirurgie. In den letzten Lebensjahren taucht der Name des Rodrigo de Cervantes nur selten auf. Umso häufiger tritt die Gattin in Erscheinung, die für die beiden

ΙΠ. Der Vater

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kriegsgefangenen Söhne mit Behörden umgehen, Gesuch auf Gesuch aufsetzen, durch schwierige Geld- und Kreditoperationen das Lösegeld sicherstellen und schließlich die Genehmigung der Finanzbehörden für eine Geldüberweisung nach Algier, ins feindliche Ausland, erwirken muß. E s ist unwahrscheinlich, daß das Vaterhaus der geistigen Bildung des jungen Miguel hat dienlich sein können. In einer ungesicherten, entwurzelten, der hidalgesken Natur schon gänzlich entfremdeten und durch den Berufszwang verhetzten Lebensführung gehören die Werke der Bildung zum unerreichbaren Luxus, und das wenige, was wir von Cervantes' Vater wissen, spricht nicht für eine besondere Einwirkung seiner Person auf das geistige Wachstum des Sohnes.

IV. Alcala de Henares Von Alcala de Henares, dem Geburtsort und der Stätte der Kindheit, findet sich in des Cervantes Werken keine Spur, obwohl sie sonst alle seine Lebenserfahrungen poetisch registrieren. Unter den Städtebildern von Murcia, Sevilla, Salamanca, Madrid, Toledo, die den erlebten Raum literarisch fixieren, fehlen die malerischen Umrisse der Geburtsstadt. Nicht nur in den „Novelas ejemplares" (Exemplarische Novellen) umgehen die Wanderrouten die Heimat des Dichters - auch Don Quijote läßt auf seiner langen spanischen Wanderung Alcala seitwärts liegen. Und doch war die vom Zufall beschiedene Heimatstadt nicht ein beliebiger Punkt in der Landschaft des vergangenen Spanien. Davon zeugen noch heute die baulichen Monumente, die den Touristen in dem nur 30 km von der Hauptstadt entfernten Städtchen erwarten. Die makellos schlichte Grazie des „plateresco", des Baustils der spanischen Frührenaissance, mit seinen charakteristischen, einfach geteilte Flächen überziehenden Ornamenten, tritt uns nirgends so eindrucksvoll wie in der Geburtsstadt des Cervantes entgegen. In Alcala erhielt der theologische Humanismus sein spanisches Gesicht. Nach dem Plan und Willen des Kardinalregenten Cisneros (des Mittlers der Erbschaft der katholischen Könige an Karl V.) war hier fünfzig Jahre vor Cervmtes' Geburt eine neue Universität entstanden. Der große spanische Kardirul hatte wie später Richclieu sehr wohl begriffen, daß der moderne, zentralistsche Staat nur von einer breit fundierten Elite getragen werden konnte. Alcala wurde zum Mittelpunkt der humanistisch-philologischen Studien. Die geistige Zuwendung zum Wort, die Abkehr vom Begriff entsprachen dem Bedürfnis der neuen Staaten nach vorurteilslosen Köpfen, die den bürokratischen

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Miguel de Cervantes. Leben und Werk

Apparat zu meistern verstanden. Die theologischen und naturrechtlichen Fundamente dieses Staates blieben der Obhut der älteren Hochschulen in Salamanca und in Coimbra überlassen. Hier lebt das Mittelalter in der Umbildung der neu-scholastischen Systeme weiter. Alcalä wurde zum Vorposten der spanischen Renaissance. Alcaläs humanistisch erneuerter Name „Compluti" verbreitete sich eine Zeitlang über die Welt, als unter Cisneros Augen die viersprachige Bibel, eine Gemeinsdiaftsarbeit der Professoren, in Angriff genommen wurde. Übrigens sah sich Salamanca durch den Aufstieg der neuen Rivalin gezwungen, ihre Neuerungen nachzuahmen, vor allem durch die Schaffung eines nominalistischen Lehrstuhls, der in Spanien bis dahin als die „Advokatur des Teufels" verpönt war. Der Wettstreit zwischen Alcalä und Salamanca erstreckte sich bald auch auf die philologischen Fächer. Er versetzte das geistige Leben in eine neuartige Spannung. Die spanischen Humanisten sahen sich plötzlich umworben und als eine geistige Macht respektiert. Cervantes ist in diesen Geistesraum hineingeboren. Doch was vermag eine Hochburg der Bildung über unentfaltete Kindheit? Alcalä wahrte trotz aller kirchlichen Verdammungsurteile etwas von dem erasmischen Spiritualismus, und man weiß, daß Cervantes mindestens in den späteren Jahren unter den Einfluß dieser christlich-humanistischen Lehre geraten ist. Außerdem zitiert und schätzt er den Gräzisten von Alcalä, Hernän Nunez, den Vater des spanischen Vulgärhumanismus und einen der ersten Entdecker des spanischen Sprichwortwissens. V. Schüler der Jesuiten? Um 1564 weilte Rodrigo de Cervantes in Sevilla, wo er das Bürgerrecht erwarb. Das war im achtzehnten Lebensjahre des Sohnes. In der vielleicht 1604 entstandenen Meisternovelle „Coloquio de los perros" (Gespräch zweier Hunde) gibt ein sprechender Hund die Geschichte seiner in Sevilla geleisteten Dienste zum besten: in Begleitung seiner jungen Herrschaft geduldet, lernt der gelehrige Hund den Lehrbetrieb in einem jesuitischen Kolleg Sevillas aus eigener Anschauung kennen. Sollte Cervantes, ein etwaiger Schüler der Jesuiten, hier aus eigenen Bildungserlebnissen geschöpft haben? Die Beweisführung läßt indessen eine bedenkliche biographische Lücke offen. Denn durch nichts ist erwiesen, daß Miguel seinen Vater nach Andalusien begleitet hatte. Die sechsköpfige Familie des Arztes lebte häufig in räumlicher Trennung. Während wir aber wissen, daß eine Schwester Miguels in Sevilla dem Vater den Haushalt geführt hat, ist von einem Aufenthalt Miguels dort nichts bezeugt.

V. Schüler der Jesuiten?

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Greifen wir aber zurück auf die Erlebnisse des Hundes Berganza im Kolleg der sevillanischen Jesuiten. Ist sein Eindruck so zwingend, daß wir nicht nur 'volle Konformität von Cervantes, sondern sogar ein unverlierbares Bildungsterlebnis seiner Jugend daraus schließen können? Nicht nur das gottgefällige 'Treiben des Ordens, auch die damals gewiß modernen Prinzipien der jesuitischen Pädagogik werden gerühmt. Aber mit diesem Lobspruch hat es noch nicht sein Bewenden. Das Gespräch der beiden redebegabten Hunde über ihr Erlebmis im Jesuitenkolleg wird nach einer kleinen Digression wieder aufgenommen. Diesmal aber hat sich der Ton entschieden geändert. Hund Cipion hält sich über diejenigen auf, die vorzüglich Lateinisch können und „im Gespräch imit einem Schuster oder Schneider ihr Latein wie Wasser aus einer Gießkanne regnen lassen". Diese Anspielung ist unmißverständlich. Einen Beweis aber Liefert die Lektüre eines 1598 erschienenen, aus dem Kreise der jesuitischen Präzeptoren Sevillas hervorgegangenen Buches von einem gewissen Melchor de l a Cerda, „Apparatus latini sermonis . . . " Was Hund Cipion verurteilt, wird hier zum pädagogischen Anliegen gemacht. Als Beispiel kann die in perlender Latinität vorgetragene Schilderung einer Schneiderwerkstatt und der Tätigkeit eines Schusters gelten, die mit allen Einzelheiten der Materialverarbeitung vertraut macht. Der Einwand gegen den jesuitischen Sprachbetrieb zielte natürlich letzten Endes auf die völlige Verdrängung der Muttersprache, deren Pflege in Cervantes' Pädagogik und Menschenführung eine so hervorragende Rolle spielte. Die Glosse Cipions traf zugleich den widerhumanistischen Mißbrauch der klassischen Sprache. Er konnte in der Tat nicht weiter getrieben werden als durch die Loslösung der alten Sprache von den mit ihr gegebenen Bildungswerten, durch ihre Herabwürdigung zum bloßen Vehikel für die Aneignung geistiger Fertigkeiten. Obwohl selbst ein höchstens mittelmäßiger Philologe, blieb Cervantes doch der humanistischen Welt verhaftet. Die Jesuiten, deren geschichtsfremder, vorurteilsfreier, ehrfurchtsloser Umgang mit allem klassischen Traditionsgut erschreckte, prägten den jüngeren Typus der spanischen Prosa in Spanien, Quevedo und Gracian. Ihr verwegener, „konzeptistischer" Stil war zweifellos durch die sichere, souveräne Handhabung der lateinischen Periodik vorbereitet worden. Nichts lag Cervantes ferner als diese Willkür einer überschwellenden sprachlichen Formkraft. Seine Sprachkunst wurzelt zutiefst in der gesprochenen, gebräuchlichen Sprache, Echo der vielschichtigen sprachlichen Wirklichkeit, in die seine Helden mit ihren verschiedenen Aspekten verwickelt werden.

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VI. Schüler des Erasmismus in Madrid? Es ist verbürgt, daß seit dem Ende der 60er Jahre Miguel mit Eltern und Geschwistern in Madrid lebt und ihm hier gewährt wird, was er in Alcalä noch nicht finden konnte: eine gediegene humanistische Ausbildung. Juan Lopez de Hoyos wurde sein Lehrer. Ihm war die Madrider städtische Studienanstalt unterstellt, die der neunzehnjährige Miguel, offenbar nicht ohne Erfolg, besuchte. Der Lehrer, der ihn seinen teuren Schüler nennt, brachte seine ersten spanischen Verse in zwei 1569 und 1572 erschienenen Werken zum Abdruck. Dieser Beitrag soll für die Regsamkeit und für die Fortschritte der Klasse zeugen. Lopez de Hoyos begleitet die Kompositionen seines Lieblingsschülers mit Worten des höchsten Lobes: das sichere Formgefühl, der Zartsinn der Sprache seien besonders zu bewundern. Wir wissen freilich nicht, ob die zeitgenössischen Leser, deren Ohren schon durch die hohe Verskunst Garcilaso de la Vegas verwöhnt waren, diese in Wahrheit recht ungelenken lyrischen Versuche mit ebenso viel Nachsicht zur Kenntnis nahmen. Desto mehr berührt uns das Wohlwollen des Herausgebers für diese anspruchslose Verskunst. Wann hat Cervantes je wieder in seinem schweren Leben ein ermunterndes Wort vernommen? Neuere Biographen glaubten in Juan Lopez de Hoyos nicht nur den Lehrer der Humanität, sondern den Mittler des erasmischen Wissens zu erkennen. Hoyos soll im Herzen seines Lieblingsschülers den Altar für die im geheimen gehütete Flamme gefunden haben. Zwei Fragen fordern zunächst eine Antwort. War Cervantes Erasmist? Ist es gesichert, daß Lopez de Hoyos Anhänger des Erasmus war? Die erste Frage läßt sich keinesfalls verneinen. Nur finden die wirklich erasmischen Züge des Dichters überwiegend in seinen späteren Werken ihren Niederschlag. Sollte er demnach mit seinem angeblich früh erworbenen Besitz jahrzehntelang gegeizt haben, trotz des dem Erasmismus wie allen spiritualen Lehren innewohnenden Zwangs zum Bekenntnis? Für den Erasmismus des Lopez de Hoyos aber soll folgende Stelle in dem schon mehrfach erwähnten „Gespräch zweier Hunde" zeugen: „Ich erinnere mich, beim Studium von dem Präzeptor eine lateinische Redewendung von denen, die man ,adagia' nennt, gehört zu haben: habet bovem in lingua." In den „Adagia" des Erasmus steht nun in der Tat zu lesen: „Qui pecunia corrupti loqui non auderent, bovem in lingua dicebantur habere." Man mag auch annehmen, daß das Zitat wirklich auf einer Kenntnis von Erasmus' „Adagia" beruht oder daß der Topos aus irgendeiner anderen Quelle herrührt - über die Weltanschauung des Präzeptors ist damit noch gar nichts entschieden. Es

VI. Sdiüler des Eraunismus in Madrid?

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bleibt uns noch übrig, die bisher fehlenden Beweise einer erasmischen Grundhaltung in einem Überblick über die Publikationen von Hoyos zu suchen. 1568 erschien von seiner Feder ein „Bericht über das Ableben und die Trauerfeier Seiner Königlichen Hoheit, des Prinzen Don Carlos". Der erste Beitrag von Miguel de Cervantes wurde abgedruckt in einer „Geschichte der Leiden, des glückseligen Übergangs und der feierlichen Bestattung der erlauchtesten Königin von Spanien, Isabel von Valois", verfaßt und herausgegeben von dem Meister Juan Lopez de Hoyos, Madrid 1569, und der Zweite in einem „Epicedium auf das Ableben des Kardinals Diego Espinosa", Madrid 1572. Im selben Jahr erschien noch eine Darstellung des „Königlichen und feierlichen Empfangs, mit dem Madrid die erstmals nach ihrer glücklichen Verehelichung die Stadt besuchende Erlauchteste Königin Dona Ana aufnahm". E s folgt ein „Kurzbericht über den Triumph des Erlauchtesten Don Juan de Austria". In das Jahr 1572 fällt außer der schon erwähnten Leichenrede auf den Kardinal Espinosa, den Protektor der Madrider Studienanstalt, eine lateinisch geschriebene Veröffentlichung des Lopez de Hoyos: eine Schilderung des über die Türken erfochtenen Sieges von Lepanto. Das ist alles, was die Bibliographen von Lopez de Hoyos ermittelt haben. Das Bild ist ziemlich eindeutig: Lopez de Hoyos war ein Gelegenheitsschriftsteller, ein kleines Formtalent, das bei Beerdigungen erster Klasse und anderen offiziellen Gelegenheiten in Erscheinung trat und die Stimme der Madrider Stadtverwaltung poetisch und rhetorisch zu untermalen hatte. Für einen Erasmisten ist dieser (Euvrekatalog allzu dürftig. Für die Erkenntnis der geistigen Gestalt des Cervantes ist offenbar die erasmische Einflußtheorie so unbrauchbar wie die jesuitische. Unbestreitbar ist nur, daß die Lehre des Erasmus für den „Quijote"-Dichter eine wirkliche Bedeutung erlangen sollte.

VII. Der Jünger Garcilaso de la Vegas Cervantes bekennt in seiner autobiographisch so ertragreichen „Reise auf den Parnaß" (Viaje del Parnaso 1614), daß die lyrische Dichtung schon seine große Jugendliebe gewesen war: Seit meiner frühesten Jugend liebte ich Die süße Kunst der vielvertrauten Dichtung. Schon in den frühesten, von Lopez de Hoyos abgedruckten Versen ist das 7on Cervantes zeitlebens verehrte große Vorbild Garcilaso de la Vegas (1501

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bis 1536) zu spüren. Der sdimale Baad von Garcilasos Dichtungen gehört wie Cervantes im „Gläsernen Lizentiaten" feststellt - zur eisernen Ration auf weiten Reisen oder Feldzügen. Noch in seinem letzten Werk, „Los trabajos de Persiles y Sigismunda" (Die Arbeiten des Persiles und der Sigismunda), gedenkt Cervantes auf der Wanderung an den Ufern des Tajo des „niemals gehörig gerühmten" (nunca bien alabado) Dichters. Diese längst zur bloßen Höflichkeitsfloskel verblaßte Wendung erhält hier eine besondere Note. Alle haben zwar Garcilaso geschätzt, aber nur wenige sind in das Geheimnis seiner unvergleichlichen Wirkung eingedrungen. Die Verskunst Garcilasos, die auf der Wanderung am Tajo gerühmt wird, gibt Cervantes den Anlaß, die sozusagen erkenntnistheoretisdie Funktion der Poesie herauszustellen. Persiles, der Sohn des Nordens, kommt zum ersten Male nach Spanien, und der Reiz der Landschaft umstrickt ihn. Aber das wahre Bild dieser traumhaften Szenerie vermittelt ihm nicht die äußere Wahrnehmung, sondern die lyrische Schilderung des großen Poeten. Wörtlich heißt es: „Denn die Lektüre der Bücher vermittelt oft eine zuverlässigere Erfahrung über die Dinge, als sie diejenigen besitzen, die die Dinge von eigener Anschauung kennen; wer nämlich aufmerksam liest, gibt ein- und vielemal acht auf das, was er liest, wer nur schaut, gibt überhaupt nicht acht, weswegen die Lektüre den Vorrang hat vor dem bloßen Augenschein" („Persiles" 111,7). Garcilaso war ein Dichter, der aus der Stille wirkte und den Stillstand der Natur, etwa an einem hochsommerlichen Mittag, in seine Verse zu bannen verstand. Nicht die Hyperbel, sondern die Litotes war die für ihn kennzeichnende sprachliche Haltung. Die Litotes übersteigert nicht; sie preist im Gegenteil die Dinge, indem sie sie durch scheinbare Unterschätzung heraushebt. In Garcilasos 3. Ekloge stehen die Verse: Aplica, pues, un rato los sentidos Al bajo son de mi zampofia ruda, Indigna de llegar a tus oidos, Pues de ornamento y gracia va desnuda Mas a las veces son mejor oidos El puro ingenio y lengua casi muda, Testigos limpios de änima inocente. Que la curiosidad del elocuente . . . Laß deine Sinne einen Augenblick Die Töne meines unverbildeten Gesangs genießen, Unwürdig, dir zu Ohren zu gelangen, Ist er doch ohne Zierat und von Anmut ledig. Indessen wird zuweilen besser aufgenommen Ein lauterer Geist und kaum gehauchte Sprache,

VII. Der Jünger Garcilaso de la Vegas

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Die reinen Zeugen unschuldvoller Seele Als alle Reize der Beredsamkeit... Die „lengua casi muda", die, wörtlich, beinah stumme Zunge, ist das ents.cheidende Stilmerkmal dieses Dichters. Cervantes hat es so verstanden und Lm Briefe an Mateo Vazquez, in „El trato de Argel" (Das Treiben in Algier) die Wendung in seine eigenen Verse aufgenommen: Mi lengua balbuciente y casi muda Pienso mover en la real presencia De adulacion y de mentir desnudo. Mit stammelnder und kaum gehauchter Sprache, Ohne Schmeichelei und ohne Lügenworte Will ich die Gegenwart des Königs rühren. Der letztere, an Garcilaso anklingende Vers findet sich auch in der „Reise auf den Parnaß" wieder. Der Brief an Mateo Vazquez wird eingeleitet durch eine Paraphrase des zweiten Verses von Garcilasos dritter Ekloge: „Si el bajo son de mi zampona ruda . . . " . Nicht nur als Dichter, sondern vor allem in der Verbindung von Dichterberuf und militärischer Laufbahn war Garcilaso de la Vega eine Bestätigung und ein Vorbild für Cervantes. Geradezu programmatisch hat sich Garcilaso, den Sinn seines Lebens ausdeutend, in zwei berühmten Strophen ausgesprochen: Entre las armas del sangriento Marte, Do apenas hay quien su furor contraste, Hurte de tiempo aquesta breve suma, Tomando ora la espada, ora la pluma. Zwischen den Waffen des opfergierigen Mars, Wo kaum ein Mensch den Ingrimm dämpfen kann, Stahl ich vom Zeitmaß diese kurze Summe, Den Degen bald, die Feder bald ergreifend. „Tiempo", Zeit, bedeutet hier mehr als die dem Kriegshandwerk abgerungene poetische Muße. Die Harmonie der Verse ist innere Zeit, die allein dem begnadeten Dichter zuteil wird, der es versteht, den elementarischen Mächten nicht zu widerstehen (Zeile 2). Die miterlebte Entfesselung des Furor, der Triebgewalten, klärt die innere Leidenschaft und gibt ihre einmalige Sageform frei. Garcilaso, der den Schlachtentod erleiden wird, scheint sich schon hier als Todgeweihter zu erkennen: entschlossen, im Ergreifen der Extreme den Grund seines Lebens zu finden. Der Einklang von Leier und Schwert bestand für ihn

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in der Eintracht der äußeren Gegensätze. Cervantes war dieser schnelle Raususch voller lichter Traumgeburten nicht beschieden. Die Erfahrung der soldatischchen Lebensform, bis zur Neige ausgekostet, tritt in die Reflexion der selbstbe*wivußten dichterischen Existenz, und es zeigt sich, daß beide Weisen des Wiirk(kens sich bedingen und unter dasselbe Gesetz gestellt sind. Im „Persiles" geht CCervantes soweit, zu erklären, daß die besten Soldaten aus dem Studierzinnmmer kommen: „Es gibt keine besseren Soldaten als diejenigen, die sich vom F f e l d der Studien auf das Schlachtfeld begeben." Garcilaso hatte somit dem inneren Spanien einen gültigen Ausdruck ge,«geben. E r prägte für Generationen den Stil des dichterischen Menschen, „,EDen Degen bald, die Feder bald ergreifend." Der Typus Garcilaso de la Vegas erneuert sich in Francisco de Aldana (/(gestorben 1578), dessen mystische Naturdichtung von Karl Vossler gedeuutet wurde, und wirkt vergeistigt und ätherisiert in der Erscheinung des juragvverstorbenen Bukolikers Carrillo y Sotomayor (1583-1610). Ein Zeitgenoss« w o n Cervantes, Micer Artieda, Soldat und Dichter, gibt sich in einem Sonett zu ι erkennen. Als Diener der Minerva führt er Feder und Schwert. Die Göttin ggab ihm einigen Ruhm unter „gente armigera y discreta", Waffen- und Bildunngsträgern, Ruhm, der mit dem Verzicht auf Glück, der Mißgunst von Venus uund Juno erkauft wird. Cervantes, Veteran der Seeschlacht von Lepanto, hat cdas Motiv von Leier und Schwert wiederholt anklingen lassen, zuletzt in der „Reeise auf den Parnaß". Cervantes wird auf diesem Parnaß von Merkur ehrenwoll empfangen: Wohl weiß ich, daß in harten Seegefechten Du die Bewegung deiner linken Hand Verloren hast - zum Ruhme war's der Rechten. Die Konkurrenz von Leier und Schwert, der Wettstreit zwischen Wafffen und Wissenschaft hatte im sechzehnten Jahrhundert eine ganze Literatur mach sich gezogen. Der Streit wird in Dialogform ausgetragen, für welche die nnittelalterlichen und mittellateinischen Vorbilder nicht fehlen. In „El pensamie:nto de Cervantes" trägt Americo Castro eine Reihe von weiteren italienischen Streitgesprächen des sechzehnten Jahrhunderts zusammen; zu dieser Liste rmuß aber ein wegen seiner zeitlichen Nähe zur Konzeptionszeit des ersten Teiles von „Don Quijote" und auch wegen seiner gewichtigen Argumentation beachtenswerter Dialog hinzugefügt werden. 1582 veröffentlichte der Kantor der Kathedrale von Plasencia, ein gewisser Francisco Miranda Villafane, unter dem Titel „Diälogos de la fantästica filosofia" eine Sammlung von Dialogen, von denen einer unsere Streitfrage behandelt. Die Waffen müssen sich zunächst des

VII. Der Jünger Garcilaso de Ia Vegas

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Voorurteils erwehren, daß ihr Verhältnis zum Wissen dem von Körper und Geeist gleichzusetzen sei. Unter den Waffen darf man nicht das Schwert, die Laanze, den Panzer, das Pferd und andere Werkzeuge verstehen, sondern den Geeist, der die Tapferen an den Rand des Todes führt, „um auszutilgen die Geewalt der Ungerechten und Böswilligen, der Räuber fremden Gutes, um Reccht und Vernunft zu schützen, die durch die heiligen Gesetze verbürgt sind, dasis Vaterland, die Stammesbrüder, die Religion, die Keuschheit der Frauen unad Mädchen, um die müden Greise und die ängstlichen Kinder sicherzustellern". Der Krieg gilt den Friedensbrechern - und das eben ist Don Quijotes gannzes Programm! IDem „intellektuellen" Vorurteil entgegnet Don Quijote gleich seinem vermuuteten Vorbild: das Waffenhandwerk wird wie die Wissenschaft mit Geist bettrieben; nur ist es ein Geist von besonderer Art, und es fragt sich eben, weLlcher Geist zum Gedeihen der Menschheit mehr beiträgt. Das Wissen berufit sich - im Dialog Miranda Villafanes - auf seine höchste Aufgabe, durch denn Weg der Kontemplation Gott ähnlich zu werden, wohingegen die W a f f e m die Menschheit in einen naturwidrigen und untertierischen Zustand stürzenn (denn kein Tier befehdet seine eigene Gattung). Die Waffen erwidern darrauf, daß bloße Theorie immer fruchtlos bleibe; stets sei die Ordnung in derr Welt vermittels der Macht begründet worden und diese Herrschaft gottgewollt. Die Macht steht so hoch über dem Wissen wie das Werk über der Lehhre, das Handeln über dem Reden, die Tat über dem Rat. Und wenn das Wiassen behauptet, die Waffen müßten, um ihr Ziel zu erreichen, bei ihm in die: Schule gehen, so steht es doch fest, daß die Größe der Kriegsherren in derr Schule der Taten errungen wurde, deren Ruhm bis ans Ende der Welt dauuere. Nun weiß sich aber gerade das Wissen als Hüterin dieses Ruhmes. Wais wüßte man ohne Livius, Plutarch, Vergil oder Homer von den Taten der myfthischen und geschichtlichen Helden? Der Ruhm wirkt durch sich selbst erwvidern die Waffen - und seine Herolde sind nur ein Echo seiner Geltung, unfreiwillige Zeugen der Überlegenheit der Waffen. Der letzte Trumpf des Wisssens ist schließlich die Feststellung, daß im Glücksreich, in der goldenen Zeiit, gewiß kein Waffenlärm zu vernehmen sei. Aber die Waffen parieren diesses Argument mit der Vermutung, daß dieses Glücksreich sicher nicht vom Gejzänk der Rhetoriker, der Grammatiker, der Dialektiker und Repräsentantten der „schlecht beratenen scholastischen Philosophie" widerhallen wird. ÄVIiranda Villafane läßt die Entscheidung des Wettstreites offen. Wenn er dem Waffen vielleicht doch die stärkeren Gründe leiht, so kam es ihm darauf an, nicht das Wissen, wohl aber den längst überholten traditionellen Wissenschiaftsbetrieb zu treffen.

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In seiner berühmten Rede über die Waffen und über die Wissenschaft schildert Don Quijote die unbelohnte und unversorgte Existenz des Soldaten, dessen Teil die Armut sei, während durch das Wissen der Weg zu Ehren und zu Reichtum offenstehe. Das Streitgespräch bedient sich in seinem Fortgang der üblichen Argumente, wie sie Miranda Villafane vorbrachte. Indessen ist der Vorrang der Waffen für Don Quijotes Tatprogramm ein lebenswichtiger Artikel. Nur läßt er, eingedenk seines Berufes, allein die konventionellen Waffen der fahrenden Ritter gelten, nicht aber die modernen Vernichtungswaffen der Artillerie, an denen aller Mut und persönliche Tapferkeit zuschanden wird.

V n i . Ausbruch Was mochte den dreiundzwanzigjährigen Cervantes bewogen haben, sein Glück in Italien zu suchen? War seine überstürzte Abreise Flucht? Es gibt einen Strafbefehl in einer Duellsache gegen ein Subjekt mit Namen „Miguel de Zerbantes". Dieser war möglicherweise „nicht identisch" mit dem Primus des Lopez de Hoyos. Immerhin gibt der amerikanische Hispanist R. Schevill gute Gründe dafür an, daß die Einschiffung tatsächlich mit der mysteriösen Affäre zusammenhing. Ob gezwungen oder nicht, Cervantes machte es wie viele Menschen seiner Zeit. Die Begierde, die Welt kennenzulernen, verlockte ihn wie seine späteren Helden, den gläsernen Lizentiaten und selbst Don Quijote, der neben vielem anderen vor allem ein leidenschaftlicher Tourist war. Im Jahre 1570 findet man den jungen Abenteurer am päpstlichen Hofe im Dienste des Kardinals Acquaviva. Lange hielt es ihn in diesem Dienstverhältnis nicht. Der Soldatenberuf lockte. Worin diese Lockung bestand, gibt Cervantes in der Begegnung Don Quijotes mit einem jungen Rekruten zu erkennen. Der Soldatenberuf läßt die Freiheit und Würde der Person unangetastet - die Disziplin war lockerer als in den stehenden Heeren der modernen Zeit - und gibt dem höchsten Abenteuer Raum, sich selbst zu erfahren und im Besitze unvermuteter Kräfte zu überraschen. Miguel de Cervantes und sein jüngerer Bruder Rodrigo ließen sich als Matrosen anwerben und nahmen an dem glänzenden Seesieg teil, den Don Juan de Austria, der Halbbruder des Königs Philipp, bei Lepanto erfocht. Das war 1571. Cervantes wurde schwer verwundet; eine Kugel zerschmetterte ihm die Linke, die gelähmt blieb. Im Lazarett in Italien hat der Verletzte möglicherweise Gelegenheit zu

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ausgedehnter Lektüre gefunden, wie schon vorher im Hause des Kardinals. Bezeugt ist darüber nichts, obgleich man in der Forschung häufig lesen kann, Cervantes habe während dieser vom Schicksal ihm auferlegten Muße die Lücken eines ungeregelten Bildungsganges geschlossen. E s fällt indessen auf, daß die gleich nach der Gefangenschaft entstandenen Stücke keine derartigen Lesespuren erkennen lassen; sie finden sich erst 1585 in der zwei Jahre nach der Rückkehr entstandenen „Galatea". Italienische Bücher las man in Spanien wie in Italien. Im übrigen ist Cervantes gewiß durch Italien aufs tiefste beeindruckt worden. Zwei Jahre vor seinem Tode sucht er noch eine Gelegenheit, um das Gelobte Land seiner Jugend wiederzusehen. Er träumt - in der „Reise auf den Parnaß" - von einer Begegnung in Neapel mit einem jungen Menschen, vielleicht einem Sohn, den er dort gelassen hatte. Die vignettenartigen Aufrisse im „Gläsernen Lizentiaten" und in der „Senora Cornelia" enthüllen eine nicht geträumte, sondern mit allen Sinnen erlebte Landschaft. Die Wiederkehr jener Vergangenheit mochte Cervantes doppelt verheißungsvoll erscheinen, als er an die Ausführung von „Persiles und Sigismunda" ging und die Verklärung dieses dulderischen Paares durch eine Wallfahrt nach Rom anbahnte.

IX. Kriegsgefangenschaft Nach Heilung seiner Wunden nahm Cervantes trotz dauernder Behinderung durch die zerschossene Hand an einer neuen Expedition nach Tunis teil. 1575 schiffte er sich zusammen mit seinem Bruder Rodrigo, ausgestattet mit einem persönlichen Empfehlungsschreiben des Oberfeldherrn, nach Spanien ein, um die Stelle eines Hauptmanns zu erlangen. Das Schiff wurde aber auf der Höhe von Marseille überfallen und die Passagiere nach Algerien in die Gefangenschaft verschleppt. Das persönliche Handschreiben Don Juans de Austria, das Cervantes bei sich trug, machte auf die Mauren tiefen Eindruck. Der Prinz wurde von seinen Feinden als Inbegriff spanischer Weltgeltung geachtet, während er am Hofe König Philipps ungefähr der bestgehaßte Mann war. Jedenfalls wurde Cervantes für eine wichtige Persönlichkeit gehalten, auf deren Freigabe man eine ziemlich hohe Summe setzen konnte. Die übertriebene Einschätzung sicherte ihn vor den schlimmsten Mißhandlungen; aber die Befreiung mußte den finanziellen Ruin der Familie besiegeln. In Algerien gab es außer dem Korsarenhandwerk keinen nennenswerten Erwerbszweig. Die meisten Seemächte hatten regelrechte Verträge geschlossen und durch regelmäßige Geldleistungen die Freiheit ihrer Schiffahrt ge-

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sichert. Die spanische Regierung konnte sich zu einem solchen Schritt nicht verstehen, der die faktische Anerkennung eines völkerrechtswidrigen Zustandes gewesen wäre. Die Korsaren holten sich ihren Tribut aus Spanien mit Gewalt und organisierten einen Menschenhandel, von dem Cervantes in dem „Trato de Argel" ein grauenerregendes Bild entwerfen wird. Die Gefangenen sind (mit großem Risiko erworbene) Waren, deren Arbeitskraft bis zum letzten ausgenutzt wird oder die als Gegenwert eines in Aussicht stehenden Lösegeldes sich auf eigene Kosten zu erhalten haben. Wer nicht durch Namen oder Rang, durch sein Auftreten oder eine Empfehlung die Gewähr gab, daß er freigekauft würde, wurde in die ewige Sklaverei nach Konstantinopel abgeschoben. Besonders gesucht waren gelernte Handwerker, und kaum ein Lösegeld reichte hin, wie Cervantes in einer Szene der „Bafios de Argel" (Die Bagnos von Algier) bemerkt, um ihre begehrtere Arbeitskraft zu kompensieren. Im übrigen dachte die spanische Regierung nicht daran und war auch schwerlich dazu in der Lage, ihre Ehrenschuld gegenüber diesen Unglücklichen einzulösen. Sie blieben vielmehr so lange in Haft, bis sie aus eigenem Vermögen oder mit Unterstützung karitativer Verbände die verlangte Summe flüssig machen konnten. Cervantes wurde auf Grund des bei ihm gefundenen Schreibens wie ein Offizier behandelt und von entehrenden Zwangsarbeiten befreit. Aber eben darum mußte er sich aus eigener Tasche verpflegen und zu diesem Zweck bei christlichen Kaufleuten Schulden machen. Ein Mitgefangener bezeugte unter anderem: „der besagte Miguel de Cervantes blieb über 1000 Reales schuldig, die ihm christliche Kaufleute, welche nach Algier kamen, geborgt hatten; denn der Maure, der ihn gefangen hielt, gab ihm in der ganzen Zeit seiner Gefangenschaft nichts zu essen". Die Geschehnisse in der fünfjährigen Gefangenschaft sind durch zahlreiche Dokumente und über fast alle Werke zerstreute Selbstzeugnisse bekannt. Die wichtigsten Nachrichten aber findet man in einer 1604 vollendeten, 1612 erschienenen Geschichte Algeriens von Pater Diego de Haedo, „Topografia e historia general de Argel". „Über die Gefangenschaft und die Taten des Miguel de Cervantes", heißt es in diesem Buch, „könnte man wohl ein Geschichtswerk für sich schreiben." Cervantes hat nicht nur zahlreichen Leidensgenossen bei Fluchtversuchen geholfen, sondern einen allgemeinen Aufstand der 25000 Kriegsgefangenen organisiert. Der Bey erklärte, Haedo zufolge, wenn nur der „estropeado espanol", der verkrüppelte Spanier, gehörig bewacht werde, hätte er vor allen anderen keine Angst. Wunderbarerweise achtete man seine Person, obwohl er, mehrerer Fluchtversuche überführt, die volle Verantwortung für die Mitgefangenen auf sich nahm.

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Diese fast epische Vorgeschichte eines Dichterlebens legt die Frage nahe, o>b kein literarisches Zeugnis aus dieser bewegten Zeit existiert. Im Jahre 1 8 6 3 wurde in einer spanischen Zeitung, „ L a fipoca", auf Grund eines archivalischen Fundes eine Versepistel in Terzinen veröffentlicht, die Cervantes aus sieiner Gefangenschaft an den Staatssekretär Mateo Vazquez gerichtet haben sioll. Die Komposition wurde dann in den Werken wieder abgedruckt, aber niemand hatte die Handschrift gesehen. Der Adressat war in Algier in der Kriegsgefangenschaft geboren und dann, durch verschiedene Protektionen begünstigt, nach einer glänzenden Laufbahn in die höchsten Ränge der spanischen Außenpolitik aufgerückt. Mit 31 Jahren ist er Minister und mächtiger Gegenspieler des berühmten Antonio Perez, dessen Politik den Sturz Don Juans de Austria herbeiführte. E s wäre begreiflich, daß Cervantes einen glücklicheren Leidensgefährten zum Fürsprecher erwählte, zumal dieser zugleich die Partei seines Feldherrn stützte. Diese Erwägung kann freilich ebensowohl ein literaturkundiger Fälscher angestellt haben. D a s Gedicht beginnt mit der schon erwähnten Reminiszenz an einen Garcilasovers. Sehr geschickt und leise ironisch wird dann auf die schnelle Laufbahn des Empfängers angespielt. Neid erfülle den Autor, wenn er den fabelhaften Aufstieg eines Menschen betrachte, der eine gestern noch unverstandene Materie meistert. Aber die neidische Anwandlung hat unrecht, denn nicht Fortuna, sondern nur Virtud - Tugend - hat den unbekannten Knaben zum Günstling Philipps erhoben. Und es zeige sich, daß „virtud", wie Cervantes mit feinen Schmeichelworten einfließen läßt, zur „suave felicidad", das heißt zu dem unfehlbaren Ergebnis des wohlverdienten Aufstiegs führen mußte. Dann erzählt der Episteldichter von den selbst durchgestandenen Leiden der Gefangenschaft, die sich für den Minister durch Glück und durch Verdienst in so erfreulicher Weise verkürzten. Darum bittet Cervantes, jener möge ihm, wenn auch für ihn einmal die Stunde der Befreiung schlage, den Weg zum König ebnen, damit sein großer Plan an allerhöster Stelle vernommen werde. In textgetreuer Wiedergabe der in Cervantes' Komödie „Trato de A r g e l " (1585) enthaltenen Verse schließt sich an den fraglichen Rahmen das also gesicherte und authentische Kernstück mit der Beschreibung der von Cervantes begehrten Audienz bei Philipp II. Der Glaube an die Urkraft des spanischen Volkes und an die organische Schwäche der Feindwelt sind die großen Argumente, mit denen der Dichter seinen Appell an den König begründet. Mit einem Blick streift er die von Bergen umsäumte Küste des türkischen Protektorats und gedenkt des großen Karls (Karls V.), der seine Fahnen hier aufgepflanzt hatte und mit seiner Flotte 1540 gegen Algier gesteuert war. Dem Fehlschlag der kaiserlichen Unternehmung folgte

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die systematische Preisgabe durch Philipp II., der den Sieg von Lepanto nicht ausnutzte, sondern nur nodi das Gebiet von Oran nach Westen hin behauptete. Cervantes fordert darum den König auf, das Werk seines Vaters fortzusetzen. Die Zustände in den Sklavenprovinzen bringen einem christlichen König Schande. Der Feind ist leicht verwundbar: Sie sind wohl reich an Zahl - an Mitteln arm, Entblößt, schlecht ausgerüstet, sie entbehren Zu ihrem Schutz der Mauern und der Felsen, Und jeder lugt, ob deine Flotte kommt, Um seinen Füßen schnell die Last und Sorge Des Lebens, das sie tragen, zu vertrauen. Zu jener Zwingburg, wo in bitterer Haft Zu Tode schmachten fünfzehntausend Christen, Hast du den Schlüssel!... Die Feinde haben weder Macht noch Hinterland; ihre Zahl zählt nicht. Es bedarf nur eines mutigen Entschlusses, und der Sieg ist sicher I „Du hast den Schlüssel dazu." Auffallend ist, daß Cervantes von den Unternehmungen Karls V. spricht und den Namen verschweigt, der ihm natürlich auf der Zunge lag: Don Juan de Austria. In der Erzählung des Kriegsgefangenen („Don Quijote" I, 39) und an anderen Stellen bleibt der große Feldherr nie unerwähnt - ja, Cervantes will nach der „Numancia" ein eigenes Stück zur Aufführung gebracht haben: „La batalla naval" - „Die Seeschlacht von Lepanto". Die Verschweigung des den König peinlich berührenden Namens im „Trato de Argel" ist ohne Frage ein Stück Politik 1 Cervantes wollte nicht Anstoß erregen, um den König mit umsomehr Nachdruck auf die Erbschaft seines Vaters zu verpflichten. Dennoch wird in dem Stück auf eine mittelbare, fast hämische Weise die Figur des Prinzen beschworen. Maurische Gassenbuben verhöhnen nämlich in ihrer arabisch-fränkischen Mischsprache die Gefangenen: „Don Juan no venir - acä morir!" (Don Juan nicht mehr kommen - drüben gestorben I). Als die Nachricht vom Tode Don Juans sich unter den Gefangenen verbreitet, heißt es: „Nicht verdiente ihn die Welt zu haben." Die plötzliche Abberufung wird wie ein Gottesgericht empfunden; doch fügt das erste Stüde den frommen Wunsch hinzu, der Bruder Philipp möge in die Rolle des Verstorbenen eintreten, sobald er seine undankbare Aufgabe beendet habe, in Flandern die Ketzer zu vertilgen. In den „Banos de Argel" kehrt die ganze Szene wieder. Doch diesmal gibt

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«ein burlesker Küster den maurischen Kindern eine seltsame Erklärung für (das Ausbleiben des vielgefürchteten Feldherrn: Escuchadme, perritos, Venid, tus, tus, oidme, Que os quiero dar la causa Porque Don Juan no viene; estadme atentos: Sin duda que en el cielo Debia de haber gran guerra, Do el general faltaba Y a Don Juan se llevaba para serlo. Dejadle que concluya Y vereis como vuelve Y os pone como nuevos. Hört mir zu, ihr Hündchen, Kommt, ts, ts, paßt auf! Ich will euch genau erzählen, Warum Don Juan nicht kommt. Gebt acht: Ohne Zweifel muß im Himmel Großer Krieg entstanden sein, Und es tat ein Feldherr not. Und Don Juan entführte man zu diesem Zweck. Laßt ihn dort nur fertig werden Und ihr sollt ihn Wiedersehen, Und die Köpfe setzt er euch zurecht 1 „Ein netter Unsinn", bemerkt der christliche Begleiter des Küsters, und die lustige Schar der Gassenjungen zerstiebt. Die Stelle ist, dem unverbindlichen Graciosogerede zum Trotz, außerordentlich vieldeutig und beziehungsreich. Was war das für ein Götterkrieg? Die Fehde in der dynastischen Familie oder der nie verstummte Verdacht, daß Don Juan etwas gewaltsam in den Himmel befördert wurde? Wie dem auch sei, die „Banos de Argel" sind nach dem ersten Stück entstanden, jedenfalls lange nach der Befreiung aus der Gefangenschaft und dem Zusammenbruch seiner Illusionen. Die Furcht vor einer Wiederkunft der schon legendären Gestalt lag wie ein Alpdruck auf der algerischen Küstenzone; sie ruft im dritten Akt desselben Stückes eine allgemeine Panik hervor. Die Christen sind eben im Begriff, eine Theateraufführung zu geben, wozu auch ein Muslim eingeladen wurde. Das Spiel wird jäh unterbrochen. Eine spanische Flotte ist im Anzug. Die

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türkische Soldateska beginnt ein Blutbad unter den Gefangenen, um sich vor Angriffen im Rücken zu sichern. Aber es stellt sich bald heraus, daß der ganze Schrecken die Folge einer Luftspiegelung war. Die Strahlen der Sonne haben das Bild der gefürchteten Armada mit ihren Segeln und Rudern auf die Wolken gespiegelt. Einige sahen sogar die Silhouetten der Galeoten, ein anderer auf einer Fahne die Figur des „toten Propheten". Man wähnte überdies, Kanonenschüsse zu hören, und dachte sogleich an eine Rückkehr des sagenhaften Prinzen. Der algerische König kommentiert den seltsamen Vorgang: solche Phänomene würden von den Christen als Wunder aufgefaßt; die Luftspiegelung sei eine durchaus natürliche Erscheinung; aber daß der Zufall eine komplette Armada an den Himmel male, sei ihm denn doch noch nicht vorgekommen. Des Rätsels Lösung hatte schon vorher der Wächter in seinem ersten Bericht gegeben: „tal fue el miedo que tuvieron" (So groß war ihre Furcht gewesen!). Die Gefangenschaft hatte fünf Jahre gedauert. Nachdem die Familie zuerst den weniger kostspieligen Rodrigo ausgelöst hatte, wurde 1580 auch Miguel durch die Vermittlung eines Trinitarierbruders freigekauft. Trinitarier nannte sich ein karitativer, mit der Gefangenenbefreiung betrauter Orden, der die von den Familien aufgebrachten Gelder ihrer Bestimmung zuführte, wo es not tat, durch Vermittlung und Gewährung von Vorschüssen ergänzte und die Rückschiffung der Befreiten in die Hand nahm. Die Mutter, Dona Leonor, hat, wie uns die Dokumente im einzelnen verraten, die verschiedenen finanziellen Operationen getätigt und glücklich alle Schwierigkeiten überwunden. Das gesamte Vermögen der Eltern Miguels und Rodrigos, dazu die Mitgift der beiden Töchter, mußte hingegeben, Grundstücke mußten veräußert werden. Im Gefolge des Staatsbankrottes von 1577 war eine allgemeine Zahlungssperre verhängt worden, so daß man das flüssig gemachte Geld wieder in Waren anlegen mußte und für ihre Ausfuhr nach Algerien einer besonderen Lizenz der Regierung bedurfte. Dona Leonor nannte sich in dem Gesuch wahrheitswidrig Witwe, vermutlich, um an das Mitleid der Behörde zu rühren. Die Lizenz wurde erteilt. Cervantes mußte über den aufgebrachten Betrag hinaus den Kredit christlicher Kaufleute in Anspruch nehmen und sich die Restsumme von dem Orden selbst vorschießen lassen. Übrigens wollten die Trinitarier in erster Linie einen Gefangenen von hohem Adel, Don Juan de Palafox, loskaufen. Der geforderte Preis war aber zu hoch, und so begnügte man sich damit, den „Miguel de Cervantes, gebürtig aus Alcalä de Henares", heimzuholen. Palafox wurde darauf nach Konstantinopel abtransportiert, ein Schicksal, das Cervantes unmittelbar bedroht hatte.

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Im „Don Quijote" (I, 40) stellt Cervantes einmal fest, daß die Gefangenen von hohem Rang häufig ihren Leidensgefährten versprachen, sie nach ihrer eigenen Befreiung loszukaufen. „Sind sie aber einmal frei, so entschwinden ihnen alle Verpflichtungen der Welt aus dem Gedächtnis." Cervantes hätte sich selbst aufgegeben, wenn er die Pflicht verleugnet hätte, die aus der Solidarität mit den Leidensgefährten erwuchs. Zwar besaß er - nach seiner Rückkehr - nichts als Schulden und sah sich seiner besten Jugendjahre beraubt, mittellos und ohne Protektionen vor ein neues und ungewisses Leben gestellt. E r glaubte aber, mit seinem zündenden Plan die Regierung für die Erwerbung der ganzen Sklavenprovinz zu gewinnen und dabei selbst, seinen Erfahrungen und Fähigkeiten entsprechend, zum Einsatz zu kommen. Haedo hat seine Qualifikation für diesen Auftrag bezeugt: „Und wenn seine Entschlossenheit, sein Unternehmungsgeist und sein Planen Glück gehabt hätte, so wäre am heutigen Tage Algier eine christliche Stadt - denn nicht geringer war das Ziel seines Strebens." In Valencia betrat Cervantes spanischen Boden. Wahrscheinlich ist er dann dem König, der eben im Begriff war, Portugal zu erobern, nachgereist. Ob er an diesem neuen Feldzuge teilnahm, ist ungewiß. Im Mai 1581 jedenfalls schiffte er sich in besonderer Mission nach Oran, dem Hauptort des spanisch verbliebenen Nordwestafrika, ein. Man kann sich jene Mission als das Ergebnis seines Besuchs im königlichen Hauptquartier denken, man mag sich die romaneske Idee einer Zwiesprache zwischen Philipp und Cervantes nach Belieben ausmalen. Der Plan des ehemaligen Kriegsgefangenen gründete auf einer sehr genauen Kenntnis der strategischen Schwäche und Verwundbarkeit der Küstenreiche. Er hätte eine Umgruppierung der spanischen Energien in Fortführung der politischen Konzeption Karls V. und im Sinne einer Mittelmeerpolitik verlangt - der einzige Weg in der Tat, so dünkt es uns heute nach dem Urteil der Geschichte, zu einer dauernden Konsolidierung der spanischen Großmachtstellung. Aber ein solcher Gedanke ward zur Utopie, nachdem die Zwangsläufigkeit des flandrischen Krieges ihr Recht forderte und alle Hilfsmittel des Staates in Anspruch nahm. Im übrigen kann man sich denken, daß die bloße Empfehlung eines unbekannten Soldaten bei Philipp II. kein Wunder wirkte. Don Juan de Austria, Cervantes' einziger Beschützer, war - wie gesagt - in Flandern auf ungeklärte Art, aber sicher nicht zum Leidwesen des Königs, verstorben. Es ist eine durchaus charakteristische Haltung der Regierung Philipps, daß man den lästigen Ratgeber freundlich anhörte und sein Projekt durch eine halbe Maßregel begrub.

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X. Feindwelt Nach der Kommission in Oran (wobei Cervantes 100 Dukaten auf den Weg bekam) ist seine militärisdi-politiscfae Laufbahn für immer abgeschlossen. Einen Rückblick auf die Abenteuer, die Cervantes in der Gefangenschaft widerfuhren, erlaubt seine erste Komödie „El trato de Argel". Sie wirkt fast wie ein Tendenzstück für eine Befreiungsaktion in Algerien. Es sind lote Szenen, die in aufreizender Weise die den gefangenen Christen drohenden Gefahren dem Publikum vor Augen führen. Später hat Cervantes denselben Stoff in einer bühnengerechteren und strafferen Form bearbeitet („Los banos de Argel"). Es kommt zu den üblichen erotischen Überkreuzungen, und dieses Komödienschema liegt audi der Gefangenenerzählung im „Don Quijote" (I, 39-41) zugrunde. Szenen von unerhörter Grausamkeit entrollen sich in diesen algerischen Schauspielen. Man sieht Kriegsgefangene, denen eben die Ohren abgeschnitten wurden, mit blutdurchtränkten Verbänden herumlaufen. In „Los banos de Argel" (Die Bagnos von Algier) steigern sich diese Greuel unter dem Einfluß der „comedia a lo divino", der Heiligenkomödie, zum Martyrium. Im ersten Stück scheint alles darauf angelegt, dem Zuschauer die Gefährdung des Christentums vor Augen zu führen. Auf offener Szene wird eine spanische Familie feilgeboten, meistbietend versteigert und dann unbarmherzig auseinandergerissen: Vater, Mutter und zwei kleine Söhne. Im folgenden wird gezeigt, wie leicht ein Christ abtrünnig werden kann, der nicht fest im Glauben steht. Eines der Kinder läßt sich nämlich durch Drohungen, prachtvolle Kleider und abscheuliche Verführungskünste zum Übertritt bewegen. Nach seiner Bekehrung begegnet es seinem Bruder, der im Glauben treu geblieben ist. Ängstlich sieht sich der jungbekehrte Muslim um: „Leb wohl denn! 's ist große Sünde, mit Christen so lang zu reden!" Immer wieder erhebt der Dichter die Forderung, daß die Regierung wenigstens für den Loskauf der Unmündigen das Geld aufbringen müsse. E r schildert die Gefahren, denen auch durchschnittlich starke Naturen erliegen müssen. Nicht nur in der erträumten Aussprache mit Philipp II. tritt Cervantes selbst vor die Rampe, sondern auch in einem Auftritt mit einem Renegaten. Dieser entschließt sich, um allen Beschwerden ein Ende zu machen, Namensmuslim zu werden, im stillen aber an Christus festzuhalten und seine Befreiung vorzubereiten. Cervantes verweist ihn auf das Evangelistenwort, nach welchem eine Todsünde auch mit der Wohlfahrt des Universums nicht aufgewogen werden könne. Der Renegat macht geltend, daß es auf die Gesinnung und nicht auf das Lippenbekenntnis ankomme: „denn das Herz allein

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will Er vom Menschen". So wird es deutlich, daß die Integrität im Glauben, das Bekenntnis, von den Gefangenen nur gefordert werden kann, wenn die spanische Nation mit derselben Unbedingtheit ihre Pflicht erfüllt. Cervantes hat in dem „Trato" noch nicht sein ganzes in Algier um den Menschen erworbenes Wissen ausgestellt. Der Märtyrer und der Apostat treten erst in den „Banos" in Erscheinung. Der spanische Märtyrer wird in wahren Retabloszenen mit allem Verismus zur Schau gestellt. Umgekehrt tritt in dem Renegaten die negative Konsequenz des spanischen Charakters hervor, der bis zum Naturfrevel geht. Ein Renegat unternimmt als Führer eines Korsarenschiffes einen erfolgreichen Uberfall auf sein ehemaliges Heimatdorf und bringt eine reiche Beute, darunter seine eigenen Verwandten, in die Sklaverei zurück. Darüber stellt ihn ein anderer, im Herzen Christ gebliebener Renegat zur Rede: Dejo aparte que no tengas Ley con quien tu alma avengas, Ni la gracia ni escrita Ni en iglesia ni en mezquita A encomendarte a Dios vengas. Ich will davon schweigen, daß du kein Gesetz hast, auf das du deine Seele abstimmst, weder die Gnade noch ein geschriebenes, daß du weder in der Kirche noch in der Moschee deine Seele Gott empfiehlst. Zunächst verblüfft die Zuerkennung der Gesetzeswürde an den Islam. Der Infant Don Juan Manuel, der aufgeklärteste Geist eines in Glaubenssachen vergleichsweise toleranteren Zeitalters (des vierzehnten Jahrhunderts), hatte die christliche Meinung über diesen Punkt bündig ausgesprochen: „No es ley, mas es secta errada" - „Der Islam ist nicht Gesetz, sondern eine irrende Sekte" („Libro de los Estados" I, 30). Cervantes wollte aber nicht in einer Parenthese einen Aphorismus wagen - der seltsame Dialog kreist um den Zustand der spanischen „fiereza", der entfesselten Gewaltsamkeit und Leidenschaft, die sich über jede Bindung hinwegsetzt. Die Mißachtung aller möglichen Formen des Glaubens ist das Symptom der Entmenschung, des verletzten Naturrechts. Heiden und Christen tragen dieses Gesetz in der Brust. Der Vorwurf gegen den verräterischen Renegaten verdichtet sich in den folgenden Versen:

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Con todo, de tu fiereza No pudiera imaginar Cosa de tanta fiereza Como es venirte a faltar La ley de naturaleza. Bei all dem, von deiner Wildheit Konnte ich mir nicht erwarten Ein so tolles Unterfangen, D a ß du nun auch dich verfehltest Gegen das Naturgesetz. Dies ist der entscheidende Gesichtspunkt. Der angegriffene Renegat hört sofort heraus: j Sin duda eres cristiano! Ohne Zweifel bist du Christ! Und die Antwort: Bien dices, y aquesta mano Confirmarä lo que has dicho, Poniendo eterno entredicho Α tu proceder tirano. Richtig! Und mit dieser Hand Wird sich, was du sagst, erfüllen Und ein ewiges Verbot Dein tyrannisches Handeln treffen. (Er ersticht ihn.) Der Bruch des Naturrechts ist die Tyrannei, die das Leben des Menschen entmenschlicht. Nicht aus religiösem Fanatismus erfolgt diese Tötung, sondern aus Notwehr der in ihren Grundlagen bedrohten Menschheit. Das Christentum ist der höchste Garant des Naturrechts. Nicht nur die jesuitische, mit dem Namen Marianas verknüpfte Lehre vom Tyrannenmord, sondern auch die staatsrechtliche Legitimierung des kolonialen Imperialismus gründet auf dem naturrechtlichen Anspruch, den die christlichen Spanier gegenüber einem in mannigfache Naturfrevel verstrickten Volk (wie den Indianern) zu vertreten haben. Mit dem Christentum ist das Gesetz erfüllt und gelöst. Die Freiheit, die von Christus abfällt, schlägt zwangsläufig um und der Apostat wird zum Naturfrevler. Im Spaniertum liegen die extremen Möglichkeiten des christlichen Zustandes nahe beieinander. Die Zwingherren der Gefangenen sehen sich vor immer

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neue Rätsel gestellt: „Con espanoles esto y mäs se pasa" - Mit Spaniern muß man dies und manches mehr erleben, sagt der Kadi in dem zweiten algerischen Stück, nachdem man einen Flüchtling wieder eingebracht hat, und im „Trato de Argel" äußert der Sultan in einem Anfall von Raserei über „die Rasse dieser verfluchten Gefangenen" die merkwürdigen Worte: . . . Que en su pecho el cielo influye Un änimo indomable, acelerado, Al bien y al mal contino aparejado. Una virtud en ellos he notado: Que guardan su palabra sin reveses. . . . In deren Brust der Himmel einen Geist Gehaucht, unbändig, unbezähmbar, gleich Bereit und flink zum Guten wie zum Bösen. Nur eine Tugend nahm ich wahr bei ihnen: Sie halten unverbrüchlich Wort. „Aparejar" - bereiten - hat auch die Bedeutung „satteln". Man denkt an Luthers berühmtes Wort, das „arbitrium", der Wille, sei ein Pferd, das wechselweise der Satan und der Herrgott reitet. Die Konsequenzen aus diesem Bewußtsein kreatürlicher Polarität liegen natürlich für Cervantes auf einer gänzlich anderen Ebene. Es ist der Mensch selbst, der bald nach der einen, bald nach der anderen Seite drängt. Für Luther gibt es nur Freiheit durch den Glauben, der aus der Ohnmacht des „arbitrium" herausführt. Die spanische Freiheit, wie sie Cervantes in der Gefangenschaft erlebt und darstellt, umspannt die Möglichkeit äußerster Gegensätze. Sie bleibt selbst in der negativen Entscheidung zum Übel noch spürbar. Das Thema des Verbrechers aus verlorener Ehre wird in der spanischen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts in allen Formen abgewandelt und seine Gestalt immer in ein verklärendes Licht gerückt. Denn Freiheit gilt nicht als Geschenk, sondern als Instrument des Heils. Auch ihr Fehlgebrauch ist esoterisch aussichtsreicher als die Lauheit und Schwäche des Herzens. Den maurischen Gegenspielern gebricht eine solche Eigenschaft durchaus. Sie sind wortbrüchig, nicht nur aus Bosheit, sondern aus Mangel an geistiger Konsistenz. So klagt im „Trato" ein Gefangener: die Armen können sich von vornherein verloren geben. Wer aber ein Lösegeld im Rückhalt habe, sei zur Qual ständiger Ungewißheit verurteilt: No dio jamäs palabra que cumpliese, Guardarä por su Dios al interese

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Y do este no interviene, no se espere Que por sola virtud bondad hiciese. (Die Mauren) gaben nie ein Wort, das sie gehalten. Für ihren Gott werden sie Wucher treiben. Wo das nicht mitspielt, hat man nie zu hoffen, Daß sie ein Gutes um des Guten willen tun. Im Christentum hat sich das Naturgesetz verwirklicht. Für die Mauren mag nun ihr Glaube ein Gesetz oder das Gebot einer Sekte sein - scheint die menschliche Solidarität nicht zu existieren. Die Heiligkeit des Versprechens, die der Sultan an seinen Gefangenen beobachtet, bedünkt ihn ein kurioser Zug, der übrigens seinen Marktwert hat. Man läßt zuweilen Gefangene auf ihr bloßes Versprechen frei, mit der sicheren Aussicht, ein doppeltes Lösegeld nachgeschickt zu bekommen. Calderöns „Standhafter Prinz" (1629) wird dieses Thema zur Heiligenkomödie erheben, deren Held durch die auch den Ungläubigen geschuldete Treue des Wortes die Palme des Martyriums erringt. Die spanischen Gefangenen gleichen sich in der unverbrüchlichen Selbsttreue, aber gerade diese Anlage ist in schroffer Gegensätzlichkeit ausgeprägt. Es besteht unter ihnen Einigkeit im Wissen um sich selbst und ihre Überlegenheit über jede Situation, doch gibt es keine Schicksalsgemeinschaft und kein Einvernehmen oder eine gemeinsame Taktik über eine festzuhaltende Linie des Widerstandes oder der Kompromisse. Jeder macht seine eigenen Erfahrungen und entnimmt ihnen für sich, was er will. Daher ein verwirrendes Durcheinander, eine Vielfalt der Typen und Gegensätze, ein in Einzelaktionen zersplitternder, vergeblicher Heroismus, der dem Gegner Bewunderung abnötigt, ihn aber in seinem Besitz zu versichern scheint. Wenn der gefährlichste Verräter von der Hand eines Landsmannes den Tod erleidet, so wird das bezeichnenderweise als eine Sanktion des verletzten Naturrechts hingestellt. Nur zuweilen bringen Zufallsbegegnungen und spontane Ausbrüche einen Zusammenhalt der Schicksalsgenossen zuwege. Für das Spanienbild des Cervantes wurde diese Erfahrung der Gefangenschaft maßgeblich, daß ein erzwungenes Zusammenleben die Charaktere verhärtet, gegeneinander abschließt und dann zu gewaltsamen Auseinandersetzungen drängt. Der kritische Genius erhielt hier einen Fundus an menschlichem Wissen. Gewalt und Grausamkeit sind die einzigen Mittel der Herrschaft über einen innerlich haltlosen Zustand. In der Novelle „El amante liberal" (Der großmütige Liebhaber) wird dem Osmanenreich prophezeit: „Diese ganze

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Großmacht (imperio) ist auf Gewalt gestellt, ein Zeichen, daß sie verspricht, nicht dauerhaft zu sein." Dostojewski hat in einem Aufsatz anläßlich des russisdi-türkischen Krieges von 1878 gezeigt, daß das Geheimnis der ungeheuren Siege Don Quijotes in der Molluskenhaftigkeit seiner durch Zauber zusammengeblasenen und schnell zerstobenen Gegner lag. Die politische Nutzanwendung gehört nicht zur Sache, obwohl sie der Berührungspunkte nicht entbehrt. Die Rede ist hier wie dort von der Inkonsistenz der unter dem Halbmond fechtenden Scharen gegenüber dem imperialistischen Anspruch auf die legitime Vertretung der Heilsidee. Auf die maurischen Motive ist Cervantes in allen seinen späteren Schöpfungen zurückgekommen. Besonders die Erzählung des Gefangenen („Don Quijote" I, 3 9 - 4 1 ) , aber auch die Episode des Morisken Ricote, seiner Tochter und ihres Galans („Don Quijote" II, 63) erinnern mit manchem Zug an die beiden algerischen Komödien und an die Erlebnisse in der Gefangenschaft. Nur Romanzen sind es freilich, die Don Quijote das Maurische vermitteln. Sie bieten einen beschränkten Ausschnitt aus der phantasmagorischen Welt der spätmittelalterlichen Belletristik. Nach der zweiten Einbringung des Helden am Anfang des zweiten Buches dringt die alarmierende Nachricht von den großen Erfolgen der Türken in das stille Dorf. Damit erhält Don Quijote, der seinen Wahn schon vergessen zu haben schien, sein altes Stichwort. Nach seiner Meinung gibt es nur ein Mittel, um das Abendland vor der Bedrängung durch den Halbmond zu schützen: das Aufgebot der fahrenden Ritter. „Selbst wenn nur ein halbes Dutzend Folge leisten sollte, so könnte doch einer unter ihnen sein, der Manns genug wäre, um die ganze Kriegsmacht der Türken zu vernichten . . . Ist es denn etwas Neues, daß ein fahrender Ritter allein mit einem Heer von 200000 Mann fertig wurde, als hätten sie alle nur eine Kehle oder als wären sie aus Zucker gegossen?" („Don Quijote" II, 1). Die Zeit von Algier liegt schon fern, und Cervantes ist einen weiten Weg gegangen. Die Hoffnung, spanische Lebensnotwendigkeiten durchsetzen zu können, ist einer lächelnden Skepsis gewichen, die Cervantes ein unbefangenes Urteil gestattet. „El amante liberal" hebt, unbeschadet des Endurteils, vorbildhafte Züge der türkischen Sitte hervor, so ζ. B. die unbürokratische personalistische Rechtsprechung (die Sancho Panzas Inselregiment glänzend auszeichnet), die Ehrfurcht vor der Erfahrung des Alters usw. Von dem Gesichtspunkte der algerischen Erlebnisse her galten auch die in Spanien seßhaften Morisken lediglich als äußere Feinde. In der Menschenwelt des „Don Quijote" machen sie - trotz der ausdrücklichen Anerkennung der Re-

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gierungspolitik - eine unter den vielen bunten Gruppen des spanischen Universums aus. Ihre Lebenskultur wird bewundernd beschrieben („Don Quijote" I, 44), ihre tragische Heimatliebe bezeugt. Ricote und seine Familie gehören zu den Morisken, die unter die Ausnahmebestimmung fielen und eine Einbürgerung erhoffen konnten. Angesichts des von Cervantes vorgebrachten erdrückenden Anklagematerials kann man nicht wohl von „Toleranz" reden. Sein die Verhältnisse allseitig beleuchtender Geist ist von blindem Fanatismus ebenso entfernt wie von einer sentimentalen Verklärung der Mauren, in der sich die spanische Literatur des Spätmittelalters gefallen hatte. Maurenfreundliche, heroisch-galante Grenzromanzen (romances fronterizos) entstanden schon zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Das Verhältnis der Rassen war damals nicht sehr gespannt; unter Heinrich IV., dem Vorgänger der katholischen Königin, wurden sogar maurische Kostüme am Hofe eingeführt. Mit der Eroberung Granadas war der Weg dem Fanatismus freigegeben. Indessen folgten den alten Romanzen neue in derselben Manier, und während die spanische Regierung, übrigens nicht ohne in Spanien Widerspruch zu erregen, ihren Vernichtungsfeldzug gegen die Morisken etappenweise durchführte, erobert sich der glorifizierte „Erbfeind" der Romanze den Roman und im siebzehnten Jahrhundert das Theater. Von hier aus dringt er in die französischen Romane der Scudery ein, und man kann in dem maurischen Exotismus füglich den literarischen Vorläufer jener die Reinheit des Naturzustandes idealisierenden Fernliebe erblicken. Auch in Spanien bleibt die Maurenromantik literarisch am Leben. Quevedo erklärt in einem satirischen Modenspiegel: „Für Mauren und Türken, alle Poeten, die ihr Vaterland verleugnen, die Namen ihrer Damen und Liebhaber mit türkischen und maurischen Namen maskieren und sie Abencerraje, Daraja usw. heißen." Und in einem anderen satirischen Literaturalmanach aus dem Jahre 1637 wird gefordert, „daß die Maurenkomödien innerhalb von vierzig Tagen die Taufe empfangen oder auswandern sollen". Mit seinem ersten Stück war Cervantes keiner literarischen Strömung gefolgt. Ganz offensichtlich schöpft er aus dem eigenen Leben, und ganz eigentümlich ist darin die Sinngebung von Maurischem und Spanischem, die für seine Anthropologie von grundlegender Bedeutung ist. Dieses Werk wirkt nicht theatralisch im Sinne der Lope de Vega-Schule. Die späteren „Banos de Argel" fügen sich eher in ein Komödienschema, obwohl die Besonderheiten der Metrik auch hier den Einfluß Lope de Vegas noch ausschließen. Cervantes berichtet aber, daß der „Trato de Argel" seinerzeit in Madrider Theatern gespielt worden sei, eine Angabe, die durch Agustin de Rojas' Komö-

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diantendialoge „El viaje entretenido" (1603) bestätigt wird. Es ist undenkbar, daß die Aufführung keinen Eindruck gemacht haben sollte. Man besitzt dafür ein klares Zeugnis. Lope de Vega verschmähte es nicht, das Stück in einer eigenen Komödie „Los cautivos" (Die Kriegsgefangenen) nachzuahmen. Wahrscheinlich wurde Cervantes durch einen ersten Erfolg ermutigt, einen Schritt weiter zu tun und den Griff nach einem Stoff aus der spanischen Vorgeschichte zu wagen.

XI. Die Dramatisierung der spanischen Vorgeschichte Dieses zweite Drama, „La Numancia" (1584), kam vermutlich nicht lange nach dem ersten in der Hauptstadt zur Aufführung. Dreimal bekennt sich Cervantes dazu, und zweimal nennt er es nach dem „Trato de Argel" an erster Stelle. August Wilhelm von Schlegel erkannte den besonderen Rang dieses Schauspiels. Es steht - nach seinen Worten - „ganz auf der Höhe des tragischen Kothurns und ist durch die bewußtlose und ungesuchte Annäherung an die antike Größe und Reinheit eine merkwürdige Erscheinung in der Geschichte der neueren Poesie; die Idee des Schicksals herrscht durchaus darin; die zwischen den Aufzügen auftretenden allegorischen Figuren leisten auf einem anderen Wege ungefähr, was der Chor in den griechischen Tragödien". Den Stoff, der u. a. durch Appian beglaubigt ist, konnte Cervantes natürlich aus spanischen Geschichtswerken schöpfen: Nach der Niederwerfung Karthagos wurde Scipio 134 v. Chr. auf den spanischen Kriegsschauplatz gerufen, um hier die Freiheit der letzten, noch unbezwungenen keltiberischen Stadt, Numantia am Duero, zu liquidieren. Die Truppen, an deren Spitze der sieggewohnte Feldherr trat, waren aber so miserabel, daß an offenen Angriff nicht gedacht werden konnte. Scipio ließ daher Numantia aushungern. Viele Einwohner suchten im Freitod ihr Heil, andere gingen zugrunde, und nur wenige konnten für den Triumphzug gefangengenommen werden. Cervantes hat dieses Ende durch eine legendäre Ausschmückung ersetzt, derzufolge sich der letzte Überlebende mit den Stadtschlüsseln von einem Turme stürzte, um nicht in die Hände des Siegers zu fallen. Man kennt die Quelle dieser Zutat (eine Kompilation des Diego de Valera), indessen läßt sich die Erinnerung an den Opfertod des Astyanax in Senecas Tragödie „Troades" (V, 1068 ff.) nicht wohl verleugnen. Cervantes erstrebte zwar nicht die Nachfolge Senecas. Aber es wäre seltsam, wenn die römische Tragödie, die Cervantes höchstwahrscheinlich in der Studienanstalt des Lopez de Hoyos kennenlernte, zum mindesten in spanischer Übersetzung lesen konnte, nicht wenigstens von fern im Gesichtskreis des Dichters gestanden

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hätte. Schlegel hat darin recht, daß die Mittel der antiken Tragödie durch andere von gleicher Wirkung abgelöst werden: statt des Chors Auflösung der Gesamtheit in Episodenrollen, statt der Botenberichte direkte Darstellung des Geschehens usw. Doch ist die Grundaufgabe des modernen Dichters dieselbe wie die des antiken: eine Masse als Träger der Handlung in heldische Bewegung zu versetzen, die sterbende Stadt als eigentliche dramatische Person in ihrem erhabenen Zerfall zu beseelen. Cervantes ist eben darin ganz modern, daß er die Situation bis zu den letzten Folgen ausführt. Er hat, von Scipio, dem Funktionär der Macht, abgesehen, keine Protagonisten aufzubieten, um ein „Interesse" zu entfachen und von der grauenhaften Eintönigkeit des Vorgangs abzulenken. Die dramatische Situation ist starr und unabwendbar und durch keine mögliche Peripetie zu lockern. Der Hunger regiert nach seinem unerbittlichen Gesetz den Verlauf der Tragödie innerhalb der Mauern. Die Wirkung dieses Zustandes beginnt mit der Zermürbung aller Reserven und endet mit einem rauschhaften Ausbruch, in dem sich die Freiheit durch Selbstvernichtung behauptet. Der Hunger ist das Schicksal an und für sich; er trennt den Hungernden auch von der schon bereitgestellten Speise. Cervantes braucht keine Rücksicht auf zarte Nerven zu nehmen: man sieht einen kleinen Jungen, der angeblich gestillt sein möchte, sich mit den Zähnen festbeißen und das Blut trinken, da die Mutter zu schwach ist, um ihn mit ihren Armen zu halten. Es folgen die Opferszenen: auf den Altären wird die Habe verbrannt, die Männer töten ihre Frauen, um dann sich selbst in die bluttriefenden Schwerter zu stürzen. Die eigentliche dramatische Entscheidung liegt aber bei jener pathetischen Figur eines noch unmündigen Knaben, dem letzten Einwohner der brennenden Stadt, der sich mit den Torschlüsseln auf einem Turm in Sicherheit bringt. Der berühmte General wird in diesem Augenblick zum Bettler für seinen Triumph. Denn ein Sieg, den der Besiegte nicht bezeugt und sich selbst zu eigen macht, ist für den Sieger eine moralische Niederlage. Sie bleibt Scipio nicht erspart. Das Kind stürzt sich herab und fällt, siegreich, dem Sieger zu Füßen. „La Numancia" ist nicht nur ein historisches Drama, sondern ein Ausblick auf das Schicksal der spanischen Reichsbildung. Schon die „Primera Cronica General" Alfonsos X. (entstanden zwischen 1270 und 1289), in der - wie später in Diego de Valeras Chronik - Numantia mit Zamora am Oberlauf des Duero verwechselt wird, nennt die Iberer „espannoles". Wenige Jahre nach dem Entstehen der „Numancia" verfocht eine Gruppe von Philologen, gestützt auf prähistorische Funde, die These von einer autochthonen Herkunft des modernen Spanischen aus dem Uriberischen. Gregorio Lopez Madera wußte diese Theorie auch ernsthaften Humanisten schmackhaft zu machen, aber unter sei-

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nen Nachfolgern gab es mehrere, die behaupteten, der Heilige Geist habe zu Pfingsten den Aposteln die urspanische Sprache eingegeben. Cervantes war weder Philologe noch ein chauvinistischer „Vulgärhumanist". Die ergreifende Episode gilt ihm als eine Botschaft der Frühe. Der Opfergang der barbarischen Stadt kündigt die Bestimmung des spanischen Genius an, die jedoch erst, im Lichte des erfüllten Gesetzes zur Errichtung eines christlich-universalen Reiches führte. „Barbaras", „soberbios" (superbos),„indomables"-Barbaren,überheblich, unbändig - nennen die Zuschauer jenseits des Grabens ihre tapferen Gegner. Das Schicksal der Stadt, die Selbstzerfleischung, ist trotz der hier verliehenen hohen sittlichen Bedeutung das notwendige Ende einer barbarischen, von Naturgesetz und Kirche unberührten Lebensordnung. Der römische Feldherr drückt dies aus: Sin duda alguna que recelo y temo Que el barbaro furor del enemigo Contra su propio pecho no se vuelva. Gewiß ist Grund zum Argwohn und zur Sorge, Daß die barbarische Wildheit unseres Feindes Gegen die eigene Brust sich kehren wird. Am Ende des ersten Aktes führt der Dichter zwei Sinnfiguren auf die Bühne, auf deren Schöpfung er stolz war: Espana und den Flußgott Duero. Spanien beklagt sein Geschick, die verlorene Freiheit. Aber dieses Schicksal ist die Konsequenz der eigenen Anlage: Pues mis famosos hijos y valientes Andan entre si mismos diferentes, Jamäs entre su pecho concertaron Los divididos änimos furiosos. Denn meine Söhne, ruhmbedeckt und tapfer, Gehn ihren Weg getrennt und sich entfremdet. Noch nie vereinten sie in ihrer Brust Die rasenden und stets zerteilten Geister. Die Katastrophe von Numantia ist nur das Glied einer selbstgeschmiedeten Kette des Unglücks. Der Flußgott erwidert mit dem Prospekt der künftigen geschichtlichen Verheißung. Westgoten werden sich an den Römern rächen; aber entscheidend ist, daß die Freiheit, die im barbarischen Zustand zur Selbstauflösung führen mußte, im Innern durch die Bindung an den Glauben gesichert wird. Die in einem solchen Zusammenhang obligate prophetische Apo-

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theose Philipps II. schließt sich an. „La Numancia" gibt gleichsam die naturhafte Vorform des kommenden spanischen Staates, in dem nach der Lehre aller seiner großen Theoretiker das Naturrecht durch das göttliche Recht seine Vollzugskraft erhalten sollte.

XII. Der Hirtenroman Als Cervantes nach Spanien zurückkehrte, glaubte er an literarische Erfolge und raschen Ruhm. In Madrid hielten ihm seine Schwestern Haus, die von reichen Genuesern umworben wurden und durch ihre Lebensführung Ärgernis erregten. Es kam zu skandalösen Auseinandersetzungen mit mehr oder weniger ernsthaften Bewerbern. Was sonstige Urkundenfunde über die Verhältnisse im Hause des Dichters zufällig ans Licht brachten, läßt sich mit modernen Moralbegriffen nicht immer in Einklang bringen. Die Zeit, in die dieses Leben fällt, gewährte bei größerer ideologischer Einengung eine größere Freiheit in der Lebensführung. Lope de Vega genoß sie skrupellos, während Cervantes, nicht weniger vorurteilsfrei, sich zu den einmal bestehenden Lebensverhältnissen bekannte und akzeptierte, was er eingegangen war. Cervantes lebt eine Zeitlang im Liebesbund mit einer gewissen Ana Franca de Rojas, die, wie ein neuerer Biograph glaubt, aus der Sphäre des Theaters stammt. Sie schenkt ihm das einzige Kind Isabel. Cervantes behielt die Tochter bei sich, auch nach der Heirat mit der neunzehnjährigen Catalina de Palacios. Diese entstammte einer begüterten Familie aus Esquivias bei Toledo. Cervantes verbrachte dort eine kurze Zeit; in späteren Jahren trifft man auch die Gattin mitunter in ihrem Elternhaus. Das wenige, das über die Ehe bekannt ist, gab der psychologisierenden Spekulation einen unbegrenzten Spielraum: der ungleich ältere Mann mochte durch die behüteten Reize eines Provinzfräuleins gefesselt worden sein - dauernde Geldnöte spielten sicher eine Rolle bei dieser Heirat, die nicht gut enden konnte; man kann sich ausmalen, wie der unstete Literat auf die altfränkischen Schwiegereltern wirkte; selbst die Gattin bedurfte zeitweilig einer Erholung von der schauerlichen Unordnung eines Dichterhaushalts; gewiß war es eine zermürbende Ehel Wie sollte auch das einsame Genie im eigenen Heim auf Verständnis rechnen 1 Zeugt nicht der unglückliche Ausgang der in gewissen Novellen dargestellten Ehen gegen Dona Catalina? Unausbleiblich, daß man „La Galatea" (erschienen 1585, geschrieben also in der Zeit der Verheiratung) als eine sinnige Huldigung an die künftige Gattin auffaßte . . . Biographisches Material findet sich in einem so ausgebreiteten Werk natürlich für alle Gemütsbedürfnisse.

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Immerhin erfahren wir später, daß die Gattin für Cervantes aus ihrem Vermögen Bürgschaft leistet, daß sie sich zur Trauzeugin bei der Verehelichung von Cervantes' natürlicher Tochter hergibt (eine Haltung, die doch wohl Seelengröße voraussetzt) und daß ihres Bruders Geld von Cervantes verwaltet wurde, offenbar nicht zum Vorteil des jungen Mannes. Nach der Befreiung und dem endgültigen Verzicht auf die algerischen Pläne widmete Cervantes sich ganz der Literatur. Mit seinem Hirtenroman „La Galatea" stand er in einer zwar nur wenige Jahrzehnte alten, aber äußerst erfolgreichen spanischen Literaturtradition. Im Anschluß an den italienischen Forscher Toffanin hat Americo Castro die Bedeutung der Pastorale für das Weltbild des Cervantes entwickelt. Der Stoff der Hirtendichtung gehorcht dem Gesetz der aristotelischen Poetik, die das „Universale" dem Dichter für eine „wahrscheinliche" Darstellung anheimgibt. Der bukolische Zustand wird von Cervantes - nicht ohne Ironie - zum Inbegriff einer normativen Gesinnung erhoben, von der indessen kein anderer Anspruch ausgehen kann als der, neben der empirischen Wirklichkeit, und sie verschönend, zu gelten. Überhaupt ist der Hirtenroman, wie Castro sagt, „eine idealistische und bewußt unwirkliche Gattung. Sein Kern ist die Auffassung vom Menschen, die die Renaissance herausgebildet hat: der Mensch als ein abstraktes Wesen, dessen Funktion es ist, den gemeinsamen Nenner für die konkreten Spielarten des Menschen abzugeben. Bedenkt man die lange Vorgeschichte der Hirtendichtung, die Sinneskraft, mit der sie schon die Gnostik belehnte, ihre Wiederkunft aus dem Gefühl einer verjüngten Tradition und einer wiedergewonnenen Welt in der karolingischen Renaissance, ihre Bedeutung für den spätmittelalterlichen Individualismus, für das Fluchtbedürfnis des Menschen und die Verheißung einer kommenden Menschenwelt, so erübrigt sich jede genetische Ableitung aus dieser oder jener Anschauung. Dennoch hat offenbar das überlieferte Thema eine neue Funktion im Zusammenhang der Weltauslegung gewonnen. Castro weist anläßlich einer reizvollen Stelle bei Mal Lara darauf hin, daß der Typus des arkadischen Zustands und des goldenen Reiches die Wahrnehmungen des Menschen im sechzehnten Jahrhundert geradezu leitet und modifiziert: er ist zu einer Anschauungsform geworden. Diese Beobachtung bestätigen die mannigfaltigen Gestaltungen des bukolischen Motivs in fast allen Werken von Cervantes. Trotz seiner Ausstrahlung auf andere Literaturen beschränkt sich die Tradition auf die spanische Literatur, die dem Hirtenroman ein Jahrhundert lang, bis zur Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, huldigte. Die Form des Wanderromans, die dem griechischen Roman der Achilles Tatius, Heliodor usw. eigentümlich gewesen war, griff auch auf den Ritterroman und schließlich auf den

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Schelmen- und Hirtenroman über. Letzten Endes ist der Roman überhaupt durdi diese Raumbewegung seiner Helden bedingt. Für den Niedergang der spanischen Wirtschaft ist die Erwerbslosigkeit der aus festen Verhältnissen Ausgetriebenen besonders bezeichnend. Sie bevölkern nun alle die spanischen Landstraßen, auf der Suche nach Brot und nach irgendeinem rettenden Abenteuer. Die Raumbewegung in den Hirtenromanen läßt sich aufs genaueste lokalisieren. Die Route, die die Hirten auf ihrer Wanderung von der Sommer- zur Winterweide einschlagen, entspricht durchaus dem Verlauf der ganz Spanien durchziehenden Weidestraßen, der sogenannten „canadas". Es wurde schon festgestellt, wie einseitig die spanische Wirtschaft auf die Wollproduktion und den Wollexport ausgerichtet war. Bedeutende Teile des Landes waren daher in einen ungeheuren Weideplatz verwandelt. Für die Überwachung der „canadas", der Weidestraßen, war die Hirtengilde, die sogenannte „mesta", verantwortlich. Die Blütezeit der „mesta" fällt ins sechzehnte Jahrhundert. Sie besaß eine eigene Jurisdiktion und konnte Todesurteile etwa gegen Bauern fällen, die sich erkühnt hatten, den Raum der „canadas" zu bebauen. Für das freiheitliche Bewußtsein der Spanier war indessen die demokratisch konstituierte „mesta" eine vollkommene Einrichtung, der das Ausland nichts an die Seite zu stellen hatte. Im Prinzip wurde nämlich nicht nach der Kopfzahl, sondern nach der der Hirten abgestimmt. Ein Hirte, der nur drei Schafe sein eigen nannte, konnte also seine Stimme ebenso in die Waagschale werfen wie der Vertreter des Königs von Spanien, der Millionen von Schafen besitzen mochte. Noch ein Autor wie Lopez Bravo verteidigt in einem 1616 erschienenen Werk „De rege et regendi ratione" die Hirten gegen die Klagen der Bauern, deren Anbauflächen durch die Weidestraßen zerstückelt und dezimiert wurden. Dieses Werk fällt indessen schon in die Zeit des offenkundigen Niedergangs der „mesta". Den vereinten Bemühungen ihrer Gegner, insbesondere der Krongerichte, der adligen Großgrundbesitzer und der städtischen Munizipien, war es gelungen, die Privilegien der vom Kronrat des Königs unentwegt verteidigten Hirtengilde in einschneidender Weise zu beschränken. Aus derselben Epoche stammt die Schutzschrift eines gewissen Caja de Leruela, eines früheren Syndikus' der ,mesta*. Das Werk erschien 1631 unter dem Titel „Restauraciön de la abundancia de Espana". Diese „Restauration" der spanischen Wohlfahrt sollte in einer Wiederherstellung der in Vergessenheit geratenen alten Verfassung und der alten Privilegien der „mesta" bestehen. In unserem Zusammenhang sind besonders die bukolischen Motive interessant, die Caja de Leruela zur Verherrlichung des Hirtenberufes anführt. Die

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Würde des Hirtentums stand unter göttlichem Schutz. Erfinder der Syrinx ist der Hirtengott Pan, der als Gott der von der Harmonie der Sphären erfüllten Musik Gott des Alls ist. Caja de Leruela gibt die bekannte philosophische Erzählung vom Sterben des großen Pan wieder, in der Christus in die Rolle des Hirtengottes eingesetzt wurde. Das Leben der Schäfer ist denkbar glücklich: ein ewiger Sonntag. Um diesen Glücksstand wieder zu erlangen, müßte freilich durch radikale Maßnahmen die egalitäre Verfassung des Bundes in ursprünglicher Reinheit wiederhergestellt und die Kopfzahl der Herden der Großbesitzer auf 500 Stück Klein- und 20 Stück Großvieh beschränkt werden. Denn Gleichheit des Besitzes ist ein Gesetz der Natur und daher Bürgschaft einer naturgesetzlichen Ordnung. Die Wiederherstellung der Weidewirtschaft würde auch das im habsburgischen Spanien unlösbar gewordene Arbeitslosenproblem und mit ihm das lästige Bettelwesen beseitigen; verdächtige Berufskategorien wie die der „esportilleros" (deren Treiben Cervantes in „Rinconete y Cortadillo" wunderbar schildert) würden durch den Rückstrom der Bauernsöhne in die „mesta" getroffen. Unter „esportilleros", wörtlich: Korbträger, sind herumlungernde Halbstarke zu verstehen, die wegen ihrer Betrügereien berüchtigt waren. Der Einbruch der bukolischen Tradition in die Praxis der „mesta" legt die Frage nahe, ob auch umgekehrt die Praxis der „mesta" den Hirtenroman beeinflußt hat. Die genaue Lokalisierung und die Übereinstimmung der bukolischen Wanderwege mit den Weidestraßen der „mesta" wäre hier anzuführen. In der häufig wiederkehrenden ironischen Mahnung an die verliebten Hirten der Dichtung, ihren vernachlässigten Beruf nicht ganz aus den Augen zu verlieren, liegt ein mittelbarer Hinweis darauf, daß der Hirte seine Tiere auf die Weide zu treiben hatte (wie es Felicia in Montemayors „Diana" einmal energisch von ihrem Schutzbefohlenen Erospatienten verlangt) und daß seine Tiere nicht nur die symbolische Repräsentanz der verliebten Gedanken und Sorgen besaßen. Wenn in der panegyrischen Ekloge des Bachiller de la Pradilla auf Karl V. ein Hirte den neuen Herrn feiert: Despues que un tal Senor Conozcamos sernos dado Que todo llegarä a fuer de pastor; Y aun tamano, Que si alguien le despluguiere, Adoquier que se acogiere Tiene mal ano.

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Nachdem wir wissen, daß uns Ein solcher Herr gegeben wurde, Wird alles sidi nach den Gesetzen Der Hirten richten, und zwar so Gründlich, daß jeder, dem das nicht Gefallen sollte, wo immer er sich Aufhält, verflucht ist. so sind in dieser Strophe die kühnsten und übrigens lange Zeit erfüllten Forderungen der „mesta" angedeutet: vor allem ihre eigene Jurisdiktion! Ohne das Vorliegen anderer Einflüsse und Vorbilder abzustreiten, müssen wir doch vor allem die Nachwirkung der „Diana", des ersten Schäferromans von Montemayor, festhalten. Diese „Diana" ist eines der großen literarischen Ereignisse des sechzehnten Jahrhunderts gewesen. Die Zahl der Nachdrucke, der Übersetzungen und der sich zyklenweise in allen europäischen Ländern einstellenden Nachahmungen, die kein Ende nehmen, bleibt hinter den üppig wuchernden Ausläufern des „Amadis" und anderer Ritterromane kaum zurück. Die französischen, englischen und deutschen Hirtenromane knüpfen wesentlich an Montemayor an. Nachdem schon Nicolas de Montreux, Verfasser der weitschweifigen „Bergerie de Juliette", bei dem Spanier in die Schule gegangen war, wird die französische Diana-Übersetzung zu einem der schönsten buchhändlerischen Erfolge. Zehn Ausgaben zählt man im Verlauf von weniger als fünfundzwanzig Jahren. Das Werk wurde schon damals als ein klassischer Text dem Gebrauch der französischen Hispanisten gewidmet. Den verschlungenen, von Liebesklagen widerhallenden Hirtenwegen bei Montemayor oder auch bei Cervantes nachzugehen, wäre wohl sinnlos. Die Handlung als solche kann uns hier nichts besagen. Überall stößt man auf mehr oder weniger glücklich Verliebte, deren Schicksale in labyrinthischen Wirrungen zu verlaufen scheinen. Am verzweifeltsten ist der Liebhaber, der sich selbst das Leitmotiv gibt mit dem schönen Vers: Amador soy, y nunca fui amado. Liebhaber bin ich, aber nie geliebt. Ein Einhorn schüttelt die Zweige einer Eiche und treibt das schmachtende Paar auseinander, das unter dem schützenden Dach zusammengetreten war. Die Rede plätschert wie „das fortschreitende Silber des Baches" einher und mündet schließlich in der Geborgenheit idyllischer Parenthesen, abgeschiedener Schauräume. Der Kreis erweitert sich um neu hinzutretende Leidensgefährten, die ihrerseits ihre Lebensbeichte erzählen. Erst mit sinkender

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Sonne tritt der gesammelte Zug den Heimweg an, um den neuen Morgen mit neu erwachten Sorgen zu begehen. Bei Mondenschein feiern die Schäfer ihre kultischen Feste. - Überraschende Ausblicke gewährt ein felsiges, von einem Sturzbach ausgehöhltes Gebirgstal. Beim Abschied des edlen Anfriso werden die Quellen trübe und die Bäume lassen voll Trauer ihre Zweige hängen. Der Gesang der Geliebten nimmt den Vögeln den Mut, aber die fühllosen Pflanzen erglänzen im Schmuck einer nie gekannten Freude. Die pastorale Natur trägt die Akzente einer empfindsamen Rhetorik. Die Worte, die der italienische Verleger Bidelli seiner Neuausgabe der „Diana" (Mailand 1606) auf den Weg mitgibt, verraten deutlich, was das spanische Hirtenbuch gab und was es versagte. Die bukolische Innigkeit bedeckt sich mit dem Gewebe einer konzeptistischen Diktion: „Qui sono selve foltissime di scelti concetti, fioriti pradi di leggiadrissime parole, pieni fiumi d'eloquenza, intricati labirinti d'inventioni meravigliosamente inviluppate" - „Hier finden sich dichteste Wälder von erlesenen Wendungen, blühende Wiesen von anmutigsten Reden, Flüsse voll Beredsamkeit, verworrene Labyrinthe von wunderbar versteckten Erfindungen." Die spanische „Diana" wirkt wie ein unvollendeter Palast, in dessen zahllosen Fluchten man irreläuft, von immer neuen Ausblicken verführt. „Alles ist offen geblieben - nichts ist vollendet." So hat Cervantes seine „Galatea" beurteilt, und dieses Urteil, das zunächst nur auf die unabgeschlossene Handlung zielte, trifft auch im weiteren Sinne auf alle spanischen Hirtenromane zu. Ihr Schauraum ist gleichsam nach der Seite des Beschauers hin geöffnet, d. h. ihre unbestimmte Idealität reizt den Leser, das Gesicht von Zeitgenossen herauszufinden. Durch seinen Charakter als Schlüsselroman setzt die „novela pastoril" geradlinig die Überlieferung der Prosafiktionen des fünfzehnten Jahrhunderts fort. Wie diese ist der Hirtenroman im wesentlichen Gesellschaftsroman, was schon in seiner höfischen Sendung beschlossen liegt. „Montemayor" - so urteilt Karl Vossler - „hat eher eine Mode oder eine Stilgattung geschaffen als eine persönliche Dichtung. Er war ein Meister der Formen, kein Dichter der Einsamkeit. Für schwärmerische Gemüter und schöne Seelen richtet er einen fiktiven Raum her, eine Art Spielplatz oder Lagerstätte der Sentimentalität." Gewiß klingt das subjektive Moment des Abschieds, der Wehmut, der Entfremdung vor allem in den Bewegungen der lange und kunstvoll verborgenen Gestalt der Titelheldin deutlich an. Die geglückte Verbindung von Erlebnisdichtung und Gesellschaftsroman war der tiefste Grund für den durchschlagenden und langanhaltenden Erfolg des ersten spanischen Hirtenromans. Beide Momente lassen sich nicht voneinander trennen, denn die Subjektivität fun-

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diert die Beziehungsgesetze der modernen höfischen Gesellschaft, die von Montemayor, der selbst ein Hofmann war, ausgesprochen und dichterisch konstituiert worden ist. Ein weiterer Wesenszug des Hirtenromans, für Montemayor wie für Cervantes und sämtliche noch folgenden Vertreter dieser Gattung, ist die Polymel i e , das heißt die Vielfalt und der Wechsel der Verstypen. Die traditionellen altkastilischen achtsilbigen Verse (in Romanzen und Redondillas, Decimas, Villancicos usw.) treten in friedlichen Wettbewerb mit den klassischen italienischen Hendekasyllabern, in Sonett, Oktave, Terzine und Canzone, zu denen Gil Polo, einer der Fortsetzer Montemayors, noch den französischen Alexandriner gesellt. Cervantes übernahm den Hirtenroman, wie ihn Montemayor mit seiner „Diana" (1559) gemodelt hatte, mit einer Einschränkung: die ordnende und beschwichtigende Macht des Liebeszaubers, der bei dem Vorgänger wenigstens den Ausblick auf einen möglichen Abschluß, auf eine harmonische Gruppierung der aufgebotenen Paare gewährt, widerstreitet - Cervantes zufolge allen Gesetzen der wahrscheinlichen Darstellung, welche nur aus der Grundforderung der „propiedad", der Personencharakteristik hergeleitet werden konnte. Das Gewebe der „Galatea"-Handlung ist durch diesen rationalistischen Eingriff nicht fester verknüpft worden, wohl aber rückt das bukolische Thema in eine neue Beleuchtung und wird als menschliche Seinsform und zugleich als eine urbildliche Verwirklichung des Gemeinschaftstriebes erkennbar. Das „happy end" muß ohne fremde Zaubermacht allein aus den Handlungen der Hirtenhelden und -heldinnen bestritten werden. Hand in Hand mit der Rationalisierung des Cervantesschen Hirtenromans geht seine Moralisierung. Die bei Montemayor vorhandenen Andeutungen heidnischer Hirtenkulte werden getilgt; der Liebenden Haltung wird der strengste Ehrenkodex zugrundegelegt. Der Liebhaber der Titelheldin - so wird im zweiten Buche der „Galatea" berichtet - „liebte sie mit soviel Rücksichtnahme auf ihre Ehre, daß sie es für allzu undankbar angesehen hätte, seine ehrlichen Gedanken nicht mit einer züchtigen Gunstbezeigung zu belohnen". Selbst bei den gewagtesten Unternehmungen ist der Wohlanstand die Norm des Verhaltens. So, wenn Rosaura ihrem nachlässigen Liebhaber Giraldo nachsetzt (4. Buch) und sich vorher einer Tante entdeckt, die ihr ein junges Mädchen als Bedeckung mitgibt. Ausdrücklich überschreiten die Beziehungen, die zu diesen Begebenheiten Anlaß sind, niemals die Grenze des Ehrbaren . . . Das Geschäft der Hirten ist - die Liebe. Aber diese Liebe wird im Einklang mit den in Spanien viel gelesenen „Dialoghi d'amore" (entstanden gegen

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1502, span. 1568) von Leon Hebceo neuplatonisch als eine Spiegelung oder als ein Ansatz der Liebe zur unendlichen Gottheit gefeiert. Wie schon Montemayor entwickelt Cervantes eine Liebesdoktrin. Sein Hirte Lenio verwirft die materielle Liebe zugunsten der Sophia. Dagegen tritt der reifere Tirsi gegen die Wirklichkeitsflucht auf den Plan. Es sei zu unterscheiden: Liebe als Zuwendung zu einem Besitz und Wunsch als Begehren eines Nichtbesessenen. Der Wunsch ist schon die Aktualisierung der Liebe. Alle Richtungen der Liebe sind, wenn auch wertverschieden, an sich legitim: das Nützliche, das Ergötzliche, das Honestum (welches Gott meint, das Prinzipium ohne Anfang). Die Liebe kann in verderblichen Wahn umschlagen, aber das liegt nicht an ihrem Wesen, sondern an der Bedingung, unter der alles Sein in den Kreis des Geschaffenen eintritt. Zur Bewahrung ist dem Menschen nach dem Sündenfall die Macht der Seele, die Freiheit (albedrio = arbitrium) verliehen, und ihr Gebrauch oder Nichtgebrauch entscheidet über alles, was im Leben erlitten wird. So besteht kein Grund, sich gegen die Erotik zu ereifern. „Der Liebende will die Liebe, sein Wunsch schaut auf den Gegenstand dieser Liebe. Die Qual der Nichterfüllung wird durch wenige Augenblicke der Annäherung wettgemacht, aber was die Liebe angeht, so ist für sie selbst ihr Erleiden eine Wonne." Die Verliebtheit ist also in sich selbst gerechtfertigt. Allerdings ist für Cervantes die neuplatonische Liebesauffassung mehr episodisch und jedenfalls nicht so beherrschend wie für die „Diana", wo eine Änderung der ursprünglich eingenommenen Haltung zugunsten der Glückserfüllung nur durch Zauber denkbar ist. Bei Cervantes ist das Liebeserlebnis letzten Endes doch eine Naturgegebenheit, die auf Erfüllung drängt und dazu alle Kräfte der Person in Anspruch nimmt. Was nun den äußeren Schauplatz im Hirtenroman von Cervantes angeht, so wird die Handlung auf die Landschaft an den Ufern des Tajo lokalisiert. Die Szenerie wird auch in einigen anderen Hirtenromanen festgehalten - vor allem aber umschließt sie eine wichtige Episode in Cervantes' posthumem Werk, den „Arbeiten des Persiles und der Sigismunda". Die Landschaftsschilderung in der „Galatea" entbehrt nicht des Reizes. Es ist die klassische pastorale Landschaft, für die Poussin das malerische Gegenbild erstellen wird. „Sie betraten das geheiligte Tal, dessen verblüffende, höchst wunderbare Lage auch diejenigen in Bewunderung und in Entzücken geraten ließ, die schon oft hier gewesen waren. Auf der einen Uferseite des berühmten Tajo erheben sich . . . vier grüne und gefällig wirkende Hügel, wie zur Abriegelung und zum Schutze eines in ihrer Mitte befindlichen herrlichen Tales. Auf vier Wegen gelangt man hinein; wo sich die Hügel verengen, entstehen vier breite und gefällige Straßen, von unendlich hohen Zypressen um-

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faßt, die in so harmonischer Ordnung emporwachsen, daß man glauben möchte, die Zweige der verschiedenen Bäume seien völlig gleichmäßig gewachsen, als hätte kein Baum gewagt, das Vorbild des anderen zu verlassen . . . " (1. Buch) Schließlich wird man sich fragen, wie denn Cervantes überhaupt seine „Galatea", den Hirtenroman und den Bukolismus bewertet haben wollte. Kein Zweifel ist möglich. Cervantes hat den ästhetischen Zauber dieser literarischen Form empfunden. „All diese Bücher bringen gut geschriebene Geschichten, zum Zeitvertreib der Müßigen und ohne Anspruch auf Wahrheit." Die anspruchslose Fiktion war die schickliche Tracht für den poetischen Schöngeist. Als Hirte verkleidet, bekränzt er sich mit den Blüten der anmutigsten Rhetorik. Der Schäferroman gilt ihm als ein Gefäß der stilistischen Kostbarkeiten: er ist der Spiegel, den sich der dichterische Idealismus selbstgefällig vorhält. Cervantes hatte die Zuversicht, mit seiner „Galatea" vor dem Urteil der Nachwelt zu bestehen. Zwar ließ sich etwas Abschließendes über das noch unvollendete Werk nicht ausmachen - mit der Anlage des Ganzen glaubte er sich auf dem richtigen Wege: „Die Idee seines Buches ist nicht ohne Glück; sie schlägt etwas an und führt nichts zu Ende; man muß den zweiten Teil abwarten, der uns versprochen wird . . . " (Don Quijote I, 6). Die „Galatea" ist eine Vorstufe seines „Persiles", und als solche wird sie von Cervantes zeit seines Lebens hoch geschätzt, ja ein abschließender zweiter Teil wird noch in der allerletzten Lebenszeit in Aussicht genommen. Uber den Stil seines Hirtenromanes hat sich Cervantes im Vorwort zur „Galatea" ausgelassen. Zunächst wird über die Abneigung der Zeit gegen alles Poetische Klage geführt. Ungeachtet der allgemeinen Indifferenz müsse aber an der Vollendung der spanischen Eloquenz gearbeitet werden - in der Prosa und in Versen. Fraglos nimmt Cervantes das Stichwort des sevillanischen Poeten und Humanisten Fernando de Herrera (1534-1597) auf, der in seinen fünf Jahre zuvor erschienenen Garcilasokommentaren die Grundsätze der Vollendung der spanischen Sprache durch den Geist der Poesie herausgestellt hatte. Cervantes glaubt dieses Programm durch die Einführung eines neuen, ausgewogenen Periodenstils für seinen Teil zu erfüllen! „Es sollen" - so heißt es weiter - „die Wege geebnet werden, damit die engen Geister, die in der Kurzatmigkeit der altspanischen Diktion die Fülle der kastilischen Sprache begrenzt haben möchten, doch endlich begreifen, daß das Spanische freies Feld vor sich hat!" Der Kampf gilt also der populären und realistischen Prosa, die durch so unsterbliche Werke wie den „Lazarillo de Tormes" oder auch die „Bekenntnisse der Heiligen Theresa" Rhythmus und Farbe der spanischen Literatur einige Jahrzehnte lang bestimmte. Cervantes' Klassizismus fordert eine übergreifende, alle Gegensätze überbrückende Harmonie des Satzbaus, einen sub-

XII. Der Hirtenroman

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limen, idealisierenden Stil, wie er schon in den höfischen Romanen des fünfzehnten Jahrhunderts ausgebildet worden war. Durch die Nachstellung des Verbums im Relativsatz, durch latinisierende Superlative, durch die Aneinanderreihung zwei- und dreiteiliger Satzglieder, durch gespannte Konsekutivsätze, durch die ornamentale Voranstellung des attributiven Adjektivs kennzeichnet sich dieser Stil, wobei jedoch bemerkt werden muß, daß Cervantes im Gegensatz zu seinen Vorgängern und Nachfolgern solche Mittel der Stilisierung nicht beliebig häufte, sondern nur der Stelle entsprechend ökonomisdi verwandte. Man kann die Darstellung der „Galatea" nicht abschließen, ohne den im VI. Buche enthaltenen „Canto de Caliope" zu erwähnen, E s handelt sich um eine über 110 Oktaven ausgebreitete Komposition zum Preise der zeitgenössischen spanischen Dichter und Literaten. Ein soldier enkomiastischer Dichterkatalog verbot natürlich jeden kritischen Mißton. Des Preises würdig erscheinen gleichermaßen bedeutende und gänzlich unbedeutende Dichter. Unter den ersteren befand sich Luis de Gongora, dessen Entwicklung zum „Kultismus" damals noch nicht abzusehen war, und Lope de Vega, dem Cervantes damals noch nicht als Kritiker und als Rivale gegenüberstand. Was Cervantes mit diesen Versen eigentlich wollte, ist schwer zu entscheiden. Vielleicht versuchte er, seinen Eintritt in die spanische Literatur durch eine „captatio benevolentiae" seiner literarischen Zeitgenossen zu erleichtern. Neben solchen Zweckerwägungen spricht aber aus diesen Versen des Neulings echte Ergriffenheit von der geistigen Macht der in Spanien sich immer mehr entfaltenden literarischen Bewegung, das Staunen über die Vielfalt und Fülle der angeschlagenen Töne, von denen sich Cervantes' eigene Weise erst langsam abheben konnte. Die „Galatea" wird nicht mißfallen haben; sie brachte es zu mehreren Ausgaben, aber den einzigartigen Erfolg Montemayors konnte sie nicht erreichen, und durch das Erscheinen von Lope de Vegas Hirtenroman „La Arcadia" (1598) wurde sie überschattet. Offenbar mußte sich Cervantes bald dazu entschließen, einen Brotberuf zu ergreifen. Andere Dichter hatten ihre Mäzene, Cervantes war zu spröde und unabhängig. Im übrigen ließen die Talentproben, die er bislang gegeben hatte, nicht ahnen, daß der den Vierzigern sich nähernde Dichter erst am Anfang seiner literarischen Ruhmesbahn stand. Kostbare Jahre hatte er verloren oder, richtiger gesehen, auf die Vorbereitung seiner Sendung gewandt, und nun traf ihn der Zwang zu einer sofortigen Berufswahl. Im Jahre 1585 findet man ihn zu Sevilla in einem besonders widerwärtigen Amt. E r ist königlicher Fouragierbeamter, beordert, den verelendeten Bauern ihr letztes Getreide und Öl aus dem Speicher zu holen. Denn die Regierung bereitet ihr verhängnisvolles Kriegsunternehmen gegen England vor und braucht

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einen Stock von Lebensmitteln. In Ausübung seiner Pflicht beschlagnahmt der Beamte 1587 Korn auf einer Domäne der Toten Hand. E r wird exkommuniziert, schlimmer nodi, man beschuldigt ihn, für die eigene Tasche Requisitionen gemacht zu haben. In all diesen Jahren, zwischen 1585 und 1590, ruht seine dichterische Tätigkeit, wie er selbst schlicht und ergreifend sagt: „Ich hatte damals andere Dinge, an die ich meine Zeit verwendete, und so ließ ich die Feder und die Komödien." Aber 1592 kommt ein Vertrag mit dem Theaterdirektor Rodrigo Ossorio zustande. Noch immer glaubte offenbar Cervantes an einen entscheidenden Sieg auf der Bühne. Der Kontrakt ist ein offenkundiger Ausdrude beständiger Geldkalamitäten. Der Autor verzichtet auf Bezahlung, „wenn es sich nicht herausstellen sollte, daß die betreffende Komödie eine der besten ist, die bisher in Spanien gespielt wurden". Selbstvertrauen und Verzweiflung zugleich sprechen aus diesem seltsamen, ja einmaligen Vertragsinstrument.

XIII. Das Theater Cervantes hat an mehreren Stellen (im „Gespräch zweier Hunde", „Don Quijote" I, 48 und in dem Prolog zum Komödienband) seine Ideen über den dramatischen Stil geäußert. Diese Gedanken erscheinen vielen Beurteilern nicht nur widerspruchsvoll in sich selbst, sondern man glaubte vor allem einen Widerspruch zwischen Cervantes' dramatischer Theorie und seiner eigenen theatralischen Praxis zu entdecken. Stellt man die über ein ganzes Leben ausgebreiteten dramaturgischen Aphorismen zusammen, so verbindet sich mit dem orthodoxesten ästhetischen Aristotelismus ein wahrer Kult der primitiven und populären Kunst des Lope de Rueda (ca. 1510-1565). Dieser Poet, der für seine eigene Truppe dichtete, weckte in Cervantes die theatralische Sendung. Nie wird er müde, den längst verblaßten Ruhm dieser fernen Gestalt wieder aufzufrischen, von dem er als junger Mensch eine Aufführung erlebt hatte. In den „Banos de Argel" läßt er seine Kriegsgefangenen Theater spielen und weiß ihnen kein besseres Stück als eine Pastorale Lope de Ruedas. In der „Reise auf den Parnaß" erhält Juan de Timoneda, der Herausgeber der Komödien „des große Lope de Rueda", um dieser verlegerischen Tat willen die Unsterblichkeit zugesprochen. Und das Vorwort zu den unaufgeführten Komödien feiert die Verdienste des alten Komödiendichters, der das spanische Drama „aus den Windeln gehoben habe". Auch erklärt Cervantes, daß er von der Aufführung, die er als junger Bursche gehört hatte, noch Verse im Gedächtnis habe und daß er sie noch heute vorzüglich befinde. Damals - so heißt es weiter -

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konnte man alle Requisiten für die Aufführung in einem Sack unterbringen. Lope de Ruedas Komödien seien eine Art von Eklogen gewesen, bestritten von zwei oder drei Hirten und einer Hirtin. Mit Recht wird dann die Bedeutung der Zwischenspiele („pasos" nannte sie Lope de Rueda) hervorgehoben. Man weiß, daß Cervantes' eigene „entremeses" die Tradition dieser dramatischen Kleinkunst fortführten. Für die Kunst des Komödienschreibens war aber Lope de Ruedas Vorbild nicht mehr zu brauchen. Denn in den Jahren, die zwischen dem Theaterbesuch des staunenden Knaben und der ersten Aufführung des Dichters lagen, war die Entwicklung des spanischen Theaters in ein neues Stadium getreten, vor allem durch das Auftreten Juan de la Cuevas (1543-1610), dessen szenische Wirksamkeit noch in die Lebenszeit von Cervantes fällt. Cervantes hielt diese Entwicklung nicht für einen künstlerischen Fortschritt; aber er konnte doch nicht umhin, ihr Rechnung zu tragen. Man versteht, daß er keinen Grund zur dankbaren Nennung von Rivalen sah, die die Bedingungen des Wettstreits so verändert hatten. Aber die Übergehung gerade Juan de la Cuevas muß doch auffallen. An diesen Namen knüpft sich ja die entscheidende Neuerung: der Durchbruch zu den Stoffen der nationalen Geschichte und der kastilischen Legende und die Einführung der Polymetrie im Drama. Wie die Farben eines Teppichs durchweben in einer rhythmischen, aber dem szenischen Gehalt genau angepaßten Folge italienische und spanische Versmaße und Strophenformen (Oktave, Sonett, Terzine, Romanze, Redondilla usw.) das Gefüge dieser erneuerten Komödie. Der Stern Lope de Vegas war im Aufgang: er schuf im Anschluß an die Errungenschaften Juan de la Cuevas die lyrisch-realistische, romaneske Komödie, die für mehr als ein Jahrhundert in Spanien die Geltung behalten sollte. Die frühen Stücke von Cervantes stehen, was die polymetrische Versifikation und ihre großschwingende, aber vor Senecas Metaphernfülle sich zurückhaltende Sprachbewegung betrifft, unverkennbar in der Schuld Juan de la Cuevas. Dagegen verhielt sich Cervantes durchaus spröde gegenüber den geschichtlichlegendären Stoffen. Zwar hat er in den algerischen Komödien aus eigener Anschauung ein zeitgeschichtliches Gemälde entrollt und in „La Numancia" auf Grund eines knappen Berichtes die spanische Vorgeschichte poetisch zu erhellen versucht, aber beide Stoffe stehen, der eine durch seine Aktualität, der andere durch seine historische Entrücktheit, außerhalb einer Poetik, die das Geschichtliche zum Prinzip der Gestaltung machen wollte. Cervantes' aristotelisches Gewissen, ja seine ständig vertretenen Meinungen über die Kunst ließen sich mit einer solchen poetischen Praxis nicht vereinbaren. Das Dichterische und das Geschichtliche sind grundsätzlich zu scheiden, was nicht besagt, daß aus die-

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ser Trennung nicht eine Dialektik hervorgehen wird. Cervantes beobachtet die irrigen Versuche, entweder die poetische Formung der geschichtlichen Mannigfaltigkeit anzupassen oder aber eine ästhetisch unvollkommene und unvollendbare Schöpfung durch ein pseudohistorisches Etikett als Geschichtswerk zu tarnen. Die Verirrung der ersten Art begeht ein Dichterling aus dem „Gespräch zweier Hunde", der den Papst, von zwölf violett gekleideten Kardinälen begleitet, auf die Bühne bringen will und hartnäckig auf dem Violett besteht, „denn als der Fall sich ereignete, den die Geschichte meiner Komödie berichtet, war die Zeit der mutatio capparum, in der die Kardinäle nicht mehr Scharlach, sondern violett tragen: und so müssen unter allen Umständen, zur Wahrung der Besonderheit („para guardar la propiedad") meine Kardinäle violett auftreten. Dies ist ein für mein Stück entscheidender Punkt, und ein Irrtum meinerseits ist ausgeschlossen, ich habe nämlich das ganze römische Zeremoniell durchgearbeitet, nur um in der Kleiderfrage Bescheid zu wissen." Im allgemeinen nehmen sich die Bühnenschreiber aber nicht die Mühe, durch äußere Dokumentierung die „propiedad" zu wahren. Sie verfallen in den umgekehrten Fehler, dehnen die Handlung nicht durch ein belangloses Detail, sondern lassen vielmehr ihre Phantasie willkürlich mit geschichtlichen Fakten umspringen, die verbürgt und auch dem Durchschnittsverstand („un mediano entendimiento") bekannt sind. So erwähnte Cervantes, daß Karl der Große, Gottfried von Bouillon und der Kaiser Heraclius sich in einem derartigen Machwerk ein Stelldichein geben. Darin liegt eine Verletzung der Mimesis und Wahrscheinlichkeit, die bei allbekannten Stoffen der Geschichtswahrheit nicht zuwider laufen sollte. Der Fiktion der Komödie wird die Wahrheit der Geschichte untergeschoben („atribuirle verdades de historia"). Die Historie braucht einen anderen Ausbreitungsraum für die Entwicklung der Fakten. Der Dramatiker, der sie umspannen will, gelangt dann zu der Konsequenz, im I. Akt ein Wickelkind auf die Bühne zu schieben, dem im II. Akt schon ein wallender Bart gewachsen ist. Zweimal gibt Cervantes dieses Beispiel für die Regellosigkeit des zeitgenössischen Bühnenspiels („Don Quijote" I, 48). Die einen sahen darin eine Anspielung auf Juan de la Cueva („Los siete infantes de Lara"), die anderen auf ein Stück Lope de Vegas. Das Paradigma findet sich übrigens schon in Lopez Pincianos 1596 erschienener „Filosofia antigua poetica" (dem wichtigsten Beitrag Spaniens zur aristotelischen Ästhetik), und es dient in jedem Falle zur Beleuchtung der Inkongruenz der geschichtlichen und der dramatisch-dichterischen Zeit. Damit ist gesagt, daß das darstellerische Verfahren sich von geschichtlicher Beschreibung grundsätzlich unterscheidet; historische Stoffe sind von der Bühne nicht ausgeschlossen, aber sie müssen sich unter das Gesetz der poetischen Mimesis stellen. Der Dichter der zwölf violetten Kardinäle hat für eine schlechte Sache das rieh-

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tige Wort: „guardar la propiedad". Diese Forderung ist konstituierend für Cervantes' dramatische Theorie. Was ihm an Ruedas schlichter Kunst vorzüglich crschicn, ist eben die Charakteristik der Figuren „con la mayor propiedad". Die pomphafte Veräußerlichung der dramatischen Effekte in der modernen Komödie wird oft genug durch Entseelung, Verzeichnung oder Verflüchtigung der Personen erkauft. Der Schlüssel liegt nicht in der Raum- und Zeiteinheit; sie sind nur die Bedingungen für die Entfaltung der Charaktere und des dramatischen Prozesses. Wenn sich Cervantes über die aus allen Erdteilen zusammengeflickten dramatischen Bilderbogen lustig macht, so hat er doch selber nicht gezögert, in einer Heiligenkomödie die Handlung, die zur Vollendung eines Gottesdieners führen sollte, von Spanien nach Südamerika zu verlegen. Dieses Stück - „El rufiän dichoso" - hat der Kritik von jeher ein Ärgernis gegeben. Nach Stoff und Ausführung schien es alle dramatischen Theorien des Dichters zu dementieren. Das Stück stellte an die Komposition besondere Anforderungen. Unmöglich ließ sich ohne Preisgabe der inneren Entwicklung des Helden die Handlung auf einen Ort zusammendrängen. Um die Verletzung eines Gesetzes, die Cervantes seinen Rivalen nicht nachsah, entschuldbar zu machen, ist zwischen dem ersten und zweiten Akt zur Vorbereitung des Ortswechsels ein dramaturgisches Zwischenspiel eingeschaltet, in dem „Comedia" in eigener Sache hervortritt: Los tiempos mudan las cosas Y perfeccionan las artes, Y anadir a lo inventado No es dificultad notable. Die Zeiten ändern die Dinge Und vervollkommnen die Künste; Das Erfundene zu bereichern, Ist kein ernsthaftes Bedenken. Lope de Vega hätte sich nicht unterfangen, die Theorie der Pefektibilität in so klaren Worten zur Apologie seines viel „fortgeschritteneren" Theaters auszusprechen. In seiner „Neuen Kunst, Komödien in dieser Zeit zu verfertigen" (1609) wagt er es überhaupt nicht, seinen dem Brauch, der Zeit und dem Volksgeschmack schmeichelnden dramatischen Kompositionen den Charakter der Kunst zuzuerkennen. Echte Kunst bleibt in den Grenzen der großen Vorbilder und der aristotelischen Poetik beschlossen, während die Dramaturgie seines Theaters sich außerhalb jeder ästhetischen Gesetzlichkeit entwickelt. Dagegen liegen die vier Verse des Cervantes schon in der Richtung der von Perrault

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und Fontenelle am Ende des siebzehnten Jahrhunderts versuchten Apologie der modernen Diditung im Streit der „Anciens et des modernes". Perrault verteidigte sidi in einem Brief an Boileau gegen den Vorwurf der Unterschätzung der antiken Dichter. Nidits liege ihm ferner, wohl aber habe die Antike etwas nicht besessen, was audi unsere mittelmäßigen Werke über die großen Schöpfungen der Vergangenheit hinaushebe: „Les lumieres et les secours dont l'usage et l'experience ont enrichi les derniers siecles; car voilä toute la substance de mon systeme." - „Die Erleuchtung und der Beitrag der Praxis und der Erfahrung, mit dem die letzten Jahrhunderte bereichert wurden; denn das macht mein ganzes System aus." In seinem Kern bewegt sich der ganze Streit um den durch das Christentum gebrachten Fortschritt, der sich in den Schranken der antiken Kunstlehre nidit sinngemäß gestalten lasse. Daß die Idee des Fortschritts schon von Fontelle säkularisiert wurde, liegt auf einem anderen Gebiet. So fährt bei Cervantes denn „Comedia" in ihrer Selbstverteidigung fort: Buena fui pasados tiempos, Y en estos, si lo mirares, No soy mala, aunque desdigo De aquellos preceptos graves. Gut war ich im Altertum, Und heute, schaust du richtig zu, Bin ich nicht schlecht, obgleich ich jene Ernsten Vorschriften verleugne. Der moderne Gebrauch nun, den die „Comedia" vor allem mit dem rastlosen Wechsel des Handlungsortes verknüpft, muß notwendig Gesetze der Kunst verletzen („que no se sujeta al arte"). Das steht im Widerspruch zu jener ersten Behauptung einer Vollendbarkeit der Künste. Indessen wird der Bruch der geforderten Ortseinheit bis zu einem gewissen Grade durch die Verpflichtung zur Mimesis, zur Nachahmung des Geschehens, entschuldigt. Wie diese geographische Unternehmungslust sich auf dem zeitgenössischen Theater austobt, das freilich wird von Cervantes mit beißender Ironie verzeichnet: Y la comedia es un mapa Donde no un dedo distante Veras a Londres y a Roma Y Valladolid y Gante. Eine Karte ist das Lustspiel, Keinen Fingerbreit getrennt

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Siehst du London neben Rom, Valladolid neben Gent. Was aber solchen Ortswechsel letzten Endes doch wieder möglich macht, ist ein „Fortschritt" - wenn man so will, die moderne Weiträumigkeit und Erkenntnis der blitzschnellen Leichtigkeit des Gedankens. So rechtfertigt sich die Komödie in Cervantes* Zwischenspiel: El pensamiento es ligero, Bien pueden acompanarme. Leicht ist der Gedankenflug, Und man kann midi wohl begleiten. Alles kommt nun darauf an, mit welchem Sinn diese neuen Gegebenheiten gefüllt werden. Deutlicher gesagt: nur ein moderner, christlicher Stoff kann den Grund der veränderten Anschauung bilden und den Szenenwechsel rechtfertigen. Für das Schicksal des Christen wird das ganze Leben zum Augenblick und die ganze Welt ein Ort der Entscheidung. Die Dimension von Zeit und Raum verschiebt sich, ohne daß dadurch die Einheit des Geschehens und der Handlung gebrochen würde. Den Titel des Stückes müßte man übersetzen: „Der selige Raufbold". Für die beiden letzten Akte ist die Quelle bekannt, ein 1596 erschienenes Werk eines gewissen Fray Agustin Dävila. Cervantes folgt diesem Wunderbericht von den Taten eines in Mexiko weilenden und wirkenden Heiligen Christoph vom Kreuz. Jedesmal, wenn ein Wunder sich begibt, beruft sich Cervantes auf die Quelle, als wolle er sich selbst von jeder Verantwortung entlasten. Der spanische Literarhistoriker Americo Castro sieht darin den persönlichen Vorbehalt des Dichters gegenüber seinem Stoff und dem christlichen Wunder überhaupt. Dem ist entgegenzuhalten, daß kein Mensch Cervantes zur Bearbeitung eines solchen Stoffes genötigt hat. Das Stück ist zusammen mit den übrigen unaufgeführten Stücken im Komödienband von 1615 enthalten. Des Cervantes Einspruch gegen die willkürlichen Zutaten der Phantasie galt auch für die Heiligenkomödien ; der Nachweis war zu erbringen, daß die dargestellten Wunder nicht phantasiegeboren, sondern durch eine kirchliche Autorität verbrieft waren. In dem berühmten Literaturgespräch („Don Quijote" 1,48) heißt es: „Und wenn wir erst auf die Comedias divinas zu sprechen kommen 1 Was wird da alles an falschen Wundern erfunden, was an ungesicherten (apocrifas) und mißverstandenen Begebenheiten I Einem Heiligen wird das Wunder eines andern zugeschrieben. Und selbst in den weltlichen Stücken wagt man mit Wundern aufzuwarten, ohne Rücksicht auf etwas anderes, als daß die Dichter sich ein-

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bilden, gerade an dieser oder jener Stelle würde ein Wunder oder eine Erscheinung (wie sie das nennen) passen, um die unwissenden Menschen zu verblüffen und ins Theater zu locken. All das geschieht zum Schaden der W a h r h e i t . . . " E r beanstandet also eine Phantasie, welche die durch die Autorität der Kirche beglaubigten Stoffe überwuchert. Das Wunder an und für sich ist überhaupt nicht Materie der Besinnung; es gehört zu den im Glauben verankerten Stoffen; bei ihrer Darstellung muß ihre verbürgte Form gewahrt werden. Cervantes folgte in dieser einzigen Heiligenkomödie seiner Quelle. Seine eigene Zutat ist der das unheilige Vorleben des Bruders Christoph in Sevilla schildernde erste Akt. Mit Recht stellte man dieses unvergleichlich ausgemalte Genrebild in die Reihe der meisterhaften Kleinkunstwerke der „Novelas ejemplares" (Exemplarischen Novellen) und der Zwischenspiele. Aber über den ersten Akt hinaus versagte man dem Dichter die Gefolgschaft. Cervantes frönte einem verirrten Zeitgeschmack, vielleicht, um den auf andern Wegen vergeblich angestrebten Bühnenerfolg zu erzwingen. Tatsächlich aber gibt der künftige Heilige schon in seinem Vorleben den Charakter zu erkennen, der in der besonderen Ausprägung seiner religiösen Natur wiederkehrt. Das Urteil hängt davon ab, ob Cervantes auch diese Figur „con la mayor propiedad", in der Konsequenz ihres Wesens darzustellen vermochte. Im übrigen ist es natürlich immer problematisch, einen Helden mit esoterischen Mächten zu verstricken. Der überweltliche Vorgang führt an eine Grenze der Darstellung, jenseits derer alle Erscheinungen ihre Konturen verlieren und aus ihrer weltlichen Gesetzlichkeit heraustreten. Der Protagonist heißt in seinem weltlichen Leben Lugo. Trotz niedriger Geburt hatte er das Glück, in Sevilla in die Hausgemeinschaft eines äußerst ehrenhaften höheren Gerichtsbeamten, des Inquisitionsrates Don Tello de Sandoval, aufgenommen und für das Studium ausersehen zu werden. Statt aber entschlossen auf der ihm geebneten Bahn zu gehen, gibt sich der junge Mann einem turbulenten Jugendleben hin und treibt sich in der Halb- und Unterwelt herum, ein König der Ganoven und ein Schrecken der Polizei, die ihm mit Rücksicht auf seinen Gönner freies Spiel gewähren muß. Zu Beginn sieht man Lugo in einen Streit mit anderen Messerhelden verwikkelt. Er führt die verwegene, mit Argotausdrücken untermischte Sprache, die ihm so locker im Munde sitzt wie der Degen in der Scheide. Der Streit wird durch das Auftreten einer Polizeistreife unterbrochen. Aber der Schützling eines so mächtigen Herrn wie Don Tello de Sandoval ist natürlich immun. Lugo empfindet es als beschämend, daß man nur seinen Beschützer und nicht seine Person fürchtet. Aus solchen Betrachtungen reißt ihn Lagartija, ein aufgeweckter sevillanischer Junge, um ihn zu einem üppigen Mahl zu laden, das vier

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Frauenzimmer veranstalten. Lugo hört nur zerstreut hin, wird aber durch die wahrhaft poetische Schilderung der bevorstehenden Genüsse gefangengenommen: j Lagartija, bien lo pintas I Lagartija, gut erzählst du! Vielleicht wird er ihm zuliebe hingehen: Que tienes un no se que De agudeza, que me encanta. Denn du hast ein Irgendetwas, Einen Witz, der mich bezaubert. Es frappiert, daß „agudeza", die höchste Forderung an die höfische Bildung Graciänscher Prägung, selbst in der korrupten Welt des Verbrechens zu Hause ist. Geschmeichelt durch das Lob Lugos entwickelt Lagartija seinen großen Plan. Er will „sich verbessern", heraus aus seinem bisherigen Leben. Lugo ist einen Augenblick betroffen, denn auch er hat ja eine Bekehrung vor Augen. Lagartija beabsichtigt, als ein ,,de las bolsas verdugo" (Scharfrichter der Taschen) ein gediegeneres Handwerk als bisher zu ergreifen. Wie in der höheren Welt gibt es auch hier eine regelrechte Hierarchie, die den Begabten feste Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Zum Schluß empfiehlt sich Lagartija als Romanzensänger. Die Komposition beginnt, wie alle populären Schöpfungen dieser Art, mit genauer Datierung und behandelt ein „fait divers", den Tod eines Matadors, Opfer seines Berufs. Der Wackere betrat die Arena, und der Stier verließ den Zwinger, um im ersten Anlauf den Helden auf seine Hörner zu nehmen und in seinem Blute liegen zu lassen. Weiter nichts : Y aqui da fin el romance Porque llego el de su vida. Und so schließt auch die Romanze, D a sein Leben damit endet. Die Grazie dieser Schöpfung liegt in ihrer Pointenlosigkeit; sie ist eine Parodie nicht nur auf die vulgären „romances de guapo" (Raufheld), sondern auf die ganze Romanzengattung, die nicht eigentlich zu erzählen und novellistisch zu steigern versteht, sondern nur evoziert und den stimmungsmäßigen Umkreis einer Begebenheit erfühlen läßt. Es folgt eine peinliche Szene. Lugo wird von einer verheirateten Dame verfolgt; aber sein wenig galantes Strategema führt die Dame in ihre eheliche

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Botmäßigkeit zurück. Der Plan des Ganzen will nämlich, daß Lugo vor seiner Bekehrung keine Todsünde begeht und selbst in seinem weltlichen Treiben sich nicht aufgibt. Unterdessen hat der Alguacil (Polizeioffizier) bei dem Inquisitionsrat Beschwerde geführt. Don Tello verspricht, seinen Schützling nach Mexiko mitzunehmen. Es folgt eine turbulente Massenszene. Lugo und seine Bande brechen in eine Konditorei ein und nötigen den Konditor, sie freizuhalten. Der nächste Auftritt offenbart zwingend das dramatische Genie des Cervantes. Wieder ist man im Hause des Inquisitionsrates, der in aller Frühe sein Stundenbuch aufschlägt. Da erscheint ein Mädchen von zweifelhafter Aufmachung, das Lugo sprechen will. Der Inquisitionsrat verbittet sich höflich, aber entschieden solche Besuche bei Morgengrauen. Als er aber hört, daß die Dinge doch wesentlich harmloser liegen, als zu vermuten war, erlaubt er dem Wesen, in einem Versteck das Kommen des jungen Mannes abzuwarten. Dieser bleibt nicht aus und erschrickt nicht wenig, seinem würdigen Gönner zu so ungewöhnlicher Stunde in die Arme zu laufen. Während seiner frommen Ermahnungen wundert sich Don Tello über die steifen Bewegungen des ertappten Sünders. Es stellt sich heraus, daß Lugo einen Degen verbirgt, ein unziemliches Gerät für einen Theologiestudenten. Tello de Sandoval will nun allen Ärger auf einmal austragen und holt die Dame aus ihrem Versteck. Aber damit nicht genug, stellt sich auch Lagartija ein. Die Anwesenheit der schwarzen Robe verwirrt ihn, so daß er seine Botschaft nur mühsam herausbringt. Es handele sich darum, den von der Polizei verfolgten Vater Carrascosa herauszuhauen. Ohne Rücksicht auf den alten Herrn und seine kaum verhallte Predigt stürmt Lugo mit Lagartija davon. Der Inquisitionsrat bleibt mit dem Mädchen zurück und forscht nicht ohne Rührung danach, was für ein Vater da mit diesem Carrascosa befreit werden müsse, ob vielleicht ein Pater, ein Mönch gemeint sei. Die Aufklärung ist außerordentlich befremdend. Wie man auch sonst aus vielen zeitgenössischen Werken weiß, heißt in der Gaunersprache „padre" schlechthin der Besitzer eines verrufenen Hauses. Don Tello bemerkt nur trocken, daß der Sprachgebrauch hier denn doch ein ehrliches Wort in bedauerlicher Weise herabziehe. Im zweiten Akt ist Lugo in Mexiko als frommer Dominikaner eingekleidet, Fray Cristobal de la Cruz, und mit ihm Fray Antonio, ehedem Lagartija, der sich aber nicht in die neue Rolle schickt und vor Heimweh nach Sevilla vergeht. Dann sieht man eine Dame aus der besten Gesellschaft Mexikos, Dona Ana, den Besuch ihres Hausarztes empfangen. Dieser erklärt ohne Schonung, Pulsschlag, Augenfarbe, alles spreche für einen plötzlichen Tod. Dona Ana ist aber nicht so leicht aus der Fassung zu bringen:

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En los ojos, de mi cara Suele mirarse el amor. - Vuestra Merced se confiese Y quedense aparte burlas. Sonst pflegt man in meinen Augen Stets nur Liebe zu ergründen! Lassen Sie den Beichtiger holen, Und genug mit solchen Spaßen 1 Jedoch ist es der Patientin noch immer nicht um das Beiditen zu tun. Sie stellt vielmehr Betrachtungen über die aufdringlichen und unwissenden Ärzte an. Sie fühlt sich etwas matt und entschließt sich zu einer Ausfahrt. Eine phantasmagorische Szene bietet ein vom Teufel einstudiertes Ballett, womit, der Quelle zufolge, Bruder Christoph in Versuchung geführt werden sollte. Im nächsten Auftritt liegt Dona Ana schon krank zu Bett. Ein Kleriker redet auf sie ein. Die Kranke reagiert noch immer blasiert und interesselos. Unter dieser mondänen Oberfläche tritt dann freilich ein wirklicher Gedanke hervor. An ihr Heil sei nicht zu denken. Wie könne man im Ernst glauben, daß Gott sich plötzlich für eine Sünderin ihrer Art einsetzen sollte? Die Sterbende erträgt dieses Bewußtsein ihrer Verlorenheit mit völligem Gleichmut, aber das Geschrei des Priesters fällt ihr auf die Nerven. Ehe der aufdringlidie Seelsorger die Tür findet, tritt auch noch Cristobal an das Krankenbett. Das nimmt der Patientin vollends die Fassung: iBien parece que ignorais Como para mi no hay Dios! No hay Dios, digo, y mi malicia Hace que con mortal discordia, Que esconda misericordia El rostro, y no la justicia. Offenbar begreift ihr nicht, Daß es für mich Gott nicht gibt! Gott nicht gibt, denn meine Sünden Zwingen das Erbarmen, feindlich Sein Gesicht von mir zu kehren, Aber nicht so das Gericht! Cristobal de la Cruz, der kein Kasuist, sondern ein Heiliger ist, nimmt die Erklärung in bonam partem: er hört eine Art von Demut heraus. Vergeblich sucht er das Vertrauen auf die Verzeihung zu wecken. Indessen hat das Er-

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scheinen dieses Menschen doch eine Wandlung in Dona Ana hervorgerufen und sie aus ihrer Erstarrung befreit. Das Charisma des Heiligen vermag, was der Routine des Klerikers versagt blieb. D e r längst abgeschlossene Prozeß in ihrem Innern ist plötzlich wieder aufgerührt. Wie soll sie ohne gute Werke vor ihrem Richter bestehen? D a erbarmt sich Fray Cristobal und übernimmt die schlechten Werke der Sünderin, um sie gegen seine guten auszuwechseln. Als Bürgen dieses eigentümlichen Vertrages werden Christus und die Gottesmutter angerufen. Dona Ana beichtet und stirbt versöhnt, ihrer Erlösung gewiß. Auch diese Wendung war durch die Quelle vorgeschrieben, aber Cervantes ist es geglückt, den Helden von Anfang an für diese Sendung vorzubereiten. Schon als ein Raufbold, der immer für andere eintritt und seine Seele dabei scheinbar verkümmern läßt, erprobt sich, dem Gesetz seiner Neigung gehorchend, der Lastenträger Cristobal. D i e in diesem Treiben erworbene Kenntnis der fremden Seele und die Gewohnheit der Entselbstung wird nunmehr ihren gottgewollten Sinn offenbaren. Was in dem Stück noch geschieht, nachdem die entlastete Seele verschieden ist, steht unter dem Zwang einer hagiographischen Tradition. D a s spirituelle Leben hat seine eigenen Gesetze. Nachdem die Seele befreit wurde, bleiben die Sünden als objektive Tatsache bestehen; sie müssen irgendwie untergebracht werden. Unmöglich kann Gott ihre Sünden dem bereitwilligen Lastenträger aufbürden. Indessen hatte sich dieser gerade vermessen, als christlicher Athlet die Belastungsprobe auf sich zu nehmen, und auch ein liebender Gott kann seinen Diener von der Konsequenz seines Wesens nicht völlig lösen. So erlebt man, daß die noch abzutragenden Sünden in einer widerwärtigen Hautkrankheit augenfällig werden, die das Gesicht des Heiligen bedeckt. Nach seinem seligen Ableben verschwindet das Geschwür mit einem Schlage. So wollten es der Stoff und die innere Konsequenz der geistigen Prozesse, wie sie gerade die Legende auszeichnet. Cervantes ist mit den Mitteln seiner Kunst so weit gegangen, als die Schwingungen des menschlichen Kräftefeldes reichen. Was darüber geht, wirkt „befremdlich" und will nicht anders wirken, es gehört in den Bereich des Glaubens. Welcher Art ist nun die theologische Quintessenz dieses Stückes? Cervantes wurde schon durch seine Quelle in eine Richtung gedrängt, die in Spanien seit einigen Jahren eine theologische Kampffront darstellte. Die augustinischen Dominikaner vertraten, darin den Protestanten und den späteren Jansenisten in Frankreich nahekommend, die Auffassung, daß das Heil nur durch die besondere Gnadentat Gottes, die Erweckung zum Glauben gesichert werden könne. Ihre Gegner, die Jesuiten, sahen schon im Geschenk der Willensfreiheit die Begnadung aller Menschen, die keiner besonderen Bemühung und Parteiergreifung des Schöpfers mehr bedurften. Dominikanisch war zweifellos die

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Quelle von Cervantes. Der Held der Heiligenkomödie ist zum Heile berufen. Die Werkgerechtigkeit, die die Jesuiten in Anspruch nehmen, hätte auch die Seele der Dona Ana nicht retten können, wenn Cristobal nicht ihre Sünden auf sich genommen und damit den Weg zum Glauben in ihr freigemacht hätte. Sicher lag es Cervantes fern, in einem theologischen Streite Stellung zu beziehen. Aber soviel verrät die Grundhaltung seines Werkes, daß er nach wie vor der jesuitischen religiösen Praxis mit großen Vorbehalten begegnete. Cervantes war es darauf angekommen, die personale Einheit inmitten der religiösen Metamorphosen zu wahren. Diese Einheit des Helden geht in den späteren religiösen Dramen Lopes und vor allem Calderons restlos verloren. Das Erlösungswerk begünstigt die ärgsten Verbrecher, in deren Vorleben nichts auf ihre spätere Begnadung hindeutet. Offenbar wollte Cervantes durch diesen „Hürdenlauf", zu dem ihn der Stoff der Heiligenkomödie zwang, seiner Auffassung der Person als einer unverbrüchlichen, von Anbeginn geformten und gefestigten Einheit zum Siege verhelfen. Der Bruch der geforderten Einheit des Ortes war leicht in Kauf zu nehmen, wenn es gelang, gerade durch die Vielfalt der Situationen die innere Konsequenz sichtbar zu machen. Cervantes hat es bei diesem einmaligen Experiment bewenden lassen. In seinen späteren Stükken tritt eine ganz andere, ja entgegengesetzte Seite des religiösen Lebens zu Tage. Die Beschäftigung mit dem Theater begleitet das ganze Leben des Dichters. Zeitliche Ausbreitung und Vielfalt der dargestellten Stoffe macht die theatralische Produktion zu einem Fächer der Grundintentionen und Leitmotive des Dichters. Freilich ist die chronologische Reihenfolge wenig gesichert und nur annäherungsweise, durch ein Kriterium des Stiles, zuweilen auszumachen. Cervantes ist der seltene Fall einer späten Erweckung aus einem so zieltreu geführten und fast schon verbrauchten Leben. Zu lange war der werdende Dichter dem literarischen Medium entrückt, in dem die Stiltraditionen von selbst ihre prägende Macht ausüben und wo dem Genius die ihm zukommende Stelle nicht verweigert wird. Diesem fehlenden Kontakt mit den Repräsentanten der zeitgenössischen Literatur entspricht auch der Umstand, daß Cervantes Zwischen den Generationen stand. Die einfache Hinnahme des „desengano", der völligen Desillusion an allem politischen und gesellschaftlichen Geschehen, die den Jüngeren den Weg zur Literatur freigab, war ihm versagt, und er blieb auf das Gesetz seiner Lebenserfahrung verpflichtet, womit er zum einzig berufenen Deuter der Geheimnisse der sich schon neigenden spanischen Zeit ausersehen war. Es darf nicht wundernehmen, daß Cervantes nach Lopes ersten Erfolgen trotz aller inneren und ausdrücklichen Vorbehalte gegen diese mühelose Ent-

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Miguel de Cervantes. Leben und Werk

bindung aller poetischen Impulse - dem Zauber der Lopesdien Ausdruckstechnik in seinen ferneren Bühnenversuchen eine Zeitlang verfiel. Die leicht aufgesetzte und lang verhallende Lopesche Verssprache und Dialogführung wird schnell zur atmosphärischen Bedingung für jeden Dramatiker. Für die sonst nicht zu ermittelnde Chronologie der Cervantesstücke gibt dieser Einfluß ein Datierungskriterium: so vor allem die Preisgabe seines eckigen Hendekasyllabus zugunsten der beschwingten spanischen Kurzverse. Unter den ersteren aber taudien Sonette auf, unter den letzteren greifen Romanzen um sich, wozu sidi zuweilen die „versos de cabo roto" (d. i. mit abgebrochenem Versende) gesellen. Ihrem Gehalte nach sind aber audi die späteren Stücke ganz unverkennbarer Cervantes, ja, häufig schließen sich ihre Themen eng an die Motive der großen Prosawerke. Figuren seiner Erzählungen, die der Dichter lange mit sich trug, kehren auf dem Theater wieder und erwachen hier zu neuem Leben. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts kam die Theorie auf, daß die Komödien, die sich mit dem neu errungenen Begriff der überragenden Geltung des „Quijote" schwer vereinbaren ließen, als Parodien der Lopekomödie aufzufassen wären. Schon J. L. Klein hat sich in seiner maßlos polemischen Weise gegen diesen allzubequemen Versuch gewandt, verschiedengeartete und diffuse Kompositionen auf diese Weise zu klassifizieren. Bei der Behandlung der „Entretenida", einer Gesellschaftskomödie, gesteht Klein der befehdeten Theorie aber doch „ein Gran Wahrheit" zu. Nach seiner Meinung hat jedoch Cervantes nicht den Nebenbuhler, sondern seine eigenen Stücke parodiert. Der Begriff der Parodie als ein auf Grund von mimischer Einfühlung erreichten verzerrenden Wiedergabe ist gewiß mit dem Ernst der Cervantesschen Bemühung unvereinbar. Wohl aber versucht er sich in den von Lope aufgebrachten Kunstmitteln, weil ihre innere Tragweite nur durch eine eigene Schöpfung geprüft werden kann. Sichtbar aus Lope de Vegas Figurenkabinett sind in „La entretenida" die Träger einer reichlich absurden Handlung. Da erwartet eine Dame namens Marcela die Rückkehr ihres Vetters von einer Reise nach Amerika. Für die vorgesehene Eheschließung bedarf es jedoch eines päpstlichen Dispenses. In der Zwischenzeit hat sich ein Student hochstaplerisch für den erwarteten Vetter ausgegeben; Amor hat ihn aber so sehr in den Bann geschlagen, daß er trotz aller Ermunterungen seines Gracioso und Dieners keinen Schritt in seiner Liebe vorankommt. Allein diese Rolle eines Galans, der nicht haut und nicht sticht und so wenig erotische Ausstrahlung besitzt, daß seine Angebetete sich gelangweilt abkehrt, greift zerstörend in die innere Ökonomie der Komödie. Als aber der wirkliche Vetter auftritt, folgt ihm der Hiobsbote aus Rom auf den Fersen.

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Der Papst hat der Verwandtenehe nicht stattgegeben. Ein betrüblicher Umstand, der jede harmonische Lösung ausschließt. Der Verdacht, daß Cervantes seine eigenen Figuren verspottet, ist schwer von der Hand zu weisen. Jedenfalls kommt es am Schluß zu einer allgemeinen „Entflechtung" der Paare. Während die Stücke Lope de Vegas unbekümmert mit doppelter oder dreifacher Heirat enden, war es Cervantes darum zu tun, mit den Mitteln und mit dem Bestand der Lopesschen Komödie ans Licht zu ziehen, wie mangelhaft es um ihre innere Wahrheit bestellt war. Die gleichfalls von Lope übernommene Figur des Gracioso erhält einen ungewöhnlichen Spielraum: die Dienerhandlung erhält in dem Stück beinahe das Übergewicht. Witz und Naturbegabung stehen dem Gracioso überreich zu Gebote. Bald begönnern, bald verspotten die Diener ihre Herrschaft, die nur schwächlicher Reaktionen fähig ist. Einer der Graciosos lästert den dem Reliquienkult bedenklich nahekommenden Fetischismus der Verliebten, die den Zahnstocher aus dem Mund der Geliebten in Gold fassen und wie ein Amulett auf der Brust tragen, „wie wenn es sich um die Reliquie eines Heiligen handelte". Die Verlachung des Aberglaubens läßt schon hier eine äußerste Grenze gewahren, jenseits derer der spanische Kirchenglaube in ein auch für Cervantes unerträgliches Nichts versinken mußte. In der „Entretenida" ist es der schlichte Mann aus dem Volke, der den Kampf mit dem Aberglauben ausficht. Immer ist in den Werken von Cervantes Witz und Naturbegabung auf der Seite des Volkes. Das Kriterium der Naturbegabung entscheidet über die Bürgermeisterwahl in dem Zwischenspiel „La elecciön de los alcaldes de Daganzo" (Die Bürgermeisterwahl in Daganzo). Ähnliches gilt für die beiden Schwindler, denen es gelingt, in dem berühmten Zwischenspiel „El retablo de las maravillas" (Das Wimdertheater) die versammelten Dorfhonoratioren vor einer leeren Bühne in fieberhafte Spannung zu versetzen. Wie die beiden Gaukler des Zwischenspiels treibt sich Maese Pedro, ein von Don Quijote befreiter Galeerensklave, durch die Lande und schlägt aus dem Aberglauben der Leute kleine Münze. Das Motiv der spontanen Naturbegabung gipfelt aber in Cervantes' spätestem Stück, dem „Pedro de Urdemalas" (eigentlich heißt der Name: er ersinnt böse Streiche). Aus dieser legendären Figur, die ein nachweisbares Vorleben in der literarischen Folklore besitzt, hat Cervantes den Meister und Bezwinger des Schelmenstandes zu formen verstanden, den bei aller Unstetheit die Frage der Bestimmung quält. Schon durch diesen einen Zug verrät er das Zeichen des Cervantesschen Genius, über den seelenblinden Schelmenroman ebenso erhaben wie „El rufian dichoso" über die menschliche Inkonsistenz der wundersüchtigen „Comedia a lo divino". Pedro de Urdemalas tritt allen, die eine Bürde mit ernster Bemühung

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tragen, aus ungezügelter Lebensfülle, die christliche Caritas schamhaft verdeckend, als Helfer und wo es not tut als Spießgeselle zur Seite. Aber er bleibt nicht in der Unrast eines sinnfreien Lebens befangen, das er nur im Bewußtsein seiner Vergänglichkeit hinnimmt. Seine wirkliche Sendung erfüllt sich in der Wandlung, durch die das Leben zur Kunst wird und deren Verkörperung die Menschen ergötzt - im Schauspielerberuf. Dieser Pedro de Urdemalas gerät als hospitierendes Mitglied einer Zigeunerbande an einen Ort, wo eine geizige Witwe haust. Ihr säckeweise gehamstertes Gold fließt in die Hände des Klerus, der dafür Heilige Messen zelebriert, um die Erlösung der verstorbenen Verwandten aus den Qualen des Fegefeuers zu fördern. Welche Bewandtnis es damit auch haben mag, entscheidend ist die Verhärtung der Witwe gegenüber den darbenden Mitmenschen : i Y con sola esta obra piensa Irse al cielo de rondön Sin desmän y sin ofensa? Und mit diesem Werk allein Glaubt den Himmel sie zu kaufen Ohne Fehl und ohne Sünde? Der Fortgang der Episode ist eins der verwegensten Spiele, die seit dem „Lazarillo de Tormes" (Mitte des sechzehnten Jahrhunderts) mit einer kirchlichen Lehre getrieben wurden, und läßt doch die Auslegung zu, daß eben diese Lehre vor ihrer mißbräuchlichen und fetischistischen Anwendung geschützt werden sollte. Pedro verkleidet sich nämlich als Einsiedler, spricht in dieser frommen Tracht bei der Witwe vor, gibt sich als Deputierter der in Qualen schmachtenden Seelen zu erkennen und entlockt ihr den Hort, angeblich um durch erneute Zelebrierung von Messen die Sippschaft zu erlösen. So straft er die Verkennung der Menschenliebe, deren irriger Anspruch oben in Frage gestellt wurde. Er erinnert an eine entsprechende Bemerkung Cortadillos über die Heilsgewißheit der Verbrechergilde, die unter Monipodios autoritärer Führung ihr lichtscheues Handwerk treibt. Fast mit den Worten Pedro de Urdemalas hält Cortadillo, der andere Held der Novelle „Rinconete und Cortadillo", den Missetätern entgegen: „ novelero: das letztere hat, Juan Hidalgo zufolge, im Argot die Nebenbedeutung: Nachriditenbringer des Rufiän. Tirso de Molina, Cigarrales de Toledo, hrsg. V. Said Armesto, Madrid: Renacimiento, p. 21. Menendez y Pelayo (Hrsg.), Origenes de la Novela, t. Π (NBAE, 7), p. XLVUI. Novelistas posteriores a Cervantes, Α. I (BAE, 18), p. 2 L0pez Pinciano, Philosophie antigva po&ica, Madrid 1596, p. 168. Bekanntlich hat der Marquis de Santillana aus der Dreiheit der rhetorischen Stile drei Stufen der Dichtung erschlossen, und zwar vom soziologischen Standort ihrer Erzeugung ausgehend. Im 16. Jahrhundert kehrt die Dreiteilung des Spradistils in korrekte Gelehrtensprache, höfisch verschmolzene Diktion und vulgäre in Solözismen strotzende Unbekümmertheit häufig wieder. Als Beispiel sei nur angeführt: Martin de Viciana, Libro de alabanzas de las lenguas Hebrea, Griega, Latina, Castellana y Valenciana. 1574. Neuausgabe Valencia 1877. Die hombres de sciencia haben die wirkliche und korrekte Sprache, die Caballeros, Höflinge und Städter, „que hablan muy cortes, polido y gracioso", verschleifen ihre Aussprache sehr stark, die Villanos aber sprechen alles verkehrt. Miguel de Cervantes, Novelas Exemplares, 1613, Ndr. Berlin, Buenos Aires 1923, Prologo. Miguel de Cervantes, Viaje al Parnaso, Madrid 1784, p. 53. Vgl. E. Buceta, La admiracion de Graciän por el infante Don Juan Manuel, in: RFE, t. XI, 1924, p. 63-66. Novelistas posteriores a Cervantes, t. Π, (Madrid 1854) (BAE, 33), p. 47. Vgl. Palau; t. IV, p. 275, für die späteren Ausgaben auch A. Schneider, Spaniens Anteil an der deutschen Literatur, Straßburg 1898, S. 232. Laut: Academia Espanola, Diccionario de la lengua castellana, t. IV, Madrid 1734, p. 683. Zabaleta, Dia de fiesta por la tarde en Madrid, Ausg. d. Gesellschaft f. romanische Lit., 50, Jena 1938, S. 55 f. [Ausg. Madrid 1754, S. 103 f.]. Graciän, El Criticön, parte Π, crisi I ; ed. Huesca 1653, p. 18 f. Aus den von M. Herrero-Garcia, Estimaciones literarias del Siglo XVII, Madrid 1930, p. 353 ff., zusammengetragenen Belegen für den Nachruhm des Don Quijote geht hervor, wie sehr man damals geneigt war, das Werk zu der Gattung zu schlagen, die zu vernichten es gekommen war. - In einem andern wertfreien Zusammenhang kommt Graciän auf die Belle-

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tristik zu sprechen. La Agudeza, y Arte de Ingenio (Obras, Π, Barcelona 1748, p. 247) führt unter den Formen des Witzes an die „Agudeza por desempeSo en el hecho". Sie gilt als das principal artificio que haze tan gustosas, y entretenidas las Epicas, Ficciones, Novelas, Comedias, y Tragedias". Eine scharfe Grenzziehung zwischen diesen Begriffen verbietet sich, aber die Zuordnung zu Versepen, Ritterromanen, Romanen und Novellen, Lust- und Trauerspielen liegt nahe. Wenn die Ästhetik der klassizistischen Ausläufer des Siglo de oro die vulgäre Belletristik verwarf, so wurde sie dodi benützt als Fundgrube der angewandten Rhetorik, und in deren Widerschein erhielt sie einige Geltung zurück. Ximenez Pat0n hatte in einem rhetorischen Werk, D e las instituciones de la gramitica espanota, Baeza, enthalten in: Ximenez Patön, Mercurius Trismegistus, 1621, fol. 196 r, auf Grund der klassischen Stildreiteilung dem „tenue genero" alle familiären und im „lenguage casero y comun" gehaltenen Werke gerechnet, darunter die „Carnestolendas", den „Lazarillo", die „Celesrina", aber audi nidit genannte, vulgärsprachliche Werke von höherem Anflug. Die rhetorisdien Genera dicendi in einer Reihe von Novellen auseinanderzulegen blieb Jose de la Vega mit seinem 1682 in Antwerpen ersdiienenen Rumbos peligrosos, por donde navega con titulo de Novelas la (ozobrante Nave de la Temeridad vorbehalten. In koozeptistischer Freiheit werden durcheinandergewürfelt die novela entretenida, erudita, aguda, burleza, fabulosa, grave. Die Schätzung der Novelle ist so gering geworden, daß Balthasar Orobio in seinem empfehlenden Begleitschreiben betont: „Mas no pudo lo raro deste ingenio acomodarse a esta Uaneza (sc. der Novelle), porque habituado a lo grande, no hallo medio con que entrecharse ä los pequefios y vulgares limites de la Novela. Procedi0 en estas con novedad de estilo, no imitando ά alguno, ni con facilidad imitable de otros, porque cada linea es un concepto, cada pagina una y muchas erudiciones, sin que la multitud de conceptos, ni lo numeroso de la erudicion; obste & la gustosa intelligencia de lo que se refiere." 22 Torres Villaroel, Vida, Madrid 1912 (Cläsicos Castellanos, 7), p. 52. 23 Noch Mayans y Siscar rechnet den „Quijote" zu einem „ginero de Narraci0n fabulosa", zur „Ficcion entretenida", die weniger „gravedad" als der Ernst der Geschichte erfordere. (Origenes de la lengua espanola, 1737, p. 203 f.) Den literaturgeschichtlichen Topos „novela inmortal" für „Don Quijöte" bringt: Cadalso, Cartas Marruecas, 1793 (CUsicos Castellanos, 112), p. 51.

Die Welt im spanischen Sprichwort

Den spanischen Sprichwörtern hat man seit jeher eine besondere Stellung eingeräumt. Schon durch ihre Zahl übertreffen sie die aller anderen Nationen. Ein Sammler wie der spanische Forscher Rodriguez Marin hat im Verlauf seines Lebens allein 70000 „refranes" zusammengebracht und herausgegeben. Der exorbitante Reichtum an Sprichwörtern zeugt für ihre Beliebtheit. Das Sprichwort bildet ein nicht wegzudenkendes Element der mittelalterlichen spanischen Literatur; es mischt sich in alle Gattungen ein. Der Funke des Witzes, das schwelende Feuer eines sardonischen Humors, die Fähigkeit der Einfühlung in die mannigfachsten Situationen des Daseins, der beständige Wechsel einer bodenlosen Skepsis und eines rücksichtslosen Lebenswillens, die Bekundung des fortwährenden Zustands der höchsten Gespanntheit der in den Lebenskampf hineingerissenen Menschen, der plebejische Grundcharakter, in dem die mittelalterliche Gemeinfreiheit mit rebellischer Kühnheit noch einmal hervortritt - das alles sind Züge, die gewiß im Wesen der ganzen Gattung angelegt sind, die aber nirgends so konsequent ausgebildet wurden wie in den spanischen „refranes". Mittelalterliche Sprichwortsammlungen sind in nicht geringer Zahl aus den verschiedensten Gebieten auf uns gekommen. Solche Kompilationen fassen die mannigfachsten literarischen Bestandteile in einer lehrhaften Absicht zusammen: neben den salomonischen Sprüchen der Weisheit, den Kerngedanken hellenischer Naturphilosophie und stoischer Ethik, den „Goldkörnern" oder „goldenen Bissen", die unter dem Namen Catos in Umlauf waren, biblischen Erleuchtungen und patristischen Lehrsätzen, neben all diesen Gedankensplittern und Splittergedanken, Scholien, Fragmenten, Aphorismen, Maximen, Sentenzen, Sinnsprüchen, Losungen haben, freilich noch ungeschieden von der Masse des gesunkenen Kulturguts, auch die Sprichwörter des Volkes eine bescheidene Stelle gefunden. Unter verschiedener sprachlicher Gewandung

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blieben sie lange unerkannt inmitten der ungeheuren Scherbensammlung eines eklektisch zusammengewürfelten Bildungsrepertoriums. Man nimmt an, daß die mittelalterlichen Gelehrten aus Witz oder Spieltricb in den aphoristischen Formen der hochgeschätzten Sentenzen die vulgärsprachlich in der Weise und Sprache des Volkes verfaßten Sprichwörter hinzuerfanden. Entscheidend war aber in jedem Falle die Volksverbundenheit solcher Sprachschöpfung, die ihr Ohr ganz nah am Herzen des Volkes haben mußte. Schon die ältesten literarischen Denkmäler aus dem 13. Jahrhundert enthalten einzelne Refranes, und im Lauf der Zeit durchsetzt das Sprichwort alle Gattungen der kastilischen Dichtung. Schon im 14. Jahrhundert hat sich das Sprichwort in einem typisch spanischen Ritterroman, im „Caballero Cifar" eingenistet, und zwar durch die Gestalt eines Knappen, der als der erste Keimträger der Sprichwortepidemie dem unsterblichen Gefolgsmann Don Quijotes die Wege bereitet und, wie dieser drei Jahrhunderte später, die spanische Weisheit bei jeder Gelegenheit mit seinen nicht enden wollenden Sprichwortlitaneien verschwendet. Aus derselben Epoche ist uns eine Sprichwortsammlung überkommen, die ein Student auf der Rückseite seines Kollegheftes zusammengestellt hatte. Dem 14. Jahrhundert gehören an die Erzählungen des Infanten Juan Manuel, die unter dem Titel „El Conde Lucanor" erschienen und jeweils mit einer sprichwortartigen Maxime enden. Eine leitmotivartige Stellung erlangten die Sprichwörter in dem „Buch der guten Liebe" (Libro de buen Amor) des Erzpriesters von Hita, einer wahren Enzyklopädie der strategischen Künste und Praktiken einer petulanten Erotik. Im 15. Jahrhundert brachte ein anderer Erzpriester, der von Talavera, eine Fülle der neidischer Zanksucht der Weiber entsprossenen Sprichwörter zusammen. Mit dem Mittelalter ist wohl die große Epoche der Sprichwortschöpfung vorübergegangen; aber die humanistische Ära begann, angeregt durch Erasmus' „Adagia", eine leidenschaftliche Sammeltätigkeit, begleitet von den ersten Versuchen einer wissenschaftlichen Kommentierung der Refranes. Die Sprichwortkunde (die „Parömiologie") beginnt mit dem 16. Jahrhundert. Verschiedene spanische Landschaften sind an den nun entstandenen großen „Refraneros" beteiligt: Kastilien durch Nünez und Correas, Andalusien durch Mal Lara und Caro y Cejudo, Aragon durch Pedro Valles. Seit dem 16. Jahrhundert unterschieden die Spanier ihre volkstümlichen „refranes", zu denen sich auch die sprichwörtlichen Redensarten gesellen und die anspruchsvolleren „proverbios", Sprüche mit meist gesichertem oder überliefertem Ursprung. 1523 erschien in Valencia eine schmale Sammlung kommentierter Refranes aus der Feder eines Klerikers namens Dimas. Auch hier

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wird dem Sprichwort noch ein verbindlicher Lehrgehalt zugesprochen. Offenkundig ist die Mühe des Herausgebers, die Geschlossenheit eines moralischen Systems aufrechtzuerhalten. Aber die seltsamsten Widersprüche lassen sich doch nicht verhehlen - sie müssen allenfalls nach dem Gesetz der regelbestätigenden Ausnahme verantwortet werden. Einige wenige Refranes erscheinen unheilbar krank: sie werden durch besorgte Kommentare isoliert und aus der frommen Versammlung ausgeschieden. In Zaragoza erschien 1549 das „Buch der Sprichwörter" von Pedro Valles. Der Herausgeber versucht sich in einer subtilen Beschreibung der Gattung: „Ein Sprichwort ist ein berühmtes und durch irgendeinen besonderen und ergötzlichen Umstand auffallendes Kurzwort. Ein Spruch dieser Art ist altehrwürdig, knapp in der Form, scharfsinnig und witzig, dunkel durch eine gewisse Art des sinnbildlidien Redens . . . Das Alter gibt ihnen Autorität und Gewicht der Überzeugung, obschon sie an und für sich ihre Hörer gefangennehmen. Die goldene Kürze der gefälligen Sentenzen macht sie bei allen willkommen . . . Ihre Dunkelheit erregt Bewunderung. Im Gebrauch erweist sich ihre Wahrheit. Die Erfahrung ihrer Nützlichkeit veranlaßt uns, sie einzuüben." Unter dem Einfluß des Erasmus stand der bedeutende Humanist aus Alcala de Henares, Professor Hernän Nunez, dessen mehrsprachige Sprichwortsammlung 1555 postum erschienen ist. Der Herausgeber war überzeugt von dem Vorrang des spanischen Sprichworts vor den Sprichwörtern aller anderen Völker. 1536 hatte ein Traktat des Sprachforschers und Humanisten Juan de Valdes die bedeutende Stelle der Refranes in der literarischen Überlieferung seiner Nation ausgemittelt. Derselbe Autor zieht als erster die klare Grenze zwischen den gelehrten Hinterlassenschaften der Antike und der Kleinkunst des Volkes: „Die Refranes unterscheiden sich aber von ihren griechischen und lateinischen Vorfahren dadurch, daß sie aus den volkstümlichen Ausdrücken hergeleitet, ja, daß sie zum größten Teil von den alten Weibern hinter dem Feuer, während sie ihre Spindeln laufen ließen, ausgetragen und genährt worden sind, wogegen die griechischen und lateinischen Sprichwörter bekanntlich von gebildeten Leuten aufgebracht w u r d e n . . . Um aber die Eigenart der kastilischen Sprache richtig einzuschätzen, ist der Hauptvorzug dieser Sprichwörter gerade ihre Herkunft aus dem Volk." Dem Sprichwort wird hier die gleiche Autorität für die Festigung des spanischen Sprachbewußtseins beigemessen, wie sie die klassischen toskanischen Dichter für die Normierung der italienischen Nationalsprache hatten. In der Kleinkunst des Sprichworts sah man also die urtümlichen Muster der Sprachgesinnung vor sich. Aber die Schätzung des Sprichworts blieb nicht bei der

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Erkenntnis ihres geschichtlichen Beitrags stehen. In der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts werden die Refranes als Quellen einer natürlichen Offenbarung gewürdigt, ja im Lichte eines inspirierten Wissens gesehen. Während man früher den volkstümlichen Ursprung des Refranes verkannte und gerade in der Unkenntnis ihrer Natur sie in die Goldkornsammlungen philosophischer Weisheit hereinnahm, ist es jetzt diese ihre klar herausgestellte Herkunft, die ihnen höchste Beachtung in den Augen der Humanisten sichert. Diese sogenannten Vulgärhumanisten nahmen der späten Aufklärung ein Thema vorweg: den Glauben an die Vorbildnatur des ursprünglichen und naturhaft verwurzelten Menschen. Kennzeichnend für diese Haltung ist der Titel der bedeutendsten und reichkommentiertesten unter den vormodernen Sprichwortsammlungen, Mal Laras „Philosophia vulgar": Das Sprichwortwissen beschreibt eine besondere Seite im geheiligten Buch der Natur. Auf ihr wird ein spanisches Urwissen lebendig. Lange vor den Griechen hätten nämlich die Spanier schon ihre Refranes gehabt. Und mit kühnem Griff wird der Ursprung der Nation in das goldene Zeitalter zurückverlegt, in dem die seligen Menschen mit der Gottheit verbunden waren und im täglichen Umgang mit ihr erleuchtet wurden. Sprichwörter sind Einstrahlungen des göttlichen Geistes: „Kleine Evangelien". - Ihren Höhepunkt erreicht die literarische Auseinandersetzung mit dem Sprichwort in der Gestalt des Sancho Panza, der ein „wandelnder Sack von Refranes" ist und mit diesem unerschöpflichen Repertoire die nicht enden wollenden Gespräche mit dem Ritter von der traurigen Gestalt bestreitet. Das Sprichwort ist durch diesen kleinen Mann die Verkörperung der Denkund Lebensform eines universalen menschlichen Typus geworden. Aber Cervantes hat durch die Kontrastierung von Ritter und Knappen, von Idee und Erfahrung zugleich den von Mal Lara verbreiteten Glauben an die Weisheit des Sprichwortdenkens in eine dauernde Krise gezogen und auf eine unwiederbringliche Weise eingeschränkt. Die Erfindung des Sancho Panza führt nicht zur Apologie, sondern eher zur Entlarvung der „Philosophia vulgar". Nur in der Brechung der Ironie erhielt sich über den Sprichwortlitaneien der goldene Abglanz ihres Ursprungs. Auch in den Werken der großen Moralisten Quevedo (1580-1645) und Baltasar Graciän (1601-1658) konnte eine Sprichwortparade nicht fehlen. Aber wie hat sich im Laufe einer Generation die Zeit verdüstert! Der Mantel der Liebe, mit dem die heitere Ironie des Cervantes die Vielfalt des Daseins umfaßte, ist zerrissen, und das Sprichwort steht, von keiner verzeihenden Gebärde gestreift, vor dem Richtstuhl eines sarkastisch absprechenden Geistes. Was ihm jetzt zur Last gelegt wird, hatte ihm dereinst zu hohen Ehren verholfen: Ausdrude einer vulgären Denkform, verfällt es mit dieser dem Abscheu der kritisch eingestellten Elite, und die

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Vernunft vermißt sich, die bedrohliche Inflation von abgegriffenem Sprachgut durch ein Dekret aus dem Umlauf der Rede zu ziehen! Das Interesse am Sprichwort ist in allen Ländern durch eine riesenhaft angeschwollene Literatur bekundet. Aber in keinem Land der Welt ist die Flora der Sprichwörter so üppig hervorgeschossen, und in keinem haben sie den Geistesraum so tief durchdrungen wie in Spanien. Wie ist nun aber die Feststellung der mittelalterlichen Herkunft der Sprichwörter mit der auch heute noch ungebrochenen Aktualität zu vereinbaren, die aus den meisten Refranes so unverkennbar hervorleuchtet? Die Sitten des spanischen Mittelalters sind nicht die Sitten des heutigen Spaniens, noch weniger können sie an unseren Anschauungen gemessen werden. O f t hat man in den Sprichwörtern eines Volkes den nationalen Charakter ablesen wollen. „Sprichwörter sind Völker", sagt Goethe. In der Tat kann nur die nationale Geltung der Sprichwörter ihre die Ursprungszeit überdauernde Sinnkraft erklären. Was wir den Charakter einer Nation nennen, das ist aus der Grunderfahrung einer für die Volkwerdung besonders entscheidenden Epoche hervorgewachsen. Eine solche Epoche war das spanische Mittelalter. Unter dem Gesetz der Reconquista, d. h. der späteren Wiedereroberung der von den Mauren besetzten Halbinsel, bildeten Wehrbauern den Stock des Heeres; sie erhielten aus den verödeten Grenzgebieten, soviel sie mit ihren Familien bebauen konnten. Dieser gemeinfreie Zustand hatte sich bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts erhalten. Erst nach der Eroberung Andalusiens bildet sich auf den dort schon vorhandenen Latifundien ein Feudalismus aus, der vom 14. Jahrhundert an die Monarchie in sein Schlepptau nahm. Der Protest der Gemeinfreien gegen die neue Form der Klassenherrschaft hielt sich lebendig; er ist an der Entstehung des nationalen Charakters entscheidend beteiligt. Das spanische Sprichwort geht von unten nach oben. In ihm findet die Perspektive des einfachen Volkes (ähnlich wie in den Romanzen) einen unvergleichlichen Ausdruck. Was den spanischen Sprichwörtern das Gepräge verleiht, ist das eines unbändigen unentwegten Rebellentums gegenüber allen Ansprüchen und Zumutungen der herrschenden Stände. Die Perspektive des freien Bauers überwiegt. Überall tritt deutlich zum Vorschein die Kampfstellung gegenüber dem feudalistischen Herrentum, vor dem nur die Königsmacht einen Schutz gewährt. Sie hat zuweilen den Vorrang des geringeren Übels. Diene nicht, wem du einmal gedient hast, und bitte nicht, wen du einmal gebeten hast.

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Im Herrenland bereite niemals dein Nest! Besser als die Gnade deiner Herrn, Brosamen von des Königs Tisch! Die Grafen und Aprilenwetter waren noch immer Verräter. Und noch drastischer der Rat, wenn die Schimpfrede des Herrn über den Bauern niedergeht: Schweig still, und sammle Steine! Im Gegensatz zu diesen spanischen Sprichwörtern sind die französischen vielfach voller Verachtung für das Volk. Das spanische Sprichwort hat einen unverrückbaren Standort. Die Stimmung des Volkes schwankt allerdings zwischen kühnem Selbstgefühl und abgründiger Resignation: Für den guten Mann braucht man keinen Stammbaum zu suchen. Der Arme und der Kardinal sie gehen alle durch dasselbe Tal. Das Zuchthaus und die Fasten sind gemacht den Armen zu Lasten. Gemein ist nicht der Bauer im Dorf, sondern der die Gemeinheit begeht. Der Reiche heißt Ehrlich, und der Gute heißt Töricht. Der König kann mich nur töten, nicht zwingen. Die Herrschaft und die Sonne, je weiter weg, desto besser. Dem alten Esel und dem Herrn bleibt man am besten möglichst fern. Nach hundert Jahren sind die Könige Bauern geworden und nach hundertzehn die Bauern Könige. Die bedrückenden Erfahrungen des Volkes erklären die geistige Grundhaltung des Sprichworts: das Mißtrauen gegen alles und jeden, ein Miß-

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trauen, das beim Nachbarn beginnt und bei Gott nicht endigt, ein Mißtrauen, das den Verkehr von Ort zu Ort nur nach Steinwürfen mißt und den Dauerkrieg zwischen allen Landschaften und Stämmen entfesselt, das im Ärgernis am ewig Weiblichen seine gewöhnliche Nahrung findet, das sich selbstquälerisch mit den Haßfiguren der lästigen Verwandtschaft umstellt und schließlich den Zweifel ins Herz aller Dinge vortreibt, die den Menschen zu seinem Verderben locken. Der Stammblattfiguren des Sprichworts braucht man nur kurz zu gedenken: Schwiegereltern und Schwäher. Das Leben der Frau wird an der Seite des Mannes wie ein fortgesetzter Anschlag auf seine Ehre empfunden. Entsprechend brutal und barbarisch sind die Maßregeln zu ihrer Bändigung: Dem Weib und der Henne die Gurgel umgedreht, und sie gibt dir das Leben. Gib acht auf das böse Weib, und auf das gute verlaß dich nie! Dem sittigen Weib brich ein Bein und sperr sie ein! Die geistige Grundhaltung des Sprichworts ist also das Mißtrauen. Man kann im Mißtrauen eine erste Bewegung zum Denken sehen - eine Bewegung freilich, die das Individuum in seinen natürlichen Bindungen noch nicht erschüttert. Weltanschauliche und religiöse Probleme liegen dem Menschen des Sprichworts ziemlich fern. Trotzdem wäre es verkehrt, den geistigen Ort des volkstümlichen Denkens in den Niederungen einer nackten Zweckmoral zu suchen. Der verschärfte Sinn der Beobachtung, die Bereitschaft, aus jedem Erleben Erfahrungen zu bilden, diese äußerst wachsame Einstellung gegenüber dem Alltag wuchs an dem hochgespannten Maßstab der Menschenwürde und des Anrechts der irdischen Armut am geistigen Reichtum des Daseins. So sah man alle Erscheinungen mit dem doppelten Blick der Erwartung und der Enttäuschung. Wie der pedantische Realismus der gotischen Tafelmaler, so will die anonyme Kleinkunst der „Refraneros" ein jedes Wesen durch genaue Bezeichnung seines kreatürlichen Standorts festnageln. Als käme es darauf an, das Leben durch eingehende Beschreibung aller in ihm gemachten Erfahrungen zur Erschöpfung zu bringen. Selbst das Göttliche konnte dabei in den Bereich der Lebenswahrheiten einbezogen werden:

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Geh in die Messen, gib deinem Gaul zu fressen, und du wirst dein Tagwerk nicht vergessen. Bei einigen dieser Sprichwörter muß man freilich annehmen, daß sie aus einem zweideutigen Geist heraus entstanden sind und bloß durch ihre Formulierung den Notausgang ins Moralische gesichert haben. Das Gefühl für die Grenze von Blasphemie und Gläubigkeit hat sich erst am Eingang der Neuzeit geschärft und unter dem Einfluß von Inquisition und Gegenreformation befestigt. Aber um die in jener kritischen Zeit mit besonderer Leidenschaft gesammelten Refranes hat sich kein Zensor bekümmert. Man hielt es ihnen wohl zugute, daß sie noch aus einer frühen christlidien Lage stammten, in der noch keine Glaubensspaltung das unbefangene Wort beschattete. Die unverblümtesten Beiträge zu dem unerschöpflichen Thema der Nonnenliebe, der Ärgernis erregenden Lebensführung von Klerisei und Mönchtum machten unbelästigt ihren Weg durch die „Refraneros" des 16. und 17. Jahrhunderts. Bedenkliche Aussprüche, wie Wenn dir einer ans Leben will, so stehe früh auf und bring ihn um ließen sich nicht weiter beanstanden, wenn man einen Fall der Notwehr in Betracht zog. „Du kannst" - so heißt es in der Auslegung von Dimas - „zum Angriff übergehen und zu Recht töten, vorausgesetzt, daß du keinen anderen Ausweg siehst. Und so muß dieses alte Volkswort gedeutet werden, damit niemand sich entsetze . . . " Ein anderes Sprichwort lautet: Wenn du einmal tot bist, bleibt dir weder Weinberg noch Garten. Zunächst versuchte der Ausdeuter audi hier, den rechten Sinn in das schlechte Wort einzulegen. „Jeder soll, solange sein Auge noch offen ist, richtig handeln, denn nach dem Tod nützen ihm weder Weinberg noch Garten." Doch damit nicht genug: Der Kommentar fühlt sich bemüßigt, in einer zweiten Glosse den üblen Sinn zu tadeln, den dieser Refran nahelegen könnte. Wolle man ihm eine „gesunde" Deutung geben, so müsse man ihn so auffassen, „daß jeder mit dem körperlichen Tod sein körperliches Leben verliert, und somit ist es ganz klar und einwandfrei, was mit dem Sprichwort gemeint ist: Wenn du tot bist, weder Weinberg noch Garten - denn du hast sie ja nicht mehr nötig!" Manchmal versucht auch das Sprichwort, eine allzu krasse Meinung durch eine hinzuersonnene Zutat zu beschönigen:

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Al que yo bien quiera la mujec se le muera, la mala / que no la buena. Wen ich gern habe, der bringe sein Weib zu Grabe, das böse - und nicht das gute Weibl Begrifflich und formell ist der Einschnitt deutlich. Zu dem anfänglich bedingungslos ausgesprochenen Todeswunsch wurde der Nachsatz hinzugefügt, der eine ausdrückliche Korrektur des Refrans darstellt. Eine interessante Erklärung gibt Mal Lara zu folgendem Refran: Dem guten Weibe schließ dich an, und auf die Schlechte lege das Kissen „Es ist eine gewöhnliche Redeweise, eine Frau, von der man sagen will, daß sie häßlich ist, schlecht zu nennen, und so will unser Ref ran ausdrücken, daß, wenn das Weib schön ist (und in diesem Sinn ist das ,gute Weib' aufzufassen), der Ehemann seine Lust an ihr haben soll; wenn sie aber häßlich ist und er sie nicht abschieben kann, solle er ein Kissen in die Mitte legen, so daß er wenigstens davor behütet wird, Visionen zu sehen. Andere erklären das wieder auf andere Art: daß, wenn das Weib gut sei, er sie zu sich nehmen, sie aufmerksam behandeln und ihr schöntun solle; wenn sie aber schlecht sei, solle er sie erdrosseln, indem er ihr das Kissen in den Mund stecke . . . Aber diese Anschauung konnte nur unter grausamen Menschen aufkommen. Und darum soll sie hier keine Stelle haben." Schon aus diesen wenigen Proben kann man ersehen, daß der Sprichwortschatz eines Volkes keinen Boden abgibt für weitgehende Schlüsse über seine moralische Artung. Auch diejenigen Sprichwörter, die von der Vertrautheit des spanischen Volkes mit den Ideen und Einrichtungen seines Glaubens zeugen, gehen durch den Wechsel von Stimmungen und Situationen hindurch und hinterlassen manchmal den Eindruck einer doppelten Buchführung, einer „zwiefachen Wahrheit". Auch die Gottesvorstellung ist im Sprichwort keine einheitliche. Zunächst umkleidet den Richter die unnahbare Würde seines Amtes: Gott ißt und trinkt nicht, aber er richtet und sieht zu. Und: Gott ißt nur Menschenherzen.

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Seine Richteransprüche werden ihre volle Geltung erst im Jenseits erlangen. Hier unten duldet er, wenn auch nicht immer. Wie steht es also um die Gerechtigkeit in der Welt? Gott hat kein Kopftuch, aber er nimmt es der einen und bindet es der andern um. Hier hat ihm das Sprichwort die Züge der heidnischen Fortuna geliehen. Es fehlt aber auch nicht der hämische Tadel an den Verteilungskünsten des Schöpfers, der doch, wenn er will, aus dem blauen Himmel regnen läßt, der auf krummen Linien gerade schreibt. Das gemeinmittelalterliche Gott gibt dem Nüsse, der keine Kinnladen hat, Gott gibt dem Mandeln, der keine Zähne mehr hat wird in Spanien weitergedichtet: Er gibt dem Krätze, der sich nicht kratzen kann, Gott gibt dem Hosen, der sie nicht festbinden kann, Gott gibt dem Rotz, der kein Taschentuch hat. Selbst die gute Meinung des Schöpfers verfällt der Kritik der von ihm Bedachten : Wir baten Gott, daß er Heilige kommen lasse aber doch nicht eine solche Masse! Wenn es dann heißt: Gott gibt das Gut, und die Bienen bringen den Honig, so kann man über die Auslegung im Zweifel sein. Die Frage ist, wie weit es der Mensch mit seinem Gottvertrauen bringen kann: Besser ist, wer Gott vertraut, als wer früh aufsteht.

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Andererseits hilft Gott denen, die sich selber helfen, Gott und das Leben bauen die Dörfer auf. Das Leben aber wird gesehen als die Summe von Gelegenheiten, die man wahrnimmt oder verfehlt: Wem Gott die Wunde schlägt, dem gibt er die Medizin. Wer sich wandelt, mit dem ist Gott. Gott verwundet nicht mit jeder Hand, er schuf in den Flüssen die Furten und die Häfen am Meeresstrand. E r ist ein werktätiger Gott. Er beklagt sich nicht, aber das Seine läßt er nicht im Stich. Und er, der doch in die Herzen schaut, er will die unklare Sehnsucht seiner Geschöpfe nicht verstehen: Wer nicht spricht, den hört Gott nicht. Gott wurde Mann und nicht Weib. So steht er im Kampf mit dem bösen Prinzip, das die andere Hälfte der Menschheit verkörpert. Als Gott ein Mann wurde, da war der Teufel schon zum Weib geworden. Widersprüche ließen sich natürlich hier wie überall zwischen den einzelnen Refranes nachweisen. Das Sprichwort ist eben von der Situation aus gedacht, und diese verlangt eine doppelte Bereitschaft. Die verschiedenartigsten Erfahrungen kommen darin zum Ausdruck. Sie breiten sich wie ein Netz über die Welt, und der Mann des Volkes mag sie als Führer und Plan durch die Irrnisse des Lebens gebrauchen. E r hat sie in all ihrer Bildkraft aufgenommen. Mit jeder Lebenslage verbindet er die Erinnerung an ein Merkwort, aus dem er ohne allzu viel Überlegung einen Tatgedanken gewinnen kann. Auch hier können wir wieder das Vorbild Sancho Panzas betrachten. Sancho Panza ist ja der Patriarch der spanischen Sprichwortkunde. In seiner kleinen Person ist der Gnadenschatz des Volkes nicht zur Ruhe gekommen, sondern aufreizend verkörpert und auf die Probe der Abenteuer und der unerwarteten

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Begegnungen gestellt. Mit Sancho Panza antwortet die gebundene Wahrheit des Sprichworts dem utopischen Rationalismus und zügellosen Freiheitsbewußtsein Don Quijotes. Allerdings muß man hier eines bedenken. Das Sprichwort, das mit Sancho zum Programm und zur Bewußtheit erhoben wurde, hat den Bereich seiner ursprünglichen Geltung verlassen. Don Quijote hat den Sancho Panza entwurzelt. Daher ist das Sprichwort für ihn nicht mehr der aus der Stille wirkende Besitz, sondern eine Mitgift für eine feindliche Umwelt, eine ultima ratio gegenüber dem Erleben der überall ins Bodenlose absinkenden Ruhmesstraße des Quijotismus. Immer, wenn ihm unheimlich zumut wird, leiert Sancho einen Rosenkranz von Refranes herunter. Seinem Mutterboden entrissen, braucht er die bewegliche Gedächtnishabe als ein magisches Mittel für die Wiedererlangung der Sicherheit seines gestörten Gleichgewichtes. Erst auf dieser Stufe des Gebrauchs werden die Widersprüche zwischen den einzelnen Refranes spürbar. Ihrer Geltung entrückt, gehen sie unwillkürlich in eine neue raumlose logische Ordnung über. Aber hier hat es der Rationalismus, der die Fesselung der Vernunft durch die Erfahrung abschüttelt, nur allzuleicht, den Finger auf die Antinomien des volkstümlichen Denkens zu legen. Die Logik der Tatsachen ist eben eine Logik eigenster Art, und die Sittlichkeit kann für das Tatsachenwissen der Refraneros ebensowenig ein geeignetes Kriterium sein wie dasjenige der Wahrheit oder Falschheit. Gewiß erscheinen die Refranes bald in Gestalt von Gesetzen, bald treten sie in der Form einer Forderung hervor. Doch bezieht sich dieses Gesetz stets nur auf eine besondere Konstellation, und jenes Gebot kann nur für den Anlaß gelten, der zu seiner Aufstellung drängte. Das Gesetz vertritt hier nicht die Gesetzmäßigkeit, sowenig wie die Verhaltenslehre des Sprichworts der Ausdruck einer ethischen Norm sein kann. Was sich dahinter verbirgt, ist allein die Einsicht in die Regelmäßigkeit des Weltlaufs und die Forderung, ihr durch erhöhte Achtsamkeit unter allen Umständen Rechnung zu tragen. Wer daher die Sätze der volkstümlichen Erfahrung zu einer Lehre zusammenfügt, trägt immer selbst den Widerspruch in die Welt des Sprichworts hinein. Wer ζ. B. glaubt, hier moralisieren zu können, dem wird es darum immer ähnlich ergehen wie jenem valencianischen Kleriker Dimas. Schon gleich auf dem ersten Gang seiner Betrachtung muß sich Dimas mit solchen Refranes auseinandersetzen, die dem Lehrzweck seiner Sammlung ins Gesicht schlagen: „Laß dich nicht dadurch täuschen, daß einige mit falschem Wissen sagen: Zum schlechten Priester ein schlechter Küster.

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Dies Sprichwort wird nur gesagt, weil es zu dem anderen Wie der Herr, so der Knecht gehört. Und darum sagt man audi: Für eine böse Wunde ein böses Kraut. Aber wer gut ist, der darf keine üble Antwort geben, und gewissenhafte Menschen bekräftigen das, indem sie auf beleidigende Worte nichts geben." Ein andermal erfahren wir von den „bösen Landarbeitern", die „in einem schlechten Erntejahr für die Liebe Gottes nichts geben wollen: Wenn die Felder nichts geben, ernten die Heiligen nichts. Aber du, mein Sohn, mußt das Gegenteil davon tun . . ." Ein anderer Liebhaber der spanischen Sprichwörter und Zeitgenosse Mal Laras, Blas Garay, gewinnt aus ihren Widersprüchen die komische Wirkung seiner „Briefe in Refranes". Er gibt (in der ersten dieser Episteln) einer Dame das Wort, die ihren früheren Geliebten von dem gottgefälligen Entschluß abbringen möchte, in ein Kloster einzutreten. „Ich hörte immer sagen, mein Herr, daß die Gans von Cantipalos dem Wolf in den Weg trat, und den Eindruck einer solchen werde ich jetzt machen, indem ich nämlich das tue, was Ihr eigentlich tun solltet, denn die Frauen müssen gebeten werden, heißt es doch, man solle der Schwiegertochter mit Bitten nahn und die Olla abstehn lan. Aber da der Welt Lauf verkehrt ist und der Rabe nicht schwärzer sein kann als seine Flügel, will ich, wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, den Berg zum Propheten kommen lassen. Und obwohl es heißt, daß, wenn man auch frühe aufsteht, der Tag doch nicht eher graut, und daß besser ist, wem Gott hilft, als wer sich früh erhebt, so mache ich mir doch nichts daraus, denn auf der andern Seite heißt es ja auch: sei nicht trag, und du wirst nicht lüstern sein; die Vorsehung ist ja die Mutter des Glückes, und wer nicht wagt, hat nicht gewonnen. Und so entschloß ich mich, Euch zu schreiben . .." Wie ein herrenloses Filmauto kreuzt der Gedanke durch die winkligen Gassen des Sprichwortwissens. Die Schreiberin muß die unsichtbare Steuerung der Konzessivverhältnisse versuchen, um einen Ausweg aus dem Gedränge der Antithesen zu finden. Sprichwörter können einen praktischen Sinn nur aus dem Leben des Volkes empfangen, sie können nur in dem Geist der Sprachgemeinschaft verstanden werden. Wo dieser verbindende Nerv zerschnitten wird, da müssen sie alsbald zu Petrefakten erstarren. Mit Recht brandmarkt ein moderner spanischer For-

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scher das Treiben der zünftigen „Parömiologen", die ihre etikettierten Mineraliensammlungen durch die Jahrhunderte schleppen. „Sie glauben wunder was zu leisten, wenn sie Hunderte von Refranes über die Liebe, den Eigennutz, die Nachbarschaft, die Familie, die Berufe, Künste, Wissenschaften und Stände anhäufen. In diesen Haufen geben sich dann die alten mit den neuen und sogar mit den unechten Refranes ein Stelldichein, und schließlich kommt all ihre Weisheit doch immer auf dasselbe hinaus. Ganz anders muß das Verfahren sein, mit dem man diesem gnomischen Zweig des volkstümlichen Schrifttums zu Leibe geht, nachdem man sie gesichtet und geordnet hat, und zwar nicht nach dem Gegenstand, sondern nach Epochen, womit ein Beitrag zur Forschung der Volkssprache, der Volkssitten, der Ethik und sogar der nationalen Ästhetik entsteht. . . Die Freude, die wir an ihnen haben, besteht gerade nicht in den neuen Wahrheiten, die sie uns lehren, sondern in ihrer mehr oder weniger genauen Anpassung an die uns seit jeher geläufigen Wahrheiten, in ihrer epigrammatischen und häufig anziehenden Form . . . " (Rodriguez Marin). Sicher ist es eine Aufgabe von höchstem Reiz, die zeitlichen Lagen voneinander abzuheben, aus denen die Refranes hervorgewachsen sind. Was die mit Recht befürwortete Lokalisierung angeht, so wird sie dadurch erschwert, daß die Sprichwörter ihrer Natur nach eine viel größere Werbekraft besaßen als etwa die Romanzen, deren Heimatnachweis audi nur in den seltensten Fällen gelungen ist. Weiter muß man das Expansionsvermögen gewisser Dialekte, vorab des Andalusischen, berücksichtigen. Mit der Neigung zum Auffallenden, die allen Sprichwörtern eignet und die bis zur sprachlichen Verballhornung geht, könnten leicht Wendungen aus charakteristischen Mundarten von einem Gebiet in das andere übergegangen sein. Bei einer größeren Anzahl von Refranes läßt sich aber doch eine Spur ausfindig machen, namentlich da, wo durch die freundnachbarliche Charakteristik umliegend oder entfernt beheimateter Volksgenossen ein Kirchturmhorizont sich öffnet. So äußert sich der Kastilier über seine Nachbarn: Weder die Männer noch der Wind in Aragon bekömmlich sind. Oder wenn gesagt wird: Von Burgos bis zum Meer ist alles Narrheit und verkehrt, so muß der Urheber, der sich im sichern Port der Klugheit wähnte, wie ein Blick auf die Karte lehrt, ein Neukastilier gewesen sein. Vor den hauptstädti-

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sehen Bewohnern von Burgos und Toledo warnt die gewitzigte Einfalt der Dörfler, vor dem Bewohner des Gebirges der Mann der Meseta. Wo es glückt, eine größere Gruppe landschaftlicher Refranes zu vereinigen, lassen sich audi leicht aus ihrem Gehalt kennzeichnende Anschauungen herausheben. Die satansgläubigen Späße der Nordwestiberer kehren im Sprichwort häufig wieder. Wenn der Teufel im Spiel ist, wird man daher geneigt sein, den Weg nach Galicien auszuprobieren. Es wäre im übrigen ein Irrtum, die Lokalisierung einzelner Refranes nach ihrer Mundart für eine Errungenschaft unserer Zeit anzusehen. Schon Mal Lara war in seinen Glossen diesen Zusammenhängen gelegentlich nachgegangen. So liest man bei ihm bezüglich La mujer del pastor a la noche se compon (Die Frau des Hirten schmückt sich zur Nacht): „Hier ist außerdem zu bemerken, daß dieser Refran in den Tälern von Cuenca entstanden ist, denn dort sagt man pon für pone und compon für compone, und wenn wir sonst keine Früchte von diesem Lande hätten, so wäre dieser Refran schon viel als Mahnspruch für die Ehe." Eine stammesgeographische Einteilung der vielen Hunderttausenden von spanischen Refranes wäre wohl denkbar. Aber sie würde nur ihren Ursprung verraten und nichts von dem, was ihr Wesen ist: ihre Geltung. Eine Rede ist ja erst dadurch zum Sprichwort geworden, daß sie in den strömenden Kreislauf der Sprachbewegung geriet. Grundvoraussetzung ist dafür natürlich ein Mindestmaß von Anwendbarkeit, die sich nicht auf die Enge der Heimat beschränken darf, sondern eine Art von Typik beansprucht. Die Situation, die das Sprichwort anweist, unterscheidet sich von der Episode durch die feste Erwartung einer häufigen Wiederkehr. Eine Episode ist einmalig - der im Sprichwort beschriebene Vorgang kann sich jeden Augenblick wiederholen. Aus der Spannung zwischen dem beispielhaften vergangenen und einem erwarteten künftigen Ereignis ergibt sich die präsentische Form, die alle Sprichwörter haben. Die Geltung des Sprichworts hängt von der Dauer der Situation ab, die sich in ihrem sprachlichen Ausdruck, in der Lautung und Wortwahl unverrückbar gegen jeden Fortschritt der Zeit behauptet. Sprichwörter sind Kristalle der Sprache. Sie leisten den stärksten Widerstand gegen den sprachlichen Wandel, als wäre die geringste Retusche ein schlimmeres Übel als die vom Veralten des sprachlichen Ausdrucks drohende Sinnverschleierung, die bis zum völligen Mißverständnis des ursprünglich Gemeinten und zu einer vollständigen Sinnverschiebung führen kann. Trotz seiner altfränkischen Gewandung stellt aber das Sprichwort kein Sperrgut der Sprache dar wie die sogenannten „geflügelten Worte". Diese werden immer in dem Bewußtsein angeführt, daß sie irgendwo

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stehen und durch eine Autorität gedeckt sind. Solche Bildungsreminiszenzen wirken wie sprachliche Fremdkörper im Zusammenhang der Rede, wie Inseln im Strom des Gesprochenen. Der Sprecher unterbricht sich, um einem Kronzeugen für seine Behauptung das Wort zu lassen. Wer dagegen ein Sprichwort anbringt, fällt nicht in dieser Weise aus seiner Rede heraus. Sprichwörter werden überhaupt nicht „zitiert". Sie sind selbst Elemente der Rede. Wer ein geflügeltes Wort anführt, sucht für seine Aussagen einen Beweis zu erbringen. Wer das Sprichwort vorbringt, möchte zeigen, daß seine Rede oder Handlung „nicht von ungefähr" ist, sondern Hand und Fuß hat und, vor allem, auf einem gemeinsamen Besitz zwischen Sprecher und Hörer gründet. Durch das Sprichwort wird die Rede beschwert und herabgezogen in eine kollektive Zone, in ein Mütterreich, aus dem in der Tat die spanischen Refranes, „Sprüche der alten Frauen am Feuer", zufolge dem Titel der ältesten Kompilationen, zu stammen scheinen. Darin liegt zugleich auch die unfehlbar herabziehende, triviale und nur in höchst seltener Beimischung erträgliche Wirkung des Sprichworts begründet: mit ihm „verfällt" die Rede, statt sich in ihrem sondernden Vorsatz zu individueller Gestaltung aufzurichten. Das Sprichwort ist dem fortschrittlichen Einfluß des Zeitgeists nur in beschränktem Maße unterworfen, weil die tieferen Schichten des Volkes durch den Wechsel der Stile und Moden, durch den Wandel der geistigen und politischen Ideen nur langsam ergriffen und umgemodelt werden. Wo Sprichwörter einmal dem Wandel unterliegen, hat man häufig den Eindruck sprunghafter Willkür. Da die Gefühle mit großer Zähigkeit an den überkommenen Formulierungen haften, so wird oft auch ein mißverständlich gewordener oder als widersinnig empfundener Refran dadurch am Leben erhalten, daß die Phantasie ihn ergänzt oder an ihm weiterdichtet. Nicht selten ist die Absicht eine gewollt burleske, namentlich wenn sie ihren Ursprung im Studentenwitz hat. Der Beitrag der Scholaren zur Entstehung und Verbreitung der Sprich- und Schelmenwörter kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ganz ähnlich wie das Schillersche Zitat trivialisierend umgebildet wurde Der Übel größtes aber sind die Schulden, hat man dem schulmeisterlichen Morgenstund hat Gold im Mund die Antithese angeheftet: Faulheit stärkt die Glieder. Der spanische Forscher Rodriguez Marin hat eine Reihe derartiger Fälle

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beschrieben: „Manchmal betrog die Erfahrung den Beobachter; dieser hatte nicht genug Tatsachen beobachtet, um auf ein sicheres Gesetz schließen zu können, und mit der Zeit ergänzt die Erfahrung der neuen Generationen den Refran . . . Dem Refran Ein Jahr, in dem es schneit ein Jahr, das Güter bringt ist neuerdings der Zusatz angefügt worden: in deinem Haus, wenn du sie schon hast. Man glaubte buchstäblich, daß Wenn donnerstags die Sonne am bedeckten Himmel untergeht, regnet es in drei Tagen. Da dies nicht immer eintrat, heftet sich an das Sprichwort ein drittes Versehen: Aber nur dann, wenn es Gott g e f ä l l t . . . In anderen Fällen bewirkt ein Fortschritt im gesellschaftlichen Leben . . . , daß die Sprichwörter sich über Gebiete erstrecken, auf die sie früher nicht anspielen konnten, da sie nämlich noch nicht existierten. Früher sagte man beispielsweise : Rio, rey y religion tres malos vecinos son (Fluß, König und Kirche drei schlimme Nachbarn sind), und heute setzt man hinzu: Y railes (und Schienen) . . ." Die weiterbildende Tradition schlägt hier dasselbe Verfahren ein, das auch die literarischen Bearbeiter des Sprichwortmaterials befolgten. So berichtet der Literat Linin y Verdugo in seinem berühmten Madrider Fremdenführer von 1620 „Guia y avisos de forasteros", daß er sich mit der Absicht trage, eine spanische Sprichwortsammlung herauszubringen. Dabei werde er den Refranes mit „einem Kostenbeitrag zu Hilfe kommen müssen, den sie reichlich notwendig haben. Die einen sollten durch Zusätze erweitert, die andern berichtigt werden, denn sieht man die Dinge an, wie sie sich in ihrem heutigen Zustand und Jahrhundert vorfinden, so ist der Unterschied zu dem damaligen, in dem sie aufkamen, so groß, daß die einen nichts mehr sagen, wenn man sie nicht erweitert, die anderen, wenn man sie nicht berichtigt. Als man zum ersten Mal diese Sentenz aussprach:

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Pflüge gut und ernte: du wirst Brot ernten, da wird sie richtig gewesen sein, denn unter den Menschen gab es weniger Bosheit, und Gott kam ihnen mit Gewittern zu Hilfe, wenn sie notwendig waren . . . Heute ist um unserer Sünden willen die Erdoberfläche und die Fetthaltigkeit ihrer Eingeweide so schwach und gemindert, daß sie, so gut man auch pflügen und sie pflegen mag, doch nur kümmerliche Früchte hergibt, wie kranke oder lasterhafte Menschen schwächliche Kinder zeugen . . s o fehlt diesem Sprichwort der Zusatz: je nachdem es Regen oder Nebel gab." Von einer Umgestaltung ist hier nirgends die Rede, nur von Angliederung ergänzender Wahrheiten und von richtigstellenden Kommentaren. Das Gewissen des Philologen geht mit dem Respekt der Tradition einig. Das Festhalten an einem einmal überlieferten klanglichen und rhythmischen Gebilde bietet der Erklärung keine Schwierigkeiten, wenn man die Situation als den ursprünglichen Ausgangspunkt der Refranes und als den Anreiz zu ihrer gedächtnismäßigen Befestigung ansieht. Wie sehr das Sprichwort von der Situation aus gedacht ist, das zeigen am einleuchtendsten jene Refranes, deren bejahende und verneinende Form friedlich nebeneinander hergebt. Es handelt sich nicht um eine neue Situation, durch die der Geltungsumkreis eines anderen Sprichworts eingeengt oder aufgehoben würde, sondern die Sache verhält sich so, daß in derselben Lebenslage zwei entgegengesetzte Gesichtspunkte auftauchen und daß beide durch das Sprichwort in Empfehlung gebracht werden: Der Esel weiß nicht, in wessen Haus er wiehert! Der Esel weiß wohl, in wessen Haus er wiehert. Wo der Batzen sich von dir hat finden lassen, da mußt du einen anderen suchen! Wo der Narr ein Geld findet, sucht er ein neues. Wo man dich gern hat, da darfst du nicht oft hingehen. Wo man dich nicht gern hat, da sollst du nicht oft hingehen. Gewisse Verhältnisse werden als entscheidungsreich herausgegriffen und dem Gesichtsfeld des Beobachters nahe gerückt. Das Sprichwort kann den Geist auf die richtige Anschauung der Dinge hinlenken; für ein vernunftgemäßes Denken kann es keine eindeutigen Regeln bereitstellen, sowenig es dem sittlich

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Handelnden eine Instanz bedeutet. Das Denken bleibt an die vorgegebenen Situationen gebunden. Wenn Sancho Panza dem Bann Don Quijotes erliegt und sich aus seinen natürlichen Verhältnissen losmacht, so kann ihm sein „realistisches" Erfahrungswissen keinen Schritt mehr weiterhelfen. Mit all seinem Mutterwitz sieht man ihn jetzt am Seil der Narrheit trotten. Sein gesundes Gefühl für das Tatsächliche konnte sich nur in seinem gesicherten Wirkungskreis bewähren. Die Urteilskraft wird im Sprichwort als bloße Meinungsbildung verworfen - Logik erscheint als Aberwitz der Narren oder Heuchler, welche die Tatsachen überschlagen oder ihnen nachhinken, statt sich nach ihnen zu richten: Während der Kluge denkt, bringt der Dumme sein Vermögen ein. Und Mal Lara führt an: Ich dachte, ich hätte keinen Mann, und so aß ich die Olla allein mit dem Kommentar: „Zwei Dinge sind in diesem Refran: die große Dummheit der Frau mit ihrem ,ich dachte', dem echten Sohn der verlorenen Zeit und der Unwissenheit,. . . denn unter dem ,ich dachte' haben alle denkbaren Torheiten der Welt Platz, bei Adam angefangen bis in unsere Zeiten immer, immer .dachte' ich, daß es dieses wäre, und wieder,dachte' ich, daß es das andere wäre. Wir hören da ein schlechtes Eheweib, das auf seinen Mann nicht warten will, weder am Tisch noch im Bett: ich dachte, ich hätte keinen Mann, und so aß ich die Olla allein . . . " Der Unfug des Meinens führt nur zur Verwirrung der Sitte und zur Verdrehung aller tatsächlichen Wahrheiten: es läßt sich mit Hilfe der Vernunft alles behaupten und alles rechtfertigen. Wenn es eine Philosophie des Sprichworts gibt, so erschöpft sie sich in einem bloßen Erfahrungswissen: ihre Regeln strafen den Anspruch jeder Gesetzlichkeit Lügen. In Wirklichkeit sind alle Versuche der „Folkloristen", den Geist des Sprichworts zu Begriff zu bringen, an dieser Verwechslung von Regel und Gesetz gescheitert. Ein Irrtum, den die apodiktische Sageweise hervorrief. Durch die Gesetzesform bringt das Sprichwort den Vorgang zur exemplarischen Geltung. Alle Register der Rhetorik werden gezogen, um eine denkwürdige Situation in der Seele zu verankern. Alles, was auffällt, dient diesem Zweck. So vor allem die abwegige, ungereimte Sinnverbindung, welche die Grammatiker „Zeugma" nennen: Das Schwein und der Schwiegersohn finden den Weg schon allein.

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Dazu kommt die paroxystische Übertreibung, das bewußte Spiel mit dem Doppelsinn und mit der Zweideutigkeit der Rede oder die Verkürzung des Sprichworts zu einem bloßen Stichwort, zu einem angedeuteten Dialog, einer sarkastisch anspielenden Rede eines Dritten. Auf dem Weg aus dem mittellateinischen und aus anderen Sprachbereichen in den spanischen Refranero haben die „Adagia" erst ihre volle Bildkraft und die Präzision der Situationsgefühle gewonnen. Nur wenige Beispiele mögen dies verdeutlichen: Simia semper simia, etiamsi gestet insignia Aunque la mona viste de seda - mona se queda Das Ei will küger sein als die Henne Αύη no ha salido del cascaron y ya tiene presunciön Quae a puero discuntur, tenacius haerent Lo que en la leche se mama en la mortaja se derrama Den Freund erkennt man in der Not En chica casa y en largo camino se conocen a los amigos Unrecht Gut gedeihet nicht Lo bien ganado se lo lleva el diablo y lo mal ganado y a su amo Fames artium magistra Mas descubre un hambriento que cien letrados Non semper sunt saturnalia Es ist nicht alle Tage Kirmes No todas veces pan y nueces Apres la chose faite chacun est bon conseiller El conejo ido, el consejo venido. Selbstverständlich bewegt sich das spanische Sprichwort auf spanischen Ausdrucksgeleisen : Die Assonanz steht gleichberechtigt neben dem Reim. Der behende Witz spielt mit allen Gefahren des Doppelsinns. Ironisch übersteigerte Hyperbeln, sarkastische Reduktionen des Ausdrucks halten den Geist in wachsamer Spannung und zwingen ihn zum blitzschnellen Erfassen der leise angedeuteten Meinung. Für die germanischen Völker, insbesondere für die Deutschen, ist Ironie und Metapher ein Kunstmittel des gehobenen literarischen Stiles. Im Bereich des spanischen Geistes durchkreuzen sich vulgäre und preziöse Ausdruckselemente beständig; und die Volkskunst kann sich den Zugriff auf die Rhetorik immer erlauben. Dagegen ist das Bedürfnis nach Prär

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zision im Sprichwort gering. E s wird hier nicht ausgeführt und nichts dargestellt, sondern lediglich hingewiesen auf Verhältnisse, die bestehen, und auf Erfahrungen, die allgemein gelten. Das Sprichwort folgt hier dem Geist der spanischen Volkssprache, die mehr suggeriert und andeutet als ausführt und klarstellt, die sich so weit verkürzt, als es das Einvernehmen der Sprechenden zuläßt. Auch diese familiäre Gebärdung des Sprichworts ist ein Mittel der seelischen Werbung. Bald macht es sich vertraut, bald drängt es zu den heftigsten Schockwirkungen, um die Aufmerksamkeit zu erregen. Das Sprichwort erreicht es mit allen Mitteln, seine Spuren im Gedächtnis zu lassen. J a , seine sprach liehe Fügung hat den primären Charakter eines leicht zu fassenden und zu bewahrenden Erinnerungsstoffes. Das Sprichwort ist ein gerissener Mnemotechniker. Im Gedächtnis besitzt das Volk die Instanz, die das Handeln leitet und dem Denken gewisse Richtlinien weisen kann. Das Gedächtnis des Sancho Panza ist ein den Geist Don Quijotes häufig beunruhigendes Geheimnis: „Sage mir nur, wo nimmst du Ignorant sie alle her (die Refranes), und wie wendest du sie an, du Tropf? Um ein einziges zu sagen und richtig anzuwenden, muß ich mehr schuften und schwitzen, als wenn ich die Erde umgraben würde." Dieses Gedächtnis ist nun aber nicht sehr souverän. Es bedarf nur einer geringfügigen Störung von außen, damit seine Leistungen zurückgehen oder gänzlich ausbleiben. Will Sancho eine Geschichte erzählen, so bringt die Befangenheit seine Rede alsbald zum Stocken, und jedes einmal gesprochene Wort muß seinem Nachfolger zur Krücke dienen. „In derselben Art, wie ich erzähle, erzählt man bei mir zu Hause alle Geschichten, und ich könnte sie anders auch gar nicht erzählen; darum ist es nicht gut, wenn Sie von mir verlangen, daß ich neue Gebräuche einführen soll." In solchen Fällen bleibt Sancho Panza mit der letzten Anstrengung seines versagenden Gedächtnisses bei einer einzigen Vorstellung haften, die er bis zum Überdruß seines Zuhörers wiederholt. Die Wiederholung ist dann ein unwillkürlich unternommener Versuch, an das Gedächtnis zu rühren und die Erinnerung neu zu beleben. Die Wiederholung ist aber nicht nur eine Not, sondern eine Tugend. Wiederholen heißt, sich einprägen. Das Wiedertun und das Wiederdenken begründet die Sitte im Gegensatz zu Vernunft und Pflicht, die dem Menschen aufträgt, seiner Einsicht zu gehorchen und nicht der Gewohnheit zu vertrauen. Don Quijote sieht daher für gewöhnlich in den Äußerungen Sancho Panzas nichts als den lauernden Hintersinn der Dummheit. Das Gemeinschaftsdenken des Sprichworts ist seiner Seele fremd. Es findet keinen Platz im Gehege einer idealen Gesellschaft, die er im Geiste der geschichtlichen Vernunft (so wie er sie aus seinen Ritterbüchern kennt) poetisch und schöpferisch aufbauen möchte. Von diesem individuellen

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Stil der Aussage unterscheidet sich die sprachliche Form der kollektiven Gedankenbildung. Das Mitteilungsbedürfnis ist nicht nach außen gerichtet, denn die äußeren Ziele des Handelns liegen unverbrüchlich fest in der beschränkten Sphäre der gewohnten Verrichtungen. Es fehlt der Horizont der Entwürfe, die einer sprachlichen Instrumentierung bedürfen. Die Rede rührt an Gemeinsames und Vergangenes. Man verständigt sich oft durch ein vielsagendes Zwinkern, und die Sprache verkürzt sich in diesem Hinweischarakter des Sprechens. Wie in jeder Familie für gemeinsam erlebte Situationen gewisse Stichworte gebräuchlich sind, deren Bedeutung und Schlagkraft dem fremden Eindringling nicht ohne weiteres einleuchten, so stehen hinter den knappen Andeutungen des Sprichworts die Urerfahrungen einer volksmäßig gebundenen Gemeinschaft. Die Werbekraft dieser Rede beschränkt sich zunächst auf den unmittelbaren Umkreis ihrer Geltung. Nur widerstrebend läßt sich Don Quijote durch die tägliche Kommunikation mit seinem Schildträger allmählich in die Welt des Sprichworts verzaubern. Für ihn hat die Rede den ursprünglichen Sinn einer Propaganda, eines mitreißenden Aufrufs für seine utopischen Ziele. Don Quijote wirbt um Freundschaft und um Feindschaft, er schart Bewunderer und Lacher um sich. Es ist zwar nicht die Welt seines Heldentraums, die er zu sich zwingt, aber doch wenigstens ein breites spanisches Publikum, das er um sich sammelt. Während so Don Quijote mit einer weitausgreifenden Rhetorik eine Allgemeinheit gewinnt, bleibt für Sancho die Sprache des Sprichworts ein Gruß der fernen und verlassenen Heimat, die seine Irrwege mit den Liebesgaben ihrer Refranes auf Schritt und Tritt erleuchtet.

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Die Welt im spanischen Sprichwort

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Werke der altspanischen Literatur, die Sprichwörter bringen oder sich mit ihnen beschäftigen Libro de Alixandre, ed. Morel-Fatio. Dresden 1906 Hl Conde Lucanor del Infante Juan Manuel, ed. Knust. Leipzig 1900 Rius Serra, Refranes del siglo XTV, in: Revista de Filologia espaöola 1926 Arcipreste de Hita, El libro de buen am or, ed. Ducamin. Toulouse 1901 Tirant lo blanch Ndr. ed. Archer M. Huntington, New York 1904 Arcipreste de Talavera, Corbadio, ed. Perez Pastor. Madrid 1901 Caballero Cifar, Neuausg. C. P. Wagner. Ann Arbor 1929 Urban Cronan, Refranes que dicen las viejas tras el fuego, in: Revue Hispanique 1911

Spanische Sprichwortsammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts Refranes famosisimos y provechosos glosados. Burgos 1509. Neuausg. Madrid 1922 Messen Dünas, clerigo, Refranes en prosa glosados. Valencia 1523 Marques de Santillana (15. Jhdt.), Colecciön de refranes. Medina del Campo 1550. Neuausg. Revue Hispanique 1942 Pedro Vall&, Libro de Refranes. Zaragoza 1549 Hernän Nunez, Refranes ο proverbios en romance. Salamanca 1555 Gonzalo Correas, Vocabulario de refranes y frases proverbiales (Ms. des 16. Jhdts.) Ausg. Rodriguez Marin. Madrid 1924 H. Ch. Berkowitz, The „Cuademo de refranes castellanos" of Juan de Valdes, in: The Romanic Review 1925 Emilio Carrillo, Cuatro notas sobre el „Lazarillo", in: Revista de Filologia espaüola 1960, p. 168 Blasco de Garay, Cartas de refranes. Venecia 1553 Juan de Mal Lara, La philosophia vulgar. Sevilla 1568. Madrid 1619. Lerida 1621 Americo Castro, Juan de Mal Lara y su Filosofia vulgar, in: Homenaje a Ram6n Menendez Pidal ΙΠ, Madrid 1925 Sebastian Covarrubias Oroczo, Refranes glosados (Ms. vom Anfang des 17. Jhdts.) Ausg. Cotarelo y Mori. Madrid 1915 Cesar Oudin, Refranes y proverbios espanoles traducidos en lengua francesa. Paris 1605 C. Huygens, Spaensche Wysheit. 1658. - Vertaelde Spreedcwoorden. 1672 über Huygens: C. F. A. van Dam, Un refranero espaüol publicado en Holanda, in: Romanistisches Jahrbuch V 1952

Spanische Sprichwörter, in neuerer Zeit nach dem Gegenstand zusammengestellt Meer

Jose Iturriaga, Refranero del mar, I.II. Madrid 1944

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Die Welt im spanischen Sprichwort

Erziehung

R. Blanco Sfadiez, Refranero pedag6gico bispano-americano. Madrid 1920 G. M. Vcrgara, Algunos refranes espafioles de caricter pedagögico, in: Revista de Dialectologia y tradiciones populäres I. Madrid 1944 Landleben Nieves de Hoyos Sandio, Refranero agricola espaüol. Madrid 1954 Geographisch lokalisierte Sprichwörter G. M. Vcrgara y Martin, Diccionario geografico popular de can tares, refranes, adagios. Madrid 1923 Ernährung A. Castillo de Lucas, Refranerillo de la alimentacion. Madrid 1940

...

Jurisprudenz G. M. Vcrgara y Martin, Algunos refranes espaüoles de caracter juridico, in: Reyista de Dialectologia y tradiciones populäres I. Madrid 1944 Medizin Refranero medico. Refranes . . . selecciooados... y . . . recogidos y anotados. Madrid 1944 J. Sorapän de Rieros, Medicina espaüola contenida en proverbios vulgares . . . Madrid 1949 J'gd J. Jara y Onega, MAs de 700 refranes de caza. Madrid 1950 Katze Hund Esel Ricardo Monner Sans, Refranero gatuno, in: Estudios eruditos in memoriam de A. Bonilla y San Martin. Madrid 1927.1 Ricardo Monner Sans, Perrologia: el perro a traves del Diccionario y del Refranero. Buenos Aires 1923 Ricardo Monner Sans, Asnologia. Vocabulario y Refranero. Buenos Aires 1921

Regionale spanisdie Sprichwortsammlungen aus neuerer Zeit Valencia Colecciön de refranes populäres, ed. M. Peris Fuentes y P. Iiuis Mica. Valencia 1928 Aragonien J. Moneva y Puyol, Paremias que juntö aqui de autores diversos. Zaragoza 1933 Estremadura Rodriguez Monino, Dictados töpicos de Eztremadura. Badajoz 1931 Katalonien J. Amades, Origen i sentit d'alguns proverbis. Barcelona 1933 J. Amades, Calendari de refranys. Barcelona 1933

Die Welt im spanischen Sprichwort

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J. Amades, Els sants en el refranyor, in: Bolleti de la Lleogua Catalana. Palma de Mallorca 1934 J. Amades, Refranys i dites. Barcelona 1935 Baskenland Gustave Brunet, Notice sur les proverbes basques. Paris 1859 J. de Urquijo, Los refranes y sentencias de 1596, in: Revista Internacional de Estudios Vascos. Paris - San Sebastian 1928-1933 Andalusien Luis Montoto, Un paquete de cartas de modismos, de locuciones, frases hedias, frases pro•erbiales y frases familiares. Sevilla 1888 Luis Montoto, Tiquis m i q u i s . . . Madrid 1890 Murcia A. Sevilla, Sabiduria popular murciana. Refranes comentados. Murcia 1926 Galizien Saco y Arco, Literatura popular de Galicia. 1947 Chile R. Chaqui, A. Laval,Dos Paremiologia chilena. Santiago deSantiago Chile 1923 B. razas a traves de sus refranes. de Chile 1942 Argentinien Ricardo Monner Sans, Algo de paremiologia argentina, in: Nosotros 1924 Kolumbien L. A. Acufia, Refraneio Colombia no. Bogoti 1951

Allgemeine spanische Sprichwortsammlungen aus neuerer Zeit Jose Maria Sbarbi, Refranero general espafiol Ϊ-Χ. Madrid 1874-1878 Jose Maria Sbarbi, Diccionario de refranes. Ο bra pöstuma. I. Π. Madrid 1922 F. Rodriguez Marin, Μis de 21000 refranes castellanos. Madrid 1926 F. Rodriguez Marin, 12600 refranes mis. Madrid 1930 Juan Sufie Benages, Refranero däsico. 2200 refranes castellanos. Barcelona 1930 F. Rodriguez Marin, Los 6666 refranes de mi ultima rebus ca. Madrid 1934 F. Rodriguez Marin, Todavia 10700 refranes mis. Madrid 1941 L. Martinez Kleiser, Refranero general ideolögico espanol. Madrid 1953 Eleanore S. O'Kane, Refranes y frases proverbiales espanoles de la edad media. Madrid 1959

Wege der spanischen Frührenaissancelyrik

Sehr im Gegensatz zu Italien wurde in Spanien der Frühhumanismus von einer kleinen Gruppe erleuchteter Geister vorgetragen, die aus sektiererischer Enge in die Zukunft der Nation wirkte. Während drüben in Italien der Humanismus, auf den Schultern des städtischen Bürgertums ruhend, eine so breite Trägerschicht besessen hat, daß die neuen Gedanken rasch bis zur Peripherie gelangten und das Volk in seiner Gesamtheit irgendwie berühren konnten, gab es in Spanien um die Mitte des 15. Jahrhunderts noch keinen Boden für diese Sendung. Die den Hof König Juans II. umlagernde Gesellschaft war keineswegs bürgerlich, sondern ritterlich feudal. Es war nicht eine homogene Masse von Untertanen, sondern eine rivalisierende Schar von Rittern, die durch den Schwerpunkt der Zentralgewalt günstigenfalls im Schach gehalten werden konnte. Das Gesetz des Handelns lag auf ihrer Seite; das Königtum war verurteilt, die Schwäche der Streitenden von Fall zu Fall auszunutzen. Die geistige Atmosphäre an diesem Hof ist durch die Zerrissenheit der Lebensverhältnisse und den unentwegten Personalismus einer überheblichen Ritterschaft bestimmt. Das Streben nach einem kontinuierlichen Zusammenhang der Bildung tritt noch stärker zurück hinter der phantastischen Überhöhung der individuellen Impulse, dem Ruhmverlangen, das in den längst populär gewordenen allegorischen Bahnen der Dantenachahmung einhertrieb, und einer egozentrischen Empfindlichkeit, die sich bald im Schmähgesang Luft macht, bald in der petrarkisierenden Sprache der Minne zergeht. 1 Singulär ist die Stellung Juan de Menas zwischen den Rittern, die in der Dichtung einen galanten Zeitvertreib suchten, und den gewerbsmäßigen Verseschmieden, die ihre Kunst den wechselnden Forderungen der Auftraggeber anbequemen mußten. Juan de Mena ist der erste Spanier, welcher mit klarem Bewußtsein seinem Dichterberuf lebt. Seinen Ruhm verdankt er dem „Labe-

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rinto de la fortuna", gewöhnlich „las trescientas" (d. h. Strophen) genannt. In diesem Werk verbindet sich die klassische Inspiration mit einem neuen patriotischen Impuls. Äußerlich scheint die Schöpfung der Komposition des danteschen Paradiso nachgebildet zu sein. Der Dichter, der die Fortuna ob ihrer Wandelbarkeit anklagt, fühlt sich in eine Art von Trance geraten, und alsbald entführt ihn ein von Drachen gezogener Wagen ins das Reich der Fortuna, durch das ihn eine andere Sinngestalt, die Providentia, geleitet. In den verschiedenen dem Einfluß der Planeten unterstehenden Ringen begegnet er antiken und vaterländischen Helden, unter anderen dem Grafen Niebla, dessen gescheitertes Unternehmen gegen das maurische Gibraltar in prächtigen Versen vorüberzieht. Zum Schluß wird eine große Beschwörungsszene im Stile Lucans 2 veranstaltet, um das künftige Schicksal Kastiliens in Erfahrung zu bringen. Mit dem Ausblick auf eine glorreiche Zukunft der Heimat endet das merkwürdige Gedicht. Zum erstenmal erscheint hier der Dichter in der Rolle eines patriotischen Sehers. Die Sprache, die Mena vorfand, war für seine hochgespannten Ziele offenbar nicht geeignet. So ließ er sich zu dem Wagnis verlocken, das Kastilische aus dem Geist der Latinität zu erneuern. Er unterscheidet sich von den pedantischen Latinisten, die in Spanien und anderwärts eine buntgefleckte Gelehrtensprache ersannen. Die erneute Sprache Juan de Menas zeugt von einer neuen Gesinnung, bekundet die Sehnsucht, aus geläuterter Dichtung die Wiedergeburt der Nation zu verkünden. Damit ist schon gesagt, daß Mena mit seinen Neuerungen das spanische Sprachgefühl nicht verschüttet hat, sondern, von diesem Sprachgefühl geleitet, die kastilischen Wurzeln im Latein bloßlegte, die Muttersprache durch geheimnisvolle Analogien zum Klingen brachte. Dem hochstrebenden Dichter fehlte indessen ein sicherer Maßstab für die eigene Leistung. Religiöse Skrupel ließen ihn nach einer allegorischen Rechtfertigung seines poetischen Fluges suchen. Vsemos de los poemas Tomando dellos lo bueno Mas fuyan de nuestro seno las sus fabulosas temas, sus ficiones y poemas desechemos como espinas por auer las cosas dignas. 3 Noch nicht ergreift ihn „die Disziplin der neuen, nutzlosen Poesie": No me mueve la gran disciplina De la poesia moderna abusiva. 4

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Die ersten kunsttheoretischen Ansätze findet man bei Menas hochmögendem und geistreichem Freund, dem Marques de Santillana, der in einer berühmten Epistel eine lebendige und klug abwägende Darstellung der zeitgenössischen Literatur gegeben hat. Die Sicherheit seines Urteils, in das sich eine kaum merkliche Skepsis einmischt, ist freilich noch nicht getragen von dem Glauben an eine neue poetische Sendung. Wohl tritt in dem frühen Humanismus Santillanas das Wissen um alle vergangenen und gegenwärtigen Möglichkeiten der Dichtung zusammen. Wohl kennt er die Quellen der dichterischen Erneuerung und nennt ihre wichtigsten Vertreter; er ahmt sie bei Gelegenheit nach, ohne den Bann der spätmittelalterlichen im Geist des Rosenromans gebildeten Franzosen abzutun. Als Beitrag Frankreichs gilt ihm vor allem der metrische Reichtum an überlieferten Formen, während der Genius Italiens durch die Pracht der Bilder und des allegorischen Beiwerks erglänzt. Santillana sieht zum erstenmal die Troubadourkunst als eine geschichtliche Tradition, an der die verschiedensten Nationen zusammenwirken. Seine Kunst strebt eine eklektische Apotheose des Meistersanges an. So bleibt der Marques mit allem historischen Feingefühl nach rückwärts gewandt. Die wirkliche Leistung der Italiener konnte sich ihm nicht enthüllen. Seine Verachtung der volkstümlichen Romanzenliteratur zeigt uns die Schranke dieses letzten und aufgeklärtesten Erben der provenzalischen Literatur. Das Gefühl der Wende hat ihn noch nicht besessen, und die Zuwendung zu den patriotischen Stoffen, die Juan de Mena vollzog, konnte von ihm noch nicht gewürdigt werden. Die dichterische Eloquenz des Marques erhebt sich über den Niederungen der populären Dichtung: Ο lucido Jove, la mi mano guia despierta el engenio, aviva la mente el rustico modo aparta e devia e torna mi lengua, de ruda, eloquente.5 Und Eloquenz ist die lebendige Quelle des Dichtertums: La vuestra eloquencia es fuente que mana dulzura de metros6, schreibt Santillana an Juan de Mena. Ein neuer Akzent liegt auf dem poetisch erleuchteten Verhältnis der beiden Humanisten. Die Fadheit des enkomiastischen Gesangs, der mit dem Übermaß an Höflidikeit den Abgrund zwischen Mensch und Mensch überdeckt, wird jetzt abgelöst durch eine bestimmtere Beziehung, in der sich Charaktere als Träger von geistigen Möglichkeiten erkennen und ehren.

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Wunderbar hat Juan de Mena dem Lob Santillanas geantwortet und dessen gereifte Gestalt gedeutet: Perfecta amador del dulce saber, maestro de aquello a que mas aplaze, contra de aquello que bien no se faze, amigo de quanto se deue fazer; enxemplo de vida para mas valer, y animo para sobrar toda muerte, y contra lo flaco mas flaco que fuerte, varon en el tiempo del gran menester. 7 Und wie schildert Juan de Mena die von geistigen Erscheinungen nächtig umringte Einsamkeit des frühen Humanisten: Nunca vos hallo mas acompanado que quando vos solo estays retraydo el punto del tiempo por ocio tenido, aquesse vos faze muy mas negociado dadas al dia diuerso cuydado fazeys que la nodie padesca tal quiebra, que quando los otros estan en tiniebra entonce vos hallo muy mas alumbrado. 8 Ein anderes Mal findet Juan de Mena für seinen großen Freund diese unvergleichlichen Verse: Soys el que a todo pesar y plazer fazedes un gesto alegre y seguro.9 Ein Zeitgenosse, Juan de Lucena, führt die beiden so verschieden gearteten Gefährten zu einer Plauderstunde mit dem gelehrten Bischof von Cartagena zusammen. Das Gespräch, mag es in der elegant stilisierten Form des Gewährsmanns stattgefunden haben oder nicht, ist jedenfalls ein denkwürdiges Zeugnis für die aufgeklärte frühhumanistische Atmosphäre und den bündischen Geist, der sie gebildet hatte. Zur Überraschung Santillanas war es dem Bischof gelungen, die kastilische Muttersprache mit neuem, humanistischen Sinn zu begnaden. „Unsere Volkssprache (nuestro romance), Herr Bischof, wähnte ich der Moralphilosophie nicht angemessen10. Niemals hätte ich geglaubt, daß man sie für Dinge von so hoher Art verwenden könnte." Worauf der Bischof erklärt, daß „unsere Sprache zuerst barbarisch war, dann römisch wurde und schließlich zur Barbarei

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zurückgekehrt sei". Die herrschende Mode des höfischen Minnesangs ist einer Spracherneuerung im Sinne der Latinität nicht günstig. „Wenn die Sprache dem Lateinischen nahekommt, so ist sie fern vom Palast; ein lateinisches Wort wird man unter feinen Leuten nicht hören. Wir, Herr Marquis, dürfen nicht hinter der Zeit dreingehen; wir müssen die Zeit zwingen, zu uns zu kommen. Sprechen wir ein vollkommenes Spanisch und, wo es nötig ist, Latein. Wer es versteht, soll es verstehen, und die anderen sollen Dummköpfe bleiben." 11 Die kastilische Sprache bedarf noch eine Zeitlang des Schutzes und des Vorbildes ihres erwachsenen Begleiters. Nicht immer kann das Sprachbewußtsein einer Epoche als Spiegel ihrer Sprachentwicklung gelten. Wenn Nebrija die Mündigkeitserklärung des Kastilischen auszusprechen wagte, so gründet sich sein Vertrauen doch keineswegs auf die von den letzten Generationen gemachten Fortschritte der Dichtkunst. Vergil und Juan de Mena gelten ihm als die Offenbarung eines vollendeten Dichtertums. Zweifelsohne verdankt Nebrija seine begeisterten Impulse der einzigartigen, politischen Konfiguration, unter der zu leben er das Glück hatte. Jahrhundertelange Ziele einer nationalen Politik waren mit der Niederwerfung Granadas und der Einigung der beiden spanischen Vormachtstaaten erreicht. Das Bürgertum, seit zwei Jahrhunderten aus allen politischen Positionen verdrängt und zur Ohnmacht verurteilt, wurde von der katholischen Königin planmäßig in den Dienst des absoluten Staates gestellt. In der Bürgermiliz, den „Hermandades", schuf sich der dritte Stand eine unangreifbare Stellung. Der drastische Ausdruck dieses Hochgefühls der „kleinen Leute" ist Reynosas Dialog zwischen Wirt und Knappen: Agora todos somos llanos Viva el rey don hernando y reyna dona ysabel pues que en vida della y del no tenemos otro mando Aun no estamos bien vengados de vosotros escuderos porque en los tiempos passados nos teniades sojuzgados podemos ya ser ygualados con hidalgo y cauallero . . .

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Man sieht, wie eng der Bürger seine Sache mit dem Triumph der neuen nationalen Monarchie verknüpft sah. Gerade darum ist es höchst bezeichnend, daß der vor den Kopf gestoßene Ritter seine Blicke über die Grenzen richtet: Por esso digo alomenos que buena pascua aya f rancia porque son de otra constancia y hazen honra a los buenos avn que sean de reyno ajenos hazen honra al ques guerrero 12

Mit dem Aufbau einer nationalen Industrie wurde dem neu erwachten Tätigkeitsdrang eine unabsehbare Aufgabe gewiesen. Die merkantilistische Politik der Königin13 zog alle Volkskreise in den Bann des neuen Lebensgefühls. Während fast in allen Epochen der spanischen Geschichte der bürgerliche Mensch der kleinadligen Ideologie verfallen war, hören wir jetzt von einer Verbürgerlichung des Adels reden: Circunfiden los sefiores el tornarse mercaderes, que no son de unos colores virtudes, gracias, honores, y los flamencos aferes.14 Und in der Hölle gesellt sich zu den Mächtigen der Erde der Raubritter des Geldes: Yo soy, me dixo, muy gran pecador, que f ue por el mundo contino tratando Del huerto del Rey a la liana pasando hize comienzo de mercaduria; y fue tan creciendo mi sabiduria que en todos los bancos de Flandes cambiando hice muy llena la bolsa vacia. Florencia, y Venecia la mucho mas dina y Genova, con Solarona, Leon Sevilla, Valencia, con el Villalon mi trato sintieron, y mas en Medina.15 Auf allen Gebieten war Spanien bemüht, wie Burckhardt sagt, „den centra-

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lisierten, italienischen Staaten zu gleichen, ja dieselben nachzuahmen, nur in kolossalem Maßstabe." 1 6 Die Erfolge der Waffen und des Handels gaben dem Menschen ein bis dahin nie gekanntes Vertrauen in die Bestimmbarkeit seines Schicksals. Niemals in Spanien ist die Geschichte in diesem Grad vom Bewußtsein der Menschen getragen 17 , noch niemals die Einheit aller Lebensäußerungen mit einer ähnlichen Leidenschaft empfunden worden. Der Gelehrte trägt keine Scheu, der göttlichen Vorsehung für das Wiedererwachen der Quantitätsempfindung Dank zu sagen: „Die erste Silbe ist nämlich lang, die beiden folgenden sind kurz, so daß man ebensoviel Zeit braucht, um die erste Silbe auszusprechen wie für die beiden folgenden; das Spanische indessen konnte diesen Unterschied nicht empfinden, bis heutigentags, ich weiß nicht durch welche göttliche Vorsehung, diese Angelegenheit zum Austrag kam: Und ich zweifle nicht daran, daß mit unserer Sprache dasselbe geschehen wird, wenn diese meine Arbeit von den Männern unseres Vaterlands gut aufgenommen werden sollte." 18 Der erleichterte Rückblick auf den ersten zurückgelegten Wegteil täuscht den Wanderer über die noch zu leistende Mühe hinweg. Die kastilische Sprache weiß sich mit einem Schlag im Besitze ihrer Reife, dem nach der Meinung Nebrijas nur noch der Abstieg folgen kann. Als erster spricht dieser Philologe von Sprachentwicklung, die geschichtlich nationale Entwicklung zur Höhe mit dem kühnen Aufschwung der Sprache vergleichend. In Nebrijas Geschichtebild 19 besteht eine lückenlose Übereinstimmung von politischem und sprachlichem Fortschritt. Von neuer Wahrheit geblendet, ist er überzeugt, sie auch vollkommen zu besitzen. Die Aufgabe eines nationalen Erziehers ist daher nicht ein schrittweises Vorwärtsdringen: er will im Sturmlauf die ganze Nation gewinnen. Die neue Grammatik ist ebenso im Dienste der inneren Kulturmission einzusetzen, wie sie den nichtspanischen Untertanen des Königs Ferdinand als Führer dienen kann. Mit der Kenntnis der Grammatik besitzt man auch die Kenntnis der Sprache. Dies der rationalistische Irrtum, den schon die folgenden, unter dem Einfluß des Erasmus von Rotterdam sich bildenden Generationen richtigstellen werden. Wohl erkennt Nebrija die gefährliche Vereinzelung einer Gruppe von Humanisten, die sich gegen die geschlossene Phalanx eines durch die Ritterromane verderbten Geschmackes durchzusetzen hat. Dennoch hofft er, gestützt auf das Vertrauen der einsichtigen Königin, seiner Sache zum schnellen Sieg zu verhelfen. In der Tat gelang es dem kühnen Gelehrten, seine Landsleute zu begeistern und auf dem von ihm entdeckten Gelände weiterzutreiben. Zwar scheute man sich nicht, die Minderwertigkeit der spanischen Dichtung gegenüber dem italienischen Vorbild offen zuzugeben, um dadurch die Liquidation einer lästigen

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Überlieferung zu beschleunigen. 20 Aber das Selbstgefühl der Dichter wurde dadurch nicht gemindert. Gerade Juan del Encina, der in seinem von Nebrija abhängigen Traktat so leichten Herzens auf die Hilfe einer langen Tradition verzichtet, findet für die klassischen Stoffe die vertrauliche Sprache des Volkslieds. 21 An den weitherzigen Ansichten eines Santillana gemessen erscheint das Geschichtsbild des jüngeren Dichters vereinfacht und vergröbert. Encina teilt die Überzeugung Nebrijas, daß die spanische Sprache einen unüberschreitbaren Höhepunkt erreicht habe, und er überträgt diese Anschauung auf die Poesie 22 : „nunca habia estado tan puesta en la cumbre nuestra poesia e manera de trobar." Die Kunst ist für ihn wie für alle Renaissancedichter ein Geschenk der Götter an die Menschen; dem Dichter steht eine priesterliche Stellung zu. D a her will Encina die von den Provenzalen herkömmliche Standesbezeichnung des Trobador nicht mehr gelten lassen: er setzt an ihre Stelle den klassischen Poeta und weist dem Trobador dieselbe untergeordnete Stellung an, die ihn in einer früheren Zeit von dem ausführenden Jokulator unterschieden hatte. Dem entspricht es, daß Encina in Italien die einzige Heimat der Dichtung sieht und von den Provenzalen, Nordfranzosen und Galiciern, von denen uns Santillana so reiche Kunde gegeben hatte, nichts mehr zu wissen scheint. Die leidenschaftlicher gefühlte und durchlebte Gegenwart brachte den Renaissancemenschen um die differenzierte Kenntnis der Geschichte; der Raum der Geschichte zog sich gleichsam zusammen in seiner Vorstellung der Antike, in deren Erneuerung die Gegenwart ihren eigentlichen Daseinsgrund erblicken wollte. Wie leicht sich Encina in die Aufgabe der poetischen Mimesis einlebte, das bezeugen die Paraphrasen zu den virgilianischen Eklogen. Der Dichter legt den gezierten römischen Hirten ungeniert die rustikale kastilische Hirtensprache in den Mund. Der Rahmen der einzelnen Kompositionen füllt sich mit zeitgenössischen Anspielungen, vor allem mit Schmeichelworten, die an die Adresse des katholischen Königs ergehen. Aus dem Liebhaber Corydon wird ein ehrfurchtsvoller Untertan und aus Alexis der geliebte König Ferdinand, der Gegenstand seiner Huldigung: Coridon siendo pastor / Trobador, / Muy aficionado al rey, / Espejo de nuestra ley, / Con amor / Deseaba su favor; / Mas con mucha cobardia, / No creya / De lo poder alcanzar . . , 2 3 Im Vollgefühl der erlangten Reife glaubte man, die theoretischen Arbeiten entbehren zu können, und stürzte sich mit um so größerem Eifer auf die mit tausend Möglichkeiten lockende Aufgabe der poetischen Mimesis. Es ist bezeichnend, daß Juan Boscän die große Neuerung der italienischen Verse nicht

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um eines ästhetischen Glaubenssatzes willen durchgeführt: hat, sondern, der Anregung des venetianischen Gesandten Nävagiero gehorchend, spanische Hendekasillaber zu bauen suchte, und erst, als das von ihm und von seinem Freund Garcilaso angestellte Experiment zurii Erfolg geführt hatte, die Neuerung zum Programm erhob. Auch die Humanisten mußten den Hunger nach praktischem Bildungsstoff befriedigen und ihre Weisheit in gangbare Münze umprägen. Ein Menschenalter nach dem Ableben Nebrijas verfaßte der königliche Pagenmeister Doktor Busto eine gemeinverständliche lateinische Grammatik im bewußten Gegensatz zu Nebrija. Der Lernende sollte durch «ine vereinfachte Methode möglichst schnell zum Ziel geführt werden, „a menos costa de tiempo, que es la cosa mas preciosa dela vida" 2 4 . Das Bedürfnis nach leicht faßlichen Bildungsgütern kennzeichnet die neu entstehende Hofgesellschaft Karls V. Den katholischen Königen war es noch nicht gelungen, eine solche Gebildetenschicht an ihren Hof heranzuziehen. Zu einseitig war ihre Kampffront gegen den Adel ausgerichtet, und das Bürgertum, das aus seiner Schwäche gehoben wurde, besaß in Spanien zu wenig Tradition in der Macht, um eine geistige Elite hervorbringen zu können. Unter den Hofdichtern der Königin dominiert das geistliche Element. Wie weit man damals noch von den Gesittungsidpalkn des 16. Jahrhunderts entfernt war, das zeigt der höfische Sittenspiegel des Hernando de Luduena 25 . Der Bildungsbeflissene wird im Sinne Ovids und seiner mittelalterlichen Nachahmer auf ganz äußerliche Regeln verpflichtet, „Discrecion" vor allem als eine Kompensation für körperliche Mängel anempfohlen: Porque esta sola deshace qualquiera diformidad que el galan tenga, no hay dubda, porque tanto satisfaze y en tamana cantidad, que todas las formas muda. Esta hace al corcobado e al de pescue$o quebrado tan derecho como vn huso. Auf der andern Seite wird das Bildungsideal in die ethische Sphäre verlegt: Saber, Saber, Saber, Saber,

es saber ser bueno no ser desdofioso; es tener franqueza, es ser muy ageno

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D e todo vicio vicioso; Saber, es tener firmega Saber, es ser esforzado, No atreuido ni sobrado: Saber, es ser verdadero. Erst eine (olgende Generation wird es verstehen, den Gegensatz des inneren und des äußeren Menschen zu schlichten, der in den Versen Luduenas noch überall aufbricht. Als Karl V. von seiner spanischen Erbschaft Besitz ergriff, da schienen zunächst alle Hoffnungen auf eine gesellschaftliche Festigung des Absolutismus vernichtet. Durch sein erstes Auftreten, vor allem durch seine flandrischen Begleiter und Ratgeber, verscherzte sich der junge König die Zuneigung seines Volkes. Seine die niederländischen Staaten allzu einseitig begünstigende freihändlerische Wirtschaftsführung forderte den einmütigen Widerstand der merkantilistisch gesonnenen Bourgeoisie heraus, und audi der Adel ließ sich, durch die fremden Kronräte zurückgestoßen, in die Opposition hineintreiben. So kam es zu dem denkwürdigen Aufstand der Comuneros, der sich rasch nach links entwickelte und schließlich mehr an der inneren Uneinigkeit der Koalitionsgenossen, als an einer wirksamen Gegenwehr zugrunde ging (Villalar, 1521). 2 6 Inmitten der aufregenden Revolutionswochen, verfaßte der berühmte Bischof Antonio de Guevara eines seiner begehrten Sendschreiben, in dem er das Ideal des neuen höfisch-ritterlichen Menschen herausstellt: „Es heißt einer nicht darum Kavalier, weil er blaues Blut hat oder eine mächtige Stellung oder kostbaren Schmuck oder zahlreiche Gefolgsleute. Alle diese Dinge können auch bei einem Kaufmann zusammenkommen, und selbst der Jude pflegt sie sich zuzulegen. Was den Kavalier zum Kavalier macht, das ist die Besonnenheit seiner Rede, die Großmut im Geben, die Mäßigkeit im E s s e n , . . . die Bereitschaft zu verzeihen und der Mut im Kampf. Es mag einer so adeliges Blut haben wie er will, wenn ein solcher ungehemmt einherredet, bei Tisch gefräßig, von Charakter ein Streber, im Umgang gehässig und habsüchtig ist und bei der Arbeit versagt und im Kampf seinen Mann nicht stellt, so würde man von ihm sagen müssen, daß er eher das Zeug hat für einen Viehtreiber als für einen Kavalier." Wenn dann der Bischof in demselben Schreiben27 hinzufügt, die Zeiten seien so schlimm geworden, „daß ein wirklicher Ritter sich nicht rühmen dürfe, eine große Bibliothek zu besitzen, sondern lieber eine volle Rüstkammer", so spricht hier ohne Frage die Sorge und das Sicherungsbedürfnis des kaiserlichen Hofpredigers und Staatschronisten, der sich von einem Sieg der Revolution

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nicht viel Gutes zu versprechen hatte, aber darüber hinaus ist mit diesen Worten doch ganz deutlich ein neues Gesittungsideal aufgezeigt, das in dem gelehrten Büchermenschen geradezu seinen Gegentypus fand. Daher verzichtet Guevara darauf, die pedantischen Anwürfe jenes kleinen Provinzschulmeisters aus Soria, Pedro de Rua 2 8 , überhaupt noch zu beantworten, nachdem er ein für allemal erklärt hatte, daß es ihm bei seiner schriftstellerischen Tätigkeit ja doch gar nicht auf Wahrheit ankomme. M i t der Niederwerfung der Revolution waren nun in der T a t alle Voraussetzungen für das Entstehen höfischer Gesellschaft gegeben. D i e Stände hatten politisch ausgespielt, und keine Macht war vorhanden, die der Anziehung des neuen Mittelpunktes hätte widerstehen können. D e r Schwerpunkt des künstlerischen Lebens wanderte aus der andalusischen Peripherie in das kastilische Zentrum. Das asketische Ideal des sich vereinsamenden Gelehrten hatte sich überlebt. Eine neue, bildsame, humanistisch angehauchte Gesellschaft von Lebemännern scharte sich um den Kaiser und strebte, die modischen Gedanken aus einem gehobenen Alltag zu verkörpern. Bekanntlich war in Italien der Graf Castiglione dem Traditionalismus Bembos entgegengetreten, indem er die sprachschöpferische Tätigkeit aus der geschriebenen Überlieferung in die Spontaneität des Gesprächs verlegt hatte. D i e Einwirkung der gesprochenen Sprache auf die geschriebene, die Forderung unverstellter Schlichtheit der Diktion hatte nunmehr ihre theoretische Grundlage gefunden. Durch Boscäns sprachliche Vermittlung wurde der „Cortigiano" auch in Spanien ein Spiegel der höfischen Bildung. Castigliones Piatonismus, vertieft durch die hinreißenden „Dialoghi d'amore" des nach Italien geflüchteten Leon Ebreo, beherrschte das gesellschaftliche Ambiente zu beiden Seiten des Meeres. W i e schon im Florenz des Lorenzo de* Medici, bereitete auch hier die platonische Mode eine angeregte Atmosphäre für alle Kunst, indem sie, wie Dilthey es ausdrückt, „die Verklärung der Erscheinung und Gestalt durch die Idee" 2 9 hervorhob. Indessen konnte der Piatonismus den einzelnen Künsten die Stütze nicht gewähren, um sie aus ihrer Schwäche und Unselbständigkeit herauszuheben. D i e Theorie des Schönen führte zu keiner konkreten Einsicht in das Wesen der schönen Form. Der „amor dei intellectualis", die den Menschen adelnde und aus seiner partikulären Bedingung loslösende Kontemplation, durcheilt alle Stufen der Schönheit, ohne irgend zu verweilen und der Eigengesetzlichkeit der verschiedenen Formen Rechnung zu tragen. D e r Künstler sollte sich den Schwingen der Intuition überlassen, aber er blieb doch gezwungen, die Kunstgesetze aus Praxis und Erfahrung zu erarbeiten. 30 Die Quelle der Inspiration wird daher noch nicht in der Subjektivität erschlossen: durch

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seine Demut glaubt der Dichter, die Gunst der Götter auf sich zu ziehen. E r bescheidet sich in einem frommen Hinhorchen auf die unbekannten Kräfte, die ihn zu ihrem Werkzeug ausersehen. Die Haltung des Künstlers ist nicht sehr entfernt von der Haltung des Mystikers, welcher in der Nichtung der göttlichen Formung entgegenharrt. Freilich erhält das Subjekt mit dieser Wendung ein neues Bewußtsein; es erlebt sich als Grenze und Maß. Garcilaso de la Vega hat für sein dichterisches Wollen diese Verse gefunden: Gib dich gefangen einen Augenblick Dem dumpfen Klang der ungefügen Flöte Von allem Schmuck und aller Zierde bloß. Indes, es werden manchmal mehr geschätzt ein reiner Geist und eine leise Sprache Die lauter'n Zeugen unschuldvoller Seele, Als die Zudringlichkeit der Eloquenz. 31 Immer wieder spricht Garcilaso von seiner „baja" und „ruda" lira. Sein dichterisches Programm wirkt wie eine bewußte Abkehr von den hohen Zielen, die zwei Menschenalter zuvor der Marques de Santillana für seine aristokratische Muse aufgestellt hatte: Ο lucido Jove, la mi mano guia despierta el engenio, aviva la mente el rustico modo aparta e desvia e torna mi lengua, de eruda, eloquente. Aus Garcilasos poetischer Bescheidenheit spricht zugleich ein überwältigendes Gefühl für die Erhabenheit der Schöpfung, die mit ihren ungelösten Rätseln in das Leben des Dichters eindringt. Die poetischen Mittel versagen gegenüber der Fülle erlebter Welt. Um den Aufruhr der Gefühle zu schildern, müssen alle Naturgewalten zusammenwirken: Escucha, pues, un rato, y dire cosas extranas y espantosas poco a poco, Ninfas, a vos invoco; verdes Faunos Sätiros y Silvanos, saltad todos, mi lengua en dulces modos y sutiles; que ni los pastoriles ni al avena ni la zampona suena como quiero. 32

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Aber die Geister der Stille, die ihm Helfer sind, kehren bald wieder ein. Dem wiegenden Rhythmus der Sprache überlassen, liebt es der Dichter, das Bedeutete in doppelspurigen Ausdrücken symmetrisch zu zerlegen 33 : pero si el agua en abundancia mucha sobre el fuego se esparce y se derrama el humo sube al cielo, el son se escudia, y el claro resplandor de viva llama, en polvo y en ceniza convertido. 34 Puesta la vista en aquel gran trasunto y espejo .. . y en eterna bolganza y en sosiego,35 a despecbo y pesar de la Ventura.36 D i e Sprache Garcilaso de la Vegas ist nicht mdhr ein rhetorischer Rausch des Geistes; ihr Reiz wirkt aus dem Wechsel der Töne: sie ist nicht weniger vom Schweigen, vom Unbewußten, vom Alltäglichen her bestimmt als von der Wachheit des schöpferischen Genius. 37 Die Rolle des Ingenio ist daher weniger eine erhebende und fortreißende, als eine ordnende und mäßigende, die selbst den verirrten und wahnsinnigen Liebhaber noch in den Grenzen und in der Klarheit zu erhalten vermag. So führt uns Garcilaso in der II. Ekloge einen entgeisterten Hirten vor, dessen Verzweiflungsausbrüche doch eine letzte Bewunderung vor dem unzerstörbaren Adel menschlicher Natur erregen: jDe cuän desvariadas opiniones Saca buenas razones el cuitado! sagt Nemoroso, der Begleiter des unglücklichen Freundes, und ein dritter Hirte, Salicio: El curso acostumbrado del ingenio aunque le falte el genio que lo mueva con la fuga que lleva, corre un poco; y aunque este estä ahora loco, no por eso 38 ha de dar al travieso su sentido, en todo habiendo sido cual tu sabes. Gerade in der Darstellung des Schmerzes bewährt sich die klassische Einfalt. Garcilasos klassischer Instinkt vermied die subtilen Psychologismen und romantischen Gefühlsantinomien, in denen die quatrocentistischen PetrarcaNachkommen, ein Serafino und ein Tebaldeo, sich förmlich überschlugen.39

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Seine glücklichere und ganz auf Harmonie angelegte Natur drängte zu einer „objektiven" Kunst. Seelische Zustände werden in ihr verkörpert und vergegenständlicht und nicht als innerer Zwiespalt erlitten. Die Ekloge dient Garcilaso, um das eigene Wesen auseinanderzulegen und die innere Dialektik im Gespräch der Hirten auszutragen. Überhaupt war die Hirtendichtung Garcilasos künstlerischen Bestrebungen vollkommen angemessen. Denn in der Hirtendichtung wird ja der Sieg des menschlichen Maßes über die chaotischen Gewalten der Natur dargestellt; ihr Gegenstand ist der Triumph des Apollinischen über das Tellurische, d. h. der ordnenden und ausgleichenden Kräfte im Menschen über die entfesselten Gewalten des Lebens. Die Dämpfung der wild hervorlodernden Affekte ist die wichtigste Aufgabe des arkadischen Dichters, und es ist in der Tat Garcilasos besondere Meisterschaft, die aufgeregten Gefühle in einem sanften Stimmungsbild versiegen und verklingen zu lassen. 40 Das Maß ist nicht Mittelmäßigkeit in diesen Dichtungen, sondern die Genietat, die zum erstenmal, was leicht und klar ist, aus dem spanischen Genius hervorzulocken versteht. In der Kunst des Garcilaso'schen Maßes müssen wir letzten Endes eine Begabung zum Leben erkennen, die in Dichtung ausläuft. Daher verschmelzen sich in zwangloser Einheit biographische und mythische Elemente. Der Dichter schaltet mit den mythischen Stoffen in vollkommener Freiheit: er benützt sie, um seine wechselnden seelischen Stimmungen und Widerfahrnisse einzukörpern. Der Mythos wird zum Attribut, zur deutenden und erhellenden Metapher seelischer Zustände. 41 Die Kunst des Garcilaso war mithin in seiner Lebenskunst begründet. Die Zeitgenossen kommen überein, von diesem Mann ein Bild der Ausgeglichenheit und vollendeten menschlichen Würde zu geben: „In seiner körperlichen Haltung hatte er das richtige Maß, indem er eher groß als mittelgroß war und Konterfei und Gestalt den Größenverhältnissen entsprach; sein Gesicht zeigte einen freundlichen Ernst, die hohe Stirn Majestät, die lebendigen Augen Sosiego; der ganze Eindruck seiner Gestalt war so, daß selbst, wer ihn nicht kannte und ihn sah, ihn leicht für einen bedeutenden und mutigen Mann halten mußte; denn man hatte das Bild einer wahrhaft männlichen Schönheit: er war höflich mit Maß und galant ohne Affektiertheit und ganz von selbst ohne jede Anstrengung war er der erste bei jeder Art von höfischem Spiel." 4 2 In der Tat bewährte sich Garcilaso de la Vega in allen Lebenslagen. Als Offizier focht er unter den Augen Karls V. und erwarb seine Freundschaft, während sein Bruder im Lager der Comuneros kämpfte. Auf der Höhe des Lebens fällt Garcilaso, von feindlichem Wurfgeschoß ereilt.

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Die Verbindung von Dichter und Held ist nicht zufällig. Sie enthüllt das letzte Geheimnis seiner Kunst: Entre las armas del sangriento Marte D o apenas hay quien su furor contraste Hurte de tiempo aquesta breve suma tomando ora la espada, ora la pluma. 43 Der Krieg ist dem Dichter willkommen. Denn die kosmische Stimmung, die seine Gaben erweckt, wird hier, wo das Hochgefühl triumphierenden Lebens so nah an die Todesangst rührt, zu einem Elemente des Alltags. Das menschliche Treiben tritt in die Dimension der Naturereignisse über. Hier ist der Dichter zuhaus. Er findet in der drängenden Eile des Feldzugs das sichere Wort, und die Entfesselung aller Triebgewalten dämpft die Leidenschaft in seiner eigenen Brust. Die Dichtung wird zum Kristall. Es ist, als wenn von dem Schimmer der Waffen ein kühles und klärendes Licht auf die zerstreuten Erscheinungen der bukolischen Landschaft fiele. Leier und Schwert wirken zusammen, um der unvergleichlichen Sprache Garcilasos ihren Klang zu geben. Was Garcilaso vorgelebt, das ahmten andere Geister nach. Die Verbindung von „espada" und „pluma" wird zu einem Modethema, und der Dichter jener Tage weiß sich glücklich, der mönchischen Abgeschlossenheit der humanistischen Gelehrtenstube entronnen zu sein. Der „süße Stil" gelingt am besten unter dem Lärm der Waffen. Hernando de Acuna, einer der besten Schüler des Meisters, schildert diese Wendung in einem Sonett: Atenta al gran rumor la Musa mia, Del armigero son de Marte fiero Cesso del dulce estilo, que primero En sujeto amoroso se estendia: Mas hora con la vuestra en compania Me buelve al sacro monte, donde espero Leuantarme mas alto, y por grossero Dexar con nueuo canto el que solia: Assi sus horas con la espada a Marte, Y los ratos del ocio con la pluma Pienso senor enderefar a Apolo:

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Dando a los dos de mi tan larga arte, Y tomando dellos tal, que en suma No me cause tristeza el verme solo.44 Als Soldat, als Hofmann - so der abenteuernde Montemayor - oder als Diplomat, als welcher sich Hurtado de Mendoza in den Residenzen Italiens umhertrieb, stand der spanische Dichter mitten im Leben. Und selbst noch von Francisco de Figueroa, der schon der Generation Herreras angehört, wird uns berichtet, daß er in späteren Lebensjahren „ya no tratava de Poesia, sujeto a que en su juventud fue mas indinado, sino de materias de differente punto, segun la madurez de su edad" 45 . Die Poesie war noch nicht das letzte Wort des dichterischen Menschen. Erfolg und Beispiel Garcilasos ist für mehrere Geschlechter vorbildlich geblieben. Man verehrte in seinem Andenken die Verheißung eines universalen Aufschwungs spanischer Poesie, deren Gesetze freilich erst später dem Fernando de Herrera zusammenzufassen vergönnt war. Barahona de Soto übertrieb nicht, als er den Ruhm des ersten spanischen Dichters in seinen Terzinen verkündigte: Este sepulcro venerable encierra Del alma los despojos mäs famosa Que en corte Apolo ha visto y Marte en guerra. De lirio bianco y de purpiirea rosa, Ninfas del Dauro, agradecidamente Sembrad la tierra en suerte venturosa: Pues ya de yedra y de laurel la frente Al divino poeta le han cercado Las mäs sagradas almas del Poniente, Cuäl en el Tormes, ό en el Tajo amado, Cuäl que en el Henares su cabeza bana, Cuäl que en el Betis, dellos coronado; Cuäl que en el Ebro, y por la tierra extrana, En el Tesin y el Sorga, Tibre y Reno; Que ä tanto llega ya el honor de Espana. 46 Daß Garcilaso schon zu seinen Lebzeiten sich einen Namen erworben hatte, bezeugen die anerkennenden Worte des gestrengen Pietro Bembo, der sein Lob nicht zu verschwenden pflegte: „ . . . quel gentile huomo e anche un bello c gentil poeta; et queste cose sue tutte mi sonno sommamente piaciute: . . . E t

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ha quello honorato spirito superato di gran lunga tutta la nation sua; et poträ avenirse, se egli non si stancherä nello studio et oella diligenza, che egli supererä anche dell' altre, che si tengono maestre della poesia".47 Ganz ähnlich die an Garcilaso persönlich gerichteten Worte: „In altero illud perfecisti, ut non solum hispanos tuos omnes qui se Apollini Musisque dedierunt, longe numeris superes et praecurras tuis, sed italis etiam hominibus stimulum addas, quo, magis magisque se excitent, si modo volunt in hoc abste certamine atque his in studiis non praeteriri." 47 Bembos prophetische Worte einzulösen, waren die Nachfolger des frühverstorbenen Meisters nodi nicht berufen. Was sie an Garcilasos Erbschaft festhielten, das war nicht im Sinne Bembos die Lehre, die methodische Entwicklung der dichterischen Beredsamkeit, sondern das schlichte Vorbild eines großen Menschen und Freundes, das ihnen im ungleichen Kampf mit den sich sammelnden Mächten der poetischen „Reaktion" Stärke verlieh. So unbestritten die Vorrangstellung, so tief doch der Abstand der Ehrfurcht, durch die eine liebenswürdige Unverbindlichkeit das dichterische Vorrecht der Schüler wurde. Hören wir noch einmal Barahona de Soto.

Porque este (si ignoräis el gran misterio) Primero a Espana por mejor Camino La silla en hombres trajo de su imperio. Este, con vario espiritu y divino, Al grave Tajo, en sus arenas de oro, Mezclo el licor toscano y el latino, Y las primeras ninfas y el decoro Y el estilo pastoral, cual le tuvieron Las celebradas selvas de Peloro. Por este nuestros montes merecieron De la zampofia dulce y harpa grave Y tierna lira el son, cual nunca oyeron. Por este tiene y aun por este cabe En nuestro estilo la copiosa pompa Que el Griego y el Romano tuvo y sabe.48

Die Verehrer Garcilasos zehrten von seiner Erbschaft, die sie nicht vermehrten. Sie hatten nicht den Mut und das Selbstbewußtsein für seine Nachfolge. Die italianisierende Schule begnügte sich damit, die Erinnerung eines großen Vorbilds lebendig zu erhalten, ohne die in ihm ruhenden Möglichkeiten des poetischen Fortschritts wahrzunehmen.

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Unter den von Garcilaso Ergriffenen befand sich der portugiesische Dichter Sä de Miranda, der wie sein Landsmann Gil Vicente die heimische Sprache mit der kastilischen bei feierlichen Anlässen vertauschte. Wie viele seiner Zeitgenossen, war Sä de Miranda nach Italien, dem Ursprungsland der neuen Poesie, gepilgert. Den Staub der Fremde abschüttelnd, kehrte er in die Heimat zurück, ohne die eingebrachte Ernte zu verwerten. Erst das Beispiel Garcilaso de la Vegas ermutigt ihn dazu. Sein Bekenntnis zu der Kunst dieses Meisters enthält zugleich das Eingeständnis, das für eine ganze im Schatten des großen Dichters herangewachsene Generation gelten kann: die Nachahmung ist ein Nachstammeln, von übermächtiger Bindung zeugend, deren Bann erst durch die Bewußtheit eines kritischen Geistes gebrochen werden mußte, ehe die vorwärtsweisenden Ansätze in Garcilasos bukolischer Kunst zur Entwicklung gelangen. Sä de Miranda schildert das Ereignis seiner Wandlung in einer Ekloge auf Garcilasos Tod: SALICIO:

SERRANO:

SALICIO:

Que podemos hazer cosa mas dina Del i de nos, de mas vos que sois tales, Que cantar del aveis, que ia el sol se inclina. Oh, mi Salicio, que no son iguales Nuestras zamponas i (por mi lo digo) A un tal pastor nos somos zagales. Bien saber deves aquel dicho antigo Que buena voluntad todo lo adoba I todo lo haze dulce un pecho amigo. Con quanta fuerza la voluntad roba Uno que mas ofrece el corazon De veras aunque con la lengua bova. 49

Garcilaso hatte seinen Nachfolgern keine gesicherten Regeln hinterlassen. Diese ahnten vielmehr, daß das Geheimnis seiner Kunst in der Einheit seines Lebens bestand. Daher beschworen sie wieder und wieder die Erinnerung an jenen großen Glücksfall einer vollendeten Natur, der die höchsten Gaben wie von selbst zugefallen waren. Die wahre Quelle der Inspiration (dies schien Garcilasos Beispiel zu lehren) war nicht die Poetik, sondern das zeugende Leben selbst. Die Nachfolger Garcilaso de la Vegas stellten daher einen Typus der Gelegenheitsdichtung auf, deren zerstreuter Reichtum das spanische Cinquecento bis zu seinem Ende hin überschüttete. Alcäzar und Cetina, Miranda und Montemayor, Acufia und Barahona repräsentieren diese Manier am besten. Die Ungleichheit der poetischen Äußerungen wird durch die zwingende

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Aufrichtigkeit der Diktion aufgewogen. Wenig kümmerte man sich darum, die verschwendete Fülle zu bergen, und wir wissen von den späteren Herausgebern dieser Poeten, welche Mühe das Zusammenraffen ihrer sorglos ausgestreuten Erzeugnisse kostete. Cetina und Alcazar sind die beiden nächsten, welche in die Erbschaft des „Nemoroso" eintreten. Beide typische Gelegenheitsdichter, beide aufs innigste befreundet. Cetina, der sich im Kreise seiner Genossen unter dem Hirtennamen „Vandalio" besingen ließ, zeigte eine immer glückliche Hand in der Pflege der bukolischen Muse. Keiner hat wie er die Geister der Leichtheit entfesselt und mit zwangloser Kunst die Garben vereint. D a s folgende Sonett ist als Überschrift über einem pastoralen Verseheft gedacht: Esta guirnalda de silvestres flores, D e simple mano rustica compuesta En los bosques de Arcadia, aqui fue puesta En honra del cantar de los pastores, Α los cuales, si Amor en sus amores Quiera jamas negar demanda honesta, Ruego, si bien el don tan bajo cuesta, Pueda este olmo gozar de mis sudores. Que si algun tiempo con mas docta mano Las acierto a tejer como maestro, Guardando a los pasados el decoro, Espero, y mi esperar no sera en vano, Que el nombre pastoral del siglo nuestro Sera tal cual fue ya en la edad de oro. 50 Aber der Dichter, dem solche Treffer gelangen, war doch nicht fähig, seinen Willen nach höheren Zielen zu spannen. Cetina war sich seiner Grenzen bewußt: Mientras lo heroico de tus versos miro La alteza del estilo asi me espanta que de una invidia honesta ardo y suspiro . . . 5 1 Seine verspielte, häufig süßliche Art ist von Fernando de Herrera grausam, aber zutreffend beurteilt worden: „Bei Cetina, besonders bei seinen Sonetten, fühlt man die Schönheit und die Grazie Italiens; mit seinen Versen, seiner Sprache, seiner Innerlichkeit und dem Ausdruck der Gefühle wird ihm nie-

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mand eine Stelle unter den ersten absprechen können; aber es fehlt ihm an Geist und Kraft, die für die Dichtung entscheidend sind. Ja, wie mir scheint, kann man bei ihm und bei anderen seiner Art dasselbe feststellen wie bei den Malern oder Bronzeplastikern, welche die Weichheit und das Ebenmaß eines jünglinghaften Körpers wiedergeben wollen und sich mit der Süßigkeit und Zartheit begnügen, ohne Nerven und Muskeln durchzubilden . . ." 52 Wie dieser „Vandalio", so hatte auch sein Gefährte Alcazar eine beschwingte Feder. Sein Piatonismus freilich erniedrigt sich nach kurzem Anstieg im Allzumenschlichen: Cabellos Crespos, breves, cristalinos Si lo que vemos püblico, es tan bello Contemplad, amadores, lo secretol 53 Das Genre, das diesem arkadischen Genießer am meisten liegt, ist nicht das Lyrische, sondern das Epigrammatische. Die Derbheit seiner Satire erinnert noch ganz an die rauhen Zeiten der Cancioneros. So wenig wie Alcäzar konnte Cetina an einer idealistischen Konvention Genüge finden, welche die Reminiszenzen an Garcilaso in den Bahnen der Petrarca-Nachahmung verflüchtigte und verniedlichte. Was in der Kunst dieses ersten Meisters geeint war, das brach jetzt in den Händen der Epigonen auseinander: der verschwebende Idealismus forderte als Gegengewicht Satire und Parodie heraus. Cetina vergnügte sich damit, berneske Themen zu variieren, während Alcäzar in drastischen Wendungen die Kehrseite der galanten Muse ans Licht zog 54 . Das höfische Ideal hatte sich noch nicht in dem Maße gefestigt, daß die idealisierenden Formen die Natur des Menschen anzusprechen vermochten. Schon zu Garcilasos Lebzeiten hatten die ersten Angriffe Castillejos auf die neue Reimerei begonnen. Der Abfall von den nationalen Achtsilblern wurde als eine poetische Ketzerei angeprangert, hinter der man mit Gruseln die religiöse Häresie wittern mochte: Pues la saneta Inquisiciön Suele ser tan diligente En castigar con razon Cualquier secta y opinion Levantada nuevamente, Resucitese Lucero, A corregir en Espafia Una tan nueva y extrana,

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Como aquella de Luteco En las partes de Alemana. 55 Der politische Hintergrund dieser literarischen Fehde wird durch die persönlichen Voraussetzungen der beiden Antagonisten ins hellste Licht gerückt. Garcilaso war als ganz junger Mensch in den Bann des Kaisers geraten, dessen weltumspannende Pläne den in Toledos noch kleinstädtischer Enge schmachtenden Jüngling bezaubern mußten. Während der Bruder, Pedro, auf der andern Seite der Barrikade stand und die nationale Opposition gegen die tyrannische Ausländerwirtschaft führte, heftet der Dichter seinen Glauben an die Fahne des neuen Monarchen. Das Kaisertum offenbart sich dem jungen Offizier von seiner glänzendsten Seite, weitab von dem neidischen Intrigantentum des höfischen Alltags, in den sich Castillejo verstricken ließ. En la cual es todo nada Si le falta libertad, Y ha de andar siempre colgada De la ajena voluntad, Como el buey, Del arado, tras la ley Del dueno que la posee j56 Während Garcilaso im Dienst an die überpersönlichen Mächte die innere Sammlung für seine dichterische Aufgabe gewann, hatte Castillejo etwas von dem nie befriedigten Freiheitsdurst des entlaufenen Mönches, der mit seiner Zelle das irdische Paradies zu vertauschen wähnt. Aber je weiter es ihn von der Heimat wegtrieb, desto häufiger ruft ihn die unverlierbare Melodie des spanischen Lebens. Castillejos Dichtung ist tägliche Kommunion mit der spanischen Heimat, die er doch gerne vermißt, wenn die freieren Sitten der Fremde ihm Behagen und Sinnengenuß verheißen.57 Die Dichtung ist die beständige Begleiterin seines Lebens; sie zieht ihm nach bis in ein verhärmtes Alter, dem die Qual der Selbstbespiegelung zur Gewohnheit wird. Es entspinnt sich das wunderliche Gespräch zwischen Feder und Autor: „Pluma de buitre volando" nennt er sie, aber die „penola" beklagt sich ihrerseits über einen Herrn, der sie nicht zu nutzen verstand und aus einer falschen Anständigkeit alle Gelegenheiten des Lebens vorüberstreichen ließ. 58 Schwerlich hat ein Dichter des 16. Jahrhunderts dem Nimbus der Fama ferner gestanden als dieser sauertöpfische Castillejo. Aber gerade in seiner Altersdichtung gewinnt seine Kunst ihren größten Charme. Wie weiß er aus altem

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Romanzengut die schwermütige Weise herauszuholen für den Augenblick der letzten Abrechnung mit einem ehrlich vertanen Leben. Tiempo es ya, Castillejo, Tiempo es de andar de aqui j59 Alle seine Dichtungen sind Gelegenheitserzeugnisse, aus Erfahrung oder Erlebnis geboren. Sie haben keine Grenze mit Arkadien, der Welt der selbstgerechten Schönheit, gemein. Der Mythos sinkt herab zur didaktischen Allegorese.60 Die erotische Dichtung greift zu den Rezepten des verspäteten Minnesangs, Anagramme schüttelnd und aus assonierenden Figuren Antithesen ziehend. Man glaubt sich zuweilen in die Zeiten eines Perez de Guzmän zurückversetzt. Der immerwährende spanische „Konzeptismus" erneuert sich in den Kompositionen Castillejos. Begriffe rücken aneinander und blicken sich drohend an, um den Hader vom Zaun zu brechen, ganz wie es einst die Sinngestalten im Rosenroman oder in der „Cärcel de amor" gemacht hatten. 61 Und da der Maßstab des Vollkommenen außerhalb der poetischen Sprache lag, greift die übermächtige Liebe - wie in den Zeiten der kecken Troubadours - in die Sphäre des Numinosen und wird zur Travestie, für die sich dann bald der Zensor der Inquisition interessieren wird62. Bei all seiner Schärfe und Bitterkeit ist Castillejo nicht enge. Mit seinem archaisierenden Tonfall verzichtet er bewußt auf Lockungen, die er im Tiefsten verspürt und selbst an den Werken der gegnerischen Dichter empfindet: Dios de su gloria a Boscän Y a Garcilaso poeta Que con no pequeno afän Y por estilo galan Sostuvieron esta seta.63 Der Hauptvorwurf, den Castillejo und seine Anhänger gegen die Neuerung Boscans und Garcilasos richteten, ist ihre sektiererhafte Abgeschlossenheit, das esoterische Getue eines kleinen Literatenklüngels, der die Geheimnisse der Kunst zu wahren glaubt und sich lieblos über die schon populär gewordene Tradition der ritterlichen Cancioneros64 hinwegsetzt, den Genius des Volkes verratend. „Salgan, cuerpo de mi, salgan estos Petrarquistas, estos Boscanistas, estos Sofistas, que presumen mas que valen", heißt es in dem witzigen Lästerbrief des arkadischen Studenten. 65 Die Tradition wird indessen von Castillejo nicht um der Tradition willen hochgehalten, sondern weil in ihren Formen der spanische „Sprachgeist" sich

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verkörpern kann. Die schleppende und getragene Weise der Elfsilbler ist dem Wesen der spanischen Dichtung überhaupt nicht angemessen. Die Leser werden „gelangweilt und angewidert", und zwar ist der Grund darin zu suchen, „que las trovas castellanas no son aun de tanto credito y auctoridad en caso de veras, que puedan ponerse en la mesa por manjar principal, sino por fructa 66 . Die modischen Neuerer übersehen, daß der unentwickelte Zustand der Sprache, und nicht die von der Garcilasosdhule aufgegebenen poetischen Formen, De las coplas espanolas, Canciones y villancicos, Romances y cosa tal, Arte mayor y real, Y pies quebrados y chicos67, noch das Unvermögen der Dichter den Zustand der spanischen Dichtung verschulden. So wenig die Garcilasoschule ihre Abwendung von den alten Formen durch eine theoretische Proklamation in Du Beilays Art begründet hatte, so wenig besaß auch Castillejo das nötige Selbstvertrauen, um in der von ihm wiedererweckten Tradition die bewußte Quelle der Erneuerung wahrzunehmen. Diese Wendung blieb Valdes, Mal Lara und all den andern „erasmistischen" Humanisten vorbehalten. Aber deswegen kann man das Werk Castillejos doch nicht als „reaktionär" und „mittelalterlich" abtun. Denn es handelt sich bei ihm ja nicht um ein Untertauchen in den Strom der volkstümlichen Überlieferung, sondern er lehnt sich bewußt an jene vergangenen Dichter, die aus der spanischen Sprache das Beste herauszuholen verstanden. Darum ist es einer der glücklichsten Einfälle Castillejos gewesen, die großen Figuren der Cancioneros zur Stellungnahme aufzurufen: Juan de Mena, der über den Anspruch der Neuerer nur ironisch lächelt, da ja auch er einst in den Versen des Arte mayor Elfsilbler gebaut hatte, Jorge Manrique, der die „clara brevedad" gegen die „oscura prolijidad" ausspielt, Garci Sanchez, der überzeugt ist, daß man mit den spanischen Versen die Eleganz der Petrarcacanzone übertreffen könne 68 . Die Verbindung von poetischem Traditionalismus und sprachgeschichtlichem Humanismus wurde durch jene Autoren hergestellt, die im Kastilischen die prädestinierte Nachfolgesprache erkannten, wobei - wie in Frankreich - eine gräzistische Theorie von einer latinistischen abgelöst wurde. So sagt Diego Graciän in seiner Übersetzung der „Apopthegmas del Plutarco" (Alcalä 1533) „La propriedad y maneras de hablar la lengua griega responde mucho mejor

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a la Castellana que a otra ninguna" (aus der Widmung an Karl V.), während Zapata sich zu der Behauptung versteigt: „Aunque dicen el lenguaje toscano es latin corrupto, el nuestro es incorrupto latin". 6 9 Alle Autoren sind sich aber darin einig, in der epigrammatischen Kürze denjenigen Wesenszug des Kastilischen zu erblicken, welcher der Gedrängtheit der antiken Sprachen am nächsten kommt. Daher können nicht die langgezogenen Hendekasillaber, sondern allein die Achtsilbler als legitimer Ausdruck des spanischen Sprachgeistes gelten. Juan Gonzalez de la Torre drückt diesen Gedanken aus, wenn er den etwaigen Übersetzern seiner Quintillas einschärft: „El Author, a los que quisieren traduzir este libro, en otras Lenguas: A sabios, discretos, latinos authores Ο a los bulgares de lenguas estranas Que por dar auiso, a las sus companas Mudaren de lengua: mis metros menores, Hagan officio de traduzidores, No müden el seso, si müden vocablo Tengan Respecto, al fin con que hablo Porque ay ignorantes, no causen Errores. Miren qu' Espana de otras naciones En lengua y acento, del todo diffiere, Y en pocas palabras incluye y reffiere Copiossas, y arduas declaraciones." 70 Vor allem aber hatte Juan de Valdes in seinem Diälogo de la lengua - um 1535 - die spanische Tradition auf ihre poetischen Möglichkeiten und ihren linguistischen Zustand hin untersucht. Valdes beseitigt die rationalistischen Irrtümer Nebrijas und macht die Sünde Encinas wieder gut, der, obwohl ganz ihres Geistes voll, die Vergangenheit der spanischen Dichtung preisgegeben hatte. Was die Italiener an ihren drei großen Klassikern haben, das gibt den Spaniern die anonyme Tradition, die aus Romanzen und Sprichwörtern, diesen „hijos legitimes de la costumbre" (Mal Lara) redet. Mit seiner Sprichworttradition erhebt sich Spanien selbst über die Antike, denn - wie der Philologe Hernän Nunez zu sagen pflegte - „weder an Zahl noch an Witz noch an Bedeutung können sich die Sprichwörter irgendeiner Nation, von der wir Kunde haben, mit den spanischen messen" 71 . Auf seinem Gang durch die Dichtung des vergangenen 15. Jahrhunderts läßt sich Valdes offenbar von den ungeschriebenen Gesetzen dieser Überlieferung leiten. Daher betrachtet er die gewagten Neuerungen des Juan de Mena mit stärkstem Unbehagen, während die flüssige Dichtersprache Jorge Manriques, in den Coplas auf den toten Vater, zum Vorbild wird.

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Aber die Tradition ist für diesen Kosmopoliten kein letzter Wert. Zu seinem Vaterland rechnet Valdes (einen Gedanken Montaignes vorwegnehmend) nur den, dessen „menschliche Qualitäten ihm genug tun, mag er dann immerhin in Polen geboren und aufgewachsen sein" 72 . In der nationalen Überlieferung spricht eine Mundart der universalen Vernunft. Ihre Eigenzüge gilt es herauszuheben. Das Wesen der kastilischen Sprache und Dichtung ist für Valdes, im vollen Einklang mit einer immer spanischen Meinung, die epigrammatische Kürze, die Gedrängtheit einer Diktion, die keinen Überfluß leidet und jedes Wort an die richtige Stelle setzt. Es ist ungewiß, wie sich Valdes zu dem Werk des ihm befreundeten Garcilaso gestellt hat. Die erzählende Prosa des 15. Jahrhunderts, vor allem die sentimentalen Romane in der Art der „Cärcel de amor", konnten vor diesem vulgärhumanistischen Kriterium ebensowenig bestehen, wie sie der humanistischen Forderung nach historischer Treue nicht genügten. Dennoch ist gerade der sentimentale Roman zu einem Sammelbecken für die traditionelle Dichtung geworden. Fand man schon in dem 1512 verfaßten Gesellschaftsroman „Question de amor" eine bunte Reihe von Villancicos, Coplas de pie quebrado und andere kastilische Kompositionen eingestreut, so erscheint die „Diana" des Montemayor geradezu als ein lyrisches Versuchsfeld, auf dem die verschiedensten Stile in friedlichen Wettbewerb treten. 73 Hier im Schäferroman verliert der Kampf zwischen den spanischen und den italienischen Versen endgültig seine polemische Spitze. Für die Weiterentwicklung der spanischen Dichtung ist die Anlehnung der Lyrik an eine rhythmisierte Prosa von größter Bedeutung: die einzelnen metrischen Formen erhalten ihren Stellenwert. Statt um den Ausdruck des Ganzen vergeblich zu konkurrieren, lassen sich die verschiedenen metrischen Typen bestimmten poetischen Situationen zuordnen, denen sie innerlich zugehören. Die rhythmische Gestalt wird zur Erscheinungsform der Affekte. Die Bedeutung der Schäferromane für die Stabilisierung der traditionellen Rhythmen und für ihre Aussöhnung mit der Feiersprache der Hendekasillaber wäre nicht leicht zu erklären, wenn man es hier nur mit einer letzten Ausstrahlung jener manieristischen Prosa zu tun hätte, die Valdes tadelt und Cervantes mit Hohn übergießt. Die ungeheure Popularität dieser Gattung beweist, daß sie nicht die Angelegenheit einer höfischen Elite gewesen sein kann, sondern auf eine breitere Wirkung angelegt war. Schon vom Stil her gesehen war es notwendig, daß die Prosa einen adäquaten Rahmen für die wechselnden Rhythmen abgab. Die boccacciesken Perioden hätten sich dafür nicht geeignet. Die Auflockerung und Vereinfachung der ornamentalen Prosa und der durchschlagende Erfolg der traditionalistisch-volklichen Richtung fallen in die Zeit von

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1550-1560. Es ist das die Epoche, in der die Formierung höfischer Gesellschaft sich vollendet und der Hof beginnt, ein Spiegel der den Staat tragenden Hidalgoschicht zu werden. Der spanische Kleinadel glänzt im Heeresdienst, kommt in den Ritterorden zu Macht und nistet sich in dem ungeheuren Versorgungsapparat ein, den die spanische Bürokratie darstellt. Von diesen Positionen aus repräsentiert der Hidalgo die Idee des Ganzen, den Mythos der Nation. Die Volksnähe, die er immer gewahrt hat, macht ihn ebenso unzugänglich für aristokratisches Raffinement, wie ihm andererseits der bürgerliche Erwerbssinn fremd bleibt. Er hält sich selbst und den Staat (dessen Wohlstand schon untergraben war) in der Schwebe. Cervantes hat diesen Typus in der Gegenüberstellung von Don Quijote und dem Ritter mit dem grünen Mantel, Don Diego de Miranda, zerlegt. Don Quijote stellt den Hidalgo dar in seiner dynamischen Form, wie er, rückwärtsgewandter Ideologie verfallend, seine täterischen Antriebe verzehrt. Dagegen sehen wir dort denselben Typus, im Ruhestand, maßvoll und ausgeglichen, ein Muster von „discretion." Von aller Existenznot und vor allem von den Strapazen der Stellenjägerei entbunden, kann der vortreffliche Don Diego als ein „Idealtypus" gelten. Seine kulturellen Bedürfnisse befriedigt eine Bibliothek mit rund sechs Dutzend Bänden; die devoten läßt er zumeist ehrfüchtig ruhen, während er mit Vorliebe jene Bücher herauszieht, „die, anständig und spannend zugleich, durch ihren Stil bezaubern und durch die Kraft der Erfindung Staunen erregen"74. Dagegen beunruhigt es ihn im höchsten Grad, daß sein Sohn Lorenzo das Studium der Poesie zur Lebensaufgabe machen will. Von diesem Typus können wir annehmen, daß er als gehobenerDurchschnittsleser der mittleren literarischen Produktion von der Mitte des Jahrhunderts an das Gesicht gab. Zwischen Erzeuger und Verbraucher besteht kein Abgrund, leicht tritt der Leser als Gelegenheitsdichter hervor; dann darf er sich aber wie der Übersetzer des spanischen „Galateo" ihm warnend vorhält - an subtilen Stoffen nicht übernehmen: „Y por eso las poesias que se hazen para tomar passatiempo, suelen ser bien recebidas, y si alguna faltilla huuiesse, se dissimularia mejor que en las cosas graues y seueras, como seria una cosa pastoril, y de donayre, poniendo la propiedad de lo que passa en las aldeas. . ." 75 Die letzteren Worte zeigen deutlich, wie in dieser Sphäre die in den Schäferromanen zum Ausgleich gebrachten Stilarten der idealistisch-pastoralen und der rustikal-populären Dichtung erlebensmäßig zusammenfallen.

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Anmerkungen 1 Wenn es bei Mentodez Pidal, El lenguaje del siglo XVI, in: Cruz y Raya, No 6 (15 de sept. 1933) p. 18 heifit: „Entre Caballeros y eseuderos sc habia hedio moda el estudio dd latin, y eso nos explica el estilo de D. Enrique de Vtllena, del Marquis de Santill ana, de Rodriguez del Padrön, de Juan de Mena", so scheint es doch (raglich, ob gerade diese Diditer, die durch Bildung und Lebenssdiidcsale weit über ihre Sphäre hinausgehoben wurden, den Zustand der höfischen Kultur repräsentieren. Gerade das Beispiel Villenas zeigt, wie wenig der Typus des „reinen Humanisten" in Kastilien gedeihen konnte. Perez de Guzm&ns Porträtsammlung „Generaciones y semblanzas" gibt hier jedenfalls ein anderes Bild, und wenn in diesem Werk von Juan Π. besonders hervorgehoben wird „sabia fablar e entender latin, leya muy bien", so dürfte das gerade beweisen, wie wenig diese selbstverständlichen Voraussetzungen der humanistischen Bildung im Ambiente der Epoche gelegen waren. 2 Mit Juan de Menas Verhältnis zu Lucan beschäftigt sich die Dissertation von Clotilde Schlayer, Spuren Lukans in der spanischen Dichtung, Heidelberg 1927, S. 6-29. 3 In: Foulche-Delbosc (Hrsg.), Cancionero Castellano del siglo XV, t. I, Madrid 1912 (NBAE, 19), p. 121 f. 4 Ebenda, p. 184. 5 Ebenda, p. 461. 6 Ebenda, p. 199. 7 Ebenda, p. 197. 8 Ebenda. 9 Ebenda, p. 198 f. 10 Indessen hatte nicht lange zuvor Alfonso de la Torre in seiner „Vision delectable de la Filosofia y art es liberales" die Prinzipien der scholastischen Moralphilosophie spanisch niedergelegt. 11 In: Opüsculos literarios de los siglos XIV a XVI, Madrid 1892, p. 111 ff. 12 P. de Reynosa, Espejo de caballerias, Nachdruck von J. Sancho Rayon, Vorhanden in dem Freiburger Sammelband Ε 1032. 13 Vgl. Κ. Ηäbler, Die wirtschaftliche Blüte Spaniens, Berlin 1888, S. 7 u. 46 ff. 14 Inigo Lopez de Mendoza, in: Foulche-Delbosc (Hrsg.), Cancionero Castellano del siglo XV, t. I, p. 26. - Vgl. audi aus etwas späterer Zeit Antonio de Guevara, Cartas de Marco Aurelio VII, A Cincinato su amigo porque siendo Caballero se tornö mercader. 15 Juan de Padilla in: Foulche-Delbosc (Hrsg.), Cancionero Castellano del siglo XV, t. I, p. 324. 16 J. Burckhardt, Die Culrur der Renaissance in Italien, Leipzig 1877, Bd. 1, S. 88. 17 Wie das aufkommende Selbstbewußtsein der unteren Klassen mit der Lockerung der Dienstverhältnisse zusammenhängt, wird aus einer Stelle der „Celestina" besonders deutlich: „Estos senores deste tiempo mis aman a si que a los suyos: y no yerran: los suyos igualmente lo deben hacer. Perdidas son las mercedes, la magnificencia, los actos nobles: cada uno de estos cativa, y mezquinamente procuran su interes con los suyos. Pues aquellos no deben menos hacer, como sean en facultades menores, sino vivir a su ley." Ed. Calleja p. 55. [ed. Cejador y Frauca, Madrid 1931 (Cläsicos Castellanos, 20), p. 102] — Die Verarmung des Adels, die diese Entwicklung verschuldet hat, wurde durch die Politik der Königin Isabel noch besdileunigt. Die Königin widerrief die Privilegien, durch die Heinrich IV. den Adel an sich zu ketten versuchte (Vgl. hierzu R. Altamira, Historia de Espana, II. p. 406 ff.) 18 In: Menendez y Pelayo (Hrsg.), Antologia de liricos castellanos, t. V, p. 43. Hierzu die vorzügliche Arbeit von Tomäs Navarro Tomäs, Historia de algunas opinioncs sobre la cantidad siläbica espanola, in: RFE, Bd. 8, 1921, p. 30 ff.

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19 Vgl. jetzt H. Meier, Spanische Spradibetrachtung und Geschichtsforschung am Ende des 15. Jahrhunderts, in: RF, Bd. 49, 1935, S. 1 ff. 20 Juan del Encina, Arte de la poesia castellana, a. a. O. 21 „Encina, poeta y miisico de la ciudad de la corte, es en tiempo de los Reyes Catölicos el que mäs se distingue por su aficion a introducir y aprovediar elementos populäres en su obra" (P. Henriquez Urena, La versificaciön irregular en poesia castellana, Madrid 2 1933, p. 103). 22 Es ist bemerkenswert, daß die letzte Folgerung aus dieser Neubewertung der Gegenwart, die Idee der Perfektibilität, durch die die antiken Vorbilder ihre zeitlose Geltung verloren und übertreffbar wurden, schon am Anfang des 16. Jahrhunderts auf spanischem Boden gezogen wurden in Cristobal de Villaion, Ingeniosa comparaciön entre lo antiguo y lo presente, 1539, in: Bibliofilos espanoles, Madrid 1898, p. 178: „Pues en las inuenciones de versos, traxedias y comedias, son mäs agudos los de oy, que los de los antiguos, porque en las que estän he