Das Vorbehaltsrecht völkerrechtlicher Verträge: Vorschlag einer Reform [1 ed.] 9783428522552, 9783428122554

Seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, spätestens seit den 50er und 60er Jahren, tritt die Frage der Vorbehalte

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Das Vorbehaltsrecht völkerrechtlicher Verträge: Vorschlag einer Reform [1 ed.]
 9783428522552, 9783428122554

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Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Band 165

Das Vorbehaltsrecht völkerrechtlicher Verträge Vorschlag einer Reform

Von

Alexander Behnsen

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ALEXANDER BEHNSEN

Das Vorbehaltsrecht völkerrechtlicher Verträge

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von J o s t D e l b r ü c k, T h o m a s G i e g e r i c h und A n d r e a s Z i m m e r m a n n Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht 165

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Rudolf Bernhardt Heidelberg

Eibe H. Riedel Universität Mannheim

Christine Chinkin London School of Economics

Allan Rosas Court of Justice of the European Communities, Luxemburg

James Crawford University of Cambridge

Bruno Simma International Court of Justice, The Hague

Lori F. Damrosch Columbia University, New York Vera Gowlland-Debbas Graduate Institute of International Studies, Geneva Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis

Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg

Das Vorbehaltsrecht völkerrechtlicher Verträge Vorschlag einer Reform

Von

Alexander Behnsen

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 978-3-428-12255-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2005 als Dissertation von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universiät zu Kiel angenommen. Aufgrund der Arbeitsbelastung des sich unmittelbar an den Abschluss der Arbeit anschließenden Referendariats konnte die Drucklegung erst relativ spät erfolgen. Rechtsprechung und Literatur sind daher nur bis Mai 2005 berücksichtigt. Gravierende Änderungen dürften sich in der Zwischenzeit jedoch, soweit ich dies richtig überblicke, nicht ergeben haben. An dieser Stelle ist es an mir, vielen Menschen meinen herzlichen Dank auszusprechen, die alle auf ihre Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Zunächst gilt mein Dank meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann, der mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand und es vermochte, die Arbeit in genau dem richtigen Maße zu betreuen, so dass es mir möglich war, meine eigenen Ideen darin vollständig zu verwirklichen, mich dabei aber dennoch stets fachlich und menschlich begleitet zu fühlen. Ebenso danke ich Herrn Prof. Dr. Andreas Zimmermann LL.M., nicht nur für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens, sondern auch für viele anregende Diskussionen und die freundliche Zusammenarbeit am Walther-Schücking-Institut. Auch allen anderen Mitarbeitern dieses Instituts sowie vielen Kommilitonen dort habe ich Dank zu sagen für eine Zeit des intensiven wissenschaftlichen Austausches in einer wohltuenden Atmosphäre gegenseitigen Respekts und freundlichen Umgangs. Insbesondere danke ich auch Herrn Dr. Frank Bayer für seine wertvollen Korrekturhinweise sowie Herrn Philip Bolting für regen und hilfreichen gedanklichen Austausch vor allem in kritischen Phasen der Erstellung der Arbeit. Für die großzügige finanzielle Förderung der Arbeit danke ich dem Verein Kieler Doctores Iuris e.V. Schließlich gilt mein ganz besonderer Dank meiner Familie, allen voran meinen Eltern Marion Liane und Wilfried Behnsen, die mir nicht nur meine gesamte Ausbildung ermöglicht haben, sondern von Anfang bis Ende des Vorhabens stets hinter mir standen und so großen Anteil am Gelingen der Arbeit haben. In Dankbarkeit widme ich ihnen diese Arbeit. Kiel, im Dezember 2006

Alexander Behnsen

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Einleitung

17

Kapitel 2 Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

19

A. 18. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . .

19

I. Zulässigkeit des Anbringens von Vorbehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

II. Rechtswirkung von Vorbehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1. Europäisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

2. Pan-Amerikanisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

3. Praxis der ILO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

B. Sowjetische Praxis nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

C. Gutachten des IGH zur Völkermordkonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

I. Hintergrund und Überblick über das Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

II. Die Ergebnisse im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

1. Zulässigkeit eines Vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

2. Rechtswirkung von Vorbehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

III. Zusammenfassung – Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

D. Entwicklungen im Rahmen der Beratungen in den Vereinten Nationen . . . . . . . . .

34

I. Die Berichte Sir James Brierlys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

II. Der Bericht Sir Hersch Lauterpachts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

III. Der Bericht Sir Gerald Fitzmaurices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

IV. Die Berichte Sir Humphrey Waldocks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

V. Weitere Arbeiten in der ILC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

8

Inhaltsverzeichnis

E. Behandlung von Vorbehalten nach der WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

I. Definition des Vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

II. Rechtliche Behandlung von Vorbehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

1. Zulässigkeit eines Vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

a) Ausdrückliches Verbot von Vorbehalten (Art. 19 lit. a WVK) . . . . . . . . . . . .

44

aa) Verträge, die Vorbehalte in jeder Hinsicht verbieten . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

bb) Verträge, die bestimmte Vorbehalte verbieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

b) Erlaubnis nur bestimmter Vorbehalte, zu denen der betreffende Vorbehalt nicht gehört (Art. 19 lit. b WVK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

c) Unvereinbarkeit des Vorbehalts mit Ziel und Zweck des Vertrags (Art. 19 lit. c WVK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

2. Rechtswirkung von Vorbehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

a) Rechtswirkung eines Vorbehalts bei Annahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

aa) Formen der Annahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

bb) Notwendigkeit der Annahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

cc) Rechtsfolgen der Annahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

b) Rechtswirkung eines Vorbehalts bei Einspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

aa) Einspruch mit Ausschlusswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

bb) Einspruch ohne Ausschlusswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

III. Zusammenfassung und Grundprinzip des Vorbehaltsrechts nach der WVK . . . . .

50

F. Entwicklungen nach Inkrafttreten der WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

I. Beratungen in der ILC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

II. Entwicklungen in der Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Kapitel 3 Die Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

76

A. Festlegung der Untersuchungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

B. Vertragskategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

I. Bilaterale Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Inhaltsverzeichnis

9

II. Plurilaterale Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

III. Gründungsverträge Internationaler Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

IV. Sonstige multilaterale Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

1. Möglichkeit einer Einteilung multilateraler Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

2. Einteilung nach der Pflichtenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

3. Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur . . . . . . . . . . . . . .

86

4. Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur . . . . . . . . . . .

90

5. Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur . .

94

a) Vertikale Pflichtenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

b) Horizontale Pflichtenstruktur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 aa) Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 bb) Verpflichtungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 cc) Bestimmungen zu Überwachungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 dd) Weitere Vertragsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Zusammenfassung: Die Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags als Vertrag mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I. Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur . . . . . . . . . . . . . . 119 III. Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur . . . . . . 123 1. Primärpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 a) Probleme hinsichtlich der Pflichtenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 b) Unmöglichkeit der Feststellung von Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 c) Probleme aus der Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Sekundärpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 D. Zulässigkeit eines Abweichens von der WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

10

Inhaltsverzeichnis Kapitel 4 Möglichkeit einer Reform

144

A. Festlegung der Untersuchungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen bzw. Verträge . . . . . . 146 I. Geltendes Sonderrecht in Menschenrechtsschutzverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Ausnahmsloses Verbot von Vorbehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Inkorporationslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Erweiterte Inkorporationslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4. Ausdrückliche Zulassung bestimmter Vorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5. Ausdrückliches Verbot bestimmter Vorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 6. Art. 57 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 II. Allgemeines Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Pacta sunt servanda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Anwendung der Regeln der WVK unter Außerachtlassung von Reziprozität 163 3. Rückkehr zum Ziel-und-Zweck-Test . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 III. Mögliche Reformansätze außerhalb des geltenden vertraglichen Sonderrechts und des allgemeinen Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Einführung reziproker Elemente in Menschenrechtsschutzverträge . . . . . . . . . . 167 2. Der Non-Benefitting-Ansatz als beginnende Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 b) Vergleich mit den Regeln der WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 c) Vergleich mit der Struktur von Menschenrechtsschutzverträgen . . . . . . . . . 171 d) Chancen auf Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 aa) Rechtliche und strukturelle Übereinstimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 bb) Rechtsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (1) Beschränkung der Souveränität des Vorbehaltsstaats . . . . . . . . . . . . 178 (2) Beschränkung der Souveränität nicht widersprechender Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 cc) Anwendungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 (1) Vorbehaltstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Inhaltsverzeichnis

11

(2) Umsetzung und Durchsetzung von Einsprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . 199 dd) Geeignetheit des Non-Benefitting-Ansatzes als Reformgrundlage . . . 207 3. Struktureller Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 a) Modell eines strukturellen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Vorteile des strukturellen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 c) Nachteile des strukturellen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 aa) Rechtsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 bb) Anwendungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 cc) Chancen auf Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 4. Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 5. Gesamtüberprüfung eines Vorbehalts durch eine übergeordnete Instanz . . . . . 222 a) Vertragsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 b) Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 c) Depositar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 aa) Aufgaben des Depositars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 bb) Implizite Kompetenz des Depositars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 (1) Formelle Entscheidungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 (2) Materielle Entscheidungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 (3) Hinweisbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 cc) Praxis der Depositare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 dd) Strukturüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 ee) Chancen auf Akzeptanz / Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 d) Tauglichkeit einer Prüfungskompetenz übergeordneter Instanzen als Reformgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 6. Verhandlung eines Zusatzprotokolls zur WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 7. Neuordnung des gesamten Völkervertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 C. Multilateral wirkende horizontale Pflichten bzw. Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 I. Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 II. Möglichkeit einer Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 1. Das Recht auf Individualbeschwerde als Sonderfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

12

Inhaltsverzeichnis 2. Vorbehalte zu gerichtlichen Streitbeilegungskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 3. Verknüpfung von Primärpflichten und Sekundärpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 4. Bindende Überprüfungsbefugnis etwaiger Vertragsorgane oder des Depositars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 5. Ius Cogens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 6. Verbot des Rechtsmissbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 7. Ausschluss des Vorbehaltsstaats bei Verstoß gegen Ziel und Zweck des Vertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 8. Non-Benefitting-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 a) Voraussetzungen und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 b) Chancen auf Akzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 aa) Rechtliche und strukturelle Übereinstimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 bb) Rechtsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 (1) Souveränität des Vorbehaltsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 (2) Souveränität nicht einsprechender Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 cc) Anwendungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 (1) Vorbehaltstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 (2) Umsetzung und Durchsetzung von Einsprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . 311 dd) Geeignetheit des Non-Benefitting-Ansatzes als Reformgrundlage . . . 314 Kapitel 5 Vorschlag einer Reform des Vorbehaltsrechts

317

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344

Abkürzungsverzeichnis Abb.

Abbildung

Abs.

Absatz

Add.

Addendum

AFDI

Annuaire Français de Droit International

AfrMRK

African Charter on Human and Peoples‘ Rights

AHRLJ

African Human Rights Law Journal

AJIL

American Journal of International Law

AMDI

Anuario Mexicano de Derecho Internacional

AMRK

American Convention on Human Rights, Pact of San José, Costa Rica

APUZ

Aus Politik und Zeitgeschichte

ARIEL

Austrian Review of International and European Law

Art.

Artikel

Asian YIL

Asian Yearbook of International Law

AUILR

American University International Law Review

AVR

Archiv des Völkerrechts

Bd.

Band

BDGV

Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht

Berkeley JIL

Berkeley Journal of International Law

BGBl.

Bundesgesetzblatt

Brooklyn JIL

Brooklyn Journal of International Law

BYIL

British Yearbook of International Law

bzgl.

Bezüglich

bzw.

Beziehungsweise

CAHDI

Ad Hoc Committee of Legal Advisers on Public International Law

Canadian YIL

The Canadian Yearbook of International Law

CAT

Convention Against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment

CCPR

International Covenant on Civil and Political Rights

CEDAW

Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women

CERD

Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination

CESCR

International Covenant on Economic, Social, and Cultural Rights

14

Abkürzungsverzeichnis

Colorado JIELP

Colorado Journal of International Environmental Law and Policy

Columbia JTL

Columbia Journal of Transnational Law

Cornell ILJ

Cornell International Law Journal

CRC

Convention on the Rights of the Child

ders.

Derselbe

dies.

Dieselbe

Diss.

Dissenting

Doc.

Document

Duke JCIL

Duke Journal of Comparative and International Law

ECAT

European Convention for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment

ECOSOC

Economic and Social Council

EG

Europäische Gemeinschaft

EGMR

European Court of Human Rights

EJIL

European Journal of International Law

EKMR

European Commission of Human Rights

ELR

European Law Review

EMRK

Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

EPIL

Encyclopedia of Public International Law

ETS

European Treaty Series

EU

Europäische Union

EuGRZ

Europäische Grundrechte Zeitschrift

EuR

Europarecht

Finnish YIL

The Finnish Yearbook of International Law

FS

Festschrift

GA

General Assembly

GAOR

General Assembly Official Records

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

GS

Gedächtnisschrift

GYIL

German Yearbook of International Law

Harvard ILJ

Harvard International Law Journal

HRC

Human Rights Committee

HRLJ

Human Rights Law Journal

HRQ

Human Rights Quaterly

HRR

The Human Rights Review

HS

Halbsatz

HuV-I

Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften

Abkürzungsverzeichnis

15

IACHR

Inter-American Court of Human Rights

ICJ

International Court of Justice

ICJ Reports

International Court of Justice, Reports of Judgements, Advisory Opinions and Others

ICLQ

International and Comparative Law Quarterly

IGH

Internationaler Gerichtshof

IGH-Statut

Statute of the International Court of Justice

ILC

International Law Commission

ILM

International Legal Materials

ILO

International Labour Organisation

Indiana JGLS

Indiana Journal of Global Legal Studies

Int. Org.

International Organization

i. S. d.

im Sinne des / im Sinne der

Israel YHR

Israel Yearbook on Human Rights

IStGH

Internationaler Strafgerichtshof

JA

Juristische Arbeitsblätter

JIR

Jahrbuch für Internationales Recht

JURA

Juristische Ausbildung

JZ

Juristenzeitung

LA

Liber Amicorum

Leiden JIL

Leiden Journal of International Law

Lesotho LJ

Lesotho Law Journal

lit.

Litera

Max Planck UNYB

Max Planck Yearbook of United Nations Law

Melbourne JIL

Melbourne Journal of International Law

Michigan JIL

Michigan Journal of International Law

NATO

North Atlantic Treaty Organization

NILR

Netherlands International Law Review

Nordic JIL

Nordic Journal of International Law

Nr.

Nummer

NTIR

Nederlands Tijdschrift voor Internationaal Recht

NYIL

Netherlands Yearbook of International Law

OAS

Organisation of American States

OP

Optional Protocol

PCIJ

Permanent Court of International Justice

PYIL

Polish Yearbook of International Law

RBDI

Revue belge de droit International

RdC

Recueil des Cours

16

Abkürzungsverzeichnis

REDI

Revue Egyptienne de Droit International

Res.

Resolution

RGDIP

Revue Générale de Droit International Public

Rn.

Randnummer

S.

Seite

SAYIL

South African Yearbook of International Law

Schweiz JIR

Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht

Ser.

Serie

sog.

so genannte

Stanford JIL

Stanford Journal of International Law

StIGH

Ständiger Internationaler Gerichtshof

Syracuse JILC

Syracuse Journal of International Law and Commerce

SZIER

Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht

u. a.

unter anderem

U. S.

United States of America (siehe auch: USA)

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

UN

United Nations

UNC

Charter of the United Nations

UNCIO

United Nations Conference on International Organization San Francisco, 1945

UNHCHR

United Nations High Commissioner for Human Rights

UNJY

United Nations Juridical Yearbook

UNTS

United Nations Treaty Series

USA

United States of America (siehe auch: U. S.)

Vanderbilt JTL

Vanderbilt Journal of Transnational Law

vgl.

Vergleiche

Virginia JIL

Virginia Journal of International Law

VN

Vereinte Nationen, Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen

vol.

Volume

VölkerRt.

Völkerrecht

WVK

Vienna Convention on the Law of Treaties

Yale JIL

The Yale Journal of International Law

YILC

Yearbook of the International Law Commission

z. B.

zum Beispiel

Ziff.

Ziffer

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

Z. T.

zum Teil

„ . . . the reservations articles have given commentators endless hours of enjoyment and produced abundant literature, particularly on reservations to human rights treaties.“ Anthony Aust

Kapitel 1

Einleitung Die Frage nach „unity and diversity in public international law“ wird in der letzten Zeit zunehmend gestellt.1 Gerade im Bereich der Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen ist in den letzten Jahren eine Fülle von Publikationen entstanden, die sich damit auseinandersetzen, ob in dieser Hinsicht überhaupt noch von einem einheitlichen Völkerrecht gesprochen werden kann. Wie der dieser Arbeit vorangestellte Satz Anthony Austs2 in leicht ironischer Weise veranschaulicht, sind es vor allem Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen, die Anlass für diese Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen gegeben haben. Die Bandbreite der darin vertretenen Ansichten ist groß. Sie reicht von konservativen Meinungen, die eine schlichte Anwendbarkeit der geltenden Regeln zu Vorbehalten favorisieren, bis hin zu solchen, die eine komplette Neuordnung des Völkervertragsrechts fordern. Die ILC beschäftigt sich seit nunmehr zwölf Jahren unter Federführung des Berichterstatters Alain Pellet mit dieser Frage. Auch internationale Gerichte und durch Menschenrechtsschutzverträge geschaffene Organe haben sich der Diskussion nicht entziehen können. Die vorliegende Arbeit will nicht nur eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechts sowie der vertretenen Ansätze liefern. Ihr Ziel ist vielmehr eine grundlegende Analyse der Struktur völkervertraglicher Pflichten, mit deren Hilfe die mit der Anwendung des geltenden Rechts verbundenen Probleme freigelegt werden können. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, das in völkerrechtlichen Verträgen und insbesondere in Menschenrechtsschutzverträgen enthaltene System von Rechten und Pflichten sowie Rechtsträgern und Verpflichteten wertfrei zu betrachten und auf das Wesentliche zu reduzieren. Wenn sich aus diesen Strukturanalysen ergibt, dass das geltende Vorbehaltsrecht auf Vorbehalte zu völkerrecht1 So auch der Titel des Symposiums zum 90. Jahrestag der Gründung des WaltherSchücking-Instituts für Internationales Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, 4. bis 6. November 2004. 2 Aust, NILR vol. L (2003), S. 249.

2 Behnsen

18

Kap. 1: Einleitung

lichen Verträgen oder einem Teil der völkerrechtlichen Verträge nicht sinnvoll anwendbar ist, weil seine Struktur und die des Vertrags nicht übereinstimmen, darf nach einer Möglichkeit gesucht werden, das geltende Recht zu reformieren. Ein solcher Reformansatz muss sich dann an der Struktur der problematischen Verträge orientieren und so die bei Anwendung des bestehenden Rechts entstehenden Probleme lösen. Wo sich hingegen zeigt, dass die Struktur des geltenden Rechts und die Struktur eines Vertrags so übereinstimmen, dass es bei Anwendung des Rechts zu keinen widersprüchlichen Ergebnissen kommt, darf nicht nur, sondern muss auf Überlegungen zu einer Reform verzichtet werden. Am Ende dieser Arbeit sind daher mehrere Fragen zu beantworten. Feststehen muss zunächst, auf welche Verträge das geltende Recht anwendbar ist. Für alle anderen Verträge muss dann ein Reformansatz entwickelt werden, der eine sinnvolle rechtliche Behandlung aller Vorbehalte ermöglicht. Auf diese Weise kann schließlich auch eine Antwort auf die Frage gefunden werden, ob im Bereich des Vorbehaltsrechts noch unity oder bereits diversity herrscht beziehungsweise ob durch eine Modifikation des geltenden Vorbehaltsrechts unity wiederhergestellt werden kann oder eine sinnvolle rechtliche Behandlung von Vorbehalten nur mit Hilfe von diversity möglich ist.

Kapitel 2

Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten Um die Probleme nachvollziehen zu können, die sich heute bei der Frage nach der richtigen Behandlung von Vorbehalten ergeben, muss zunächst ein Überblick über die von vielen Wechseln und neuen Ansätzen geprägte Entwicklung dieses Rechtsgebiets gewonnen werden. Größtenteils wirken die Probleme, die sich während der Entwicklung des heute geltenden Rechts zeigten, noch heute nach.

A. 18. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts I. Zulässigkeit des Anbringens von Vorbehalten Die Möglichkeit, Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen anzubringen, gestehen sich Staaten schon seit Zeiten des klassischen Völkerrechts zu. Sie ist Ausdruck staatlicher Souveränität.1 So ist es möglich, bereits in einer Erklärung der USA zum Vertrag mit Großbritannien aus dem Jahre 1795, dem so genannten JayVertrag, einen Vorbehalt zu sehen.2 Die Praxis, Vorbehalte zu Verträgen anzubringen, setzte sich im 19. Jahrhundert und dem beginnenden 20. Jahrhundert fort. Der Beginn dieser Entwicklung wird allgemein in der Erklärung von Vorbehalten zur Wiener Schlussakte von 1815 durch mehrere Staaten gesehen, da hier zum ersten Mal Vorbehalte zu einem die wichtigen Staaten Europas einbindenden Vertrag erklärt wurden,3 beispielsweise durch den schwedisch-norwegischen Vertreter Graf Löwenhjelm bezüglich der Anerkennung der Souveränität des Gebiets von Lucca und der Herrschaft Ferdinands IV. als König beider Sizilien.4 Die Zahl der Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen blieb in dieser Zeit zwar gering.5 Insbeson1 Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 183; Elias, S. 27; Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 108; vgl. Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 186; Shaw, S. 822. 2 Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 I. 1.; Horn, S. 7; Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 261; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 384. 3 Vgl. die Darstellung bei Horn, S. 7 ff.; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148, II. 1.; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 384. 4 Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 262.

2*

20

Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

dere ab dem Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich allerdings feststellen, dass Staaten eindeutig häufiger dazu übergingen, Vorbehalte zu erklären. So erklärte die Türkei einen Vorbehalt zum Gesundheitspolizei-Abkommen von Venedig aus dem Jahre 1892. Großbritannien trat dem Dresdner Gesundheitspolizei-Abkommen von 1893 und der Internationalen Zuckerkonvention von 1902 nur unter Vorbehalt bei. Dasselbe gilt für Dänemark und die Konvention zur Nachtarbeit von Frauen von 1906.6 Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich dieser Trend fort. Dies beweist unter anderem die Anzahl der Vorbehalte, die zu den Kodifikationen auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts auf den Friedenskonferenzen von Den Haag in den Jahren 1899 und 1907 erklärt wurden.7 Insgesamt wurden zu den Haager Konventionen 73 Vorbehalte und 30 Erklärungen, die mit Vorbehalten vergleichbar sind, abgegeben.8 In der Zwischenkriegszeit stieg die Zahl der Vorbehalte weiter an. So erklärten Schweden und Großbritannien Vorbehalte zum Agreement relating to Rights of Industrial Property affected by the World War von 1920.9 Alle diese Vorbehalte wurden von den jeweiligen anderen Vertragsstaaten angenommen beziehungsweise es wurde kein Widerspruch erhoben.10 Somit lässt sich Staatenpraxis feststellen, die das Anbringen von Vorbehalten zu einem Vertrag in der Zeit vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts zulässt. Die Tatsache, dass diese Vorbehalte jeweils von allen anderen Vertragsparteien angenommen wurden, lässt erkennen, dass diese Praxis auch von der nötigen opinio iuris getragen wurde. Für diese Zeit kann daher von der gewohnheitsrechtlich gegebenen Möglichkeit ausgegangen werden, Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen anzubringen.11 Dabei spielte es keine Rolle, ob dieses durch den Vertrag selbst erlaubt war oder der Vertrag zum Thema Vorbehalte keine Regeln enthielt.12

Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 260. Vgl. zu weiteren Beispielen die Darstellung bei Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 256, 261 ff. 7 Horn, S. 7; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 1; abgedruckt sind diese Vorbehalte bei Scott, vol II, S. 160 ff., 528 ff. 8 Horn, S. 8. 9 Vgl. Malkin, BYIL 7 (1926), S. 155. 10 Vgl. zu allen Fällen die Zusammenstellung bei Malkin, BYIL 7 (1926), S. 143 ff. sowie bei Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 1. 11 Oppenheim, Bd. 1, 4. Aufl., S. 727; Malkin, BYIL 7 (1926), S. 142 f. 12 IGH, Reservations to the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Advisory Opinion), 28. Mai 1951, ICJ Reports 1951, S. 22; im Folgenden: „Gutachten zur Völkermordkonvention“; O’Connell, Bd. 1, S. 232. 5 6

A. 18. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts

21

II. Rechtswirkung von Vorbehalten 1. Europäisches Modell Die Bestimmung der Rechtswirkung eines Vorbehalts wurde unter den europäischen Staaten bis in die Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach der so genannten absoluten Theorie oder auch strengen Konsenstheorie vollzogen. Bereits nach damaligem Verständnis bestand das Wesen des Vorbehalts darin, dass er Teile der vertraglichen Verpflichtungen modifizieren sollte. Man zog daraus den Schluss, dass ein Vorbehalt grundsätzlich mit der Ablehnung eines Vertragsangebots und der gleichzeitigen Formulierung eines neuen veränderten Vertragsangebots gleichzusetzen sei.13 Aus der absoluten Theorie sowie aus der Souveränität der Staaten folgerte man, dass Staaten nur insofern an Verträge gebunden sein konnten, soweit sie dies auch wollten. Eine modifizierte Bindung anderer Vertragsparteien gegenüber dem Vorbehaltsstaat konnte also nur dann erfolgen, wenn diese das veränderte Vertragsangebot in Gestalt des Vorbehalts annahmen.14 Diese Ansicht begründete man auf zweierlei Weise. Zum einen galt es für einen Staat als unzumutbar, wenn er in der Erwartung der gleichen Geltung der wechselseitigen Vertragsverpflichtungen Partei eines Vertrags würde und ein anderer Staat durch einen Vorbehalt seine Verpflichtungen aus dem Vertrag abänderte.15 Zum anderen sah man die Gefahr, dass bei Zulassung von Vorbehalten, ohne dass alle anderen Vertragsparteien hierzu ihre Zustimmung gegeben hätten, sich letztere vom Vertrag lösen oder ihre Ratifikation zurückziehen könnten. Das Anbringen von Vorbehalten ohne allseitige Zustimmung war also auch rechtspolitisch unerwünscht.16 Diese theoretischen Überlegungen werden durch die Staatenpraxis der europäischen Staaten dieser Zeit belegt. So wurden alle Vorbehalte, wie sie oben beschrieben sind, von den anderen Vertragsparteien ausdrücklich oder zumindest stillschweigend angenommen.17 Gleiches gilt zum Beispiel auch für die Vorbehalte zur Internationalen Konvention über den drahtlosen Funkverkehr.18 Ein weiteres Indiz für die gewohnheitsrechtliche Geltung der strengen Konsenstheorie liefert die Resolution der Völkerbundsversammlung vom 25. September 1931. Die Versammlung äußerte hierin:

13 Oppenheim, Bd. 1, 4. Aufl., S. 728; Harvard-Entwurf, AJIL 29 (1935), Part III, S. 870 f.; McNair, S. 160. 14 Oppenheim, Bd. 1, 4. Aufl., S. 728; Koh, Harvard ILJ 23 (1982), S. 77; Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 3; Herdegen, VölkerRt., § 15, Rn. 22; O’Connell, Bd. 1, S. 230; Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 112; Schermers, NTIR 6 (1959), S. 350. 15 Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 2. a; Harvard-Entwurf, AJIL 29 (1935), Part III, S. 871. 16 Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 2. a. 17 Vgl. für weitere Beispiele Harvard-Entwurf, AJIL 29 (1935), Part III, S. 878 f. 18 Vgl. Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 277.

22

Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten „L’Assemblée ( . . . ) Considère q’une réserve ne saurait être formulée lors de la ratification qu’avec l’assentiment de tous les autres Etats signataires ou pour autant que texte de la Convention prévoit une telle réserve ( . . . ).“19

Das Erfordernis einer Annahme kann somit für diese Zeit als gewohnheitsrechtlich geltend angesehen werden, damit ein Vorbehalt Rechtswirksamkeit erlangen konnte.20 Da ein Vertrag als die Willensübereinkunft aller Vertragsparteien galt, musste auch bezüglich des Vorbehalts der einheitliche Wille aller Vertragsparteien vorliegen. Es war daher die Annahme durch alle anderen Vertragsparteien, nicht nur durch einen Teil dieser, zwingend notwendig.21 Die Rechtswirkung des angenommenen Vorbehalts ergab sich gemäß der absoluten Theorie quasi automatisch. Sofern alle übrigen Vertragsparteien eine Annahme erklärten, brachten sie ihren Willen zum Ausdruck, gegenüber dem Vorbehaltsstaat in der Weise, wie der Vorbehalt es vorsah, gebunden zu sein. Man einigte sich somit auf die im Vorbehalt vorgesehene Modifikation des Vertragsinhalts, so dass der Vorbehalt für den Vorbehaltsstaat die gewünschte Modifikationswirkung erhielt.22 Die Verpflichtungen zwischen den anderen Staaten wurden vom Vorbehalt nicht berührt. Sie blieben bestehen, wie der Vertrag es vorsah.23 Im Umkehrschluss lässt sich aus der absoluten Theorie ableiten, dass im Falle eines Einspruchs durch eine Vertragspartei kein Konsens über die vom Vorbehaltsstaat gewünschte Modifikation zustande gekommen war. Insofern konnte der Vorbehalt keine Wirkung entfalten, so dass dem Vorbehaltsstaat nur die Möglichkeit blieb, ihn entweder zurückzuziehen oder nicht Vertragspartei zu werden.24 Belegt wird dies beispielsweise durch das Verhalten Chinas, dessen Vorbehalt zum Versailler Vertrag von 1919 nicht von allen anderen Vertragsparteien angenommen worden wäre. China nahm aus diesem Grunde Abstand davon, den Vertrag zu unterzeichnen.25 Ähnlich verhielt es sich mit Vorbehalten Deutschlands zur White Slave Trade Convention von 1910 und der Türkei zum Gesundheitspolizei-Abkommen von 1903.26 Nachdem ein Vorbehalt der Sowjetunion zum Vertrag zur Erleichterung des internationalen Austauschs von Lehrfilmen von 1933 auf den Einspruch 19 Situation Relativement a la Mise en Vigueur du Protocole du 14 Septembre 1929, Concernant la Revision du Statut de la Cour Permanente de Justice Internationale, Résolution adoptée le 25 septembre 1931, Société des Nations, Journal Officiel, Supplément spécial No. 92, S. 10. 20 Hilpold, AVR 34 (1996), S. 385; Kühner, S. 58 f. 21 Vgl. Art. 14 (a) Harvard-Entwurf, AJIL 29 (1935), Part III, S. 874; Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 274. 22 Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 271. 23 Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 274. 24 Harvard-Entwurf, AJIL 29 (1935), Part III, S. 874; Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 272. 25 Vgl. Anderson, ICLQ 13 (1964), S. 454. 26 Harvard-Entwurf, AJIL 29 (1935), Part III, S. 875 f.; vgl. Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 272.

A. 18. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts

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Chiles, der Schweiz und des Irans gestoßen war, verzichtete die Sowjetunion insgesamt auf einen Vertragsbeitritt.27 Diese Ergebnisse wurden allerdings nur allgemein anerkannt, solange sie sich auf die Situation bezogen, dass ein Vorbehalt zu einer multilateralen Konvention von allen Vertragsparteien angenommen oder zurückgewiesen wurde. Daneben wurde unter europäischen Staaten bereits die Frage diskutiert, was mit einem Vorbehalt zu geschehen hätte, der von einigen Staaten angenommen, von anderen Staaten jedoch abgelehnt wurde. Eindeutig fiel die Antwort im Hinblick auf das Verhältnis zwischen ablehnendem Staat und Vorbehaltsstaat aus. Der ablehnende Staat wurde durch den Vorbehalt nicht gebunden. Fraglich erschien lediglich, ob die Ablehnung eines Staates auch gegenüber den Staaten, die den Vorbehalt ausdrücklich oder stillschweigend angenommen hatten, Wirksamkeit entfalten konnte.28 Insbesondere unter Verweis auf den Charakter des Vorbehalts als modifiziertes Vertragsangebot und im Hinblick auf die Integrität des Vertrags wurde aber noch davon ausgegangen, dass schon die Zurückweisung eines Vorbehalts durch einen einzigen Staat die Ablehnung eines Vorbehalts insgesamt bedeutete.29

2. Pan-Amerikanisches Modell Ein erster Schritt zur Abkehr vom europäischen Modell setzte in der Zwischenkriegszeit auf dem amerikanischen Kontinent im Rahmen der Pan-Amerikanischen Union ein und trug dazu bei, das bis dato überkommene System ins Wanken zu bringen.30 Die Vertragsrechtskonvention der sechsten Konferenz amerikanischer Staaten in Havanna vom 20. Februar 1928 enthielt in Art. 6 folgende Norm: „In case the ratifying State makes reservations to the treaty it shall become effective when the other contracting party informed of the reservations expressly accepts them, or having failed to reject them formally, should perform action implying its acceptance. In International treaties celebrated between different States, a reservation made by one of them in the act of ratification affects only the application of the clause in question in the relations of the other contracting States with the State making the reservation.“31 Kühner, S. 60. Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 275. 29 Vgl. Hudson, vol. I, S. xlix f., § 25; Malkin, BYIL 7 (1926), S. 142, 159. 30 Seidl-Hohenveldern / Stein, Rn. 308; Chaumont, RdC 129 (1970 I), S. 447; Kühner, S. 58; Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 3. 31 Zitiert nach Harvard Research in International Law, Treaties, AJIL 22 (1928) supp. 138; AJIL 29 (1935) supp. 1205; ebenfalls zu finden im Written Statement of the Organization of American States, Report Submitted by the Department of International Law and Organization of the Pan-American Union, abgedruckt unter IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, Pleadings, Oral Arguments, Documents, ICJ Reports 1951, S. 15; sowie bei Kühner, S. 61. 27 28

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

Hiermit wurde festgelegt, dass die Verhältnisse der Vertragsparteien untereinander im Falle eines Vorbehalts auf drei unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden sollten.32 Zwischen den Staaten, die keinen Vorbehalt anbrachten, trat der Vertrag in seiner ursprünglichen Fassung in Kraft. Zwischen einem Vorbehaltsstaat und einem Staat, der den Vorbehalt annahm, änderten sich die Vertragsbestimmungen in der im Vorbehalt vorgesehenen Form. Die dritte Ebene ergibt sich implizit aus dem Inhalt des Art. 6. Sie kann sich nur auf das Verhältnis zwischen dem Vorbehaltsstaat und einem Staat, der den Vorbehalt ausdrücklich nicht akzeptierte, beziehen. Zwar ließ Art. 6 noch offen, welche Rechtswirkung ein Einspruch haben sollte.33 Es ergibt sich jedoch aus der Systematik seiner Formulierung, dass ein einzelner Einspruch gegen einen Vorbehalt nicht mehr die Wirkung haben konnte, dass der Vorbehaltsstaat nicht die Möglichkeit hatte, insgesamt Vertragspartei zu werden. Ansonsten wäre die ausdrückliche Erwähnung des Verhältnisses zwischen annehmendem Staat und Vorbehaltsstaat und des Inkrafttretens des Vorbehalts zwischen diesen überflüssig.34 Zwar blieb diese Konvention weitgehend unratifiziert.35 Es kann daher auch noch nicht von einer für diese Zeit Gewohnheitsrecht begründenden Staatenpraxis ausgegangen werden. Jedoch zeigt dieser auch als „Pan-Amerikanische-Regel“ bezeichnete Ansatz,36 dass zumindest auf dem amerikanischen Kontinent schon in der Zwischenkriegszeit Tendenzen einer Entwicklung weg von der absoluten Theorie mit ihrem Erfordernis einer grundsätzlichen Annahme eines Vorbehalts durch alle Vertragsparteien vorhanden waren.37 Im Jahre 1932 verabschiedete der Governing Board of the Pan American Union drei neue Regeln zur Rechtswirkung von Vorbehalten. Dies hatte seinen Grund vor allem darin, dass die in Art. 6 der von der 6. Konferenz erarbeiteten Vertragsrechtskonvention enthaltene Regelung sich als zunehmend unzureichend erwies. Die drei neu erdachten Regeln lauteten: „With respect to the juridical status of treaties ratified, with reservations, which have not been accepted, the Governing Board of the Pan American Union understands that: 1. The treaty shall be in force, in the form in which it was signed, as between those countries which ratify it without reservations, in the terms in which it was originally drafted and signed. 2. It shall be in force as between the governments which ratify it with reservations and the signatory States which accept the reservations in the form in which the treaty may be modified by the said reservations. Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 3. Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 117. 34 Vgl. Kühner, S. 61 f. 35 Bishop, RdC 103 (1961 II), S. 278. 36 Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 3. 37 Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 3.; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 386; Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 118. 32 33

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3. It shall not be in force between a government which may have ratified with reservations and another which may have already ratified, and which does not accept such reservations.“38

In den ersten beiden Regeln wird der Inhalt des Art. 6 der Vertragsrechtskonvention der 6. Konferenz erneut bestätigt. In der dritten wird diesmal ausdrücklich klargestellt, dass ein Einspruch eines Staates gegen einen Vorbehalt bewirkt, dass der Vertrag zwischen dem Vorbehaltsstaat und dem den Einspruch erhebenden Staat nicht zustande kommt.39 Im Verhältnis zur damals in Europa herrschenden Theorie enthalten die Regeln eins und zwei keine bedeutenden Neuerungen. Von der europäischen Ansicht wurde zumindest der Ansatz übernommen, dass ein Staat nicht gezwungen ist, vertragliche Beziehungen mit einem Vorbehaltsstaat einzugehen, dessen Vorbehalt er ablehnte. Der Inhalt der Regel drei hingegen weicht von dem europäischen Modell entscheidend ab. Mit dem Prinzip der Erforderlichkeit einer einstimmigen Annahme wird zum ersten Mal ausdrücklich gebrochen. Anders als in der Konvention von Havanna wurde diese Frage nicht mehr offen gelassen. Trotz der Konzession an die damals unter europäischen Staaten herrschenden Regeln in den Regeln eins und zwei zeigt sich, dass von einer universellen Geltung der Ansicht, dass ein Vorbehalt immer der Annahme durch alle Vertragsparteien bedurfte, ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr ausgegangen werden kann. Diese Prinzipien wurden auf der Achten Internationalen Konferenz der Amerikanischen Staaten in Lima im Jahre 1938 bestätigt und ergänzt. Sie wurden bis 1973 angewandt.40 Zur Rechtsentwicklung auf dem Gebiet der Behandlung von Vorbehalten boten sich der internationalen Gemeinschaft somit nunmehr zwei Modelle an.41

3. Praxis der ILO Ein dritter Ansatz zeigte sich hinsichtlich der Behandlung der Vorbehalte, die zu im Rahmen der ILO geschlossenen internationalen Arbeitsabkommen angebracht 38 Zitiert nach Written Statement of the Organization of American States, Report Submitted by the Department of International Law and Organization of the Pan-American Union, abgedruckt unter IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, Pleadings, Oral Arguments, Documents, ICJ Reports 1951, S. 17. 39 Menon, S. 45; Anderson, ICLQ 13 (1964), S. 455; Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 3 f. 40 Koh, Harvard ILJ 23 (1982), S. 80; Kühner, S. 62; vgl. Written Statement of the Organization of American States, Report Submitted by the Department of International Law and Organization of the Pan-American Union, abgedruckt unter IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, Pleadings, Oral Arguments, Documents, ICJ Reports 1951, S. 17 ff. 41 Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 4.

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

wurden. Hierbei wurde sowohl abweichend vom europäischen als auch abweichend vom pan-amerikanischen Modell verfahren.42 Seit der Zeit ihrer Gründung nach dem Ersten Weltkrieg und bis heute verfährt diese Organisation nach dem Prinzip, grundsätzlich keine Vorbehalte zu Konventionen, die unter ihrer Federführung geschlossen werden, zuzulassen.43 Dies erklärt sich aus einer Besonderheit dieser Verträge. Deren oberstes Ziel ist es, zumindest theoretisch in allen Mitgliedstaaten gleiche Arbeitsbedingungen zu schaffen. Würde durch das Akzeptieren von Vorbehalten einzelnen Staaten die Möglichkeit gegeben, einseitig von den Bestimmungen solcher Verträge abzuweichen, hätte dies Verzerrungen im internationalen Wettbewerb zur Folge, die es mit Rücksicht auf das wirtschaftliche Gleichgewicht zu vermeiden gilt.44 Da dieses dritte Modell seine Berechtigung aus einer Sondersituation erhält, kann es bezüglich seines Einflusses auf die Rechtsentwicklung nicht als mit dem europäischen und dem pan-amerikanischen Modell gleichwertig angesehen werden. Allerdings bleibt festzuhalten, dass in Bezug auf bestimmte Vertragstypen schon am Beginn des 20. Jahrhunderts ein Sonderregime zur Behandlung von Vorbehalten vorhanden war.

B. Sowjetische Praxis nach dem Zweiten Weltkrieg Nach Ende des Zweiten Weltkriegs begann das klassische Einstimmigkeitsprinzip auch unter den europäischen Staaten zu wanken.45 Die Vorreiterrolle übernahm in diesem Prozess die Sowjetunion. Die von ihr vertretene Ansicht stützte sich stark auf das Prinzip staatlicher Souveränität.46 Vorbehalte waren für sie streng als einseitige Rechtsakte zu beurteilen, was zur Folge hatte, dass anders als unter Geltung der absoluten Theorie die Reaktion anderer Staaten hierauf keinen Effekt haben können sollte. Vorbehalte sollten nach Ansicht der Sowjetunion ihre Wirksamkeit allein durch ihre Erklärung entfalten können.47 Sie waren nach damaliger sowjetischer Auffassung also immer zulässig. Hinsichtlich ihrer Rechtswirkung erklärte der sowjetische Vertreter Morosov im 6. Committee der Generalversammlung, dass die Bestimmungen eines Vertrags, zu denen ein Vorbehalt erklärt worden sei, zwischen dem Vorbehaltsstaat und den anKühner, S. 63. Written Statement of the International Labour Organization, Memorandum by the International Labour Office, abgedruckt unter IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, Pleadings, Oral Arguments, Documents, ICJ Reports 1951, S. 217; vgl. Kühner, S. 64. 44 Kühner, S. 64. 45 Vgl. Anderson, ICLQ 13 (1964), S. 456. 46 Talalajew, S. 68 f.; Schweisfurth, IRD 1972, S. 195. 47 Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 183; Schweisfurth, IRD 1972, S. 195; vgl. Göttling, S. 44 ff. 42 43

C. Gutachten des IGH zur Völkermordkonvention

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deren Vertragsparteien keine Anwendung finden sollten. Lediglich der Teil des Vertrags, der von dem Vorbehalt nicht betroffen sei, trete zwischen Vorbehaltsstaat und den anderen Vertragsparteien in Kraft.48 Hinsichtlich der Wirkung eines Einspruchs bestand auch unter sowjetischen Autoren Uneinigkeit. Zum Teil wurde angenommen, der Vertrag träte zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat in Kraft. Die vom Vorbehalt betroffene Bestimmung fände dann keine Anwendung. Ausgeschlossen sollte dies nach dieser Ansicht nur dann sein, wenn der einsprechende Staat dem Inkrafttreten ausdrücklich widersprochen hatte.49 Eine andere Gruppe Autoren vertrat dagegen die Ansicht, dass der Vertrag nur zwischen den Staaten, die dem Vorbehalt nicht widersprochen hatten, und dem Vorbehaltsstaat zustande kommen könnte.50 Diese Praxis wurde von der Sowjetunion bis in die 80er Jahre hinein so angewandt. Ihre Bedeutung für die Entwicklung des Rechts der Vorbehalte in Abkehr von dem klassischen Einstimmigkeitserfordernis nach der absoluten Theorie ist in etwa ebenso groß wie die des pan-amerikanischen Modells.51 Sie konnte die weitere Entwicklung des Vorbehaltsrechts mit prägen.52

C. Gutachten des IGH zur Völkermordkonvention Das Gutachten des IGH zur Frage der Zulässigkeit von Vorbehalten zur Völkermordkonvention aus dem Jahre 195153 bildet den wohl wichtigsten Wendepunkt in der Entwicklung des Vorbehaltsrechts vom klassischen Einstimmigkeitsprinzip zum heute geltenden.54

I. Hintergrund und Überblick über das Ergebnis Noch im Bewusstsein der Verbrechen des Holocausts wurde von den Mitgliedern der Vereinten Nationen in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Völkermord-Konvention verhandelt. Gedacht als eine allgemeine Verurteilung des Verbrechens des Völkermords55 wurde auch dieser Vertrag nicht von Vorbehalten Stellungnahme des sowjetischen Vertreters Morosov vom 16. Oktober 1950, GAOR, 5th Session, 6th Committee, 222nd Meeting, S. 59 ff., Ziff. 3 ff., UN Doc. A / C.6 / SR.222; Tunkin, S. 126 f.; Talalajew, S. 69, 126; vgl. Göttling, S. 62, 72; Imbert, S. 98. 49 Tunkin, S. 127; Talalajew, S. 73; vgl. Schweisfurth, IRD 1972, S. 195; Göttling, S. 63, 73. 50 Vgl. Kühner, S. 66; Schweisfurth, IRD 1970 II, S. 60; Triska / Slusser, S. 87 f. 51 Kühner, S. 66. 52 Vgl. Schweisfurth, IRD 1972, S. 195. 53 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 15. 54 Hilpold, AVR 34 (1996), S. 390. 48

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verschont. Als Reaktion hierauf machte die Generalversammlung am 16. Mai 1950 von der ihr in Art. 96 Abs. 1 der Charter of the United Nations56 eingeräumten Befugnis Gebrauch und bat den IGH, folgende Fragen in einem Gutachten zu beantworten:57 I. „Can the reserving State be regarded as being a party to the Convention while still maintaining its reservation if the reservation is objected to by one or more of the parties to the Convention but not by others? II. If the answer to Question I is in the affirmative, what is the effect of the reservation as between the reserving State and: (a) The parties which object to the reservation? (b) Those who accept it? III. What would be the legal effect as regards the answer to Question I if an objection to a reservation is made: (a) By a signatory which has not yet ratified? (b) By a State entitled to sign or accede but which has not yet done so?“58

Der Gerichtshof antwortete: I. „A State which has made and maintained a reservation which has been objected to by one or more of the parties to the Convention but not by others, can be regarded as being a party to the Convention if the reservation is compatible with the object and purpose of the Convention; otherwise that State cannot be regarded as being a party to the Convention. II. (a) That if a party to the Convention objects to a reservation which it considers to be incompatible with the object and purpose of the Convention, it can in fact consider that the reserving State is not a party to the Convention (b) That if, on the other hand, a party accepts the reservation as being compatible with the object and purpose of the Convention, it can in fact consider that the reserving State is a Party to the Convention. III. (a) That an objection to a reservation made by a signatory State, which has not yet ratified the Convention, can have the legal effect indicated in the reply to Question I only upon ratification. Until that moment it merely serves as a notice to the other State of the eventual attitude of the signatory State; (b) That an objection to a reservation made by a State which is entitled to sign or accede but which has not yet done so, is without legal effect.“59

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Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 4. UNCIO Doc. Bd. 15, S. 335; im Folgenden: UNC oder „UN-Charta“. Vgl. hierzu sowie zur anschließenden Entwicklung Fitzmaurice, ICLQ 2 (1953), S. 2 ff. Abgedruckt unter ICJ Reports 1951, S. 16. IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 29 f.

C. Gutachten des IGH zur Völkermordkonvention

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Mit dieser Entscheidung rückte der Gerichtshof von der bis dahin unter den europäischen Staaten vorherrschenden Ansicht ab.60 Zwar ging die abweichende Minderheit der Richter nach wie vor von der Geltung der klassischen Regeln aus,61 die Mehrheit schlug jedoch einen neuen Weg ein. Mit seiner Entscheidung, die Zulässigkeit eines Vorbehalts nicht mehr von einer Annahme durch alle Vertragsparteien abhängig zu machen, sondern das objektive Kriterium der Vereinbarkeit des Vorbehalts mit Ziel und Zweck des Vertrags als Zulässigkeitskriterium einzuführen, machte der Gerichtshof den Weg frei für die zweistufige Beurteilung von Vorbehalten. Dabei bemühte er sich vor allem darum, zwei widerstreitende Aspekte ihrer Behandlung zum Ausgleich zu bringen. Zum einen versuchte er, die Integrität des Vertrags vor einer Aufweichung durch zu extensive Vorbehalte zu schützen. Konsequenterweise wurde eine Möglichkeit für Staaten, Vertragspartei zu werden und gleichzeitig aus ihrer Souveränität heraus jeglichen Vorbehalt erklären zu können, egal ob er mit dem materiellen Gehalt des Vertrags vereinbar war oder nicht, ausdrücklich abgelehnt.62 Darin zeigt sich eine Absage an die rein auf die Einseitigkeit der Vorbehaltserklärung abstellende Ansicht der Sowjetunion zur Zulässigkeit von Vorbehalten. Zum anderen musste der Gerichtshof aber auch dem Umstand Rechnung tragen, dass Staaten bei der Ratifikation mit Rücksicht auf ihre Souveränität Flexibilität zugestanden werden muss, sofern ein möglichst hoher Ratifikationsstand angestrebt wird.63 Dieses Spannungsfeld konnte auch durch den Gerichtshof nicht vollständig gelöst werden. Selbst heute treten im Hinblick auf diese Fragen nach wie vor Schwierigkeiten auf. Auch die Benennung der Rechtsgrundlage für die Etablierung der neuen Methode zur Behandlung von Vorbehalten blieb der Gerichtshof schuldig.64 Der IGH vermochte es aber, den Rahmen für die Weiterentwicklung des Gewohnheitsrechts und später auch des Vertragsrechts zu setzen.65

II. Die Ergebnisse im Einzelnen 1. Zulässigkeit eines Vorbehalts Die Zulässigkeit eines Vorbehalts bestimmt sich nach Ansicht des IGH nicht mehr nach dem Willen der Staaten. Waren es vorher zumindest nach europäischem Schermers, NTIR 6 (1959), S. 361. IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, Joint Diss. Opinion der Richter Guerrero, McNair, Read, Hsu Mo, ICJ Reports 1951, S. 31 ff.; vgl. O’Connell, Bd. 1, S. 231. 62 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 25 f.; Kühner, S. 73; Lijnzaad, S. 21. 63 Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 5. 64 So kritisiert im Minderheitenvotum, IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, Joint Diss. Opinion der Richter Guerrero, McNair, Read, Hsu Mo, ICJ Reports 1951, S. 42. 65 Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 5 f. 60 61

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

Verständnis diese, die allein durch Annahme und Einspruch die Zulässigkeit eines Vorbehalts bewirken beziehungsweise verneinen konnten, so wird die Zulässigkeitsentscheidung nunmehr an objektive Kriterien geknüpft. In einer ersten Stufe bei der Überprüfung, wie mit einem Vorbehalt zu verfahren ist, muss die Frage gestellt werden, ob dieser mit Ziel und Zweck des Vertrags vereinbar ist. Dieses Ergebnis bildet die Grundlage für seine weitere rechtliche Behandlung.66 Der Ziel-und-Zweck-Test dient der Sicherung der Integrität des Vertrags, mithin des Systems der Gleichheit der Verpflichtungen aller Vertragsparteien.67 Der Gerichtshof stellt als ein seine Entscheidung tragendes Grundprinzip zunächst heraus, dass keine Vertragspartei das Recht haben darf, durch extensiven Gebrauch von Vorbehalten die raison d’être eines Vertrags einseitig zu beschädigen oder zu hintergehen.68 Die Souveränität eines Staates, die es ihm grundsätzlich ermöglicht, Vorbehalte anzubringen, ist nach Ansicht des IGH hier begrenzt.69 Allerdings betont er auch, dass das Recht der Vorbehalte mit größerer Flexibilität ausgestattet werden müsse, als es bis dato der Fall war.70 Solche Flexibilität trägt dem Prinzip der treaty universality Rechnung. Sie sollte einen hohen Ratifikationsgrad der Konvention ermöglichen.71 Die vom Gerichtshof ersonnene Methode stellt somit einen Kompromiss dar.72 Die Zulässigkeit eines Vorbehalts wird nicht mehr von der Akzeptanz aller Vertragsparteien abhängig gemacht. Sie wird an die objektiven Kriterien des Ziels und des Zwecks des Vertrags gebunden und damit gleichzeitig die treaty integrity geschützt73. Allerdings entscheiden auf zweiter Stufe die Vertragsparteien, was mit einem Vorbehalt zu geschehen hat. Dadurch entsteht mehr Flexibilität im System der Behandlung der Vorbehalte.

2. Rechtswirkung von Vorbehalten In seiner Antwort auf Frage II betont der Gerichtshof zunächst ausdrücklich, dass Staaten grundsätzlich frei in ihren Reaktionen auf Vorbehalte sind. Er folgt damit dem Grundsatz, dass kein Staat an etwas gebunden werden kann, das nicht Kühner, S. 73. Jully, Die Friedenswarte 51 (1951 / 53), S. 260. 68 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 21; Lijnzaad, S. 20; O’Connell, Bd. 1, S. 234. 69 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 24; zustimmend Jully, Die Friedenswarte 51 (1951 / 53), S. 263; Redgwell, BYIL 64 (1993), S. 251. 70 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 22. 71 Keller, SZIER 2 / 2003, S. 131 f.; Elias, Modern Treaty Law, S. 30; Talalajew, S. 71; Jully, Die Friedenswarte 51 (1951 / 53), S. 261. 72 Jully, Die Friedenswarte 51 (1951 / 53), S. 263; Keller, SZIER 2 / 2003, S. 140. 73 Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 5; vgl. zur Problematik vom treaty integrity und treaty universality Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 721. 66 67

C. Gutachten des IGH zur Völkermordkonvention

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seinem Willen entspricht.74 Gleichzeitig benennt der IGH aber auch die Schwierigkeiten, die sich aus der Kombination der Beurteilung der Zulässigkeit nach Ziel und Zweck des Vertrags mit der Möglichkeit der Staaten, Annahme und Einspruch einzusetzen, ergeben. Ein solches System kann nach Meinung der Mehrheit der IGH-Richter nur dann zum Erfolg führen, wenn Staaten bei ihrem Handeln von dem Willen beseelt sind, Ziel und Zweck eines Vertrags zu schützen. Sollte dies nicht der Fall sein, könnten der Vertrag und seine Autorität insgesamt beschädigt werden.75 Der Gerichtshof schlägt mithin schon ansatzweise ein differenziertes System zur Behandlung der Instrumente Annahme und Einspruch und deren Auswirkungen auf die Rechtswirksamkeit eines Vorbehalts vor. Dabei benennt er die Folgen deren Einsatzes und billigt ihnen Rechtswirkung im jeweils bilateralen Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und reagierendem Staat zu. Im Falle einer Annahme entstehen zwischen diesen Staaten nach Ansicht des IGH vertragliche Beziehungen, im Falle des Einspruchs entstehen solche Beziehungen nicht, sofern der den Einspruch erhebende Staat dieses will.76 Gebunden bleiben die Staaten bei der Anwendung von Einspruch und Annahme aber an die Grenzen, die Ziel und Zweck eines Vertrags ihnen setzen.77 Der Gerichtshof erkennt jedoch ausdrücklich die Möglichkeit an, dass Staaten gegen einen Vorbehalt, der ihrer Meinung nach nicht gegen Ziel und Zweck des Vertrags verstößt, gleichwohl Einspruch erheben können. Für diesen Fall sieht er eine Vereinbarung zwischen den betroffenen Staaten dergestalt vor, dass lediglich die strittige Bestimmung, auf die der Vorbehalt sich bezieht, im Verhältnis der beiden Staaten keine Anwendung findet. Der sonstige Vertrag soll auch zwischen diesen Staaten Gültigkeit erlangen.78

III. Zusammenfassung – Kritik Mit der Einführung der Zwei-Stufen-Prüfung zur Behandlung von Vorbehalten hat der Gerichtshof einen großen Schritt weg von der bis dahin geltenden Rechtslage getan.79 Er wagt dieses sogar ausdrücklich, indem er betont, dass die Regel, wonach ein Vorbehalt zwingend der Annahme durch alle Vertragsparteien bedurfte, nicht (mehr) den Status einer gewohnheitsrechtlich geltenden Rechtsnorm habe.80 74 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 26; Lijnzaad, S. 22; Kühner, S. 75. 75 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 26. 76 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 29 f.; Lijnzaad, S. 22. 77 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 26; Elias, S. 28; Kühner, S. 75. 78 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 27. 79 Keller, SZIER 2 / 2003, S. 131. 80 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 24; Elias, S. 30; zustimmend Redgwell, BYIL 64 (1993), S. 249; Kühner, S. 74.

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

Als wichtiges Ergebnis bleibt insbesondere festzuhalten, dass die Zulässigkeit eines Vorbehalts nunmehr von objektiven Kriterien abhängig sein sollte und nicht mehr vom Willen der Staaten. Dieser wird erst auf zweiter Stufe bei der Festlegung der Rechtswirkung eines Vorbehalts relevant.81 Dabei wird grundsätzlich zwischen der den Vorbehaltsstaat zur Vertragspartei machenden Annahme und dem Einspruch unterschieden. Letzterer kann den Effekt haben, die Parteieigenschaft eines Vorbehaltsstaats auszuschließen, muss dies aber nicht. Das so vom Gerichtshof vorgeschlagene System ist der Versuch, die verschiedenen damals diskutierten Modelle zu einem Ausgleich zu bringen. Im Ansatz bleibt die Souveränität der Staaten geschützt. Die Möglichkeit, Vorbehalte anzubringen, wird nicht ausgeschlossen. Gleichzeitig haben die anderen Vertragsparteien über das Instrument des Einspruchs die Möglichkeit, eine Bindung, die sie nicht eingehen wollen, zu verhindern. Mit Hilfe des Tests auf die Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck des Vertrags wird die staatliche Souveränität aber wiederum begrenzt. Der Gerichtshof verfolgt damit das Ziel, einen schonenden Ausgleich auch zwischen den Prinzipien der treaty integrity und der treaty universality herzustellen.82 In seinem Gutachten geht der IGH dabei ausdrücklich sowohl auf die damals unter europäischen Staaten herrschende Meinung als auch auf das panamerikanische Modell ein.83 Über die vom Gerichtshof vorgeschlagene Gewichtung des Einflusses dieser Modelle sind zwar verschiedene Ansichten denkbar. Es erscheint aber allein schon wegen des vom Gerichtshof gegebenen Impulses für die Entwicklung des Vorbehaltsrechts übertrieben, dem Gutachten des IGH jedwede rechtliche Relevanz abzusprechen.84 Auf der anderen Seite muss sich der Gerichtshof den Vorwurf gefallen lassen, dass es auch gerade dieser Versuch eines Ausgleichs ist, der das vom ihm erdachte System äußerst kompliziert und schwer durchschaubar macht.85 Zum einen dürften größere Schwierigkeiten bei der genauen Festlegung von Ziel und Zweck eines Vertrags bestehen, wie es die Richter Guerrero, McNair, Read und Hsu Mo in ihren dissenting opinions zum Ausdruck bringen.86 Zum anderen muss nach dem System des GeHudson, AJIL 46 (1952), S. 4; Keller, SZIER 2 / 2003, S. 131. Keller, SZIER 2 / 2003, S. 140; Redgwell, BYIL 64 (1993), S. 251. 83 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 25. 84 So allerdings IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, Joint Diss. Opinion der Richter Guerrero, McNair, Read, Hsu Mo, ICJ Reports 1951, S. 46; dagegen Hilpold, AVR 34 (1996), S. 393, der das Gutachten für gelungen hält; ähnlich auch Elias, S. 32. 85 Lijnzaad, S. 22; Jully, Die Friedenswarte 51 (1951 / 53), S. 270. 86 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, Joint Diss. Opinion der Richter Guerrero, McNair, Read, Hsu Mo, ICJ Reports 1951, S. 43 f.; die gleiche Kritik äußerte der Vertreter Frankreichs Bastid in der sich an das Gutachten anschließenden Diskussion im 6. Committee der Generalversammlung, GAOR, 6th Session, 6th Committee, 266th Meeting (8. Dezember 1951), S. 80, Ziff. 5, UN Doc. A / C.6 / SR.266; vgl. auch Jully, Die Friedenswarte 51 (1951 / 53), S. 268 f.; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 391; zu weiteren Diskussionen im 6. Committee Liang, AJIL 46 (1952), S. 486; vgl. zu diesen Schwierigkeiten auch Kapitel 3, C. III. 1. b). 81 82

C. Gutachten des IGH zur Völkermordkonvention

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richtshofs darauf vertraut werden, dass Staaten immer gewillt sind, im Einklang mit Ziel und Zweck eines Vertrags zu handeln, was der IGH selbst zugibt.87 Dass sich dieses in der Praxis so bewahrheitet, ist aber nicht zwingend anzunehmen.88 In der Formulierung der Konsequenzen des Einsatzes von Annahme und Einspruch wird weiterhin nicht deutlich, welche Auswirkungen ein solcher Einsatz exakt haben soll. Der Gerichtshof benutzt in seiner Antwort auf Frage II das Wort „can“. Dieses lässt die Betrachtungsweise offen, dass ein Staat frei ist, die vom Gerichtshof vorgesehenen Konsequenzen herbeizuführen. Er kann sie herbeiführen, muss es aber nicht.89 Die Rechtsfolgen einer nach objektiven Kriterien festgestellten Unzulässigkeit eines Vorbehalts richten sich damit nach dem subjektiven Kriterium des Willens der Staaten. Hierin liegt eine Vermischung unterschiedlicher Ebenen, die das System wenig anwenderfreundlich macht. Die Annahme des Gerichtshofs, dass Staaten bei Meinungsverschiedenheiten über die Zulässigkeit eines Vorbehalts die Entscheidung eines unabhängigen Organs der internationalen Gerichtsbarkeit einholen würden,90 hat im Verlauf der Staatenpraxis nach dem Gutachten keine Entsprechung gefunden.91 Dieses hat nach dem vom Gerichtshof vorgeschlagenen System zur Konsequenz, dass im Falle eines Vorbehalts der Vorbehaltsstaat von einem Teil der anderen Vertragsparteien, nämlich denen, die den Vorbehalt angenommen haben, als Vertragspartei behandelt werden muss, während dieses nicht für die Vertragsparteien gelten muss, die dem Vorbehalt widersprochen haben. Es lässt sich also nicht einheitlich sagen, ob ein Vorbehaltsstaat Vertragspartei ist oder nicht. Dieses führt zu zusätzlicher Rechtsunsicherheit.92 87 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 27: „It must clearly be assumed that the contracting states are desirous of preserving intact at least what is essential to the object of the Convention; should this desire be absent, it is quite clear that the Convention itself would be impaired both in its principle and its application.“ 88 Kühner, S. 74. 89 Der Ausdruck „can“ hat im Deutschen die Bedeutung von „Erlaubnis zu etwas haben“ oder „in der Lage sein, etwas zu tun“. Eine Bedeutung im Sinne von „müssen“ existiert im Englischen für das Wort „can“ nicht; Garner, Black’s Law Dictionary, S. 197; auch bzgl. der französischen Fassung des Gutachtens bleibt dieses Problem. Hier verwendet der IGH den Ausdruck „peut“, der dieselbe Bedeutung hat; Doucet / Fleck, Bd. 1, S. 579. 90 Der Gerichtshof bezieht sich bei seiner Betrachtung der Völkermordkonvention auf deren Art. IX, IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 27. 91 Kühner, S. 77; ein wichtiges Indiz hierfür liefern die heftigen Reaktionen, insbesondere der USA und Frankreichs auf das General Comment No. 24 des HRC, General comment on issues relating to reservations made upon ratification or accession to the Covenant or the Optional Protocols thereto, or in relation to declarations under article 41 of the Covenant, UN Doc. CCPR / C / 21 / Rev.1 / Add. 6, S. 7 ff., im Folgenden: General Comment No. 24, Reaktionen der USA und Frankreichs abgedruckt bei Gardner, Human Rights As General Norms and a State’s Right to Opt Out, S. 199 ff. und 204 ff., eine in der Sache ähnliche Reaktion erfolgte auch von Seiten Großbritanniens, abgedruckt bei Gardner, Human Rights As General Norms and a State’s Right to Opt Out, S. 193 ff.; vgl. Herdegen, VölkerRt., § 15, Rn. 25; Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 245 f.

3 Behnsen

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

Schließlich erklärt der Gerichtshof, dass sein Gutachten lediglich auf die Völkermordkonvention anwendbar sei und die Antworten sich aus ihrem spezifischen Inhalt zu ergeben hätten.93 Er betont, dass es auf die von der Generalversammlung abstrakt formulierte Frage I nach der Parteieigenschaft eines Vorbehaltsstaats bei Annahme oder Einspruch gegen den Vorbehalt keine abstrakte Antwort geben kann. Dies sei von Fall zu Fall zu entscheiden.94 Dass die Ergebnisse dennoch nicht auf die Völkermordkonvention beschränkt blieben, dürfte aus der wenig überzeugenden Begründung des Gerichtshofs für die durch ihn geforderte Beschränkung resultieren. Nicht nur die Völkermordkonvention erhält dadurch, dass sie unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen geschlossen wurde, einen universellen Charakter. Der durch Art. XI der Konvention angestrebte hohe Ratifikationsgrad sowie das Zustandekommen durch eine Reihe von Mehrheitsentscheidungen95 sind nicht nur Kennzeichen der Völkermordkonvention, sondern zeichnen die meisten multilateralen Verträge aus. Eine Verallgemeinerung der Ergebnisse des Gutachtens setzte daher bald ein.96 Die als einzelfallbezogen gedachte Entscheidung des Gerichtshofs setzte sich damit in abstrakter Weise im seitdem geltenden Recht fort. Dieses führte letztendlich dazu, dass auch das heutige Vorbehaltsrecht nicht frei von Unsicherheit und Kompliziertheit ist.97

D. Entwicklungen im Rahmen der Beratungen in den Vereinten Nationen Die Generalversammlung holte nicht nur die Meinung des IGH zur Frage der Behandlung von Vorbehalten ein. Zur gleichen Zeit wandte sie sich in derselben Sache auch an die ILC und bat diese um ihre Meinung zum Stand des einschlägigen Rechts und den Aussichten seiner möglichen Entwicklung.98 Damit setzte sie eine Diskussion in Gang, die bis heute nicht zum Abschluss gekommen ist.99 Als ein Ergebnis wurde im Jahre 1969 zwar die WVK verabschiedet. Die Frage, ob die 92 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, Joint Diss. Opinion der Richter Guerrero, McNair, Read, Hsu Mo, ICJ Reports 1951, S. 44. 93 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 23. 94 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 26. 95 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 24. 96 Kühner, S. 72; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 395; vgl. auch Hudson, AJIL 46 (1952), S. 2; sowie Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 2. b.; Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 185. 97 Für die ebenso gegebene Kompliziertheit des geltenden Vertragsrecht, das auf dem Gutachten des IGH aufbaut Hilpold, AVR 34 (1996), S. 378. 98 GA Res. 478 (V) vom 16. November 1950, Ziff. 2. 99 Zur Arbeit der ILC nach Ergehen des Gutachtens zur Völkermordkonvention vgl. Anderson, ICLQ 13 (1964), S. 463 ff.

D. Entwicklungen in den Vereinten Nationen

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darin normierten Regelungen heute noch ausreichend sind oder ob es weiterer Schritte bedarf, ist aber selbst in der ILC bis heute nicht abschließend geklärt worden.100

I. Die Berichte Sir James Brierlys Bereits ein Jahr bevor die Generalversammlung ihre Anfrage an die ILC gerichtet hatte, wurde vom Berichterstatter der ILC in dieser Frage, Sir James Brierly, ein erster Bericht über das Recht der Verträge vorgelegt.101 Dieser enthielt einen Vorschlag für eine Vertragsrechtskonvention mit 11 Artikeln. Art. 10 des Entwurfs beschäftigte sich mit Vorbehalten. Sir James schlug in Art. 10 Abs. 3 und Abs. 4 vor, dass ein Vertrag mit einem Vorbehaltsstaat nur dann in Kraft treten können sollte, wenn das Einverständnis aller übrigen Vertragsparteien vorläge. Er forderte mit seinem Entwurf also eine Rückbesinnung auf das Einstimmigkeitsprinzip und damit eine Abkehr von den damals neuen Entwicklungen.102 Ein Jahr später legte Sir James als Reaktion auf Resolution 478 der Generalversammlung einen Sonderbericht vor, der sich speziell auf die Frage der Vorbehalte zu multilateralen Verträgen bezog.103 Auch hierin ging er von der Geltung des Einstimmigkeitsprinzips aus. Allerdings empfahl er, um die Prinzipien der treaty integrity und der treaty universality in Einklang miteinander zu bringen, in jede Konvention einen speziellen Vorbehaltsartikel aufzunehmen.104 Die ILC selbst legte ihren Bericht zur Frage der Generalversammlung im Jahre 1951 vor.105 Darin ging sie bereits ausdrücklich auf das vom IGH erstattete Gutachten zur Völkermordkonvention sowie auf das pan-amerikanische Modell ein. Letzterem billigte die ILC lediglich auf regionaler Ebene Gültigkeit zu. Auf multilaterale Verträge sollte es nach Meinung ihrer Mitglieder nicht angewandt werden, da durch die unterschiedlichen Rechtsfolgen von Annahme und Einspruch zu einem Vorbehalt eine nicht wünschenswerte Aufspaltung des Vertrags in einzelne bilaterale Abkommen drohe.106 Der vom IGH geforderte Test eines Vorbehalts auf die Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck des Vertrags wurde generell als auf multilaterale Verträge nicht anwendbar abgelehnt. Die Bestimmungen eines immer im 100 Hilpold, AVR 34 (1996), S. 378; zum Verlauf der Beratungen in der ILC Klabbers, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 157 ff. 101 YILC 1950 II, S. 222 ff. 102 YILC 1950 II, S. 241, Ziff. 96. 103 YILC 1951 II, S. 1 ff. 104 YILC 1951 II, S. 4, Ziff. 16; vgl. Kühner, S. 83. 105 Report of the International Law Commission to the General Assembly Covering the Work of its Third Session 16 May – 27 July 1951, GAOR, 6th Session, Supp. 9, S. 2 ff., Ziff. 12 ff., UN Doc. A / 1858. 106 GAOR, 6th Session, Supp. 9, S. 5, Ziff. 22, UN Doc. A / 1858; vgl. Fitzmaurice, ICLQ 2 (1953), S. 7.

3*

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

Ganzen zu betrachtenden Vertrags würden so in zwei Klassen eingeteilt werden: Bestimmungen, die zu Ziel und Zweck des Vertrags gehören, und solche, die nicht. Diese Einteilung erfolge rein subjektiv durch die Vertragsparteien. Für den Fall, dass verschiedene Vertragsparteien in dieser Frage zu unterschiedlichen Auffassungen kommen, würde dies zu großer Rechtsunsicherheit führen.107 Die ILC kritisierte das Gutachten des IGH also im Wesentlichen mit denselben Argumenten, die bereits oben dargestellt sind.108 Sie kam letztendlich zu dem Schluss, dass in alle multilateralen Konventionen eine Bestimmung zu Vorbehalten aufgenommen werden sollte. Sofern dies geschehe, plädierte die ILC für die weitere Geltung des Einstimmigkeitsprinzips.109

II. Der Bericht Sir Hersch Lauterpachts Im Anschluss an die Berichte der ILC sowie an das IGH-Gutachten entbrannte im 6. Committee der Generalversammlung eine heftige Debatte, welches der zur Verfügung stehenden Modelle übernommen werden sollte.110 Man einigte sich schließlich auf einen von den USA eingebrachten Resolutionsentwurf, der die Übernahme der Vorschläge des IGH vorsah. Damit wurde zumindest der Übernahme des Einstimmigkeitsprinzips eine klare Absage erteilt, und es wurde den Staaten überlassen, wie sie die Zulässigkeit eines Vorbehalts beurteilen und hierauf reagieren wollten.111 Die Diskussion über das Recht der Verträge und die Frage der Behandlung von Vorbehalten war damit aber keineswegs beendet. Im Jahre 1953 legte Sir Hersch Lauterpacht als neuer Berichterstatter der ILC in diesen Fragen seinen Bericht vor.112 In dessen Art. 9 wurde zunächst die Geltung des Einstimmigkeitsprinzips festgestellt. Dies hatte seinen Grund darin, dass die Mitglieder der Kommission dies als das noch existierende Recht ansahen.113 Allerdings wurde bestritten, dass dieses Prinzip noch eine befriedigende Möglichkeit bot, mit Vorbehalten umzugehen.114 Insofern nannte der Entwurf vier Alternativvorschläge, die unter Beachtung der Meinung des IGH, der Debatte in der Generalversammlung, aber auch des panamerikanischen und des sowjetischen Modells zustande kamen.115 In Alternativvorschlag A und B sprach Sir Hersch sich für ein System der qualifizierten Mehr107 108 109 110 111 112 113 114 115

GAOR, 6th Session, Supp. 9, S. 5, Ziff. 24, UN Doc. A / 1858. s. o. Kapitel 2, C. III. GAOR, 6th Session, Supp. 9, S. 7, Ziff. 34, UN Doc. A / 1858. Zu Einzelheiten der Debatte und den verschiedenen Standpunkten Kühner, S. 84 ff. Kühner, S. 85 f. YILC 1953 II, S. 90 ff. YILC 1953 II, S. 123. YILC 1953 II, S. 124. YILC 1953 II, S. 125.

D. Entwicklungen in den Vereinten Nationen

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heit bei der Behandlung von Vorbehalten aus. Wenn zwei Drittel der Vertragsparteien einen Vorbehalt annähmen, so sollte der Vorbehaltsstaat Vertragspartei werden. Für die den Vorbehalt ablehnenden Staaten sollte die strittige Bestimmung im Verhältnis zum Vorbehaltsstaat nicht bindend werden.116 In Alternative C schlug der Berichterstatter die Errichtung eines Komitees durch die jeweiligen Vertragsparteien vor, dass im Falle eines Einspruchs über die Zulässigkeit eines Vorbehalts entscheiden sollte.117 In Alternative D wurde schließlich angeregt, dem IGH eine solche Überprüfungskompetenz zuzubilligen.118 Hier zeigt sich, dass auch die ILC zwei Jahre nach ihrem ersten Bericht von der strengen Geltung des Einstimmigkeitsprinzips abrückte und versuchte, aus den damals diskutierten Modellen eine Lösung zu entwickeln, die die Probleme der Universalität und der inhaltlichen Schadlosigkeit eines Vertrags in Einklang bringen konnte.119

III. Der Bericht Sir Gerald Fitzmaurices Drei Jahre nach Vorlage des Berichts Sir Hersch Lauterpachts legte dessen Nachfolger Sir Gerald Fitzmaurice seinerseits einen Bericht zum Vertragsrecht vor.120 Hierin wurde das Recht der Vorbehalte differenziert nach der Art der Verträge, zu denen sie angebracht wurden, betrachtet. Dabei sollte nach Meinung Sir Geralds für Verträge mit einer begrenzten Parteienzahl, also plurilaterale und bilaterale Verträge, das Einstimmigkeitsprinzip gelten, es sei denn der Vertrag selbst sähe etwas anderes vor.121 Für multilaterale Konventionen schlug Sir Gerald ein Zirkulationsverfahren vor, dass allen anderen Vertragsparteien Gelegenheit zur Stellungnahme geben müsste. Dabei sollte unterschieden werden zwischen Vorbehalten, die vor Festlegung des endgültigen Vertragstextes erklärt wurden, und solchen, bei denen dies erst zu einem späteren Zeitpunkt geschah. Sofern allerdings eine Vertragspartei oder ein Unterzeichnerstaat einem Vorbehalt der ersten Kategorie widersprochen haben sollte und zwischen ihm und dem Vorbehaltsstaat keine Einigung erzielt werden könnte, sollte der Vorbehaltsstaat nicht Vertragspartei werden können.122 Bei Vorbehalten der zweiten Kategorie sollte lediglich die Zustimmung der Vertragsparteien nötig sein, sofern sich darunter YILC 1953 II, S. 91 f. YILC 1953 II, S. 92. 118 YILC 1953 II, S. 92. 119 Kühner, S. 89 f. 120 YILC 1956 II, S. 104 ff. 121 Art. 38 des Entwurfs, YILC 1956 II, S. 115; dieses Prinzip fand so später Eingang in die WVK, vgl. insbesondere Art. 20 Abs. 2. 122 Art. 39 Nr. 3 des Entwurfs, YILC 1956 II, S. 115; vgl. Fitzmaurice, ICLQ 2 (1953), S. 23. 116 117

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

20 % der ursprünglich zur Ratifikation berechtigten Staaten befanden.123 Ein angenommener Vorbehalt sollte auch nach Sir Geralds Meinung bewirken, dass Vorbehaltsstaat und annehmender Staat das Recht hätten, sich nicht an die in der Bestimmung, auf die sich der Vorbehalt bezieht, enthaltenen Verpflichtungen gebunden zu fühlen.124

IV. Die Berichte Sir Humphrey Waldocks Im Jahre 1961 übernahm Sir Humphrey Waldock das Amt des Berichterstatters für Fragen des Vertragsrechts. 1962 legte er seinen ersten Bericht zum Recht der Verträge vor.125 Hierin favorisierte er zum Thema Vorbehalte ein sehr differenziertes System. Dabei ist am bemerkenswertesten, dass er in Bezug auf Vorbehalte zu multilateralen Konventionen radikal mit dem Einstimmigkeitsprinzip brach. Auch die Vorschläge Sir Hersch Lauterpachts wurden nicht übernommen. Ähnlichkeiten bestehen lediglich mit dem pan-amerikanischen Modell. Sir Humphrey übernahm die Ansicht des IGH und forderte, dass die Zulässigkeit eines Vorbehalts an Ziel und Zweck des Vertrags gemessen werden müsse.126 Allerdings ging er noch nicht so weit, an die Frage nach der Vereinbarkeit rechtliche Konsequenzen zu knüpfen, was er mit der Unbestimmtheit dieser Kriterien begründete.127 Er formulierte die Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck eines Vertrags eher als ein allgemeines Prinzip.128 Die Rechtswirkungen eines Vorbehalts sollten nach Sir Humphreys erstem Bericht im bilateralen Verhältnis betrachtet werden. Im Falle einer Annahme sollten die aus der vom Vorbehalt betroffenen Bestimmung erwachsenden Verpflichtungen zwischen Vorbehaltsstaat und annehmendem Staat wechselseitig keine Anwendung finden.129 Bei Einlegung eines Einspruchs sollten zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechenden Staat keine Vertragsbeziehungen entstehen. Dies sollte aber nicht das Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und anderen nicht widersprechenden Vertragsparteien berühren.130 Im selben Jahr befasste sich die ILC während ihrer 14. Sitzungsperiode mit dem Bericht Sir Humphreys und präsentierte einen Konventionsentwurf, der dem Thema Vorbehalte fünf Artikel widmete.131 Auch die ILC verfolgte das Einstim123 124 125 126 127 128 129 130

Weitergehend hierzu Kühner, S. 90 f. Art. 40 Nr. 1 des Entwurfs, YILC 1956 II, S. 115 f. YILC 1962 II, S. 27 ff. Art. 17 Nr. 2 (a) des Entwurfs, YILC 1962 II, S. 60. YILC 1962 II, S. 65 f. YILC 1962 II, S. 66. Art. 18 Nr. 5 (a) (i) + (ii) des Entwurfs, YILC 1962 II, S. 61. Art. 19 Nr. 4 (c) des Entwurfs, YILC 1962 II, S. 62.

D. Entwicklungen in den Vereinten Nationen

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migkeitsprinzip darin nicht weiter. Sie hielt es wie Sir Humphrey für richtig, die Zulässigkeit eines Vorbehalts zu einer mulilateralen Konvention von dessen Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck des Vertrags abhängig zu machen, sofern die Konvention nichts anderes vorsähe.132 Auch die Kommission übernahm also die Vorschläge des IGH, allerdings nicht wie der Berichterstatter bloß als allgemeines Prinzip, sondern als Rechtsregel.133 Die Wirkung von Annahme und Einspruch sollte sich auch nach diesem Entwurf im bilateralen Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und dem jeweils anderen Staat entfalten. Eine Annahme sollte bewirken, dass der Vorbehaltsstaat Vertragspartei im Verhältnis zum annehmenden Staat werden konnte.134 Die betreffenden Bestimmungen sollten dann in der im Vorbehalt vorgesehenen Weise wechselseitig modifiziert werden.135 Ein Einspruch sollte das Inkrafttreten des Vertrags zwischen einsprechendem Staat und Vorbehaltsstaat ausschließen, wenn der einsprechende Staat seinen Einspruch auf eine angenommene Unvereinbarkeit des Vorbehalts mit Ziel und Zweck des Vertrags stützte. Eine Ausnahme hiervon sollte bei Erklärung eines gegenteiligen Willens durch den einsprechenden Staat bestehen.136 Hier liegt ein Unterschied zum Entwurf Sir Humphreys, der diese Möglichkeit des Einspruchs ohne Ausschlusswirkung noch nicht vorgesehen hatte. Offen ließ der Entwurf der Kommission die Frage, welches Schicksal im Falle eines Einspruchs ohne Ausschlusswirkung die Bestimmung, auf die der Vorbehalt sich bezieht, ereilen sollte. Die Übernahme der Ergebnisse des Gutachtens des IGH zur Völkermordkonvention war innerhalb der ILC nicht unumstritten.137 Ihre Anhänger konnten sich letztendlich aber mit dem Argument durchsetzen, dass die Gefahr einer totalen Aushöhlung eines Vertrags durch Vorbehalte praktisch gering sei und nur auf diese Weise eine Überbetonung entweder der treaty integrity oder der treaty universality vermieden werden könne. Auch die positiven Effekte, die sich aus der Möglichkeit, Vorbehalte anzubringen, ergeben können, wurden betont.138 Dabei übersah man nicht die Gefahr, dass ohne die Existenz eines mit Entscheidungsbefugnis ausgestatteten Organs bei einer großen Anzahl von Vertragsparteien häufig Meinungsverschiedenheiten über die Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck des Vertrags entstehen könnten. Allerdings hielt man dieses Problem für unvermeidbar, wenn man die positiven Aspekte der Übernahme der IGH-Meinung nutzen wollte.139 131 Report of the International Law Commission to the General Assembly Covering the Work of its Fourteenth Session 24 – 29 June 1962, YILC 1962 II, S. 157 ff. 132 Art. 18 Nr. 1 (d) des Entwurfs, YILC 1962 II, S. 176. 133 YILC 1962 II, S. 178. 134 Art. 20 Nr. 2 (a) des Entwurfs, YILC 1962 II, S. 176. 135 Art. 21 Nr. 1 (a) + (b) des Entwurfs, YILC 1962 II, S. 181. 136 Art. 20 Nr. 2 (b) des Entwurfs, YILC 1962 II, S. 176. 137 Zu Einzelheiten der Diskussion innerhalb der ILC vgl. YILC 1962 II, S. 179. 138 YILC 1962 II, S. 179. 139 YILC 1962 II, S. 181.

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

Drei Jahre nach seinem ersten Bericht legte Sir Humphrey seinen vierten Bericht zum Recht der Verträge vor, in dem er wieder auf das Thema Vorbehalte zu sprechen kam.140 In diesen Bericht ließ er die bis dahin von den Staaten geäußerten Ansichten und die Meinungen, die im Laufe der drei Jahre in der Kommission lautbar geworden waren, einfließen.141 Zur Frage der Vorbehalte erhielt der Berichterstatter seine Forderung nach einem System, das größere Flexibilität im Vergleich zum Einstimmigkeitsprinzip biete, aufrecht.142 Insofern blieb auch dieser Entwurf entgegen der Angriffe einiger Staaten dabei, die Zulässigkeit eines Vorbehalts an dessen Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck des Vertrags zu binden, es sei denn, aus der Anzahl der Parteien oder den besonderen Umständen des Vertragsschlusses ergebe sich eine Geltung des Einstimmigkeitsprinzips. Sir Humphrey vertrat auch weiterhin die Ansicht, dass die Rechtswirkungen von Annahme und Einspruch jeweils im bilateralen Verhältnis betrachtet werden müssten. Ein Vorbehaltsstaat sollte Vertragspartei im Verhältnis zum annehmenden Staat werden und nicht Vertragspartei im Verhältnis zum einsprechenden Staat. Allerdings sollte der Vorbehaltsstaat insgesamt Vertragspartei werden können, wenn eine andere Vertragspartei ihre Annahme erklären sollte.143 Eine Unterscheidung zwischen Einspruch gegen einen Vorbehalt mit oder ohne Ausschlusswirkung hinsichtlich der Parteieigenschaft des Vorbehaltsstaats im jeweiligen bilateralen Verhältnis machte Sir Humphrey nach wie vor nicht. Trotz dieses Umstandes waren es aber wohl seine Vorschläge, die den Weg zum modernen Recht der Vorbehalte entscheidend geebnet haben. Sie sollten die weitere Arbeit der ILC in dieser Frage prägen und schließlich zur Grundlage der Regeln der WVK werden.144

V. Weitere Arbeiten in der ILC Auch die ILC sah sich wegen der verschiedenen Regierungsmeinungen zu ihrem Entwurf von 1962 im Jahre 1965 noch einmal gezwungen, ihre Vorschläge zum Recht der Verträge zu überarbeiten. Die Fassung, auf die man sich schließlich einigen konnte, lehnte sich weitgehend an die Vorschläge Sir Humphrey Waldocks an,145 und wurde ohne nennenswerte Änderungen während der 18. Sitzungsperiode endgültig als Entwurf für das „Law of Treaties“ verabschiedet.146 Auch in diesem YILC 1965 II, S. 3 ff. Zu Einzelheiten der verschiedenen von Waldock aufgenommenen Meinungen, vgl. YILC 1965 II, S. 6 ff., speziell zu Vorbehalten, S. 45 ff.; vgl. auch Kühner, S. 98 ff. 142 YILC 1965 II, S. 49 f. 143 Art. 19 des Entwurfs, YILC 1965 II, S. 54, sowie Kommentar Waldocks, S. 50 f. 144 Kühner, S. 91. 145 YILC 1965 II, S. 156 ff. 140 141

E. Behandlung von Vorbehalten nach der WVK

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Entwurf der Kommission war der Test eines Vorbehalts auf Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck eines Vertrags enthalten.147 Die Rechtswirkungen von Vorbehalten sollten weiterhin im bilateralen Verhältnis betrachtet werden.148 Eine Annahme sollte die Verpflichtungen zwischen Vorbehaltsstaat und annehmendem Staat in der im Vorbehalt vorgesehenen Weise modifizieren.149 Hinsichtlich möglicher Einsprüche erhielt die Kommission ihre Forderung aufrecht, dass zwischen Einsprüchen, die die Parteieigenschaft des Vorbehaltsstaats ausschließen sollten, und solchen, die diese Qualifikation nicht besäßen, unterschieden werden müsste. Erstere sollten bewirken, dass der Vorbehaltsstaat im Verhältnis zum einsprechenden Staat nicht Vertragspartei würde.150 Ein Einspruch ohne Ausschlusswirkung sollte lediglich die Geltung der Bestimmung, auf die der Vorbehalt sich bezieht, in der darin vorgesehenen Weise ausschließen.151 Dieser Entwurf bildete in der folgenden Zeit die Grundlage für die Arbeiten an der Wiener Vertragsrechtskonvention.152

E. Behandlung von Vorbehalten nach der WVK Die Vienna Convention on the Law of Treaties153 bildet heute die einzige umfangreiche kodifizierte völkerrechtliche Rechtsquelle über das Recht der Verträge.154 Es darf allerdings nicht aus den Augen verloren werden, dass die WVK nicht die einzige gültige Rechtsquelle zum Recht der Vorbehalte darstellt.155 Gemäß Art. 4 kann sie keine retroaktive Wirkung entfalten. Sie findet nur auf Verträge Anwendung, die nach Inkrafttreten der WVK zwischen deren Vertragsparteien geschlossen wurden. Für alle sonstigen Verträge, darunter so wichtige Verträge wie die UN-Charta, ist, sofern keine speziellen Regeln eingreifen, nach wie vor auf das geltende Gewohnheitsrecht zurückzugreifen. Nach ihrer Verabschiedung im Jahre 1969 hat die Wiener Vertragsrechtskonvention es allerdings vermocht, das völkerrechtliche Vertragsrecht insgesamt zu 146 Report of the International Law Commission to the General Assembly Covering the Work of its Eighteenth Session 4 May – 19 July 1966, YILC 1966 II, S. 172 ff., Beginn des Entwurfs, S. 177. 147 Art. 16 (c) des Entwurfs, YILC 1966 II, S. 179. 148 Art. 17 Nr. 4 des Entwurfs, YILC 1966 II, S. 180. 149 Art. 19 Nr. 1 des Entwurfs, YILC 1966 II, S. 180. 150 Art. 17 Nr. 4 (b) des Entwurfs, YILC 1966 II, S. 180. 151 Art. 19 Nr. 3 des Entwurfs, YILC 1966 II, S. 180. 152 Kühner, S. 101 f. 153 UNTS Bd. 1155, S. 331. 154 Fitzmaurice, BYIL 73 (2002), S. 146. 155 Ein solcher Eindruck entsteht allerdings möglicherweise z. B. bei Verdross / Simma, § 730.

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

prägen.156 Ihr Inhalt kodifiziert zu großen Teilen Völkergewohnheitsrecht.157 Eine Betrachtung der darin enthaltenen Vorbehaltsbestimmungen ist daher unerlässlich.

I. Definition des Vorbehalts Bei der Definition von Vorbehalten hat die WVK mittlerweile allgemeine Gültigkeit erlangt.158 Nach Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK wird ein Vorbehalt definiert als „a unilateral statement however phrased or named, made by a State, when signing, ratifying, accepting, approving or acceding to a treaty, whereby it purports to exclude or to modify the legal effect of certain provisions of the treaty in their relation to that State.“

Ein Vorbehalt ist eine Erklärung eines Staates. Diese wird bei einer der bezeichneten Gelegenheiten abgegeben. Alle diese Gelegenheiten liegen vor dem Zeitpunkt, zu dem ein Vertrag für den betreffenden Staat bindend wird. Letzte Möglichkeit zur wirksamen Anbringung eines Vorbehalts ist also der Zeitpunkt der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde des Staates beim Depositar. Der Vorbehalt muss dabei den bewusst gewollten Effekt haben, die Wirkung bestimmter Vertragsbestimmungen für den Staat zu modifizieren oder auszuschließen. Diese rechtliche Wirkung ist entscheidend für die Qualifikation einer Erklärung als Vorbehalt.159 Unbeachtlich ist im Gegenzug nach Aussage der WVK der Name, den die Erklärung trägt.160 Denkbare Gründe für Staaten, Erklärungen, die zwar den Effekt eines Vorbehalts haben sollen, trotzdem nicht mit dem Titel „Vorbehalt“ zu versehen, existieren zwar viele. Insbesondere im Hinblick auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen erscheint es nachvollziehbar, dass Staaten hier nicht schon prima facie erkennen lassen wollen, dass sie den Vertragstext nicht voll akzeptieren. Dieses käme einer Selbstanprangerung gleich, die von Staaten in der Regel gerne vermieden wird.161 Allerdings schützt nach Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK das Verstecken hinter dem Namen einer Erklärung einen Staat nicht davor, dennoch die Rechtsfolgen akzeptieren zu müssen, die eingreifen, sofern es sich bei seiner Erklärung in Wahrheit doch um einen Vorbehalt handelt. Zu unterscheiden sind von Vorbehalten indes politische Absichtserklärungen und solche Erklärungen, die 156 Rosenne, Cornell JIL 4 (1970), S. 21 ff.; vgl. auch Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 1. 157 Rosenne, Cornell JIL 4 (1970), S. 22; Kühner, S. 110; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 1.; ob die WVK jedoch auch speziell bzgl. des Rechts der Vorbehalte Gewohnheitsrecht kodifiziert ist nach wie vor umstritten, s. u. Kapitel 2, F. 158 Verdross / Simma, § 730; Kühner, S. 11; Gamble, AJIL 74 (1980), S. 374; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 380 f. 159 EGMR, Case of Belilos v. Switzerland, 29. April 1988, Ziff. 49; vgl. Shaw, S. 822. 160 Gamble, AJIL 74 (1980), S. 374; Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 110. 161 Partsch, S. 71; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 382; Kühner, S. 16.

E. Behandlung von Vorbehalten nach der WVK

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lediglich eine bestimmte Auslegung einer Vertragsbestimmung durch den Staat festlegen, so genannte „interpretative declarations“.162 Solche haben nicht den Effekt, die rechtliche Wirkung einer Vertragsbestimmung auszuschließen oder zu ändern. Sie bewegen sich im beschreibenden Bereich, nicht im gestaltenden. Die Einordnung einer Erklärung als Vorbehalt oder bloße Interpretationserklärung ist in vielen Fällen problematisch.163 Letztendlich ist die Intention des die Erklärung abgebenden Staates maßgebend. Sofern dieser die Modifizierung oder den Ausschluss einer Vertragsbestimmung anstrebt, liegt ein Vorbehalt vor.164

II. Rechtliche Behandlung von Vorbehalten Die rechtliche Behandlung von Vorbehalten vollzieht sich auch nach dem System der WVK in zwei Schritten. Zunächst wird in einem ersten Schritt über die Zulässigkeit eines Vorbehalts entschieden. Im Anschluss daran folgt die Entscheidung, welche Rechtswirkung der Vorbehalt haben soll.165 Letzteres wird von der WVK nicht selbst geregelt. Die Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts wird an die Vertragsstaaten delegiert. Bei der rechtlichen Behandlung von Vorbehalten wird nach dem System der WVK nicht zwischen unterschiedlichen Vertragstypen unterschieden, abgesehen von den Regelungen in Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 WVK.166

1. Zulässigkeit eines Vorbehalts Art. 19 WVK ist überschrieben mit „Anbringen von Vorbehalten“.167 Wie an seinem Inhalt zu erkennen ist, sind hiermit nicht die technischen Möglichkeiten des Anbringens gemeint, sondern die Frage, wann ein solches Anbringen zulässig ist.168 Art. 19 WVK stellt insofern zunächst klar, dass Staaten grundsätzlich frei sind, Vorbehalte zu Verträgen zu erklären.169 Dies ist nur dann nicht möglich, wenn einer der drei Unzulässigkeitsgründe eingreift. Der Vorbehalt darf nicht ausdrückHerdegen, VölkerRt., § 15, Rn. 21. Verdross / Simma, § 736; McRae, BYIL 49 (1978), S. 155 f., 161 ff.; Herdegen, VölkerRt., § 15, Rn. 21. 164 Sinclair, S. 53 f.; Verdross / Simma, § 736; Talalajew, S. 67, Elias, S. 35; Kühner, S. 32; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 382 f. 165 Herdegen, VölkerRt., § 15, Rn. 23; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 1. d. 166 Korkelia, EJIL 13 (2002), S. 439; vgl. hierzu auch Kapitel 3, B. II., III. 167 In der englischen Originalfassung hat die Überschrift den Wortlaut „Formulation of reservations“, was hier im Ergebnis allerdings zu keinem Unterschied führt. 168 Vgl. Kühner, S. 114. 169 Daillier / Pellet, S. 180 f.; Treviranus, GYIL 25 (1982), S. 519; Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 180; Redgwell, BYIL 64 (1993), S. 261. 162 163

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

lich durch den Vertrag verboten sein, er darf nicht außerhalb der für einen Vertrag als allein zulässig erklärten Vorbehalte liegen, und er darf nicht unvereinbar mit Ziel und Zweck des Vertrags sein. a) Ausdrückliches Verbot von Vorbehalten (Art. 19 lit. a WVK) aa) Verträge, die Vorbehalte in jeder Hinsicht verbieten Das ausdrückliche Verbot, Vorbehalte zu einem Vertrag anzubringen, findet sich beispielsweise in Art. 30 des ersten Zusatzprotokolls zur Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment,170 in Art. 4 des 6. Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten,171 in Art. 21 der European Convention for the Prevention of Torture and Inhumane or Degrading Treatment or Punishment172 oder Art. XV des Comprehensive Test Ban Treatys.173 Weitere Verbote dieser Art waren bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in etwa 25 anderen völkerrechtlichen Verträgen enthalten.174 Ihre Anzahl ist bis heute weiter gestiegen.175 Das ausdrückliche Verbot des Anbringens von Vorbehalten stellt eine eindeutige Zulässigkeitsregel dar. Mit der Überprüfung der Zulässigkeit eines Vorbehalts anhand dieses Zulässigkeitskriteriums sind daher in der Regel keine Probleme verbunden.176 bb) Verträge, die bestimmte Vorbehalte verbieten In einigen Verträgen finden sich Klauseln, die ein Verbot bestimmter Vorbehalte anordnen. Meist wird dabei festgelegt, dass bestimmte, in der Regel für den materiellen Gehalt des Vertrags besonders bedeutsame Bestimmungen von der MögUNTS Bd. 1465, S. 85; im Folgenden: CAT oder „Antifolterkonvention“. ETS Nr. 5, in der Fassung des 13. Zusatzprotokolls; im Folgenden: EMRK oder „Europäische Menschenrechtskonvention“. 172 ETS Nr. 126, in der Fassung des 2. Zusatzprotokolls; im Folgenden: ECAT. 173 ILM 35 (1996), S. 1439. 174 Kühner, S. 118. 175 So stammt das erste Zusatzprotokoll zur Antifolterkonvention aus dem Jahre 2002, der Comprehensive Test Ban Treaty aus dem Jahre 1996; ebenfalls ein Verbot jeglicher Vorbehalte enthalten Art. 24 der European Convention on the Excercise of Children’s Rights aus dem Jahre 1996, ETS Nr. 160, Art. 17 des Optional Protocols to the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women aus dem Jahre 1999, A / RES / 54 / 4 vom 15. Oktober 1999, sowie Art. 120 des Rome Statutes of the International Criminal Court aus dem Jahre 1998, UNTS Bd. 2187, S. 90. 176 Szafarz, PYIL 3 (1970), S. 299; Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 183 ff.; Kühner, S. 119; Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 111. 170 171

E. Behandlung von Vorbehalten nach der WVK

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lichkeit, Vorbehalte hierzu zu erklären, ausgenommen werden. Zu diesen Klauseln zählen beispielsweise Art. 42 Abs. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge,177 Art. 38 Abs. 1 der Convention relating to the Status of Stateless Persons178 oder Art. 12 Abs. 1 der Convention on the Continental Shelf.179 Auch diese Zulässigkeitsregeln gelten als einfach anwendbar.180 Überprüft werden muss im Hinblick auf eine solche Klausel lediglich, ob der betreffende Vorbehalt sich auf einen Artikel bezieht, zu dem Vorbehalte nicht erklärt werden dürfen. Ob die Anwendung solcher Normen damit wirklich unproblematisch ist, ist jedoch fraglich.181 b) Erlaubnis nur bestimmter Vorbehalte, zu denen der betreffende Vorbehalt nicht gehört (Art. 19 lit. b WVK) Eine größere Anzahl Verträge erlaubt ausdrücklich das Anbringen bestimmter Vorbehalte. Dabei existiert die Möglichkeit, Vorbehalte nur beschränkt auf bestimmte Normen des Vertrags zuzulassen. Dieser Weg wird beispielsweise in Art. 28 Abs. 1 CAT oder Art. 30 Abs. 2 CAT gegangen. Die dort gestatteten Vorbehalte beziehen sich jeweils auf nur eine Bestimmung des Vertrags. Eine ebenfalls unter Art. 19 lit. b WVK fassbare Regelung findet sich in Art. 57 Abs. 1 Satz 1 EMRK. Hier wird die Zulässigkeit von Vorbehalten allerdings nicht auf bestimmte Normen des Vertrags begrenzt. Art. 57 Abs. 1 Satz 1 EMRK bezieht sich auf den Grund des Vorbehalts. Er erlaubt ausschließlich Vorbehalte, deren Anbringen vom Vorbehaltsstaat mit dem Argument begründet wird, die nationale Rechtsordnung stehe nicht im Einklang mit den Bestimmungen der EMRK. Ausdrücklich wird in Art. 57 Abs. 1 Satz 1 EMRK klargestellt, dass Vorbehalte genereller Natur unzulässig sind. Die Anwendung solcher Bestimmungen wird ebenfalls als unproblematisch angesehen.182

UNTS Bd. 189, S. 150; im Folgenden: „Genfer Flüchtlingskonvention“. UNTS Bd. 360, S. 117. 179 UNTS Bd. 499, S. 312. 180 Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 111; Szafarz, PYIL 3 (1970), S. 299; Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 183 ff. 181 Eine Untersuchung dieser Frage wird im Rahmen der Untersuchung des vertraglichen Sonderrechts erfolgen, s. u. Kapitel 4, B. I. 5. 182 Szafarz, PYIL 3 (1970), S. 299; Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 111; ob dies der Realität entspricht, wird unter Kapitel 4, B. I. 4. untersucht werden. 177 178

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

c) Unvereinbarkeit des Vorbehalts mit Ziel und Zweck des Vertrags (Art. 19 lit. c WVK) Deutlich problematischer ist die Anwendung des Art. 19 lit. c WVK. Gleichzeitig ist diese Norm die wichtigste Bestimmung zur Zulässigkeit von Vorbehalten. Ihr Inhalt und ihre Anwendung lassen sich erst nach einer eingehenden Untersuchung erfassen. Nach Art. 19 lit. c WVK ist es Staaten nicht gestattet, Vorbehalte anzubringen, die incompatible with the object and purpose of the treaty

sind. Ein Verstoß gegen Ziel und Zweck des Vertrags hätte daher die Unzulässigkeit des Vorbehalts zur Folge. Erkennbar übernimmt die WVK hier die bereits vom IGH und von der ILC unter Federführung Sir Humphrey Waldocks entwickelte Idee, die Zulässigkeit eines Vorbehalts an ein objektives Kriterium zu knüpfen.183 Dem Einstimmigkeitsprinzip wird eine endgültige Absage erteilt. Ursprünglich sollte diese Bestimmung noch um eine Formulierung erweitert werden, die klarstellt, dass die Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck eines Vertrags immer dann als Zulässigkeitskriterium eingreift, wenn der Vertrag weder ein ausdrückliches Verbot aller Vorbehalte noch eine Klausel enthält, die nur bestimmte Vorbehalte zulässt.184 Auf eine solche Norm ist letztendlich aber verzichtet worden. Theoretisch ist damit der Anwendungsbereich von Art. 19 lit. c WVK im Hinblick auf Verträge, die besondere Vorbehaltsklauseln enthalten, erweitert worden.185 Allerdings dürfte dieses keine praktischen Probleme bereiten, da ein Vorbehalt, der vom Vertrag ausdrücklich verboten wird, niemals mit Ziel und Zweck eines Vertrags vereinbar sein wird. Wird ein Vorbehalt hingegen vom Vertrag ausdrücklich erlaubt, so ist ein Verstoß dieses Vorbehalts gegen Ziel und Zweck des Vertrags schwer vorstellbar.186 Im Gegensatz zu den klar formulierten Art. 19 lit. a und b WVK wurden durch die wörtliche Übernahme der Ansicht der Richtermehrheit des IGH in Art. 19 lit. c WVK dieselben Probleme inkorporiert, die sich bereits bei der Untersuchung des Gutachtens zur Völkermordkonvention gezeigt haben.187 Dies hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das System der WVK bereits hinsichtlich der Frage nach der Zulässigkeit von Vorbehalten in den meisten Fällen überaus kompliziert und schwer anzuwenden ist.188 183 Edwards, Michigan JIL 10 (1989), S. 389; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., 3. Kapitel, § 14, Rn. 8; Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 8; Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 182; vgl. Shaw, S. 826. 184 Vgl. Art. 18 Nr. 1 (d) der ILC Draft Articles on the Law of Treaties, YILC 1962 II, S. 176. 185 Kühner, S. 132. 186 Kühner, S. 133. 187 s. o. Kapitel 2, C. III.

E. Behandlung von Vorbehalten nach der WVK

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Dass es sich bei dem Inhalt des Art. 19 lit. c WVK um geltendes Völkergewohnheitsrecht handelt, wird von einigen Stimmen in der Literatur bezweifelt. Dieses geschieht vor allem mit dem Argument, dass es den Vertragsparteien nach dem System der WVK möglich ist, auch solche Vorbehalte, die nicht im Einklang mit den Zulässigkeitskriterien nach der WVK stehen, einstimmig anzunehmen.189

2. Rechtswirkung von Vorbehalten Die WVK legt die Zulässigkeitskriterien für Vorbehalte fest. Die Entscheidung über das weitere Verfahren mit einem Vorbehalt überlässt sie jedoch allein den Vertragsstaaten190 und gibt diesen dazu die Instrumente der Annahme und des Einspruchs in die Hand.191 Die Vertragsstaaten sind frei bei der Wahl des Einsatzes dieser Instrumente.192 Erst im Anschluss an die Entscheidung der Staaten steht nach der WVK die Rechtswirkung fest, die hieraus erwächst. Die WVK selbst normiert keine zwingenden Folgen, die sich direkt aus der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Vorbehalts ergeben.193 Dieses gilt zumindest für den Großteil aller völkerrechtlichen Verträge.194 Daneben enthält die WVK Sonderbestimmungen zu Vorbehalten, die vom Vertrag ausdrücklich zugelassen werden,195 zu Verträgen, bei denen aus der begrenzten Anzahl der Vertragsparteien hervorgeht, dass die Anwendung des Vertrags in seiner Gesamtheit eine wesentliche Voraussetzung für die Zustimmung ist, durch den Vertrag gebunden zu sein,196 sowie zu Gründungsverträgen internationaler Organisationen.197 Auch in diesen Fällen sind die anderen Vertragsparteien frei, einen Vorbehalt anzunehmen oder nicht. Allerdings knüpfen sich an die Annahme eines Vorbehalts andere Rechtsfolgen. So ist im ersten Fall eine Annahme nur erforderlich, wenn der Vertrag dieses ausdrücklich fordert. Im zweiten Fall bedarf der Vorbehalt zwingend der Annahme durch alle Vertragsparteien, im letzten Fall Vgl. hierzu Kapitel 3, C. III. 1. b). Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 III. 2. b. 190 Sinclair, S. 51; Frankowska, PYIL 3 (1970), S. 236; Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 112; Redgwell, BYIL 64 (1993), S. 262; Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 182, 190. 191 Letzteres Instrument wird in der englischen Originalfassung der WVK als „objection“ bezeichnet. Die Übersetzungen hiervon sind nicht einheitlich. Hin und wieder wird auch von „Widerspruch“ oder „Gegenrede“ gesprochen. In dieser Arbeit wird die Bezeichnung „Einspruch“ benutzt werden. 192 Vgl. Waldock: „the validity of a reservation depends upon the acceptance of a reservation“, YILC 1962 I, S. 225, Ziff. 61. 193 Doehring, VölkerRt., Rn. 351. 194 Vgl. Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 188. 195 Art. 20 Nr. 1 WVK. 196 Art. 20 Nr. 2 WVK. 197 Art. 20 Nr. 3 WVK. 188 189

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

durch das zuständige Organ der Organisation. Insbesondere die ersten beiden dieser Spezialregeln gelten auch völkergewohnheitsrechtlich.198 Hier sollen jedoch der völkerrechtliche Vertrag in seiner Form als multilateraler Vertrag und die damit verbundenen Rechtswirkungen eines Vorbehalts betrachtet werden. a) Rechtswirkung eines Vorbehalts bei Annahme aa) Formen der Annahme Nach der WVK existieren zwei Formen der Annahme. Staaten können einen Vorbehalt ausdrücklich annehmen.199 Eine ausdrückliche Annahme kommt in der Praxis allerdings selten vor.200 Deutlich häufiger ist die stillschweigende Annahme.201 Diese vollzieht sich dadurch, dass innerhalb einer Frist von zwölf Monaten nach Notifikation des Vorbehalts kein Einspruch gegen diesen erhoben wird.202 bb) Notwendigkeit der Annahme Nach Abkehr von der absoluten Theorie ist die Annahme eines Vorbehalts nach der WVK und damit nach heute gültigem Recht nicht mehr zwingend erforderlich. Art. 20 Abs. 1 WVK stellt ausdrücklich klar, dass eine Annahme nur dann nötig ist, wenn der Vertrag dieses vorsieht. Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 WVK normieren hierzu Sonderfälle,203 auf die später einzugehen sein wird.204 Grundsätzlich gilt jedoch die Regel des Art. 20 Abs. 1 WVK. Verträge, die eine ausdrückliche Annahme zur Wirksamkeit eines Vorbehalts vorschreiben, existieren nicht viele. Der bekannteste dürfte die Convention on Third Party Liability in the Field of Nuclear Energy sein.205 Die Convention on Conduct of Fishing Operations in the North Atlantic errichtet in Art. 8 Abs. 3 Satz 2 zumindest eine Pflicht, die übrigen Vertragsparteien zu informieren und gegebenenfalls zu befragen, wenn ein Staat in dort näher beschriebener Weise von den Regeln des Vertrags abweichen will.

198 199 200 201 202 203 204 205

Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 1. d. Art. 20 Abs. 1 – 4 WVK. Kühner, S. 148 f. Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 184; Kühner, S. 152. Art. 20 Abs. 5 WVK. Kühner, S. 142. s. u. Kapitel 3, B. II., III. In der Fassung des Protokolls vom 16. November 1982, dort Art. 18 lit. a.

E. Behandlung von Vorbehalten nach der WVK

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cc) Rechtsfolgen der Annahme Intention eines Staates bei der Einlegung eines Vorbehalts muss gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK die Modifizierung oder der Ausschluss der Wirkung einer Vertragsbestimmung sein. Diesem Umstand wird von der WVK bei der Festlegung der Rechtsfolge einer Annahme Rechnung getragen. Der Wortlaut des Art. 21 Abs. 1 WVK macht deutlich, dass zwischen Vorbehaltsstaat und annehmendem Staat vertragliche Beziehungen entstehen. Diese werden durch die Annahme in dem Ausmaß geändert, wie es im Vorbehalt vorgesehen ist.206 Eine solche Änderung gilt wechselseitig, weshalb in der Literatur teilweise auch von der reziproken Wirkung eines (angenommenen) Vorbehalts gesprochen wird.207 Verpflichtungen, die durch den Vorbehalt ausgeschlossen werden sollen, bestehen also weder für den Vorbehaltsstaat gegenüber dem annehmenden Staat noch für den annehmenden Staat gegenüber dem Vorbehaltsstaat.208 Die vertraglichen Beziehungen zwischen dem Vorbehaltsstaat und den übrigen Vertragsparteien werden durch die Annahme nicht berührt, ebenso wenig die Vertragsbeziehungen zwischen dem annehmenden Staat und den übrigen Vertragsparteien. Ferner hat der Vorbehalt auch keine Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den übrigen Vertragsparteien untereinander.209 b) Rechtswirkung eines Vorbehalts bei Einspruch Unter der Geltung der absoluten Theorie bestand die Funktion des Einspruchs darin, zu verhindern, dass ein Vorbehaltsstaat Vertragspartei werden konnte.210 Auch im Hinblick auf Einsprüche gegen Vorbehalte zeigt sich, dass mit der WVK von der absoluten Theorie abgerückt wurde.211 Den Vorschlägen Sir Humphrey Waldocks sowie den sich daran anschließenden Arbeiten der ILC folgend geht die WVK dazu über, die Wirkung eines Einspruchs wie die einer Annahme im bilateralen Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und reagierendem Staat zu erzeugen. Damit übernahm die WVK auch Ideen des pan-amerikanischen Modells.212 Unterschieden wird dabei zwischen zwei Arten von Einsprüchen. Zum einen gibt es die Möglichkeit, einen Einspruch mit Ausschlusswirkung im Hinblick auf die Eigenschaft des Vorbehaltsstaats als Vertragspartei zu erklären. Zum anderen kann ein Einspruch auch ohne eine solche Qualifikation erhoben werden. 206 207 208 209 210 211 212

Art. 21 Abs. 1 lit. a WVK. Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 196. Art. 21 Abs. 1 lit. b WVK. Art. 21 Abs. 2 WVK. s. o. Kapitel 2, A. II. 1. Kühner, S. 178. Chaumont, RdC 129 (1970 I), S. 446; Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 189.

4 Behnsen

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

aa) Einspruch mit Ausschlusswirkung Der Wortlaut des Art. 21 Abs. 3 1. Halbsatz WVK lautet: „When a State objecting to a reservation has not opposed the entry into force of the treaty between itself and the reserving State (. . . ).“

Die Rechtsfolgen des Art. 21 Abs. 3 WVK gelten also nur für Vorbehalte, bei denen der den Einspruch erhebende Staat nicht dem Inkrafttreten des Vertrags zwischen sich und dem Vorbehaltsstaat widersprochen hat. Im Umkehrschluss daraus ergibt sich, dass es möglich ist, einen Einspruch mit der Qualifikation zu versehen, dass er das Entstehen vertraglicher Bindungen zwischen dem Vorbehaltsstaat und dem den Einspruch erhebenden Staat ausschließen kann.213 bb) Einspruch ohne Ausschlusswirkung Die Rechtsfolgen eines Einspruchs, bei dem die besagte Ausschlusswirkung vom einsprechenden Staat nicht in Anspruch genommen wird, sind in Art. 21 Abs. 3 WVK geregelt. Von dieser Form des Einspruchs haben Staaten weit mehr Gebrauch gemacht, als von der Form des Einspruchs mit Ausschlusswirkung.214 In einem solchen Fall finden die Bestimmungen, auf die sich der Vorbehalt bezieht, deren Geltung also zwischen den beiden Staaten umstritten ist, im Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und Einspruch erhebendem Staat keine Anwendung. Wird also ein Einspruch gegen einen Vorbehalt eingelegt, so werden die strittigen Bestimmungen aus dem vertraglichen Verhältnis zwischen den betreffenden Staaten quasi „ausgeklammert“.215 Es entstehen somit keine wechselseitigen Verpflichtungen zwischen dem Vorbehaltsstaat und dem einsprechenden Staat, die ansonsten aus der Norm erwachsen wären, die von dem Vorbehalt betroffen ist. Das Verhältnis zu anderen Vertragsparteien sowie das dieser untereinander werden dabei vom Einspruch eines Staates nicht berührt.

III. Zusammenfassung und Grundprinzip des Vorbehaltsrechts nach der WVK Die WVK enthält eine klare Abkehr vom vorher weit verbreiteten Einstimmigkeitsprinzip. Ihre Schöpfer haben hinsichtlich der Behandlung von Vorbehalten auf die damals modernen Ideen des IGH sowie der ILC zurückgegriffen.216 Dabei wird 213 Vgl. Treviranus, GYIL 25 (1982), S. 523; von diesem Instrument wurde im Bereich des Menschenrechtsschutzes jedoch wenig Gebrauch gemacht, vgl. Sucharipa-Behrmann, ARIEL 1 (1996), S. 80 ff. 214 Redgwell, BYIL 64 (1993), S. 275 f. 215 Vgl. Talalajew, S. 73. 216 Kimminich / Hobe, S. 214.

E. Behandlung von Vorbehalten nach der WVK

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die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorbehalts vordergründig nicht mehr an den Staatenwillen geknüpft, sondern an objektive Kriterien.217 Der Wille der Vertragsparteien ist allerdings nach wie vor entscheidend, wenn die Rechtswirkung eines Vorbehalts festgelegt werden soll. Bei der Entscheidung über das Schicksal eines Vorbehalts handelt es sich im Endeffekt also doch nicht um ein objektives, sondern um ein subjektives Verfahren.218 Dabei errichtet die WVK nicht ein für alle völkerrechtlichen Verträge geltendes Regime, sondern unterscheidet verschiedene Typen von Verträgen. Regelungen zum bilateralen Vertrag werden vollends ausgespart. Die Betrachtung der Wirksamkeit eines Vorbehalts sowie dessen Auswirkungen sollen nach der WVK im jeweils bilateralen Verhältnis zwischen dem Vorbehaltsstaat und jeder anderen Vertragspartei erfolgen. Dieses erklärt sich letztendlich aus dem Respekt vor staatlicher Souveränität.219 Die Rechtswirkung eines Vorbehalts wird also nicht allgemein verbindlich festgelegt, sondern muss im jeweils einzelnen Verhältnis erzeugt werden. Dazu stehen den Staaten die Instrumente der Annahme,220 der stillschweigenden Annahme,221 des Einspruchs mit Ausschlusswirkung bezüglich der Parteieigenschaft des Vorbehaltsstaats222 und des Einspruchs ohne eine solche Wirkung223 zur Verfügung. Als Grundprinzip des allgemeinen Vorbehaltsrechts der WVK und damit des wichtigsten Teils des geltenden Vorbehaltsrechts ist daher Folgendes festzustellen: Hinsichtlich der Frage der Rechtswirkung eines Vorbehalts ist eine Aufspaltung eines multilateralen Vertrags in beliebig viele bilaterale Vertragsverhältnisse vorzunehmen, je nachdem welche Anzahl von Staaten einen Vorbehalt annimmt oder einen Einspruch mit oder ohne Ausschlusswirkung erklärt. Eine Berücksichtigung des eigentlichen multilateralen Vertragsverhältnisses findet nicht statt.224 Die WVK übernimmt mithin sowohl Elemente des Gutachtens des IGH zur Völkermordkonvention als auch des pan-amerikanischen Ansatzes.225 217

Art. 19 WVK; vgl. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., 3. Kapitel, § 14,

Rn. 8. 218 Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 2. b.; Ago, YILC 1965 I, S. 161; Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 338 f.; Nicolai, Syracuse JILC 31 (2004), S. 315; Clark, AJIL 85 (1991), S. 301. 219 Vgl. Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 183. 220 Art. 20 Nr. 4 lit. a WVK. 221 Art. 20 Nr. 5 WVK. 222 Art. 20 Nr. 4 lit. b WVK. 223 Art. 20 Nr. 4 lit. b WVK. 224 Hylton, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 440; Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 37; vgl. Simma, Reziprozitätselement, S. 63; Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 651; Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 64. 225 Bourguignon, Virginia JIL 29 (1989), S. 353; insofern gilt die Kritik, die am System der WVK zu üben ist, auch für das pan-amerikanische Modell, da dieses insbesondere in den Rechtsfolgen dem System der WVK ähnelt; vgl. Fitzmaurice, ICLQ 2 (1953), S. 15 ff.; insofern soll der pan-amerikanische Ansatz bei einer möglichen Suche nach Reformmöglichkeiten für das Vorbehaltsrecht nicht weiter in Betracht gezogen werden.

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

Damit errichtet das Vorbehaltsrecht der WVK ein System, das an Unübersichtlichkeit und Kompliziertheit kaum zu übertreffen ist. Die Schwierigkeiten, die sich bereits im Anschluss an das IGH-Gutachten zur Völkermordkonvention im Hinblick auf die Zulässigkeit eines Vorbehalts zeigten, wurden durch die unveränderte Aufnahme der Aussage des Gerichtshofs, die Zulässigkeit eines Vorbehalts richte sich nach dessen Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck des Vertrags, in das System der WVK inkorporiert. Die WVK bleibt die Antwort schuldig, auf welche Weise Ziel und Zweck eines Vertrags festgestellt werden können und wer hierüber zu entscheiden hat.226 Weiterhin wird nicht deutlich, welche Rechtswirkung aus der Unzulässigkeit eines Vorbehalts erwachsen soll.227 Dieses hat einen bis heute nicht gelösten Streit zwischen den Anhängern der permissibility und denen der opposability solcher Vorbehalte provoziert.228 Erstere gehen davon aus, dass ein Vorbehalt, der nicht in Einklang mit Ziel und Zweck eines Vertrags steht, nichtig ist, also von anderen Staaten nicht angenommen oder abgelehnt werden kann.229 Letztere vertreten stattdessen die Ansicht, dass die Unvereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck des Vertrags keinerlei Auswirkungen hat und es den Staaten freisteht, diesen anzunehmen oder Einspruch zu erheben.230 Insbesondere bei Geltung der Ansicht der opposability stellt sich die Frage, welchen Sinn die Prüfung der Zulässigkeit eines Vorbehalts haben kann, wenn sich die rechtlichen Folgen eines unzulässigen Vorbehalts nicht von denen eines zulässigen unterscheiden. Andererseits existiert kein Organ, das über die rechtlichen Folgen eine verbindliche Entscheidung treffen könnte. Die WVK selbst legt die Nichtigkeit eines unzulässigen Vorbehalts nicht ausdrücklich fest.231 Setzt man diese Erkenntnis in einen Zusammenhang zu den Regeln der WVK, die die rechtliche Wirkung eines Vorbehalts vom Verhalten der anderen Vertragsparteien abhängig machen, so spricht dies maßgeblich dafür, dass die Entscheidung über die rechtliche Wirkung jedes Vorbehalts von der WVK allein in die Hände der Vertragsparteien gelegt werden soll. Dass die WVK Einspruch und Annahme nur für zulässige Vorbehalte vorsehen könnte, ergibt sich aus ihrem Inhalt nicht. Zwar verweist Art. 21 Abs. 1 WVK auf Art. 19 WVK. Hierin könnte ein Hinweis darauf zu sehen sein, dass nur solche Vorbehalte, die den Test nach Art. 19 WVK bestehen, auch zwischen den Staaten gelten können, unzulässige Vorbehalte also nichtig sind. Gegen eine solche Annahme spricht aber die zu beobachtende Staatenpraxis, das Einlegen eines Ein226 Chaumont, RdC 129 (1970 I), S. 450; Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 43 f.; Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 186; vgl. hierzu auch Kapitel 3, C. III. 1. b). 227 Eine Frage, die auch das IGH-Gutachten zur Völkermordkonvention noch offen gelassen hatte. Es finden sich jedenfalls keine Ausführungen, die auf die Favorisierung einer bestimmten Ansicht durch die Richter schließen lassen. 228 Redgwell, BYIL 64 (1993), S. 263; vgl. auch Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., Kapitel 3, § 14, Rn. 14 ff.; Shaw, S. 828 ff.; Kimminich / Hobe, S. 214; Baratta, EJIL 11 (2000), S. 413. 229 Wold, Colorado JIELP 14 (2003), S. 87. 230 Vgl. zu diesem Streit Bowett, BYIL 48 (1976 / 77), S. 88 ff. 231 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 726; Horn, S. 119; Redgwell, BYIL 64 (1993), S. 263.

E. Behandlung von Vorbehalten nach der WVK

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spruchs oft mit der Unvereinbarkeit des Vorbehalts mit Ziel und Zweck des Vertrags zu begründen.232 Ein solches Verhalten wäre bei einer von Anfang an bestehenden Nichtigkeit des Vorbehalts überflüssig. Weiterhin ergibt sich aus dem Aufbau des Art. 21 WVK, dass Staaten offenbar frei sind, auch gegen Vorbehalte, die im Einklang mit Ziel und Zweck eines Vertrags stehen,233 einen Einspruch geltend zu machen.234 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass auch unzulässige Vorbehalte zumindest stillschweigend angenommen werden können. Etwas Gegenteiliges ist nicht festgelegt.235 Spätestens daran zeigt sich, dass schon nach dem System der WVK selbst der Überprüfung des Vorbehalts auf seine Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck des Vertrags keinerlei Bedeutung beizumessen ist. Entscheidend ist der Wille der übrigen Vertragsparteien, wie sie mit dem Vorbehalt umgehen wollen.236 Es spricht daher vieles dafür, einen Vorbehalt, der gegen Ziel und Zweck eines Vertrags verstößt, nicht als von Anfang an nichtig, sondern als opposable anzusehen.237 Diese Ansicht entspricht ferner der gängigen Staatenpraxis.238 Sie soll daher auch den weiteren Ausführungen in dieser Arbeit zugrunde gelegt werden. Wie noch zu zeigen sein wird, führt die von der WVK vorgenommene Bilateralisierung der vertraglichen Verpflichtungen im Falle eines Vorbehalts darüber hinaus auch bei der Feststellung von dessen Rechtsfolge zu großen Schwierigkeiten.239 Bei einer zunehmenden Anzahl von Verträgen liefert die praktische Anwendung der Regeln über Annahme und Einspruch sogar sinnlose Ergebnisse. Schließlich stellt sich bei der Anwendung der Regeln über den Einspruch gegen einen Vorbehalt, ohne dass der einsprechende Staat dabei seinen Willen zum Ausdruck bringt, den Vertrag zwischen sich und dem Vorbehaltsstaat insgesamt nicht in Kraft treten zu lassen, die Frage nach dem Unterschied zwischen dieser Form des Einspruchs und der Annahme. Bei Letzterer werden die Vertragsbestimmungen im Verhältnis zwischen den betreffenden Staaten nach Maßgabe des Vorbehalts s. u. Kapitel 2, F. II.; vgl. Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 652. Vgl. den Wortlaut des Art. 21 Abs. 1 WVK: „Ein ( . . . ) nach den Artikeln 19, 20 und 23 bestehender Vorbehalt ( . . . )“. 234 Edwards, Michigan JIL 10 (1989), S. 397. 235 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 27; die praktische Bedeutung des Ziel-und-Zweck-Tests dürfte daher gering sein, Lijnzaad, S. 95; Schmidt, S. 33; vgl. Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 659; Cede, in: FS Ginther, S. 23. 236 Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 663; Schmidt, S. 35 f.; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 742; Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 341; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 2. b.; Kühner, S. 136; Fleischhauer, JIR 15 (1971), S. 218; Tomuschat, ZaöRV 27 (1967), S. 478; Boyle, ICLQ 29 (1980), S. 499 f.; Klabbers, Finnish YIL 8 (1997), S. 160, der davon ausgeht, dass sich die Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck danach richtet, ob der Vorbehalt von den übrigen Vertragsparteien anerkannt wird. 237 Koh, Harvard ILJ 23 (1982), S. 105 f.; Herdegen, VölkerRt., § 15, Rn. 24; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., Kapitel 3, § 14, Rn. 16 f. 238 Vgl. Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 115, der der Permissibility-Theorie daher lediglich theoretische Qualitäten zuspricht; Cede, in: FS Ginther, S. 23. 239 s. u. Kapitel 3, C. II. sowie Kapitel 3, C. III. 1. a). 232 233

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

modifiziert. Im Falle des besagten Einspruchs finden die Bestimmungen, auf die der Vorbehalt sich bezieht, in dem im Vorbehalt vorgesehenen Ausmaß zwischen den betreffenden Staaten keine Anwendung. Auch in diesem Fall geht der Vorbehaltsstaat keine Verpflichtungen ein, die er nicht will, kann deren Erfüllung aber auch nicht vom einsprechenden Staat einfordern. Abgesehen von der politischen Wirkung, die ein Einspruch haben kann, sind die Rechtsfolgen dieser beiden Instrumente daher praktisch identisch.240 Im Hinblick auf die ausdrückliche Unterscheidung zwischen Einspruch und Annahme in Art. 20 und 21 WVK verwundert dieses Ergebnis. Eine solche textliche Unterscheidung ist erkennbar kaum sinnvoll, wenn sie praktisch keine unterschiedlichen Auswirkungen hat. Die WVK bevorzugt in dieser Hinsicht ohne erkennbaren Grund einseitig den Vorbehaltsstaat.241 Dieser bekommt, was er will, ganz egal ob ein Vorbehalt angenommen wird oder nicht.242 Wegen der vielen Schwierigkeiten, die sich im Hinblick auf Vorbehalte aus ihrer Anwendung ergeben, hat die WVK bislang nicht den Schlusspunkt der Entwicklung des Vorbehaltsrechts setzen können.243

F. Entwicklungen nach Inkrafttreten der WVK Wegen der Nichtrückwirkung der WVK sowie der Beschränkung ihrer Anwendbarkeit auf ihre Vertragsparteien spielt auch das Gewohnheitsrecht nach wie vor eine große Rolle im Recht der Vorbehalte.244 Zwar hat die WVK es vermocht, auch diese Entwicklung zu prägen, jedoch entsprechen ihre Regelungen nach wie vor nicht vollständig dem geltenden Gewohnheitsrecht.245 Insbesondere der ge240 Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 200; in dieser Hinsicht auch Chaumont, RdC 129 (1970 I), S. 448, der dort lediglich von theoretischen Auswirkungen dieser Unterscheidung spricht, womit aber auch er zum Ausdruck bringen will, dass letztendlich gar keine Auswirkungen entstehen; Schweisfurth, IRD 1972, S. 195, bezeichnet den Einspruch sogar als „rechtswirkunglose(s) jus nudum“. 241 Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 327 f.; Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 179. 242 Hylton, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 438; Kühner, S. 184; Fleischhauer, JIR 15 (1971), S. 220; Imbert, S. 157; Schweisfurth, IRD 1970 II, S. 68; Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 181. 243 Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 1. 244 Unter den Staaten, die die WVK bislang nicht ratifiziert haben, befinden sich u. a. Brasilien, Iran, Kenia, Pakistan, die USA, Frankreich, Indien, Indonesien, Irak, Irland, Israel, Libyen, Malta, Norwegen, Portugal, Rumänien, Singapur, Südafrika, Sri Lanka, Thailand, Türkei, Uganda, Venezuela und Zimbabwe; vgl. Aust, NILR vol. L (2003), S. 249, der die WVK daher sogar als „limping treaty“ bezeichnet, ihr andererseits aber große Bedeutung auch außerhalb ihres Anwendungsbereichs zuspricht, S. 250 f.; ähnlich, in seinen Ausführungen aber knapper auch Scheidler, JURA 2004, S. 10; vgl. auch Bernhardt, in: ders., EPIL, Bd. IV (Q-Z), S. 927; Criddle, Virginia JIL 44 (2004), S. 431 ff. 245 Hilpold, AVR 34 (1996), S. 378.

F. Entwicklungen nach Inkrafttreten der WVK

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wohnheitsrechtliche Charakter der Bestimmungen zu Vorbehalten wird von manchen Autoren weiterhin angezweifelt.246 Innerhalb der Staatenpraxis hat der Inhalt der WVK zum Teil Verwirrungen hervorgerufen, die bis heute bestehen.247 Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die ILC sich weiterhin mit dem Thema der Vorbehalte befasst. Darüber hinaus zeigen sich in der modernen Staatenpraxis Ansätze, die auf eine mögliche Abkehr von den in der WVK normierten Regeln hindeuten.248

I. Beratungen in der ILC Im Jahre 1993 beauftragte die Generalversammlung die ILC, den Punkt „The law and practice relating to reservations to treaties“ in ihre Beratungen aufzunehmen.249 Alain Pellet übernahm das Amt des Sonderberichterstatters. 250 Er präsentierte im Jahre 1995 einen ersten Vorbericht zu dieser Frage.251 Hierin beschränkte er sich darauf, die bisherige Entwicklung des Rechts der Vorbehalte, insbesondere die frühere Arbeit der ILC zu diesem Thema, darzustellen und die seiner Meinung nach wesentlichen Probleme, die bei der erneuten Beratung dieser Fragen eine Rolle spielen müssten, herauszuarbeiten.252 Als wichtiges Problem identifizierte Pellet unter anderem die Kompliziertheit des Systems der WVK zu Vorbehalten, die sich insbesondere daraus ergäbe, dass die WVK einerseits die Folgen der Unzulässigkeit eines Vorbehalts nicht ausdrücklich selbst regeln und andererseits der Effekt eines Einspruchs gegen einen Vorbehalt nicht deutlich würde.253 Besonderen Wert legte er darüber hinaus auf die Frage der Vorbehalte zu Gründungsverträgen internationaler Organisationen,254 zu Menschenrechtsschutzverträgen255 sowie zu Vertragsbestimmungen, die Völkergewohnheitsrecht kodifizieren.256 Als Vorgehensweise für die weitere Arbeit schlug Pellet vor, das Erreichte zu bewahren, also aufbauend auf dem geltenden Recht zur Behandlung von Vorbehalten vor246 Aust, NILR vol. L (2003), S. 249; Sinclair, S. 14; Kühner, S. 111; Treviranus, GYIL 25 (1982), S. 515 f.; hingegen für eine gewohnheitsrechtliche Geltung Gillespie, EJIL 14 (2003), S. 987; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 722 f. 247 Vgl. Redgwell, BYIL 64 (1993), S. 278. 248 Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 180. 249 A / RES / 48 / 31 vom 9. Dezember 1993. 250 GAOR, 49th Session, Supp. 10, S. 438, Ziff. 382, UN Doc. A / 49 / 10. 251 Pellet, First Report on the Law and Practice Relating to Reservations to Treaties, Preliminary report, UN Doc. A / CN.4 / 470. 252 UN Doc. A / CN.4 / 470, S. 5, Ziff. 7. 253 UN Doc. A / CN.4 / 470, S. 47, Ziff. 96. 254 UN Doc. A / CN.4 / 470, S. 62, Ziff. 137. 255 UN Doc. A / CN.4 / 470, S. 63, Ziff. 138 ff. 256 UN Doc. A / CN.4 / 470, S. 65, Ziff. 13143 / 144; eine Liste aller von Pellet ausgemachten Probleme findet sich unter UN Doc. A / CN.4 / 470, S. 67 f., Ziff. 148.

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

zugehen, da dieses seine Brauchbarkeit bereits bewiesen hätte.257 Hierin stimmte ihm die Mehrheit der Mitglieder der ILC zu,258 ebenso die Mehrheit der Mitglieder des 6. Committees der Generalversammlung.259 Allerdings entstanden auch unter diesen Diskussionen darüber, ob ein Sonderrecht zur Behandlung von Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen wünschenswert wäre.260 Im Jahre 1996 folgte Pellets zweiter Bericht.261 Mittlerweile war das Thema dieser Arbeit der ILC in „Reservations to Treaties“ umbenannt worden.262 In seinem zweiten Bericht schlug Pellet erneut vor, das bereits Erreichte nicht aufzugeben. Explizit forderte er, die relevanten Bestimmungen der WVK zum Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen der ILC zu machen.263 Im Einzelnen setzte sich Pellet mit der Frage auseinander, ob das Regime des Vorbehaltsrechts weiterhin einheitlich kodifiziert sein müsste, oder ob sich gesonderte Normen speziell zur Regelung der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen und anderen normativen Verträgen empfehlen würden.264 Dabei ging er davon aus, dass die Regeln der WVK zu Vorbehalten bei ihrer Schaffung im Jahre 1969 zwar das Ergebnis neuerer Rechtsentwicklungen waren, dass diese mittlerweile allerdings den Status von Völkergewohnheitsrecht erreicht hätten.265 Allerdings erkannte auch er das generell bestehende Problem, dass das Recht der Vorbehalte immer die Prinzipien von treaty universality und treaty integrity zu einem schonenden Ausgleich bringen müsse, was ohne Kompromisse nicht möglich sei.266 Letztendlich kam Pellet in seinem zweiten Bericht zu der Ansicht, dass die Regeln der WVK weiterhin geeignet wären, die mit Vorbehalten verbundenen Probleme adäquat zu lösen. Dies sollte seiner Meinung nach ohne Ausnahme für alle Verträge, die keine speziellen Bestimmungen zu Vorbehalten enthalten, gelten. Ein Sonderregime für normative Verträge oder Menschenrechtsschutzverträge wäre dagegen nicht erforderlich. Die Vorteile der Regeln der WVK überwögen. Die möglicherweise durch eine Anwendung der Regeln der WVK auf Vorbehalte zu normativen Verträgen entstehenden Schwierigkeiten sollten nach Meinung des Berichterstatters mit Hilfe der Regeln der WVK selbst zu lösen sein.267 Zu den Vorteilen des bestehenden Systems zählte UN Doc. A / CN.4 / 470, S. 75, Ziff. 168. Report of the International Law Commission on the work of its forty-seventh session (1995), UN Doc. A / CN.4 / 472 / Add. 1, S. 39, Ziff. 249; vgl. auch Föh / Wiesner, GYIL 40 (1997), S. 615. 259 UN Doc. A / CN.4 / 472 / Add. 1, S. 39, Ziff. 147. 260 UN Doc. A / CN.4 / 472 / Add. 1, S. 41 f., Ziff. 155 ff. 261 Pellet, Second report on reservations to treaties, UN Doc. A / CN.4 / 477. 262 UN Doc. A / CN.4 / 477, S. 3, Ziff. 2. 263 UN Doc. A / CN.4 / 477, S. 9 f., Ziff. 19. 264 UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 4 ff., Ziff. 55 ff. 265 UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 8, Ziff. 65. 266 UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 26 ff., Ziff. 117 ff. 267 Vgl. hierzu die abschließenden Überlegungen Pellets zu der Frage, ob für normative Verträge bzw. Menschenrechtsschutzverträge ein Bedarf für die Schaffung von der WVK abweichender Regeln besteht, UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 46 f., Ziff. 163. 257 258

F. Entwicklungen nach Inkrafttreten der WVK

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Pellet vor allem die Flexibilität, die die Art. 19 ff. WVK sowohl möglichen Vorbehaltsstaaten als auch den übrigen Vertragsparteien böten.268 Außerdem sollte seiner Ansicht nach nicht vergessen werden, dass normative Verträge beziehungsweise Menschenrechtsschutzverträge zwar möglicherweise einen besonderen legislativen Charakter hätten, dass sie darüber hinaus aber weiterhin Verträge zwischen Staaten wären, und daher auch das allgemeine Vertragsrecht auf sie Anwendung finden können müsste.269 Trotz der Tatsache, dass solche Verträge hinsichtlich der in ihnen normierten Verpflichtungen keinen reziproken Charakter haben, blieben die Regeln der WVK nach Ansicht Pellets auch auf diese Verträge anwendbar. Einzige Auswirkung wäre, dass Art. 21 Abs. 3 WVK dann keine Anwendung finden könne, da dieser Reziprozität voraussetzt.270 Ein Vorbehalt würde dann nicht in Bezug zu einer anderen Vertragspartei angebracht.271 Anschließend widmete Pellet seine Aufmerksamkeit ausführlich der Frage nach einer Überprüfungskompetenz etwaiger Vertragsorgane im Hinblick auf die Zulässigkeit von Vorbehalten. Auch dabei kam er zu einem eher restriktiven Ergebnis, das ein Festhalten an den bestehenden Regeln der WVK bevorzugte.272 Die ILC beschäftigte sich während ihrer 49. und 50. Sitzungsperiode mit dem zweiten Bericht Pellets.273 Dabei ergab sich große Zustimmung für die Ansicht des Berichterstatters, dass die WVK allgemeine Gültigkeit entfalte, auch im Hinblick auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen.274 Einige Mitglieder regten jedoch an, zumindest das Ende der Untersuchungen zu diesem Thema abzuwarten, da sich bei der Anwendung der Regeln der WVK auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen immer wieder Lücken auftäten.275 In seiner Ansicht, dass die von der WVK bereitgestellten Regeln zur Behandlung von Vorbehalten weiterhin ausreichend wären, wurde der Berichterstatter auch von mehreren Staatenvertretern im 6. Committee der Generalversammlung bestätigt.276 Dabei wurde 268 UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 34, Ziff. 131; S. 35, Ziff. 135; zustimmend Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., 3. Kapitel, § 14, Rn. 1; ähnlich Baratta, EJIL 11 (2000), S. 425. 269 UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 39, Ziff. 146 f. 270 UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 42, Ziff. 155. 271 UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 43, Ziff. 157. 272 Vgl. z. B. UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 79, Ziff. 231 ff.; S. 86, Ziff. 252. 273 Aus Zeitgründen war dieses während der 48. Sitzungsperiode nicht möglich gewesen, vgl. Föh / Wiesner, GYIL 40 (1997), S. 616. 274 Report of the International Law Commission on the Work of its Forty-Ninth Session (1997), UN Doc. A / 52 / 10, S. 108, Ziff. 94, S. 116, Ziff. 124, S. 117, Ziff. 129; vgl. zur Diskussion innerhalb der ILC zu dieser Frage auch Finke / Wandscher, GYIL 41 (1998), S. 534 ff. 275 UN Doc. A / 52 / 10, S. 117 f., Ziff. 129 f. 276 Report of the International Law Commission on the Work of its Forty-Eighth Session (1996), Topical Summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-first session prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 479, S. 15, Ziff. 65 f.; Report of the International Law Commission on the work of its fiftieth session (1998), Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Regeln der WVK auch bei der Behandlung von Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen anwendbar wären. Allerdings war diese Ansicht nicht unumstritten. Aus den Äußerungen anderer Vertreter geht hervor, dass eine solche Anwendung nicht völlig unproblematisch geschehen könne.277 Besonders interessant erscheint weiterhin, dass vor allem im Hinblick auf die Frage, wer die Kompetenz zur Überprüfung der Zulässigkeit eines Vorbehalts besitzt und welche Folgen dieses hat, während der Beratungen im 6. Committee der Generalversammlung im Jahre 1998 von den Vertretern einiger Staaten angeregt wurde, auch der Depositar des jeweiligen Vertrags käme als Überprüfungsinstanz in Frage.278 Ebenfalls im Jahre 1998 legte Pellet seinen dritten Bericht zum Recht der Vorbehalte vor.279 Allerdings setzte er sich hierin weniger mit neuen Entwicklungen, insbesondere was die Rechtswirkung von Vorbehalten und die Anwendbarkeit der Regeln der WVK in Bezug auf Menschenrechtsschutzverträge anbelangt, auseinander, sondern beschäftigte sich vor allem mit Fragen der Definition von Vorbehalten und Interpretationserklärungen sowie Vorbehalten zu bilateralen Verträgen.280 Die Mitglieder der ILC befassten sich während ihrer 51. Sitzungsperiode ausführlich mit dem Thema der Vorbehalte. Allerdings spielte hierbei das Thema eines möglichen Sonderrechts für Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen ebenso wenig eine Rolle wie die Frage nach der rechtlichen Wirkung von Vorbehalten und Einsprüchen hierzu. Die ILC-Mitglieder erarbeiteten dagegen den ersten Teil eines Guide to Practice zum Recht der Vorbehalte, der sich im Wesentlichen mit Definitionen beschäftigte.281 Mit diesem setzten sich auch die Mitglieder des 6. Committees der Generalversammlung auseinander. Daneben diskutierten sie erneut die Frage, ob ein Sonderrecht zur Behandlung von Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen nötig wäre oder die Regeln der WVK ausreichten, ohne dabei jedoch zu einem Ergebnis zu kommen.282 Der vierte Bericht Pellets folgte bereits ein Jahr später.283 Hierin beschränkte der Sonderberichterstatter sich allerdings im Wesentlichen auf die Darstellung der Assembly during its fifty-third session prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 496, S. 21 f., Ziff. 142. 277 Report of the International Law Commission on the work of its forty-ninth session (1997), Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-second session prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 483, S. 9, Ziff. 61 f.; UN Doc. A / CN.4 / 496, S. 21 f., Ziff. 142. 278 UN Doc. A / CN.4 / 483, S. 12, Ziff. 88. 279 Pellet, Third report on reservations to treaties, UN Doc. A / CN.4 / 491. 280 Insofern soll dieser Bericht hier nicht weiter behandelt werden. 281 Vgl. Finke / Wandscher, GYIL 41 (1998), S. 540 ff.; Tams, GYIL 42 (1999), S. 561 ff. 282 Report of the International Law Commission on the work of its fifty-first session (1999), Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-fourth session prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 504, S. 21 f., Ziff. 84, 86, 88. 283 Pellet, Fourth report on reservations to treaties, UN Doc. A / CN.4 / 499.

F. Entwicklungen nach Inkrafttreten der WVK

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auf seine vorangegangenen Berichte erfolgten Reaktionen.284 Weiterhin kündigte er an, sofern seine Zeit dies zuließe, ein abschließendes Kapitel zu seinem Bericht vorzulegen, in dem er sich unter anderem mit dem rechtlichen Effekt eines Vorbehalts sowie der Wirkung von Annahme und Einspruch auseinandersetzen wollte.285 Innerhalb der Beratungen in der ILC sowie im 6. Committee der Generalversammlung wurde dieses Vorhaben Pellets begrüßt.286 Allerdings liegt dieses den vierten Report Pellets abschließende Kapitel bis heute nicht vor. Abgeschlossen hat Pellet dagegen im Jahre 2000 seinen fünften Bericht.287 Auch hierin schilderte er vorrangig die Reaktionen auf seine vorangegangenen Berichte. Mit der Frage der Wirkung von Vorbehalten und Einsprüchen setzte er sich nicht auseinander, ebenso wenig mit der Frage nach der Notwendigkeit von Sonderregeln für Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen. Auch die Mitglieder der ILC selbst diskutierten dieses Thema nicht.288 Gleichwohl ist erneut zu beobachten, dass sich während der Beratungen im 6. Committee der Generalversammlung während der 53. und 54. Sitzungsperiode eine große Mehrheit unter den Staatenvertretern abzeichnete, die davon ausging, dass die Regeln der WVK im Hinblick auf Vorbehalte beibehalten werden sollten. Allerdings wurde die Frage nach einer möglichen Sonderbehandlung von Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen von den Staaten wieder nicht einheitlich beantwortet.289 Unter der Insofern soll auch dieser Bericht hier nicht eingehend behandelt werden. UN Doc. A / CN.4 / 499, S. 21, Ziff. 62 f. 286 Report of the International Law Commission on the work of its fifty-second session (2000), Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-fifth session prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 513, S. 50, Ziff. 288. 287 Pellet, Fifth report on reservations to treaties, UN Doc. A / CN.4 / 508. 288 Vgl. Tams, GYIL 44 (2001), S. 718 ff. 289 Report of the International Law Commission on the Work of its fifty-third session (2001), Topical Summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-sixth session prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 521, S. 6 f., Ziff. 37 f.; Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fourth session (2002), Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-seventh session prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 529, S. 16, Ziff. 57; vgl. Pellet, Fifth report on reservations to treaties, UN Doc. A / CN.4 / 508, S. 16, Ziff. 34; zu den Befürwortern einer Sonderbehandlung von Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen gehörten Schweden (für die nordischen Länder), GAOR, 53rd Session, 6th Committee, 17th Meeting (29. Oktober 1998), S. 2 f., Ziff. 6, UN Doc. A / C.6 / 53 / SR.17, Italien, GAOR, 53rd Session, 6th Committee, 18th Meeting (17. Dezember 1998), S. 8, Ziff. 33, UN Doc. A / C.6 / 53 / SR.18, sowie GAOR, 54th Session, 6th Committee, 24th Meeting (20. Dezember 1999), S. 7, Ziff. 30, UN Doc. A / C.6 / 54 / SR.24, Ungarn, ebenda, Ziff. 36, sowie Niger, GAOR, 54th Session, 6th Committee, 25th Meeting (14. Dezember 1999), S. 13, Ziff. 108, UN Doc. A / C.6 / 54 / SR.25; dagegen waren Singapur, GAOR, 53rd Session, 6th Committee, 19th Meeting (17. November 1998), S. 5, Ziff. 27 f., UN Doc. A / C.6 / 53 / SR.19, Ägypten, GAOR, 53rd Session, 6th Committee, 22nd Meeting (18. November 1998), S. 3, Ziff. 15, UN Doc. A / C.6 / 53 / SR.22, Pakistan, GAOR, 54th Session, 6th Committee, 17th Meeting (15. November 1999), S. 9, Ziff. 59, UN Doc. A / C.6 / 54 / SR.17, 284 285

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

Überschrift „General presentation of the fifth report“ kündigte Pellet erneut ein abschließendes Kapitel an, in dem er, sofern es seine Zeit erlauben würde, unter anderem auch zur Frage der rechtlichen Wirkung von Vorbehalten sowie von Annahme und Einspruch Stellung nehmen wollte. Auch diese Ankündigung setzte der Berichterstatter leider nur teilweise in die Tat um. Seine Ausführungen beschränkten sich auf die Frage nach möglichen Alternativen zu Vorbehalten.290 Während der Beratungen innerhalb der ILC spielte das Thema Vorbehalte lediglich eine untergeordnete Rolle.291 Nachdem in seinem sechsten Bericht aus dem Jahre 2001292 die Frage der Rechtswirkung von Vorbehalten sowie von Annahme und Einspruch weiterhin unbehandelt geblieben war,293 betonte Pellet in seinem siebten Bericht aus dem Jahre 2002,294 dass die Regeln der WVK zur Behandlung von Vorbehalten weiterhin insgesamt als ausreichend anzusehen wären, wenngleich es bei ihrer Anwendung auch immer wieder zu Problemen kommen könnte.295 Leider erfüllte Pellet auch hier nicht die von ihm geweckten Hoffnungen,296 sich in einem Teil des Berichts ausführlich mit dem Effekt von Vorbehalten und Einsprüchen auseinanderzusetzen.297 Diese Frage wurde auch in den Beratungen der ILC zu diesem Bericht nicht erörtert.298 Tunesien, GAOR 54th Session, 6th Committee, 25th Meeting (14. Dezember 1999), S. 5, Ziff. 29, UN Doc. A / C.6 / 54 / SR.25, sowie Kuba, GAOR, 54th Session, 6th Committee, 28th Meeting (10. Dezember 1999), S. 11, Ziff. 95, UN Doc. A / C.6 / 54 / SR.28. 290 UN Doc. A / CN.4 / 508 / Add. 1, auch diese Ausführungen können hier unberücksichtigt bleiben, da sie keine weiteren Informationen zur Frage der Zulässigkeit oder des rechtlichen Effekts von Vorbehalten bzw. zur Notwendigkeit von Sonderregeln für Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen enthalten. 291 Vgl. Tams, GYIL 43 (2000), S. 422 ff.; auch die Beratungen innerhalb des 6. Committees der Generalversammlung während dessen 55. Sitzungsperiode brachten keine Neuigkeiten zu den hier relevanten Themen, vgl. Report of the International Law Commission on the work of its fifty-second session, Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during the work of its fifty-fifth session prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 513, S. 49 ff., Ziff. 283 ff. 292 Pellet, Sixth report on reservations to treaties, UN Doc. A / CN.4 / 518, sowie UN Doc. A / CN.4 / 518 / Add. 1. 293 Vgl. hierzu und zu den Beratungen in der ILC in dieser Frage Tams, GYIL 44 (2001), S. 718 ff.; im Rahmen seiner 56. Sitzungsperiode debattierten die Mitglieder des 6. Committees der Generalversammlung ebenfalls in Bezug auf Vorbehalte nur über für diese Arbeit nebensächliche Fragen, Report of the International Law Commission on the work of its fiftythird session, Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-sixth session prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 521, S. 6 ff., Ziff. 37 ff. 294 Pellet, Seventh report on reservations to treaties, UN Doc. A / CN.4 / 526, sowie UN Doc. A / CN.4 / 526 / Add. 1 – 3. 295 UN Doc. A / CN.4 / 526, Ziff. S. 4, Ziff. 10 f. 296 UN Doc. A / CN.4 / 526, S. 21, Ziff. 59. 297 Dieses Thema wird lediglich am Rande der Ausführungen zu der Frage der Möglichkeit und des Effekts einer Zurücknahme eines Vorbehalts angesprochen, UN Doc.

F. Entwicklungen nach Inkrafttreten der WVK

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Pellets achter Bericht folgte im Jahre 2003.299 Auch hierin kündigte der Berichterstatter an, einen Teil seiner Ausführungen der Frage nach der Zulässigkeit und Gültigkeit von Vorbehalten zu widmen.300 Diesem Versprechen kam er diesmal zumindest insoweit nach, als dass er seine Meinung zur Frage des rechtlichen Effekts eines Einspruchs darlegte. Er unterschied dabei grundsätzlich zwischen drei möglichen Effekten. Der am wenigsten einschneidende Effekt sollte nach Pellet der in Art. 20 Abs. 4 lit. b WVK normierte Einspruch ohne Ausschlusswirkung sein. In diesem Falle sollten lediglich die Bestimmungen, auf die der Vorbehalt sich bezieht, im Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat in dem im Vorbehalt vorgesehenen Ausmaß gemäß Art. 21 Abs. 3 WVK nicht zur Anwendung kommen. Pellet bezeichnete diese Rechtsfolge als „Minimal-Effekt“.301 Das Gegenteil hierzu, nach Pellet der „Maximal-Effekt“, träte ein, wenn ein Staat in seinem Einspruch zu einem Vorbehalt ausdrücklich das Inkrafttreten des gesamten Vertrags zwischen sich und dem Vorbehaltsstaat ausschlösse, Art. 20 Abs. 3 lit. b WVK.302 Sofern Staaten eine dazwischenliegende rechtliche Wirkung eines Einspruchs vereinbarten, sollte dieses nach Ansicht des Berichterstatters ebenso akzeptabel sein.303 Neben diesen drei Effekten, von denen zwei ausdrücklich in der WVK genannt sind und sich die Zulässigkeit des dritten zumindest bei entsprechender Vereinbarung durch die jeweiligen Staaten aus der Logik des Art. 21 Abs. 3 WVK ergibt, ging Pellet noch auf einen vom ihm als „super-maximal“ bezeichneten Effekt ein.304 Dabei bezog er sich auf einen von Schweden zu einem Vorbehalt Qatars zur Kinderrechtskonvention erhobenen Einspruch. Hierin hatte Schweden ausdrücklich betont, dass es das Inkrafttreten der Konvention zwischen sich und Qatar nicht ausschließen wollte. Vielmehr betrachtete man den Vertrag als vollständig zwischen den beiden Staaten in Kraft getreten, ohne dass Qatar die Früchte des Vorbehalts genießen können sollte.305 Die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens wurde vom Berichterstatter zwar nachdrücklich angezweifelt. Allerdings fiel Pellets Begründung hierfür knapp aus. Er beschränkte sich auf einen Verweis darauf, dass ein solches Vorgehen in der WVK keine Grundlage fände.306 Trotz dieser Ablehnung ist dieser von Schweden verfolgte Weg bislang nicht ohne Nachahmung geblieben und stellt mittlerweile A / CN.4 / 526 / Add. 3, S. 2 ff., Ziff. 187 ff; insofern soll auch dieser Bericht hier nicht ausführlich behandelt werden. 298 Vgl. Schromm, GYIL 45 (2002), S. 568 ff. 299 Pellet, Eighth report on reservations to treaties, UN Doc. A / CN.4 / 535, sowie A / CN.4 / 535 / Add. 1. 300 UN Doc. A / CN.4 / 535, S. 9, Ziff. 32. 301 UN Doc. A / CN.4 / 535 / Add. 1, S. 12, Ziff. 95. 302 UN Doc. A / CN.4 / 535 / Add. 1, S. 12, Ziff. 95. 303 UN Doc. A / CN.4 / 535 / Add. 1, S. 12, Ziff. 95. 304 UN Doc. A / CN.4 / 535 / Add. 1, S. 12 f., Ziff. 96. 305 Vgl. UN Doc. A / CN.4 / 535 / Add. 1, S. 12 f., Ziff. 96. 306 UN Doc. A / CN.4 / 535 / Add. 1, S. 13, Ziff. 97.

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

einen interessanten neuen Ansatz in der Staatenpraxis dar.307 Auch unter den Mitgliedern der ILC wurde dieser Versuch offenbar kontrovers diskutiert.308 Dabei wurde vor allem darauf Bezug genommen, dass der „Minimal-Effekt“ sich nahezu nicht von der Annahme eines Vorbehalts unterschiede. Insofern fand auch der „super-maximale“ Effekt Anhänger.309 Die Mitglieder des 6. Committees setzten sich während dessen 57. Sitzungsperiode ebenfalls detailliert mit der Frage der Vorbehalte auseinander. Auch sie befürworteten erneut, die Regeln der WVK nicht grundlegend zu verändern, und betonten deren gutes Funktionieren in der Vergangenheit. Dennoch begrüßten sie eine darauf aufbauende Weiterentwicklung des Vorbehaltsrechts.310 In seinem neunten und bislang letzten Bericht zur Frage der Vorbehalte aus dem Jahre 2004 griff Pellet das Thema der Definition eines Vorbehalts erneut auf.311 Darin erteilte er dem „super-maximalen“ Effekt unter Berufung auf einen früheren Definitionsvorschlag indirekt wieder eine Absage, indem er die Wirkung, die ein Einspruch nach seiner Ansicht haben können sollte, auf den Ausschluss vertraglicher Beziehungen zwischen dem Vorbehaltsstaat und dem einsprechenden Staat insgesamt sowie auf das Ausklammern der vom Vorbehalt betroffenen Bestimmungen in diesem Verhältnis beschränkte.312 Ausdrücklich betonte der Berichterstatter, dass Einsprüche keine andere Wirkung haben sollten als die, die in der WVK vorgesehen sind.313 Daneben präsentierte er jedoch einen neuen Definitionsvorschlag, der auf den ersten Blick weniger klar erscheint. Er respektierte darin zumindest, dass Staatenwille weiter gehen kann, als die Normen der WVK es vorsehen, und definierte den Einspruch als Erklärung eines Staates, „whereby the State ( . . . ) purports to prevent the reservation having any or some of its effects.“314 Noch weiter ging er in einem wiederum überarbeiteten Definitionsvorschlag, in dem er einen Einspruch als Erklärung eines Staates definierte, „whereby the State ( . . . ) purports to modify the effects expected of the reservation (by the author of the reservation).“315 Es gibt somit Anzeichen dafür, dass der Berichterstatter sehr vorsichtig s. u. Kapitel 2, F. II. Vgl. Report of the International Law Commission on the work if its fifty-fifth session, UN Doc. A / 58 / 10, S. 160 ff., Ziff. 346 ff. 309 So plädierten die Mitglieder Koldokin, Escarameia, Koskenniemi und Kateka für eine flexiblere Definition des Einspruchs, vgl. Pellet, UN Doc. A / CN.4 / 544, S. 4, Ziff. 8, dort Fußnote Nr. 19; Elberling, GYIL 46 (2003), S. 753. 310 Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fourth session, Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-seventh session, prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 529, S. 16, Ziff. 57. 311 Pellet, Ninth report on reservations to treaties, UN Doc. A / CN.4 / 544. 312 UN Doc. A / CN.4 / 544, S. 2, Ziff. 2, vgl. auch Ziff. 5. 313 UN Doc. A / CN.4 / 544, S. 5 f., Ziff. 14. 314 UN Doc. A / CN.4 / 544, S. 6, Ziff. 15. 315 UN Doc. A / CN.4 / 544, S. 7 f., Ziff. 22. 307 308

F. Entwicklungen nach Inkrafttreten der WVK

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etwas von seiner bisher kategorisch vertretenen Ansicht abrückt, dass die Wirkung eines Einspruchs sich allein nach den Regeln der WVK zu richten hat.316 Die weiteren im neunten Bericht angesprochenen Detailfragen sind für diese Arbeit nicht von Bedeutung. Die Mitglieder der ILC begrüßten den letzten Definitionsentwurf Pellets. Als positiv hoben sie insbesondere hervor, dass die Definition den Effekt eines Einspruchs offen ließe und so den Staaten die Möglichkeit gäbe, weitergehende Einsprüche zu erklären, dass sie aber auch nicht im Widerspruch zu den Art. 20 bis 23 WVK stände.317 Darüber hinaus wurde die Forderung erhoben, in die Definition des Einspruchs die Formulierung aufzunehmen, dass der einsprechende Staat einen Vorbehalt als „invalid“ ansehe. Allerdings wurde eine solche Aussage offenbar mehr als „comment“ eines Staates denn als ein mit Rechtswirkung ausgestatteter Einspruch angesehen.318 Die Möglichkeit eines Staates, einen Einspruch mit der Wirkung zu versehen, dass der Vertrag zwischen ihm und dem Vorbehaltsstaat im Ganzen in Kraft träte, lehnten die Mitglieder der ILC ausdrücklich ab.319 Die Beibehaltung der Vorbehaltsbestimmungen der WVK wurde auch in den Beratungen des 6. Committees während dessen 58. Sitzungsperiode gefordert.320 Gleichzeitig betonten einige Delegationen, dass in die Definition des Einspruchs auch die Intention einer einsprechenden Partei aufgenommen werden sollte, damit sich ein Einspruch stärker von einer Annahme unterscheiden könnte.321 Weiterhin wurde von einigen Delegationen der „super-maximale“ Effekt zumindest insofern anerkannt, als dass Vorbehalte, die gegen Ziel und Zweck eines Vertrags verstoßen, nichtig wären und ein entsprechender Einspruch daher nur deklaratorische Funktion hätte.322 Andere Delegationen stellten sich sogar vollständig hinter eine Anwendung des „super-maximalen“ Effekts auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen.323 Wiederum andere widersprachen dieser Ansicht jedoch.324 Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass die ILC im Laufe ihrer Beratungen zu dem Thema Vertragsvorbehalte so genannte draft guidelines zur Behandlung von Vorbehalten erarbeitete und verabschiedete. Diese haben zwar keine Rechtsverbindlichkeit, sollen aber Staaten dazu dienen, das Recht der Vorbehalte einfacher Vgl. UN Doc. A / CN.4 / 544, S. 7, Ziff. 20. Report of the International Law Commission on the work of its fifty-sixth session, UN Doc. A / 59 / 10, S. 242, Ziff. 278, 280. 318 UN Doc. A / 59 / 10, S. 243, Ziff. 281. 319 UN Doc. A / 59 / 10, S. 244, Ziff. 289. 320 Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fifth session, Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-eighth session, prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 537, S. 40, Ziff. 170. 321 UN Doc. A / CN.4 / 537, S. 42 f., Ziff. 177 ff. 322 UN Doc. A / CN.4 / 537, S. 43 f., Ziff. 188. 323 UN Doc. A / CN.4 / 537, S. 44, Ziff. 189. 324 UN Doc. A / CN.4 / 537, S. 44, Ziff. 192. 316 317

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

handhaben zu können. Die draft guidelines wurden im Verlauf der Beratungen der ILC mehrmals modifiziert. Sie geben allerdings bis heute keinerlei Informationen zur Frage der rechtlichen Wirkung von Vorbehalten und zum Problem der Notwendigkeit eines möglichen Sonderrechts zur Behandlung von Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen.325 Einen vollständigen Guide to Practice hat die Kommission dagegen bislang nicht vorgelegt, obwohl sie einen solchen bereits verabschieden will, seitdem sie sich mit dem Thema der Vertragsvorbehalte befasst. Trotz dieses Umstandes kann man anhand der Beratungen innerhalb der ILC sowie der Reaktionen der Staatenvertreter im 6. Committee der Generalversammlung erkennen, dass die Bemühungen um weitere Entwicklungen des Rechts der Vorbehalte auch nach Inkrafttreten der WVK nicht abrissen. Insbesondere die Frage nach einem möglichen Sonderrecht für Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen wird vor allem von den Vertretern der Staaten weiterhin kontrovers diskutiert. Auch in dieser Hinsicht ist die Rechtsentwicklung also noch nicht abgeschlossen. Untersuchungen auf diesem Gebiet sind daher weiterhin angebracht und nötig. Im Jahre 2002 nahm die ILC daneben das Thema „Fragmentation of international law: difficulties arising from the diversification and expansion of international law“ in ihr Arbeitsprogramm auf.326 Martti Koskenniemi übernahm den Vorsitz in der hierfür eingerichteten Arbeitsgruppe.327 Auch diesbezüglich ist eine Diskussion über das Vorbehaltsrecht zu erwarten. Insbesondere in dieser Hinsicht stellt sich die Frage der Aufteilung des Völkerrechts in mehrere spezielle Bereiche.328 Bislang legte Koskenniemi einen Bericht vor. Hierin beschäftigte er sich mit der Lex-specialis-Regel sowie self-contained régimes.329 Als Letzteres zog er mit Einschränkungen die Menschenrechte in Erwägung und begründete dies mit 325 Vgl. UN Doc. A / 58 / 10, S. 151 ff., Ziff. 322 – 331, die vorläufige Textfassung der draft guidelines findet sich unter UN Doc. A / 59 / 10, S. 246 ff., Ziff. 294. 326 UN Doc. A / 57 / 10, S. 237, Ziff. 492 ff.; die ILC hatte das Thema im Jahre 2000 bereits unter dem Titel „Risks ensuing from fragmentation of international law“ in ihr Arbeitsprogramm aufgenommen, vgl. UN Doc. A / 55 / 10, S. 292, Ziff. 729, errichtete aber erst im Jahre 2002 eine entsprechende Study Group, vgl. UN Doc. A / 57 / 10, S. 237, Ziff. 493. 327 Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fifth session, UN Doc. A / 58 / 10, S. 268, Ziff. 412. 328 Vgl. Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fith session, UN Doc. A / 58 / 10, S. 270 f., Ziff. 419, lit. b; vgl. auch die Diskussion während des Symposiums zum 90. Jahrestag der Gründung des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, die sich im Rahmen des Themas „Unity and Diversity with Regard to the Law of Treaties“ insbesondere mit dem Vorbehaltsrecht beschäftigte. 329 Koskenniemi, Fragmentation of International Law: Difficulties Arising from the Diversification and Expansion of International Law, Study on the „Function and scope of the lex specialis rule and the question of ,self-contained regimes‘“, UN Doc. ILC(LVI) / SG / FIL / CRD.1 und ILC(LVI) / SG / FIL / CRD.1 / Add. 1.

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der Ansicht des EGMR, Vorbehalte zur EMRK unabhängig von deren Erklärung zu betrachten und so gegebenenfalls den Vorbehaltsstaat trotz dessen Vorbehalts als voll an den Vertrag gebunden anzusehen.330 Allerdings kam er zu dem Ergebnis, dass selbst die EMRK kein self-contained régime darstellte. Zumindest ging er davon aus, dass das geltende allgemeine Völkerrecht auf alle Verträge, deren Eigenschaft als self-contained régime zur Zeit diskutiert wird, weiterhin anwendbar wäre.331 Die ILC selbst setzte sich mit diesem Thema während ihrer 55. und 56. Sitzungsperiode auseinander. Dabei behandelte sie es jedoch nicht beziehungsweise nur unwesentlich in Bezug auf Vorbehalte.332 Dies hat seine Ursache möglicherweise darin, dass „Reservations to Treaties“ ein eigenes Arbeitsfeld der ILC ist. Ein Gesamtdokument über das Thema der Fragmentierung des Völkerrechts kündigte die ILC für das Jahr 2006 an.333 Nach dem ersten Bericht Koskenniemis sowie aus der Tatsache, dass in Bezug auf dessen Ausführungen zu Vorbehalten in der ILC kein Widerspruch erhoben wurde, liegt der Schluss nahe, dass die Mitglieder der ILC beim Thema „Fragmentation“ nicht von einem speziellen Vorbehaltsrecht für verschiedene Arten völkerrechtlicher Verträge ausgehen werden. Eine sichere Prognose ist, da die Arbeit an dieser Frage noch am Anfang steht, aber noch nicht möglich.

II. Entwicklungen in der Staatenpraxis Wenn im System der WVK zur Behandlung von Vorbehalten eindeutig der Vorbehaltsstaat bevorzugt wird, indem er die Pflichtenreduzierung als das Ziel seines Vorbehalts erreicht, ohne dass Annahme oder Einspruch durch die übrigen Vertragsparteien hierbei eine effektive Rolle spielen, überrascht es nicht, dass es nicht lange dauerte, bis die Staaten mit ihrer Praxis versuchten, von den in der WVK enthaltenen Regeln abzuweichen.334 Ziel dieses Abweichens konnte nur sein, ein wirkungsvolleres Instrument im Umgang mit Vorbehalten in die Hand zu bekommen.335 330 UN Doc. ILC(LVI) / SG / FIL / CRD.1 / Add. 1, S. 19 f., Ziff. 139; vgl. zu dieser Praxis des EGMR unten Kapitel 4, B. I. 6. 331 ILC(LVI) / SG / FIL / CRD.1 / Add. 1, S. 22, Ziff. 146, S. 26, Ziff. 153. 332 Vgl. Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fith session, UN Doc. A / 58 / 10, S. 267 ff., Ziff. 407 ff.; Report of the International Law Commission on the work of its fifty-sixth session, UN Doc. A / 59 / 10, S. 281 ff., Ziff. 296 ff. 333 Report of the International Law Commission on the work of its fifty-sixth session, UN Doc. A / 59 / 10, S. 283, Ziff. 302. 334 Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 183; vgl. hierzu auch Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 200 ff. 335 Die folgende Untersuchung kann wegen der großen Anzahl der Vorbehalte und Einsprüche nicht allumfassend vorgenommen werden. Sie beschränkt sich daher darauf, interes-

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

Einen ersten eindeutigen Versuch in dieser Hinsicht unternahm Portugal im Jahre 1994. Die Malediven waren der Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women336 unter Vorbehalt beigetreten. Nach diesem sahen sich die Malediven nur an die Bestimmungen der Frauenrechtskonvention gebunden, die ihrer Meinung nach im Einklang mit den Prinzipien der Sharia ständen. Weiterhin betrachteten sich die Malediven nicht an solche Bestimmungen gebunden, die eine Änderung der maledivischen Verfassung oder des maledivischen Rechts erfordert hätten.337 Portugal entgegnete, dass es diesen Vorbehalt als unvereinbar mit Ziel und Zweck des Vertrags und daher als unzulässig ansähe. Weiterhin brachte Portugal zum Ausdruck, dass dieser Vorbehalt daher nicht in der Lage wäre, die aus der Frauenrechtskonvention erwachsenden Verpflichtungen in irgendeiner Weise für irgendeine Vertragspartei zu ändern oder zu modifizieren.338 Portugal sprach mithin einem seiner Meinung nach wegen Verstoßes gegen den mit Art. 19 lit. c WVK wortgleichen Art. 28 Abs. 2 CEDAW unzulässigen Vorbehalt die Rechtswirkung ab. Damit entfernte sich die Reaktion Portugals von den Regeln der WVK. Hiernach wäre bei Anwendung des Art. 21 Nr. 3 WVK bei Einlegung eines Einspruchs gegen den maledivischen Vorbehalt lediglich die Nichtanwendbarkeit der strittigen Bestimmungen im Verhältnis zwischen Portugal und den Malediven die Folge gewesen.339 Die Malediven wären Portugal gegenüber also keine Verpflichtungen eingegangen, die sie nicht gewollt hätten. Portugal hingegen brachte mit seinem Einspruch die Ansicht zum Ausdruck, dass die von den Malediven gewollte Reduzierung ihrer vertraglichen Pflichten durch den Vorbehalt nicht erreicht werden können sollte. Auch Österreich wich in seiner Reaktion auf Vorbehalte von den Normen der WVK ab, indem es in Bezug auf den von den Malediven zur Frauenrechtskonvention angebrachten Vorbehalt eine Erklärung gleichen Inhalts wie die Portugals abgab.340 Einen ähnlichen Versuch der Abweichung von den Vorgaben der WVK hatte bereits ein Jahr früher Italien unternommen. Die italienische Regierung sah sich konfrontiert mit einem Vorbehalt der USA zu Art. 6 Abs. 5 des International Covenant on Civil and Political Rights.341 Hierin brachten die Vereinigten Staaten ihren sante Neuentwicklungen an Beispielen darzustellen und sich heraus kristallisierende Entwicklungstendenzen zu zeigen. 336 UNTS Bd. 1249, S. 13. 337 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 172. 338 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 179. 339 Art. 28 CEDAW regelt als spezielle Norm zu Vorbehalten zu dieser Konvention zwar die Zulässigkeit eines Vorbehalts, jedoch nicht die Rechtsfolgen eines möglichen Einspruchs. Insofern ist hier ein Zurückgreifen auf die allgemeinen Regeln nach der WVK möglich. 340 Erklärung Österreichs abgedruckt bei Hafner / Putzer, ARIEL 1 (1996), S. 256 f. 341 UNTS Bd. 999, S. 171; im Folgenden: CCPR.

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Willen zum Ausdruck, an den betreffenden Artikel insofern nicht gebunden zu sein, als dass sie sich das Recht vorbehielten, die Todesstrafe auch dann verhängen zu können, wenn ein Täter bei Begehung der Tat noch unter 18 Jahre alt war.342 Italien reagierte auf diesen Vorbehalt mit einem Einspruch. Darin wurde betont, dass Art. 6 CCPR als nicht derogierbares Recht343 nicht zum Gegenstand von Vorbehalten gemacht werden könnte. Insofern kam Italien zu dem Schluss, dass der U.S.-amerikanische Vorbehalt gegen Ziel und Zweck des Paktes verstoße. Als Konsequenz hieraus betrachtete man den Vorbehalt als nichtig.344 Diese Ausdrucksweise bedeutet, dass bereits Italien bei der Behandlung bestimmter Vorbehalte von den Regeln der WVK abwich. Der von der WVK lediglich vorgesehene „Ausklammerungseffekt“ hinsichtlich der Vertragsbestimmung, auf die sich der Vorbehalt bezieht, sollte durch die Nichtigkeit des Vorbehalts ersetzt werden. Der Vorbehalt sollte keine Wirkung entfalten und die USA aus ihm keine Vorteile ziehen. Bereits Italien legte also offenbar den Grundstein für den ein Jahr später von Portugal und Österreich gewählten Ansatz. Sehr viel früher, im Jahre 1985, hatte Mexiko einen von Mauritius ebenfalls zur Frauenrechtskonvention angebrachten Vorbehalt für gegenstandslos345 erklärt. Mauritius hatte hierin unter anderem für sich in Anspruch genommen, dass es sich nicht an Art. 11 Abs. 1 lit. b und d CEDAW sowie Art. 16 Abs. 1 lit. g CEDAW, deren Inhalt sich auf den Schutz von Arbeits- und familiären Rechten bezieht, gebunden fühlte.346 Hierin erkannte Mexiko einen Verstoß gegen Ziel und Zweck des Vertrags und damit die Unzulässigkeit des Vorbehalts gemäß Art. 28 Abs. 2 CEDAW. Es betrachtete den Vorbehalt daher als gegenstandslos.347 Auch für diese Zeit ist also bereits zumindest die Tendenz zu erkennen, von den an sich anwendbaren Regeln der WVK abzuweichen.348 In den 90er Jahren begannen auch die nordischen Staaten, sich dieser Entwicklung anzuschließen, wie eine ganze Reihe Beispiele zeigen. Die Islamische Republik Iran hatte zur Convention on the Rights of the Child 349 einen Vorbehalt des Inhalts angebracht, dass man sich nicht an solche Bestimmungen dieser Konvention gebunden fühlte, die unter anderem unvereinbar mit islamischem Recht 342 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 130. 343 Vgl. Art. 4 Abs. 2 CCPR. 344 Gewählt wurde in dieser Hinsicht die Ausdrucksweise „null and void“, Multilateral Treaties deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 132. 345 Im Originalwortlaut: „invalid“. 346 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 172. 347 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 178. 348 Hierzu kritisch Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 184, der im Abweichen von den Regeln der WVK eine Kompetenzüberschreitung der betreffenden Staaten sieht. 349 UNTS Bd. 1577, S. 3; im Folgenden: CRC oder „Kinderrechtskonvention“.

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wären.350 Der hiergegen erhobene Einspruch Finnlands aus dem Jahre 1995 fußte auf Art. 51 Abs. 2 CRC, der solche Vorbehalte für unzulässig erklärt, die mit Ziel und Zweck der Kinderrechtskonvention unvereinbar sind.351 Aus der Einsicht, dass der iranische Vorbehalt mit Ziel und Zweck der Kinderrechtskonvention nicht im Einklang stände, erklärte Finnland nicht nur seinen Einspruch an sich, sondern darüber hinaus auch, dass es den Vorbehalt als rechtlich irrelevant ansähe.352 Auch Finnland ging also entgegen der Normen der WVK von einer vollen Bindung des Irans an die Kinderrechtskonvention aus. Dänemark reagierte im selben Jahr mit einem Einspruch gegen die Vorbehalte Djibutis,353 Pakistans,354 Syriens355 und den bereits erwähnten Vorbehalt Irans zur Kinderrechtskonvention. Dieser Einspruch ging davon aus, dass die Konvention zwischen Dänemark und den Vorbehaltsstaaten „in its entirety“ in Kraft träte.356 Im Jahre 1996 erhob Dänemark einen Einspruch gegen den Vorbehalt Malaysias zur Kinderrechtskonvention.357 Dänemark erklärte, dass es diesen als unvereinbar mit Ziel und Zweck der CRC ansähe und daher als „without effect under international law.“358 Dänemark betonte also ebenfalls die volle Bindung des Vorbehaltsstaats an den Vertrag, ohne dass dies durch den Vorbehalt geändert würde.359 Der gegen denselben Vorbehalt von Finnland erhobene Einspruch bezeichnete diesen als „devoid of legal effect“.360 350 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 204. 351 Spezielle Bestimmungen zur Rechtswirkung von Vorbehalten enthält die Kinderrechtskonvention nicht. Diesbezüglich sind daher die Regeln der WVK anwendbar. 352 Finnland benutzt die Formulierung „the reservation ( . . . ) is devoid of any legal effect“, Wortlaut der Einspruchserklärung abgedruckt bei Kaukoranta, Nordic JIL 65 (1996), S. 274; denselben Wortlaut benutzte Finnland ebenso in seinem Einspruch gegen den Vorbehalt Malaysias zur Kinderrechtskonvention, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol.I), S. 236, 242. 353 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 202. 354 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 206. 355 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 207; alle erwähnten Vorbehalte hatten das Ziel, die Anwendung der Kinderrechtskonvention an das maßgebliche innerstaatliche, v. a. religiöse, Recht zu binden. 356 Einspruch Dänemarks abgedruckt bei Mikaelsen, Nordic JIL 65 (1996), S. 262; der Ausdruck „in its entirety“ bedeutet im Deutschen „in vollem Umfang“ bzw. „in seiner Gesamtheit“, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Dänemark eine volle Vertragsbindung der Vorbehaltsstaaten und damit die Wirkungslosigkeit des Vorbehalts bezweckte, vgl. MacKenzie, Pons Studienausgabe Englisch-Deutsch, S. 360. 357 Vorbehalt Malaysias abgedruckt unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 15, S. 210. 358 Einspruch Dänemarks abgedruckt bei Mikaelsen, Nordic JIL 66 (1997), S. 322. 359 Mikaelsen, Nordic JIL 66 (1997), S. 322 f. 360 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 15, S. 215; dieses gilt auch für Einsprüche Finnlands gegen Vorbehalte Qatars und

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Möglicherweise um ein Abweichen von den Regeln der WVK nicht offenkundig zu machen, entschloss sich die schwedische Regierung im Jahre 1997 zu einem etwas anderen Weg.361 Ein Vorbehalt, den man als unvereinbar mit Ziel und Zweck des Vertrags ansah, wurde nicht mehr als gegenstandslos beziehungsweise ohne rechtlichen Effekt bezeichnet. Schweden reagierte mit Einsprüchen gegen einen Vorbehalt Kuwaits zum CCPR362 sowie gegen Vorbehalte, die von Brunei Darussalam,363 Kiribati,364 Saudi-Arabien365 und Singapur366 zur Kinderrechtskonvention angebracht wurden. Letztere bezogen sich alle auf die nationale Gesetzgebung beziehungsweise religiöse Grundvorstellungen der Vorbehaltsstaaten. Die schwedische Reaktion geschah in der Weise, dass man diese Vorbehalte zunächst als unzulässig bezeichnete und erklärte, dass der betreffende Vertrag zwischen Schweden und dem Vorbehaltsstaat in Kraft träte. Hinsichtlich des kuwaitischen Vorbehalts wählte Schweden dabei die Formulierung, dass der Pakt zwischen Schweden und Kuwait „in its entirety“ in Kraft träte.367 Schweden bezog sich also wie Dänemark zwei Jahre zuvor ausdrücklich auf den gesamten Vertrag und damit offenbar auf alle hieraus erwachsenden Verpflichtungen. Insofern schien die schwedische Regierung davon auszugehen, dass der Vorbehalt keine Veränderung der Vertragspflichten bewirken könnte. Hinsichtlich der Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention betonte Schweden ebenfalls deren Nichtvereinbarkeit mit Ziel und Zweck des Vertrags. Es erklärte hierzu, dass der Vertrag zwischen Schweden und dem jeweiligen Vorbehaltsstaat in Kraft träte und zwar „without the reserving State benefitting from the reservation.“368 Dieselbe Formulierung gebrauchte Schweden auch in seinem Einspruch gegen einen Vorbehalt Qatars zum Optional Protocol to the Convention on the Rights of the Child on the sale of children, child prostitution and child pornography.369 Ebenso reagierte Norwegen.370 Schweden und Norwegen Singapurs, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 15, S. 215; Vorbehalte abgedruckt unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 15, S. 211, 212; vgl. zu weiterer Praxis Finnlands in dieser Hinsicht Kaukoranta, Nordic JIL 66 (1997), S. 338 f. 361 Vgl. Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 184. 362 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 133. 363 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 220. 364 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 224. 365 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 226. 366 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 226. 367 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 143. 368 Zitiert nach Magnuson, Nordic JIL 67 (1998), S. 343; vgl. Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol. I), S. 245. 369 A / RES / 54 / 263 Annex II vom 16. März 2001.

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

versuchten also, ähnlich wie bereits Portugal es getan hatte, den Vorbehalt nicht offen für unbeachtlich zu erklären. Man wollte durch die bei Erhebung des Einspruchs gewählte Formulierung jedoch zumindest erreichen, dass der Vorbehalt keine Veränderung der vertraglichen Verpflichtungen, auch nicht für den Vorbehaltsstaat, bewirken konnte. In dieser Hinsicht äußerte sich 1997 stellvertretend für die nordischen Staaten auch der schwedische Vertreter im 6. Committee der Generalversammlung Saland. Er stellte zunächst klar, dass die nordischen Staaten die Ansicht unterstützten, dass das System der WVK zur Behandlung von Vorbehalten weiterhin das einzig einheitliche darstellte, betonte aber auch, dass dieses System nicht frei von Lücken, insbesondere im Hinblick auf Menschenrechtsschutzverträge, wäre. Wenn ein Staat zu solchen Verträgen mit Ziel und Zweck des Vertrags unvereinbare Vorbehalte anbrächte, so sollte nach dem nordischen Ansatz ein solches Verhalten nicht dazu führen können, dass der Vorbehaltsstaat einerseits Vertragspartei würde, gleichzeitig aber zentrale hieraus erwachsende Verpflichtungen für sich ausschlösse. Unzulässig sollten nach Ansicht des schwedischen Vertreters insbesondere Vorbehalte sein, die einen generellen Charakter hätten und sich auf nationale, möglicherweise religiös motivierte Gesetzgebung stützen, sowie Vorbehalte zu zentralen Normen eines Vertrags. Daher gingen nach seiner Aussage die nordischen Staaten davon aus, dass solche Vorbehalte keine Veränderung der vertraglichen Verpflichtungen erzeugen sollten, und entschlossen sich, Einsprüche mit der bezeichneten Formulierung zu versehen.371 Ebenfalls einen Einspruch dieses Wortlauts erklärte Schweden gegen einen Vorbehalt Vietnams zur Single Convention on Narcotic Drugs.372 Insbesondere auch andere nordische Staaten führten diesen Ansatz danach weiter. Im Jahre 1997 hatte Guatemala bei Ratifizierung der WVK unter anderem einen Vorbehalt zu deren Art. 38 sowie Art. 27 angebracht. Guatemala erklärte darin, dass es die Verpflichtungen aus Art. 38 WVK nur insofern einhalten würde, als dass dieses im nationalen Interesse stünde. Hinsichtlich Art. 27 WVK gab Gua370 Multilateral Treaties deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 21 (vol. I), S. 318; wortgleicher Einspruch Norwegens abgedruckt unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 21 (vol. I), S. 317; der Vorbehalt Qatars findet sich unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 21 (vol. I), S. 316. 371 Erklärung des schwedischen Vertreters abgedruckt bei Magnuson, Nordic JIL 67 (1998), S. 349 f.; siehe auch Stellungnahme des schwedischen Vertreters im 6. Committee der Generalversammlung Saland, dabei für die nordischen Staaten sprechend, der das System der WVK bei der Anwendung auf Menschenrechtsschutzverträge als lückenhaft und kompliziert bezeichnet, GAOR, 52nd Session, 6th Committee, 21st Meeting (28. November 1997), S. 2, Ziff. 8 ff., UN Doc. A / C.6 / 52 / SR.21; ausdrücklich erwähnt ist der Verweis auf den Terminus „without benefiting“ allerdings lediglich in der Fassung bei Magnuson, Saland benutzte die Formulierung „in its entirety“, S. 3, Ziff. 12. 372 UNTS Bd. 976, S. 105; Vorbehalt Vietnams abgedruckt unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 320; Einspruch Schwedens abgedruckt unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 320.

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temala zu verstehen, dass man diesen nur im Hinblick auf einfache Gesetze, nicht aber im Hinblick auf die Verfassung Guatemalas anwenden wollte.373 Daraufhin entschloss sich Dänemark, in derselben Weise zu reagieren, wie Schweden es ein Jahr zuvor getan hatte. Dänemark erklärte daher, dass der Vorbehalt Guatemalas sich auf zentrale Normen der WVK bezöge. Würde dieser angenommen, hätte dies zur Folge, dass etablierte, universell akzeptierte Rechtssätze in Frage gestellt würden. Konsequenterweise bezeichnete Dänemark den Vorbehalt Guatemalas als nicht vereinbar mit Ziel und Zweck des Vertrags und erklärte: „This objection does not preclude the entry into force of (the said Convention) between Guatemala and Denmark and will thus enter into force between Guatemala and Denmark without Guatemala benefitting from these reservations.“374 Interessant ist hierbei besonders, der Einsatz des Wortes „thus“. Dieser lässt darauf schließen, dass Dänemark davon ausging, dass sein Einspruch gegen den Vorbehalt mit der Begründung, dieser widerspräche Ziel und Zweck der WVK, automatisch zur Folge hätte, dass die WVK zwischen Dänemark und Guatemala in Kraft träte, ohne dass Guatemala den erhofften Vorteil des Vorbehalts genießen könnte.375 Eine Erklärung, ebenfalls bezogen auf den Vorbehalt Guatemalas zur WVK, gab auch Finnland ab. Hierin wurde jetzt ebenfalls die Formulierung verwandt, dass die WVK zwischen Guatemala und Finnland in Kraft träte, „thus ( . . . ) without Guatemala benefitting from these reservations.“376 Dieselbe Formulierung benutzte Finnland im Jahre 1998 in seinen Einsprüchen gegen einen Vorbehalt Omans zur Kinderrechtskonvention, der sich unter anderem auf in Oman geltendes islamisches Recht bezog.377 Das gleiche gilt für Vorbehalte Bangladeshs zum CESCR,378 zur Antifolterkonvention379 sowie zur Convention on Consent to Marriage, Minimum Age for Marriage and Registration of Marriages,380 die sich ebenfalls auf nationales Recht bezogen. Auch hierauf antwortete Finnland ebenso wie Schweden im Jahre 1999 mit Einsprüchen, die die Without373 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 814. 374 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 816; siehe auch Klingenberg, Nordic JIL 68 (1999), S. 164 f. 375 Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 185; vgl. MacKenzie, Pons Studienausgabe Englisch-Deutsch, S. 1263 f. 376 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 816; siehe auch Kaukoranta, Nordic JIL 68 (1999), S. 182 f. 377 Vorbehalt Omans abgedruckt unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 225 f.; Einspruch Finnlands abgedruckt bei Kaukoranta, Nordic JIL 68 (1999), S. 182. 378 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol.I), S. 121 f. 379 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol.I), S. 212. 380 UNTS Bd. 521, S. 231; Vorbehalt abgedruckt unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol. II), S. 91 f.

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

Benefitting-Formulierung enthielten.381 In derselben Weise hatte Schweden bereits ein Jahr zuvor mit Einsprüchen auf die Vorbehalte Saudi-Arabiens382 und Jemens383 zur Rassendiskriminierungskonvention, des Libanons zur Frauenrechtskonvention384 und Omans zur Kinderrechtskonvention385 reagiert.386 Im Jahre 2000 erhob Dänemark gegen einen Vorbehalt Nigers zur Frauenrechtskonvention387 Einspruch, in dem es erneut betonte, dass die Konvention zwischen sich und Niger „in its entirety“ in Kraft träte.388 Finnland reagierte auf denselben Vorbehalt mit einem Einspruch, der die Formulierung „without benefitting from the reservation“ enthielt.389 Ferner erhob Finnland in derselben Weise Einspruch gegen einen Vorbehalt Azerbaijans390 zum Second Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights, Aiming at the Abolition of the Death Penalty,391 ebenso gegen einen Vorbehalt Bangladeshs392 zur Antifolterkonvention.393 Auch Schweden erhob gegen den Vorbehalt Nigers zur Frauenrechts381 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol.I), S. 127; 215, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol. II), S. 93; siehe auch Sotaniemi, Nordic JIL 69 (2000), S. 343 ff.; wortgleicher Einspruch Schwedens, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol. I), S. 128 f.; 216, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol. II), S. 93; vgl. Magnuson, Nordic JIL 69 (2000), S. 379 f. 382 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 104. 383 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 106. 384 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 183. 385 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 225 f. 386 Vgl. Magnuson, Nordic JIL 68 (1999), S. 203 f.; Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 109, 192 f., 223, wobei Schweden entweder die Formulierung „without ( . . . ) benefitting“ oder „cannot alter or modify“ benutzte. 387 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 19 (vol. I), S. 235. 388 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 19 (vol. I), S. 239; vgl. Klingenberg, Nordic JIL 70 (2001), S. 516 f. 389 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 19 (vol. I), S. 240; vgl. Sotaniemi, Nordic JIL 70 (2001), S. 525. 390 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 19 (vol. I), S. 303. 391 A / RES / 44 / 128 vom 15. Dezember 1989, Annex; Einspruch Finnlands abgedruckt bei Sotaniemi, Nordic JIL 70 (2001), S. 524. 392 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 19 (vol. I), S. 256. 393 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 19 (vol. I), S. 259 f.

F. Entwicklungen nach Inkrafttreten der WVK

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konvention einen entsprechenden Einspruch.394 In derselben Weise reagierte es auf einen Vorbehalt Qatars395 zur Antifolterkonvention.396 Diese Staatenpraxis setzte sich im Jahre 2001 fort.397 Schweden erklärte einen Einspruch gegen die Vorbehalte Botswanas zum CCPR398 und zur Antifolterkonvention.399 Darin betonte es erneut, dass die Konventionen zwischen Schweden und Botswana in Kraft träten und zwar „without Botswana benefiting from its reservation.“400 Entsprechend verfuhren Dänemark401 und Norwegen.402 Auch in seinem Einspruch gegen einen Vorbehalt San Marinos403 zur Convention Against Illicit Traffic in Narcotic Drugs and Psychotropic Substances404 brachte Schweden zum Ausdruck, dass die Konvention zwischen den beiden Staaten in Kraft träte, „without San Marino benefiting from its reservation.“405 Ferner nutzte Finnland in seinen Einsprüchen gegen die Vorbehalte Qatars406 und Bangladeshs407 zur Antifolterkonvention dieselbe Formulierung.408 Schließlich verwandte Finnland die 394 Vgl. Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 19 (vol. I), S. 243 f.; Magnuson, Nordic JIL 70 (2001), S. 576. 395 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 19 (vol. I), S. 258. 396 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 19 (vol. I), S. 261.; vgl. Magnuson, Nordic JIL 70 (2001), S. 576. 397 Eine Übersicht über die Einsprüche Schwedens zu verschiedenen Vorbehalten findet sich bei Ehrenkrona, Nordic JIL 72 (2003), S. 79 f.; hier sollen nur die wichtigsten behandelt werden. 398 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 20 (vol. I), S. 184. 399 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 20 (vol. I), S. 272. 400 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 20 (vol. I), S. 198, 278 f.; vgl. Ehrenkrona, Nordic JIL 72 (2003), S. 80. 401 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 20 (vol. I), S. 193, 275; vgl. Klingenberg, Nordic JIL 72 (2003), S. 557 f. 402 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 20 (vol. I), S. 196, 277. 403 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 20 (vol. I), S. 422. 404 ILM 28 (1989), S. 497. 405 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 20 (vol. I), S. 425; ebenso war Schweden bereits mit einem Vorbehalt Vietnams zur selben Konvention verfahren, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 20 (vol. I), S. 423, 425. 406 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 20 (vol. I), S. 274. 407 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 20 (vol. I), S. 272. 408 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 20 (vol. I), S. 276; vgl. Sotaniemi, Nordic JIL 72 (2003), S. 85 f.

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Kap. 2: Entwicklung des Rechts zur Behandlung von Vorbehalten

Without-Benefitting-Formulierung auch in seinem Einspruch gegen den Vorbehalt Saudi-Arabiens409 zur Frauenrechtskonvention.410 Ebenso verfuhr Österreich, benutzte dabei jedoch die Formulierung, dass die Konvention zwischen den beiden Staaten „in its entirety“ in Kraft träte.411 Auf diese Weise reagierte es auch auf einen Vorbehalt Nordkoreas.412 Im Jahre 2002 knüpfte Österreich nahtlos an diese Praxis mit dem Einspruch an, den es gegen einen Vorbehalt Mauretaniens,413 ebenfalls zur Frauenrechtskonvention, erklärte.414 Dänemark hielt denselben Vorbehalt in seinem Einspruch für „without effect under international law.“415 Weiterhin erklärte Dänemark in einem entsprechenden Einspruch, dass die Frauenrechtskonvention zwischen sich und Nordkorea trotz dessen Vorbehalts416 „in its entirety“ in Kraft bliebe.417 Die Without-Benefitting-Formulierung wiederum nutzte Finnland in seinem Einspruch gegen die erwähnten Vorbehalte Saudi-Arabiens, Nordkoreas und Mauretaniens zur Frauenrechtskonvention.418 In der neueren Staatenpraxis lässt sich nach den geschilderten Fällen somit zumindest innerhalb der letzten zehn Jahre eine starke regionale Tendenz erkennen, von den Regeln der WVK abzuweichen. Die an dieser Praxis festhaltenden Staaten gehen dabei in der Weise vor, dass sie einen Vorbehalt zunächst als unvereinbar mit Ziel und Zweck eines Vertrags einstufen. Hieran anschließend nutzen die Staaten das auch in der WVK vorgesehene Instrument des Einspruchs ohne Ausschlusswirkung. Allerdings streben die einsprechenden Staaten eine andere Rechtswirkung des Vorbehalts an als in Art. 21 Abs. 3 WVK vorgesehen. Der Wille der Staaten richtet sich vielmehr darauf, den Vorbehalt rechtlich irrelevant zu machen und damit den vom Vorbehaltsstaat gewollten einseitigen Vorteil im Sinne einer 409 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN SER.E / 20 (vol. I), S. 248. 410 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN SER.E / 20 (vol. I), S. 253; vgl. Sotaniemi, Nordic JIL 72 (2003), S. 84 f. 411 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN SER.E / 20 (vol. I), S. 251. 412 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN SER.E / 20 (vol. I), S. 243, 251. 413 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN SER.E / 21 (vol. I), S. 231. 414 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN SER.E / 21 (vol. I), S. 236 415 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN SER.E / 21 (vol. I), S. 237; vgl. Klingenberg, Nordic JIL 72 (2003), S. 557 f. 416 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN SER.E / 21 (vol. I), S. 228. 417 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN SER.E / 21 (vol. I), S. 237. 418 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN SER.E / 21 (vol. I), S. 239; vgl. Sotaniemi, Nordic JIL 72 (2003), S. 563 f.

Doc. ST / LEG / Doc. ST / LEG / Doc. ST / LEG / Doc. ST / LEG / Doc. ST / LEG / Doc. ST / LEG / Doc. ST / LEG / Doc. ST / LEG / Doc. ST / LEG / Doc. ST / LEG /

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Pflichtenreduzierung aufzuheben. Dieses geschieht unter Benutzung verschiedener Formulierungen wie „is devoid of any legal effect“, „is null and void“, „cannot alter or modify“ oder der Vorbehalt trete in Kraft, „without (the reserving state) benefitting from the reservation“. Insbesondere die letzte Formulierung scheint sich unter den Vertretern dieser Praxis, dabei vor allem bei den nordischen Staaten, zunehmend durchzusetzen. Auch das Ministerkomitee des Europarats hat sie Staaten als Reaktionsmöglichkeit auf einen Vorbehalt empfohlen.419 Besonders erkennbar ist weiterhin, dass es sich bei den Vorbehalten, zu denen sich eine solche Praxis etablieren konnte, vor allem um solche handelt, die zu Menschenrechtsschutzverträgen oder zumindest zu normativen Verträgen wie der WVK angebracht wurden, da hier offenbar ein besonderes Bedürfnis für eine Weiterentwicklung des Rechts der Vorbehalte gesehen wird.420 Neben den hier erwähnten Staaten hat auch das Human Rights Committee einen solchen Ansatz favorisiert.421 Diese sich neben der WVK zu etablieren beginnende Staatenpraxis ist allerdings größtenteils auf europäische Staaten begrenzt.422 Ob man in dieser Entwicklung bereits den Beginn einer Veränderung des Gewohnheitsrechts zu Behandlung insbesondere der Rechtswirkung unzulässiger Vorbehalte entdecken kann, wird daher später noch genauer zu untersuchen sein. Festzuhalten bleibt aber, dass die Staatenpraxis nicht vollständig in Übereinstimmung mit dem Vorbehaltsrecht der WVK ist.

419 Recommendation No. R (99) 13, of the Committee of Ministers to Member States on Responses to Inadmissible Reservations to International Treaties, 670. Meeting of the Ministers’ Deputies, 18. Mai 1999. 420 Vgl. Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 184 f.; Erklärung des schwedischen Vertreters Magnuson im 6. Committee der Generalversammlung (sprechend für die nordischen Staaten), Wortlaut der Erklärung abgedruckt bei Kaukoranta / Lehto, Nordic JIL 68 (1999), S. 209, sowie unter GAOR, 53rd Session, 6th Committee, 17th Meeting (29. Oktober 1998), S. 2 f., Ziff. 1 ff., insbesondere Ziff. 6, UN Doc. A / C.6 / 53 / SR.17. 421 HRC, General Comment No. 24, UN Doc. CCPR / C / 21 / Rev.1 / Add. 6, S. 7, Ziff. 18. 422 Neben der Anwendung durch europäische Staaten findet sich lediglich das Beispiel Mexikos.

Kapitel 3

Die Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts Wie schon in der dieser Arbeit vorangestellten Einleitung festgestellt wurde, besteht Reformbedarf für das geltende Recht nur, wenn und so weit wie nachgewiesen werden kann, dass bei seiner Anwendung Probleme entstehen, die es dem Rechtsanwender unmöglich machen, zu sinnvollen Ergebnissen zu gelangen. Nur in solchen Fällen darf über eine vom geltenden Recht abweichende Lösungsmöglichkeit nachgedacht werden. Es ist daher zunächst festzustellen, in welchem Maße das geltende Recht zur Behandlung von Vorbehalten so angewandt werden kann, dass sinnvolle Ergebnisse erzielt werden, und wo dies nicht der Fall ist. Im Anschluss müssen die Besonderheiten der Fälle identifiziert werden, in denen keine sinnvollen Ergebnisse zu gewinnen waren. Die Erarbeitung eines möglichen Reformvorschlags muss dann auf diese Besonderheiten Rücksicht nehmen.

A. Festlegung der Untersuchungsmethode Bevor mit der Untersuchung der Anwendbarkeit des geltenden Rechts begonnen werden kann, muss zunächst festgelegt werden, welche Fälle in dieser Frage unterschieden werden müssen. Da es sich bei Vorbehalten um einseitige Erklärungen zu völkerrechtlichen Verträgen handelt,1 bietet es sich an, die Untersuchung an verschiedenen Vertragskategorien zu orientieren. Dieses erscheint umso logischer, als die WVK selbst die rechtliche Behandlung von Vorbehalten zum Teil an besondere Voraussetzungen knüpft, je nachdem, um welche Art Vertrag es sich handelt.2 Es wird also zunächst eine möglichst vollständige Darstellung der denkbaren Vertragstypen zu leisten sein.3 An dieser Stelle können bereits die Vertragskategorien von weiteren Untersuchungen ausgeschlossen werden, unter die sich keine Menschenrechtsschutzverträge fassen lassen.4 Im Anschluss an diese Darstellung ist Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., 3. Kapitel, § 14, Rn. 6. Vgl. Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 20 Abs. 3 WVK; Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 207. 3 Vgl. zu den verschiedenen Vertragskategorien Bernhardt, in: ders., EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 928 f. 4 Auch wenn bei solchen Vertragstypen möglicherweise ebenfalls Reformbedarf besteht, so würde eine Behandlung der damit verbundenen Probleme den Umfang dieser Arbeit über1 2

B. Vertragskategorien

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festzustellen, inwieweit sich die Regeln des geltenden Rechts auf Vorbehalte zu Verträgen der einzelnen Kategorien anwenden lassen, ohne zu sinnwidrigen Ergebnissen zu führen. Da die WVK mittlerweile die Rechtsquelle ist, die das Vorbehaltsrecht zumindest maßgeblich prägt,5 sollen ihre Regelungen dieser Untersuchung zugrunde gelegt werden. Die dargestellten neuen Ansätze in der Staatenpraxis sowie die Vorschläge aus der ILC können für sich noch keine Rechtsgültigkeit beanspruchen. Sie können daher bei der Untersuchung der Anwendbarkeit des geltenden Rechts unbeachtet bleiben. Auf sie soll vielmehr erst bei der Suche nach möglichen Lösungen für nach dem geltenden Recht unlösbare Fälle eingegangen werden.

B. Vertragskategorien I. Bilaterale Verträge Vorbehalte zu bilateralen Verträgen gelten nach einhelliger Meinung als modifizierte Vertragsangebote.6 Der Vertragsinhalt ist dabei unbeachtlich. Wird ein Vorbehalt zu einem bilateralen Vertrag angenommen, so kommt der Vertrag mit dem Inhalt des Vorbehalts zustande. Im Falle einer Ablehnung entstehen keinerlei vertragliche Beziehungen.7 Da insofern Einigkeit besteht, ist eine Darstellung der Vorbehalte zu dieser Vertragskategorie hier nicht nötig. Thema dieser Arbeit ist vor allem die Frage der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen. Diese sind multilateral und nicht bilateral strukturiert, so dass auch aus diesem Grund die Beschäftigung mit der Frage der Vorbehalte zu bilateralen Verträgen unterbleiben kann.

II. Plurilaterale Verträge Die WVK selbst definiert zwei Arten spezieller Vertragstypen. Einer dieser beiden zeichnet sich dadurch aus, dass aus der begrenzten Zahl der Verhandlungsstaasteigen. Es wird hier daher darauf verzichtet, auch Reformvorschläge zu Vertragskategorien, unter die sich Menschenrechtsschutzverträge nicht fassen lassen, zu erarbeiten. Insbesondere Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen haben in den letzten Jahren für große Diskussionen gesorgt, daher soll vor allem diese Art des völkerrechtlichen Vertrags in dieser Arbeit untersucht werden. 5 s. o. Kapitel 2, E. 6 Hylton, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 436. 7 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., Kapitel 3, § 14, Rn. 7; Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 106; Elias, S. 28 f.; Holloway, S. 477; Wildhaber, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 951; Kimminich / Hobe, S. 215.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

ten sowie aus Ziel und Zweck des Vertrags hervorgeht, dass die Anwendung des Vertrags in seiner Gesamtheit zwischen allen Vertragsparteien eine wesentliche Voraussetzung für die Zustimmung jeder Vertragspartei, durch den Vertrag gebunden zu sein, ist.8 Bereits aus dieser Definition ergibt sich, dass die Besonderheit dieser Verträge in der kleinen Anzahl der Vertragsstaaten liegt. Aus diesem Grunde hat sich für diesen Vertragstyp die Bezeichnung „geschlossener Vertrag“ oder „beschränkt multilateraler Vertrag“ eingebürgert. Daneben ist die Bezeichnung „plurilateraler Vertrag“ gebräuchlich.9 Die Entwicklung dieses speziellen Vertragstyps geht zurück auf den ersten Bericht, den Sir Gerald Fitzmaurice im Jahre 1956 der ILC vorlegte. Sir Gerald hält seine Definition allerdings wesentlich knapper und nennt die plurilateralen Verträge in einem Atemzug mit den bilateralen Verträgen.10 Ein plurilateraler Vertrag ist nach Fitzmaurice ein Vertrag „made between a limited number of States for purposes specially interesting those States.“11

Nach Meinung des damaligen Berichterstatters liegt die Besonderheit der plurilateralen Verträge also nicht nur in der begrenzten Anzahl der Vertragsstaaten, sondern darin, dass der Grund des Vertrags in einem besonderen Interesse liegt, das gerade diesen Staaten gemein ist. Die in der WVK festgeschriebene Definition weicht hiervon insofern ab, als dass sie das besondere die Staaten einende Interesse nicht ausdrücklich aufgreift. Ihre Definition des plurilateralen Vertrags ist in dieser Hinsicht daher als unglücklich zu bezeichnen.12 Allerdings lässt sich zumindest an der Tatsache, dass nach der WVK die Anwendung des Vertrags in seiner Gesamtheit für alle Vertragsparteien wesentlich ist für die Zustimmung zu ihrer völkerrechtlichen Bindung, erkennen, dass auch die WVK von einem besonderen den Vertragsstaaten gemeinen Interesse ausgeht.13 Hieraus erklärt sich auch der Umstand, dass in Art. 20 Abs. 2 WVK nicht die Formulierung „Vertragsstaaten“, sondern der Terminus „Verhandlungsstaaten“ verwendet wird. Diese Unterscheidung wirkt zunächst verunsichernd, da die Situation denkbar ist, dass ein Vertrag zwar von einer kleinen Anzahl von Staaten verhandelt wird, es aber trotzdem der gesamten Staatengemeinschaft offen steht, Partei zu werden.14 Dies würde nicht mehr dem Wesen des geschlossenen beziehungsweise plurilateralen Vertrags entsprechen. Das Erfordernis eines besonderen gerade die (Verhandlungs-)Staaten einenden Interesses an der Gesamtanwendung des Vertrags wurde daher notwendig, um Art. 20 Abs. 2 WVK. Elias, S. 33; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 403; Verdross / Simma, § 538. 10 Vgl. Art. 38 des Entwurfs Sir Geralds, YILC 1956 II, S. 115; Dehaussy, in: En Hommage à Paul Guggenheim, S. 307. 11 Art. 38 des Entwurfs, YILC 1956 II, S. 115. 12 Hilpold, AVR 34 (1996), S. 403. 13 Vgl. Art. 20 Abs. 2 WVK. 14 Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 185. 8 9

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den Charakter des geschlossenen Vertrags eindeutig zu definieren.15 Es ist daher berechtigt, die in der WVK enthaltene Definition des plurilateralen Vertrags als Fortsetzung des Ansatzes Sir Geralds zu sehen.16 Der Grund für die Begrenzung der Anzahl der Vertragsstaaten liegt beim plurilateralen Vertrag darin, dass der Schutz der treaty integrity hier besonders wichtig ist. Solche Verträge zeichnen sich durch eine besonders komplizierte Pflichtenstruktur aus. Im Falle eines Vorbehalts könnte dieses System von Verpflichtungen und damit korrespondierenden Rechten empfindlich gestört oder komplett aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Dies würde nicht vereinbar mit Ziel und Zweck des Vertrags sein.17 Deshalb entschloss man sich, in die WVK spezielle Regelungen für Vorbehalte zu solchen Verträgen aufzunehmen, um so die besondere Bedeutung eines umfassenden Konsenses unter den Vertragsstaaten hervorzuheben.18 Art. 20 Abs. 2 WVK ist insofern eine konsequente Weiterentwicklung des Gedankens von Art. 19 lit. c WVK für den speziellen Fall des plurilateralen Vertrags. Allerdings dürfte es immer wieder zu Schwierigkeiten bei der Untersuchung kommen, ob ein Vertrag einen plurilateralen Charakter aufweist oder nicht. Von einigen Autoren wurden daher Bemühungen unternommen, präzisere Kriterien zur Definition des plurilateralen Vertrags zu formulieren. So schlägt Renata Szafarz vor, Verträge als plurilateral einzustufen, die die folgenden Kriterien erfüllen: a) Der Vertrag wird von einigen oder in etwa einem Dutzend Staaten verhandelt; b) der Vertrag kann erst nach der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden aller Verhandlungsstaaten in Kraft treten; c) der Vertrag hat grundsätzlich einen geschlossenen Charakter, zumindest ist der Beitritt eines Staates nur mit der Zustimmung aller Vertragsparteien möglich; d) der Vertrag kann nur mit Zustimmung aller Vertragsparteien geändert werden; e) sofern der Vertrag ein Vertragsorgan einsetzt, können dessen Beschlüsse nur einstimmig gefasst werden; f) der Vertrag enthält keine Bestimmungen über die Annahme von Vorbehalten, die von dem Inhalt des Art. 20 Abs. 2 WVK abweichen (mit Ausnahme der Einstimmigkeit); g) ein Drittstaat kann nur dann Vertragspartei werden, wenn er alle bis dahin erfolgten Vertragsänderungen übernimmt; 15 16 17 18

Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 185 f.; vgl. auch Kühner, S. 161 f.; Horn, S. 123. Hilpold, AVR 34 (1996), S. 403; vgl. auch Gillespie, EJIL 14 (2003), S. 993. Horn, S. 123; Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 186; Kühner, S. 163. Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 186.

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h) die Präambel oder andere Vertragsbestimmungen betonen, dass die Vereinheitlichung des Verhaltens oder der Verpflichtungen der Vertragsparteien Ziel und Zweck des Vertrags ist.19 Szafarz ist darin zuzustimmen, dass wohl niemand ernsthaft bestreiten kann, dass ein Vertrag, der alle diese acht Kriterien erfüllt, plurilateralen Charakter hat.20 Allerdings bleibt die Frage offen, ob nicht auch Verträge, die diese Eigenschaften nicht vollständig aufweisen, plurilateral sein können. Einigkeit besteht in der Hinsicht, dass es Vertragsformen gibt, die eindeutig plurilateral sind. Plurilaterale Verträge treten vor allem in Gestalt regionaler Wirtschaftsabkommen auf oder regeln die Probleme, die zwischen den verschiedenen Anrainerstaaten eines Flusslaufs entstehen können.21 Auch Verträge über die Nutzung gemeinsamer Einrichtungen gehören zu dieser Kategorie.22 Weiterhin kann man die Frage stellen, ob auch regionale Menschenrechtsabkommen plurilaterale Verträge sein können. Auch sie richten sich zumindest nur an einen Teil der Staaten als mögliche Vertragsparteien. Diese Frage wird in der relevanten Literatur bislang weitgehend ignoriert.23 Sofern dies der Fall ist, würden für Vorbehalte zu solchen Verträgen die strengeren Regeln für den plurilateralen Vertrag gelten. Auf die Eigenschaft als regionale Menschenrechtsschutzverträge sind dabei vor allem die EMRK, die American Convention on Human Rights „Pact of San José, Costa Rica“24 sowie die African Charter on Human and Peoples‘ Rights25 zu untersuchen. Die Arab Charter on Human Rights26 ist bislang nicht in Kraft getreten. Ob dies jemals der Fall sein wird, bleibt angesichts der Tatsache, dass auch 10 Jahre nach Verabschiedung dieser Konvention keine Ratifikation vorliegt, fraglich.27 Insofern soll eine Betrachtung dieses Vertrags unterbleiben. Die EMRK enthält mit Art. 57 einen speziellen Vorbehaltsartikel. Hiernach sind Staaten berechtigt, bei Unterzeichnung oder Ratifikation der Konvention einen Vorbehalt zu einzelnen Konventionsbestimmungen mit der Begründung zu erklären, dass ein zu dieser Zeit in ihrem Hoheitsgebiet geltendes Gesetz nicht mit der Szafarz, PYIL 3 (1970), S. 304 f.; vgl. Kühner, S. 164. Szafarz, PYIL 3 (1970), S. 305. 21 Wold, Colorado JIELP 14 (2003), S. 62 f.; Horn, S. 123; Ruda, RdC 146 (1975 III,) S. 186. 22 Wildhaber, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 950; Kühner, S. 163. 23 So lehnt es z. B. Liesbeth Lijnzaad in ihrer ansonsten umfangreichen Untersuchung schlicht ab, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen, Lijnzaad, S. 42. 24 UNTS Bd. 1144, S. 123; im Folgenden: AMRK oder „Amerikanische Menschenrechtskonvention“. 25 Im Folgenden: AfrMRK oder „Afrikanische Menschenrechtskonvention“, abgedruckt unter HRLJ 7 (1986), S. 403 ff. 26 Englische Übersetzung abgedruckt unter HRLJ 18 (1997), S. 151 ff. 27 Ein Hinweis auf diesen Vertrag ist mittlerweile nicht einmal mehr auf den Internetseiten der Arabischen Liga zu finden (www.arableagueonline.org). Es finden sich weiterhin auch keine Hinweise auf mögliche Ratifikationen, die über den 30. Juni 1997 hinausgehen. 19 20

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betreffenden Konventionsbestimmung übereinstimmt. Eine Bestimmung über die Annahme von oder den Einspruch gegen Vorbehalte findet sich in der EMRK nicht. Eine zentrale Eigenschaft des plurilateralen Vertrags ist, dass sich in ihm keine Bestimmung findet, die im Hinblick auf die Annahme von Vorbehalten von dem Inhalt des Art. 20 Abs. 2 WVK abweicht. Insofern ist Szafarz beizupflichten. Die Anwendung des Vertrags in seiner Gesamtheit ist nach dieser Bestimmung eines der zwei wesentlichen Merkmale des plurilateralen Vertrags. Ein Vorbehalt hat dagegen den Effekt, die Anwendung des Vertrags im Hinblick auf den Vorbehaltsstaat zu begrenzen. Dies darf nur dann möglich sein, wenn ein solches Vorgehen durch alle Vertragsparteien gebilligt wird. Wenn nun die EMRK keine Bestimmung enthält, die auf Annahme oder Einspruch eingeht, so scheint das Erfordernis, dass ein Vertrag keine von Art. 20 Abs. 2 WVK abweichenden Bestimmungen enthalten darf, zunächst erfüllt zu sein. Allerdings erlaubt Art. 57 EMRK das Anbringen von Vorbehalten einer bestimmten Kategorie. Wenn dies ausdrücklich geschieht, so kann man davon ausgehen, dass bei solchen Vorbehalten eine Annahme durch die übrigen Vertragsparteien nicht nötig ist. Ein Vorbehalt, der vom Vertrag selbst als erlaubt deklariert wird, ist zulässig, egal ob er von anderen Vertragsparteien angenommen wird.28 Insofern weicht die EMRK hier indirekt doch von den Bestimmungen des Art. 20 Abs. 2 WVK ab. Die Annahme eines Vorbehalts durch alle übrigen Vertragsparteien wird für bestimmte Vorbehalte nicht gefordert. Aus diesem Grunde ist es nicht möglich, die EMRK als plurilateralen Vertrag im Sinne des Art. 20 Abs. 2 WVK anzusehen. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention hingegen enthält keine speziellen Regelungen zu Vorbehalten. Sie erklärt ausdrücklich die Regeln der WVK für anwendbar.29 Allerdings enthält die AMRK Bestimmungen, in denen Staaten eine Auswahlmöglichkeit gegeben wird, ob sie den Vertrag insgesamt oder reduziert für sich zur Anwendung bringen wollen. So macht Art. 45 Abs. 1 AMRK die Möglichkeit von Staatenbeschwerden vor der Inter-Amerikanischen Kommission für Menschenrechte von einer entsprechenden fakultativen Unterwerfungserklärung der Staaten abhängig. Weiterhin ist auch die Zuständigkeit des Inter-Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte in allen die Auslegung der Konvention betreffenden Angelegenheiten von einer solchen Unterwerfungserklärung abhängig.30 Diese kann wiederum selbst nicht nur unbedingt, sondern auch beschränkt auf einen bestimmten Zeitraum, bestimmte Fälle oder unter der Bedingung der Gegenseitigkeit abgegeben werden.31 Bei der Nichtabgabe beziehungsweise der Beschränkung solcher Erklärungen handelt es sich nicht um Vorbehalte im eigentlichen Sinne. Die Staaten schließen hiermit für sich keine Verpflichtungen aus, die sie nach dem Vertragstext eingehen müssen, sondern machen lediglich nicht von einer Möglichkeit 28 29 30 31

Vgl. Art. 20 Abs. 1 WVK; Elias, S. 31 f. Art. 75 AMRK. Art. 62 Abs. 1 AMRK. Art. 62 Abs. 2 AMRK.

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der Ausweitung vertraglicher Verpflichtungen Gebrauch. Allerdings zeigt dieser Umstand, dass es den Vertragsstaaten der AMRK möglich ist, den Vertrag nicht in seiner nach dem Vertragstext vorgesehenen vollständigen Gesamtheit zu akzeptieren. Dabei ist die Wirkung dieser Pflichtenreduzierung nicht von dem Verhalten anderer Vertragsparteien abhängig.32 Wenn es aber das Wesen des plurilateralen Vertrags ist, nur in seiner Gesamtheit angewandt zu werden und eine Pflichtenreduzierung nur bei einhelligem Konsens aller Vertragsparteien zulässig ist, so spricht dies dagegen, die AMRK als plurilateralen Vertrag zu bezeichnen. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die WVK im Hinblick auf die Frage, ob ein Vertrag die Kriterien des Art. 20 Abs. 2 WVK erfüllt, eng auszulegen ist,33 ist insofern davon auszugehen, dass auch die AMRK kein plurilateraler Vertrag ist. Hierfür spricht schließlich auch die Tatsache, dass es unter der AMRK möglich ist, dass ein Teil der Vertragsstaaten für sich eine Änderung der Konvention beschließt, während für die Staaten, die diese Änderung nicht mit tragen, die Konvention unverändert in Kraft bleibt.34 Auch hier kann es also zu Unterschieden in der Anwendung des Vertrags zwischen den Vertragsparteien kommen. Die Konvention wird dann nicht mehr in ihrer Gesamtheit von allen Vertragsparteien gleichförmig angewandt. Die Afrikanische Menschenrechtskonvention enthält ebenfalls keinerlei Bestimmungen zu Vorbehalten. Insofern ist eine Einordnung dieses Vertrags als plurilateraler Vertrag nicht ausgeschlossen. Allerdings ist zu dieser Konvention mittlerweile ein Zusatzprotokoll verabschiedet worden, durch das die Überwachung der in der Konvention garantierten Rechte in die Hände eines Gerichtshofs gelegt wird.35 Dieses enthält Bestimmungen, die mit Art. 62 Abs. 1 AMRK vergleichbar sind. Nun bilden die Afrikanische Menschenrechtskonvention und das Zusatzprotokoll zwar nicht einen einheitlichen Vertrag. Allerdings stehen sie in einem engen Verhältnis zu einander. Das Zusatzprotokoll ist ohne die Konvention nicht denkbar.36 Es dient dazu, die Einhaltung der in der Konvention garantierten Rechte zu überwachen, und trägt damit zur möglichst uneingeschränkten Anwendung der Konvention bei. Wenn diese uneingeschränkte Durchsetzung der Konvention von einem Staat nicht gewollt ist, und Art. 34 Abs. 6 des Zusatzprotokolls ihm erlaubt, dies trotz Ratifikation des Zusatzprotokolls auszuschließen, ergibt sich daraus, dass wiederum die Anwendung der Konvention in ihrer Gesamtheit zwischen allen Vertragsstaaten keinen so hohen Wichtigkeitsgrad haben soll, als dass man die Konvention als einen plurilateralen Vertrag bezeichnen kann. Auch erscheint es systemwidrig, lediglich das Zusatzprotokoll wegen des Inhalts seines Art. 34 Abs. 6 Vgl. allgemein hierzu Horn, S. 134. Horn, S. 123. 34 Art. 76 AMRK. 35 Protocol to the African Charter on Human And Peoples’ Rights on the Establishment of an African Court on Human and Peoples’ Rights; das Zusatzprotokoll findet sich unter http: //www.africa-union.org. 36 Pityana, SAYIL 28 (2003), S. 110. 32 33

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nicht als plurilateral zu bezeichnen, die Afrikanische Menschenrechtskonvention selbst aber schon. Wiederum sei an dieser Stelle auch darauf verwiesen, dass die Definition des plurilateralen Vertrags nach Art. 20 Abs. 2 WVK eng zu verstehen ist. Auch die Afrikanische Menschenrechtskonvention kann daher nicht als plurilateraler Vertrag angesehen werden. Es bleibt mithin festzuhalten, dass keiner der derzeit in Kraft getretenen regionalen Menschenrechtsschutzverträge einen plurilateralen Charakter aufweist. Dieses lässt sich schon jeweils an einzelnen Bestimmungen der jeweiligen Verträge belegen. Weiterhin ist eine wichtige Eigenschaft plurilateraler Verträge, dass sie sich auf eine Materie beziehen, an der nur die begrenzte Anzahl der Vertragsstaaten ein Interesse haben kann. Der Menschenrechtsschutz stellt dagegen eine Materie dar, an deren Einhaltung nicht nur einzelne und auf eine Region beschränkte Staaten ein Interesse haben können, sondern die gesamte Staatengemeinschaft. 37 Dies ergibt sich zum einen daraus, dass alle regionalen Menschenrechtsabkommen sich in Bezug auf einen großen Teil der durch sie garantierten Rechte stark ähneln. Daneben existiert eine Vielzahl multilateraler Menschenrechtsschutzverträge, die sich auf dieselbe Materie beziehen und dieselben Rechte schützen.38 Menschenrechtsschutzverträge sind also auch ihrem allgemeinen Anspruch sowie ihrem Inhalt nach nicht mit Verträgen vergleichbar, die klassischerweise als plurilateral bezeichnet werden. Weiterhin enthalten alle regionalen Menschenrechtsschutzverträge Bestimmungen, nach denen ihr Inkrafttreten nicht von der Ratifikation durch alle Verhandlungsstaaten abhängig ist, sondern lediglich an eine bestimmte Anzahl von Ratifikationen geknüpft wird.39 Die jeweilige Konvention kann also auch dann in Kraft treten, wenn sie nicht von den Verhandlungsstaaten in ihrer Gesamtheit angewandt wird, sondern nur von einem Teil. Schließlich ist an dieser Stelle erneut auf die Enge der Definition des plurilateralen Vertrags zu verweisen. Regionale Menschenrechtsschutzverträge können also nicht als plurilaterale Verträge angesehen werden. Für multilaterale Menschenrechtsschutzverträge kommt dieses allein wegen der meist großen Menge der Verhandlungsstaaten nicht in Frage. Die plurilateralen Verträge spielen auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes daher insgesamt keine Rolle. Auf eine weitere Betrachtung des Rechts der Vorbehalte zu diesen Verträgen soll in dieser Arbeit daher verzichtet werden.

III. Gründungsverträge Internationaler Organisationen Neben den plurilateralen Verträgen bilden die Gründungsverträge internationaler Organisationen die zweite Vertragskategorie, zu der sich in der WVK spezielle BeGiegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 727. Als Beispiel hierfür sei v. a. der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte genannt. 39 Art. 59 Abs. 2 EMRK; Art. 74 Abs. 2 AMRK; Art. 63 Abs. 3 AfrMRK. 37 38

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stimmungen zu Vorbehalten finden.40 Hiernach ist die Zulässigkeit eines Vorbehalts nicht direkt vom Verhalten der anderen Vertragsparteien abhängig. Entscheidend ist die Annahme durch das zuständige Organ der Organisation, es sei denn, der Vertrag selbst sieht etwas anderes vor.41 In den meisten solcher Vertragsorgane werden Mehrheitsentscheidungen getroffen. Es hat sich also im Hinblick auf Vorbehalte zu Verträgen dieser Kategorie das Mehrheitsprinzip durchsetzen können.42 Das Recht der Vorbehalte zu den Gründungsverträgen internationaler Organisationen wirft komplizierte Fragen auf,43 beispielsweise im Hinblick auf staatliche Souveränität oder die Situation, dass der Gründungsvertrag bei Erklärung des Vorbehalts noch nicht in Kraft ist und daher auch noch kein Entscheidungsorgan existiert.44 Weiterhin macht es bei Verträgen dieses Typs keinen Sinn, sie in viele bilaterale Verträge aufzuteilen und diese getrennt zu betrachten,45 wie sonst von der WVK bei der Frage der Rechtswirkung von Vorbehalten vorgesehen.46 Gründungsverträge internationaler Organisationen stellen einen eigenen Vertragstyp dar.47 Die für die Einordnung eines Vertrags in diese Kategorie nötigen speziellen Merkmale weist keiner der bestehenden Menschenrechtsschutzverträge auf. Selbst bei Organisationen, deren Zielsetzung im Bereich des Menschenrechtsschutzes liegt, findet eine Trennung zwischen Gründungsvertrag der Organisation und den eigentlichen Menschenrechtsschutzverträgen, die von der Organisation erarbeitet wurden, statt.48 Aufgaben des Gründungsvertrags sind lediglich die Schaffung eines neuen Völkerrechtssubjekts49 oder die Definition allgemeiner Zielvorgaben,50 nicht aber die Normierung von Menschenrechten. Beispielsweise bildet die Satzung des Europarats51 den Gründungsvertrag dieser Organisation, Ebenso wird diese Art von Verträgen in Art. 5 WVK ausdrücklich erwähnt. Art. 20 Abs. 3 WVK. 42 Kühner, S. 172; Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 187. 43 Brölmann, ARIEL 4 (1999), S. 103; Szafarz, PYIL 3 (1970), S. 305; Kühner, S. 167 ff.; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 403; Klabbers, International Institutional Law, S. 84 ff. 44 Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 187, der dort noch weitere mögliche Probleme bei der Anwendung des Art. 20 Abs. 3 WVK darstellt; Kühner, S. 167. 45 Horn, S. 123. 46 s. o. Kapitel 2, E. III. 47 Vgl. Klabbers, International Institutional Law, S. 84 ff. 48 Vgl. Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 727. 49 IGH, Legality of the Use by a State of Nuclear Weapons in Armed Conflict (Advisory Opinion), 8. Juli 1996, ICJ Reports 1996, S. 75; Klabbers, International Institutional Law, S. 82; Brölmann, ARIEL 4 (1999), S. 105; Schermers, NTIR 6 (1959), S. 354. 50 IGH, Legality of the Use by a State of Nuclear Weapons in Armed Conflict (Advisory Opinion), 8. Juli 1996, ICJ Reports 1996, S. 75; Sands / Klein, S. 442; Schermers, NTIR 6 (1959), S. 354. 51 ETS Nr. 1, englischer Originalname: „Statute of the Council of Europe“. 40 41

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während unter anderem die EMRK und ihre Zusatzprotokolle im Rahmen dieser Organisation erarbeitete Menschenrechtsschutzverträge sind. Da sich unter den Gründungsverträgen internationaler Organisationen mithin keine Menschenrechtsschutzverträge finden, kann auch eine Betrachtung dieser Vertragskategorie in dieser Arbeit unterbleiben.

IV. Sonstige multilaterale Verträge Neben bilateralen und plurilateralen Verträgen existiert die Gruppe der multilateralen Verträge.52

1. Möglichkeit einer Einteilung multilateraler Verträge Ausgehend von einem von Carl Bergbohm entwickelten Ansatz wurden in der Völkerrechtswissenschaft über lange Zeit die Kategorien Austauschvertrag (traitécontract) und normativer Vertrag (traités-lois oder law-making treaty) unterschieden.53 Man untersuchte Verträge hierzu daraufhin, ob der Charakter eines Vertrags primär darin bestand, gegenseitige Rechte und damit korrespondierende Pflichten zu erzeugen, oder ob der Vertrag vorrangig allgemein verbindliche Regeln errichten sollte, deren Geltung unabhängig davon war, ob andere Vertragsstaaten ihre vertraglichen Verpflichtungen einhielten. Im ersten Fall war der betreffende Vertrag als Austauschvertrag,54 im zweiten Fall als normativer Vertrag einzuordnen.55 Mittlerweile regt sich hiergegen Widerstand. Ausgehend von der Tatsache, dass viele Verträge heute sowohl Austausch- als auch normative Elemente enthalten wird bestritten, dass eine Unterscheidung zwischen normativem Vertrag und Austauschvertrag überhaupt noch möglich ist.56 Der These, dass bei vielen Verträgen die Grenzen mittlerweile verschwimmen, ist zuzustimmen.57 Eine Einteilung nahezu aller völkerrechtlichen Verträge58 allein in die Kategorien Austauschvertrag und normativer Vertrag erscheint angesichts der Vielzahl der Varianten dieser 52 Vgl. Dehaussy, in: En Hommage à Paul Guggenheim, S. 309; Wildhaber, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 950. 53 Bergbohm, S. 79 ff.; Hylton hält eine solche Unterscheidung nach wie vor für richtig, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 434. 54 Zoller, S. 15. 55 De Visscher, S. 128, 134, 135; Bos, NILR 27 (1980), S. 155 f., 162, ders., GYIL 20 (1977), S. 21, 24; vgl. auch Waldock, YILC 1964 II, S. 55, Ziff. 9. 56 Verdross / Simma, § 537; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., § 9, Rn. 7. 57 Pellet, UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 36 f., Ziff. 139; Wildhaber, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 950; Kühner, S. 6 f. 58 Ausgenommen Gründungsverträge internationaler Organisationen und plurilaterale Verträge.

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Übereinkommen zu grob und zu vereinfachend.59 Andererseits dürfte ein Versuch, die Problematik der Vorbehalte zu multilateralen Verträgen und insbesondere zu Menschenrechtsschutzverträgen zu lösen, bei dem gänzlich auf eine vernünftige Einteilung der völkerrechtlichen Verträge verzichtet wird, von Anfang an zum Scheitern verurteilt sein. Für die Untersuchungen in dieser Arbeit muss daher ein Kriterium gefunden werden, das im Hinblick auf die Vorbehaltsproblematik die Möglichkeit bietet, multilaterale Verträge in solche Gruppen einzuteilen, dass bei einer Anwendung der geltenden Vorbehaltsregeln auf alle Verträge einer Gruppe entweder sinnvolle oder sinnwidrige Ergebnisse entstehen. Erst wenn dies geleistet ist, können Überlegungen nach einer möglichen Alternative zum geltenden Vorbehaltsrecht angestellt werden. Diese können dann auf die Gruppen beschränkt werden, hinsichtlich derer die Suche nach einer Alternative wegen des Versagens des geltenden Rechts nötig ist. 2. Einteilung nach der Pflichtenstruktur Ausgehend von der Überlegung, dass eine Einteilung völkerrechtlicher Verträge in Austauschverträge und normative Verträge zu grob und unpraktikabel ist, schlugen mehrere Autoren vor, multilaterale Verträge nach ihrer Erfüllungsstruktur einzuteilen.60 Eine Anknüpfung an diesen Vorschlag ist sinnvoll. Allerdings soll für diese Arbeit nicht bloß die Erfüllungsstruktur, sondern die Pflichtenstruktur der jeweiligen Verträge insgesamt betrachtet werden.61 Das Wesen eines Vorbehalts liegt darin, dass ein Staat das Eingehen bestimmter vertraglicher Verpflichtungen für sich von vornherein ausschließen will.62 Eine Einteilung der Verträge nach der jeweiligen Struktur der vertraglichen Verpflichtungen hat daher den Vorteil, dass genau die Kriterien berücksichtigt werden, auf die Staaten durch das Anbringen von Vorbehalten beziehungsweise den Einsatz der verschiedenen möglichen Gegenreaktionen einzuwirken versuchen. 3. Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur Die Besonderheit dieses Vertragstyps besteht darin, dass die in ihm enthaltenen Verpflichtungen zwar in einem multilateralen Vertrag definiert sind, sich aber ausschließlich im jeweils bilateralen Verhältnis zwischen einem Paar handelnder Vertragsparteien entfalten.63 Kühner, S. 7. Verdross / Simma, § 539; Kühner, S. 7; vgl. auch Simma, Reziprozitätselement, S. 62 ff., 66; Vierdag, NYIL 25 (1994), S. 125. 61 Vgl. Bleckmann, S. 47 f.; Wildhaber, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 950. 62 s. o. Kapitel 2, A. II. 1. sowie Kapitel 2, E. I. 63 Kühner, S. 7, dessen Ausführungen zur Erfüllungsstruktur sich hier auf die Pflichtenstruktur der Verträge übertragen lassen; Schermers, NTIR 6 (1959), S. 356; Simma, Rezipro59 60

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Als Beispiel, um das Wesen dieser Verträge zu veranschaulichen, werden zu Recht Zoll- und Handelsabkommen mit darin enthaltenen Meistbegünstigungsklauseln gewählt.64 Wenn beispielsweise zwischen den Staaten a, b, c und d ein Vertrag existiert, in dem festgelegt ist, dass jeder Staat Importe aus dem Gebiet einer anderen Vertragspartei genauso zu behandeln hat, wie Importe aus dem Gebiet aller anderen Parteien und diese Verpflichtung für alle Vertragsstaaten gilt, so ist dies ein klassisches Beispiel für einen Vertrag, in dem die Pflichtenstruktur jeweils paarweise und in horizontaler Richtung wirkt.65 Wenn im hier gebildeten Beispiel Vertragspartei a Waren aus dem Gebiet der Vertragspartei b und der Vertragspartei c importiert, so ist a verpflichtet, diese Waren beim Import gleich zu behandeln. Genauso wären es b und c beim Import von Waren aus dem Gebiet von a. Die vertraglichen Verpflichtungen wirken jeweils auf die gerade stattfindenden Importe ein. Diese vollziehen sich immer im bilateralen Verhältnis.66 Die vertraglichen Verpflichtungen wirken dabei ausschließlich auf zwischenstaatlicher Ebene. Es bestehen keine Verpflichtungen gegenüber einzelnen Personen oder anderen Subjekten, die unterhalb der Staatenebene stehen. Die Pflichtenstruktur bezieht sich also ausschließlich auf Staaten als Völkerrechtssubjekte, die sich als gleichberechtigte Partner quasi „auf gleicher Augenhöhe“ gegenüberstehen. Daher bietet es sich an, von einer horizontalen Pflichtenstruktur zu sprechen. Solche und ähnliche Bestimmungen durchziehen die Entwicklung der internationalen Handelsverträge bis heute.67 Auch im General Agreement on Tariffs and Trade68 mit seinem allgemeine Meistbegünstigung festlegenden Art. 1 kann man einen solchen auf gegenseitige Verpflichtungen, die im jeweils bilateralen Verhältnis ihre Wirkung äußern, gerichteten Vertrag erkennen.69 Weitere Beispiele bilden die Vienna Convention on Diplomatic Relations70 und die Vienna Convention on Consular Relations.71 Die hierin definierten Vorrechte und Befreiungen der diplomatischen Missionen und der Diplomaten72 sowie die Vorrechte und Immunitäten zitätselement, S. 124; vgl. auch einen Umkehrschluss zu Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 302. 64 Schermers, NTIR 6 (1959), S. 355; Schachter, in: Essays in Honour of Rosenne, S. 935, Keohane, Int. Org. 40 (1986), S. 1; Bourguignon, Virginia JIL 29 (1989), S. 368. 65 Parisi / Ghei, Cornell ILJ 36 (2003), S. 112; vgl. Simma, Reziprozitätselement, S. 154. 66 Pauwelyn, EJIL 14 (2003), S. 928. 67 Bayer, S. 123, dieser auch grundlegend zur Entwicklung des Prinzips der Meistbegünstigung; Keohane, Int. Org. 40 (1986), S. 3 f. 68 UNTS Bd. 55, S. 194, ILM 33 (1994), S. 1; im Folgenden: GATT. 69 Bayer, S. 239; Simma, Reziprozitätselement, S. 154; Pauwelyn, EJIL 14 (2003), S. 928 ff.; Parisi / Ghei, Cornell ILJ 36 (2003), S. 111; Zoller, S. 22; vgl. Hilpold, Max Planck UNYB 7 (2003), S. 258 f.; Keohane, Int. Org.40 (1986), S. 4. 70 UNTS Bd. 500, S. 95; im Folgenden: „Wiener Diplomatenrechtskonvention“. 71 UNTS Bd. 596, S. 261; im Folgenden: „Wiener Konsularrechtskonvention“; zur Einordnung dieser Verträge als Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur Verdross / Simma, § 539; Kühner, S. 7; Pauwelyn, EJIL 14 (2003), S. 923; Wildhaber, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 950.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

der konsularischen Vertretungen und ihrer Mitglieder73 sind in einem multilateralen Vertrag kodifiziert, kommen aber jeweils ausschließlich im Verhältnis zwischen Entsendestaat und Empfangsstaat zum Tragen. Zwar wirken diese Rechte und Pflichten nicht in der Weise, dass eine Verletzung automatisch eine Einstellung der Vorteilsgewährung durch den jeweiligen Vertragspartner zur Folge haben darf. Es werden dem von einer Vertragsverletzung betroffenen Vertragspartner aber Instrumente in die Hand gegeben, mit deren Hilfe eine Beschränkung der gewährten Vorteile möglich gemacht wird. Zu denken ist dabei vor allem an die Möglichkeit, einen Diplomaten oder Konsularbeamten zur persona non grata zu erklären.74 Zusammengefasst bedeutet dies Folgendes: Das Wesen eines Vertrags mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur besteht darin, dass er eindeutige Rechte und Pflichten definiert, die zwischen den einzelnen Vertragsparteien wechselseitig gelten.75 Einer Pflicht steht dabei typischerweise ein Recht gegenüber und umgekehrt. Die Erfüllung der Pflicht erzeugt das Recht, ein entsprechendes Äquivalent zu fordern.76 Dieses System ist für alle Beteiligen, auch im Hinblick auf zukünftiges Verhalten, vorteilhaft.77 Es regiert das Do-ut-des-Prinzip. Die im hier verwandten Sinne bestehende Gegenseitigkeit wird als specific reciprocity bezeichnet.78 Sie ergibt nur dann Sinn, wenn sie über einen längeren Zeitraum stattfindet und die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Rechte und Pflichten (nahezu) gleichwertig sind. Dass es bei der Berechnung des Werts und dem Vergleich zwischen gewährter Vergünstigung und empfangener Leistung beziehungsweise entstandenem Recht immer wieder zu Schwierigkeiten kommen kann und der Austausch der Leistungen aus diesem Grunde oft faktisch nicht vollständig gleichwertig ist, liegt zwar auf der Hand.79 So können es beispielsweise fehlende Marktpreise beim Austausch von Waren erschweren oder sogar unmöglich machen, genau festzulegen, welche jeweilige Menge einer Ware wertmäßig dem Wert einer bestimmten Menge einer anderen Ware entspricht. Darüber hinaus sind einzelne vertragliche Leistungen oftmals nicht vergleichbar.80 Im Rahmen von Verteidigungsabkommen ist es zum Beispiel schwierig, den Wert einer Beistandsverpflichtung zwischen einem Kleinstaat und einer Supermacht zu betiteln und in ein Verhältnis mit einer korrespondierenden Pflicht zur Zulassung von TrupArt. 22 – 31, 33 – 36 Wiener Diplomatenrechtskonvention Art. 28 – 39, 40 – 13, 46 – 52 Wiener Konsularrechtskonvention. 74 Art. 9 Wiener Diplomatenrechtskonvention; Art. 23 Wiener Konsularrechtskonvention. 75 Z. T. wird diese Form der Gegenseitigkeit auch „tit for tat“ genannt, vgl. Keohane, Int. Org. 40 (1986), S. 4, 10. 76 Horn, S. 150 f.; Keohane, Int. Org. 40 (1986), S. 4; Pauwelyn, EJIL 14 (2003), S. 931; vgl. auch Zoller, S. 19 f. 77 Vgl. Axelrod, S. 161. 78 Keohane, Int. Org. 40 (1986), S. 4, 10. 79 Zoller, S. 20. 80 Zoller, S. 20. 72 73

B. Vertragskategorien

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penstationierungen zu setzen.81 Trotz all dieser Widrigkeiten lässt sich das Wesen der Gegenseitigkeit aber wohl dennoch auf eine Definition zusammenfassen, wie Keohane sie überzeugend formuliert hat. Gegenseitigkeit bedeutet: „( . . . ) exchanges of roughly equivalent values in which the actions of each party are contingent on the prior actions of the others in such way that good is returned for good, and bad for bad.“82

Grundsätzlich ist das Vertrauen auf die Einhaltung der horizontalen Vertragsverpflichtungen auch das wichtigste Mittel zur Sicherung der Einhaltung solcher Verträge. Nur derjenige, der seine Verpflichtungen erfüllt und damit den anderen Vertragspartnern einen Vorteil gewährt, kann gleichzeitig auch selbst die Erfüllung der vertraglichen Pflichten zu seinem Vorteil fordern. Wer seine Verpflichtungen dagegen nicht erfüllt, kann dies auch nicht von anderen fordern und wird im Gegenzug auf Vorteile verzichten müssen.83 Probleme in Bezug auf Austausch und Gegenseitigkeit können bei Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur entstehen, wenn ein Vertragsstaat zwar die aus dem Vertrag erwachsenden Rechte genießen, aber nicht die damit einhergehenden Verpflichtungen erfüllen will.84 Dieses Problem ergibt sich insbesondere auch durch Vorbehalte zu solchen Verträgen und soll später behandelt werden.85 Eine gute Möglichkeit, die nunmehr gewonnenen Ergebnisse anschaulich zusammenzufassen bietet der Einsatz deontischer Operatoren. Greift man dabei auf das bereits erwähnte Beispiel eines Handels- und Meistbegünstigungsabkommens zwischen den Staaten a, b, c und d zurück, ergibt sich für die Pflichtenstruktur multilateraler Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur Folgendes: Staat a hat gegenüber allen anderen Staaten die Pflicht, Importe in sein Gebiet gleich zu behandeln. Diese Pflicht wirkt im jeweils bilateralen Verhältnis. In diesem drückt sich diese Pflicht so aus, dass a gegenüber b die Pflicht (O) mit dem Gegenstand (G) hat, Importe aus dessen Gebiet nicht anders zu behandeln als die aus allen anderen Staaten. Staat a trifft also eine Pflicht mit OabG-Struktur. Aus der Sicht des Staates b bedeutet diese Pflicht des a ein Recht (R) mit dem Gegenstand (G), dass Importe in der beschriebenen Weise behandelt werden. Staat b hat gegenüber Staat a ein Recht mit RbaG-Struktur, das mit dessen Pflicht mit OabG-Struktur korrespondiert. Gleichzeitig stehen diese Rechte und Pflichten in einem Austauschverhältnis und gelten jeweils wechselseitig. Es gilt also nicht nur der Satz RbaG $ OabG, sondern zwingend auch der Satz RabG $ ObaG. Dies gilt auch für die Verpflichtungen, die in den bilateralen Beziehungen zwischen den übrigen Vertragsparteien auftreten können. 81 82 83 84 85

Keohane, Int. Org. 40 (1986), S. 7. Keohane, Int. Org. 40 (1986), S. 8. Vgl. Axelrod, S. 161 ff., 168 f. Keohane spricht in dieser Hinsicht von sog. „free-rider(s)“, Int. Org 40 (1986), S. 12. s. u. Kapitel 3, C. I.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

Eine multilateral wirkende Verpflichtung entsteht in einem solchen Vertrag hingegen nicht. Die Gleichbehandlung von Importen durch einen Staat a gegenüber der Gemeinschaft der übrigen Staaten als solcher ist praktisch nicht denkbar. Zur Verdeutlichung der Pflichtenstruktur eines solchen multilateralen Vertrags mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur ist es sinnvoll, eine graphische Darstellung auszuarbeiten. Diese ergibt für das hier verwendete Beispiel das folgende Bild: RabG

ObaG

RbaG

OabG

RacG

OcaG

RcaG

OacG

RadG

OdaG

RdaG

OadG

RbcG

OcbG

RcbG

ObcG

RbdG

OdbG

a

b

a

c

a

d

b

c

b

d RdbG

ObdG

RcdG

OdcG

RdcG

OcdG

c

d

.

Abbildung 1: Pflichtenstruktur im Vertrag mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur zwischen den Staaten a, b, c, d. Die Pfeile symbolisieren die Wirkung der Vertragsverpflichtungen

4. Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur Verträge dieser Kategorie weisen zunächst Ähnlichkeiten mit den Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur auf. Auch die von ihnen definierten Verpflichtungen äußern ihre Wirkung nur auf Staatenebene und haben keine direkten Auswirkungen auf Individuen. Insofern haben auch sie eine horizontale

B. Vertragskategorien

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Pflichtenstruktur. Zum Tragen kommen diese Verpflichtungen allerdings nicht im jeweils bilateralen Verhältnis. In solchen Verträgen werden Verpflichtungen nicht nur multilateral definiert, sie wirken auch im multilateralen Verhältnis. Albert Bleckmann nennt sie daher auch „multipolare Verträge“.86 Dies bedeutet, dass alle Parteien eines Vertrags mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur grundsätzlich allen anderen Vertragsparteien gegenüber zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet sind. Zur Erfüllung solcher Verpflichtungen ist es dabei nicht nötig, dass die Parteien in bilaterale Beziehungen treten.87 Sie erfolgt durch das Verhalten jedes Staates allein. Weiterhin enthält die Pflichtenstruktur solcher Verträge keine direkten Austauschelemente. Die Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen kann nicht mit dem Argument abgelehnt werden, ein anderer Vertragspartner erfülle seine Verpflichtungen ebenfalls nicht. Jede Vertragspartei hat zu jeder Zeit ein Interesse an und ein Recht auf Vertragserfüllung.88 Als ein Beispiel für Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur werden Abrüstungs- und Test-Stop-Verträge genannt.89 Wenn die Staaten a, b, c und d einen Vertrag schließen, in dem jede Partei sich verpflichtet, in der Zukunft auf das Testen bestimmter Waffen zu verzichten, so erfüllt Vertragsstaat a seine Verpflichtungen gegenüber den Vertragsstaaten b, c und d bereits dadurch, dass er keine solchen Tests mehr durchführt. Eine Betrachtung bilateraler Verhältnisse zwischen a und b, a und c oder a und d ist zur Erfassung des Pflichtenerfüllungsvorgangs nicht sinnvoll möglich. Sollte dagegen a seiner Verpflichtung nicht nachkommen, bedeutet dies im Rahmen solcher Verträge nicht, dass dann b, c und d ihrerseits berechtigt wären, auf die Erfüllung der Verpflichtungen zu verzichten. Dies ergibt sich aus der multilateralen Wirkung der Pflichten, die unabhängig vom Verhalten einzelner Vertragsparteien zum Tragen kommen. Ein konkretes Beispiel für einen Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur ist der Nuclear Test Ban Treaty von 1965.90 Der Antarctic Treaty91 gehört ebenfalls zu dieser Vertragskategorie.92 Hierin verpflichten sich die Vertragsparteien unter anderem dazu, keinerlei Kernexplosionen im Gebiet der Ant86 Bleckmann, AVR 34 (1996), S. 224 ff.; vgl. zur Struktur dieser Verträge Rojas Amandi, AMDI 5 (2005), S. 425 ff 87 Simma, Reziprozitätselement, S. 63; Schermers, NTIR 6 (1959), S. 356; Horn, S. 164 f. 88 Dehaussy, in: En Hommage à Paul Guggenheim, S. 313; Bleckmann, AVR 34 (1996), S. 224 f.; Rojas Amandi, AMDI 5 (2005), S. 435 ff.; Pauwelyn, EJIL 14 (2003), S. 934; Simma, Reziprozitätselement, S. 155; Horn, S. 164. 89 Vgl. Schreuer, in: Delbrück, Cooperation and State Sovereignty, S. 178. 90 UNTS Bd. 480, S. 43, im Folgenden: „Atomteststopvertrag“; zur Einordnung als Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur Bleckmann, AVR 34 (1996), S. 224; Wildhaber, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 950; Kühner, S. 7; Simma, Reziprozitätselement, S. 156. 91 UNTS Bd. 402, S. 71; im Folgenden: „Antarktisvertrag“. 92 Kühner, S. 7; Simma, Reziprozitätselement, S. 156; vgl. Pauwelyn, EJIL 14 (2003), S. 927.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

arktis herbeizuführen und dort keine radioaktiven Abfälle zu entsorgen,93 sowie dazu, die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung in der Antarktis anzuerkennen.94 Diese Verpflichtungen sind multilateral definiert und bestehen gegenüber allen anderen Vertragsparteien. Sie müssen von jeder einzelnen Vertragspartei allein durch einseitiges Handeln erfüllt werden. Eine Beteiligung anderer Vertragsparteien an der Erfüllung, also eine Erfüllung im bilateralen Verhältnis, ist nicht erforderlich. Ähnliches gilt für den Atomteststopvertrag. Dessen zentrale Norm verpflichtet die Vertragsparteien dazu, in ihrer Hoheitsgewalt unterstehendem Gebiet jede nukleare Explosion zu verbieten, zu verhindern und nicht durchzuführen.95 Wie im oben gebildeten Beispiel können auch diese Verpflichtungen nur durch einseitiges Handeln jeder Vertragspartei erfüllt werden. Die Verpflichtungen bestehen gegenüber der Gemeinschaft der Vertragsparteien als solcher. Ebenso als Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur anerkannt sind Umweltschutzverträge.96 Von einem Teil der Autoren, die eine Unterteilung der völkerrechtlichen Verträge nach ihrer Erfüllungsrichtung beziehungsweise Pflichtenstruktur anerkennen, werden die Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur mit den plurilateralen Verträgen gleichgesetzt. 97 Wenn diese These richtig ist, kann eine Untersuchung der Anwendbarkeit des Rechts der WVK hier unterbleiben. Plurilaterale Verträge gehören nicht zum Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit.98 Eines der wichtigsten Merkmale plurilateraler Verträge ist jedoch, dass sie zwischen einer begrenzten Anzahl von Staaten geschlossen werden und diese durch ein besonderes Interesse an dessen Inhalt geeint werden.99 Verträge, die potentiell allen Staaten der Welt zur Ratifikation offen stehen, können hingegen nicht als plurilateral eingestuft werden.100 Wendet man diese Definition auf die oben genannten zwei Beispielsverträge für die Kategorie der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur an, so erhält man das Ergebnis, dass diese die Kriterien des plurilateralen Vertrags nicht erfüllen. Der Atomteststopvertrag steht allen Staaten zur Unterzeichnung offen.101 Ein besonderes Interesse, das allen Vertragsstaaten gemein ist, das ihren Kreis aber gleichzeitig begrenzt, wird vom Vertrag dagegen nicht definiert. Zwar könnte man in Erwägung ziehen, dass die Vertragsstaaten durch das Interesse geeint werden, keine Atomtests mehr Art. 5 Abs. 1 Antarktisvertrag. Art. 2 Antarktisvertrag. 95 Art. 1 Abs. 1 Atomteststopvertrag. 96 Vierdag, NYIL 25 (1994), S. 125. 97 Simma, Reziprozitätselement, S. 63 f., 157; ähnlich auch Schermers, NTIR 6 (1959), S. 357. 98 s. o. Kapitel 3, B. II. 99 s. o. Kapitel 3, B. II. 100 Vgl. Simma, Reziprozitätselement, S. 160. 101 Art. 3 Abs. 1 Atomteststopvertrag. 93 94

B. Vertragskategorien

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durchführen zu wollen. Dies führte allerdings zu einem Zirkelschluss, da man dann das besondere einende Interesse aus dem Vertragszweck und den Vertragszweck aus diesem Interesse herleiteten würde. Weiterhin ist es möglich, dass alle Staaten der Welt, und nicht nur bestimmte ein Interesse am Stopp solcher Tests haben. Auch der Antarktisvertrag steht zumindest allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zur Ratifikation offen.102 Hier ist eine Begrenzung der Parteienanzahl mithin ebenfalls nicht gewollt. Die Forderung nach einem besonderen die Staaten einenden Interesse besteht aus ähnlichen Gründen nicht, wie sie hinsichtlich des Atomteststopvertrags gelten. So ist beispielsweise auch die Bundesrepublik Deutschland seit dem 5. Februar 1979 Partei dieses Vertrags.103 Ein besonderes Interesse im Sinne eines plurilateralen Vertrags kann man Deutschland dabei wohl nicht unterstellen. Gebietsansprüche in der Antarktis sind von deutscher Seite aus nie erhoben worden. Schon diese beiden Beispiele sind geeignet, zu zeigen, dass zumindest nicht jeder Vertrag mit mulilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur plurilateralen Charakters ist. Eine weitere Bearbeitung dieses Vertragstyps ist in dieser Arbeit daher erforderlich. Auch hinsichtlich der Kategorie der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur soll zusammenfassend eine Darstellung mit Hilfe deontischer Operatoren erfolgen. Dabei wird auf das oben gebildete Beispiel eines TestStop-Vertrags zwischen den Staaten a, b, c und d zurückgegriffen. Hiernach haben a, b, c und d jeweils die Pflicht (O), mit dem Gegenstand (G), keine Tests einer bestimmten Waffenart durchzuführen. Diese Verpflichtung erfüllt jeder Staat dadurch, dass er ein einseitiges Verhalten an den Tag legt. Erfüllung tritt nicht im bilateralen Verhältnis, sondern zwischen beispielsweise Staat a und der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien (b∧c∧d) ein. Gleichzeitig haben die u¨brigen Vertragsparteien als Gemeinschaft das Recht, von a das betreffende Verhalten zu fordern. Dieses Ergebnis gilt jeweils auch in Bezug auf das Verhalten der Staaten b, c und d. Die Pflichten im Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur weisen also eine der RabG-Struktur a¨hnliche Struktur auf. Rechtsadressat ist weiterhin ein Staat. Rechtstra¨ger ist allerdings nicht mehr nur jeweils ein Staat allein, sondern die Gemeinschaft der anderen Vertragsparteien als solche. Ihr gegenu¨ber besteht die Verpflichtung jedes einzelnen Vertragsstaates. Es gilt in Vertra¨gen dieser Kategorie daher der Satz Oa (b∧c∧d)G $ R(b∧c∧d)aG. Dagegen hat der Einzelstaat kein Recht gegenu¨ber der Gesamtheit der einzelnen Vertragsparteien, die Einhaltung der Verpflichtungen zu fordern. Diese wirken nicht reziprok.104 Die Forderung nach Erfu¨llung kann der Einzelstaat wiederum gegenu¨ber einem anderen sa¨umigen Einzelstaat selbst nur als Teil der Gesamtheit der u¨brigen Vertragsparteien erheben. 102 103 104

Art. 13 Abs. 1 Antarktisvertrag. BGBl. 1979 II, S. 420. Bleckmann, AVR 34 (1996), S. 225 f.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

Graphisch dargestellt entsteht für das hier gebildete Beispiel eines zwischen a, b, c und d geschlossenen Vertrags mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur folgendes Bild: Oa(bÙcÙd)G

R(bÙcÙd)aG

a

bÙcÙd Ob(aÙcÙd)G

R(aÙcÙd)bG

b

aÙcÙd Oc(aÙbÙd)G

R(aÙbÙd)cG

c

aÙbÙd Od(aÙbÙc)G

d

R(aÙbÙc)dG

aÙbÙc

Abbildung 2: Darstellung der Pflichtenstruktur in einem zwischen den Staaten a, b, c und d geschlossenen Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur. Die Richtung der Pfeile beschreibt die für einen Staat bestehenden Pflichten und die damit korrespondierenden Rechte der Gemeinschaft der übrigen Vertragsparteien

5. Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur Bereits während der Vorarbeiten zur WVK entstand die Frage, ob in die zu schaffende Konvention spezielle Bestimmungen für „general multilateral treaties (which) concern general norms of international law or deal with matters of general interest to states as a whole“105 aufgenommen werden sollten, also solche Verträge, die als normative Verträge universell geltende Normen kodifizieren.106 Damit war die Idee einer Vertragskategorie von Verträgen dieser Struktur allerdings nicht erst geboren. Bereits in seinem Sondervotum zum Gutachten „Customs Régime Between Germany and Austria“ des StIGH hatte Richter Dionisio Anzilotti ausgeführt, bestimmte Artikel des Vertrags von Saint-Germain „form an essential part of the peace settlement and were adopted not in the interest of any given state, but in the higher interest of the European political system and with a view to the maintenance of peace.“107

YILC 1962 II, S. 161, 163. Wildhaber, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 950. 107 StIGH, Customs Régime between Germany and Austria (Advisory Opinion), 5. September 1931, PCIJ Ser. A / B, Nr. 41, Individual Opinion des Richters Anzilotti, S. 64. 105 106

B. Vertragskategorien

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Ähnlich äußerten sich der StIGH im Wimbledon-Fall108 sowie die Richter Jonkherr van Eysinga und Walther Schücking in ihren Sondervoten zum Oscar-ChinnFall.109 Dabei bleibt die Frage offen, welchen Charakter beziehungsweise welche Pflichtenstruktur ein Vertrag aufweisen muss, um als normativ zu gelten. Fitzmaurice beschrieb das Wesen normativer Vertragsbestimmungen später in folgender Weise: „The obligation has an absolute rather than a reciprocal character – it is, so to speak, an obligation towards all the world rather than towards particular parties. Such obligations may be called self-existent, as opposed to concessionary, reciprocal or interdependent obligations.“110

Der IGH hatte sich im Rahmen seines Gutachtens zur Völkermordkonvention ebenfalls mit dem Thema der normativen Verträge auseinanderzusetzen und entwarf darin eine bis heute viel zitierte Definition: „In such a convention the contracting States do not have any interests of their own; they merely have, one and all, a common interest, namely, the accomplishment of those high purposes which are the raison d’être of the convention.“111

a) Vertikale Pflichtenstruktur Vergleicht man diese beispielhaft wiedergegebenen Zitate, stellt man zunächst fest, dass das Wesen des Vertrags mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur einen Unterschied zu den Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur aufweist. Die vertraglich definierten Verpflichtungen kommen nicht zwischen Paaren von Vertragsparteien zum Tragen.112 Insofern bestehen Parallelen zur Kategorie der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur. Worin besteht aber der Unterschied zwischen diesen und der Kategorie der Verträge, die zwar auch eine multilateral wirkende Pflichtenstruktur haben, deren Inhalt aber nicht horizontal, sondern vertikal seine Wirkung entfaltet? Für eine Antwort auf diese Frage sollen zunächst konkrete Beispiele von Verträgen, die zur letztgenannten Kategorie gehören, auf ihre strukturellen Gemeinsamkeiten untersucht werden. Anerkanntermaßen zählen Menschenrechtsschutzverträge zur Gruppe der Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur.113 Als BeiStIGH, Case of the S. S. „Wimbledon“, 17. August 1923, PCIJ Ser. A, Nr. 1, S. 22, 29. StIGH, The Oscar Chinn Case, 12. Dezember 1934, PCIJ Ser. A / B, Nr. 63, Seperate Opinion des Richters van Eysinga, S. 133 f.; zustimmend Seperate Opinion des Richters Schücking, S. 148. 110 YILC 1957 II, S. 54. 111 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 23. 112 Vgl. Kuhner, Duke JCIL 13 (2003), S. 434. 108 109

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

spiele dafür sollen hier die EMRK und die AMRK sowie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte analysiert werden. Alle drei Verträge sowie eine große Zahl weiterer Menschenrechtsschutzverträge enthalten zunächst einen Katalog von Artikeln, in dem die Menschenrechte beschrieben sind, die durch den Vertrag garantiert werden.114 Weiterhin ist diesen Verträgen gemein, dass sich jeweils in einer ihrer ersten Normen eine Bestimmung findet, die das Ausmaß der vertraglichen Verpflichtungen der Vertragsstaaten definiert. So verpflichtet der CCPR jeden Vertragsstaat zur Garantie der festgelegten Menschenrechte diskriminierungslos für alle in seinem Gebiet befindlichen und seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Menschen.115 Die EMRK verzichtet auf die Erwähnung des Staatsgebiets und erstreckt die Verpflichtung der Staaten auf alle ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen.116 Ebenso verfährt die AMRK.117 Damit ist bereits ein wichtiger Punkt bei der Untersuchung der Struktur von Menschenrechtsschutzverträgen erkannt. Die hierin definierten Verpflichtungen werden zwar von Staaten in einem multilateralen Vertrag definiert. Sie wirken allerdings zwischen den Vertragsstaaten und einem vom Vertrag festgelegten Personenkreis.118 Die Frage ist, worin genau die strukturellen Besonderheiten dieser menschenrechtlichen Garantien liegen und was sie von den Garantien unterscheidet, die auf zwischenstaatlicher Ebene in solchen Verträgen möglicherweise ebenfalls gegeben werden. Um hierauf eine Antwort zu finden, ist es notwendig, zunächst eine Analyse des Wesens subjektiver Rechte und insbesondere solcher, die im Verhältnis zwischen Individuum und Staat gelten, vorzunehmen. Dabei soll auch hier zur Verdeutlichung auf die Darstellungsmöglichkeiten mit Hilfe deontischer Operatoren zurückgegriffen werden. Grundsätzlich lässt sich jede grund- beziehungsweise menschenrechtliche Garantie als subjektives Recht formulieren.119 Wenn beispielsweise Art. 10 Abs. 1 Satz 1 EMRK bestimmt: „Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung.“, kann dieser Satz bezogen auf ein Individuum i auch in folgender Aussage 113 Simma, Reziprozitätselement, S. 171 f.; Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 2; Kühner, S. 7; vgl. Kuhner, Duke JCIL 13 (2003), S. 434. 114 Art. 6 – 27 CCPR, Art. 2 – 14 EMRK, Art. 3 – 25 AMRK. 115 Art. 2 Abs. 1 CCPR. 116 Art. 1 EMRK. 117 Art. 1 Abs. 1 AMRK; weiterhin finden sich in allen drei Verträgen Durchführungs- und Organisationsbestimmungen, die hier aber zunächst außer Acht gelassen werden können. 118 IACHR, The Effect of Reservations on the Entry into Force of the American Convention (Advisory Opinion), 24. September 1982, ILM 22 (1983), S. 47; Clark, AJIL 85 (1991), S. 287; Horn, S. 153 f.; Kuhner spricht in diesem Zusammenhang von „intra-national duties“, Duke JCIL 13 (2003), S. 444; vgl. auch EGMR, Case of Ireland v. The United Kingdom, 18. Januar 1978, Ziff. 239; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 756; Lijnzaad, S. 84; Pauwelyn, EJIL 14 (2003), S. 933 f.; zur entsprechenden Struktur der im Rahmen der EG entwickelten Grundrechte vgl. Schultz, S. 53 f., 58 f. 119 Vgl. Piechowiak, in: Hanski / Suksi, International Protection of Human Rights, S. 12; Pieroth / Schlink, Rn. 548.

B. Vertragskategorien

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wiedergegeben werden: „I hat gegenüber dem Vertragsstaat, dessen Hoheitsgewalt er untersteht, das Recht, seine Meinung frei zu äußern.“120 Gleichzeitig besteht für den Vertragsstaat die Pflicht, die freie Meinungsäußerung durch i nicht zu behindern. Abstrahiert man dieses, so gelangt man zu dem Ergebnis, dass, wenn i gegenüber a das Recht (R) auf ein Tun oder Unterlassen (G) hat (RiaaG)121, dies für a eine Verpflichtung (O) gegenüber i zu eben diesem Tun oder Unterlassen (G) (OaiaG) bedeutet.122 Gegenstand eines solchen Rechts auf etwas ist immer eine Handlung des Adressaten.123 Wenn beispielsweise also Art. 6 Abs. 1 Satz 1 CCPR lautet: „Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben.“,124 so bedeutet dies nicht nur, dass hierdurch dem Menschen als Rechtsträger das Recht auf eine bestimmte Eigenschaft, nämlich lebendig zu sein, gegeben wird.125 Die Bestimmung macht in einem Menschenrechtsschutzvertrag nur dann Sinn, wenn sie gleichzeitig in Relation zu einem Rechtsadressaten gesetzt wird. Dies ist der jeweilige Vertragsstaat. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 CCPR normiert für die der Hoheitsgewalt eines Staates unterstehenden Menschen daher das Recht auf ein bestimmtes (hier negatives) Verhalten des jeweiligen Staates. Anders formuliert bedeutet der Inhalt dieser Bestimmung: „Jeder Mensch, der der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates untersteht (ia), hat gegenüber diesem Staat (a) das Recht (R), nicht durch staatliches Handeln getötet zu werden (G).“126 Eine ähnliche Struktur ergibt sich für nahezu alle Menschenrechte der ersten Generation, zum Beispiel für das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf Achtung des Privatlebens, das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit oder das Recht auf freie Meinungsäußerung. Auch das Folterverbot und das Verbot der Sklaverei gehören zur Kategorie solcher Rechte. Ihre Formulierung, „Niemand darf Folter / Sklaverei unterworfen werden.“, könnte zwar zunächst auf ein bloß objektives Verbot schließen lassen. Allerdings lassen sich auch diese Normen in der Weise formulieren, dass die RiaaG-Struktur wieder erkennbar wird: „Jeder der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates unterstehende Mensch (ia) hat gegenüber diesem Staat (a) das Recht (R), nicht durch staatliche Maßnahmen der Folter / Sklaverei unterworfen zu werden (G).“ Subjektive Rechte treten im Bereich der Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 163. Im hier gebildeten Beispiel untersteht das Individuum i der Hoheitsgewalt des Staates a. Um dies zu verdeutlichen, wird für dieses Individuum der Operator ia benutzt. Der Wirkungsgehalt dieses Rechts ist dabei derselbe wie er bzgl. anderer Vertragstypen durch die Verwendung des Ausdrucks RabG-Struktur beschrieben wurde. Die Verwendung des Operators ia dient nur der Veranschaulichung der Tatsache, dass nicht mehr die zwischenstaatliche Ebene, sondern die Staat-Individuum-Ebene beschrieben wird. 122 Vgl. Al-Ghunaimi, REDI 59 (2003), S. 8; Drzewicki, in: Hanski / Suksi, The International Protection of Human Rights, S. 28 f., fügt diesen drei Eigenschaften eines Menschenrechts noch eine Eigenschaft mit dem Namen „implementation“ hinzu. 123 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 172. 124 Vgl. auch Art. 2 Abs. 1 EMRK, Art. 4 Abs. 1 AMRK. 125 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 172. 126 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 173. 120 121

7 Behnsen

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

Grund- und Menschenrechte also vor allem in der Gestalt von Abwehrrechten auf.127 Damit ist aber nur ein Teil der Struktur solcher Rechte beschrieben. Rechte des Individuums gegenüber einem Staat können nicht nur als Rechte des Individuums, sondern auch als staatliche Verpflichtungen definiert werden. Wenn sich beispielsweise das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 CCPR formulierte Recht auf Leben in dem Satz ausdrücken lässt, dass ein der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates unterstehendes Individuum (ia) gegenüber diesem Staat (a) das Recht (R) hat, nicht durch staatliche Maßnahmen getötet zu werden (G), so lässt sich ein solcher Satz auch als staatliche Verpflichtung formulieren. Dann gilt: „Für einen Vertragsstaat (a) besteht gegenüber dem seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuum (ia) die Verpflichtung (O), dieses nicht durch staatliches Handeln zu töten (G).“ Ein Recht, das aus der Position des betroffenen Individuums eine RiaaG-Struktur hat, hat aus Sicht des betroffenen Vertragsstaates eine OaiaG-Struktur.128 Es gilt der Satz RiaaG $ OaiaG. Auch dieses Ergebnis ist nicht nur für das Recht auf Leben gültig, sondern auch für alle anderen oben beispielhaft aufgeführten Rechte. Festzustellen ist nun, ob dieses Ergebnis bei der Betrachtung von Menschenrechtsschutzverträgen als Verträge mit vertikaler Pflichtenstruktur auch in umgekehrter Richtung zur Anwendung gebracht werden kann. Dann müsste gelten, dass aus einem Recht des der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates unterstehenden Individuums gegenüber dem Staat gleichzeitig eine damit korrespondierende Pflicht entsteht und diese sich wiederum in einem Recht des Staates gegenüber dem Individuum äußert.129 Es ist also zu fragen, ob für Rechte aus Menschenrechtsschutzverträgen nicht nur der Satz RiaaG $ OaiaG, sondern gleichzeitig auch der Satz OiaaG $ RaiaG gilt. Wäre dies der Fall, bestünde zwischen Individuum und Staat ein Austauschverhältnis. Für diese Analyse soll wiederum das Recht auf Leben als Beispiel eines als subjektives Recht formulierten Menschenrechts untersucht werden. Im Wortlaut der Formulierung in Art. 6 Abs. 1 CCPR lassen sich keine Hinweise erkennen, die darauf hindeuten, dass das Recht auf Leben einem Individuum nur dann zustehen soll, wenn es selbst ein bestimmtes Verhalten an den Tag legt, um so im Austausch dafür die Lebensgarantie zu erhalten. Insbesondere das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 CCPR gebrauchte Wort „angeboren“ spricht eindeutig für das Gegenteil. Das Recht auf Leben haftet dem Menschen kraft seines Menschseins an und ist nicht Gegenstand eines Austauschverhältnisses zwischen Individuum und Staat. Auch 127 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 173; eine weitere Einteilung der Abwehrrechte in die Kategorien der Rechte auf Nichtbehinderung von Handlungen, der Rechte auf Nichtbeeinträchtigung von Eigenschaften und Situationen und der Rechte auf Nichtbeseitigung von rechtlichen Positionen, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174 ff., kann hier ebenfalls unterbleiben. Wichtig für diese Arbeit ist allein die Tatsache, dass menschenrechtliche Bestimmungen die beschriebene Struktur der mit einem Recht des Individuums korrespondierenden Handlungsverpflichtung eines Staates aufweisen können. 128 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 189, 191. 129 Vgl. hierzu grundlegend Sommer, in: GS Nagelmann, S. 243 ff., 246 f.

B. Vertragskategorien

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der weitere Wortlaut des Art. 6 CCPR spricht gegen ein solches Austauschverhältnis. Zwar werden dort Ausnahmen vom Recht auf Leben definiert, die sich im Wesentlichen auf die Vollstreckung von Todesurteilen beziehen. Diese Ausnahmen resultieren aber nicht direkt aus einem Verhalten des Individuums. Gleichwertigkeit der auszutauschenden Vergünstigungen ist eine der wichtigsten Kennzeichen der Gegenseitigkeit beziehungsweise des Austauschcharakters vertraglicher Verpflichtungen.130 Verlangt man Gleichwertigkeit in diesem engen Sinne auch für das Recht auf Unterlassung staatlicher Tötungshandlungen, so hätte dies die Konsequenz, dass das Individuum dieses Recht nur dann trägt, solange es selbst auf Tötungshandlungen verzichtet. Dabei darf es sich aber nicht um Tötungshandlungen an anderen Individuen handeln. Diese sind nicht die Adressaten des Rechts des einen Individuums aus dem Menschenrechtsschutzvertrag. „Vertragspartner“ ist ausschließlich der Staat als Adressat des Lebensrechts. Stünde dieses Recht in einem Austauschverhältnis, müsste das Individuum eine Tötungshandlung am Staat vornehmen, um selbst seinen Anspruch auf Achtung des Rechts auf Leben zu verlieren. Eine solche Tötungshandlung am Staat selbst ist, da dieser keine natürliche Person ist, aber unmöglich. Eine mit dem Recht des Individuums auf Leben im Austauschverhältnis stehende Pflicht des Individuums besteht daher nicht. Erkennbar wird dies auch am Wortlaut anderer Schrankenbestimmungen in Menschenrechtsschutzbestimmungen, die Einschränkungen beispielsweise zum Schutz der nationalen Sicherheit oder der Rechte anderer zulassen.131 Diese Gründe beziehen sich ebenfalls auf das Verhältnis verschiedener Individuen untereinander und nicht auf ein dem jeweiligen Recht des Individuums gleichwertig entsprechendes Recht des Staates. Eine Besonderheit könnte sich hinsichtlich des Rechts auf Freiheit der Meinungsäußerung ergeben. Hier sprechen zumindest der Wortlaut des CCPR und der EMRK ausdrücklich von „Pflichten“ des Individuums.132 Der weitere Wortlaut beweist jedoch, dass hier ebenfalls keine reziproken Pflichten des Individuums im Hinblick auf eine Achtung des Rechts des Staates auf freie Meinungsäußerung gemeint sind. Die dortigen Pflichten beziehen sich lediglich auf die Ebene der Individuen unter sich. Dieses Ergebnis gilt erst recht für die Menschenrechte, die ohne Einschränkung gewährleistet werden.133 Auch Derogationsklauseln134 sind nicht geeignet, einen Austauschcharakter von Menschenrechten zu begründen. Zwar eröffnen diese den Vertragsstaaten die Mögs. o. Kapitel 3, B. IV. 3. Vgl. Art. 12 Abs. 3, Art. 13, Art. 14 Abs. 1 Satz 3, Art. 18 Abs. 3, Art. 21 Satz 2, Art. 22 Abs. 2 CCPR; Art. 2 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2; Art. 5 Abs. 1 Satz 2, Art. 6 Abs. 1 Satz 2, Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2 EMRK; Art. 4 Abs. 2, Art. 7 Abs. 2, Art. 12 Abs. 3, Art. 13 Abs. 2, Abs. 4, Art. 15 Satz 2, Art. 16 Abs. 2, Art. 22 Abs. 3, Art. 23 Abs. 2 AMRK. 132 Art. 19 Abs. 3 CCPR; Art. 10 Abs. 2 EMRK. 133 Art. 7, Art. 8, Art. 10 Abs. 1, Art. 11, Art. 15 Abs. 1, Art. 16, Art. 24, Art. 26 CCPR; Art. 3, Art. 4, Art. 7 Abs. 1, Art. 12, Art. 13, Art. 14 EMRK; Art. 3, Art. 5 Abs. 1 – 5, Art. 6 Abs. 1, Art. 8, Art. 9, Art. 10, Art. 18, Art. 24, Art. 25 AMRK. 134 Art. 4 CCPR; Art. 15 EMRK; Art. 27 AMRK. 130 131

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

lichkeit, bestimmte Rechte unter den dort definierten Umständen außer Kraft zu setzen. Dies kann nach dem Wortlaut dieser Normen aber nicht im Verhältnis zwischen dem Staat und einzelnen Individuen, sondern nur generell geschehen. Weiterhin kann eine solche Außerkraftsetzung nicht damit begründet werden, dass das Individuum selbst vorher die betreffenden Rechte nicht mehr für den Staat anerkennen wollte. Übersetzt man dieses Ergebnis in die bekannten Formelsätze, so bedeutet dies, dass im Menschenrechtsschutzvertrag zwar der Satz RiaaG $ OaiaG gilt, der Satz OiaaG $ RaiaG aber nicht. Einem Recht (R) des Individuums (ia), das der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates eines Menschenrechtsschutzvertrags (a) unterworfen ist, auf ein Handeln oder Unterlassen dieses Staates (G), hat zur Folge, dass für den Staat eine entsprechende Verpflichtung zu diesem Verhalten besteht. Diese Pflicht besteht, ohne dass dem Individuum seinerseits eine Pflicht auferlegt ist, dasselbe Verhalten gegenüber dem Vertragsstaat an den Tag zu legen. Dieser hat dem Individuum gegenüber kein Recht auf ein solches Handeln oder Unterlassen.135 Für Menschenrechte, die in einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur als vertikaler Teil definiert sind, gilt daher das Ergebnis, dass die vertikal wirkenden Verpflichtungen einseitig für den Vertragsstaat bestehen.136 b) Horizontale Pflichtenstruktur? Fraglich ist, ob Menschenrechtsschutzverträge ausschließlich vertikale Verpflichtungen enthalten. Auch wenn diese einen wichtigen Teil der durch sie kodifizierten Pflichten ausmachen, darf nicht vergessen werden, dass es sich auch bei solchen Verträgen um völkerrechtliche Verträge handelt.137 Völkerrechtliche Verträge werden zwischen Staaten geschlossen.138 Individuen können auf den Prozess des Vertragsschlusses keinen direkten Einfluss nehmen. In einer Arbeit, die die Pflichtenstruktur von Menschenrechtsschutzverträgen analysiert, darf es daher 135 Horn, S. 155, vgl. auch HRC, General Comment No. 24, UN Doc. CCPR / C / 21 / Rev. 1 / Add. 6, S. 7, Ziff.17; Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 333; sowie Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 20; Kuhner, Duke JCIL 13 (2003), S. 451; Clark, AJIL 85 (1991), S. 318; Pache, EuR 39 (2004), S. 397 f.; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 755; vgl. Mosler, RdC 140 (1974 IV), S. 78 f.; vgl. auch die sehr detaillierte Darstellung solcher Pflichten bei Udombana, Stanford JIL 40 (2004), S. 129 ff. 136 Vierdag, NYIL 25 (1994), S. 133; Pflichten des Individuums sieht hingegen Al-Ghunaimi, REDI 59 (2003), S. 8 f., der allerdings unklar lässt, worin diese Pflichten bestehen sollen, reziproke Verpflichtungen erwähnt er nicht. Zur Reziprozität in Menschenrechtsschutzverträgen allgemein Gennarelli, S. 231 f. 137 Vgl. Kuhner, Duke JCIL 13 (2003), S. 436. 138 Art. 2 Abs. 1 lit. a WVK; vgl. zu hiermit verbundenen Problemen Fitzmaurice, BYIL 73 (2002), S. 156 ff.

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nicht bei der Betrachtung des Verhältnisses zwischen Vertragsstaat und dem seiner Hoheitsgewalt unterstehendem Individuum, dem vertikalen Element der Pflichtenstruktur des Vertrags, bleiben. Auch die Ebene der Vertragsstaaten untereinander ist daraufhin zu untersuchen, ob sich dort durch den Vertrag begründete Verpflichtungen finden, die allein zwischen den Vertragsstaaten, mithin horizontal wirken.139 Dies soll ebenfalls anhand einer Untersuchung des Inhalts der bereits ausgewählten Menschenrechtsschutzverträge geschehen. aa) Präambel Der Wortlaut der Präambel des CCPR spricht in seinem ersten Satz von den „State Parties“. Damit wird zu verstehen gegeben, dass es sich bei dem Pakt um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt. Dieses schließt zwischenstaatliche Verpflichtungen zumindest nicht aus. Ausdrücklich wird anschließend darauf verwiesen, dass die im Pakt genannten Menschenrechte ihre Grundlage in der jedem Menschen innewohnenden Würde finden. Bereits damit verlässt die Formulierung die zwischenstaatliche Ebene und nimmt Bezug auf das Staat-Individuum-Verhältnis. Die später folgenden materiellen Menschenrechtsschutzbestimmungen mit RiaaG-Struktur werden schon hier in ihrer Grundstruktur beschrieben. Die Präambel schließt mit den Worten: „Agree upon the following articles“. Hier kehrt die Formulierung zurück auf die zwischenstaatliche, die horizontale Ebene. Diese Worte bilden Prädikat sowie Objekt des Satzes, der bereits mit der Nennung des Subjektes „The State Parties to the Present Covenant“ am Anfang der Präambel begonnen hatte. Das Wort „agree“ könnte dabei einen Hinweis darauf geben, ob auf der zwischenstaatlichen Ebene im Pakt ebenfalls Verpflichtungen begründet werden sollen oder lediglich auf der vertikalen Ebene des Staat-Individuum-Verhältnisses. Wenn „agree“ bereits die Bedeutung der Begründung rechtlich bindender Verpflichtungen hat, so wäre die Frage nach dem Bestehen zwischenstaatlicher, mithin vertikaler Pflichten im Pakt positiv beantwortet. Allerdings lässt sich die Bedeutung dieses Wortes nicht eindeutig im Sinne einer rechtlichen Bindung feststellen. Einerseits ist das aus dem Verb „agree“ gebildete Substantiv „agreement“ als rechtlich bindende Übereinkunft zweier Parteien über gegenseitige Rechte und Pflichten zu übersetzen,140 was für ein Bestehen von Verpflichtungen im Pakt auch auf zwischenstaatlicher Ebene spricht. Es kann aber auch eine deutlich weitere Bedeutung haben.141 Andererseits wird dem Verb „agree“ im Deutschen eher die Bedeutung von „einer Meinung sein“, „übereinstimmen“ oder „einigen“ gegeben.142 Dies wiederum spricht gegen eine gewollte Begründung von im zwischen139 Für eine solche Verpflichtung allerdings ohne Begründung Leckie, HRQ 10 (1988), S. 256. 140 Garner, Black’s Law Dictionary, S. 67. 141 Garner, Black’s Law Dictionary, S. 68. 142 MacKenzie, Pons Studienausgabe Englisch-Deutsch, S. 24.

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staatlichen Verhältnis bestehenden Verpflichtungen. Der Wortlaut ist in diesem Fall, auch unter Berücksichtigung des übrigen Inhalts der Präambel, eher dahingehend zu verstehen, dass die Staaten über das Bestehen der Verpflichtungen im Staat-Individuum-Verhältnis einer Meinung sind. Dieser Umstand muss zumindest nicht in der Weise auf die zwischenstaatliche Ebene wirken, dass dort rechtlich bindende Verpflichtungen entstehen. Auch der französische Originalwortlaut ist nicht eindeutig. Hier wird in der Präambel davon gesprochen, die Vertragsstaaten „sont convenus des articles suivants:“ Das dabei verwendete Verb „convenir“ hat im Deutschen die Bedeutung von „vereinbaren“, „verabreden“ oder „etwas zugestehen“.143 Auch damit ist es noch nicht möglich, eindeutig festzustellen, ob die Vertragsstaaten beim Abschluss des Paktes neben den gegenüber den ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen begründeten Verpflichtungen auch noch Verpflichtungen auf zwischenstaatlicher Ebene definieren wollten. Allerdings kann weder die Ansicht, solche Verpflichtungen sollten begründet werden, noch die gegenteilige Ansicht zweifelsfrei anhand des Wortlauts der Präambel ausgeschlossen werden. Die EMRK verwendet in ihrer Präambel ebenfalls die Worte „agree“ beziehungsweise „sont convenus“ zur Beschreibung des Willens der Vertragsstaaten. Auch ansonsten ähnelt die Struktur der Präambel stark der der Präambel des CCPR. Hinsichtlich der hier gestellten Frage liefert also auch eine Analyse der Präambel der EMRK keine befriedigenden Ergebnisse. Dasselbe gilt für die in der gleichen Weise formulierte Präambel der AMRK. bb) Verpflichtungsklauseln Jeder der hier beispielhaft untersuchten Menschenrechtsschutzverträge enthält eine Bestimmung, die ausdrücklich auf die Verpflichtungen der Vertragsparteien eingeht.144 Diese bilden die wichtigste Quelle bei der Suche nach der Antwort auf die hier zu beantwortende Frage. Aus diesen Normen und ihrer Einordnung in das System des jeweiligen Vertrags könnte sich ergeben, dass die in einem Menschenrechtsschutzvertrag definierten vertraglichen Verpflichtungen lediglich vertikal auf der Staat-Individuum-Ebene, nicht aber auf der zwischenstaatlichen Ebene, horizontal bestehen. Sofern dies der Fall ist, liegt der Schluss nahe, dass auf zwischenstaatlicher Ebene in Menschenrechtsschutzverträgen auch insgesamt keine rechtlichen Verpflichtungen im hier verwendeten Sinne existieren. Die am schlichtesten gestaltete Verpflichtungsklausel findet sich in Art. 1 EMRK, die lediglich besagt: „The High Contracting Parties shall ensure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms defined in Section I of this Convention.“ Der Wortlaut dieser Bestimmung ist eindeutig. Rechtsträger der 143 144

Doucet / Fleck, Bd. 1, S. 184. Art. 2 CCPR; Art. 1 EMRK; Art. 1 Abs. 1 AMRK.

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in der ersten Sektion definierten Rechte und Freiheiten sind die Individuen, die der Hoheitsgewalt eines jeden Vertragsstaats unterstehen. Übersetzt in die hier verwendeten Formelsätze bedeutet dies, dass für ein Individuum gegenüber dem jeweiligen Staat ein Recht mit RiaaG-Struktur besteht, das mit einer Verpflichtung des Staates mit OaiaG-Struktur gegenüber diesem Individuum korrespondiert. Die in der ersten Sektion genannten Rechte nehmen ihrerseits lediglich Bezug auf das Verhältnis zwischen Staat und Individuum. Die zwischenstaatliche Ebene findet dort keine Erwähnung. Ebenso wenig erwähnt wird diese Ebene in Art. 1 EMRK selbst. Es wird nicht festgelegt, dass die Staaten, ein Recht haben sollen, untereinander die Einhaltung von in Sektion 1 definierten Menschenrechten zu fordern. Zwischen den Staaten bestehen daher keine Rechte mit RabG-Struktur, also einer Struktur des gleichen Inhalts wie derjenigen Rechte mit RiaaG-Struktur.145 Wortlaut und Systematik dieser Norm sprechen mithin dagegen, rechtliche Verpflichtungen im Menschenrechtsschutzvertrag auch auf zwischenstaatlicher Ebene anzunehmen. Art. 1 Abs. 1 AMRK hat, wenn man von den Regeln zur Nichtdiskriminierung bei der Rechtsgarantie absieht, denselben Inhalt wie Art. 1 EMRK. Auch diese Bestimmung spricht daher dafür, bei Menschenrechtsschutzverträgen lediglich eine vertikale Verpflichtungsstruktur, aber keine horizontale anzuerkennen. Noch deutlicher in dieser Hinsicht ist Art. 2 CCPR. Er verpflichtet die Vertragsparteien nicht nur zur Achtung der im Pakt anerkannten Rechte, sondern auch ausdrücklich dazu, sie den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen diskriminierungsfrei zu gewährleisten. Die Vertragspflichten werden in einem Atemzug mit den Individuen genannt, gegenüber denen sie zu gewährleisten sind. Es wird also bereits im Wortlaut dieser Bestimmung eine Verbindung zwischen den vertraglichen Verpflichtungen und den der staatlichen Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen hergestellt. Damit wird eine vertikale Verpflichtungsrichtung vorgegeben. Die im Pakt festgelegten Rechte, auf die sich Art. 2 Abs. 1 CCPR bezieht, haben lediglich das Staat-Individuum-Verhältnis im Blick. Dagegen wird die zwischenstaatliche Ebene nicht mit den vertraglichen Verpflichtungen in Verbindung gebracht. Sie wird nicht einmal erwähnt. Auch hier liegt somit der Schluss nahe, dass im Pakt nur vertikale, aber keinerlei horizontale Verpflichtungen definiert werden. Eine Analyse des Absatzes 2 dieses Artikels bestätigt dies. Den Vertragsstaaten wird hierin die Verpflichtung auferlegt, ihr innerstaatliches Rechtssystem so zu gestalten, dass die im Pakt anerkannten Rechte Wirksamkeit entfalten. Die zwischenstaatliche Verpflichtungsebene wird dabei völlig ausgeblendet. Es wird ausschließlich Bezug auf die innerstaatliche Ordnung genommen. Diese wiederum ist es, in der sich die Beziehung zwischen Individuum und Staat entfaltet. Schließlich nimmt auch Art. 2 Abs. 3 CCPR keinen Bezug auf die zwischenstaatliche Ebe145 Übertragen auf die zwischenstaatliche Ebene (hier beispielsweise zwischen den Staaten a und b) müssen aus Darstellungsgründen die Operatoren a und b verwendet werden. Dieses hat auf den materiellen Gehalt des dadurch beschriebenen Rechts keinen Einfluss.

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ne, sondern verpflichtet die Vertragsstaaten, demjenigen die Möglichkeit einer effektiven Beschwerde zu geben, der in seinen im Pakt definierten Rechten verletzt ist. Zusammen mit der Gewährleistungsklausel in Art. 2 Abs. 1 CCPR ergibt sich daraus, dass auch diese Verpflichtung lediglich auf das Verhältnis zwischen Individuum und Staat Anwendung findet. Auch hier wird auf zwischenstaatliche Verpflichtungen keinerlei Bezug genommen. Rechtsträger der staatlichen Verpflichtung sind also auch nach dem Inhalt des Art. 2 CCPR ausschließlich die der Hoheitsgewalt eines Vertragsstaats unterstehenden Individuen. Dies wiederum bedeutet, dass auf zwischenstaatlicher Ebene auch hier keine rechtlichen Verpflichtungen in dem Sinne geschaffen werden, dass ein Vertragsstaat das mit einer entsprechenden Pflicht korrespondierende Recht hätte, von einer anderen Vertragspartei die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen zu fordern. Zusammengefasst führt die Analyse aller drei Verpflichtungsklauseln zu dem Ergebnis, dass in Menschenrechtsschutzverträgen zumindest für die hierin definierten Primärrechte auf zwischenstaatlicher Ebene keine rechtlichen Verpflichtungen bestehen. Verpflichtungen bestehen ausschließlich im Verhältnis zwischen Bürger und Individuum.146 cc) Bestimmungen zu Überwachungsmechanismen Allen drei hier beispielhaft untersuchten Verträgen ist gemein, dass sie im Anschluss an die Verpflichtungsklausel einen Abschnitt enthalten, der die Rechte festlegt, zu deren Achtung sich die Staaten gemäß der Verpflichtungsklausel gegenüber den ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen verpflichten. Nahezu jeder Menschenrechtsschutzvertrag enthält weiterhin Bestimmungen, die sich mit der Durchsetzung dieser beschäftigen. Eines der dazu sowohl im CCPR als auch in EMRK und AMRK verwendeten Verfahren ist die Staatenbeschwerde.147 Die Tatsache, dass den Vertragsparteien dieses Verfahren zur Verfügung steht, scheint auf den ersten Blick für das Bestehen zwischenstaatlicher rechtlicher Verpflichtungen im Menschenrechtsschutzvertrag zu sprechen. In diesem Fall wäre die Staatenbeschwerde ein Instrument, mit dem die in ihren Rechten verletzten Vertragsparteien ihre Rechte geltend machen könnten. Diese Ansicht würde den Zweck der Staatenbeschwerde allerdings verkennen. Sie ist kein Instrument der zwischenstaatlichen Rechtswahrung. Die Staatenbeschwerde hat vielmehr einerseits Züge eines Ersatzes von Individualbeschwerden.148 Sie gibt einem Staat die Möglichkeit, eine Verletzung der Vgl. Simma, Reziprozitätselement, S. 168 f. Vgl. Art. 33 EMRK; Art. 41 CCPR; Art. 45 AMRK, in den beiden letztgenannten Verträgen ist die Möglichkeit einer Staatenbeschwerde lediglich fakultativ. Dieser Umstand kann bei der Untersuchung der Struktur und der Auswirkungen der Staatenbeschwerde allerdings außer Acht bleiben. 148 Leckie, HRQ 10 (1988), S. 256; vgl. auch Simma, Reziprozitätselement, S. 187. 146 147

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Rechte seiner Bürger durch einen anderen Vertragsstaat als deren Interessenwalter zu rügen.149 Damit bezieht sich das Verfahren aber wiederum auf das Verhältnis zwischen Staat und dem seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuum und den darin bestehenden Verpflichtungen. Dies spricht gegen das Bestehen von Verpflichtungen auf zwischenstaatlicher Ebene. Zum anderen kann die Staatenbeschwerde in der Gestalt einer Art actio popularis im Interesse des Menschenrechtsschutzes an sich auftreten.150 Auch dies erbringt keinen Beweis für die Existenz zwischenstaatlicher Verpflichtungen im Menschenrechtsschutzvertrag. Der Menschenrechtsschutz an sich entfaltet seine Wirkung zwischen Staat und Individuum, also auf vertikaler Ebene. Eine Staatenbeschwerde zur Verteidigung des Menschenrechtsschutzes an sich wäre daher keine Klage, die anstelle aller anderen Staaten erhoben würde. Eine solche actio popularis kann nur als Klage im Namen der Menschen an sich, also im Namen aller Rechtsträger von Menschenrechten gedeutet werden.151 Dass Staaten mit einer Staatenbeschwerde keine eigenen Rechte geltend machen, ergibt sich weiterhin aus dem Wortlaut des Art. 33 EMRK. Dieser legt fest, dass die Staatenbeschwerde im Falle von „any alleged breach“ also bei „jeder behaupteten Verletzung“ der Konvention erhoben werden kann. Dieses meint nicht die Verletzung der Rechte von Vertragsparteien, sondern der EMRK als „objektiver Ordnung“.152 Zum Teil wird vertreten, dass ein Staat Staatenbeschwerde auch aus Gründen seiner eigenen politischen oder wirtschaftlichen Interessen erheben kann.153 Dies könnte im Gegensatz zum eben Festgestellten für das Bestehen zwischenstaatlicher rechtlicher Verpflichtungen im Menschenrechtsschutzvertrag sprechen. Die Tatsache, dass es aber politische oder wirtschaftliche Interessen sein sollen, die den Staat zum Erheben einer Staatenbeschwerde bringen, erklärt bereits, dass es keine rechtlichen Interessen im engeren Sinne wären, die den Grund für die Staatenbeschwerde liefern. Der Bereich der politischen oder wirtschaftlichen Interessen ist wesentlich weiter als der der Geltendmachung eigener Rechte. Nicht jedes Verhalten einer Vertragspartei, durch die eine andere sich in ihren politischen Interessen beeinträchtigt fühlt, muss schon zwingend eine Verletzung vertraglicher Verpflichtungen beziehungsweise der Rechte eines anderen Staates darstellen. Auch insofern liefert das Instrument der Staatenbeschwerde mithin keinen Nachweis horizontaler Pflichtenstrukturen im Menschenrechtsschutzvertrag. 149 So z. B. im Verfahren EGMR, Case of Ireland v. The United Kingdom, 18. Januar 1978, abgedruckt in EuGRZ 6 (1979), S. 149 ff.; Grabenwarter, § 10 Rn. 2; Rozakis, in: Mélanges Nicolas Valticos, S. 507; vgl. auch den Fall EGMR, Case of Denmark v. Turkey, Application vom 7. Januar 1997. 150 Rozakis, in: Mélanges Nicolas Valticos, S. 507; Leckie, HRQ 10 (1988), S. 256; Grabenwarter, § 10, Rn. 2. 151 Vgl. Grabenwarter, § 10, Rn. 2. 152 Peters, § 36, S. 251. 153 Leckie, HRQ 10 (1988), S. 256.

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Neben der Staatenbeschwerde ist zumindest im CCPR ein weiteres Instrument zur Überwachung und Durchsetzung der im Pakt definierten Menschenrechte enthalten, das System der Staatenberichte. 154 Im englischen Originalwortlaut des Art. 41 Abs. 1 CCPR heißt es: „The States Parties to the present Covenant undertake to submit reports on the measures they have adopted which give effect to the rights recognized herein and on the progress made in the enjoyment of those rights ( . . . ).“ Das Prädikat dieses Satzes, „undertake“, hat im Deutschen die Bedeutung von „ein formelles Versprechen abgeben“ oder „sich verpflichten“.155 Insofern bestehen in dieser Hinsicht zumindest im CCPR horizontale rechtliche Pflichten. Ziel des Staatenberichtsverfahrens ist die Unterstützung des Staates bei der Erfüllung seiner im Menschenrechtsschutzvertrag definierten Pflichten sowie die Selbstüberprüfung jedes Staates.156 Die Pflicht eines Staates, einen Staatenbericht gemäß Art. 40 CCPR vorzulegen, kann daher zumindest keine aus dem Vertrag folgende Primärpflicht sein. Primärpflichten sind die auf der Staat-Individuum-Ebene existierenden Pflichten. Diese sind es, bei deren Einhaltung der Staat durch das Staatenberichtsverfahren unterstützt werden soll.157 Die Pflicht zur Teilnahme an diesem Verfahren bezieht sich daher auf die Einhaltung von Primärpflichten. Sie kann insofern nicht auf derselben Stufe wie die Primärpflichten stehen, da sie ohne deren Bestehen obsolet würde.158 Daher ist diese Form der vertraglichen Verpflichtung als Sekundärpflicht einzuordnen. Weiterhin gibt das System der Staatenberichte der Gemeinschaft der Vertragsparteien ein Überwachungsmittel bezüglich der Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen durch die einzelnen Parteien. Es dient außerdem zur Weiterentwicklung des Vertragsinhalts.159 Auch als Überwachungsmittel der Staatengemeinschaft kann das Staatenberichtsverfahren jedoch seinen Charakter als bloß sekundäre Verpflichtung jedes Staates gegenüber der Gemeinschaft der Vertragsparteien nicht verlieren. Ein Überwachungssystem als Primärverpflichtung macht keinen Sinn, da diejenigen Rechte fehlen würden, deren Einhaltung durch das Überwachungssystem garantiert werden soll. Insgesamt lässt sich im Hinblick auf das Instrument des Staatenberichts daher Folgendes feststellen: Art. 40 CCPR und vergleichbare Normen anderer Menschenrechtsschutzverträge begründen Verpflichtungen, die auf der zwischenstaatlichen Ebene zum Tragen kommen. Allerdings können diese Verpflichtungen nur als Sekundärpflichten angesehen werden. Primärver154 Art. 40 CCPR; das Staatenberichtsverfahren findet sich daneben z. B. in Art. 9 CERD, Art. 18 CEDAW, Art. 16 CESCR und Art. 62 AfrMRK. 155 Garner, Black’s Law Dictionary, S. 1527. 156 Klein, in: ders., The Monitoring System, S. 24 f.; Simma, in: Klein, The Monitoring System, S. 43 ff.; vgl. Scheinin, in: Hanski / Suksi, International Protection of Human Rights, S. 432 f. 157 Vgl. Simma, in: Klein, The Monitoring System, S. 44. 158 Vgl. Scheinin, in: Hanski / Suksi, International Protection of Human Rights, S. 430; sowie auch Tomuschat, in: Caflisch / Stein / ders., S. 8. 159 Seibert-Fohr, in: Klein, The Monitoring System, S. 118.

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pflichtungen, die mit den materiellrechtlich eigentlichen Menschenrechtsschutzbestimmungen vergleichbar sind, werden auch hierdurch nicht begründet. Die Funktion des Staatenberichtssystems als Mittel der Vertragsweiterentwicklung führt zu keinem anderen Ergebnis. Die Weiterentwicklung des Vertragsinhalts ist in der Weise zu verstehen, dass es die materiellen Vertragsbestimmungen sind, die durch die Behandlung von Staatenberichten weiterentwickelt werden.160 Diese existieren ausschließlich auf der vertikalen Ebene. Nutzt man auch hier die Möglichkeiten der Darstellung mit Hilfe deontischer Operatoren, so ergibt sich, dass die Verpflichtungen der Staaten auf der Sekundärebene eine Oa(b∧c∧d)G-Struktur haben, mit der eine R(b∧c∧d)G-Struktur korrespondiert. Der einzelne Vertragsstaat (a) hat gegenu¨ber der Gemeinschaft der anderen Vertragsparteien (b∧c∧d) die Verpflichtung (O), Staatenberichte in der im Vertrag vorgegebenen Weise vorzulegen (G).161 dd) Weitere Vertragsbestimmungen Neben den geschilderten Normen enthalten alle Menschenrechtsschutzverträge noch Bestimmungen, die sich unter anderem auf das Inkrafttreten des Vertrags, die Gruppe der möglichen Vertragsparteien, Vorbehalte, die verbindlichen Vertragssprachen, das Verfahren zur Änderung des Vertrags oder die Frage, wer die Rolle des Depositars einnehmen soll, beziehen. Nicht in allen Menschenrechtsschutzverträgen finden sich Bestimmungen aus allen hier aufgezählten Kategorien. Allerdings ist allen Menschenrechtsschutzverträgen gemein, dass sie zumindest einen Teil solcher Normen enthalten. Für die Annahme zwischenstaatlicher (primärer) Verpflichtungen geben aber auch diese keinen Anlass. Nach einer Untersuchung aller möglichen Gruppen von Bestimmungen in Menschenrechtsschutzverträgen bleibt daher festzuhalten, dass in solchen keine horizontalen Primärpflichten existieren.162 Zwischenstaatliche Verpflichtungen bestehen lediglich auf der Sekundärebene.163 160 Vgl. Seibert-Fohr, in: Klein, The Monitoring System, S. 112 ff., zusammenfassend S. 118 f. 161 Ähnlicher Ansicht, aber offenbar bezogen auf die Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags an sich ist Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 754; vgl. auch Tomuschat, in: Caflisch / Stein / ders., S. 9; Horn, S. 154. 162 IACHR, The Effect of Reservations on the Entry into Force of the American Convention (Advisory Opinion), 24. September 1982, ILM 22 (1983), S. 47; vgl. auch Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 727; Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 333; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 16; Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 20. 163 In diesem Sinne sind wohl auch die Ausführungen Simmas zu verstehen, Reziprozitätselement, S. 190 ff.; ebenso zu verstehen wohl auch die Ausführungen Bauers, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 17 ff., die nicht zwischen primären und sekundären Verpflichtungen im Menschenrechtsschutzvertrag unterscheidet, allerdings ihren eigenen auf S. 16 gemachten Ausführungen widersprechen würde, sofern sie von einer reziproken Geltung ver-

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c) Zusammenfassung: Die Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags als Vertrag mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur Die Besonderheit des Menschenrechtsschutzvertrags liegt darin, dass die in ihm definierte Pflichtenstruktur fast ausschließlich vertikale Elemente enthält. Horizontale Verpflichtungen finden sich lediglich im Bereich der Überwachung der Einhaltung der Primärpflichten, also auf der Sekundärebene.164 Gleichzeitig werden die Verpflichtungen durch eine Übereinkunft zwischen Staaten begründet. Die zwischenstaatliche Ebene ist also Pflichtenbegründungsebene und Überwachungsebene für die Primärpflichten. Sie ist aber nicht Wirkungsebene der Primärpflichten. Diese wirken auf der Staat-Individuum-Ebene. Nur dort entstehen wirkliche Verpflichtungen mit RiaaG-Struktur und korrespondierender OaiaG-Struktur. Nur dort existiert mit den als geschützt definierten Personen auch ein Kreis von Rechtsträgern, die gegenüber dem Vertragsstaat als Rechtsadressat ein Recht auf ein Tun oder Unterlassen haben. Auf der Primärebene existieren im zwischenstaatlichen Verhältnis keine Rechtsträger, die die Einhaltung eines von ihnen als eigenes Recht getragenen Menschenrechts gegenüber einem Vertragsstaat in dem Sinne fordern könnten, dass dieser eine rechtliche Verpflichtung dadurch erfüllt, dass er ihnen gegenüber das betreffende Menschenrecht durch ein Tun oder Unterlassen achtet.165 Die zwischenstaatlichen Beziehungen haben auf der Primärebene daher keinen rechtlichen Gehalt. Sie können höchstens politischer Natur sein.166 Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit der beispielsweise von Alain Pellet vertretenen Ansicht, dass Einsprüche zu Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen eher politische denn rechtliche Wirkung hätten.167 Wo Einsprüche zu Vorbehalten nur traglicher Primärpflichten ausginge, vgl. auch Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 56, 96 f.; Marks, ICLQ 39 (1990), S. 320. 164 Marks, ICLQ 39 (1990), S. 320; vgl. Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 16; Grabenwarter, § 2, Rn. 1; Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 333; Pityana, SAYIL 28 (2003), S. 123; Sucharipa-Behrmann, ARIEL 1 (1996), S. 67; Clark, AJIL 85 (1991), S. 287; Horn, S. 154; so wohl auch Simma / Steiner, S. 73; Simma, Reziprozitätselement, S. 168, 194; sowie Pauwelyn, EJIL 14 (2003), S. 933 f.; Pache, EuR 39 (2004), S. 397 f.; Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 104 f.; ders., HRR 6 (1981), S. 33; Rozakis, in: Mélanges Nicolas Valticos, S. 501 f. 165 HRC, General Comment No. 24, UN Doc. CCPR / C / 21 / Rev. 1 / Add. 6, S. 7, Ziff. 17. 166 Oftmals wird auf bzgl. dieser Ebene auch von der Errichtung einer objektiven Ordnung, der sich die Staaten unterwerfen, gesprochen; so z. B. Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 754. Auch dieser Begriff macht deutlich, dass keine primärrechtlichen Beziehungen zwischen den Staaten existieren, die von den Staaten untereinander im Verhältnis zwischen Rechtsträger und Rechtsadressaten geltend gemacht werden könnten; anderer Ansicht Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 137, der die Pflichtenstruktur aller Typen des völkerrechtlichen Vertrags als reziprok ansieht, weil dieses das Wesen des Vertrags an sich sei. Diese Ansicht enthält jedoch einen Zirkelschluss, da sie die Pflichtenstruktur des Vertrags mit der Pflichtenstruktur des Vertrags zu erklären versucht; vgl. auch Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 111. 167 Pellet spricht hier davon, dass Einsprüche keinen direkten Einfluss auf den Vorbehalt haben, sondern bei der Auslegung des Vertrags durch Vertragsorgane oder im Bereich der

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politisch wirken, da können auch die Verpflichtungen, deren Reduzierung oder Ausschluss durch den Vorbehalt erreicht werden soll, nur politischer Natur sein. Um die Pflichtenstruktur von Menschenrechtsschutzverträgen und damit allen Verträgen mit multilateral begründeter vertikaler Pflichtenstruktur zusammenfassend zu veranschaulichen, sollen auch hier die Mittel der graphischen Darstellung genutzt werden.

Pflichtenbegründungsebene

a

bÙcÙd

OaiaG RiaaG

Pflichtenwirkungsebene (bei Primärpflichten)

Bei Primärpflichten: politische Natur Bei Sekundärpflichten: Oa(bÙcÙd)G R(bÙcÙd)aG

ia Abbildung: 3: Darstellung der Pflichtenstruktur in einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikaler Pflichtenstruktur am Beispiel eines zwischen den Staaten a, b, c und d abgeschlossenen Menschenrechtsschutzvertrags. Der Operator ia steht für das unter der Hoheitsgewalt des Staates a stehende Individuum. Dargestellt sind die Verpflichtungen des Staates a. Auf die Darstellung der Verpflichtungen der übrigen Staaten wird aus Gründen der Übersichtlichkeit verzichtet

Streitbeilegung eine Rolle spielen können, UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 43 f., Ziff. 158; dieses bedeutet aber gleichzeitig, dass über das rechtliche Schicksal des Vorbehalts nicht mehr von den Staaten durch Annahme und Einspruch entschieden werden würde, wie es die WVK vorsieht. In ähnlicher Weise äußert sich Kuhner, der davon ausgeht, dass der Vorteil, der einem Staat aus seiner Mitgliedschaft in einem Menschenrechtsschutzvertrag erwächst, politischer Natur ist, Duke JCIL 13 (2003), S. 458; ähnlich auch Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 57; Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 79; Redgwell, in: Byers / Nolte, S. 409; vgl. die Ausführungen zum Staatenbeschwerdeverfahren, Kapitel 3, B. IV. 5. b) cc).

110

Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

Weiterhin finden sich in der Literatur Stimmen, die neben den hier dargestellten Verpflichtungen im Menschenrechtsschutzvertrag auch noch eine horizontale Pflichtenstruktur auf der Ebene der Individuen untereinander bejahen.168 Auf eine Untersuchung dieser Frage braucht in einer Arbeit über Vorbehalte jedoch nicht eingegangen zu werden, da Vorbehalte ausschließlich von Staaten erklärt werden können, also nur solche Ebenen betreffen, in die zumindest ein Staat einbezogen ist.

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts Eine Reform des Vorbehaltsrechts ist nur im Hinblick auf die Vertragskategorien geboten, bei denen die Anwendung des geltenden durch die WVK festgelegten Vorbehaltsrechts zu keinen sinnvollen Ergebnissen führt. Es ist daher im Folgenden zu untersuchen, hinsichtlich welcher Vertragskategorien dies der Fall ist und hinsichtlich welcher nicht. Dabei braucht nicht mehr auf die Kategorien der bilateralen Verträge, der plurilateralen Verträge und der Gründungsverträge internationaler Organisationen eingegangen werden.169

I. Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur Bringt ein Staat zu einem Vertrag einen Vorbehalt an, verfolgt er damit das Ziel, seine vertraglichen Verpflichtungen einseitig zu reduzieren.170 Der rechtliche Effekt dieses Vorhabens hängt nach geltendem Recht von dem anschließenden Verhalten der übrigen Vertragsparteien ab. Bezogen auf Verträge mit bilateral wirkender Pflichtenstruktur bedeutet dies, dass durch das Anbringen eines Vorbehalts bezweckt wird, im jeweils bilateralen Verhältnis zu den anderen Vertragsparteien die Rechte dieser und die damit korrespondierenden Verpflichtungen des Vorbehaltsstaats einseitig zu reduzieren oder zu beseitigen. Zur Veranschaulichung kann erneut auf das bereits für Verträge dieses Typs gebildete Beispiel eines einfachen Handelsabkommens zwischen den Staaten a, b, c und d zurückgegriffen werden, dessen Inhalt definiert, dass jeder dieser Staaten sich verpflichtet, Importe aus dem Gebiet der einen Vertragspartei so zu behandeln wie Importe aus dem Gebiet der übrigen Vertragsparteien. Wenn Staat a beim Abschluss dieses Vertrags zum Beispiel erklärt, er wolle dessen Inhalt nur insoweit anwenden, als dass es sich bei den Importen nicht um Lebensmittel aus dem Gebiet 168 Drzewicki, in: Hanski / Suksi, International Protection of Human Rights, S. 27; vgl. auch Motshekga, Diskussionsbeitrag zum 5. Kolloquium zur EMRK, abgedruckt bei Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 161. 169 s. o. Kapitel 3, B. I., II., III. 170 Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 1 f.

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts

111

des Staates b handelt, so stellt dies einen Vorbehalt dar. Staat a will seine Verpflichtungen, die er im bilateralen Verhältnis mit Staat b erfüllen müsste, einseitig reduzieren. Er hat das Ziel, in diesem bilateralen Verhältnis den Satz OabG $ RbaG einseitig außer Kraft zu setzen. Gleichzeitig will er erreichen, dass der Satz ObaG $ RabG weiterhin Gültigkeit behält.171 Graphisch dargestellt würde die von a mit dem Vorbehalt bezweckte Pflichtenstruktur des Vertrags im bilateralen Verhältnis zu b betrachtet wie folgt aussehen:

RabG

ObaG

RbaG

OabG

a

b

Abbildung 4: Darstellung der Pflichtenstruktur der bilateralen Beziehung zwischen den Staaten a und b in einem Vertrag mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur, wie sie nach dem Inhalt eines von a angebrachten Vorbehalts aussehen würde

Wendet man auf diesen Vorbehalt das Vorbehaltsrecht der WVK an, richtet sich sein rechtlicher Effekt nach dem Verhalten der übrigen Vertragsparteien.172 Nimmt b den Vorbehalt ausdrücklich an, so bedeutet dies gemäß Art. 20 Abs. 4 lit. a WVK, dass a im Verhältnis zu b Vertragspartei wird. Nach Art. 21 Abs. 1 WVK ändern sich weiterhin die zwischen Vorbehaltsstaat und annehmendem Staat entstandenen Verpflichtungen in dem Ausmaß, wie der Vorbehalt es vorsieht. In unserem Beispiel bedeutet dies, dass nicht nur der Satz OabG $ RbaG nicht mehr gilt. Die Annahme durch b bewirkt gemäß Art. 21 Abs. 1 lit. b WVK gleichzeitig, dass diese Änderung der vertraglichen Verpflichtungen auch für b im Verhältnis zu a gilt. Im hier gebildeten Beispiel gilt daher auch der Satz ObaG $ RabG nicht mehr. Der Vorbehalt bewirkt, dass die Verpflichtungen zwischen a und b insgesamt in dem im Vorbehalt vorgesehenen Ausmaß reduziert werden. Im hier gewählten Beispiel bedeutet dies, dass auch b gegenüber a die Möglichkeit hat, Lebensmittel, die aus dessen Gebiet in das Gebiet des Staates b eingeführt werden sollen, von der Meistbegünstigung auszuschließen. Dies gilt nicht nur im Falle einer ausdrücklichen Annahme, sondern gemäß Art. 20 Abs. 5 WVK auch bei zwölfmonatigem Schweigen durch b nach Notifikation des Vorbehalts. Auch diese Situation lässt sich anhand einer graphischen Darstellung verdeutlichen. Vgl. zu einer solchen Konstellation Keohane, Int. Org. 40 (1986), S. 12. Die eigentlich zunächst zu stellende Frage nach der Zulässigkeit des Vorbehalts i. S. d. Art. 19 WVK soll in dieser Arbeit der Übersichtlichkeit halber später bearbeitet werden. Weiterhin hat die Zulässigkeit eines Vorbehalts keinen Einfluss auf dessen Rechtswirkung; vgl. Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 339, der bildhaft von der „Ausrottung“ des objektiven Elements bei der Behandlung von Vorbehalten nach der WVK spricht. Der Übersichtlichkeit halber soll weiterhin auch lediglich das mögliche Verhalten des Staates b beleuchtet werden. 171 172

112

Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts RabG

ObaG

a

b RbaG

OabG

Abbildung 5: Darstellung der Pflichtenstruktur der bilateralen Beziehung zwischen den Staaten a und b in einem Vertrag mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur, wie sie nach Annahme eines von a angebrachten Vorbehalts durch b aussehen würde

Wie sich anhand dieser Darstellung erkennen lässt, bestehen nach Annahme des von a angebrachten Vorbehalts durch b zwischen diesen beiden Staaten in dem Bereich, auf den der Vorbehalt sich bezieht, keine Verpflichtungen mehr. Der von a durch das Anbringen des Vorbehalts erzielte einseitige Vorteil einer Pflichtenreduzierung wird durch die Annahme in der Weise kompensiert, dass für b dieselbe Pflichtenreduzierung im Verhältnis zu a entsteht. Der von a zunächst erzielte einseitige Vorteil wird aufgewogen.173 Nimmt b den Vorbehalt hingegen nicht an, sondern erhebt Einspruch gegen diesen, stellt sich die Situation ähnlich dar. Zu unterscheiden ist aber danach, ob b einen Einspruch mit oder ohne Ausschlusswirkung bezüglich der Eigenschaft des a als Vertragspartei im Verhältnis zu b einlegt. Sofern b einen Einspruch mit Ausschlusswirkung erklärt, entstehen keinerlei vertragliche Verpflichtungen zwischen a und b. Ein einseitiger Vorteil zu Gunsten des einen oder anderen Staates kann also nicht entstehen. Sofern b einen solchen Ausschluss nicht erklärt, wird a gemäß Art. 20 Abs. 4 lit. b WVK Vertragspartei im Verhältnis zu b. Weiterhin hat der Einspruch gemäß Art. 21 Abs. 3 WVK die Wirkung, dass die Bestimmungen, auf die der Vorbehalt sich bezieht, zwischen a und b in dem im Vorbehalt vorgesehenen Ausmaß keine Anwendung finden. Bezogen auf den Gegenstand des Vorbehalts entstehen zwischen a und b somit keine vertraglichen Verpflichtungen. Dadurch hat a zwar wiederum zunächst sein Ziel erreicht, durch den Vorbehalt seine Verpflichtungen gegenüber b zu reduzieren. Der Satz OabG $ RbaG tritt außer Kraft. Gleichzeitig entsteht aber auch für b keine Verpflichtung mehr gegenüber a. Auch der Satz ObaG $ RabG wird außer Kraft gesetzt. Im hier benutzten Beispiel bedeutet dies also wiederum, dass a berechtigt ist, Lebensmittel aus dem Gebiet des Staates b von der Meistbegünstigung auszunehmen. Dadurch, dass die betreffenden Bestimmungen des Vertrags aber zwischen a und b gar nicht zur Anwendung kommen, hat auch b das Recht, mit Lebensmittelimporten aus dem Gebiet des a in derselben Weise zu verfahren. Graphisch stellt sich diese Situation wie folgt dar:

173

Vgl. Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 8.

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts RabG

ObaG

RbaG

OabG

a

113

b

Abbildung 6: Darstellung der Pflichtenstruktur der bilateralen Beziehung zwischen den Staaten a und b in einem Vertrag mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur, wie sie nach einem Einspruch ohne Ausschlusswirkung durch b gegen einen Vorbehalt des a aussehen würde

Die Pflichtenstruktur, wie sie in Abb. 6 dargestellt ist, ist exakt identisch mit der in Abb. 5 gezeigten. Zwischen a und b existieren bezüglich des Bereichs, auf den der Vorbehalt sich bezieht, keine Verpflichtungen mehr. Der Effekt von Annahme und Einspruch (ohne Ausschlusswirkung) ist derselbe. Auch der Einspruch bewirkt, dass der dem Vorbehaltsstaat durch den Vorbehalt verschaffte einseitige Vorteil durch eine in gleichem Maße stattfindende Pflichtenreduzierung für den reagierenden Staat aufgewogen wird.174 Der Vollständigkeit halber ist noch darauf hinzuweisen, dass die Beziehungen zwischen a und den übrigen Vertragsparteien sowie die von b zu diesen und die rechtlichen Beziehungen der anderen Vertragsparteien untereinander durch die rechtliche Wirkung, die der Vorbehalt sowie Annahme beziehungsweise Einspruch im Verhältnis zwischen a und b erzeugen, nicht beeinflusst werden.175 Die Frage ist nun, ob die rechtlichen Effekte, die bei einer Anwendung des geltenden Vorbehaltsrechts nach der WVK auf Vorbehalte zu Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur entstehen, sinnvoll sind, oder ob es einer Reform des Vorbehaltsrechts im Hinblick auf Verträge dieser Kategorie bedarf. Da die Verträge hier anhand ihrer Pflichtenstruktur eingeteilt wurden und die Darstellung des Effekts des geltenden Vorbehaltsrechts die Pflichtenstruktur der Verträge beleuchtet, muss sich auch die Überlegung nach der Sinnhaftigkeit der Ergebnisse an der Pflichtenstruktur der Verträge orientieren. Zunächst ist auffällig, dass die Bilateralisierung, die die WVK im Hinblick auf Vorbehalte mit jedem völkerrechtlichen Vertrag vornimmt, hier keine Probleme verursacht. Wenn die in einem Vertrag definierten Verpflichtungen im bilateralen Verhältnis zum Tragen kommen und der Vorbehalt auf diese einwirkt, ist es sinnvoll, auch die rechtliche Wirkung des Vorbehalts allein im davon betroffenen bilateralen Verhältnis zu betrachten.176 Weiterhin sinnvoll ist, dass Art. 21 Abs. 1 WVK die Rechtswirkung eines Vorbehalts, wie sie durch Annahme oder Einspruch bestimmt wird, in reziproker Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 8. Dieses ergibt sich aus Art. 20 Abs. 4 lit. a, lit. b, Art. 21 Abs. 1 lit. a, lit. b, Art. 21 Abs. 3, Art. 21 Abs. 2 WVK. 176 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 742; vgl. auch Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 645; Keohane, Int. Org. 40 (1986), S. 12. 174 175

8 Behnsen

114

Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

Weise zur Entstehung bringt.177 Die Annahme eines Vorbehalts begründet nicht nur eine einseitige Pflichtenreduzierung, sondern wirkt in umgekehrter Richtung auch zu Gunsten des annehmenden Staates. Ein Einspruch neutralisiert den einseitigen Vorteil, den ein Staat sich durch einen Vorbehalt verschaffen könnte, dadurch, dass er den einsprechenden Staat ebenfalls von den entsprechenden Verpflichtungen gegenüber dem Vorbehaltsstaat freistellt. Eine solche reziproke Reaktionsmöglichkeit mit wechselseitiger Pflichtenreduzierung ist die konsequente Weiterentwicklung des Grundgedanken des Austauschvertrags beziehungsweise des Vertrags mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur.178 Die Strategie eines Vorbehaltsstaats kann so von einem anderen Staat wirksam durchkreuzt werden. Damit gerät das Pflichtengefüge des Vertrags in keine Schieflage, sondern behält in seiner reduzierten Form die ursprüngliche Stabilität bei.179 Auch wenn der Vorbehalt zwar noch auf einer Willkürentscheidung eines Staates beruht, so ist die Entscheidung über seinen rechtlichen Effekt nicht ohne die Beteiligung der anderen Vertragsparteien möglich. Im Vertrag mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur sind es gerade letztere, die durch den Vorbehalt unmittelbar betroffen werden.180 Das Konzept, die Entscheidung über das weitere Schicksal der reziproken vertraglichen Verpflichtungen in ihre Hände zu legen, ist daher im Hinblick auf die spätere Pflichtenverteilung gerecht und sinnvoll.181 Die Durchsetzung reziproker Verpflichtungen ergibt sich ferner generell aus deren Charakter selbst. Auch insofern stellt ein an die Reziprozität anknüpfendes Vorbehaltsrecht eine adäquate Lösungsmöglichkeit für aus der Reziprozität entstehende Probleme dar.182 Da Art. 21 Abs. 1 WVK sowohl für Annahme als auch für Einspruch effektiv dieselbe Rechtsfolge vorsieht, bedeutet es schließlich für den Staat, der sich einem Vorbehalt gegenüber sieht, dass er automatisch in der beschriebenen Weise vor der Erzielung einseitiger Vorteile durch einen Vorbehaltsstaat geschützt wird, da die reziproke Antwort auf den Vorbehalt spätestens binnen eines Jahres eintritt, selbst wenn der Staat es versäumt, in irgendeiner Weise ausdrücklich auf den Vorbehalt zu reagieren.183 Alle geschilderten Argumente legen nahe, die Regelungen der WVK zur Behandlung von Vorbehalten im Hinblick auf Vorbehalte zu Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur als sinnvoll anzuerkennen. Wenn sich dieser Gedanke bewahrheitet, steht fest, dass im Hinblick auf solche Verträge eine Reform des Vorbehaltsrechts nicht nötig ist und insofern über sie weder nachgedacht werden muss noch sollte. 177 178 179 180 181 182 183

Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 9; Polakiewicz, S. 99 f. Parisi / Ghei, Cornell ILJ 36 (2003), S. 111. Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 10; Clark, AJIL 85 (1991), S. 317. Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 25. Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 742. Axelrod, S. 161 ff.; Bourguignon, Virginia JIL 29 (1989), S. 368. Vgl. Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 9 f.

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts

115

Allerdings existieren im Hinblick auf die Anwendbarkeit der WVK-Regeln auf Vorbehalte zu Verträgen der hier behandelten Kategorie zwei Probleme. Die erste problematische Situation kann eintreten, wenn das Austauschverhältnis zwischen den beiden betroffenen Staaten von vornherein gestört ist. Wenn beispielsweise in einem militärischen Beistandspakt die Parteien die Verpflichtung eingehen, sich gegenseitig im Falle eines Angriffs zu Hilfe zu kommen, und ein Staat erklärt, dass er sich hieran im Hinblick auf eine bestimmte andere Vertragspartei nicht gebunden fühlt, löst dieses die nach der WVK vorgesehene wechselseitige Pflichtenreduzierung aus. Gleichgültig wie die andere Vertragspartei auf den Vorbehalt reagiert, wird der Vorbehaltsstaat von seiner Beistandsverpflichtung frei. Gleichzeitig hat er kein Recht mehr, im Falle eines Angriffs auf sein Staatsgebiet, den Beistand des Staates zu fordern, demgegenüber er den Vorbehalt erklärt hat. Im Gegenzug gilt die Beistandsverpflichtung für die andere Vertragspartei nicht. Auch sie hat schließlich kein Recht mehr, den Beistand des Vorbehaltsstaats gegebenenfalls einzufordern. Vordergründig ergibt sich hieraus dieselbe sinnvolle Situation, wie sie kurz zuvor beschrieben worden ist. Dieses gilt effektiv allerdings nur solange, wie die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Verpflichtungen nicht nur formell, sondern auch faktisch gleichwertig sind. Wenn im hier gebildeten Beispiel der Vorbehaltsstaat eine hochgerüstete Supermacht ist, der Staat, gegenüber dem der Vorbehalt erklärt wird, jedoch ein kaum verteidigungsfähiges Entwicklungsland, kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass durch den Einsatz von Annahme und Einspruch die durch den Vorbehalt erstrebte einseitige Pflichtenreduzierung effektiv aufgewogen wird. Dieser Missstand beruht allerdings nicht auf einem Fehler innerhalb der Regeln der WVK. Seine Ursache kommt bereits zum Tragen, lange bevor Vorbehaltsrecht zur Anwendung gebracht werden kann. Die Ursache dieses Missstandes ist, dass vollständige Reziprozität vertraglicher Pflichten, zwar formell möglich ist, in materieller Hinsicht eine solche Möglichkeit hingegen nur theoretisch, aber kaum praktisch besteht. Die Wichtigkeit der Erfüllung formell reziproker Pflichten ist für jeden Staat unterschiedlich groß, was wiederum von der jeweiligen individuellen tatsächlichen Situation des betreffenden Staates abhängt. Da kein Staat einem anderen Staat in jeder Hinsicht vollständig gleicht, müssen die Ausgangspositionen von Staaten beim Abschluss von Verträgen mit reziproken Verpflichtungen immer unterschiedlich sein. Materielle Reziprozität, also die vollständige Gleichwertigkeit vertraglicher Verpflichtungen im Hinblick auf den Effekt, den ihre Erfüllung im jeweils betroffenen Einzelstaat hervorruft, kann daher niemals erreicht werden.184 Der WVK als Vertrag zur allgemeinen Regelung des Vertragsrechts die Entscheidung über jeden denkbaren Einzelfall des Schicksals reziproker Vertragsverpflichtungen aufzubürden, ist offenkundig nicht möglich und würde ihrem Charakter zuwiderlaufen. Man muss sich daher damit zufrieden geben, dass Reziprozität immer nur in der Weise verstanden werden kann, dass die vertraglichen Verpflichtungen formell im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen, das 184 Vgl. hierzu erneut die Ausführungen von Zoller, S. 20 sowie Keohane, Int. Org. 40 (1986), S. 7 f.; Schreuer, in: Delbrück, Cooperation and State Sovereignty, S. 178.

8*

116

Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

Do-ut-des-Prinzip also eingehalten wird. Weiterhin muss in materieller Hinsicht zumindest eine gewisse Gleichheit bestehen. Welche Maßstäbe an diese zu legen sind, kann allerdings nur im Einzelfall entschieden werden. Eine Untersuchung der hierfür nötigen Vorgehensweise würde die Grenzen dieser Arbeit sprengen. Auf sie soll daher verzichtet werden.185 Bedacht werden muss bei der Untersuchung der Gründe des beschriebenen Missstandes allerdings, dass die Schieflage der reziproken Verpflichtungen nicht erst bei Einlegung eines Vorbehalts entsteht. Vielmehr ist sie bereits im ursprünglichen Vertragstext und den darin definierten Pflichten angelegt. Wenn sich, um im beschriebenen Beispiel zu bleiben, sowohl eine Supermacht als auch ein Entwicklungsland entscheiden, Partei eines solchen Beistandspakts zu werden, so ist von Anfang an klar, dass die Beistandsverpflichtungen nicht materiell gleichwertig sein können. Wenn sich die Staaten trotzdem entschließen, Vertragspartei zu werden, nehmen sie diese Schieflage in ihren Willen auf. Bringt nun eine Partei einen Vorbehalt zu diesem Vertrag an, verstärkt sich diese Schieflage lediglich. Allein auf diese Verstärkung kann das Vorbehaltsrecht der WVK reagieren. Sie wird durch die Möglichkeiten, die den Staaten mit den Instrumenten Annahme und Einspruch gegeben sind, auch ausgeglichen. Nachdem die WVK-Regeln zu Vorbehalten in einem solchen Fall zur Anwendung gebracht worden sind, besteht unter Einrechnung der beiderseitig reduzierten reziproken Verpflichtungen lediglich die bereits bei Vertragsschluss begründete Schieflage fort.186 Es ist allerdings nicht Aufgabe des Vorbehaltsrechts solche Missstände auszugleichen, die bereits zum Tragen kommen, bevor der Einsatz von Vorbehalten selbst stattfinden kann. Es ist vielmehr Aufgabe der Staaten selbst, vor Vertragsschluss eine für beide Seiten materiell gerechte Lösung zu finden. Im Extremfall steht es dem benachteiligten Staat frei, von einer Vertragsteilnahme Abstand zu nehmen. Zusammenfassend ergibt sich daher, dass die Tatsache, dass bei reziproken Verträgen eine Störung der (materiellen) Reziprozität der vertraglichen Verpflichtungen bereits bei Vertragsschluss auftreten kann, nicht geeignet ist, um eine Reformbedürftigkeit des Rechts der Vorbehalte nach der WVK für Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur zu begründen. Zum Teil wird die Sinnhaftigkeit der Vorbehaltsregeln der WVK weiterhin mit dem Argument angezweifelt, dass für den Staat, der sich als Partei eines Vertrags mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur mit dem Vorbehalt einer anderen Vertragspartei konfrontiert sieht und dessen Inhalt ablehnt, keine Möglichkeit besteht, eine volle Bindung des Vorbehaltsstaats zu erreichen.187 Der Vorbehaltsstaat bekommt im bilateralen Pflichtenverhältnis seinen Willen, gleichgültig ob die andere Vertragspartei Annahme oder Einspruch erklärt.188 Der mit dem VorZu dieser Frage vgl. Zoller, S. 19 ff.; Keohane, Int. Org. 40 (1986), S. 10 f., 12 ff. Vgl. Parisi / Ghei, Cornell ILJ 36 (2003), S. 114. 187 Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 334 f. 188 Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 186; Hylton, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 438 f.; vgl. Schweisfurth, IRD 1972, S. 195. 185 186

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts

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behalt konfrontierte Staat besitzt also keine materielle Auswahlmöglichkeit im Hinblick auf die Pflichtenstruktur des Vertrags nach Anbringung des Vorbehalts.189 In Bezug auf den rechtlichen Effekt eines Vorbehalts ist diese Beobachtung richtig. Die Frage ist jedoch, ob dies dazu führt, dass Sinnhaftigkeit der Vorbehaltsregeln nach der WVK insgesamt für diesen Vertragstyp nicht vorhanden ist. Der Versuch, einen Staat durch Einsprüche auf seine Vorbehalte voll an den Vertragsinhalt zu binden, ist bislang nur von wenigen Staaten und nahezu nur in Bezug auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen, also Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur, unternommen worden.190 Die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens ist weitgehend ungeklärt und bildet im Hinblick auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen einen Schwerpunkt dieser Arbeit. Wenn es allerdings als Schwäche der WVK-Regeln zu Vorbehalten auch in Bezug auf Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur angesehen wird, dass ein Vorbehaltsstaat nicht durch den Willen der anderen Staaten voll an den Vertrag gebunden werden kann, muss auch im Hinblick auf solche Verträge hier eine zumindest kurze Untersuchung der Zulässigkeit eines solchen Verhaltens erfolgen. Grundsätzlich sind Staaten als originäre Völkerrechtssubjekte souverän. Die ihnen auferlegte Pflicht zur gegenseitigen Respektierung ihrer Souveränität stellt eines der Grundprinzipien des Völkerrechts dar.191 Dieses liefert die Grundlage für das Interventionsverbot, also das Verbot, sich in die inneren und äußeren Angelegenheiten eines anderen Staates einzumischen.192 Hieraus lässt sich schließlich ableiten, dass kein Staat einem anderen Staat in Bezug auf dessen äußere Angelegenheiten seinen Willen aufzwingen darf.193 Eine Intervention ist insbesondere dann rechtswidrig, wenn sie sich auf eine Angelegenheit bezieht, die dem Staat zur freien Willensausübung zugewiesen ist.194 Hierzu gehört auch die Macht eines Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 25; Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 332. Vgl. Kapitel 2, F. II.; wegen seiner Bezogenheit auf Menschenrechtsschutzverträge soll dieser Ansatz in dieser Arbeit im Wesentlichen in den Abschnitten zu diesen Verträgen behandelt werden. 191 Vgl. Art. 2 Ziff. 1 UNC; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 166, I. 1.; Steinberger, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 513; Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 59, Rn. 50; Zimmermann, Michigan JIL 16 (1995), S. 440. 192 Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 168, I. 1.; Oppermann, in: Bernhardt, EPIL, Bd. II (E-I), S. 1437; dabei ist militärischer Zwang nicht notwendig. Auch jede wirtschaftliche, politische oder sonstige Zwangsmaßnahme kann eine unzulässige Intervention darstellen; vgl. Art. 32 der Charter of Economic Rights and Duties of States, GA Res. 3281 (XXIX) vom 12. Dezember 1974, abgedruckt in VN 1975, S. 117; Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 59, Rn. 55 f.; Berstermann, S. 40 ff. 193 Bockslaff, S. 112; Berstermann, S. 129; Fassbender, APUZ B 43 / 2004, S. 8; vgl. auch den 3. Grundsatz der Erklärung über völkerrechtliche Grundsätze für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Sinne der Charta der Vereinten Nationen, Anhang zur GA Res. 2625 (XXV) vom 24. Oktober 1970 (im Folgenden: „Friendly Relations Declaration“); Epping, in: Ipsen, VölkerRt., 5. Kapitel, § 26, Rn. 12; Steinberger, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 513. 189 190

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

Staates zum Abschluss von Verträgen,195 und damit auch das Anbringen von Vorbehalten als ein dem Vorgang des Vertragsschlusses zuzurechnendes Handeln. Wenn ein Staat durch einen Einspruch gegen einen Vorbehalt erreichen könnte, dass der Vorbehaltsstaat voll an die reziproken Verpflichtungen eines Vertrags der hier behandelten Kategorie gebunden wird, bedeutet dies, dass der einsprechende Staat einseitig den Vorbehalt des anderen Staates beseitigen kann, ihm also seinen Willen würde aufzwingen können. Grundsätzlich wird das Anbringen von Vorbehalten von der WVK jedoch nicht verboten. Für sich genommen steht solches Verhalten damit in der freien Willensausübung der Staaten. Eine einseitige Erzeugung des vollen Bindungswillens auf Seiten des Vorbehaltsstaats durch Einspruch einer anderen Vertragspartei wäre daher eine unzulässige Intervention. Der Möglichkeit der Unzulässigkeit eines Vorbehalts wegen Verstoßes gegen eines der in Art. 19 WVK festgelegten Kriterien begegnet die WVK mit Hilfe der von ihr festgelegten Regeln hinsichtlich der Wirkung von Annahme und Einspruch. Diese sind im Vertrag mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur geeignet, um zwischen den Interessen der beteiligten Staaten einen schonen Ausgleich herbeizuführen, der dem reziproken Charakter des Vertrags Rechnung trägt und keine Partei unangemessen belastet. Ein weiteres Einwirken auf die freie Willensbetätigung ist daher im Hinblick auf die Souveränität des Vorbehaltsstaats als unverhältnismäßig und damit als unzulässige Intervention anzusehen.196 Insofern stimmt es zwar, dass es letztendlich nicht der reagierende Staat ist, der durch Einspruch oder Annahme über das rechtliche Schicksal eines Vorbehalts entscheidet. Dieser Umstand wird bei Vorbehalten zu Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur jedoch durch die reziproke Wirkung von Annahme und Einspruch aufgewogen. Der beschriebene Vorwurf an die WVK überzeugt aus diesem Grunde nicht. Damit bleibt es bei dem Ergebnis, dass zur Behandlung von Vorbehalten zu Verträgen dieser Kategorie die Anwendung der Regeln der WVK zu sinnvollen und gerechten Ergebnissen führt.197 Reformbedarf besteht für das Vorbehaltsrecht bezüglich solcher Verträge nicht. 194 IGH, Case Concerning Military and Paramilitary Activities In and Against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), 27. Juli 1986, ICJ Reports 1986, S. 106; Bockslaff, S. 106; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 168, I. 8. 195 Schreuer, in: Delbrück, Cooperation and State Sovereignty, S. 164; Steinberger, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 512; Oppermann, in: Bernhardt, EPIL, Bd. II (E – I), S. 1437; Habermas, S. 118. 196 Auf die Frage der Begrenzung der Souveränität durch völkerrechtliche Verträge wird erst bei der Untersuchung der Wirkung von Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen einzugehen sein. Lediglich für diesen Bereich wird eine solche Souveränitätsbegrenzung bislang überhaupt diskutiert. Im Hinblick auf Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur findet eine solche Diskussion nicht einmal statt. 197 Stellungnahme des Vertreters Schwedens im 6. Committee der Generalversammlung Magnuson (dabei für alle nordischen Staaten sprechend), UN Doc. A / C.6 / 53 / SR.17, S. 2 f., Ziff. 6; Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 332; Bourguignon, Virginia JIL 29 (1989), S. 368; Buergenthal, AJIL 79 (1985), S. 21; Kühner, S. 202; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechts-

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts

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II. Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur Wie bei der Kategorie der Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur hat auch ein Vorbehalt zu einem Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur das Ziel, einseitig Verpflichtungen des Vorbehaltsstaats ganz oder teilweise aufzuheben. Dieses soll auch hier anhand eines einfachen Beispiels erläutert werden. Als Beispiel für einen Vertrag dieser Kategorie gelten Test-Stop-Verträge.198 Angenommen sei ein Vertrag zwischen den Staaten a, b, c und d des Inhalts, dass die Vertragsparteien auf ihrem Staatsgebiet keine atomaren Waffen testen dürfen. Wenn Staat a bei Ratifikation des Vertrags erklärt, er fühle sich an diese Verpflichtung insofern nicht gebunden, als er atomare Waffen bis zu einer näher definierten Sprengkraft weiterhin testen wolle, so stellt diese Erklärung einen Vorbehalt dar. Ausgedrückt mit Hilfe deontischer Operatoren bedeutet dies, dass a das Ziel verfolgt, den Satz Oa(b∧c∧d)G $ R(b∧c∧d)aG einseitig außer Kraft zu setzen. Er will die fu¨r ihn gegenu¨ber der Gesamtheit der u¨brigen Vertragsparteien bestehenden Verpflichtungen (teilweise) beseitigen und damit auch das fu¨r die Gesamtheit der u¨brigen Vertragsparteien bestehende korrespondierende Recht, von a die Erfu¨llung seiner Verpflichtungen zu verlangen. Graphisch dargestellt ergibt dies folgende Situation: Oa(bÙcÙd)G

R(bÙcÙd)aG

a

bÙcÙd Ob(aÙcÙd)G

R(aÙcÙd)bG

b

aÙcÙd Oc(aÙbÙd)G

R(aÙbÙd)cG

c

aÙbÙd Od(aÙbÙc)G

d

R(aÙbÙc)dG

aÙbÙc

Abbildung 7: Darstellung der Pflichtenstruktur in einem zwischen den Staaten a, b, c und d geschlossenen Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur nach Anbringung eines Vorbehalts durch a verträgen, S. 57; Clark, AJIL 85 (1991), S. 317; Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003); in einem obiter dictum so auch Richter Valticos in seiner Partly Dissenting Opinion zu EGMR, Case of Chorherr v. Austria, 23. August 1993, Ser. A Nr. 266 B, S. 41; auch Schweisfurth, IRD 1972, S. 195, hält den Einspruch nur für rechtlich wirkungslos. In tatsächlicher Hinsicht, ist er dagegen ausreichend wirkungsvoll. 198 s. o. Kapitel 3, B. IV. 4.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

Gemäß Art. 19 ff. WVK sollen es die übrigen Vertragsparteien in der Hand haben, durch den Einsatz von Annahme und Einspruch über die rechtliche Wirkung des Vorbehalts zu entscheiden. Diese Entscheidung kann nach dem System der WVK allerdings nicht durch die Gesamtheit aller übrigen Vertragsparteien als solche getroffen werden. Dem Gedanken des Bilateralisierens eines Vertrags folgend, muss jede andere Vertragspartei selbst entscheiden, ob und in welcher Weise sie in ihrem jeweils bilateralen Verhältnis zum Vorbehaltsstaat auf dessen Vorbehalt reagieren will.199 Nimmt im hier gebildeten Fall eine andere Vertragspartei den Vorbehalt des a an, wird a gemäß Art. 20 Abs. 4 Nr. 1 WVK Vertragspartei im Verhältnis zum annehmenden Staat. Weiterhin ändern sich die vertraglichen Verpflichtungen im Verhältnis zwischen a und dem annehmenden Staat gemäß Art. 21 Abs. 1 WVK wechselseitig in dem Ausmaß, wie es der Vorbehalt vorsieht. Gegenüber dem annehmenden Staat ist a also nicht mehr verpflichtet, auf Tests atomarer Waffen unterhalb der im Vorbehalt genannten Sprengkraftgrenze zu verzichten. Gleichzeitig besteht eine solche Verpflichtung gegenüber a auch nicht mehr für den annehmenden Staat. Dieses Ergebnis tritt nicht nur im Falle einer ausdrücklichen Annahme ein, sondern auch in dem Fall, dass die andere Partei die Jahresfrist für eine Reaktion gemäß Art. 20 Abs. 5 WVK verstreichen lässt. Erhebt eine andere Vertragspartei hingegen Einspruch gegen den Vorbehalt des a, so finden gemäß Art. 21 Abs. 3 WVK die Vertragsbestimmungen, auf die der Vorbehalt sich bezieht, in dem darin vorgesehenen Ausmaß keine Anwendung. Sie werden aus dem bilateralen Verhältnis zwischen a und der einsprechenden Vertragspartei ausgeklammert.200 Dies bedeutet, dass auch im Verhältnis zu einer einsprechenden Vertragspartei a keine Verpflichtung eingeht, auf Tests unterhalb der im Vorbehalt angegebenen Grenze zu verzichten. Die einsprechende Vertragspartei wird im Gegenzug gegenüber a ebenfalls von ihrer entsprechenden Verpflichtung frei. Zwischen der rechtlichen Wirkung des Vorbehalts, die durch eine Annahme erzeugt wird und der, die aus einem Einspruch folgt, bestehen bezogen auf die Pflichtenstruktur des Vertrags mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur daher keinerlei Unterschiede. Spätestens ein Jahr nach Notifikation des Vorbehalts besteht daher hinsichtlich der Pflichtenstruktur zwischen Vorbehaltsstaat und allen übrigen Vertragsparteien dieselbe Situation. Die ursprünglich von der WVK angestrebte Bilateralisierung multilateralisiert sich damit wieder. Man kann auch davon sprechen, dass ein Vorbehalt eines Staates zu einem Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur auch gegenüber der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien die Wirkung hat, dass der Vorbehaltsstaat frei von seinen Verpflichtungen wird, ganz gleich wie einzelne Staaten auf den Vorbehalt reagieren. Im Gegenzug hat die Gemeinschaft der übrigen Vertragsparteien kein Recht mehr, vom Vorbehaltsstaat das im Vorbehalt von den vertraglichen Verpflichtungen ausArt. 20 und 21 WVK. Die Möglichkeit eines Einspruchs mit Ausschlusswirkung und deren Folgen sollen hier nicht behandelt werden. 199 200

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts

121

geschlossene Verhalten zu fordern. Der Satz Oa(b∧c∧d)G $ R(b∧c∧d)aG gilt nicht mehr. Graphisch dargestellt ergibt sich dann folgendes Bild:

Oa(bÙcÙd)G

R(bÙcÙd)aG

a

bÙcÙd Ob(aÙcÙd)G

R(aÙcÙd)bG

b Oc(aÙbÙd)G

Od(aÙbÙc)G

a

(bÙd)

a

(bÙc)

a

R(aÙbÙd)cG

c d

(cÙd)

R(aÙbÙc)dG

Abbildung 8: Darstellung der Pflichtenstruktur in einem zwischen den Staaten a, b, c und d geschlossenen Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur nach Anbringung eines Vorbehalts durch a sowie nach Erklärung von Annahme oder Einspruch durch die übrigen Vertragsparteien

Die Graphik verdeutlicht neben den bereits geschilderten Ergebnissen noch einen weiteren Umstand, der nach erfolgter Reaktion der übrigen Vertragsparteien eintritt. Die Bilateralisierung der vertraglichen Beziehungen zwischen den Staaten durch die WVK im Falle eines Vorbehalts, hat beim Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur die Auswirkung, dass der Vorbehaltsstaat bei der Feststellung der Verpflichtungen der übrigen Vertragsparteien aus der jeweiligen Gesamtheit der Vertragsparteien ausgeschlossen werden muss. Er ist kein Rechtsadressat beziehungsweise Rechtsträger mehr. Dennoch bleibt die Gemeinschaft der Vertragsparteien als solche erhalten. Allein sie ist im Verhältnis zu den anderen Vertragsparteien weiterhin Rechtsträgerin, nicht die einzelnen Staaten für sich genommen.201 Im hier gebildeten Beispiel ist trotz des Vorbehalts des a beispielsweise b weiterhin gegenüber der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien verpflichtet. Allein a muss von b nicht mehr als Teil dieser Gesamtheit angesehen werden. Damit bewirken die Art. 19 ff. WVK einerseits eine Multilateralisierung der vertraglichen Verpflichtungen. Dies geschieht andererseits aber nicht vollständig. Da der Vorbehaltsstaat von den anderen Staaten nicht mehr als Teil der Gesamtheit der Vertragsparteien angesehen werden muss, verschwindet die Bilateralisierung nach der WVK nicht rückstandslos. Es ist fraglich, ob dieser Zustand zum Teil wieder multilateralisierter Bilateralisierung wirklich von der WVK gewollt ist. Ihrem ansonsten klar auf Bilateralisierung ausgerichtetem System widerspricht er zumindest teilweise.202 201

Vgl. Horn, S. 165.

122

Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

Für die Verpflichtungen der übrigen Vertragsparteien treten durch den Vorbehalt eines Staates keinerlei Änderungen ein. Unabhängig von ihrer Reaktion auf den Vorbehalt bleiben sie der Gesamtheit der Vertragsparteien gegenüber weiterhin voll gebunden. Auf den ersten Blick steht dieses Ergebnis im Einklang mit den Bestimmungen der WVK. Regelt Art. 21 Abs. 2 WVK doch, dass ein Vorbehalt auf die Verpflichtungen der übrigen Vertragsparteien untereinander keine Auswirkungen hat. Diese Ansicht ist indes zu oberflächlich. Das System der WVK zu Vorbehalten ist von dem Gedanken durchzogen, den Staaten, die sich einem Vorbehalt gegenüber sehen, eine Möglichkeit zu verschaffen, den vom Vorbehaltsstaat bezweckten Vorteil zu neutralisieren. Bei Vorbehalten zu Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur funktioniert dieses System.203 Im Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur hingegen ist dies anders. Auch wenn der Vorbehaltsstaat nicht mehr als Teil der Gesamtheit der Vertragsparteien angesehen wird, reduzieren sich die Pflichten der anderen Vertragsparteien nicht.204 Da Staaten im Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur außerdem keine untereinander bestehenden Rechte haben, können Rechte des einzelnen Vorbehaltsstaats gegenüber den anderen Vertragsparteien auch nicht durch Annahme oder Einspruch reduziert werden. Für den Vorbehaltsstaat entsteht also kein Nachteil aus seinem Vorbehalt. Damit entfällt für die übrigen Vertragsparteien die Möglichkeit, durch Annahme und Einspruch den aus dem Vorbehalt erwachsenden Vorteil des Vorbehaltsstaats zu neutralisieren. Weiterhin tritt keine Kompensationswirkung ein. Mögen die Pflichten der übrigen Vertragsparteien sich zwar gegenüber dem Vorbehaltsstaat reduzieren, so bleiben sie gegenüber der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien als solcher doch erhalten. Die Verpflichtungen wirken nicht reziprok wie beim Vertrag mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur.205 Bei der Erfüllung seiner Pflichten macht es für den einzelnen Staat keinen Unterschied, ob der Vorbehaltsstaat noch als Teil dieser Gesamtheit angesehen wird. Das Erfüllungsverhalten bleibt dasselbe, es darf nicht reduziert werden. Im hier gebildeten Beispiel bestehen für die Vertragspartei b hinsichtlich ihrer Verpflichtungen zwischen den Sätzen Ob(a∧c∧d)G $ R(a∧c∧d)bG und Ob(a∧c∧d)G $ R(a∧c∧d)bG weder formell noch materiell Unterschiede, da es fu¨r die Erfu¨llung der Verpflichtungen irrelevant ist, ob die Gemeinschaft der u¨brigen Vertragsparteien als Rechtstra¨gerin (a∧c∧d) oder lediglich (c∧d) umfasst. Schon diese Umstände beweisen, dass eine Anwendung der Art. 19 ff. WVK auf Verträge dieser Kategorie nicht mehr die Wirkungen erzeugt, die die WVK eigentlich erreichen will. Dies gilt auch für das Prinzip, dass nach der WVK die übrigen Vertragsparteien über die Rechtswirkung eines Vorbehalts entscheiden sollen, insgesamt. Wenn An202 203 204 205

Vgl. Simma, Reziprozitätselement, S. 63. s. o. Kapitel 3, C. I. Horn, S. 165. Kühner, S. 202 f.

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts

123

nahme und Einspruch bei diesem Vertragstyp zu denselben Ergebnissen führen und der Vorbehaltsstaat keinerlei Nachteile durch seinen Vorbehalt in Kauf nehmen muss, bedeutet dies, dass er es selbst ist, der über die Rechtswirkung des Vorbehalts entscheidet. Schon mit dem Anbringen des Vorbehalts legt er die weitere Pflichtenstruktur des Vertrags fest. Annahme und Einspruch der übrigen Vertragsparteien können noch nicht einmal im Hinblick auf die Zukunft einen Anreiz für den Vorbehaltsstaat setzen, seinen Vorbehalt zu überdenken oder zurückzunehmen.206 Dieser Umstand steht dem ursprünglich von der WVK verfolgten Ergebnis entgegen.207 Das System der WVK führt bei Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur also letztendlich dazu, dass es sich selbst aufhebt. Mit der Verlagerung der Entscheidungsmacht über die Rechtswirkung eines Vorbehalts auf den Vorbehaltsstaat geht darüber hinaus ein weiteres Element der bilateralen Betrachtungsweise verloren. Es kommt bei einem solchen Ergebnis nicht mehr darauf an, ob man das Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und reagierendem Staat bilateral oder nur in Bezug auf die Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien als solche betrachtet. Damit ist der Beweis dafür erbracht, dass im Hinblick auf diesen Vertragstyp das Vorbehaltsrecht der WVK nicht anwendbar ist, ohne dass sinnwidrige Ergebnisse entstehen.208 Über Alternativen zum geltenden Vorbehaltsrecht darf und muss im Hinblick auf Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur daher nachgedacht werden.

III. Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur Im Vertrag mit multilateral begründeter, aber vertikal wirkender Pflichtenstruktur bestehen die Primärpflichten auf der Staat-Individuum-Ebene. Sie haben eine vertikale Ausrichtung, auch wenn sie auf zwischenstaatlicher Ebene begründet werden. Die Sekundärpflichten, die sich auf die Überwachung der Einhaltung der vertikalen Primärpflichten beziehen, sind hingegen horizontaler Natur. Wegen dieses Unterschiedes muss auch die Wirkung von Vorbehalten zu solchen Verträgen in zwei Schritten untersucht werden. Dabei wird der Schwerpunkt auf die Primärpflichten gelegt. Diese stellen nicht nur die eigentlichen vertraglichen Verpflichtungen dar. Ein Vorbehalt zu solchen Verpflichtungen stellt den Rechtsanwender, wie noch zu sehen sein wird, darüber hinaus vor besondere Probleme. 206 Insofern besteht auch ein Unterschied zu der Situation, wie sie bei Vorbehalten zu Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur gegeben ist. Hier wird die Tatsache, dass der Vorbehaltsstaat letztendlich allein über die rechtliche Wirkung des Vorbehalts entscheidet durch die reziproke Pflichtenreduzierung zumindest aufgewogen. 207 Zur einseitigen Bevorzugung des Vorbehaltsstaats auch Gillespie, EJIL 14 (2003), S. 996. 208 Kühner, S. 203; Simma, Reziprozitätselement, S. 63; Horn, S. 165; vgl. Wold, Colorado JIELP 14 (2003), S. 65.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

1. Primärpflichten a) Probleme hinsichtlich der Pflichtenstruktur Ein Vorbehalt zu einer Primärpflicht in einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur hat wie alle Vorbehalte das Ziel, einseitig bestimmte Verpflichtungen auf Seiten des Vorbehaltsstaats auszuschließen. Wie hinsichtlich der bereits behandelten Vertragskategorien soll auch hier zunächst die Wirkung eines Vorbehalts zu einem solchen Vertrag anhand eines Beispiels erläutert werden. Wenn ein beliebiger Menschenrechtsschutzvertrag, dessen Parteien unter anderem die Staaten a, b, c, und d sind, in einem seiner Artikel die Bestimmung „Jeder hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern.“ enthält, und Staat a bei Unterzeichnung des Vertrags erklärt, er wolle diesen Artikel nur insofern zur Anwendung bringen, als dass es sich nicht um Meinungsäußerungen im Zusammenhang mit der politischen Lage in a handelt, stellt dies einen Vorbehalt dar. Da die Primärpflichten in einem Menschenrechtsschutzvertrag auf der Ebene zwischen Staat und Individuum zum Tragen kommen, bedeutet dies, dass Staat a das Ziel verfolgt, seine gegenüber den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen als Rechtsträgern bestehende Verpflichtung, keine Eingriffe in die Freiheit der Meinungsäußerung vorzunehmen, ganz oder teilweise auszuschließen. Stellt man dies mit Hilfe deontischer Operatoren dar, ergibt sich, dass das Recht der Individuen mit RiaaG-Struktur sowie die damit korrespondierende Pflicht des a mit OaiaGStruktur aufgehoben oder eingeschränkt werden sollen. Graphisch stellt sich diese Situation wie folgt dar:

a

bÙcÙd

OaiaG RiaaG

Pflichtenwirkungsebene

Pflichtenbegründungsebene lediglich politische Beziehung

ia Abbildung 9: Darstellung der primärrechtlichen Pflichtenstruktur in einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikaler Pflichtenstruktur am Beispiel eines zwischen den Staaten a, b, c und d abgeschlossenen Menschenrechtsschutzvertrags nach Anbringung eines Vorbehalts des Staates a zu einer primärrechtlichen Bestimmung

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts

125

Da im Hinblick auf Primärpflichten auf zwischenstaatlicher Ebene im Menschenrechtsschutzvertrag keine rechtlichen Pflichten entstehen, kann der Vorbehalt nur auf der Staat-Individuum-Ebene Wirkung entfalten. Die Erklärung des Vorbehalts erfolgt hier allerdings nicht. Bereits aus den in Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK bezeichneten Gelegenheiten, bei denen ein Vorbehalt erklärt werden darf, ergibt sich, dass der Vorbehalt allein auf zwischenstaatlicher Ebene erklärt wird. Zwar ist es theoretisch denkbar, dass ein Staat bei Abgabe der Vorbehaltserklärung auch eine Erklärung den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen gegenüber abgibt. In der Praxis erklärten Staaten ihre Vorbehalte bislang aber immer entweder gegenüber dem Depositar als demjenigen, der im Interesse aller Vertragsparteien die „Verwaltung“ des Vertrags übernommen hat,209 oder gegenüber den anderen Vertragsparteien. Der Depositar kann dabei auch selbst ein Staat sein.210 Ein Adressieren des Vorbehalts an Individuen ist bislang nicht vorgekommen, was, wie Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK und Art. 78 WVK zeigen, auch offenbar von der WVK nicht gewollt ist. Hierfür spricht schließlich auch, dass für den Fall, dass für einen Vertrag kein Depositar vorgesehen ist, die Notifikation direkt an die anderen Vertragsparteien zu richten ist.211 Erklärungsebene und Wirkungsebene eines Vorbehalts fallen in Bezug auf die Primärpflichten im Menschenrechtsschutzvertrag also auseinander. Dies führt zu großen Problemen bei der Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts. Für die Bestimmung der Rechtswirkung der Vorbehalte zu Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur schreibt die WVK nichts anderes vor als für andere Vertragstypen gilt. Auch hier bestimmt sich der rechtliche Effekt eines Vorbehalts nach dem Verhalten der übrigen Vertragsparteien und nach deren Gebrauch von Annahme und Einspruch.212 Im Falle einer Annahme des Vorbehalts durch einen anderen Vertragsstaat bewirkt dies, dass die vertraglichen Verpflichtungen zwischen dem Vorbehaltsstaat und dem Staat, der eine Annahme erklärt beziehungsweise zwölf Monate verstreichen lässt, ohne sich zu dem Vorbehalt zu äußern, in dem im Vorbehalt vorgesehenen Ausmaß geändert werden.213 Gleichzeitig ändern sich diese Verpflichtungen auch in umgekehrter Rich209 Vgl. Art. 76 und 77 WVK, sowie zur Rolle des Depositars Stoll, in: Bernhardt, EPIL, Bd. I (A-D), S. 1101, woraus sich ergibt, dass der Depositar selbst eher die Rolle eines von den Vertragsparteien zu seiner Tätigkeit Beauftragten hat; vgl. Horn, S. 338; s. u. Kapitel 4, B. III. 5. c) aa). 210 Art. 76 Abs. 1 WVK; Stoll, in: Bernhardt, EPIL, Bd. I (A-D), S. 1011. 211 Art. 78 lit. a WVK. 212 Imbert, Schlusswort im Rahmen einer Diskussion während des 5. Kolloquiums zur EMRK, abgedruckt bei Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 170 f.; Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 663, der allerdings dazu tendiert, Vorbehalte, die mit Ziel und Zweck unvereinbar sind, von vornherein als nichtig anzusehen. Die Rechtsfolgen solcher Vorbehalte sollen dann vollständig außerhalb der Regeln der WVK bestimmt werden. Dies kann allerdings nicht vollständig überzeugen, da Rechtsfolgen eines nichtigen Vorbehalts nicht entstehen können und somit auch kein Bedarf für die Suche nach einer Regelung besteht. 213 Art. 21 Abs. 1 lit. a WVK.

126

Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

tung, also auch aus Sicht des annehmenden Staates im Verhältnis zum Vorbehaltsstaat. Im Falle eines Einspruchs ohne Ausschlusswirkung tritt ein vergleichbarer Effekt ein. Nach Art. 21 Abs. 3 WVK finden die vom Vorbehalt betroffenen Bestimmungen des Vertrags im Verhältnis zwischen dem Vorbehaltsstaat und dem einsprechenden Staat in dem im Vorbehalt vorgesehenen Ausmaß keine Anwendung. Was genau bedeutet eine solch konsequente Anwendung der WVK-Regeln aber hinsichtlich Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen? Das sich hieraus ergebende Problem lässt sich einer graphischen Darstellung verdeutlichen.214

a

bÙcÙd

OaiaG RiaaG

Pflichtenwirkungsebene

Pflichtenbegründungsebene lediglich politische Beziehung

ia Abbildung 10: Darstellung der primärrechtlichen Pflichtenstruktur in einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikaler Pflichtenstruktur am Beispiel eines zwischen den Staaten a, b, c und d abgeschlossenen Menschenrechtsschutzvertrags nach Anbringung eines Vorbehalts des Staates a zu einer primärrechtlichen Bestimmung und Annahme oder Einspruch durch eine der übrigen Vertragsparteien

Zwischen der Situation nach Anbringen des Vorbehalts aber vor der Entscheidung über Annahme oder Einspruch durch die anderen Vertragsparteien und der Situation nach Erklärung von Annahme oder Einspruch besteht hinsichtlich der Pflichtenstruktur des Vertrags kein Unterschied.215 Der Vorbehaltsstaat (a) bleibt von der Verpflichtung, die er durch Anbringen des Vorbehalts reduzieren beziehungsweise ausschließen wollte (OaiaG), frei. Gleichzeitig wird das Recht der betreffenden Individuen (RiaaG) in dem gleichen Maße reduziert. Dieses betrifft aber nur die Ebene zwischen Vorbehaltsstaat und den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen.

214 215

Siehe auch die von Horn erstellte Graphik, dort S. 157. Vgl. Abb. 9.

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts

127

Auf zwischenstaatlicher Ebene, also der, auf der die Verpflichtungen begründet werden, ergibt sich ebenfalls keine Veränderung der Situation. Dies hat seine Ursache darin, dass auf dieser Ebene im Menschenrechtsschutzvertrag schon keine Primärverpflichtungen entstehen. Wo keine Verpflichtung existiert, kann weder ein Vorbehalt wirken noch der von der WVK gewollte Effekt von Annahme oder Einspruch eintreten. Wendet man diese Erkenntnis auf das oben gebildete Beispiel an, so würde bei einer konsequenten Beachtung der WVK-Regeln der Vorbehaltsstaat von seiner Verpflichtung frei, keine Eingriffe in die Meinungsfreiheit der seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen vorzunehmen. Würde Staat b diesen Vorbehalt annehmen, würde er im Verhältnis zum Vorbehaltsstaat a von dieser Verpflichtung ebenso frei. Dies hätte aber keinerlei Auswirkungen auf die Verpflichtungen, die b gegenüber den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen hat. Hier würden die diesen Individuen garantierten Rechte weiter bestehen, solange b nicht selbst einen Vorbehalt erklärt. Die Staat-Individuum-Ebene zwischen b und den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Personen wird durch den Vorbehalt von a nicht berührt. Im Falle eines Einspruchs gegen den Vorbehalt ergibt sich ein ähnliches Bild. Im Verhältnis zwischen b und a würden die strittigen Beziehungen nicht zur Anwendung gebracht. Da aber hierbei wiederum lediglich das bilaterale zwischenstaatliche Verhältnis betrachtet wird, hat auch dies keine Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen b und den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen. Staat b wäre diesen gegenüber weiterhin zur vollen Achtung der Meinungsfreiheit verpflichtet, nur nicht a gegenüber.216 Da aber zwischen den Staaten a und b solche Verpflichtungen nicht existieren, macht es keinen Sinn, die Rechtswirkung des Vorbehalts, wie von der WVK gefordert, allein im bilateralen zwischenstaatlichen Verhältnis zu betrachten.217 Weiterhin kann eine Kompensationswirkung, wie sie bei Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur beim Einsatz von Annahme und Einspruch durch die jeweils im bilateralen Verhältnis betroffene Vertragspartei erzeugt wird, bei Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen nicht erreicht werden.218 Dies bedeutet im Ergebnis, dass sich die Regeln der WVK bei Vorbehalten zu Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur selbst ad absurdum führen. Grundsätzlich gehen die Art. 20 ff. WVK davon aus, dass es 216 Ein anderes Ergebnis würde auch nicht dem Willen des einsprechenden Staates entsprechen, da dieser durch den Einspruch gerade sein Interesse an einem möglichst weitreichenden Menschenrechtsschutz zum Ausdruck bringt, vgl. Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 65; Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 37 f. 217 Vgl. Horn, S. 156 f.; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 55; Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 105; Rozakis, in: Mélanges Nicolas Valticos, S. 506; Longva, Nordic JIL 71 (2002), S. 118 f. 218 Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 55; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 754; Clark, AJIL 85 (1991), S. 318; Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 106.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

einem Staat erlaubt ist, einseitig Vorbehalte zu Verträgen anzubringen. Dieses wird dadurch aufgewogen, dass die Entscheidung über deren Rechtswirkung in die Hände der übrigen Vertragsparteien gelegt wird. Auf diese Weise wird bei Vorbehalten zu reziprok gestalteten Verträgen ein gerechter Ausgleich zwischen den Interessen des Vorbehaltsstaats und der jeweils anderen Vertragspartei geschaffen. Bei Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen jedoch haben Annahme und Einspruch keine rechtliche Wirkung mehr, da auf der Ebene, auf der sie wirken, keine Verpflichtungen entstehen, auf die sie sich beziehen könnten. Der Vorbehaltsstaat ist es also selbst, der allein durch das Anbringen des Vorbehalts auch bereits dessen Rechtswirkung erzeugt.219 Diese ist unter Geltung der WVK immer im Sinne des Vorbehaltsstaats, da er genau den mit dem Vorbehalt bezweckten Effekt der Pflichtenreduzierung bekommt, ohne dafür kompensatorische Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.220 Ohne den Willen der WVK verlagert sich also die Entscheidungsmacht über den rechtlichen Effekt eines Vorbehalts, was dem Vorbehaltsstaat einen entscheidenden Vorteil bei der Durchsetzung seiner Wünsche beschert.221 Hierin dürfte der Grund liegen, dass Staaten gerade zum Anbringen von Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen besonders bereit zu sein scheinen.222 Den übrigen Staaten wird dagegen jede Gestaltungsmöglichkeit genommen. Sie verlieren damit auch die Möglichkeit, Annahme und Einspruch dazu zu nutzen, den Vorbehaltsstaat in ihrem Sinne zu „disziplinieren“ und zu einer Rückkehr zur vollen vertraglichen Bindung zu bewegen.223 Auch die von der WVK vorgenommene Bilateralisierung der Pflichtenstruktur macht im Hinblick auf Vorbehalte zu Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur keinen Sinn.224 Nur dort, wo die vertraglichen 219 Insofern besteht im Ergebnis dasselbe Problem wie es schon hinsichtlich Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur erkannt wurde, s. o. Kapitel 3, C. II.; Schweisfurth, IRD 1972, S. 195, geht sogar insgesamt von der rechtlichen Wirkungslosigkeit des Einspruchs aus. 220 Graefrath, HuV-I 9 (1996), S. 69; Scheinin, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 42 f.; Goodman, AJIL 96 (2002), S. 534 f.; Clark, AJIL 85 (1991), S. 317; Cassese, in: En Hommage à Paul Guggenheim, S. 268. 221 Dieses geht so weit, dass dem Vorbehaltsstaat noch nicht einmal im Umfang des Vorbehalts die Möglichkeit genommen ist, in einem Staatenbeschwerdeverfahren von einer anderen Vertragspartei die Achtung der vom Vorbehalt betroffenen Vertragsnorm zu fordern; EKMR, Zulässigkeitsentscheidung im Staatenbeschwerdeverfahren gegen die Türkei, abgedruckt in ZaöRV 44 (1984), S. 359; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 755; Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 106 Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 202 ff.; vgl. Klingenberg, Nordic JIL 69 (2000), S. 387 f. 222 Vgl. die hierzu erstellte Statistik Tyagis, BYIL 71 (2000), S. 186 ff.; Bleckmann, AVR 34 (1996), S. 226, 230; Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 21; Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 333; Kuhner, Duke JCIL 13 (2003), S. 437; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 406. 223 Clark, AJIL 85 (1991), S. 318; vgl. auch Simma, Reziprozitätselement, S. 62 f. 224 Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 609; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 757; vgl. Pauwelyn, EJIL 14 (2003), S. 934; Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 669; Clark, AJIL 85 (1991),

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts

129

Verpflichtungen im bilateralen Verhältnis zum Tragen kommen, ist es auch nützlich, den Effekt eines Vorbehalts im bilateralen Verhältnis zu erzeugen. Dies ist bei Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur der Fall. In einem Menschenrechtsschutzvertrag sind die Verhältnisse in zweierlei Hinsicht anders. Einerseits finden sich auf der Ebene, auf die die WVK die Erzeugung der Rechtswirkung eines Vorbehalts verlagert, schon keine Primärverpflichtungen im Rechtssinne.225 Es existieren lediglich Beziehungen politischer Natur. Mangels Existenz von Pflichten können mithin keine Verpflichtungen bilateralisiert werden. Andererseits haben diese politischen Beziehungen keine bilaterale Struktur. Sie sind eher mit den im Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur bestehenden Verpflichtungen vergleichbar. Eine „Erfüllung“ auf zwischenstaatlicher Ebene kann sich nur im Verhältnis zwischen einem Staat und der Gemeinschaft der anderen Vertragsparteien vollziehen, nicht aber im bilateralen Verhältnis. Auch insofern kann eine Bilateralisierung der Pflichtenstruktur bei der Betrachtung von Vorbehalten, wie die WVK sie vornehmen will, nicht logisch durchgeführt werden. Wendet man das Ergebnis, dass auf zwischenstaatlicher Ebene im Menschenrechtsschutzvertrag keinerlei primärrechtliche Verpflichtungen existieren, auf die Frage nach der Erklärung des Vorbehalts an, so ergibt sich auch hier ein logisches Problem. Aus dem System der WVK geht hervor, dass der Vorbehalt auf zwischenstaatlicher Ebene zu erklären ist und dort auch wirkt.226 Wenn hier aber schon keine Verpflichtungen entstehen, so muss der Vorbehalt an sich ins Leere gehen. Es gibt keine Pflichten, auf die er einwirken kann.227 Die besondere Struktur des Vertrags mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur ermöglicht es dem Vorbehalt aber, auf die Staat-Individuum-Ebene „durchzuschlagen“. Hierfür kann die WVK, wenn sie die Existenz einer vertikalen Pflichtenebene nicht berücksichtigt, keine adäquate Antwort bieten. Eine kompensatorische Wirkung mit Hilfe von Annahme und Einspruch könnte nur dann erreicht werden, wenn der Effekt dieser Instrumente ebenfalls auf die Staat-Individuum-Ebene gezogen werden könnte. Hierfür sind zwei Szenarien denkbar, die nach dem gegenwärtigen Inhalt der WVK aber nicht angewandt werden können. Zum einen könnte man daran denken, dem Einspruch eines anderen Vertragsstaats eine Wirkung zu geben, die auf die Staat-Individuum-Ebene durchschlägt. Bei einer ansonsten unveränderten Anwendung der WVK-Regeln würde dies bedeuten, dass die Bestimmung, auf die der Vorbehalt sich bezieht, im Verhältnis zwischen dem Vorbehaltsstaat und dem seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Bürger wechselseitig keine Anwendung fände.228 Dies ist problematisch im Hinblick auf die SouveS. 318; Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 645; Treviranus, GYIL 25 (1982), S. 526; Baratta, EJIL 11 (2000), S. 419, 425. 225 IACHR, The Effect of Reservations on the Entry into Force of the American Convention (Advisory Opinion), 24. September 1982, ILM 22 (1983), S. 47. 226 Vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. d sowie Art. 21 WVK. 227 Vgl. Horn, S. 155. 9 Behnsen

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

ränität des Vorbehaltsstaats und dem damit einhergehenden Verbot für andere Staaten, sich in dessen Angelegenheiten einzumischen. Darüber hinaus würde eine solche Festlegung bedeuten, dass der Vorbehaltsstaat gegenüber den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Bürgern ein bestimmtes Recht nicht oder teilweise nicht mehr einhalten müsste. Seine Pflichten würden in der Weise, die der Vorbehalt vorsieht, reduziert. Die von der WVK gewollte kompensatorische Wirkung des Einspruchs könnte aber nicht eintreten, da die der Hoheitsgewalt des Staates unterstehenden Individuen gegenüber dem Staat keine reziproken Verpflichtungen haben.229 Eine Reduzierung ihrer Pflichten könnte daher nicht einsetzen. Auch insofern würde ein möglicherweise von der WVK bezweckter Interessensausgleich zwischen Vorbehaltsstaat und dem vom Vorbehalt betroffenen Bürger also ins Leere gehen. Ebenso wenig überzeugt die Vorstellung, den der Hoheitsgewalt des Vorbehaltsstaats unterstehenden Individuen selbst die Möglichkeit eines Einspruchs mit den von der WVK vorgesehenen Konsequenzen gegen den Vorbehalt zu geben. Hierfür gelten dieselben Argumente, wie sie hinsichtlich der Unsinnigkeit einer wechselseitigen Pflichtenreduzierung im Verhältnis Bürger-Staat gebildet worden sind. Insgesamt ist daher festzustellen, dass die Regeln der WVK bei einer Anwendung auf Vorbehalte, die die Primärpflichtenebene eines Vertrags mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur betreffen, keine sinnvollen Ergebnisse liefern können. Die Pflichtenstruktur eines Vertrags, von der die WVK bei der Entscheidung über das Schicksal eines Vorbehalts ausgeht, hat mit der des Menschenrechtsschutzvertrags zu wenig Gemeinsamkeiten, als dass eine Anwendung der WVK-Vorbehaltsregeln machbar wäre.230 Auch wenn die Vorbehaltsbestimmungen der WVK ursprünglich nicht nur für reziprok gestaltete Verträge geschaffen worden sein mögen,231 sind sie dennoch nur auf diese sinnvoll anwendbar. Dieses gilt nicht nur für Vorbehalte ratione materiae, wie der hier beispielhaft verwendete, sondern auch für Vorbehalte ratione temporis oder loci. Auch diese haben das Ziel, primärrechtliche Verpflichtungen des Staates zu reduzieren.232 228 Ein solches Ergebnis würde bei unveränderter Anwendung des Art. 21 Abs. 3 WVK auf das Verhältnis zwischen dem Vorbehaltsstaat und den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Bürgern entstehen. 229 s. o. Kapitel 3, B. IV. 5. a). 230 Gegen die Anwendbarkeit des Vorbehaltsrechts der WVK auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen sprechen sich z. B. aus HRC, General Comment No. 24, UN Doc. CCPR / C / 21 / Rev. 1 / Add. 6, S. 7, Ziff. 17; EKMR, Zulässigkeitsentscheidung zum Staatenbeschwerdeverfahren gegen die Türkei, abgedruckt in ZaöRV 44 (1984), S. 359; Bleckmann, AVR 34 (1996), S. 226, 230; Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 669; Buergenthal, AJIL 79 (1985), S. 22; Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 37 f.; Graefrath, HuV-I 9 (1996), S. 69; Bourguignon, Virginia JIL 29 (1989), S. 368; Kühner, S. 203 ff.; Clark, AJIL 85 (1991), S. 317; Sucharipa-Behrmann, ARIEL 1 (1996), S. 67 f.; Parisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 21; Greig, Virginia JIL 34 (1994), S. 333; Kuhner, Duke JCIL 13 (2003), S. 437; Goodman, AJIL 96 (2002), S. 537; Imbert, S. 254 f.; Mikaelsen, Nordic JIL 66 (1997), S. 323. 231 Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 136.

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts

131

Ebene der Vorbehaltserklärung Ebene der Einspruchserklärung Art. 21 WVK: Wirkungsebene des Vorbehalts

a

bÙcÙd

OaiaG RiaaG

Pflichtenwirkungsebene

Pflichtenbegründungsebene lediglich politische Beziehung

Wirkliche

ia

Wirkungsebene des Vorbehalts

Abbildung 11: Die Graphik verdeutlicht den Grund für das Versagen der Vorbehaltsregeln der WVK bei Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen. Die wirkliche Wirkungsebene des Vorbehalts und die Ebene, die von der WVK dafür gehalten wird, fallen auseinander. Insofern kann das Vorbehaltsrecht nach der WVK bei diesen Verträgen nicht funktionieren

b) Unmöglichkeit der Feststellung von Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags Allein die Probleme hinsichtlich der Pflichtenstruktur reichen aus, um die Reformbedürftigkeit des Vorbehaltsrechts der WVK hinsichtlich Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur beziehungsweise Menschenrechtsschutzverträge zu begründen. Daneben errichtet die WVK für den Rechtsanwender ein weiteres Hindernis, durch das die Beurteilung eines Vorbehalts zusätzlich erschwert wird. Dabei handelt es sich um die Überprüfung der Zulässigkeit eines Vorbehalts gemessen an Ziel und Zweck eines Vertrags. Zwar wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass die Untersuchung eines Vorbehalts auf seine Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck eines Vertrags funktionslos ist. Ihr Ergebnis hat keine zwingenden Auswirkungen auf das weitere Verhalten der übrigen Vertragsparteien, welches allein über den rechtlichen Effekt eines Vorbehalts entscheidet.233 Schon für sich genommen ist der Ziel-und-Zweck-Test aber in einem solchen Maße problematisch, dass auch er zur Begründung der Reformbedürftig232 Vgl. zu den Vorbehaltskategorien und ihrer Wirkung Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 719 f. 233 s. o. Kapitel 2, E. III.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

keit der WVK-Vorbehaltsregeln, insbesondere hinsichtlich Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen, herangezogen werden kann. Bei der Untersuchung eines Vorbehalts auf seine Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck eines Vertrags muss sich der Rechtsanwender zunächst folgende Frage stellen: Was ist Ziel und Zweck des Vertrags? Bei der Untersuchung eines Vorbehalts zu einem Menschenrechtsschutzvertrag muss er sich die Frage stellen: Was ist Ziel und Zweck dieses Menschenrechtsschutzvertrags? Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage lässt die WVK den Rechtsanwender allein. Bemühungen, die Antwort zu finden, sind von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die Festlegung, was Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags ist, in der Weise zu treffen, dass hiermit die Zulässigkeit eines Vorbehalts zweifelsfrei ermittelt werden kann, ist unmöglich.234 Es gilt eher die Regel: Ziel und Zweck eines Vertrags ist das, was man als Ziel und Zweck eines Vertrags ansehen will.235 Hinsichtlich der Völkermordkonvention als dem Vertrag, zu dem das Konzept von Ziel und Zweck entwickelt wurde, mag es noch möglich gewesen sein, Ziel und Zweck zu definieren. Die Verhinderung von Völkermord wurde insgesamt als Ziel und Zweck dieses Vertrags anerkannt.236 Diese Feststellung wurde allerdings dadurch begünstigt, dass es sich bei der Völkermordkonvention um einen Vertrag mit sehr speziellem Inhalt handelt.237 Diese Konvention engt ihr Augenmerk ausschließlich auf ein bestimmtes internationales Verbrechen ein. Sie ist nicht mit universellen Menschenrechtsschutzverträgen wie der EMRK oder dem CCPR vergleichbar. Aber selbst im Hinblick auf einen so speziellen Vertrag wie die Völkermordkonvention ist die Definition von Ziel und Zweck nicht problemlos vorzunehmen. Die Verhinderung von Völkermord an sich ist bereits ein sehr vages Ziel, das nicht geeignet ist, wirklich präzise Voraussagen über die Zulässigkeit eines Vorbehalts zu ermöglichen. Bei einer extensiven Anwendung einer solchen Festlegung könnte das Ergebnis eintreten, dass zur Völkermordkonvention überhaupt keine Vorbehalte zulässig wären. Dieses kann vom IGH so allerdings nicht gemeint worden sein, als dieser sich mit der Frage der Vorbehalte zur Völkermordkonvention befassen musste. Hätte er ein solches Ergebnis gewollt, hätte er in seinem Gutachten eindeutig festlegen können, dass Vorbehalte zur Völkermordkonvention generell nicht rechtens sind.238 Insgesamt bleibt daher festzustellen, dass schon bei Ver234 Vgl. Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 36; Lijnzaad, S. 91; Teboul, RGDIP 86 (1982), S. 695 f.; Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 129; vgl. Koh, Harvard ILJ 23 (1982), S. 85 f., 98 f.; Giegerich beschränkt sich beispielsweise darauf, dass sich Ziel und Zweck eines Vertrags aus dessen Natur ergeben müssen, ZaöRV 55 (1995), S. 723; dies stellt allerdings nur eine anders formulierte Beschreibung des Problems dar, liefert aber keine Hilfe bei der Suche nach einer Lösung. 235 Vgl. Klabbers, Finnish YIL 8 (1997), S. 141; vorsichtiger, in der Sache aber ähnlich argumentiert auch Vierdag, NYIL 25 (1994), S. 130. 236 Lijnzaad, S. 81; vgl. auch IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 23. 237 Lijnzaad, S. 81.

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trägen, die nur eine spezielle Materie behandeln, die Frage nach der Definition von Ziel und Zweck des Vertrags nur schwer zu beantworten ist. Unmöglich wird die Beantwortung dieser Frage im Hinblick auf eigentliche Menschenrechtsschutzverträge. Hier ist mittlerweile zwar eine große Zahl von Lösungsvorschlägen gemacht worden. Überzeugen kann davon jedoch keiner. Die vielen verschiedenen Lösungsansätze lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Einerseits wird an die Wichtigkeit der Bestimmungen angeknüpft, auf die sich der Vorbehalt bezieht, andererseits an den Grund, den der Staat für die Einlegung des Vorbehalts anführt. Die am stärksten verallgemeinernde Ansicht, die an die Wichtigkeit der vom Vorbehalt betroffenen Bestimmungen anknüpft, ist die, dass Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags der Menschenrechtsschutz an sich ist.239 Diese Ansicht leidet unter den gleichen Problemen, wie sie sich schon im Hinblick auf die Völkermordkonvention gezeigt haben. Zum einen ist der Schutz der Menschenrechte als solcher ein viel zu vager Terminus, als dass hieraus präzise Rechtsfolgen gewonnen werden könnten. Weiterhin hätte dies die Konsequenz, dass zu Menschenrechtsschutzverträgen grundsätzlich keine Vorbehalte zulässig wären. Dieses Ergebnis kann, wie noch zu zeigen sein wird, schon rechtspolitisch nicht im Sinne des Menschenrechtsschutzes und damit auch nicht im Sinne der Vertreter dieser Ansicht sein.240 Man würde so unnötig auf die Nutzung der positiven Möglichkeiten, die ein Vorbehalt bieten kann, verzichten.241 Weiterhin liegt dieser Ansicht ein systematischer Fehler zugrunde. Wenn Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen wegen eines immer gegebenen Verstoßes gegen Ziel und Zweck des Vertrags niemals zulässig sein sollen, würde man den Inhalt des Art. 19 lit. c WVK dazu benutzen, um die rechtliche Bedeutung dieser Bestimmung selbst im Hinblick auf Menschenrechtsschutzverträge zu eliminieren. Art. 19 lit. c WVK würde durch die ausufernde Anwendung seiner selbst auf eine rein deklaratorische Norm reduziert werden.242 Dies kann vom Vorbehaltsrecht der WVK nicht gewollt sein, da keine Norm das Ziel haben kann, die eigene Rechtserheblichkeit zu beseitigen. Ebenso wird vertreten, dass ein Vorbehalt zu einer oder gegen eine Ius-cogensNorm immer gegen Ziel und Zweck eines Vertrags verstößt.243 Diesem ist zuzu238 Ein Hinweis auf eine entsprechende Ansicht findet sich bei IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 24. 239 So für die EMRK Klabbers, Finnish YIL 8 (1997), S. 155; vgl. Ljnzaad, S. 84. 240 s. u. Kapitel 4, B. I. 1. 241 Vgl. Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 34, der die Gefahr benennt, dass Staaten weniger bereit sein werden, einem Menschenrechtsschutzvertrag beizutreten, je intensiver sie zum Verzicht auf den Vorbehalt aufgefordert werden können. 242 Lijnzaad, S. 82. 243 Vgl. Pareira, Diskussionsbeitrag während des 5. Kolloquiums zur EMRK, abgedruckt bei Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 152; Simma / Steiner, S. 74; Buergenthal, AJIL 79 (1985), S. 25; zu den dem ius cogens zuzurechnenden Bestimmungen im CCPR Hartman, HRQ 7 (1985), S. 114.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

stimmen. Eine Rechtfertigung des Konzepts von Ziel und Zweck eines Vertrags ergibt sich daraus aber nicht. Ein Vorbehalt gegen ius cogens ist ein einseitiger Akt, der gegen zwingendes Völkerrecht verstößt. Er ist schon aus diesem Grunde nichtig,244 ohne dass es eines Umwegs über Ziel und Zweck des Vertrags bedarf. Die Anwendung der Art. 53 und 64 WVK ist ausreichend.245 Weiterhin ist nach wie vor nicht eindeutig geklärt, welche Menschenrechte Teil des ius cogens sind.246 Denkbar erscheint auf den ersten Blick auch, dass solche Bestimmungen, von denen keine Derogation im Falle eines öffentlichen Notstands möglich ist, Ziel und Zweck eines Vertrags festlegen.247 Im Wege eines argumento a fortiori soll sich nach den Vertretern dieser Ansicht ergeben, dass zu Bestimmungen, von denen nicht im Wege der Derogation abgewichen werden kann, auch keine Vorbehalte zulässig sein sollen, diese Normen also Ziel und Zweck des Vertrags repräsentieren. Allerdings enthalten nicht alle Menschenrechtsschutzverträge Derogationsklauseln, können also auch keine Auskunft darüber geben, welche ihrer Bestimmungen in diesem Sinne so wichtig sind, dass sie Ziel und Zweck eines Vertrags ausmachen.248 Eine allgemeine Regel zur Feststellung von Ziel und Zweck eines Vertrags kann also auch dieser Ansatz nicht liefern. Würde man aus diesem Umstand folgern, dass dann Ziel und Zweck eines Abkommens ohne Derogationsklausel sein gesamter Inhalt ist, so spricht hiergegen die Existenz von Vorbehaltsbestimmungen innerhalb solcher Verträge.249 Diese würden dadurch ihre Bedeutung verlieren. Aber auch in Bezug auf Verträge, die Derogationsklauseln 244 Linderfalk, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 215 f.; vgl. Kadelbach, S. 335; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 401. 245 Kühner, S. 138 f.; Lijnzaad, S. 82; vgl. Linderfalk, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 226 ff.; gegen einen Schluss von dem ius cogens-Charakter einer Norm auf die Unzulässigkeit von Vorbehalten ist auch Graefrath, S. 82. 246 So werden lediglich das Völkermordverbot, das Verbot der Rassendiskriminierung, Z. T. das Recht auf Leben, das Folterverbot sowie das Verbot der Sklaverei, der Zwangsarbeit und des Menschenhandels als mit Ius-cogens-Rang ausgestattete Normen eingeordnet, Kadelbach, S. 275 ff., 281 f., 290 f., 293 f., 296 ff.; Hannikainen, S. 446 f., 453, 455 f., 466, 489, 508, 519; vgl. Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 49 ff.; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 401 f. 247 Clark, AJIL 85 (1991), S. 320; vgl. Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 102; Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, die jedoch die Verbindung zwischen nicht-derogierbaren Rechten und einem Verstoß eines Vorbehalts zu diesen Bestimmungen gegen Ziel und Zweck eines Vertrags zu vermeiden versucht und stattdessen das Recht auf Leben, das Folterverbot und das Diskriminierungsverbot ausdrücklich in den Vordergrund stellt. 248 Keine Derogationsklauseln finden sich beispielsweise in der Frauenrechtskonvention, der Kinderrechtskonvention, der Genfer Flüchtlingskonvention oder in dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (UNTS Vol. 660, S. 195; im Folgenden: CERD oder „Rassendiskriminierungskonvention“). 249 Z. B. Art. 28 CEDAW, Art. 51 CRC, Art. 42 Genfer Flüchtlingskonvention, Art. 20 CERD.

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enthalten, entstehen Probleme, die diesen Ansatz ungeeignet machen, präzise über Ziel und Zweck eines Vertrags Auskunft zu geben.250 Es ist nicht eindeutig feststellbar, worin der Grund dafür liegt, dass ein bestimmtes Recht derogationsfest sein soll.251 Einerseits lässt sich vertreten, dass dies auf einer besonderen, geradezu fundamentalen Bedeutung eines bestimmten Rechts beruht.252 In diesem Falle würde der Schluss auf dessen Eigenschaft als Indikator für Ziel und Zweck des Vertrags logisch erscheinen. Nicht ausgeschlossen ist aber auch die Möglichkeit, dass solche Rechte derogationsfest sind, für deren Achtung es keinen Unterschied macht, ob sich ein Staat im Zustand eines öffentlichen Notstands befindet oder nicht.253 Als Beispiel kann hierfür das Recht, nicht wegen ausstehender Schulden in Haft genommen zu werden, gelten.254 Dieses ist nach dem CCPR derogationsfest.255 Ob es aber von so fundamentaler Wichtigkeit ist, dass es Ziel und Zweck eines Vertrags mit festlegt, erscheint wegen seiner eher geringen praktischen Bedeutung zweifelhaft. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass es für die Situation des Staates im Notstandsfall ohne Auswirkungen ist, wenn dieses Recht weiterhin voll gilt. Ähnliches gilt für das Recht auf einen Namen,256 welches von der AMRK als derogationsfest anerkannt wird.257 Es ist also nicht sicher, dass sich Ziel und Zweck eines Vertrags allein über dessen derogationsfeste Normen definieren lassen.258 Gegen eine solche Ansicht spricht weiterhin, dass Art. 6 Abs. 2 des zweiten Zusatzprotokolls zum CCPR zwar gewisse Bestimmungen als derogationsfest definiert, bestimmte Vorbehalte hierzu259 aber für zulässig erklärt.260 Schließlich ist weiterhin denkbar, dass Vorbehalte, die sich nicht auf derogationsfeste Bestimmungen eines Vertrags beziehen, gleichwohl gegen Ziel und Zweck eines Vertrags verstoßen.261

250 Imbert, Schlusswort im Rahmen einer Diskussion während des 5. Kolloquiums zur EMRK, abgedruckt bei Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 169 f. 251 Hartman, HRQ 7 (1985), S. 113. 252 IACHR, Restrictions to the Death Penalty (Advisory Opinion), 8. September 1983, OC 3 / 83, Ser. A, Nr. 3, Ziff. 61; vgl. Henkin, in: Lillich, U. S. Ratification, S. 23; Buergenthal, AJIL 79 (1985), S. 24; Lorz, Israel YHR 33 (2003), S. 96. 253 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 773; Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 53. 254 Art. 11 CCPR. 255 Art. 4 Abs. 2 CCPR. 256 Art. 18 AMRK. 257 Art. 27 Abs. 2 AMRK. 258 HRC, General Comment No. 24, UN Doc. CCPR / C / 21 / Rev. 1 / Add. 6, S. 4, Ziff. 10; Graefrath, S. 84, der dieses auch anhand von Staatenpraxis nachweist; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 773; Kühner, S. 139 f. 259 Vgl. Art. 2 des zweiten Zusatzprotokolls zum CCPR. 260 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 773; vgl. auch Art. 3 und Art. 4 des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK, in denen Vorbehalte trotz Derogationsverbots noch einmal ausdrücklich ausgeschlossen werden. 261 Vgl. Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 102 f.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

Auch die Bestimmungen, die sich auf die nicht diskriminierende Anwendung von Menschenrechten beziehen, eignen sich nur sehr bedingt zur Definition von Ziel und Zweck eines Vertrags. Zwar mag es sein, dass die nicht diskriminierende Anwendung bestimmter Vertragsbestimmungen auch zu Ziel und Zweck eines Vertrags gehört.262 Eine präzise und abschließende Definition können jedoch auch solche Bestimmungen nicht liefern. Der Grund dafür liegt wiederum darin, dass Antidiskriminierungsbestimmungen mittlerweile selbst ausufernd kodifiziert sind. Ihr Charakter ist zu global geworden, um noch eine besondere Wichtigkeit zu beanspruchen, wie sie nach den Vertretern dieser Ansicht für eine Klassifizierung als Norm nötig wäre, die über Ziel und Zweck des Vertrags Auskunft geben kann.263 Dieses lässt sich am Beispiel bestimmter Vorbehalte zur Frauenrechtskonvention veranschaulichen. Einige Staaten traten dieser Konvention nur unter der Einschränkung bei, dass eine Frau nicht das Amt des monarchischen Staatsoberhauptes ausfüllen beziehungsweise die Konvention keine Auswirkungen auf die Thronfolge haben dürfe.264 Dieses sind Vorbehalte gegen eine Antidiskriminierungsbestimmung.265 Allerdings ist es augenscheinlich zumindest sehr fraglich, ob dieser Vorbehalt wirklich gegen Ziel und Zweck der Frauenrechtskonvention verstößt. Ähnliches gilt für die Vorbehalte der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland zu Art. 26 CCPR beziehungsweise zu Art. 5 Abs. 2 lit. a des ersten Zusatzprotokolls zum CCPR.266 Auch Art. 26 CCPR enthält eine Antidiskriminierungsbestimmung. Die Vorbehalte der Schweiz und Deutschlands sehen jedoch lediglich vor, dass er akzessorisch angewandt werden soll, also nur soweit die im CCPR enthaltenen Rechte betroffen sind.267 Auch hier ist zumindest fraglich, ob ein solcher Vorbehalt gegen Ziel und Zweck des Paktes verstößt. Eine akzessorische Diskriminierungsbestimmung findet sich ebenfalls in Art. 14 EMRK und wird 262 So Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 198; Bestimmungen über nicht diskriminierende Anwendung von Vertragsbestimmungen finden sich allein viermal im CCPR, Art. 2 Abs. 1, Art. 3, Art. 4 Abs. 1, Art. 26 CCPR, sowie in der Frauenrechtskonvention und der Rassendiskriminierungskonvention, die als Vertrag selbst zur Beseitigung von Diskriminierung geschaffen wurden; vgl. Lijnzaad, S. 92. 263 Lijnzaad, S. 92. 264 So die Vorbehalte Luxemburgs, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 8, S. 175, Belgiens, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 8, S. 171, und Spaniens, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 8, S. 176. 265 Art. 7 lit. b CEDAW. 266 Vgl. hierzu Trechsel, in: Wolfrum, Gleichheit und Nichtdiskriminierung, S. 124. 267 Vorbehalt der Schweiz abgedruckt unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 21 (vol. I), S. 173; Vorbehalt Deutschlands zu finden unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 21 (vol. I), S. 212 f.; der Vorbehalt der Bundesrepublik bezog sich inhaltlich ebenso auf Art. 26 CCPR und war des Inhalts, die Zuständigkeit des Human Rights Committees für Individualbeschwerden, die eine Verletzung des Art. 26 CCPR rügen, nur anzuerkennen, wenn diese Rüge in Verbindung mit der diskriminierenden Verletzung eines anderen im Pakt normierten Rechts begründet wird.

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in deren Geltungsbereich seit mehreren Jahrzehnten erfolgreich angewandt. Das 12. Zusatzprotokoll zur EMRK,268 das in Art. 1 ein nicht akzessorisch gestaltetes Diskriminierungsverbot enthält, konnte im Bereich des Europarats bislang nicht in Kraft treten,269 was darauf schließen lässt, dass die europäischen Staaten davon ausgehen, dass dies auch wegen des guten Funktionierens des Art. 14 EMRK nicht zwingend nötig ist und sogar kontraproduktive Wirkung haben kann.270 Die akzessorische Verknüpfung einer Antidiskriminierungsnorm mit im Vertrag garantierten Menschenrechten muss daher auch auf globaler Ebene nicht unbedingt einen Verstoß gegen Ziel und Zweck des CCPR bedeuten, da dieser als allgemeiner Menschenrechtsschutzvertrag mit der EMRK vergleichbar ist. Auch mit Hilfe der Antidiskriminierungsbestimmungen ist es also nicht möglich, Ziel und Zweck eines Vertrags klar zu definieren.271 Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich keine Gruppe von Vertragsbestimmungen findet, mit deren Hilfe man zweifelsfrei festlegen könnte, welche Vorbehalte gegen Ziel und Zweck eines Vertrags verstoßen und welche nicht. Weitere Probleme können daraus entstehen, dass sich Ziel und Zweck eines Vertrags ändern können.272 So kann es zu der Situation kommen, dass ein Vorbehalt ursprünglich zulässig ist, aber durch die dynamische Weiterentwicklung der Interpretation des Vertragsinhalts später unzulässig wird.273 Auch die travaux préparatoires sind in einem solchen Fall nicht mehr nützlich, um Ziel und Zweck eines Vertrags zu bestimmen.274 Diese Rechtsunsicherheit kann einerseits dazu beitragen, dass die Staaten zurückhaltender bei der Entscheidung werden, ob sie einem Menschenrechtsschutzvertrag beitreten. Andererseits kann eine solche Situation auch nicht im Sinne der durch den Vertrag geschützten Individuen sein, da der Umfang ihrer Rechte sich zu keiner Zeit abschließend definieren ließe. Die Zulässigkeit eines Vorbehalts müsste zu jeder Zeit neu festgestellt werden und damit auch der Umfang der vom Vertragsstaat zu gebenden Garantien. Gerade bei Grundund Menschenrechten ist eine allgemein gültige und eindeutige Bestimmung zumindest ihres Rechtskerns aber besonders wichtig. 268 Protocol No. 12 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, ETS Nr. 177. 269 Bislang haben mit den Niederlanden und Georgien gerade einmal zwei Staaten das 12. Zusatzprotokoll ratifiziert; nötig zu seinem Inkrafttreten sind gem. Art. 5 Abs. 1 des 12. Zusatzprotokolls zehn Ratifikationen; Informationen zum Ratifikationsstand finden sich unter http: //conventions.coe.int. 270 Vgl. Trechsel, in: Wolfrum, Gleichheit und Nichtdiskriminierung, S. 130 ff. 271 Lijnzaad, S. 92. 272 Fitzmaurice, BYIL 33 (1957), S. 208; Teboul, RGDIP 86 (1982), S. 697. 273 Lijnzaad, S. 94 f.; zur dynamischen Weiterentwicklung von Menschenrechtsschutzverträgen (dort der EMRK) vgl. EGMR, Case of Marckx v. Belgium, 13. Juni 1979, Ziff. 41; Case of Tyrer v. United Kingdom, 25. April 1978, Ziff. 31; Case of Airey v. Ireland, 9. Oktober 1979, Ziff. 26; Emberland, Michigan JIL 25 (2003), S. 91 ff. 274 Kühner, ZaöRV 42 (1982), S. 72; Lijnzaad, S. 94.

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

Insgesamt zeigen die geschilderten Probleme, dass keine praktikable Methode existiert, um aus dem Inhalt beziehungsweise aus einzelnen Bestimmungen eines Vertrags heraus sicher festzulegen, was Ziel und Zweck eines Vertrags, insbesondere eines Menschenrechtsschutzvertrags, ist. Auf diese Weise kann Art. 19 lit. c WVK nicht zur Anwendung gebracht werden. Diesem Umstand wird zum Teil mit dem Versuch begegnet, anknüpfend an die Begründung eines Staates für die Erklärung eines Vorbehalts bestimmte Kategorien von Vorbehalten zu definieren, die in jedem Fall gegen Ziel und Zweck eines Vertrags gerichtet sind. Auch dies kann jedoch nicht dazu beitragen, das Konzept von Ziel und Zweck gemäß Art. 19 lit. c WVK zu retten. Zu den Vorbehalten, die in jedem Fall gegen Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags verstoßen sollen, werden zunächst solche gezählt, die an die nationale Rechtsordnung anknüpfen. Die Umsetzung des Inhalts eines Menschenrechtsschutzvertrags in der nationalen Rechtsordnung stellt eine grundlegende Verpflichtung in manchen Menschenrechtsschutzverträgen dar.275 Allerdings gibt es ebenso Verträge, die ohne eine ausdrückliche Erwähnung einer Pflicht zur Umsetzung in der nationalen Rechtsordnung auskommen.276 In Art. 57 Abs. 1 EMRK findet sich sogar die ausdrückliche Erlaubnis, einen Vorbehalt damit zu begründen, dass eine Bestimmung der nationalen Rechtsordnung des Vorbehaltsstaats nicht mit dem Inhalt der EMRK übereinstimmt. Lediglich Vorbehalte allgemeiner Art werden verboten. Damit steht zumindest für die EMRK fest, dass nicht jeder auf die nationale Rechtsordnung Bezug nehmende Vorbehalt gegen Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags verstoßen muss. Dies kommt nur für „Generalvorbehalte“ zu Gunsten der nationalen Rechtsordnung in Betracht. Diese Form des Vorbehalts tritt in Bezug zu anderen Menschenrechtsschutzverträgen oft in der Weise auf, dass der Vorbehaltsstaat für sich in Anspruch nimmt, dass seine nationale Rechtsordnung gegenüber dem Inhalt des Menschenrechtsschutzvertrags im Konfliktfalle den Vorrang genießen soll.277 Diese Vorbehalte scheinen wegen ihres weiten Anwendungsbereichs zunächst wirklich in jedem Falle unvereinbar mit Ziel und Zweck eines Vertrags zu sein. Dass dies auch tatsächlich möglich sein kann, lässt sich nicht bestreiten.278 Allerdings ist auch der Fall denkbar, dass die nationale Rechtsordnung eines solchen Vorbehaltsstaats nahezu vollständig mit dem Inhalt des Vertrags übereinstimmt. Der Anwendungsbereich des Vorbehalts wäre in Art. 2 Abs. 1 CERD, Art. 2 Abs. 2 CCPR, Art. 2 CEDAW, Art. 2 Abs. 1 CAT. So z. B. die EMRK. 277 Insbesondere wird diese Art von Vorbehalten dazu eingesetzt, um religiösen Vorschriften Vorrang einzuräumen, sog. Sharia-Vorbehalte, z. B. Vorbehalt der Malediven zur Frauenrechtskonvention, Multilateral Treaties deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 172; vgl. Keller, SZIER 2 / 2003, S. 140 f.; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 747 ff.; Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 188 ff.; Byrnes, Yale JIL 14 (1989), S. 53 f. 278 Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 194; vgl. Acheampong, Lesotho LJ 9 (1993), S. 98 f.; Redgwell, in: Byers / Nolte, S. 399 f. 275 276

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diesem Fall gering, so dass ein Verstoß gegen Ziel und Zweck des Vertrags auch nicht gegeben sein könnte.279 Entscheidend für die Vereinbarkeit ist also der materielle Gehalt des Vorbehalts und nicht der vom Staat genannte Grund. Eine Einordnung von Vorbehalten, die sich auf die nationale Rechtsordnung beziehen, als per se unvereinbar mit Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags, ist daher abzulehnen.280 Ebenfalls als mit Ziel und Zweck eines Vertrags grundsätzlich unvereinbar angesehen werden zum Teil Vorbehalte, die sich gegen Bestimmungen zu Überwachungsmechanismen hinsichtlich der vertraglichen Verpflichtungen richten. Solche Vorbehalte beziehen sich auf Verpflichtungen auf der Sekundärebene. Allein daher scheint ein genereller Verstoß gegen Ziel und Zweck des Vertrags schwer vorstellbar. Die große Anzahl auch von Menschenrechtsschutzverträgen, die entsprechende Vorbehalte sogar ausdrücklich zulässt, spricht gegen eine solche generelle Annahme. An dieser Stelle soll auf dieses Problem jedoch nicht vertieft eingegangen werden. Thema dieses Abschnitts ist die Sinnhaftigkeit einer Anwendung der WVK-Vorbehaltsregeln auf Vorbehalte zu Primärpflichten in Menschenrechtsschutzverträgen. Ob Reformbedarf auch hinsichtlich Vorbehalte zu Sekundärpflichten besteht, ist später zu klären.281 Schließlich wird behauptet, dass vage formulierte Vorbehalte nicht mit Ziel und Zweck eines Vertrags vereinbar sein könnten.282 Diejenigen, die diese Behauptung aufstellen, müssen sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, dass das Konzept von Ziel und Zweck eines Vertrags selbst auf die Unbestimmtheit seiner eigenen Kriterien setzt.283 Auch der Begriff des vage formulierten Vorbehalts ist darüber hinaus nicht gerade präzise gefasst. Insofern ist auch auf diesem Wege keine eindeutige Klassifizierung eines Vorbehalts als mit Ziel und Zweck vereinbar oder nicht möglich. Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass auch die Methode, bestimmte Gruppen von Vorbehalten als immer gegen Ziel und Zweck eines Vertrags verstoßend zu definieren, keine abschließende Lösung für die Ziel-und-Zweck-Problematik bietet. Insofern machen auch die aufgezeigten Probleme, die bei einer Anwendung des Art. 19 lit. c WVK als einer der zentralen Normen des WVK-Vorbehaltsrechts entstehen, deutlich, dass gerade im Bereich der Menschenrechtsschutzverträge eine Reform des Vorbehaltsrechts nötig ist. Eine rechtssichere Anwendung des geltenden Vorbehaltsrechts auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen ist derzeit nicht möglich.284 Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 33. Lijnzaad, S. 86 ff. 281 s. u. Kapitel 3, C. 2. sowie Kapitel 4, C. 282 Lijnzaad, S. 89. 283 Vgl. hierzu Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 148 II. 2. b.; Teboul, RGDIP 86 (1982), S. 700; Klabbers, Finnish YIL 8 (1997), S. 139 ff.; Horn, S. 115; Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 217. 279 280

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c) Probleme aus der Staatenpraxis Die bislang geschilderten Gründe für den Bedarf nach einer Reform des Vorbehaltsrechts im Hinblick auf Menschenrechtsschutzverträge ergeben sich vor allem aus den im System der WVK selbst angelegten Fehlern. Daneben kann auch das Verhalten von Staaten dazu führen, dass die Art. 19 ff. WVK auf Menschenrechtsschutzverträge nur unter größeren Problemen anwendbar sind. Die diesbezüglich zum Teil genannten Probleme, die aus der bundesstaatlichen Verfassung eines Staates resultieren, können hier vernachlässigt werden. Sie stellen kein spezielles Problem des Vorbehaltsrechts zu Menschenrechtsschutzverträgen dar, sondern betreffen alle Vertragskategorien gleichermaßen.285 Ein wirkliches Problem, gerade im Hinblick auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen, kann sich aber daraus ergeben, dass die Ansicht, was Ziel und Zweck eines solchen Vertrags ist, von Staat zu Staat wegen dessen sozialer und gesellschaftlicher Traditionen unterschiedlich sein kann.286 Damit wird der als objektiv angelegte Test der Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck eines Vertrags vollständig subjektiviert.287 Der ohnehin schwach ausgestaltete Vereinbarkeitstest verliert damit seine Autorität endgültig. Sofern Staaten aus ihren jeweils unterschiedlichen Ansichten über die Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags entsprechende Konsequenzen für den Einsatz von Annahme des und Einspruch gegen den Vorbehalt ziehen, führt dies zwar im Ergebnis zu keinen rechtlichen Unterschieden.288 Es können jedoch zumindest auf zwischenstaatlicher Ebene Verwirrungen hinsichtlich des rechtlichen Effekts des Vorbehalts entstehen, die im Hinblick auf Menschenrechtsschutzverträge nicht wünschenswert sind. Schließlich gibt die Staatenpraxis Grund zu der Annahme, dass Staaten Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen meist nicht als verhandelbar ansehen.289 Die Zahl von Einsprüchen bleibt in der Regel gering.290 Konsequentes VorVgl. Buffard / Zemanek, ARIEL 3 (1998), S. 342 f. Vgl. zu diesem Problem Lijnzaad, S. 89 f.; zu ähnlichen Problemen Horn, S. 167 ff. 286 Graefrath, S. 82, 85; Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 679; Lijnzaad, S. 95; Clark, AJIL 85 (1991), S. 318; vgl. zur Interpretation von Menschenrechten speziell in Afrika Udombana, Stanford JIL 40 (2004), S. 109 ff.; zu den unterschiedlichen Kulturkreisen allein im Geltungsbereich der EMRK Yourow, S. 3 ff. 287 Vgl. Hylton, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 430, 438; Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 129; Shaw, S. 828; Tomuschat, ZaöRV 27 (1967), S. 478, der den Ziel-und-Zweck-Test ebenfalls als nicht objektiv einordnet. 288 Annahme und Einspruch haben bei Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen denselben rechtlichen Effekt; s. o. Kapitel 3, C. III. 1. a). 289 Hinsichtlich Vorbehalte zur Frauenrechtskonvention Clark, AJIL 85 (1991), S. 287; vgl. auch die Stellungnahme des Vertreters Bangladeshs im ECOSOC, UN Doc. E / 1987 / SR.11, Ziff. 13; hierin dürfte auch der Grund dafür liegen, dass das Thema Vorbehalte in entsprechenden Resolutionen der Generalversammlung nicht besonders erörtert 284 285

C. Anwendbarkeit des geltenden Vorbehaltsrechts

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gehen in dieser Frage findet sich in der Staatenpraxis nicht.291 Teilweise scheint die Entscheidung über das Einlegen eines Einspruchs mehr von politischen als rechtlichen Erwägungen beeinflusst zu werden.292 Wenn Annahme und Einspruch bei diesen Verträgen ohnehin lediglich eine geringe und mehr politische Relevanz haben, bedeutet diese Praxis, dass auch die mehr politische Disziplinierungsfunktion eines Einspruchs dann seine Autorität verliert. Sofern Staaten sich jedoch entschlossen, Einsprüche gegen Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen geltend zu machen, geschah dieses in den letzten zehn Jahren zunehmend unter Abweichung von den Regeln der WVK. Dieses lässt darauf schließen, dass die Staaten, die zu solchen Einsprüchen bereit sind, für ihre Praxis auch selbst nicht mehr davon ausgehen, dass eine konsequente Anwendung der Regeln der WVK hinsichtlich Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen sinnvoll ist.293 d) Zusammenfassung Die Regelungen der WVK zu Vorbehalten stoßen bei einer Anwendung auf Vorbehalte, die sich auf die Ebene der Primärpflichten eines Vertrags mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur beziehungsweise eines Menschenrechtsschutzvertrags beziehen, auf gravierende Probleme. Zum einen entspricht die Struktur der von der WVK vorgesehenen Reaktionsmöglichkeiten auf Vorbehalte nicht der Struktur der vertraglichen Pflichten, so dass die WVK-Regelungen ins Leere greifen. Auch Art. 19 lit. c WVK ist auf Menschenrechtsschutzverträge nicht sicher anwendbar. Schließlich hat sich die Staatenpraxis so entwickelt, dass auch sie sich immer mehr von einer konsequenten Anwendung der WVK-Vorbehaltsregeln auf Menschenrechtsschutzverträge entfernt hat.294 Insbesondere wegen der strukturellen Probleme, aber auch wegen der übrigen steht damit fest, dass eine sinnvolle Anwendung der WVK auf Vorbehalte zu primärrechtlichen Verpflichtungen eines Menschenrechtsschutzvertrags beziehungsweise eines Vertrags mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur unmöglich ist.295 Hier muss und darf nach Alternativen gesucht werden. wurde, A / RES / 41 / 108 vom 4. Dezember 1986 und A / RES / 42 / 60 vom 30. November 1987. 290 Suy, in: FS Mosler, S. 947; Lijnzaad, S. 365; Polakiewicz, S. 99; Clark, AJIL 85 (1991), S. 288 f.; Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 664; Marks, ICLQ 39 (1990), S. 323; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 406. 291 Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 213 ff. 292 Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 68. 293 Vgl. zu dieser Art der Einsprüche die Ausführungen unter Kapitel 2, F. II. 294 Vgl. ebenfalls Kapitel 2, F. II. 295 Interessant ist dabei besonders, dass sich ein Teil der Argumente, die dieses Ergebnis tragen, bereits im ersten Bericht zur Frage der Vorbehalte Sir James Brierlys sowie der ILC finden, s. o. Kapitel 2, D. I.; gegen eine Reform Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 138, dort allerdings ohne Begründung, die auf die strukturellen Besonderheiten des Menschenrechtsschutz-

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Kap. 3: Anwendbarkeit des bisher geltenden Vorbehaltsrechts

2. Sekundärpflichten Hinsichtlich der Sekundärpflichten ist festgestellt worden, dass diese Verpflichtungen der Staaten eine Oa(b∧c∧d)G-Struktur haben, mit der eine R(b∧c∧d)aGStruktur korrespondiert. Dies entspricht der Pflichtenstruktur des Vertrags mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur. Es kann daher auf die dort zu der Frage der Sinnhaftigkeit einer Anwendung der WVK-Regeln zur Behandlung von Vorbehalten gewonnenen Ergebnisse verwiesen werden.296 Weiterhin ergibt sich aus dieser Gemeinsamkeit, dass auch bei der Suche nach Alternativen zu den Regeln der WVK die Kategorie der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und die Sekundärverpflichtungen in Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur gemeinsam betrachtet werden können. Zwar mag auf den ersten Blick zwischen diesen ein Unterschied bestehen. Da die Probleme, die bei der Anwendung der WVK auf diese Pflichten entstehen, ihren Ursprung aber vor allem in der Pflichtenstruktur haben, und die betreffenden Pflichten strukturell identisch sind,297 ist eine solche Gleichbehandlung in dieser Arbeit gerechtfertigt.

D. Zulässigkeit eines Abweichens von der WVK Die Tatsache, dass auf die beschriebenen Vertragstypen die Regeln der WVK über Vorbehalte nicht sinnvoll anwendbar sind, legt nahe, dass auf diesem Gebiet nach Alternativen gesucht werden muss. Dennoch stellt sich am Beginn eines solchen Wegs die Frage, ob die Suche nach neuen Regeln zulässig ist, solange bestehendes Recht gilt. Die WVK war seinerzeit verabschiedet worden, um das Vertragsrecht zu kodifizieren.298 Die Erarbeitung einer Reform muss sich zwangsläufig von dieser geltenden Kodifikation verabschieden, entfernen oder sie zumindest modifizieren. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass die Erarbeitung eines Reformansatzes ein Schritt zum Bruch bestehenden Rechts darstellen kann. Die Regeln der WVK müssen aber nicht unbedingt als Endpunkt und letzter Schluss der Entwicklung des Völkervertragsrechts gesehen werden.299 Wie jedem Bereich des Rechts muss auch diesem die Möglichkeit der Weiterentwicklung zugestanden werden.300 Solange man die kodifizierten Regeln als in Stein gemeißelt vertrags eingeht; dafür Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 742; Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 79. 296 s. o. Kapitel 3, C. II. 297 s. o. Kapitel 3, B. IV. 4. sowie Kapitel 3, B. IV. 5. b) cc); vgl. Parisi / Ghei, Cornell ILJ 36 (2003), S. 116. 298 Präambel der WVK, Abs. 7. 299 Hylton, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 423.

D. Zulässigkeit eines Abweichens von der WVK

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und auf ewig unumstößlich betrachtet, nimmt man dem Recht jede Möglichkeit, sich an geänderte tatsächliche Verhältnisse anzupassen.301 Allein die Tatsache, dass die ILC sich mittlerweile erneut mit dem Thema der Vorbehalte befasst, beweist, dass auch die Gremien der Vereinten Nationen zumindest in Erwägung ziehen, dass das Vorbehaltsrecht sowie das Vertragsrecht einer weiteren Entwicklung zugänglich sein sollen.302 Dabei ist es nicht verboten, diese Suche auf bestimmte Vertragstypen zu beschränken. Die WVK selbst sieht für einzelne Vertragstypen Sonderrecht vor.303 Weiterhin beweist die Praxis der ILO, dass bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts kein zwingend einheitliches Vorbehaltsrecht mehr besteht, sondern auch abweichende Regeln für bestimmte Rechtsmaterien möglich sind.304 Die Erarbeitung eines Vorschlags für eine Reform des Vorbehaltsrechts wird im Hinblick auf die beschriebenen Verträge also nicht dadurch ausgeschlossen, dass mit den Regeln der WVK auf diesem Gebiet kodifiziertes Recht besteht. In Fällen, in denen bestehendes Recht seine Funktionsfähigkeit verloren hat, müssen solche Erwägungen sogar auch außerhalb des vom kodifizierten Recht gesetzten Rahmens angestellt werden oder, wie John G. Merrills es formuliert hat: „ . . . law breaking is an important method of law making . . .“.305

300 So bezieht sich auch die WVK selbst auf eine mögliche Weiterentwicklung des Vertragsrechts, Präambel Abs. 7. 301 Vgl. Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 187. 302 Vgl. Kapitel 2, F. I. 303 So Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 WVK für plurilaterale Verträge und Gründungsverträge internationaler Organisationen; Hylton, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 444, 446. 304 s. o. Kapitel 2, A. II. 3. 305 Merrills, S. 14.

Kapitel 4

Möglichkeit einer Reform Nachdem nunmehr festgestellt ist, hinsichtlich welcher Vertragstypen eine Reform des Vorbehaltsrechts sinnvoll ist, kann gezielt über Reformansätze nachgedacht werden. Dabei wird der Blick zunächst auf Möglichkeiten für ein Vorbehaltsrecht zu Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur gerichtet. Dieses findet seinen Grund darin, dass der Menschenrechtsschutzvertrag als Vertragstyp, der beide zu untersuchenden Pflichtenstrukturen enthält, in dieser Arbeit bevorzugt behandelt werden soll. Alle primärrechtlichen Bestimmungen von Menschenrechtsschutzverträgen weisen eine multilateral begründete vertikal wirkende Struktur auf.1 Eine multilateral wirkende horizontale Pflichtenstruktur findet sich im Menschenrechtsschutzvertrag auf Ebene der Sekundärverpflichtungen. Es wäre ungünstig, die Suche nach einem möglichen Sonderrecht zu Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen zunächst mit Vorbehalten zu Sekundärverpflichtungen beginnen zu lassen und erst danach zur Ebene der Primärpflichten zu kommen. Aus diesem Grunde werden sich die Ausführungen zu Reformmöglichkeiten im Bereich der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur an die bezüglich der Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur anschließen. Bei allen diesen Untersuchungen wird der Menschenrechtsschutzvertrag als Vertrag, der diese beiden Strukturen in sich trägt, als Untersuchungsgegenstand dienen. Die zu den jeweiligen Strukturen dieser Art Vertrag gewonnenen Ergebnisse lassen sich dann auf Verträge, die nur jeweils eine der beiden Pflichtenstrukturen aufweisen, übertragen.

A. Festlegung der Untersuchungsmethode Eines der wichtigsten Kriterien bei der Entwicklung eines Alternativvorschlags muss seine Chance auf Akzeptanz in der Staatenwelt sein. Ein Reformvorschlag, der eine solche Chance nicht besitzt, braucht nicht erarbeitet zu werden, da seine mögliche Relevanz von vornherein gegen Null tendieren würde. Aus diesem Grunde soll sich die folgende Suche nach Reformansätzen an bereits bekannten 1

s. o. Kapitel 3, B. IV. 5. a).

A. Festlegung der Untersuchungsmethode

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Wegen zur Regelung des Vorbehaltsproblems orientieren. Dafür bieten sich zwei Vorgehensweisen an, denen auch beiden nachgegangen werden soll. Zum einen kann ein Reformvorschlag an bereits gängige Praxis beim Umgang mit Vorbehalten, insbesondere zu Menschenrechtsschutzverträgen, anknüpfen. Eine Lösung, die einer bereits verbreiteten Praxis gleicht, dürfte eine weitaus größere Chance auf Akzeptanz besitzen als ein Vorschlag, der ohne irgendeine auch nur entfernte Ähnlichkeit mit zur Zeit geübter Praxis auskommen muss. Ausdruck derzeit gängiger Praxis bilden zum einen die in verschiedenen Menschenrechtsschutzverträgen normierten Sonderregelungen zu Vorbehalten. Diese sind zum Teil über einen langen Zeitraum etabliert und werden von den Staaten beachtet. Ein Reformvorschlag zum Vorbehaltsrecht, der sich an bereits bestehendem Sonderrecht orientiert, würde den Staaten daher keine große „Umgewöhnung“ abverlangen. Ein weiterer Ausdruck derzeit gängiger Praxis kann in der eigentlichen Staatenpraxis gesehen werden, wie sie abweichend von den Regeln der WVK von einigen Staaten praktiziert wird.2 Daneben können im allgemeinen Vertragsrecht mögliche Ansätze gesucht werden, die zu einer Lösung des Problems beitragen können. Zum anderen ist für einen Reformvorschlag ebenso wichtig, dass er auf die Struktur der Verträge, hinsichtlich derer er erdacht werden soll, Rücksicht nimmt. In dieser liegt der wichtigste Grund dafür, dass das derzeit geltende Vorbehaltsrecht für die zu untersuchenden Vertragstypen unanwendbar ist.3 Ein Reformvorschlag, der nicht auch auf diese strukturellen Besonderheiten eingeht, wäre daher ebenso von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die beste Lösung dürfte sich finden, wenn, nachdem beide Untersuchungswege beschritten worden sind, ein Vorschlag erarbeitet wird, der die Vorteile beider Teilergebnisse in sich vereint. Dieser Vorschlag muss also sowohl auf die Pflichtenstruktur des jeweiligen Vertragstyps anwendbar sein als auch zumindest teilweise bereits eine Entsprechung in der derzeit gängigen Praxis finden. Sofern sich eine solche Möglichkeit auftut, hätte diese den entscheidenden Vorteil gegenüber allen anderen Alternativlösungen, dass sie sowohl politisch akzeptabel beziehungsweise von einem Teil der Staatenwelt gewollt ist als auch der Struktur der problematischen Vertragstypen entspricht. Sie würde quasi auf zwei Füßen stehen, einem rechtsdogmatischen und einem rechtspolitischen, und hätte daher die wohl besten Chancen, langfristig das Vorbehaltsrecht vor allem zu Menschenrechtsschutzverträgen zu beeinflussen. Die weitere Vorgehensweise in diesem Kapitel wird daher so aussehen, dass zunächst das geltende Sondervertragsrecht zu Vorbehalten sowie das allgemeine Vertragsrecht auf seine Tauglichkeit zur Erarbeitung eines Reformvorschlags un2 Der Ausdruck „eigentliche Staatenpraxis“ meint in diesem Zusammenhang diejenige Staatenpraxis, wie sie zur Entwicklung von Gewohnheitsrecht nötig ist. 3 s. o. Kapitel 3, C. II. sowie Kapitel 3, C. III. 1. a) und d) sowie auch Kapitel 3, C. III. 2.

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

tersucht werden. Weiterhin müssen neue Ansätze in der Staatenpraxis betrachtet werden, wie sie bereits zum Teil in Kapitel 2 beschrieben worden sind. Im Anschluss daran werden Ausführungen zu möglichen Alternativen folgen, die außerhalb des beschriebenen Untersuchungsbereichs liegen und sich allein aus der Pflichtenstruktur der problematischen Vertragstypen ergeben. Schließlich sind auch die Lösungsvorschläge zu betrachten, die sich in keine dieser Kategorien einordnen lassen, aber dennoch bereits diskutiert werden.4 In Kapitel 5 soll dann ein aus allen Untersuchungsergebnissen erarbeiteter Reformvorschlag präsentiert werden.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen bzw. Verträge I. Geltendes Sonderrecht in Menschenrechtsschutzverträgen Das in Menschenrechtsschutzverträgen normierte Sonderrecht zu Vorbehalten kann in vier Gruppen eingeteilt werden. Es finden sich Regelungen, die Vorbehalte generell verbieten, solche, die das bestehende Vorbehaltsrecht in den Vertrag inkorporieren, solche, die eine erweiterte Inkorporation vorsehen, und schließlich solche, die nur bestimmte Vorbehalte erlauben.

1. Ausnahmsloses Verbot von Vorbehalten Ein generelles Vorbehaltsverbot enthalten beispielsweise Art. 30 des ersten Zusatzprotokolls zur Antifolterkonvention, Art. 4 des sechsten Zusatzprotokolls zur EMRK sowie Art. 21 ECAT. Weiterhin finden sich Bestimmungen dieses Inhalts in Art. 9 der Convention against Discrimination in Education5 sowie in Art. 9 der Supplementary Convention on the Abolition of Slavery, the Slave Trade, and Institutions and Practices similar to Slavery6. Ein solches Verbot bietet den Vorteil absoluter Klarheit und damit größtmöglicher Rechtssicherheit. Darüber hinaus garantiert es, dass der Vertrag von allen Vertragsparteien in seiner Gesamtheit umgesetzt werden muss. Pflichtenreduzierungen durch einzelne Parteien werden ausgeschlossen und die treaty integrity so bestmöglich geschützt. Allerdings liegt hierin auch die wichtigste Schwäche einer solchen Lösung. Durch den generellen 4 Dabei soll jedoch eine Untersuchung der Reformmöglichkeiten unterbleiben, die sich allein aus der Tätigkeit nationaler Gerichte ergeben. Eine eingehende Untersuchung deren Tätigkeit würde die Grenzen dieser Arbeit sprengen. Vgl. hierzu Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 258. 5 UNTS Bd. 429, S. 93. 6 UNTS Bd. 266, S. 3.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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Ausschluss von Vorbehalten verschließen sich die Vertragsparteien der Möglichkeit, die positiven Eigenschaften von Vorbehalten nutzbar zu machen.7 So ist beispielsweise der Fall denkbar, dass ein Staat einen Vertrag in seiner Gesamtheit für ratifizierungswürdig hält und lediglich aus nebensächlichen Gründen mit einer einzelnen Vertragsnorm nicht einverstanden ist. Sofern der Vertrag die Möglichkeit vorsieht, einen Vorbehalt anzubringen, kann der ratifizierungswillige Staat Vertragspartei werden, ist aber nicht gezwungen, die eine Verpflichtung einzugehen, die er ablehnt.8 Als Beispiel für solche Fälle können wiederum die bereits erwähnten Vorbehalte Belgiens, Luxemburgs und Spaniens zur Frauenrechtskonvention dienen, die jeweils ausschließen, dass eine Frau im Wege der Thronfolge Staatsoberhaupt wird.9 Würde die Frauenrechtskonvention Vorbehalte generell verbieten, hätte dies für diese Staaten zwei mögliche Handlungswege eröffnet. Entweder hätten sie das Prinzip aufgeben müssen, dass keine Frau im Wege der Thronfolge Staatsoberhaupt werden kann, oder sie wären nicht Partei der Konvention geworden. Sofern sich diese Staaten für den letzten Weg entschieden hätten, hätte dies für die Autorität der Konvention negative Auswirkungen gehabt. Drei demokratische Staaten hätten aus relativ unbedeutenden Gründen ihre Ratifikation verweigert, was nicht im Interesse der Schöpfer eines Menschenrechtsschutzvertrags sein kann und auch nicht im Interesse der der Hoheitsgewalt dieser Staaten unterstehenden Individuen. Deren Lage hätte sich bei einem Beitritt unter Vorbehalt von der Lage, die sich bei vorbehaltsfreier Ratifikation ergeben hätte, bis auf eine kleine und äußerst wenig bedeutende Nuance nicht unterschieden. Ohne Ratifikation des Vertrags hätten sie hingegen alle auf den sonstigen Schutz durch den Menschenrechtsschutzvertrag verzichten müssen. Dieses Beispiel zeigt, dass ein generelles Vorbehaltsverbot bei Menschenrechtsschutzverträgen auch kontraproduktiv zur eigentlichen Intention der Schöpfer des Vertrags wirken kann. Eine solche Überbetonung der treaty integrity kann dazu führen, das Schutzniveau zu senken anstatt es zu erhöhen, indem Staaten aus Gründen, die die treaty integrity nicht einmal gefährden, dazu gedrängt werden, einem Vertrag insgesamt fern zu bleiben.10 Die damit verbundene Verkleinerung des Kreises potentieller Vertragsparteien kann darüber hinaus die Chancen eines Vertrags mindern, dass sein Inhalt zu Gewohnheitsrecht wird.11 7 Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 40; Elias, S. 27; vgl. Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 137 f.; Keller, SZIER 2 / 2003, S. 142; vgl. auch Schabas, Brooklyn JIL 21 (1995), S. 287; Redgwell, in: Byers / Nolte, S. 402 f. 8 Elias, S. 28; vgl. Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 650; Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 40. 9 s. o. Kapitel 3, C. III. 1. c); vgl. Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 680. 10 Elias, S. 27; vgl. Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 137 f.; Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 679; Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 98; ders., HRR 6 (1981), S. 29 ff.; Sørensen / Dalton, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 92 f. 11 Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 69; vgl. Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 649.

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

Ein weiterer Kritikpunkt an einer Lösung des Vorbehaltsproblems durch ein generelles Vorbehaltsverbot ergibt sich aus folgendem Fall. Wenn ein Staat gewillt ist, einen Menschenrechtsschutzvertrag zu ratifizieren, seine nationale Rechtsordnung aber noch nicht dem im Vertrag festgelegten Standard entspricht, so kann auch dieser Staat das Instrument des Vorbehalts nutzen, um Vertragspartei zu werden, ohne in Konflikt mit seiner nationalen Rechtsordnung zu geraten.12 Erklärt ein Staat seine Ratifikation zunächst unter Vorbehalt, passt danach seine nationale Rechtsordnung dem im Vertrag festgelegten Standard an und nimmt schließlich den Vorbehalt zurück, wäre dies ein Beispiel für die positiven Möglichkeiten, die das Instrument des Vorbehalts bietet.13 Die Rücknahme von Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen ist in der Staatenpraxis durchaus existent.14 Ein positives Beispiel hierfür liefert der Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit einem von ihr zunächst zu Art. 7 lit. b der Frauenrechtskonvention angebrachten Vorbehalt bezüglich der Zulassung des freiwilligen Dienstes an der Waffe in der Bundeswehr durch Frauen. Nachdem sich die innerstaatliche Rechtsordnung entsprechend geändert hatte, nahm die Bundesrepublik ihren Vorbehalt zurück.15 Zwar lässt sich entgegnen, dass der Staat erst seine nationale Rechtsordnung in Einklang mit dem Vertragsinhalt hätte bringen können, bevor er den Vertrag ratifizierte. In einem solchen Falle wäre der Einsatz eines Vorbehalts überflüssig. Dieser Einwand ist aber zu kurz gedacht im Hinblick auf die Disziplinierungswirkung, die eine Ratifikation für den Vorbehaltsstaat haben kann. Ein Staat, der unter Vorbehalt einem Vertrag beitritt, dabei aber erklärt, er wolle die in seiner nationalen Rechtsordnung liegenden Gründe für den Vorbehalt alsbald beseitigen, steht im anschließenden Zeitraum unter starker Beobachtung durch die übrigen Vertragsparteien. Es ist für diese eine legitime Möglichkeit, im Falle einer Nichtumsetzung einer solchen Ankündigung, Druck auf den Vorbehaltsstaat auszuüben. Diese Möglichkeit wäre, wenn der betreffende Staat gezwungen wäre, seine nationale Rechtsordnung vor dem vorbehaltsfreien Beitritt in Einklang mit dem Vertrag zu bringen, ungleich schwächer. Eine Nichtvertragspartei wegen der Nichtangleichung der nationalen Rechtsordnung an das System eines Vertrags unter Druck zu setzen, erscheint Vgl. Redgwell, in: Byers / Nolte, S. 403. Die Rücknahme eines Vorbehalts ist gem. Art. 22 Abs. 1 WVK jederzeit möglich, soweit der Vertrag nichts anderes vorsieht. 14 So nahmen z. B. Australien, Finnland, Frankreich, die Niederlande, Norwegen sowie die Südkorea ihre Vorbehalte zum CCPR zurück, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 10, S. 159 f., eine sehr detaillierte Auflistung solcher Rücknahmen zu diversen Menschenrechtsschutzverträgen findet sich bei Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 70 f.; vgl. auch die Ankündigung Pereiras hinsichtlich der Rücknahme portugiesischer Vorbehalte zur EMRK im Rahmen eines Diskussionsbeitrags während des 5. Kolloquiums über die EMRK, abgedruckt bei Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 150 f., Informationen über die erfolgte Rücknahme eines Teils dieser Vorbehalte finden sich unter http: //conventions.coe.int; vgl. zu einem Vorbehalt Norwegens zu Art. 6 CCPR und dessen Rücknahme Schabas, Brooklyn JIL 21 (1995), S. 289 f.; SchöppSchilling, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 8. 15 Vgl. Fischer-Lescano, ZaöRV 64 (2004), S. 232. 12 13

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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paradox. Zwar ist das Argument, die nationale Rechtsordnung stehe nicht im Einklang mit den Vertragsbestimmungen, in den letzten Jahrzehnten von einigen Staaten zur extensiven Erklärung von Vorbehalten missbraucht worden.16 Jedoch ist selbst dieser Umstand noch nicht geeignet, ein so scharfes Schwert wie das generelle Vorbehaltsverbot als Lösung für das Vorbehaltsproblem zu Menschenrechtsschutzverträgen einzusetzen, da es auch die Nutzbarmachung der positiven Eigenschaften von Vorbehalten verhindern würde.17 Das generelle Vorbehaltsverbot kann also nur dort sinnvoll verwendet werden, wo ein Vertrag Recht kodifiziert, das so universell anerkannt ist, dass Vorbehalte hierzu nicht zu erwarten beziehungsweise von vornherein unzulässig sind, beispielsweise bei einer Kodifikation von ius cogens. Insgesamt bietet das generelle Vorbehaltsverbot jedoch keinen Lösungsansatz für die Probleme, die bei Vorbehalten zu den primärrechtlichen Normen eines Menschenrechtsschutzvertrags entstehen. Es soll in dieser Arbeit daher nicht weiter berücksichtigt werden. 2. Inkorporationslösung Die in einigen Menschenrechtsschutzverträgen enthaltenen Bestimmungen zu Vorbehalten beschränken sich darauf, den Regelungsgehalt des WVK-Vorbehaltsrechts wiederzugeben. Dies geschieht meist durch eine Formulierung eines gleichen Inhalts wie der des Art. 19 lit. c WVK. Hinsichtlich der Zulässigkeit eines Vorbehalts wird damit der Regelungsgehalt der WVK ausdrücklich als Spezialnorm in den Vertrag inkorporiert. In Bezug auf die Rechtswirkung eines Vorbehalts schweigen diese Verträge. Daher kann davon ausgegangen werden, dass mangels ausdrücklich formulierter Spezialnormen hierfür die allgemeinen in der WVK kodifizierten Normen gelten. Einen solchen Weg geht beispielsweise Art. 28 Abs. 2 CEDAW, dessen Formulierung „Mit Ziel und Zweck dieses Übereinkommens unvereinbare Vorbehalte sind nicht zulässig.“ eindeutig den materiellen Gehalt des Art. 19 lit. c WVK wiedergibt. Ähnlich verfährt Art. 51 Abs. 2 CRC, der lautet: „Vorbehalte, die mit Ziel und Zweck dieses Übereinkommens unvereinbar sind, sind nicht zulässig.“ Eine vollständige Inkorporation des Vorbehaltsrechts der WVK findet sich in Art. 75 AMRK, der bestimmt: „Vorbehalte zu dieser Konvention können nur nach Maßgabe der Bestimmungen der ( . . . ) Wiener Vertragsrechtskonvention gemacht werden.“ 16 So einzuordnen der Vorbehalt der USA zum CCPR, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 130; ebenso der Vorbehalt der Malediven zur CEDAW, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 172; vgl. Lijnzaad, S. 293; Keller, SZIER 2 / 2003, S. 140 f.; Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 198 ff.; Nicolai, Syracuse JILC 31 (2004), S. 316 f.; Schöpp-Schilling, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 30 f.; weniger kritisch beurteilt die Vorbehalte der USA Stewart, HRLJ 14 (1993), S. 83. 17 Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 71; vgl. Elias, S. 27; Keller, SZIER 2 / 2003, S. 142.

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

Ein solches Verfahren mag den Vorteil besitzen, dass bei der Verhandlung eines Vertrags wenig Zeit darauf verwendet werden muss, die Vorbehaltsbestimmungen zu entwerfen. Da dieses in der Regel meist gegen Ende des Verhandlungsprozesses geschieht, haben Staaten so eine bequeme Möglichkeit, ihren Vertretern Arbeit zu ersparen.18 Die Kritik an einer solchen Lösung liegt jedoch auf der Hand. Durch eine unveränderte Aufnahme der WVK-Regeln in den Vertrag beziehungsweise durch die Aufnahme des Ziel-und-Zweck-Tests und des Schweigens hinsichtlich der Rechtswirkung eines Vorbehalts werden dieselben Probleme, die bezüglich der Anwendbarkeit der Vorbehaltsregeln der WVK festgestellt worden sind, in den Vertrag inkorporiert.19 Ein solches Verfahren stellt nichts weiter dar als eine Verschiebung der Probleme vom allgemeinen Völkervertragsrecht in die Menschenrechtsschutzverträge. Eine Lösung für die mit Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen bestehenden Probleme ergibt sich daraus nicht. Eine weitere Untersuchung dieses Ansatzes soll daher unterbleiben.

3. Erweiterte Inkorporationslösung Einen ähnlichen, aber nicht vollständig der Inkorporationslösung gleichenden Weg geht Art. 20 Abs. 2 CERD. Durch diesen wird zunächst in Bezug auf die Zulässigkeit eines Vorbehalts der Ziel-und-Zweck-Test nach Art. 19 lit. c WVK in die Rassendiskriminierungskonvention inkorporiert.20 Weiterhin werden solche Vorbehalte als unzulässig definiert, die die Wirkung hätten, die Arbeit einer auf Grund der Rassendiskriminierungskonvention errichteten Stelle zu behindern.21 Bereits damit verlässt die Sonderbestimmung der CERD zu Vorbehalten den von der WVK gesetzten Standard. Allerdings bedeutet diese Ergänzung noch keine entscheidende Abweichung. Sie lässt sich auch in der Weise interpretieren, dass solche Vorbehalte, die eine Vertragsstelle in ihrer Arbeit behindern, gegen Ziel und Zweck des Vertrags verstoßen und daher unzulässig sind. Der zweite Halbsatz des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 CERD hätte dann deklaratorische Funktion. Selbst wenn man nicht so weit gehen will, dürfte doch Einigkeit darüber bestehen, dass die in Art. 20 Vgl. Imbert, S. 214 f.; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 75. Vgl. Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 732; Lijnzaad, S. 421. 20 Vgl. die Formulierung des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 1. HS CERD „Mit dem Ziel und Zweck dieses Übereinkommens unvereinbare Vorbehalte sind nicht zulässig; ( . . . )“; genau genommen ist es technisch nicht richtig von einer Inkorporation zu sprechen, da die Rassendiskriminierungskonvention bereits vor der WVK fertig gestellt wurde. Sie war das erste Instrument, das den vom IGH entworfenen Ziel-und-Zweck-Test in einen Vertrag aufnahm, vgl. Cassese, in: En Hommage à Paul Guggenheim, S. 271; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 733. Wegen der großen Ähnlichkeit mit Art. 19 lit. c WVK und dem Ansatz einer echten Inkorporationslösung soll dieser Ansatz aber untechnisch als (erweiterte) Inkorporationslösung bezeichnet werden. 21 Art. 20 Abs. 2 Satz 1 2. HS CERD. 18 19

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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Abs. 2 Satz 1 2. HS CERD enthaltene Ergänzung noch keinen bedeutenden Unterschied zu Art. 19 lit. c WVK begründet, sondern lediglich eine Erweiterung. Anders jedoch verhält es sich mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 CERD. Dieser legt verbindlich fest, wann ein Vorbehalt als nicht vereinbar mit Ziel und Zweck der Rassendiskriminierungskonvention beziehungsweise als hinderlich für die Arbeit einer vom Vertrag errichteten Stelle anzusehen ist. Dieses wird jedoch nicht an materiellen Überlegungen hinsichtlich Ziel und Zweck der Rassendiskriminierungskonvention festgemacht.22 Die Unvereinbarkeit wird an die Anzahl der gegen den jeweiligen Vorbehalt erhobenen Einsprüche geknüpft. Entspricht diese mindestens zwei Dritteln der Vertragsstaaten, ist der Vorbehalt unzulässig. Art. 20 Abs. 2 CERD sucht den Kompromiss zwischen Schutz der treaty integrity und Förderung der treaty universality.23 Um die Integrität der Konvention zu schützen, wird eine absolute Grenze gezogen, die verhindert, dass ein Staat gegen den Willen einer Zweidrittelmehrheit der Vertragsparteien seine Pflichten zu sehr reduzieren kann. Dagegen besitzt aber auch nicht mehr jeder einzelne Staat für sich die Möglichkeit, die Entstehung vertraglicher Beziehungen zwischen sich und dem Vorbehaltsstaat, einseitig auszuschließen, wie es die WVK vorsieht.24 Auf diese Weise wird die Teilnahme möglichst vieler Staaten an der Rassendiskriminierungskonvention, also die treaty universality, gefördert.25 Dieser 1966 innovative und während der Verhandlungen zur Rassendiskriminierungskonvention auch umstrittene Ansatz26 hat sich in der darauf folgenden Praxis bei der Schaffung multilateraler Menschenrechtsschutzverträge bis heute jedoch nicht durchsetzten können. Die Formulierung einer solchen Vorbehaltsbestimmung blieb ein Einzelfall. Fraglich ist, worin der Grund dafür liegt. Positiv an einer solchen Lösung hervorzuheben ist zumindest, dass das auch von der WVK vorgesehene, aber dort hinsichtlich Menschenrechtsschutzverträge als stumpfes Schwert etablierte Instrument des Einspruchs gegen einen Vorbehalt in Art. 20 Abs. 2 CERD erheblich aufgewertet wird. Sofern sich eine entsprechende Mehrheit im Kreis der Vertragsstaaten findet, sind diese in der Lage, mit Hilfe des Einspruchs einen Vorbehalt für unzulässig zu erklären. Eine solche Möglichkeit ergibt sich aus den Regeln der WVK nicht. Dort wird allein auf die Bilateralisierung eines jeden Vertrags bei der Entscheidung über die Wirksamkeit eines Vorbehalts gesetzt. Kritik an dem in Art. 20 Abs. 2 CERD gewählten Ansatz ergibt sich jedoch daraus, dass dieser Weg nicht konsequent zu Ende gegangen wird. Es wird zwar mit Hilfe eines Quorums festgelegt, wann ein Vorbehalt in jedem Fall unzulässig ist. Dabei bleibt es aber auch. Verdeutlichen lässt sich dieser Missstand an zwei 22 23 24 25 26

Lerner, S. 95. Cassese, in: En Hommage à Paul Guggenheim, S. 267. Art. 20 Abs. 4 lit. b WVK. Cassese, in: En Hommage à Paul Guggenheim, S. 267. Lerner, S. 95 f.

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

Hauptfragen. Was geschieht mit einem Vorbehalt, der gegen Ziel und Zweck der Rassendiskriminierungskonvention verstößt, hinsichtlich dessen sich aber im Kreis der Vertragsstaaten beispielsweise aus politischen Gründen keine Zweidrittelmehrheit für einen Einspruch findet, und welche Wirkungen erzeugt dieser Vorbehalt im Verhältnis zwischen dem Vorbehaltsstaat und den jeweils anderen Vertragsparteien? Daran schließt sich die Frage an, welche Auswirkungen eine solche Vorbehaltssituation auf die Primärpflichten der anderen Vertragsparteien gegenüber den ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Menschen hat. Im Gegenzug bleibt die Frage offen, was mit einem Vorbehalt zu geschehen hat, der objektiv nicht gegen Ziel und Zweck der Rassendiskriminierungskonvention verstößt, hinsichtlich dessen sich eine entsprechende Einspruchsmehrheit aber findet.27 Diese beiden Fragen allein beweisen bereits, dass auch unter der Geltung des Art. 20 Abs. 2 CERD das als objektiv angelegte Verfahren des Ziel-und-Zweck-Tests nicht objektiv bleibt, sondern es wie unter Geltung der allgemeinen Regeln subjektiviert wird. Es sind wiederum allein die Vertragsparteien, die über das Schicksal eines Vorbehalts entscheiden.28 Dabei legt Art. 20 Abs. 2 CERD nicht fest, gegen welche Vorbehalte Einspruch erhoben werden darf. Grundsätzlich sind Staaten also nicht darauf beschränkt, nur gegen solche Vorbehalte, die gegen Ziel und Zweck der Konvention verstoßen beziehungsweise Konventionsorgane behindern, Einsprüche zu erheben.29 Schließlich regelt Art. 20 Abs. 2 CERD auch nicht, was die Konsequenz der Unzulässigkeit eines Vorbehalts sein soll. Damit krankt diese Lösung an denselben Unzulänglichkeiten wie die WVK. Die ausdrückliche Nichtigkeit des unzulässigen Vorbehalts legt diese Norm zumindest nicht fest. Damit entsteht der Streit zwischen Anhängern der opposability und der permissibility unzulässiger Vorbehalte auch hier.30 Daneben bleibt auch im Falle eines Einspruchs durch zwei Drittel der 27 Diese Fragen stellen sich, ohne dass es darauf ankommt, ob Staaten Einsprüche nur gegen solche Vorbehalte erheben dürfen, die gegen Ziel und Zweck der Rassendiskriminierungskonvention verstoßen. Sofern die entsprechende Mehrheit zustande kommt bzw. nicht zustande kommt, ist die Frage aktuell, egal ob sich die Staaten an die Vorgaben durch Ziel und Zweck halten oder nicht; vgl. Cassese, in: En Hommage à Paul Guggenheim, S. 275 ff., der hier in Bezug auf mögliches tatsächliches Verhalten der Staaten nicht weit genug denkt, wenn er vorschlägt, unzulässige Einsprüche bei der Mehrheitsbestimmung nicht einzurechnen; vgl. auch Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 734. 28 Dies steht auch im Einklang mit der Praxis des Generalsekretärs der UNO, der für einen Vorbehalt, gegen den von keinem Staat Einspruch erhoben wird, offenbar von dessen zwingender Gültigkeit ausgeht, vgl. Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 10, S. 120 f.; Schwelb, ICLQ 15 (1966), S. 1056; vgl. Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 91 f. 29 Schwelb, ICLQ 15 (1966), S. 1056; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 92. 30 Kjœrum, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 69; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 734; Cassese, in: En Hommage à Paul Guggenheim, S. 280, geht hingegen davon aus, dass aus einer Zweidrittelmehrheit für einen Einspruch zumindest die Nichtigkeit

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Vertragsstaaten unklar, welche Wirkung der Vorbehalt im Verhältnis zwischen dem Vorbehaltsstaat und denjenigen Staaten entfalten soll, die keinen Einspruch erhoben haben. Deren Anzahl kann immerhin auch bis zu ein Drittel der Vertragsstaaten umfassen. Insgesamt dürften diese bei der Anwendung des Art. 20 Abs. 2 CERD auftretenden Probleme den Grund dafür liefern, dass sich der Ansatz, die Zulässigkeit eines Vorbehalts an der Anzahl der hiergegen erhobenen Einsprüche festzumachen, in der späteren Vertragspraxis nicht durchsetzen konnte.31 Auch die nachfolgende Staatenpraxis zu dieser Bestimmung lässt nicht auf einen Erfolg dieses Systems schließen.32 Art. 20 Abs. 2 CERD bleibt quasi auf halber Strecke stehen und bringt seinen eigenen innovativen Ansatz nicht konsequent zu Ende. Auch diese Methode ist daher nicht geeignet, zur Grundlage einer Reform des Vorbehaltsrechts bezüglich Primärpflichten eines Vertrags mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur zu werden.33 Ein positiver Teilaspekt dieses Ansatzes sollte allerdings nicht aus den Augen verloren werden. Die Idee der Aufwertung des Einspruchs zu einem Instrument, das insgesamt und nicht nur im bilateralen Verhältnis wirkt, ist eine Neuerung, die in Verbindung mit derzeit aktueller Staatenpraxis möglicherweise zu einem Teil einer Reformmöglichkeit werden kann.34

4. Ausdrückliche Zulassung bestimmter Vorbehalte In anderen Verträgen finden sich Sonderbestimmungen, die bestimmte Vorbehalte ausdrücklich erlauben. So erlaubt die Antifolterkonvention Vorbehalte hinsichtlich der Streitbeilegungsmechanismen sowie der Überwachung der Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen durch die Vertragsorgane.35 Ähnlich verfährt Art. 29 Abs. 2 CEDAW. Art. 17 Abs. 1 der Convention on the Reduction of Statedes Vorbehalts folgt, dies allerdings ohne Begründung; vgl. auch Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 90 ff. 31 Vgl. McGrory, HRQ 23 (2001), S. 819. 32 So sind zur Rassendiskriminierungskonvention einige z. T. weitreichende Vorbehalte eingelegt worden. Die Zahl der Einsprüche blieb dagegen gering, Kjœrum, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 69; vgl. Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 120; Lerner, S. 156 ff.; Keller, SZIER 2 / 2003, S. 134; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 734, 770. 33 Vgl. Cassese, in: En Hommage à Paul Guggenheim, S. 303 f.; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 410; Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 222; Lijnzaad, S. 421; dafür allerdings Sucharipa-Behrmann, ARIEL 1 (1996), S. 86. 34 Vgl. hierzu Kapitel 4, B. III. 2. 35 Art. 28, Art. 30 Abs. 2 CAT; es ist dabei für die in diesem Abschnitt enthaltene Argumentation gleichgültig, dass es sich dabei um Sekundärpflichten handelt. Die abstrakten Ausführungen dieses Abschnitts gelten entsprechend auch für Primärpflichten.

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lessness36 erlaubt Vorbehalte zu den Artikeln 11, 14 und 15 dieser Konvention. Abs. 2 enthält das Verbot, andere als diese Vorbehalte anzubringen. Auf den ersten Blick bieten Sonderregelungen einen großen Vorteil. Die Überprüfung eines Vorbehalts auf seine Vereinbarkeit mit Ziel und Zweck des Vertrags scheint zu entfallen. Die Zulässigkeitsprüfung wird mithin stark vereinfacht. Auf diese Weise entsteht größtmögliche Rechtssicherheit.37 Jeder beitrittswillige Staat weiß im Voraus, welche Vorbehalte er bei einem Beitritt zum Vertrag erklären darf. Bei Verhandlung eines neuen Vertrags haben die Staaten weiterhin die Möglichkeit, durch die Festlegung enger Kriterien für die Zulässigkeit von Vorbehalten, zu verhindern, dass der materielle Gehalt des Vertrags durch exzessiven Gebrauch von Vorbehalten ausgehöhlt wird. Gleichzeitig haben sie die Möglichkeit, diejenigen Vorbehalte, die sie als sinnvoll erachten, im Voraus als eindeutig zulässig zu definieren. Dieses kann positive Auswirkungen auf die spätere Akzeptanz eines Vertrags insgesamt haben. Schließlich wird auf diese Weise Staaten die Möglichkeit gegeben, Vorbehalte zu Bestimmungen, mit denen sie nicht einverstanden sind und die vom Vertrag als „vorbehaltstauglich“ eingestuft werden, anzubringen. Dadurch kann ein generelles Fernbleiben solcher Staaten vom Vertrag vermieden werden. Die positiven Eigenschaften, die Vorbehalte bieten können, werden nutzbar gemacht. Darin liegt ein deutlicher Vorteil gegenüber einer alle Vorbehalte verbietenden Lösung. Die meisten dieser Vorteile bestehen aber nur, solange der Umkehrschluss gilt, dass alle Vorbehalte, die nicht ausdrücklich erlaubt sind, unzulässig sind. Nur in diesem Fall kann die erwähnte Rechtssicherheit erreicht werden. Die Geltung dieses Umkehrschlusses ist aber keineswegs unumstritten.38 Dafür spricht, dass nur so verhindert werden kann, dass die rechtliche Relevanz einer bestimmte Vorbehalte erlaubenden Sonderbestimmung auf eine rein deklaratorische Funktion reduziert wird. Der letzte Rest rechtlicher Bedeutung einer solchen Norm würde sonst darin bestehen klarzustellen, dass neben allen möglichen anderen denkbaren Vorbehalten, die durch sie erwähnten in jedem Fall zulässig sind. Für die Annahme, dass Sonderbestimmungen, die bestimmte Vorbehalte ausdrücklich erlauben, eigene Rechtswirkung haben, spricht Art. 19 lit. b WVK. Wenn diese Bestimmung aussagt, dass die Unzulässigkeit eines Vorbehalts daraus resultieren kann, dass er nicht zu den im Vertrag ausdrücklich für zulässig erklärten gehört, so heißt dies, dass Art. 19 lit. b WVK die Entscheidung über die Zulässigkeit gerade in die Hände solcher Sonderbestimmungen legt. Ihnen dann eine rein deklaratorische Bedeutung zukommen zu lassen, erscheint vor diesem Hintergrund fraglich.39 Für eine solche Lösung spricht weiterhin die Systematik der Art. 28 und 29 CEDAW. Während Art. 29 Abs. 2 CEDAW bestimmte Vorbehalte ausdrücklich für zulässig erklärt, 36 37 38 39

UNTS Bd. 989, S. 175. Vgl. Burgers / Danielus, S. 169 f.; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 732. Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 98 f.; Lijnzaad, S. 373 f. s. o. Kapitel 2.

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legt Art. 28 für alle (übrigen) Vorbehalte die Geltung der allgemeinen Regeln hinsichtlich der Zulässigkeit fest.40 Eine Regelung wie Art. 28 CEDAW wäre überflüssig, wenn davon ausgegangen werden dürfte, dass neben den ausdrücklich erlaubten Vorbehalten auch andere Vorbehalte zulässig sein könnten, für deren Behandlung die allgemeinen Regeln gelten. Gegen eine solche Auslegung lassen sich jedoch ähnliche, quasi „spiegelverkehrte“ Argumente ins Feld führen. Welche Bedeutung behalten in einem solchen Fall Normen wie Art. 17 Abs. 2 der Convention on the Reduction of Statelessness? Wenn dort alle nicht ausdrücklich erlaubten Vorbehalte für unzulässig erklärt werden, der oben beschriebene Umkehrschluss jedoch gilt, führt dies dazu, dass die Relevanz dieser Norm auf eine rein deklaratorische Funktion reduziert wird. Gegen die Annahme, dass eine solche Situation richtig ist, spricht, dass Art. 19 lit. a WVK ausdrückliche Vorbehaltsverbote ebenso mit Rechtswirkung ausstatten will, wie Art. 19 lit. b WVK ausdrückliche Vorbehaltserlaubnisse. Auf diese Weise können Vorbehaltsnormen, die bestimmte Vorbehalte ausdrücklich erlauben, den Rechtsanwender vor ein unlösbares Dilemma stellen. Ebenso wenig wie die systematische und teleologische Auslegung solcher Sondernormen ein befriedigendes Ergebnis für die Frage nach der Gültigkeit des beschriebenen Umkehrschlusses liefern, so wenig finden sich auch in der Staatenpraxis Hinweise auf eine Antwort. Einerseits erhoben Spanien, Griechenland und Italien im Jahre 1988 gegen einen Vorbehalt der damaligen Deutschen Demokratischen Republik zur Antifolterkonvention Einspruch mit der Begründung, der Vorbehalt sei unzulässig, da er nicht zum Kreis ausdrücklich erlaubter gehöre.41 Ein Jahr später hingegen beriefen sich dieselben Staaten bei Einsprüchen auf die Nichtvereinbarkeit von Vorbehalten mit Ziel und Zweck des Vertrags und verzichteten auf die Erwägung, dass nicht ausdrücklich erlaubte Vorbehalte verboten seien.42 Würde man sich dafür entscheiden, einer Sondernorm, die bestimmte Vorbehalte ausdrücklich zulässt, rein deklaratorische Bedeutung zu geben, hätte dies ebenfalls sind nicht unproblematische Folgen. Sofern man neben den ausdrücklich erlaubten Vorbehalten auch andere zuließe, könnten für diese nur die allgemeinen Regeln der WVK gelten. Damit würden sich bei solchen Vorbehalten alle bereits hinsichtlich der WVK-Vorbehaltsregeln identifizierten Probleme auch im Rahmen von Sonderbestimmungen stellen. Insbesondere würde die Frage, welche Rechtsfolge aus einer möglichen Unzulässigkeit eines Vorbehalts erwachsen soll, nicht ausdrücklich geregelt. Es bliebe ungeklärt, ob aus der Unzulässigkeit eines Vorbehalts automatisch dessen Nichtigkeit folgen soll. Sofern dies nicht der Fall wäre, würde die s. o. Kapitel 4. Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Do. ST / LEG / SER.E / 10, S. 191. 42 So hinsichtlich eines Vorbehalts Chiles, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 10, S. 192 f. 40 41

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Entscheidung über die Rechtswirkung des Vorbehalts erneut bei den übrigen Vertragsparteien liegen. Die mit dem Einsatz von Annahme und Einspruch verbundenen Probleme würden nicht vermieden.43 Dies alles zeigt, dass auch eine Aufnahme von Sonderbestimmungen, die bestimmte Vorbehalte ausdrücklich erlauben, in Menschenrechtsschutzverträge keine Patentlösung für die bekannten Probleme bietet. Auch auf diese Möglichkeit soll bei der Erarbeitung eines Reformansatzes daher nicht weiter zurückgegriffen werden. Allerdings lässt sich auch aus solchen Sonderbestimmungen zumindest ablesen, dass die Staatengemeinschaft offenbar gewillt ist, den unbrauchbaren Zielund-Zweck-Test durch präzisere Regeln zu ersetzen. Insbesondere wenn neben der Erlaubnis bestimmter Vorbehalte das Verbot aller anderen Vorbehalte ausdrücklich im Vertrag festgelegt ist, kann dieses auch gelingen. Wegen der mit der Anwendung des Ziel-und-Zweck-Tests verbundenen Probleme ist daher dieser Teilbereich des jetzt behandelten Ansatzes bei der Erarbeitung eines Reformvorschlags in Betracht zu ziehen.

5. Ausdrückliches Verbot bestimmter Vorbehalte Einen der ausdrücklichen Erlaubnis ähnlichen Weg zur Behandlung von Vorbehalten findet man in Art. 42 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention, Art. 38 Abs. 1 der Convention Relating to the Status of Stateless Persons44 und Art. 8 der Convention on the Nationality of Married Women.45 Dort wird jeweils normiert, dass bestimmte Vorbehalte zu dem betreffenden Vertrag ausdrücklich verboten sind. Bei der Anwendung einer solchen Methode dürften dieselben Probleme entstehen, wie sie bezüglich der Methode einer ausdrücklichen Erlaubnis festgestellt worden sind.46 Es bleibt auch bei solchen Normen unklar, ob ein Vorbehalt, der nicht unter das ausdrückliche Verbot fällt, automatisch immer erlaubt ist. Denkbar erscheint auch die Interpretation, dass ausdrücklich verbotene Vorbehalte in jedem Fall verboten sein sollen, während nicht ausdrücklich verbotene Vorbehalte erlaubt oder verboten sein können. Sofern man sich für letztere Ansicht entscheidet, bleibt die Frage offen, nach welchen Kriterien sich dann die Zulässigkeit eines Vorbehalts, der nicht ausdrücklich verboten ist, richten soll. Die Frage, ob neben der Geltung der Sondernorm auch die Geltung der allgemeinen Regeln möglich ist, wird auch bei diesen Verträgen nicht beantwortet. Vgl. Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 735. UNTS Bd. 360, S. 117. 45 UNTS Bd. 309, S. 65. 46 Insofern sollen sich die Ausführungen hier auf einen kurzen Überblick der Probleme beschränken. Auf die Ausführungen zu den Problemen bzgl. Sondernormen, die bestimmte Vorbehalte ausdrücklich erlauben, sei verwiesen, s. o. Kapitel 4, B. I. 4. 43 44

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Weiterhin bleibt die Frage offen, ob die ausdrücklichen Verbote einiger Vorbehalte nur deren Zulässigkeit oder auch deren Rechtswirkung regeln sollen. Im letzteren Falle wäre ein ausdrücklich verbotener Vorbehalt bei seiner Erklärung automatisch nichtig. Sofern die vertragliche Sondernorm dagegen nur die Zulässigkeit, nicht aber die Rechtswirkung des Vorbehalts regelt, hängt dessen Rechtswirksamkeit wiederum vom Willen der übrigen Vertragsparteien ab. Die allgemeinen Regeln würden in einem solchen Fall wieder volle Gültigkeit entfalten. Die Sondernorm würde auf rein deklaratorische Bedeutung reduziert. Die mit der Bilateralisierung eines Menschenrechtsschutzvertrags durch die allgemeinen Vorbehaltsregeln verbundenen Probleme kämen erneut zum Tragen.47 Auch dieser Ansatz kann daher für die Entwicklung eines Reformvorschlags für das Recht der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen nicht als Patentlösung angesehen werden. Verwertbar bleibt hier wie bei der Lösung, bestimmte Vorbehalte ausdrücklich zu erlauben, nur der Punkt, möglichst auf die Anwendung des Ziel-und-Zweck-Tests zu verzichten.

6. Art. 57 EMRK Einen leicht anderen Weg, der daher wert ist, gesondert betrachtet zu werden, normiert Art. 57 EMRK. Dort wird in Abs. 1 nicht eine Liste der Vertragsbestimmungen, zu denen Vorbehalte angebracht werden dürfen, festgelegt, sondern die Zulässigkeit eines Vorbehalts an dessen Grund geknüpft. Zulässig sind nur solche Vorbehalte, die sich auf einzelne Konventionsbestimmungen beziehen und bei denen sich der Vorbehaltsstaat darauf beruft, dass ein Gesetz seiner nationalen Rechtsordnung nicht mit der betreffenden Bestimmung der EMRK übereinstimmt. Vorbehalte allgemeiner Art werden dagegen für unzulässig erklärt.48 Letztere Regelung stellt ein eigenständiges Zulässigkeitskriterium dar. Ansonsten wäre seine Erwähnung gegenüber Art. 57 Abs. 1 Satz 1 EMRK überflüssig.49 Eine solche Lösung erscheint auf den ersten Blick weniger klar als solche Normen, die eine Liste der Bestimmungen enthalten, zu denen Vorbehalte erklärt werden dürfen. Formal betrachtet ist es nach Art. 57 Abs. 1 EMRK möglich, Vorbehalte zu jeder Bestimmung der EMRK einzulegen, solange hierfür ein ausreichender Grund besteht und der Vorbehalt nicht allgemeiner Art ist. Weiterhin wird Vgl. Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 735. Die Regelung in Art. 57 Abs. 2 EMRK bezieht sich nicht auf die Pflichtenstruktur eines Menschenrechtsschutzvertrags und kann daher in dieser Arbeit unbeachtet bleiben. 49 Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 77, interessant ist, dass diese Autorin hier einen solchen Schluss problemlos zieht, während sie ihn im Hinblick auf die CAT mit dem bloßen Hinweis auf kein ausdrückliches Verbot anderer als der zugelassenen Vorbehalte ablehnt; vgl. EKMR, Case of Temeltasch v. Switzerland, 5. Mai 1982, Ziff. 90; Cameron / Horn, GYIL 33 (1990), S. 118; Marks, in: Gardner, Human Rights as General Norms, S. 45; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 731. 47 48

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aus der Norm nicht deutlich, was ein Vorbehalt „allgemeiner Art“ genau sein soll. Art. 57 Abs. 1 EMRK trifft außerdem nur Festlegungen zur Zulässigkeit von Vorbehalten. Die Frage der Rechtswirkung eines Vorbehalts, ob unzulässig oder nicht, lässt die Norm offen. Schließlich besteht auch hinsichtlich der EMRK wie hinsichtlich aller Menschenrechtsschutzverträge, die eine spezielle Vorbehaltsbestimmung enthalten, die Frage, ob diese Sondernorm eine abschließende Regelung zur Behandlung von Vorbehalten trifft, oder ob daneben auch die allgemeinen Vorbehaltsregeln auf den Vertrag anwendbar sind.50 Diese Unklarheiten könnten zu der Annahme führen, dass auch der von der EMRK in der Frage der Vorbehalte eingeschlagene Weg untauglich zur Erarbeitung eines Reformvorschlags für das Recht der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen ist. Allerdings hat die EMRK gegenüber allen anderen hier untersuchten Menschenrechtsschutzverträgen einen entscheidenden Vorteil, der für die Anwendbarkeit der Sonderbestimmung zu Vorbehalten Klarheit schafft. Mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verfügt die EMRK über ein Vertragsorgan, das befugt ist, bindende Feststellungen hinsichtlich der Auslegung des Vertrags und damit auch hinsichtlich der Vorbehalte zu treffen. Dies bedeutet, dass im Falle eines Vorbehalts dessen Zulässigkeit sich nach den durch Art. 57 EMRK definierten Kriterien richtet. Die Zulässigkeitsentscheidung trifft der EGMR.51 Gleichzeitig trifft der Gerichtshof auch die Entscheidung über die Rechtswirkung des Vorbehalts. Dabei kann er sogar die Nichtigkeit eines Vorbehalts erklären und damit die volle Bindung des Vorbehaltsstaats an die Verpflichtungen aus der EMRK.52 Auf diese Weise wird erreicht, dass der Einsatz von Annahme oder Einspruch durch die anderen Vertragsparteien obsolet wird. Dies hat wiederum den positiven Effekt der Vermeidung der Bilateralisierung und der damit verbundenen Probleme, wie sie sonst bei Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen entstehen können. Die Möglichkeit der Staaten, selbst über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zu entscheiden, besteht nach der EMRK nicht.53 Damit besteht auch Klarheit in der Frage, ob neben Art. 57 EMRK die allgemeinen Regeln des Vorbehalts50 Für eine Anwendbarkeit der allgemeinen Regeln Westerdiek, EuGRZ 10 (1983), S. 550; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 79. 51 EGMR, Case of Belilos v. Switzerland, 29. April 1988, Ziff. 50; EGMR, Case of Weber v. Switzerland, 22. Mai 1990, Ziff. 37; EGMR, Case of Loizidou v. Turkey, 23. März 1995, Ziff. 95; EGMR, Case of Eisenstecken v. Austria, 3. Oktober 2000, Ziff. 24; Marks, ICLQ 39 (1990), S. 322; dies., in: Gardner, Human Rights as General Norms, S. 61; vgl. auch EKMR, Case of Temeltasch v. Switzerland, 5. Mai 1982, Ziff. 65; EGMR, Case of Airey v. Ireland, 9. Oktober 1979, Ziff. 26; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 762 ff.; Klabbers, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 176 f. 52 EGMR, Case of Belilos v. Switzerland, 29. April 1988, Ziff. 60; EGMR, Case of Weber v. Switzerland, 22. Mai 1990, Ziff. 38; EGMR, Case of Loizidou v. Turkey, 23. März 1995, Ziff. 105; EGMR Case of Eisenstecken v. Austria, 3. Oktober 2000, Ziff. 30; Diss. Opinion des Kommissionsmitglieds Gözübüyük zu EKMR, Case of Temeltasch v. Switzerland, 5. Mai 1982, Ziff. 2; Keller, SZIER 2 / 2003, S. 136; Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 670 f. 53 Marks, ICLQ 39 (1990), S. 322 f.; dies., in: Gardner, Human Rights as General Norms, S. 51 f.

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rechts auf die EMRK Anwendung finden können. Sie können es nicht. Die Autorität des Gerichtshofs als Entscheidungsorgan für alle die Auslegung und Anwendung der EMRK betreffenden Angelegenheiten würde aufgehoben, wenn die Staaten frei wären, anstelle des Gerichtshofs selbst über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zu entscheiden. Eine solche Aufhebung wäre ein Verstoß gegen Art. 32 EMRK. Insofern kann eine Geltung der allgemeinen Regeln des Vorbehaltsrechts neben Art. 57 EMRK nicht angenommen werden.54 Etwas anderes lässt sich auch nicht aus den travaux préparatoires zur EMRK herleiten. Zwar findet sich dort eine Stellungnahme des Committees on Legal and Administrative Questions, die besagt, dass die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorbehalts von einer qualifizierten Mehrheit der Vertragsparteien abhängen sollte.55 Der Schluss, dass deshalb die Kompetenz des EGMR zur Entscheidung über Zulässigkeit und Rechtswirkung eines Vorbehalts zur EMRK nicht bestehe, ist aber nicht zwingend.56 Eine solche Bestimmung hat in die endgültige Fassung der EMRK keinen Eingang gefunden, was darauf schließen lässt, dass die Vertragsparteien eine Regel dieses Inhalts auch nicht wollten. Dieses Ergebnis wird schließlich dadurch bestätigt, dass die WVK als solche wegen des in Art. 4 WVK enthaltenen Rückwirkungsverbots nur in ihrer gewohnheitsrechtlichen Form Anwendung auf die EMRK finden könnte. Ob Vorbehaltsbestimmungen der WVK allerdings bereits gewohnheitsrechtliche Geltung beanspruchen können, ist nach wie vor nicht vollständig geklärt.57 In Ausübung seiner Autorität als Vertragsorgan der EMRK hat der EGMR mittlerweile Kriterien entwickelt, die festlegen, wann ein unzulässiger Vorbehalt allgemeiner Art vorliegt. Dies ist dann der Fall, wenn er nicht zu einem bestimmten Konventionsartikel oder zu einem Artikel der Konvention erklärt wurde, der selbst allgemeiner Natur ist, so dass die Bedeutung und Tragweite des Vorbehalts unklar 54 Cameron / Horn, GYIL 33 (1990), S. 88, 116; Karl, Diskussionsbeitrag während des 5. Kolloquiums zur EMRK, abgedruckt bei Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 168; Marks, ICLQ 39 (1990), S. 322 f.; ebenso wohl auch Meyer-Ladewig, in: Hk-EMRK, Art. 57, Rn. 6, der davon ausgeht, dass jeder zulässige Vorbehalt automatisch die vom Vorbehaltsstaat gewünscht Reduzierung der vertraglichen Pflichten bewirkt. Ein solcher Automatismus wäre mit den allgemeinen Regeln nicht vereinbar, die diese die Entscheidung über die Rechtswirkung des Vorbehalts unabhängig von dessen Zulässigkeit in die Hände der Vertragsparteien legen. Weiterhin dürfte sich dieses Problem in der Praxis nicht stellen, da ein Vorbehalt allgemeiner Art i. d. R. auch gegen Ziel und Zweck der EMRK verstoßen sollte, EGMR, Case of Belilos v. Switzerland, 29. April 1988, Ziff. 53 ff.; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 80. 55 Abgedruckt in Council of Europe, Collected Edition of the „Travaux Préparatoires“ of the European Convention on Human Rights, vol. V, S. 40. 56 So jedoch Marks, ICLQ 39 (1990), S. 325 f., wobei die Autorin dieses später relativiert, S. 327. 57 Für eine generelle gewohnheitsrechtliche Anwendbarkeit der WVK speziell auf die EMRK allerdings ohne nähere Begründung Westerdiek, EuGRZ 10 (1983), S. 550; vgl. zum Problem der gewohnheitsrechtlichen Anwendbarkeit der Bestimmungen der WVK zu Vorbehalten Kapitel 2, F.

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bleibt.58 Die einzige Möglichkeit, bei der auch für die EMRK die Geltung der allgemeinen Regeln angenommen werden könnte, bezieht sich auf die Situation, dass ein Vorbehalt zwar die Kriterien des Art. 57 EMRK erfüllt, dennoch aber gegen Ziel und Zweck der EMRK verstößt.59 Allerdings besteht auch in einem solchen Fall das Problem der sicheren Feststellung von Ziel und Zweck.60 Daneben ist zweifelhaft, ob für eine solche Ausnahme Bedarf besteht. Vorbehalte, die klar gegen Ziel und Zweck der EMRK verstoßen, sollten in den meisten Fällen auch als Vorbehalte allgemeinen Charakters unzulässig sein. Eine solche Ausnahme mag daher möglich sein. Mit ihrer Hilfe eine generelle Geltung der allgemeinen Regeln neben Art. 57 EMRK zu begründen, ist wegen der wenigen denkbaren Fälle, in denen sie zur Anwendung kommen müsste, und den damit verbundenen Problemen aber nicht möglich. Damit lassen sich alle Unklarheiten hinsichtlich der Vorbehaltsbestimmungen in Art. 57 EMRK aus dem Weg räumen. Art. 57 EMRK nimmt unter den Sonderbestimmungen zu Vorbehalten mithin eine Sonderstellung ein. Die mit dieser Norm verbundenen Probleme müssen nicht auf abstrakter Ebene gelöst werden, sondern sind bereits von einem Vertragsorgan verbindlich geklärt worden. Weitere Überlegungen zu diesen Problemen sind insbesondere auch daher nicht geboten, da die Vertragsstaaten zur Beachtung und Umsetzung der Urteile des EGMR verpflichtet sind61 und dieser Verpflichtung auch nachkommen,62 notfalls motiviert durch die Überwachung durch das Ministerkomitee des Europarats.63 Dieses System hat sich in der Praxis bewährt. Ob allerdings die Überwachung der Zulässigkeit der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen durch ein Organ, das gleichzeitig die rechtsverbindliche Entscheidung über die Rechtswirkung des Vorbehalts treffen kann, einen guten Ansatz für einen Reformvorschlag zum Recht der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen insgesamt liefert, kann damit noch nicht allgemein gültig festgestellt werden. Hierzu sind Untersuchungen nötig, die auch die Staaten, die nicht Partei der EMRK sind, einbeziehen.64 Die Vermeidung einer Bilateralisierung des Vertrags durch das Anbringen von Vorbehalten und die verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten darauf ist jedoch in jedem Fall positiv her58 EKMR, Case of Temeltasch v. Switzerland, 5. Mai 1982, Ziff. 84; EGMR, Case of Belilos v. Switzerland, 29. April 1988, Ziff. 55; Meyer-Ladewig, in: Hk-EMRK, Art. 57, Rn. 4; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 76. 59 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 731; Marks, in: Gardner, Human Rights as General Norms, S. 47 f. 60 s. o. Kapitel 3, C. III. 1. b). 61 Art. 46 Abs. 1 EMRK. 62 So wurde auch von der Schweiz im Fall Belilos die Zuständigkeit des EGMR zur Entscheidung über die Zulässigkeit ihres Vorbehalts nicht angezweifelt, vgl. EGMR, Case of Belilos v. Switzerland, 29. April 1988, Ziff. 50, 60; Marks, in: Gardner, Human Rights as General Norms, S. 40; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 761 f. 63 Art. 46 Abs. 2 EMRK. 64 Vgl. hierzu Kapitel 4, B. III. 5.

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vorzuheben. Ebenfalls positiv dürfte sich die Tatsache auswirken, dass Art. 57 Abs. 1 EMRK darauf verzichtet, eine abschließende Liste der Vertragsbestimmungen, zu denen Vorbehalte angebracht werden dürfen, festzulegen. Auf diese Weise wird es Staaten grundsätzlich ermöglicht, zu jeder Bestimmung der EMRK einen Vorbehalt anzubringen. Dies kann die Akzeptanz eines Vertrags bei den Staaten steigern.65 Die Tatsache, dass mittlerweile 45 europäische Staaten Partei der EMRK geworden sind, beweist, dass eine solche Akzeptanz bei nahezu allen beitrittsfähigen Staaten vorhanden ist. Ein ausufernder Gebrauch beziehungsweise Missbrauch von Vorbehalten wird durch Art. 57 EMRK dadurch vermieden, dass die Begründungsmöglichkeiten für den Vorbehalt stark reduziert werden und Vorbehalte allgemeiner Art verboten sind. Art. 57 EMRK kann daher als ein gelungener Kompromiss im Rahmen der Sonderbestimmungen zu Vorbehalten in Menschenrechtsschutzverträgen angesehen werden. Insofern kann sein Inhalt auch hinsichtlich der Überlegungen zu einer breit angelegten Reform herangezogen werden. Über eine Reform des Vorbehaltsrechts der EMRK selbst braucht nicht nachgedacht zu werden. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass es sich bei den Mitgliedstaaten der EMRK um Staaten eines relativ homogenen Rechtsraums handelt, was die Akzeptanz dieser Bestimmung vermutlich stark begünstigt hat.66 Weiterhin verfügt die EMRK mit dem EGMR auch in Bezug auf Vorbehalte über ein echtes Entscheidungsorgan.67 Ob eine solche Regelung weltweit die gleiche Akzeptanz erreichen kann, ist insbesondere im Hinblick auf die Schaffung eines mit Entscheidungsgewalt ausgestatteten Organs fraglich.68 Dennoch sollen die positiven Ansätze in Art. 57 EMRK bei der Suche nach einer Reform weiter beachtet werden.

II. Allgemeines Völkerrecht 1. Pacta sunt servanda Der Satz „Pacta sunt servanda.“ entstammt einerseits dem allgemeinen Völkervertragsrecht.69 Er stellt andererseits einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Völ65 Vgl. speziell zur EMRK Diss. Opinion des Kommissionsmitglieds Gözübüyük zu EKMR, Case of Temeltasch v. Switzerland, 5. Mai 1982, Ziff. 3. 66 Vgl. zur Frage des Zusammenhangs zwischen dem räumlichen Anwendungsbereich eines Menschenrechtsschutzvertrags und der Enge der darin enthaltenen Vorbehaltsbestimmungen Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 735. 67 Marks, in: Gardner, Human Rights as General Norms, S. 62; s. u. Kapitel 4, B. III. 5. b); Kapitel 4, C. II. 2. 68 So lehnten es Großbritannien, Frankreich und die USA beispielsweise vehement ab, das HRC als einen mit Entscheidungsgewalt bzgl. der Zulässigkeit und der Rechtswirkung von Vorbehalten zum CCPR ausgestatteten internationalen Spruchkörper anzuerkennen; Erklärungen dieser Staaten abgedruckt bei Gardner, Human Rights as General Norms, S. 194, 199 f., 206 f.

11 Behnsen

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kerrechts dar.70 Da er wie das Vorbehaltsrecht seine Wirkung bei der Anwendung völkerrechtlicher Verträge entfaltet, muss auch er auf seine Tauglichkeit für einen Lösungsansatz für das Problem der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen untersucht werden. Nach seinem Inhalt müssen die Parteien eines völkerrechtlichen Vertrags ihre vertraglichen Pflichten nach Treu und Glauben erfüllen. Angewandt auf die Vorbehaltsproblematik könnte dies bedeuten, dass das Anbringen eines Vorbehalts nicht gegen Treu und Glauben bei Vertragserfüllung verstoßen darf. Würde ein Staat durch einen Vorbehalt gegen Treu und Glauben eines Vertrags verstoßen, wäre dies mit einer teilweisen Nichterfüllung der vertraglichen Pflichten oder sogar einer Rechtsverletzung gleichzusetzen. 71 Aus diesem Grunde wäre der Vorbehalt unzulässig.72 Ein solcher Ansatz ist jedoch bei der Suche nach einer Lösung für die Probleme, die im Zusammenhang mit Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen entstehen, unbrauchbar. Der Umfang vertraglicher Verpflichtungen und damit die Bindungswirkung eines Vertrags werden durch einen Vorbehalt reduziert, bevor der Vertrag für den Vorbehaltsstaat völkerrechtlich bindend wird. Die Bindungswirkung erstreckt sich von Beginn an nur auf eine reduzierte Menge an Pflichten. Dies ergibt sich daraus, dass die Erklärung eines Vorbehalts immer nur solange erfolgen darf, wie der Vertrag noch keine Bindungswirkung für den Staat erlangt hat.73 Der Grundsatz „Pacta sunt servanda.“ kommt erst zum Einsatz, nachdem diese Pflichtenreduzierung stattgefunden hat. Er gilt nur für einen für die Vertragsparteien in Kraft befindlichen Vertrag.74 Nur soweit die Bindungswirkung an den Vertrag nicht von dem Vorbehalt betroffen ist, muss der Vorbehaltsstaat seine dann reduzierten Verpflichtungen nach Treu und Glauben erfüllen. „Pacta sunt servanda.“ greift mithin zu spät ein, um noch auf die Vorbehaltsproblematik einwirken zu können.75 Eine Ausdehnung der zeitlichen Anwendbarkeit dieser Maxime auf die Zeit, in der Vorbehalte durch einen Staat angebracht werden können, kann auch nicht über die Verpflichtung erreicht werden, dass Staaten, die einen Vertrag unterzeichnet Art. 26 WVK. IGH, Nuclear Tests Case (Australia v. France), 20 Dezember 1974, ICJ Reports 1974, S. 268; Oellers-Frahm, EuGRZ 26 (1999), S. 443; Shaw, S. 97, Brownlie, S. 591 f.; Verdross / Simma, §§ 578, 614; Sinclair, S. 83 f.; Jennings / Watts, Bd. I, § 584; Udombana, Stanford JIL 40 (2004), S. 127; Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 648 f.; Klein, in: Byers / Nolte, S. 378. 71 Vgl. Oellers-Frahm, EuGRZ 26 (1999), S. 449. 72 Eine Verbindung zwischen dem Problem der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen und der Maxime „Pacta sunt servanda“ sieht Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 648 f. 73 Vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK. 74 Art. 26 WVK; vgl. Bauer, Pacta sunt servanda, S. 15 f.; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., 3. Kapitel, § 15, Rn. 103; Pityana, SAYIL 28 (2003), S. 116. 75 Vgl. Herdegen, VölkerRt., § 15, Rn. 25, der die Ansicht als problematisch bezeichnet, in der Reduzierung vertraglicher Verpflichtungen eine Vertragsverletzung zu erblicken. 69 70

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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haben, dessen Ziel und Zweck vor seinem Inkrafttreten nicht vereiteln dürfen.76 Die WVK erlaubt grundsätzlich das Anbringen von Vorbehalten. Insofern kann nicht jedes Anbringen eines Vorbehalts generell als Verstoß gegen Treu und Glauben gewertet werden. Die Bezugnahme auf Ziel und Zweck eines Vertrags in Art. 18 WVK würde daneben bedeuten, dass wiederum der Ziel-und-Zweck-Test bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Vorbehalts angewandt werden müsste, wenn man eine Lösung zur Vorbehaltsproblematik über den Grundsatz „Pacta sunt servanda.“ kombiniert mit dem Rechtsgedanken aus Art. 18 WVK suchte. Unter anderem die mit dem Ziel-und-Zweck-Test verbundenen Probleme führen aber dazu, dass das Vorbehaltsrecht der WVK auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen nicht anwendbar ist.77 Selbst wenn es mithin gelänge, eine Ausdehnung der zeitlichen Anwendbarkeit des Satzes „Pacta sunt servanda.“ dogmatisch zu begründen, dürfte es sich in der Praxis als außerordentlich schwierig erweisen, festzustellen, wann das Anbringen eines Vorbehalts gegen Treu und Glauben bei der Vertragserfüllung und damit gegen den Grundsatz der Vertragstreue verstößt. Sofern man das Anbringen jedes Vorbehalts als Verstoß hiergegen klassifiziert, gelangt man zwangsläufig zu der Ansicht, dass Vorbehalte generell verboten sind. Die Nachteile eines solchen Ansatzes sind bereits festgestellt worden.78 Sofern man in jedem Einzelfall festzustellen versucht, ob das Anbringen eines Vorbehalts gegen den Grundsatz der Vertragstreue verstößt, gelangt man zu einer Neuauflage des Ziel-und-Zweck-Tests.79 Der Anwendungsbereich der Begriffe „Treu und Glauben“ lässt sich in etwa so genau bestimmen wie der der Begriffe „Ziel und Zweck“. Auf die damit verbundenen Nachteile muss nicht mehr besonders hingewiesen werden. Eine Lösung über den Grundsatz „Pacta sunt servanda.“ wäre daher nur die neue Verpackung des alten Rechts. Die Probleme bei der Bestimmung der Zulässigkeit eines Vorbehalts blieben dieselben. Zur Frage der Rechtswirkung der Vorbehalte, insbesondere zu Menschenrechtsschutzverträgen, schweigt auch dieser Ansatz. Zusammenfassend überzeugt der Vorschlag, den Grundsatz der Vertragstreue zur Lösung der Probleme im Recht der Vorbehalte zu nutzen, insgesamt nicht. Er wirft alte Probleme lediglich neu auf und bietet darüber hinaus keinerlei Neuigkeiten. Er soll in dieser Arbeit daher nicht weiter verfolgt werden. 2. Anwendung der Regeln der WVK unter Außerachtlassung von Reziprozität Einige Autoren erkennen ausdrücklich an, dass die Vorbehaltsregeln der WVK auf vertragliche Pflichten, die keinen reziproken Charakter aufweisen, nicht anwend76 77 78 79

11*

Art. 18 WVK. s. o. Kapitel 3, C. III. 1. b). s. o. Kapitel 4, B. I. 1. Dies dann sogar unabhängig vom Wortlaut des Art. 18 WVK.

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

bar sind, und präsentieren dies als Lösung für das Problem, dass die WVK-Regeln auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen nicht sinnvoll angewandt werden können. So macht Alain Pellet als Berichterstatter der ILC ausdrücklich deutlich, dass auf Vorbehalte zu nicht reziproken Verpflichtungen die WVK anwendbar sei. Dabei dürfe lediglich auf die Normen der WVK keine Rücksicht genommen werden, die Reziprozität zu ihrer Anwendbarkeit voraussetzen.80 Dieser Lösungsvorschlag ignoriert, dass gerade die Regeln der WVK, nach denen über das Schicksal eines Vorbehalts entschieden werden soll, Reziprozität der vertraglichen Verpflichtungen voraussetzen, um sinnvoll anwendbar zu sein. Insbesondere die Regeln über Annahme und Einspruch gehen davon aus, dass im Falle eines Vorbehalts zwischen den Vertragsparteien ein gerechter Ausgleich dadurch geschaffen wird, dass Einspruch und Annahme reziproke Wirkung entfalten.81 Nach dem System des Vorbehaltsrechts der WVK entscheiden diese beiden Instrumente über die Wirkung eines Vorbehalts. Damit gehen die Vertreter dieser Ansicht davon aus, dass die über die Rechtswirkung eines Vorbehalts entscheidenden Normen der WVK auf Menschenrechtsschutzverträge nicht anwendbar sein sollen. Dies stellt allerdings lediglich die Anerkennung beziehungsweise die Beschreibung der bestehenden Situation dar.82 Eine Lösung des Vorbehaltsproblems liefert dieser Ansatz dagegen nicht.83 Insbesondere wird keine Antwort auf die Frage gegeben, wie die Rechtswirkung eines Vorbehalts bestimmt werden soll, wenn Annahme und Einspruch nicht anwendbar sind. Da die Anwendung des Art. 19 WVK keine Reziprozität der vertraglichen Verpflichtungen, auf die der Vorbehalt sich bezieht, voraussetzt, könnte man annehmen, dass die Vertreter dieser Ansicht eine Rückkehr zum Ziel-und-Zweck-Test favorisieren und diesen als allein entscheidend für das rechtliche Schicksal eines Vorbehalts ansehen.84 Dieses 80 Pellet, UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 42 ff., Ziff. 155 ff., der explizit davon ausgeht, dass in einem solchen Fall Art. 21 Abs. 3 WVK nicht zur Anwendung kommen darf und lediglich Art. 19 sowie Art. 21 Abs. 4 lit. b WVK anwendbar sein sollen; vgl. Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 137; auch der Kommentar zum Harvard Research-Entwurf, AJIL 29 (1935), Suppl., S. 868 f. erkannte die Existenz von Vorbehalten an, die nicht reziprok angewandt werden können, und folgerte daraus, dass in einem solchen Fall auch das Reziprozität voraussetzende Vorbehaltsrecht nicht angewandt werden solle; für eine teilweise reziproke Anwendbarkeit menschenrechtlicher Primärpflichten dagegen Horn, S. 158. 81 Vgl. zu dieser Wirkung bei bilateralisierbaren Pflichten Kapitel 3, C. I. 82 Vgl. Kühner, S. 201 ff.; Simma, Reziprozitätselement, S. 62 f.; Imbert, S. 258; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 753 ff.; Fitzmaurice, BYIL 33 (1957), S. 278; ähnlich Rousseau, Bd. 1, S. 298 f. 83 Kühner, S. 202, und Simma, Reziprozitätselement, S. 63 f., machen lediglich einen Vorschlag bzgl. plurilateraler Verträge, der sich jedoch zutreffenderweise auf einen Verweis auf die in einem solchen Fall anwendbare Spezialnorm in Art. 20 Abs. 2 WVK beschränken kann. Eine Lösung für das Problem der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen liegt darin nicht, da diese keinen plurilateralen Charakter haben, s. o. Kapitel 3, B. II. 84 Pellet, UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 43, Ziff. 158, der daneben lediglich noch einen Einspruch mit Ausschlusswirkung sowie eine Beeinflussung der Vertragsinterpretation durch einen Einspruch für möglich hält.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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birgt jedoch zum einen das Problem, dass auch der Ziel-und-Zweck-Test auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen oftmals nicht angewandt werden kann, da sich Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags nicht sicher festlegen lassen.85 Selbst wenn ein Vorbehalt als unvereinbar mit Ziel und Zweck sicher identifiziert werden könnte, bliebe darüber hinaus die Frage, welche Folge dieses haben beziehungsweise ob sich dies überhaupt auf die Wirksamkeit des Vorbehalts auswirken soll. Eine Lösung für dieses Problem könnte nur darin liegen, dass man den Streit zwischen permissibility und opposability eines unzulässigen Vorbehalts zwingend zu Gunsten ersterer entscheidet und jeden unzulässigen Vorbehalt automatisch als nichtig ansieht. Eine solche Konsequenz ist von den Anhängern dieser Methode aber bislang nicht gezogen worden. Für die Vereinbarkeit der Geltung der permissibility mit staatlicher Souveränität wurden noch keine überzeugenden Argumente geliefert.86 Da die Regeln über Annahme und Einspruch jedoch Reziprozität der vertraglichen Verpflichtungen voraussetzen und nach diesem Ansatz daher auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen nicht anwendbar sind, müssten weiterhin die Staaten auf deren Einsatz zwingend verzichten. Dass eine Bereitschaft hierzu nicht vorhanden ist, lässt sich an den Reaktionen einiger wichtiger Staaten auf General Comment No. 24 erkennen. Diese machen deutlich, dass die Staaten wenig gewillt sind, ihre Entscheidungsmacht im Bereich der Vorbehalte aufzugeben.87 Schließlich präsentieren die Anhänger dieses Ansatzes keine Instanz, die verbindlich über die Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags entscheiden können soll. Deren Existenz wäre aber unverzichtbar, wenn den Staaten die Entscheidungsmacht hierüber genommen würde. Der Ansatz, nur die Regeln des Vorbehaltsrechts der WVK, die keine Reziprozität der betroffenen vertraglichen Verpflichtungen voraussetzen, auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen anzuwenden, überzeugt daher nicht. Er bleibt letztendlich bei einer Situationsbeschreibung stehen und bietet keine Lösung für die mit ihm verbundenen strukturellen Probleme. Daneben ist Akzeptanz für diesen Ansatz, wenn er konsequent angewandt werden würde, in der Staatenwelt ist nicht zu erwarten.

3. Rückkehr zum Ziel-und-Zweck-Test Einer anderen Ansicht nach muss der Charakter des Menschenrechtsschutzvertrags als Teil einer objektiven Ordnung bei der Lösung des Vorbehaltsproblems stärker beachtet werden.88 Da Menschenrechtsschutzverträge Teil einer objektiven s. o. Kapitel 3, C. III. 1. b). Vgl. zu diesen Problemen Kapitel 2, E. III. 87 Entsprechende Reaktionen abgedruckt bei Gardner, Human Rights as General Norms, S. 194, 199 f., 206 f. 85 86

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Ordnung sind, müsse auch über die rechtliche Behandlung von Vorbehalten nach objektiven Kriterien entschieden werden.89 Diese Methode bedeutet eine Rückkehr zum Ziel-und-Zweck-Test.90 Dessen Ergebnis soll sich nach objektiven Kriterien bemessen.91 Die Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts im Wege des Einsatzes von Annahme und Einspruch durch andere Staaten müssen die Anhänger dieser Methode konsequenterweise ablehnen, da diese allein vom Willen der Staaten, mithin von subjektiven Kriterien abhängig ist. Bei Anwendung dieser Methode würden jedoch ähnliche Probleme entstehen, wie sie sich hinsichtlich der Anwendung der WVK unter Außerachtlassung ihrer auf Reziprozität beruhenden Normen gezeigt haben. Zunächst ist es nicht möglich, Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags sicher zu bestimmen. Weiterhin ist nicht geklärt, welche Instanz die Unvereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck des Vertrags verbindlich feststellen können soll. Schließlich müssten auch die Anhänger dieser Lösung zwingend von der Geltung der permissibility bezüglich unzulässiger Vorbehalte ausgehen. Da sie die Entscheidung über die Rechtswirkung des Vorbehalts aus der Hand der Staaten nehmen wollen, müsste der unzulässige Vorbehalt zwingend nichtig sein, um dem Ziel-und-Zweck-Test zur Geltung zu verhelfen. Eine solche Konsequenz ist bislang nicht gezogen worden. Weiterhin gelten dieselben Argumente hinsichtlich der Akzeptanzchancen einer solchen Methode, wie sie bezüglich des Ansatzes gefunden wurden, wonach die WVK auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen nur insoweit angewandt werden soll, als ihre Normen keine Reziprozität voraussetzen. Auch hier müssten Staaten auf die Handlungsmöglichkeiten verzichten, die sie mit Einspruch und Annahme bislang haben. Daneben müsste ein Organ geschaffen werden oder existieren, das verbindlich über die Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck entscheiden könnte. Die Reaktionen auf General Comment No. 24 haben gezeigt, dass die Schaffung beziehungsweise Anerkennung eines solchen nicht zu erwarten ist. Insofern würde auch ein solcher Ansatz zu geringe Chancen haben, in der Staatenwelt als Lösung für das Vorbehaltsproblem akzeptiert zu werden.

88 Zur Einordnung von Menschenrechtsschutzverträgen als Element einer objektiven Ordnung IACHR, The Effect of Reservations on the Entry into Force of the American Convention (Advisory Opinion), 24. September 1982, ILM 22 (1983), S. 47; Kälin, BDGV 33 (1994), S. 9 ff.; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 754; vgl. auch IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 23. 89 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 755. 90 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 755, zieht diese Konsequenz ausdrücklich, sofern keine vertraglichen Sonderbestimmungen existieren, was aber in den wenigsten Fällen der Fall ist. 91 Andere objektive Kriterien zur Überprüfung der Zulässigkeit eines Vorbehalts existieren nicht, vgl. Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 755.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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III. Mögliche Reformansätze außerhalb des geltenden vertraglichen Sonderrechts und des allgemeinen Völkerrechts 1. Einführung reziproker Elemente in Menschenrechtsschutzverträge Ein quasi Spiegelbild zu dem Ansatz, das Vorbehaltsproblem zu Menschenrechtsschutzverträgen zu lösen, indem man die WVK auf solche nur insoweit anwendet, als dies keine Reziprozität der betreffenden Verpflichtungen voraussetzt, bietet der Lösungsvorschlag, reziproke Elemente in Menschenrechtsschutzverträge aufzunehmen beziehungsweise hineinzuinterpretieren.92 Auf diese Weise könnten die Regeln der WVK wieder voll Anwendung finden, so dass für eine Modifikation des eigentlichen Vorbehaltsrechts kein Bedarf mehr bestünde. Die Struktur menschenrechtlicher Primärpflichten kann jedoch nicht in dieser Weise modifiziert werden. In einem solchen Fall müsste man sich von der Vorstellung verabschieden, dass Menschenrechtsschutzverträge Individualrechte verleihen. Da nach dem Vorbehaltsrecht der WVK über die Rechtswirksamkeit eines Vorbehalts auf zwischenstaatlicher Ebene entschieden werden soll, müssten Menschenrechte auf dieser Ebene Wirkung entfalten, damit das Vorbehaltsrecht wirksam auf diese Verpflichtungen einwirken könnte. Bereits eine solche Verlagerung ist unmöglich. Die Anwendung eines Menschenrechts zwischen zwei Staaten ist strukturell und inhaltlich nicht vorstellbar. So ist undenkbar, dass ein Staat gegenüber einem anderen Staat in reziproker Weise verpflichtet ist, dessen Recht auf freie Meinungsäußerung, auf Religionsfreiheit, auf Berufsfreiheit oder darauf, nicht wegen Schulden der Freiheit verlustig zu gehen, anzuerkennen.93 Die Vorbehaltsregeln der WVK können weiterhin nur dann sinnvoll angewandt werden, wenn sich die Pflichten, auf die der Vorbehalt sich bezieht, bilateralisiert werden können. Eine solche Bilateralisierung kann mit menschenrechtlichen Primärverpflichtungen aus denselben Gründen nicht vorgenommen werden. Selbst im sekundärrechtlichen Bereich ist dies unmöglich, da die Pflicht eines Staates beispielsweise zur Abgabe eines Staatenberichts, nicht im Verhältnis zwischen zwei Staaten, sondern im Verhältnis zwischen einem Staat und der Gemeinschaft der übrigen Vertragsparteien besteht.94 Ein Staat kann nicht gleichzeitig gegenüber einer Vertragspartei zur Abgabe eines solchen Berichts nicht verpflichtet sein, zur Abgabe desselben Berichts gegenüber allen anderen Vertragsparteien aber schon. Die Einführung reziproker Elemente in Menschenrechtsschutzverträge ist mithin unmöglich. Das Vorbehaltsproblem kann auf diesem Weg nicht gelöst werden. Es bleibt weiterhin zu überlegen, wie das Vorbehaltsrecht an die Struktur des MenParisi / Ševcenko, Berkeley JIL 21 (2003), S. 24; Kuhner, Duke JCIL 13 (2003), S. 434. Zur Tatsache, dass im Menschenrechtsschutzvertrag keine horizontalen Primärpflichten bestehen s. o. Kapitel 3, B. IV. 5. c). 94 s. o. Kapitel 3, B. IV. 5. b) cc) sowie Kapitel 3, C. III 1. a). 92 93

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schenrechtsschutzvertrags angepasst werden kann und nicht die Struktur des Menschenrechtsschutzvertrags an das geltende Vorbehaltsrecht.

2. Der Non-Benefitting-Ansatz als beginnende Staatenpraxis Neben diesen eher theoretisch geprägten Vorschlägen in der Literatur findet sich ein Ansatz, der bislang wenig theoretisch ergründet ist, dafür aber seit etwa zehn Jahren von einigen Staaten verfolgt wird, um das Problem der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen zumindest praktisch handhabbar zu machen. Sie nutzen dabei das Instrument des Einspruchs und verfolgen das Ziel, diesem eine neue weitergehende Wirkung zu geben, als es die Regeln der WVK vorsehen. Auf diese Weise soll der Einspruch zu einem wirkungsvolleren Instrument im Umgang mit Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen gemacht werden.

a) Begriffsbestimmung Die Erweiterung der Wirkung des Einspruchs soll sich nach dem Willen dieser Staaten in der Weise vollziehen, dass ein Vorbehalt im Falle eines solchen Einspruchs seine Rechtswirkung verliert, der Vorbehaltsstaat also trotz des Vorbehalts voll an die im Vertrag definierten Pflichten gebunden wird.95 Die einsprechenden Staaten behaupten dabei zunächst, dass der Vorbehalt mit Ziel und Zweck des Vertrags unvereinbar sei, um anschließend ihren Einspruch mit der beschriebenen angestrebten Wirkung zu erklären. Die dabei gebrauchten Formulierungen variieren.96 In den letzten Jahren bildete sich jedoch insbesondere unter den nordischen Staaten die Übung heraus, Worte wie „without (the reserving state) benefitting from the reservation“ zu verwenden. Aus diesem Grunde soll dieser Ansatz im Folgenden als „Non-Benefitting-Ansatz“ bezeichnet werden.97

b) Vergleich mit den Regeln der WVK Die Akzeptanzchancen eines Reformvorschlags dürften sich steigern, je stärker er bereits geltendem Recht beziehungsweise bereits geübter Staatenpraxis entspricht. Je weniger sich Staaten bei einer Einführung einer Reform umgewöhnen müssen, desto eher sollten sie bereit sein, Neuerungen im Bereich des Vorbehaltsrechts zu akzeptieren. Insofern muss auch der Non-Benefitting-Ansatz daraufhin Eine ausführliche Darstellung dieser Staatenpraxis findet sich unter Kapitel 2, F. II. Auch insofern sei auf die ausführliche Darstellung unter Kapitel 2, F. II. verwiesen. 97 Pellet verwendet hierfür den Begriff „super-maximaler“ Effekt, vgl. UN Doc. A / CN.4 / 535 / Add. 1, S. 12 f., Ziff. 96; Goodman spricht von „severability“, AJIL 96 (2002), S. 531. 95 96

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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überprüft werden, inwieweit sich in ihm Elemente bestehenden Rechts wiederfinden beziehungsweise wo und wie er sich von diesem unterscheidet. Bemerkenswert ist, dass beim Non-Benefitting-Ansatz zunächst lediglich ein Einspruch gegen einen Vorbehalt erhoben wird. Dieses ist, gemessen an den Regeln der WVK, nicht neu, sehen doch Art. 20 und 21 WVK dieses Instrument ausdrücklich vor.98 Das Procedere bei der Behandlung eines Vorbehalts unterscheidet sich nach dieser Methode also nicht vom bisherigen Vorgehen. Ein Unterschied zu den bisher gültigen Regeln besteht jedoch bezüglich des rechtlichen Effekts eines Einspruchs. Nach der WVK hat ein solcher lediglich die Wirkung, die Bestimmungen, auf die der Vorbehalt sich bezieht, im jeweils bilateralen Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat nicht zur Anwendung zu bringen.99 Der Vorbehaltsstaat wird gegenüber dem einsprechenden Staat von den Verpflichtungen frei, die er nicht eingehen will. Im Gegenzug gilt dies auch für den einsprechenden Staat gegenüber dem Vorbehaltsstaat. Kurz gesagt: Der Vorbehaltsstaat bekommt seinen Willen. Dieser Ausklammerungseffekt soll nach dem Willen des einsprechenden Staats beim Non-Benefitting-Ansatz nicht eintreten. Er versucht zu erreichen, dass der Vorbehaltsstaat in vollem Umfang an die vertraglichen Verpflichtungen gebunden wird. Der Einspruch soll dem Vorbehalt seine Rechtswirkung nehmen, ihn zu einem rechtlichen Nullum machen.100 Ob dabei die Bilateralisierung der aus einem Menschenrechtsschutzvertrag erwachsenden Verpflichtungen wie unter der Geltung der WVK beibehalten werden soll, wird aus den für diese Einsprüche gewählten Formulierungen nicht vollständig deutlich. Zu Beginn des Einsatzes der einschlägigen Praxis ließen die Staaten offen, ob sie die volle Bindung des Vorbehaltsstaats an die vertraglichen Verpflichtungen nur bilateral oder insgesamt bezwecken wollten. Die Non-BenefittingFormulierung wurde noch nicht eingesetzt, sondern man beschränkte sich auf die Feststellung, dass der Vorbehalt keine Rechtswirkung entfalte. Dabei kamen Ausdrücke wie „is devoid of any legal effect“ oder „is null and void“ zum Einsatz. Diese lassen weder sicher auf den Willen der Staaten schließen, die Bilateralisierung aufrechtzuerhalten, noch auf das Gegenteil. Da auf das bilaterale Verhältnis jedoch kein Bezug genommen wird, ist zumindest der Schluss möglich, dass eine Unwirksamkeit des Vorbehalts insgesamt angestrebt wurde. Zumindest in diese Richtung scheinen auch die zitierten Formulierungen zu tendieren. „Null und nichtig“ kann eine Sache faktisch nur insgesamt sein. Entweder sie existiert oder nicht. Eine Nichtigkeit, die sich danach richtet, in welchem Verhältnis man sie betrachtet, ist dagegen schwerer vorstellbar. Allerdings gingen wiederum die nordischen Staaten ab der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts dazu über, in Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 201. Art. 21 Abs. 3 WVK. 100 Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 666; vgl. Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 184. 98 99

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

Einsprüchen, die dem Non-Benefitting-Ansatz zuzuordnen sind, auf das bilaterale Verhältnis zum Vorbehaltsstaat Bezug zu nehmen. Ein Beispiel hierfür liefert der Einspruch Dänemarks gegen einen Vorbehalt Guatemalas zur WVK. Hierin erklärte Dänemark: „This objection does not preclude the enter into force of (the said Convention) between Guatemala and Denmark and will thus enter into force between Guatemala and Denmark without Guatemala benefitting from these reservations.“101 Eine solche Formulierung legt den Schluss nahe, dass der einsprechende Staat von der Fortgeltung der Bilateralisierung ausgeht. Bei der WVK handelt es sich zwar um keinen Menschenrechtsschutzvertrag, eine multilateral begründete vertikal wirkende Pflichtenstruktur weist sie ebenfalls nicht auf. Jedoch haben andere nordische Staaten auch in ihren Einsprüchen zu Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen auf das bilaterale Verhältnis zwischen sich und dem Vorbehaltsstaat hingewiesen. So antwortete Finnland auf den Vorbehalt Omans zur Kinderrechtskonvention mit den Worten: „This objection does not preclude the entry into force of the Convention between Oman and Finland. The Convention will thus become operative between the two states without Oman benefiting from this reservation.“102 Es scheint sich daher eine Tendenz bei einem Teil der Staaten, die den Non-Benefitting-Ansatz verfolgen, zu entwickeln, die Bilateralisierung der Pflichtenstruktur bei Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen auch nach diesem Ansatz aufrecht zu erhalten. Allerdings bedeutet dies noch nicht, dass Einsprüche nach dem Non-Benefitting-Ansatz grundsätzlich diese Wirkung haben müssen, angesichts der Tatsache, dass andere Staaten, die diesen Ansatz ebenfalls verfolgen, offene Formulierungen bevorzugt haben, ohne auf das bilaterale Verhältnis zwischen sich und dem Vorbehaltsstaat einzugehen. So handelten insbesondere Italien, Mexiko, Österreich und Portugal. Inwieweit insofern Unterschiede oder Gemeinsamkeiten mit den Regeln der WVK bestehen, kann nach dem derzeitigen Stand der Staatenpraxis daher nicht vollständig geklärt werden. Der Non-Benefitting-Ansatz hat vor allem Auswirkungen auf die Rechtswirkung eines Vorbehalts. Seine Auswirkungen auf die Zulässigkeit sind dagegen letztlich minimal. Er stellt dort mehr klar, als dass er bereits existierende rechtliche Wirkungen ändert. Nach der WVK soll sich die rechtliche Beurteilung eines Vorbehalts in zwei Schritten vollziehen, Zulässigkeit und Rechtswirkung. In ihren Einspruchserklärungen nehmen die Staaten, die den Non-Benefitting-Ansatz verfolgen, meist Bezug auf Ziel und Zweck des betreffenden Menschenrechtsschutzvertrags und begründen den Einspruch damit, dass der Vorbehalt hiergegen verstößt. Auf den ersten Blick scheint also auch hier kein Unterschied zu den Regeln der WVK zu bestehen. Dadurch aber, dass die Staaten ihrem Einspruch die Wirkung geben wollen, die Rechtswirkung des Vorbehalts zu beseitigen, machen sie die Zulässigkeitsprüfung überflüssig. Die Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck eines 101 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 816; siehe auch Klingenberg, Nordic JIL 68 (1999), S. 164 f. 102 Einspruch Finnlands abgedruckt bei Kaukoranta, Nordic JIL 68 (1999), S. 182; für weitere Beispiele vgl. Kapitel 2.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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Vertrags richtet sich in der Theorie zwar nach objektiven Kriterien. Praktisch sind es jedoch die Staaten, deren subjektives Empfinden ihre Entscheidung hervorruft, Einspruch gegen einen Vorbehalt zu erheben und damit über die Rechtswirkung des Vorbehalts zu entscheiden.103 So verhält es sich auch beim Non-BenefittingAnsatz. Die einsprechenden Staaten begründen ihren Einspruch zwar damit, der Vorbehalt verstoße gegen Ziel und Zweck. Diese Entscheidung überlassen sie jedoch nicht einer objektiven, unabhängigen Instanz, sondern treffen sie selbst, mithin nach rein subjektiven Kriterien. Konsequenterweise wäre es daher möglich, auf den Ziel-und-Zweck-Test vollständig zu verzichten. In ihrer Entscheidung über das Erheben eines Einspruchs, auch mit dem Ziel, die volle Vertragsbindung des Vorbehaltsstaats zu bewirken, sind die Staaten frei. Effektiv kann sie von der Erhebung eines solchen Einspruchs niemand abhalten. Wenn sie sich dabei auf Ziel und Zweck des jeweiligen Vertrags berufen, so hat dies keine rechtliche Wirkung, sondern liefert nur eine mögliche Begründung für das Handeln der Staaten. Konstitutiv für das Erheben eines Einspruchs ist der Verstoß gegen Ziel und Zweck praktisch nicht. Insofern weicht der Non-Benefitting-Ansatz theoretisch von der WVK ab, indem er effektiv auf die Prüfung der Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit Ziel und Zweck eines Vertrags verzichtet, auch wenn hierauf noch Bezug genommen wird. Diese Abweichung hat praktisch jedoch keine Auswirkungen. Auch nach den bisherigen Regeln ist diese Prüfung ohne Rechtswirkung.104 Die Staaten entscheiden bereits jetzt allein über die Rechtswirkung eines Vorbehalts. Insgesamt bleibt damit festzustellen, dass der Non-Benefitting-Ansatz keine breiten Unterschiede im Vergleich zu der Methode des derzeit geltenden Rechts aufweist. Es besteht jedoch ein wichtiger in die Tiefe gehender Unterschied: Der Einspruch erhält eine Wirkung, die in der WVK nicht vorgesehen ist. Er führt die volle Vertragsbindung des Vorbehaltsstaats herbei. Hiermit entfernt sich diese Praxis von den bislang geltenden Regeln.105 c) Vergleich mit der Struktur von Menschenrechtsschutzverträgen Die Primärpflichten eines Menschenrechtsschutzvertrags weisen eine mulilateral begründete vertikal wirkende Struktur auf. Kennzeichen dieser Struktur ist, dass die vertraglichen Pflichten nicht auf der zwischenstaatlichen Ebene, sondern auf der Staat-Individuum-Ebene wirken. Bei einer Anwendung des bisher geltenden Rechts bedeutet dies, dass die Ebene, auf der ein Einspruch gegen einen Vorbehalt erklärt wird, nicht die ist, auf der die vertraglichen Primärpflichten bestehen. Zur Erinnerung sei hier noch einmal auf die Mittel graphischer Darstellung zurückgegriffen.

103 104 105

Vgl. Kapitel 3, C. III. 1. c). s. o. Kapitel 2, E. III. Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 187.

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

a

bÙcÙd

OaiaG RiaaG

Pflichtenwirkungsebene

Pflichtenbegründungsebene lediglich politische Beziehung

ia Abbildung 12: Darstellung der primärrechtlichen Pflichtenstruktur in einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikaler Pflichtenstruktur am Beispiel eines zwischen den Staaten a, b, c und d abgeschlossenen Menschenrechtsschutzvertrags nach Erklärung eines Vorbehalts des Staates a zu einer primärrechtlichen Bestimmung und Annahme oder Einspruch durch eine der übrigen Vertragsparteien

Im hier dargestellten Beispiel wird Staat a durch seinen Vorbehalt gegenüber den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen von der Primärverpflichtung frei, auf die der Vorbehalt sich bezieht. Die Individuen verlieren das entsprechende Recht, so dass der Satz RiaaG $ OaiaG nicht mehr gilt. Hieran ändert auch der Einspruch einer der übrigen Vertragsparteien nichts, da sich dieser auf die zwischenstaatliche Ebene bezieht, auf der der Vorbehalt keine Wirkung entfaltet. Wenn nach dem Non-Benefitting-Ansatz ein Einspruch die Wirkung haben soll, die Rechtswirkung eines Vorbehalts aufzuheben, ergibt sich ein anderes Bild. Dabei muss unterschieden werden, ob die Bilateralisierung der Vertragspflichten im Hinblick auf Vorbehalte auch bei dieser Methode aufrechterhalten werden soll oder nicht.106 Die Graphik (Abb. 13) zeigt, dass nach Erheben eines Einspruchs durch einen anderen Vertragsstaat mit Non-Benefitting-Wirkung, die insgesamt und nicht nur bilateral bestehen soll, die Pflichtenstruktur des Vertrags der vor Erklärung des Vorbehalts bestanden habenden entspricht. Der Vorbehalt hat seine Rechtswirkung verloren. Der Satz RiaaG $ OaiaG gilt auf der Staat-Individuum-Ebene wieder voll. Der Vorbehaltsstaat bekommt also nicht mehr in jedem Fall seinen Willen.107 Auf der zwischenstaatlichen Ebene ist keine Veränderung eingetreten, da hier 106 107

Zu dieser Frage Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 669. Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 187.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

a

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bÙcÙd

OaiaG RiaaG

Pflichtenwirkungsebene

Pflichtenbegründungsebene lediglich politische Beziehung

ia Abbildung 13: Darstellung der primärrechtlichen Pflichtenstruktur in einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikaler Pflichtenstruktur am Beispiel eines zwischen den Staaten a, b, c und d abgeschlossenen Menschenrechtsschutzvertrags nach Erklärung eines Vorbehalts des Staates a zu einer primärrechtlichen Bestimmung und Einspruch durch eine der übrigen Vertragsparteien mit der Wirkung, die Rechtswirksamkeit des Vorbehalts insgesamt und nicht nur im bilateralen Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat zu beseitigen

weder vor noch nach Anbringen des Vorbehalts rechtliche Verpflichtungen bestanden, die modifiziert werden hätten können. Eine Darstellung der Primärpflichtenstruktur eines Menschenrechtsschutzvertrags nach einem Vorbehalt und einem dagegen erklärten Einspruch mit Non-Benefitting-Wirkung sieht jedoch anders aus, wenn diese Wirkung nicht insgesamt, sondern lediglich bilateral eintreten soll. Der Übersicht halber kann diese Darstellung nicht in einer Graphik erfolgen. Erforderlich sind zwei. Zunächst folgt eine Darstellung der Pflichtenstruktur im Verhältnis zwischen dem Vorbehaltsstaat a und Staat b, der gegen den Vorbehalt einen Einspruch erhoben hat, mit der Maßgabe, dass der Vertrag zwischen a und b in Kraft treten soll, ohne dass a von seinem Vorbehalt profitieren darf, dieser also keine Rechtswirkung haben soll. Die Graphik (Abb. 14) veranschaulicht, dass sich zwischen Staat a und Staat b durch den Einspruch nichts geändert hat. Dies hat seinen Grund wiederum darin, dass auf zwischenstaatlicher Ebene im Vertrag mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur keine rechtlichen Verpflichtungen entstehen. Die Graphik veranschaulicht aber auch die nach dem Non-Benefitting-Ansatz gewollte Wirkung eines Einspruchs. Die Verpflichtung, die für den Vorbehaltsstaat auf der Staat-Individuum-Ebene besteht, wird durch den Vorbehalt nicht ausgeschlossen,

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

a

b

(cÙd)

OaiaG RiaaG

Pflichtenwirkungsebene

Pflichtenbegründungsebene lediglich politische Beziehung

ia Abbildung 14: Darstellung der primärrechtlichen Pflichtenstruktur zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat in einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikaler Pflichtenstruktur am Beispiel eines zwischen den Staaten a, b, c und d abgeschlossenen Menschenrechtsschutzvertrags nach Erklärung eines Vorbehalts des Staates a zu einer primärrechtlichen Bestimmung und Einspruch durch Staat b mit der Wirkung, die Rechtswirksamkeit des Vorbehalts im bilateralen Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat zu beseitigen

sondern besteht aufgrund des Einspruchs mit Non-Benefitting-Wirkung fort. Der Satz RiaaG $ OaiaG gilt. Anders stellt sich die Pflichtenstruktur dar, wenn man in der gleichen Situation nicht das Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat betrachtet, sondern das zwischen dem Vorbehaltsstaat und den Vertragsparteien, die keinen Einspruch gegen den Vorbehalt erhoben haben (Abb. 15). Bei Beibehaltung der Bilateralisierung, wie sie die WVK auch hinsichtlich der Behandlung der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen fordert, hat auch ein Non-Benefitting-Einspruch nur Auswirkungen, solange man das Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat betrachtet. Im Verhältnis zwischen den nicht einsprechenden Vertragsparteien und dem Vorbehaltsstaat ändert sich dagegen nichts. Auf zwischenstaatlicher Ebene können mangels rechtlicher Verpflichtungen keine Pflichten reduziert werden. Auf Staat-Individuum-Ebene hat der Vorbehalt die vom Vorbehaltsstaat bezweckte Wirkung. Die Pflicht, auf die der Vorbehalt sich bezieht, wird nach dessen Maßgabe reduziert. Der Satz RiaaG $ OaiaG gilt nicht. Diese beiden Graphiken verdeutlichen, dass eine Beibehaltung des Bilateralisierungsgedankens beim Non-Benefitting-Ansatz ebenso wenig Sinn macht wie unter

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

a

(cÙd)

175

b

OaiaG RiaaG

Pflichtenwirkungsebene

Pflichtenbegründungsebene lediglich politische Beziehung

ia Abbildung 15: Darstellung der primärrechtlichen Pflichtenstruktur zwischen Vorbehaltsstaat und den Staaten, die keinen Einspruch erhoben haben, in einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikaler Pflichtenstruktur am Beispiel eines zwischen den Staaten a, b, c und d abgeschlossenen Menschenrechtsschutzvertrags nach Erklärung eines Vorbehalts des Staates a zu einer primärrechtlichen Bestimmung und Einspruch durch Staat b mit der Wirkung, die Rechtswirksamkeit des Vorbehalts im bilateralen Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat zu beseitigen

der Geltung der Regeln der WVK. Die beiden Graphiken beschreiben ein und denselben Vorgang. Sie müssen eigentlich übereinander gelegt betrachtet werden, um ein Bild der Pflichtenstruktur zu bekommen, die bestehen würde, wenn ein Staat zu einem Vorbehalt einen Einspruch nach dem Non-Benefitting-Ansatz anbringt, während andere Vertragsstaaten dies nicht tun. Es entstünde die Folge, dass im Verhältnis zum einsprechenden Staat die Pflichten des Vorbehaltsstaats auf der StaatIndividuum-Ebene wieder voll wirksam werden, im Verhältnis zu den nicht einsprechenden Staaten jedoch nicht. Dies bedeutet, dass für die der Hoheitsgewalt des Vorbehaltsstaats unterstehenden Individuen als Rechtsträger des jeweiligen Menschenrechts in einem solchen Falle gleichzeitig zwei verschiedene Rechtslagen bestünden. Gleichzeitig bestünden ihr Recht und die damit korrespondierende Pflicht des Vorbehaltsstaats und gleichzeitig bestünden sie nicht. Der Satz RiaaG $ OaiaG würde gelten und gleichzeitig nicht. Eine solche Situation würde bedeuten, dass das Recht seinen Regelungscharakter verliert, man im Falle eines Einspruchs also nicht mehr vorhersagen könnte, ob dieser Auswirkungen hat oder nicht. Eine solche Folge ist inakzeptabel. Jedes Recht muss zumindest den Anspruch erheben, inhaltlich richtig zu sein.108 Wenn wie hier für ein und dieselbe 108

Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 62, 202.

176

Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

Situation ein Rechtssatz aber zwei konträre Rechtsfolgen vorsieht, ist er kein Rechtssatz. Weiterhin würde sich bei einer Beibehaltung der Bilateralisierung der Vertragspflichten das Ergebnis der Frage, ob auf der Staat-Individuum-Ebene Rechte des Individuums und korrespondierende Pflichten des Staates bestehen, auf der jeweiligen zwischenstaatlichen Ebene entscheiden, und nicht auf der Ebene, die vom Vorbehalt faktisch betroffen ist. Dieses entspricht logisch nicht der Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags. Damit ist bewiesen, dass der Non-Benefitting-Ansatz nur sinnvoll angewandt werden kann, wenn ein Einspruch mit dem Ziel, die Rechtswirksamkeit eines Vorbehalts aufzuheben, generelle Wirkung entfalten kann und nicht auf das bilaterale Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat beschränkt bleibt. Nur ein solches Verfahren entspricht der Struktur menschenrechtlicher Primärverpflichtungen.109 Aus diesem Grunde soll in den weiteren Ausführungen in dieser Arbeit der Non-Benefitting-Ansatz als Möglichkeit für eine Reform des Vorbehaltsrechts bezüglich Menschenrechtsschutzverträgen in der Weise behandelt werden, dass ein hiernach erhobener Einspruch im Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und der Gemeinschaft der übrigen Vertragsparteien insgesamt wirkt. Verglichen mit der Struktur dieser Primärpflichten fällt weiterhin auf, dass der so verstandene Non-Benefitting-Ansatz ihr besonders gut entspricht. Die besondere Pflichtenstruktur dieses Vertragstyps zeichnet sich dadurch aus, dass die Pflichten auf zwischenstaatlicher Ebene begründet werden, aber auf Staat-IndividuumEbene wirken. Dies hat zur Folge, dass ein Vorbehalt, der auf zwischenstaatlicher Ebene erklärt werden muss,110 auf die Staat-Individuum-Ebene durchschlägt.111 Die Regeln der WVK konnten hierauf nicht entsprechend reagieren.112 Anders verhält es sich jedoch, wenn der Non-Benefitting-Ansatz in der Weise angewandt wird, dass ein solcher Einspruch den Vorbehalt insgesamt seiner Rechtswirkung beraubt. In diesem Fall hat der auf zwischenstaatlicher Ebene zu erklärende Einspruch Auswirkungen auf die Ebene zwischen Vorbehaltsstaat und den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen. Der Einspruch schlägt also genauso wie der Vorbehalt auf die vertikale Ebene durch, auf der die rechtlichen Verpflichtungen bestehen, die vom Vorbehalt betroffen sind.113 Hierin liegt eine wichtige strukturelle Übereinstimmung mit der Struktur des Menschenrechtsschutzvertrags. Der so angewandte Non-Benefitting-Ansatz entspricht damit zumindest besser der primärrechtlichen Pflichtenstruktur des Vertrags mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur als die Vorbehaltsbestimmungen der WVK. 109 Eine solche Lösung bevorzugt Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 669, auch wenn er dennoch davon ausgeht, dass der Weg der Bilateralisierung unglücklicherweise nach wie vor beschritten werden muss. 110 Vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK. 111 Vgl. Abb. 9. 112 s. o. Kapitel 3, C. III. 1 a). 113 Vgl. Abb. 13.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

177

d) Chancen auf Akzeptanz Die festgestellten Übereinstimmungen und Differenzen, die zwischen dem NonBenefitting-Ansatz und dem derzeit geltenden Vorbehaltsrecht sowie der Struktur der Menschenrechtsschutzverträge bestehen, lassen bereits auf Tendenzen im Hinblick auf die Akzeptanzchancen dieser Methode schließen. Jetzt muss festgestellt werden, wie stark genau sich diese Übereinstimmungen und Differenzen auswirken. aa) Rechtliche und strukturelle Übereinstimmungen Je stärker sich der Non-Benefitting-Ansatz am derzeit geltenden Recht und der Struktur menschenrechtlicher Primärverpflichtungen orientiert, desto größer dürften seine Akzeptanzchancen sein. Ein besonders hohes Maß an solcher Übereinstimmung ist auch deshalb erstrebenswert, weil eine Reform immer nur so weit gehen darf, wie das geltende Recht nicht sinnvoll anwendbar ist.114 Übernimmt ein Reformansatz weitgehend geltendes Recht und korrigiert es nur an den entscheidenden Stellen, wird auch dies seine Akzeptanzchancen steigern. Zwischen dem derzeit geltenden Recht und dem Non-Benefitting-Ansatz bestehen einige wichtige Übereinstimmungen. So nutzt der Non-Benefitting-Ansatz das von der WVK vorgesehene Instrument des Einspruchs, um die gewünschte Wirkung auf den Vorbehalt zu erzielen. Damit bleibt auch das Procedere bei Vorbehalten dasselbe.115 Zunächst wird ein Vorbehalt erklärt und den übrigen Vertragsparteien mitgeteilt. Im Anschluss hieran haben diese die Möglichkeit, entsprechend zu reagieren. Die Staaten müssten sich, sollte sich der Non-Benefitting-Ansatz als Reformvorschlag durchsetzen, rein praktisch an keine neuen Verfahren gewöhnen und könnten formal betrachtet so weitermachen wie bisher. In dieser Übereinstimmung mit dem geltenden Recht liegt ein eindeutiger Vorteil dieser Methode, insbesondere bezüglich ihrer Anwendbarkeit in der Staatenpraxis. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass dem Non-Benefitting-Ansatz, sofern man ihn ohne Bilateralisierung anwendet, dieselben strukturellen Überlegungen zugrunde liegen, wie sie die Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags aufweist. Auf die Durchschlagswirkung eines Vorbehalts wird mit der Durchschlagswirkung des Einspruchs von der zwischenstaatlichen Ebene auf die StaatIndividuum-Ebene reagiert.116

s. o. Kapitel 1. s. o. Kapitel 4, B. III. 2. b); zu weiteren Übereinstimmungen zwischen dem Non-Benefitting-Ansatz und dem derzeit geltenden Vorbehaltsrecht s. u. Kapitel 4, B. III. 2. d) dd). 116 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. c). 114 115

12 Behnsen

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

bb) Rechtsprobleme Neben den Vorteilen des Non-Benefitting-Ansatzes, die sich aus den rechtlichen und strukturellen Übereinstimmungen dieser Methode mit dem geltenden Recht und der Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags ergeben, erzeugt dieser Ansatz jedoch eine Reihe Probleme, sowohl rechtlicher Natur als auch im Hinblick auf seine praktische Anwendbarkeit. Die rechtlichen Probleme beziehen sich dabei vor allem auf die staatliche Souveränität, sowohl auf die des Vorbehaltsstaats als auch auf die derjenigen Staaten, die dem Vorbehalt nicht widersprochen haben. (1) Beschränkung der Souveränität des Vorbehaltsstaats Die Möglichkeit, Vorbehalte zu völkerrechtlichen Verträgen zu erklären, ist Ausdruck staatlicher Souveränität. Der Non-Benefitting-Ansatz verfolgt das Ziel, dass Vorbehalte durch einseitige Erklärung einer anderen Vertragspartei nichtig werden. Rechtlich betrachtet wird dabei auf den Willen des Vorbehaltsstaats keine Rücksicht genommen. Dieser wird darin bestehen, den Vorbehalt aufrecht zu erhalten. Der Einspruch nach dem Non-Benefitting-Ansatz soll hingegen genau das Gegenteil erreichen. Er bedeutet daher immer eine Beschränkung der Souveränität des Vorbehaltsstaats.117 Dieser ist nicht mehr frei darin, durch Erklärung eines Vorbehalts eine in dem von ihm gewünschten Maß erfolgende Reduzierung seiner vertraglichen Verpflichtungen herbeizuführen. Im Gegenteil: Das Maß seiner vertraglichen Verpflichtungen wird von den übrigen Vertragsparteien festgelegt, ohne dass dem Vorbehaltsstaat, abgesehen von der Kündigung des Vertrags, eine Möglichkeit gegeben ist, dies zu verhindern. Der Respekt vor staatlicher Souveränität stellt noch heute eines der Grundprinzipien des Völkerrechts dar.118 Der Non-Benefitting-Ansatz kann also nur dann zur Grundlage einer Reform werden, wenn sich die mit ihm verbundene Beschränkung der Souveränität des Vorbehaltsstaats rechtfertigen lässt beziehungsweise festgestellt werden kann, dass staatliche Souveränität im Bereich des Menschenrechtsschutzes mittlerweile so weit zurückgegangen ist, dass eine Anwendung des NonBenefitting-Ansatzes keinen Eingriff in diese mehr darstellt. Die absolute Geltung des Prinzips staatlicher Souveränität als ein über allem thronender Wert des Völkerrechts wird heute zunehmend in Frage gestellt, war allerdings wohl auch nie vollends unumstritten.119 Insbesondere im Bereich der 117 Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 189 f.; dieselben Probleme ergeben sich daher auch im Hinblick auf den Satz „Par in parem non habet juridictionem.“, vgl. Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 202. 118 Vgl. statt vieler Epping, in: Ipsen, VölkerRt., 5. Kapitel, § 26, Rn. 7; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 166, I. 1. 119 So formuliert Habermas unter Bezugnahme auf Kant: „Das Völkerrecht, das den Verkehr zwischen den Staaten regelt, muss von der Verfassung einer Staatengemeinschaft abge-

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

179

Menschenrechte verschiebt sich der Blick dabei immer mehr in Richtung des Individuums.120 Im Hinblick auf Verträge mit bilateral wirkender Pflichtenstruktur war festgestellt worden, dass ein Einspruch nicht die Wirkung hat, die volle Bindung des Vorbehaltsstaats an die vertraglichen Verpflichtungen zu bewirken. Aufgrund des Respekts vor dessen Souveränität darf eine solche Wirkung auch nicht angenommen werden.121 Im Menschenrechtsschutzvertrag stellt sich die Struktur der Verpflichtungen anders dar. Nur in diesem Unterschied zwischen den Pflichtenstrukturen dieser verschiedenen Vertragstypen kann mithin nach der Begründung dafür gesucht werden, beim Menschenrechtsschutzvertrag eine Einschränkung der Souveränität des Vorbehaltsstaats anzunehmen, die es anderen Vertragsparteien erlaubt, durch Einspruch dessen volle vertragliche Bindung herbeizuführen. Teilweise wird vorgeschlagen, eine Beschränkung staatlicher Souveränität über die Mitgliedschaft eines Staates in internationalen Organisationen, die sich dem Schutz der Menschenrechte verschrieben haben, zu begründen.122 Nahezu alle Staaten sind heute Mitglieder der Vereinten Nationen.123 Daraus ergibt sich für sie die Verpflichtung, die Achtung der Menschenrechte als Ziel dieser Organisation nach Treu und Glauben anzuerkennen und auf die Verwirklichung dieses Ziels hinzuarbeiten.124 Diese Verpflichtung betrifft sowohl die Arbeit jedes Staates für sich als auch die Zusammenarbeit mit und in den UN.125 Kein Mitgliedstaat der Vereinten Nationen kann daher die grundsätzliche Existenz von Menschenrechten ignorieren. Weiterhin kann er sich nicht vollständig weigern, generell an der Entwicklung des Menschenrechtsschutzes mitzuwirken.126 Diese Entwicklung vollzieht sich im Wesentlichen durch die Schaffung von Menschenrechtsschutzverträgen beziehungsweise dem Beitritt hierzu.127 Grundsätzlich besteht mithin für alle Mitlöst werden. Erst dann treten die Staaten und deren Bürger in ein ,gesetzmäßiges Verhältnis‘ zueinander.“, S. 121; Bockslaff, S. 114; Schreuer, in: Delbrück, Cooperation and State Sovereignty, S. 163; Radon, Stanford JIL 40 (2004), S. 209; Barnes, Asian YIL 9 (2000), S. 102 f.; Fröhlich, DIE ZEIT 40 / 2004, S. 15; für eine uneingeschränkte Souveränität plädiert jedoch Steinberg, Stanford JIL 40 (2004), S. 330, 334, der dies allerdings nur mit der faktischen Stärke bzw. der starken Machtposition eines Staates begründet und auch nur von „Souveränität dem Benehmen nach“ spricht. 120 Habermas, S. 123; Kahn, Stanford JIL 40 (2004), S. 262; Mosler, RdC 140 (1974 IV), S. 77; Gading, S. 192. 121 s. o. Kapitel 3, C. I. 122 Vgl. Radon, Stanford JIL 40 (2004), S. 200; Fernandez, Finnish YIL 13 (2002), S. 38, 43; allgemein zur Frage der Zuweisung von Hoheitsgewalt an die UN und andere internationale Organisationen Delbrück, Indiana JGLS 11 (2004), S. 36 ff. 123 Eine genaue Aufstellung der 191 Mitgliedstaaten findet sich unter http: //www.un.org/ Overview/unmember.html. 124 Art. 1 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 Abs. 2 UNC. 125 Art. 56 i. V. m. Art. 55 lit. c UNC. 126 Verdross / Simma, § 265; Trautner, S. 40 f. 127 Riedel, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 2, Art. 55 (c), Rn. 15. 12*

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

glieder der UN die Pflicht, an der Entwicklung von Menschenrechtsschutzverträgen beziehungsweise an der Verwirklichung der im Rahmen der UN geschaffenen Menschenrechtsschutzverträge und den darin enthaltenen Individualrechten konstruktiv mitzuwirken.128 Nahezu alle Staaten sind damit über ihre Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen gezwungen anzuerkennen, dass völkervertragliche Pflichten sie nicht nur im zwischenstaatlichen Bereich treffen können, sondern auch im Verhältnis zu den ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen. Kurz gesagt: Alle Mitglieder der UN sind verpflichtet, die Kategorie des Vertrags mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur anzuerkennen. Eine solche Verpflichtung lässt sich für die Mitglieder der UN für keinen anderen speziellen Vertragstyp aus der UN-Charta herleiten. Der Menschenrechtsschutzvertrag als wichtigster Vertreter dieser Gattung nimmt hier also eine Sonderstellung ein. Der Grund hierfür dürfte darin bestehen, dass die Vereinten Nationen schon früh zu der Einsicht gelangten, dass eine ohne jegliche Einschränkung bestehende staatliche Souveränität in diesem Bereich die Gefahr bedeutet hätte, dass die Staaten beim Schutz der Menschenrechte ähnlich versagen würden, wie sie es vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Hinblick auf die Wahrung des internationalen Friedens getan hatten.129 Insofern sah man sich gezwungen, die staatliche Souveränität im Bereich des Menschenrechtsschutzes zu begrenzen.130 Da diese Beschränkung von den Staaten mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen freiwillig anerkannt wird, entstehen dabei keinerlei Probleme bezüglich der Achtung ihrer Souveränität. Zusammengefasst bedeutet dies, dass aufgrund der Mitgliedschaft eines Staates in den Vereinten Nationen seine Souveränität im Hinblick auf den generellen Schutz der Menschenrechte und die Mitarbeit an Verträgen, die deren Schutz dienen, nicht mehr uneingeschränkt besteht.131 Für die Zukunft sind sogar weitergehende Einschränkungen staatlicher Souveränität im Zuge der Mitgliedschaft eines Staates in den Vereinten Nationen denkbar. Im Reformbericht des High-level Panels on Threats, Challenges and Change wird ausdrücklich erwähnt, dass staatliche Souveränität nicht nur Rechte eines Staates 128 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 747, 764; Riedel, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 2, Art. 55 (c), Rn. 15; Wolfrum, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 2, Art. 56, Rn. 3 f.; vgl. Ritterband, in: FS Haug, S. 231 f. 129 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 746; vgl. Verdross / Simma, § 265; Delbrück, Indiana JGLS 4 (1997), S. 287. 130 Müller / Kolb, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 1, Art. 2 (2), Rn. 8; vgl. Nagan / Hammer, Columbia JTL 43 (2004), S. 154 ff, 187. 131 Riedel, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 2, Art. 55 (c), Rn. 16; ders., in: Baum / Riedel / Schaefer, S. 33; Delbrück, Indiana JGLS 4 (1997), S. 288 f.; Brownlie, S. 293 f.; Beyerlin, in: Bernhardt, EPIL, Bd. II (E – I), S. 932; Steinkamm, in: FS Dau, S. 275; vgl. Fröhlich, DIE ZEIT 40 / 2004, S. 15; dagegen lediglich Steinberg, Stanford JIL 40 (2004), S. 336 f., der dies aber nur damit begründen kann, dass mächtige Staaten sich de facto über die Entscheidungen internationaler Organisationen hinwegsetzen oder hinwegsetzen können, so dass seiner Meinung nach die USA der einzige wirklich souveräne Staat der Erde seien, S. 342. Eine Begründung anhand rechtlicher Argumente gelingt ihm dagegen nicht.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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bedeutet, sondern auch dessen Pflicht, für das Wohlergehen seiner Bevölkerung zu sorgen.132 Staatliche Souveränität wird damit nicht mehr als absoluter aus sich heraus bestehender Wert anerkannt. Der Staat leitet seine Legitimität vielmehr erst aus den Rechten des Einzelnen ab. Staatliche Souveränität besteht, weil sie zum Schutze der Würde, der Gerechtigkeit, der Werte und der Sicherheit des Einzelnen nötig ist.133 Sofern ein Staat seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, soll es nach den Vorschlägen des High-level Panels die internationale Gemeinschaft sein, die die Verantwortung dafür übernimmt,134 notfalls unter Einsatz militärischer Gewalt.135 Dies kann nur mit einer weiteren Einschränkung staatlicher Souveränität einhergehen. Aber schon die derzeit bestehende Einschränkung reicht sogar bis in das Vorbehaltsrecht hinein.136 Nach Art. 103 UNC gehen alle in der Charta der Vereinten Nationen definierten Verpflichtungen den Verpflichtungen aus anderen internationalen Übereinkünften der Mitgliedstaaten vor. Für Verpflichtungen der Staaten aus Menschenrechtsschutzverträgen kann nichts anderes gelten. Ein Mitgliedstaat der Vereinten Nationen, der Partei eines Menschenrechtsschutzvertrags wird, darf seine sich aus letzterem Vertrag ergebenden Pflichten daher nur so erfüllen, dass sie nicht im Widerspruch zu den in der UN-Charta definierten Pflichten stehen. Solange der betreffende Staat seinen Pflichten aus dem Menschenrechtsschutzvertrag in der vertraglich geregelten Weise nachkommt, kann sich eine Kollisionslage mit Chartapflichten nicht ergeben, schreibt die Charta die Achtung und Förderung der Menschenrechte doch selbst vor. Anders kann es jedoch sein, wenn ein Staat einen weitreichenden Vorbehalt zu einem Menschenrechtsschutzvertrag erklärt. Unter Geltung des derzeitigen Vorbehaltsrechts kann es dann zu der Situation kommen, dass der Vorbehaltsstaat seine Verpflichtungen aus dem Menschenrechtsschutzvertrag durch den Vorbehalt einseitig teilweise oder auch vollständig aufhebt, beispielsweise durch einen Vorbehalt, der die nationale Rechtsordnung in jedem Fall über die vertraglichen Verpflichtungen stellt. Damit negiert der Vorbehaltsstaat die Notwendigkeit des internationalen Menschenrechtsschutzes insgesamt.137 Ein solches Verhalten ist kontraproduktiv zur Achtung und Förderung der Menschenrechte. Der Vorbehaltsstaat würde damit seine Verpflichtungen aus 132 A more secure world: our shared responsibility, Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change, UN Doc. A / 59 / 565, S. 21 f., Ziff. 29; S. 22, Ziff. 34; vgl. Einsiedel, VN 53 (2005), S. 9 f. 133 A more secure world: our shared responsibility, Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change, UN Doc. A / 59 / 565, S. 22, Ziff. 30. 134 A more secure world: our shared responsibility, Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change, UN Doc. A / 59 / 565, S. 21 f., Ziff. 29. 135 A more secure world: our shared responsibility, Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change, UN Doc. A / 59 / 565, S. 56 f., Ziff. 201 f. 136 Vgl. hierzu generell HRC, General Comment No. 24, UN Doc. CCPR / C / 21 / Rev. 1 / Add. 6, S. 7, Ziff.18. 137 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 747 f.

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

dem Menschenrechtsschutzvertrag einseitig so gestalten, dass sie zu den in Art. 1 Abs. 3 und Art. 55 lit. c UNC genannten Zielen der Vereinten Nationen im Widerspruch stehen.138 Ein solches Verhalten ist gemäß Art. 103 UNC illegal. Vorbehalte, die so extensiv sind, dass sie dem Menschenrechtsschutz an sich zuwiderlaufen beziehungsweise dessen Notwendigkeit negieren, dürfen daher nicht erklärt werden. Ähnliches gilt zusätzlich für die Mitgliedstaaten des Europarats. Auch dieser hat sich dem Schutz der Menschenrechte verschrieben. Seine Mitgliedstaaten sind verpflichtet, bei der Verwirklichung dieses Ziels „aufrichtig und tatkräftig mitzuarbeiten“.139 Zwar findet sich in der Satzung des Europarats keine Bestimmung desselben Inhalts wie Art. 103 UNC. Erklärt ein Mitgliedstaat jedoch einen weitreichenden Vorbehalt zur EMRK oder einem anderen im Rahmen dieser Organisation geschaffenen Menschenrechtsschutzvertrag, verfolgt er damit das Ziel, seine menschenrechtlichen Verpflichtungen stark zu reduzieren. Dies kann zu einer Kollision mit der in der Satzung des Europarats enthaltenen Pflicht zur Mitarbeit am Menschenrechtsschutz führen, so dass auch ein solches Verhalten unzulässig wäre.140 Auch hier wirkt die Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation damit als Schranke staatlicher Souveränität im Hinblick auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen.141 Diese Argumente zeigen, dass die Besonderheiten des Menschenrechtsschutzvertrags so in die Pflichten, die sich für Staaten aus ihrer Mitgliedschaft in internationalen Organisationen ergeben, eingegangen sind, dass staatliche Souveränität im Hinblick auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen nicht mehr absolut besteht. Dieses lässt sich auf das Prinzip zusammenfassen, dass in solchen Fällen das Einzelinteresse des Vorbehaltsstaats hinter dem Gesamtinteresse der Mitgliedstaaten am Menschenrechtsschutz an sich zurücktreten muss.142 Jedoch ist der hier verfolgte Weg praktisch nur schwer anwendbar, da wohl nur in wenigen Fällen klar feststellbar sein wird, wann ein Vorbehalt so extensiv wirkt, dass ein Verstoß gegen das Ziel der Förderung und Achtung des Menschenrechtsschutzes an sich gegeben ist.143 Weiterhin ist hiermit noch nicht feststellbar, ob diese Souveränitätsbeschränkung so stark wirkt, dass andere Staaten durch einseitige Erklärung den Vorbehalt unwirksam machen können, der Non-Benefitting-Ansatz also dadurch gedeckt wird. Vgl. Trautner, S. 41. Art. 3 i. V. m. Art. 1 lit. b der Satzung des Europarats. 140 Von der Wirkung des Art. 57 EMRK sei hier abgesehen. Zwar greift dieser als lex specialis zuerst ein. Dies schließt jedoch nicht aus, dass die bestehende Pflichtenkollision im Falle eines extensiven Vorbehalts entsteht; vgl. allgemein zur Beschränkung staatlicher Souveränität durch die EMRK Rozakis, in: Mélanges Nicolas Valticos, S. 506. 141 Vgl. zur Frage der Zuweisung von Hoheitsgewalt an den Europarat Delbrück, Indiana JGLS 11 (2004), S. 39. 142 Marks, ICLQ 39 (1990), S. 326. 143 Vgl. Gading, S. 195. 138 139

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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Auch aus der Geltung eines Mindestmaßes an Menschenrechten als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Völkerrechts i. S. d. Art. 38 Abs. 1 lit. c des Statute of the International Court of Justice144 ergibt sich eine Begründung für die Einschränkung staatlicher Souveränität im Hinblick auf den Schutz der Menschenrechte. Der IGH selbst hat eine Verpflichtung aller Staaten zur Einhaltung eines humanitären Mindeststandards ausdrücklich anerkannt.145 Insofern sind Staaten auch hiernach nicht völlig souverän in ihrem Verhalten im Hinblick auf den Schutz von Menschenrechten.146 Auch dieses hat insofern Auswirkungen auf das Recht der Vorbehalte, als dass es Staaten nicht mehr freisteht, jedweden Vorbehalt zu Menschenrechtsschutzverträgen zu erklären. Sofern der Vorbehalt die Wirkung hat oder das Ziel verfolgt, den Menschenrechtsschutz insgesamt zu negieren, stellt er einen Verstoß gegen diesen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Völkerrechts dar. Diese Begründung gleicht der, die unter Bezugnahme auf die Mitgliedschaft der Staaten in internationalen Organisationen eine Souveränitätsbeschränkung bei Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen ermöglicht. Insofern entstehen dieselben Probleme. Es wird nicht immer eindeutig feststellbar sein, wann ein Vorbehalt so extensiv wirkt, dass er gegen diesen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Völkerrechts verstößt. Weiterhin lässt sich auch hiermit noch keine Begründung dafür finden, ob speziell der Non-Benefitting-Ansatz mit dem Prinzip staatlicher Souveränität vereinbar ist. Eine Schnittstelle zwischen staatlicher Souveränität und Menschenrechtsschutz bildet die Figur der humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger. Auch wenn über ihre exakte Definition keine vollständige Einigkeit besteht, ist hierunter generell ein meist militärisches Eingreifen eines Staates gegen einen anderen Staat zu verstehen, das das Ziel verfolgt, weite Teile der Bevölkerung des Zielstaats gegen durch diesen vorgenommene schwere oder drohende schwere Menschenrechtsverletzungen zu schützen.147 Insbesondere das militärische Eingreifen eines Staates gegen einen anderen Staat stellt grundsätzlich einen Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot gemäß Art. 2 Abs. 4 UNC dar.148 Der eingreifende Staat verfolgt mit seinem Handeln das Ziel, den angegriffenen Staat zu einem Handeln oder Unterlassen zu zwingen. Er zwingt ihm also seinen Willen auf. Hierin liegt eine Verletzung oder faktische Einschränkung der Souveränität des angegriffenen Staates. Begründet wird diese mit der Notwendigkeit des Schutzes der Menschenrechte. Stellt man diese Situation abstrakt dar und verwenUNCIO Doc. Bd. 15, S. 355; im Folgenden: IGH-Statut. IGH, The Corfu Channel Case (United Kingdom v. Albania), 9. April 1949, ICJ Reports 1949, S. 22; Case Concerning the Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited (Belgium v. Spain), 5. Februar 1970, ICJ Reports 1970, S. 32. 146 Trautner, S. 41; vgl. Ritterband, in: FS Haug, S. 229 f. 147 Beyerlin, in: Bernhardt, EPIL, Bd. II (E – I), S. 926 f.; Trautner, S. 38 f.; Dörr, APUZ B 43 / 2004, S. 17 f.; Doehring, Rn. 1008; Zygojannis, S. 53. 148 Randelzhofer, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 1, Art. 2 (4), Rn. 16; Doehring, Rn. 1009; Isensee, JZ 50 (1995), S. 424. 144 145

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

det hierzu deontische Operatoren, ergibt sich Folgendes: Wenn Staat a die durch einen Menschenrechtsschutzvertrag garantierten Rechte (R) mit dem Gegenstand (G) der seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen (ia) verletzt, negiert er damit faktisch gleichzeitig, dass ihm gegenüber diesen Individuen Pflichten (O) mit demselben Gegenstand (G) obliegen. Zumindest weigert er sich, diesen Verpflichtungen nachzukommen. Dies bedeutet, Staat a setzt durch einseitiges Verhalten den Satz RiaaG $ OaiaG außer Kraft. Wenn nun ein anderer Staat, dieses Verhalten des a nicht billigt und mit militärischen Mitteln a dazu zwingt, von seinen Menschenrechtsverletzungen abzulassen, bedeutet dies, dass er durch ein Handeln auf zwischenstaatlicher Ebene den Satz RiaaG $ OaiaG wieder in Kraft setzt. Ein Verhalten auf zwischenstaatlicher Ebene schlägt also auf die Staat-IndividuumEbene auf Seiten des verletzenden Staates durch. Abstrakt strukturell betrachtet entsprechen die Vorgänge, die im Hinblick auf die vertraglichen Verpflichtungen eines Staates bei der humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger ablaufen, damit genau denen, wie sie bei einem Einspruch eines Staates gegen einen Vorbehalt nach dem Non-Benefitting-Ansatz geschehen. Wenn also die humanitäre Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger als Einschränkungsmöglichkeit staatlicher Souveränität völkerrechtlich zulässig ist, wäre dies der Beweis dafür, dass auch der Non-Benefitting-Ansatz im Hinblick auf seine den Vorbehaltsstaat in seiner Souveränität einschränkende Wirkung zulässig ist. Die Zulässigkeit der humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger ist nach wie vor umstritten.149 Als Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot kann ein solches Verhalten nur ausnahmsweise zulässig sein.150 Von Seiten der Befürworter ihrer Zulässigkeit wird zum Teil behauptet, Art. 2 Abs. 4 UNC erfasse die humanitäre Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger schon gar nicht, da sie weder gegen die politische Unabhängigkeit noch gegen die territoriale Unversehrtheit des Zielstaats gerichtet sei. Weiterhin diene sie dem Menschenrechtsschutz, der seinerseits eines der grundlegenden Ziele der Vereinten Nationen ist.151 Daneben wird die humanitäre Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger als zumindest dann zulässig betrachtet, wenn die in der Charta der Vereinten Nationen vorgesehen Mechanismen zur Friedenssicherung versagen.152 Dieser Argumentation wird von Seiten ihrer Gegner entgegengehalten, dass die Aufnahme der Begriffe „territoriale Unversehrtheit“ und „politische Unabhängigkeit“ in den Wortlaut des Art. 2 Abs. 4 UNC deklaratorischer Natur gewesen sei. Diese Begriffe hätten keine eigenständige Bedeutung, so dass jeder 149 Strikt gegen ihre Zulässigkeit sprach sich noch 1995 z. B. Kimminich, AVR 33 (1995), S. 435 ff., aus; ebenso strikt in seiner Ablehnung des militärischen Eingreifens der NATO im Kosovo und eine Rechtfertigung dieses als humanitäre Intervention Merkel, Kritische Justiz 32 (1999), S. 526 ff. 150 Zygojannis, S. 54; Delbrück, Die Friedenswarte 74 (1999), S. 148; Isensee, JZ 50 (1995), S. 423. 151 Vgl. Tomuschat, in: Caflisch / Stein / ders., S. 18 f. 152 Kapitel VI und VII der UNC.

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bewaffnete Angriff auf das Territorium eines anderen Staates eine Verletzung des Gewaltverbots darstellt.153 Daneben sieht die Charta der Vereinten Nationen für den Fall, dass ihre Friedenssicherungsmechanismen versagen, die Möglichkeit zur Selbstverteidigung vor. Einer weiteren Ausnahme zum Gewaltverbot in Gestalt einer humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger bedürfe es mithin nicht.154 Über diese gewichtigen Gründe, ihre Zulässigkeit zu verneinen, darf aber auch nicht vergessen werden, dass schon Hugo Grotius und Emer de Vattel eine Intervention als zulässig erachteten, wenn der Zielstaat seiner Bevölkerung die Anerkennung grundlegender Menschenrechte verweigerte.155 Diese grundlegende Ansicht ist seitdem niemals vollständig in Zweifel gezogen worden.156 In einem neuen Ansatz wird mittlerweile versucht, die Zulässigkeit solchen Vorgehens aus der Charta der UN selbst abzuleiten. Dabei wird zunächst festgestellt, dass das in Art. 51 UNC enthaltene Selbstverteidigungsrecht den Staaten nach dessen Wortlaut zugestanden wird, solange der Sicherheitsrat seinerseits keine Maßnahmen zur Friedenssicherung ergreift. In einer solchen Situation muss es einem angegriffenen Staat möglich sein, sich in Ausübung seines Notwehrrechts rechtmäßig zu verteidigen. Diese Selbstverteidigung darf auch kollektiv erfolgen. Anderen als dem angegriffenen Staat steht damit ein Recht auf Nothilfe zu. Diese vom Wortlaut des Art. 51 UNC erfasste und nicht angezweifelte Erkenntnis wird dann auf die Situation schwerer Menschenrechtsverletzungen in einem Staat übertragen. Man nimmt eine Analogie zu Art. 51 UNC in der Weise vor, dass eine Situation, in der ein Staat die Menschenrechte seiner Bevölkerung in schwerster Weise verletzt, mit einer Notlage, wie sie Art. 51 UNC im Falle eines Angriffs auf einen Staat vorsieht, gleichgesetzt wird.157 Dass schwere Menschenrechtsverletzungen oder die Drohung solcher Verletzungshandlungen eine Friedensbedrohung darstellen können, hat auch der Sicherheitsrat anerkannt.158 Solange der Sicherheitsrat in einer solchen Situation seine Funktion als Organ zur Friedenssicherung nicht wahrnimmt, wird anderen Staaten von den Anhängern dieses neuen Ansatzes ein Nothilferecht zugestanden, das die Verteidigung der in ihren Rechten verletzten Indivi153 Randelzhofer, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 1, Art. 2 (4), Rn. 35; Verdross / Simma, § 469; Delbrück, Die Friedenswarte 74 (1999), S. 150; Heselhaus, JA 31 (1999), S. 987; Bothe, in: FS Dau, S. 16 f. 154 Kimminich, AVR 33 (1995), S. 435; Delbrück, Die Friedenswarte 74 (1999). S. 150. 155 Grotius, Buch II, Kapitel 25, VIII.; Vattel, Buch II, Kapitel IV, § 56; vgl. Trautner, S. 39. 156 Schilling, AVR 35 (1997), S. 430; vgl. zu den verschiedenen Ansichten Beyerlin, in: Bernhardt, EPIL, Bd. II (E – I), S. 927 f. 157 Doehring, Rn. 1015; ders., in: FS Buergenthal, S. 563 f.; Zygojannis, S. 57 f.; Ipsen, Die Friedenswarte 74 (1999), S. 21 ff. 158 S / RES / 746 (1992) vom 17. März 1992; S / RES / 940 (1994) vom 31. Juli 1994; vgl. Tomuschat, in: Caflisch / Stein / ders., S. 14; Doehring, Rn. 1010; Wellershoff, in: FS Dau, S. 325; Ipsen, Die Friedenswarte 74 (1999), S. 21; gegen militärische Durchsetzung der Menschenrechte durch den Sicherheitsrat ist Gading, S. 211.

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duen einschließt.159 Die humanitäre Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger stellt nach dieser Idee mithin eine besondere Form kollektiver Selbstverteidigung durch Nothilfe dar. Die Kollektivität ergibt sich dabei daraus, dass auch Individuen unter anderem im Hinblick auf ihnen garantierte Menschenrechte mittlerweile als partielle Völkerrechtssubjekte anerkannt sind.160 Es verteidigt also ein Völkerrechtssubjekt andere Völkerrechtssubjekte gegen die Verletzungshandlung eines dritten Völkerrechtssubjekts. Die Vertreter einer ähnlichen Konstruktion verweisen auf die Erga-omnes-Wirkung grundlegender Menschenrechte.161 Eine Verletzung dieser ist danach eine Verletzung der Rechte der gesamten Staatengemeinschaft. In einem solchen Falle seien mithin alle Staaten berechtigt, in einer Art Selbsthilfe entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen.162 Diese Ansicht berücksichtigt jedoch nicht ausreichend die Struktur der Primärverpflichtungen eines Menschenrechtsschutzvertrags. Wenn dort auf zwischenstaatlicher Ebene keine Verpflichtungen der Staaten untereinander bestehen, können die Staaten als solche durch eine Verletzung der Menschenrechte nicht in ihren eigenen Rechten verletzt sein. Eine Selbsthilfe ist daher nicht denkbar. Die Erga-omnes-Wirkung grundlegender Menschenrechte ist eher restriktiv zu verstehen, und zwar in der Weise, dass alle Staaten durch solche Rechte verpflichtet werden, sie zu achten und zu schützen. Eine Qualifizierung anderer Staaten als eigentliche Rechtsträger eines Menschenrechts kann dagegen hiervon nicht umfasst sein. Dies ist sowohl semantisch unmöglich als auch strukturell.163 Die Ansicht, nach der andere Staaten als (kollektive) Nothelfer an der Seite der verletzten Rechtsträger von Menschenrechten im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen eine humanitäre Intervention vornehmen dürfen, berücksichtigt dagegen die Strukturen menschenrechtlicher Primärverpflichtungen. Auch diese Ansicht geht davon aus, dass das auf zwischenstaatlicher Ebene vorgenommene Inter159 Doehring, Rn. 1015; ders., in: FS Buergenthal, S. 563 f.; Zygojannis, S. 57 f.; Ipsen, Die Friedenswarte 74 (1999), S. 21 ff.; grundsätzlich, wenn auch unter Einschränkungen zustimmend Delbrück, Die Friedenswarte 74 (1999), S. 152 ff.; Schilling, AVR 35 (1997), S. 443 f. 160 Doehring, Rn. 1015; Zygojannis, S. 57 f.; Ipsen, Die Friedenswarte 74 (1999), S. 22; vgl. Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 755; Mosler, RdC 140 (1974 IV), S. 79; Rozakis, in: Mélanges Nicolas Valticos, S. 504; kritisch Bothe, in: FS Dau, S. 17 f.; speziell bezogen auf die Struktur von Menschenrechtsschutzverträgen St. John Macdonald, RBDI 21 (1988), S. 434. 161 Zur Erga-omnes-Wirkung grundlegender Menschenrechte vgl. IGH, Case Concerning the Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited (Belgium v. Spain), 5. Februar 1970, ICJ Reports 1970, S. 32. 162 Doehring, Rn. 1014; ders., in: FS Buergenthal, S. 556 ff.; diese These wurde Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts auch von der ILC vertreten, vgl. Draft articles on State responsibility, Art. 40 Abs. 2 lit. e (iii), YILC 1996 II, S. 62. 163 s. o. Kapitel 3, B. IV. 5. c); gegen eine solche Begründung auch Tomuschat, in: Caflisch / Stein / ders., S. 18 f.; Denninger, ZRP 33 (2000), S. 193 f.

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ventionshandeln lediglich dazu dient, einen rechtmäßigen Zustand auf der StaatIndividuum-Ebene im Zielstaat wiederherzustellen. Die Zulässigkeit der Figur der humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger wird mithin gerade mit Hilfe der Besonderheit der Pflichtenstruktur der Menschenrechte begründet. Weiterhin entspricht sie der mittlerweile herrschenden Meinung, dass Individuen im Bereich des Menschenrechtsschutzes partielle Völkerrechtssubjektivität genießen. Insofern bestehen zumindest gewichtige Gründe für ihre völkerrechtliche Zulässigkeit.164 Das High-level Panel fordert in seinem Bericht zur Reform der Vereinten Nationen sogar, militärisches Eingreifen zur Beendigung schwerer Menschenrechtsverletzungen möglich zu machen.165 Das Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates darf nach dessen Auffassung in einem solchen Fall nicht entgegenstehen.166 Schlussendlich muss in dieser Arbeit die Frage, ob jede Form einer bewaffneten Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger zulässig ist, nicht beantwortet werden.167 Es genügt vielmehr die Feststellung, dass mit der humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger eine Figur existiert, bei deren Einsatz bezogen auf die Struktur menschenrechtlicher Primärverpflichtungen dieselben Vorgänge ablaufen wie bei einem Einspruch gegen einen Vorbehalt nach dem Non-Benefitting-Ansatz, und dass diese in Bezug auf ihre die Souveränität des Zielstaats einschränkende Wirkung zulässig sein kann. Damit ist der Beweis erbracht, dass ein Vorgehen nach dem Non-Benefitting-Ansatz nicht wegen seiner die Souveränität des Zielstaats einschränkenden Wirkung unzulässig ist. Die staatliche Souveränität ist in dieser Hinsicht bereits so begrenzt, dass der Non-Benefitting-Ansatz unter diesem Aspekt vielmehr zulässig ist. Durch die Begründung dieses Ergebnisses mit Hilfe der Figur der humanitären Intervention wird insbesondere auch der besonderen Struktur menschenrechtlicher Primärpflichten Rechnung getragen. Dieses Ergebnis wird darüber hinaus von einem weiteren Schluss getragen. Die humanitäre Intervention zur Rettung fremder Staatsangehöriger erfolgt in der 164 Doehring, Rn. 1015; ders., in: FS Buergenthal, S. 563 ff.; Zygojannis, S. 54, 56 ff.; Ipsen, Die Friedenswarte 74 (1999), S. 21; der Zulässigkeit der Figur der humanitären Intervention zustimmend auch Steinkamm, in: FS Dau, S. 274 ff.; Tomuschat, Die Friedenswarte 74 (1999), S. 34 f.; ebenso das Europäische Parlament in seiner Entschließung zum Recht auf Intervention aus humanitären Gründen, Amtsblatt Nr. C 128 vom 9. Mai 1994, S. 225 ff., Ziff. 2 ff.; etwas vorsichtiger, aber wohl auch zustimmend Fröhlich, DIE ZEIT 40 / 2004, S. 15; Dörr, APUZ B 43 / 2004, S. 18; Isensee, JZ 50 (1995), S. 425 f.; Heselhaus, JA 31 (1999), S. 990 f.; Hassner, Europa-Archiv 48 (1993), S. 156 f. 165 A more secure world: our shared responsibility, Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change, UN Doc. A / 59 / 565, S. 23, Ziff. 36. 166 A more secure world: our shared responsibility, Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change, UN Doc. A / 59 / 565, S. 56, Ziff. 200. 167 Neben den hier angesprochenen strukturellen Fragen spielt auch die Frage der Proportionalität eines solchen Vorgehens eine wichtige Rolle. Letztere dürfte zwar ebenfalls nur schwer zu klären sein. Es kann hier jedoch unterlassen werden.

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Regel mit Waffengewalt, zumindest kann selbst solch ein Handeln nach dieser Rechtsfigur zulässig sein. Der Einsatz von Waffengewalt gegen einen anderen Staat stellt, abgesehen von der Annexion des Staatsgebiets, wohl die härteste Form eines Eingriffs in dessen Souveränität dar.168 Ein Einspruch gegen einen Vorbehalt, selbst wenn er nach dem Non-Benefitting-Ansatz erfolgt, benötigt keine Waffengewalt. Hier werden lediglich diplomatische Wege eingeschlagen und Schriftstücke ausgetauscht. Technisch betrachtet geschieht dies sogar in einer Weise, wie es die WVK ausdrücklich als geltendes Recht vorsieht. Ein Vorgehen nach dem NonBenefitting-Ansatz wirkt im Hinblick auf die Zwangswirkung beim Zielstaat also weit weniger souveränitätsbeschränkend als eine bewaffnete humanitäre Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger. Wenn aber selbst letztere im Hinblick auf die Einschränkung der Souveränität des Zielstaats zulässig sein kann, so muss es ein Vorgehen nach dem Non-Benefitting-Ansatz in dieser Hinsicht erst recht sein.169 Insofern besteht auch eine Ausnahme von dem Grundsatz „Par in parem non habet juridictionem.“170 Schließlich darf nicht vergessen werden, dass ein Vorbehalt zu einem Menschenrechtsschutzvertrag auch eine Einschränkung der Souveränität anderer Staaten durch den Vorbehaltsstaat darstellt. Diese haben nach geltendem Recht, egal wie sie auf den Vorbehalt reagieren, keine Möglichkeit, sich auf die im Vertrag definierten Pflichten gegenüber dem Vorbehaltsstaat zu berufen.171 Insofern ist die Frage zulässig, warum es eigentlich der Vorbehaltsstaat allein sein sollte, auf dessen Souveränität Rücksicht genommen wird.172 Zusammenfassend bleibt somit festzuhalten, dass der Non-Benefitting-Ansatz im Hinblick auf die mit seinem Einsatz verbundene Einschränkung der Souveränität des Vorbehaltsstaats völkerrechtlich zulässig ist. (2) Beschränkung der Souveränität nicht widersprechender Vertragsparteien Durch die Erklärung eines Einspruchs mit Non-Benefitting-Wirkung gegen einen Vorbehalt zu einem Menschenrechtsschutzvertrag wird primär die Souveränität des Vorbehaltsstaats berührt. Wie gesehen, geschieht dies jedoch in zulässiger Weise. Daneben berührt ein solcher Einspruch aber unter Umständen auch die Souveränität anderer Vertragsparteien, insbesondere derer, die dem Vorbehalt nicht widersprochen haben. Durch die ausdrückliche oder stillschweigende Annahme bringt der jeweilige Staat seine Ansicht zum Ausdruck, dass er einen Vorbehalt für rechtVgl. Kahn, Stanford JIL 40 (2004), S. 263. Eine solche These würde wohl auch Tomuschat unterstützen, der fast alle gewaltfreien Mittel zur Korrektur menschenrechtswidrigen Verhaltens als zulässig ansieht, Tomuschat, in: Caflisch / Stein / ders., S. 20; vgl. Wellershoff, in: FS Dau, S. 327 f. 170 Vgl. Fußnote Nr. 117 in Kapitel 4. 171 s. o. Kapitel 3, C. III. 1. a). 172 Vgl. Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 190; Koh, Harvard ILJ 23 (1982), S. 103. 168 169

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lich zulässig hält, zumindest dessen Wirksamkeit nicht beseitigen will. Erklärt ein anderer Staat zu demselben Vorbehalt einen Einspruch mit Non-Benefittig-Wirkung, wird dem Vorbehalt seine Wirksamkeit genommen. Er wird zu einem rechtlichen Nullum. Die Ansicht des annehmenden Staates wird dabei ignoriert und hat auf die Wirksamkeit des Vorbehalts keine Auswirkungen mehr. Ob eine solche Wirkung im Hinblick auf die Souveränität des annehmenden Staats hingenommen werden kann, ist fraglich. Gegen die Zulässigkeit des Non-Benefitting-Ansatzes unter diesem Aspekt könnte insbesondere der Satz „Pacta tertiis nec nocet nec prosunt.“ sprechen. Dieser ist nicht nur in Art. 34 WVK kodifiziert, sondern stellt darüber hinaus einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts dar, dessen Geltung nicht angezweifelt wird.173 Nach seinem Inhalt kann ein Vertrag niemals Pflichten für Staaten, die nicht Vertragspartei sind, begründen. Dies ist eine Auswirkung deren Souveränität.174 Ein Vertrag zu Lasten eines dritten Staates wird nur dann für diesen wirksam, wenn er seine Zustimmung hierzu schriftlich erklärt.175 Umstritten ist, ob und gegebenenfalls welche Ausnahmen von diesem Grundsatz zulässig sein können.176 Bevor man sich aber der Frage der Ausnahmen zuwendet, muss zunächst geklärt werden, ob durch die Erklärung eines Einspruchs mit NonBenefitting-Wirkung gegen diesen Grundsatz überhaupt verstoßen und in die Souveränität des annehmenden Staates eingegriffen wird. Wenn ein Einspruch nach dem Non-Benefitting-Ansatz bewirkt, dass der Vorbehalt keine Rechtswirkung mehr hat, beseitigt er auch die Rechtswirkung der Annahme eines Vorbehalts. Wo kein Vorbehalt mehr wirkt, kann auch eine Annahme keine Wirkung mehr entfalten. Wie aus dem Wortlaut der Art. 34 und 35 WVK hervorgeht, liegt ein Verstoß gegen den Pacta-tertiis-Grundsatz aber nur dann vor, wenn einem Staat ohne seinen Willen durch einen Vertrag zwischen anderen Staaten Pflichten auferlegt werden.177 Der Einspruch müsste also die Wirkung haben, die Verpflichtungen, die sich für den annehmenden Staat aus dem Menschenrechtsschutzvertrag ergeben, zu dem der Vorbehalt erklärt wurde, zu erweitern. Orientiert man sich dabei streng am derzeit geltenden Vorbehaltsrecht, scheint eine solche Erweiterung stattzufinden. Durch die Annahme des Vorbehalts wird nicht nur der Vorbehaltsstaat im Verhältnis zum annehmenden Staat in dem Maße, wie der Vorbehalt es vorsieht, von seinen Vertragspflichten frei, sondern in gleicher Weise auch der annehmende Staat im Verhältnis zum Vorbehaltsstaat. Wenn durch einen 173 Wetzel, S. 90; Tomuschat, BDGV 28 (1988), S. 10; Fitzmaurice, Max Planck UNYB 6 (2002), S. 38; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., 3. Kapitel, § 12, Rn. 23; Ballreich, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 945. 174 Chinkin, S. 25; vgl. Tomuschat, BDGV 28 (1988), S. 18 f. 175 Art. 35 WVK. 176 Vgl. hierzu Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., 3. Kapitel, § 12, Rn. 23, 27 ff.; Doehring, Rn. 348 f.; Chinkin, S. 35 f.; insbesondere zur Frage einer Ausnahme bzgl. objective régimes vgl. Barnes, Asian YIL 9 (2000), S. 103 ff. 177 Wetzel, S. 80 f.; Chinkin, S. 33; Ballreich, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 946; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., 3. Kapitel, § 12, Rn. 23, 26.

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Non-Benefitting-Einspruch die Rechtswirkung des Vorbehalts beseitigt wird, muss dies konsequenterweise bedeuten, dass die Annahme ihre die Pflichten des annehmenden Staates im Verhältnis zum Vorbehaltsstaat reduzierende Wirkung nicht mehr entfalten kann. Hält man sich strikt an die Vorschriften der WVK bedeutet dies also, dass das Verhalten des einsprechenden Staates eine Erweiterung der Pflichten des annehmenden Staates erzeugt, die dieser nicht will. Zwar handelt es sich bei einem Einspruch nicht um einen Vertrag, so dass der Pacta-tertiis-Grundsatz dem Wortlaut nach nicht eingreift. Die Erklärung eines Einspruchs ist allerdings ein Verhalten, das sehr eng mit dem Abschluss eines Vertrags in Zusammenhang steht. Insofern ergeben sich keine Bedenken, den Pacta-tertiis-Grundsatz auch auf die Erklärung von Vorbehalten und Einsprüchen anzuwenden. Auf den ersten Blick stellt ein Einspruch nach dem Non-Benefitting-Ansatz damit einen Verstoß gegen diesen Satz dar und damit auch einen unzulässigen Eingriff in die Souveränität eines annehmenden Staates. Allerdings auch nur auf den ersten Blick: Wie festgestellt, führt die besondere Struktur der primärrechtlichen Verpflichtungen im Menschenrechtsschutzvertrag dazu, dass die Regeln der WVK über Vorbehalte auf solche zu Menschenrechtsschutzverträgen nicht sinnvoll anwendbar sind.178 Dies bewirkt auch, dass eine Verletzung des Pacta-tertiis-Grundsatzes, wie sie sich auf den ersten Blick ergibt, durch einen Einspruch nach dem NonBenefitting-Ansatz nicht stattfindet. Im zwischenstaatlichen Verhältnis bestehen im Menschenrechtsschutzvertrag keine primärrechtlichen Rechte und Pflichten. Ein Vorbehalt hat auf dieser Ebene keine rechtlichen Auswirkungen und entfaltet diese nur im Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen. Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen einem annehmenden Staat und dessen Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen hat der Vorbehalt dagegen nicht. Der annehmende Staat bleibt diesen gegenüber weiterhin in dem Maße verpflichtet, wie der Vertrag es vorsieht. Da auf zwischenstaatlicher Ebene keine Rechte und Pflichten entstehen, kann die wechselseitige Pflichtenreduzierung, wie sie von der WVK normiert wird, im Falle der Annahme eines Vorbehalts zu einem Menschenrechtsschutzvertrag nicht stattfinden. Der Umfang seiner vertraglichen Verpflichtungen ändert sich für einen Staat durch die Annahme daher faktisch nicht. Ein Einspruch mit Non-Benefitting-Wirkung kann sich daher ebenfalls nicht auf den Umfang dieser Verpflichtungen auswirken. Wenn der annehmende Staat vor Erklärung des Einspruchs in vollem Umfang an die vertraglichen Verpflichtungen gebunden war, so kann durch einen solchen Einspruch keine Erweiterung seiner Verpflichtungen mehr stattfinden. Der Pacta-tertiis-Grundsatz wird daher durch einen Einspruch mit Non-Benefitting-Wirkung nicht verletzt. Dem einsprechenden Staat wird kein fremder Wille aufgezwungen. Er wird zu nichts verpflichtet, was er nicht will, und was er nicht durch die Ratifikation des betreffenden Vertrags für sich schon als bindend anerkannt hat. Der Non-Benefitting-Ansatz wirft somit auch bezüglich der Souveränität anderer Staaten als dem Vorbehaltsstaat keine Probleme auf. 178

s. o. Kapitel 3, C. III. 1. a).

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Neben diesen rechtlichen Fragen, die sich im Hinblick auf den Einsatz des NonBenefitting-Ansatzes und seiner Auswirkungen auf die Souveränität der Staaten, die dem Vorbehalt nicht widersprochen haben, ergeben, dürfen auch politische Fragen nicht vollständig außer Acht gelassen werden. Auch diese können die Akzeptanzchancen dieses Ansatzes beeinflussen. Zumindest politisch erscheint es problematisch, wenn die Annahme eines Vorbehalts durch einen Staat im Wege eines Einspruchs mit Non-Benefitting-Wirkung durch einen anderen Staat mit Wirkung für alle anderen Vertragsparteien ignoriert werden kann. Der annehmende Staat könnte sich in einer solchen Situation zumindest politisch bevormundet fühlen. Auch diesem Problem lässt sich jedoch mit einem Verweis auf den Pflichtencharakter eines Menschenrechtsschutzvertrags begegnen. Wie schon der IGH anerkannt hat, dienen Menschenrechtsschutzverträge nicht dem Individualinteresse einzelner Staaten, sondern einem Interesse der Staatengemeinschaft am Schutz höherer Werte.179 Sie errichten eine objektive Ordnung zum Schutze der Menschenrechte als solchem. Wenn ein Staat einen solchen Vertrag ratifiziert, erkennt er damit den Menschenrechtsschutz als einen über seinem Individualinteresse stehenden Wert an. Er bekundet sein Interesse an einer möglichst weitgehenden Umsetzung des Vertragsinhalts. Die Annahme eines Vorbehalts steht auch im Hinblick auf ihre politische Wirkung einem solchen Interesse entgegen, denn durch Annahme eines Vorbehalts erklärt sich der annehmende Staat einverstanden damit, dass durch einen anderen Staat der Menschenrechtsschutz nicht in der bestmöglichen Weise gefördert wird. Wenn dann ein anderer Staat durch einen Non-Benefitting-Einspruch versucht, die optimale Förderung des Menschenrechtsschutzes wiederherzustellen, muss dies letztendlich auch im politischen Interesse des annehmenden Staates liegen. Sein spezielles Individualinteresse an der Annahme des Vorbehalts muss in einem solchen Fall hinter dem kollektiven Interesse der übrigen Staaten an der optimalen Förderung des Menschenrechtsschutzes zurücktreten.180 Angesichts der Tatsache, dass sich damit nicht einmal die rechtlichen Pflichten des annehmenden Staates ändern, sollte im Interesse des Menschenrechtsschutzes die mögliche Bevormundung des annehmenden Staates von diesem auch politisch hinzunehmen sein. Dies gilt entsprechend auch für den Vorbehaltsstaat. Insofern bestehen ebenfalls keine Probleme im Hinblick auf den Satz „Par in parem non habet juridictionem.“ Schließlich bleibt die Frage, wie sich erklären lässt, dass bei einer Anerkennung des Non-Benefitting-Ansatzes der einsprechende Staat quasi eine Sprecherfunktion für die übrigen Staaten einnimmt, ohne hierzu ausdrücklich ermächtigt zu sein. Auch dieses kann nur mit Hilfe der Struktur des Menschenrechtsschutzvertrags 179 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 23., vgl. den Einspruch Schwedens gegen die Vorbehalte der USA zum CCPR, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 14, S. 133 f. 180 Vgl. Ballreich, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 948, der dieses Argument zwar ausdrücklich für rechtliche Verpflichtungen bzw. vertragliche Pflichten ablehnt, hinsichtlich politischer oder nicht bindender Verpflichtungen diese Ansicht jedoch wohl befürwortet.

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begründet werden. Wenn durch solche Verträge keine Individualinteressen einzelner Staaten geschützt werden, sondern eine objektive Ordnung errichtet wird, die auf dem Interesse der Gemeinschaft aller Vertragsparteien am Menschenrechtsschutz als solchem fußt, muss auch jeder Staat als Teil dieser Gemeinschaft das Recht und sogar die Pflicht haben, durch sein Verhalten dazu beizutragen, dass diese Ordnung möglichst weitgehend eingehalten wird.181 Dies kann auch dadurch geschehen, dass mit Hilfe eines Non-Benefitting-Einspruchs die Infragestellung dieser Ordnung durch einen Vorbehalt beseitigt wird. Da für solche Verträge ein Gesamtinteresse aller Staaten an der möglichst weitgehenden Umsetzung ihres Inhalts angenommen werden muss, müssen es auch alle Staaten akzeptieren, wenn einer von ihnen eine solche Schutzoptimierung zu erreichen versucht. cc) Anwendungsprobleme Wie nunmehr festgestellt, lassen sich die rechtlichen Probleme, die mit der Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes verbunden sind, lösen. Bei der Untersuchung, ob ein solcher Ansatz als mögliche Grundlage einer Reform des Vorbehaltsrechts zu Menschenrechtsschutzverträgen Chancen auf Akzeptanz in der Staatenwelt hat, muss der Blick aber genauso darauf gerichtet werden, ob diese Methode praktisch anwendbar ist. Auch hierbei ergeben sich Probleme. Zum einen ist fraglich, ob ein Einspruch mit Non-Benefitting-Wirkung gegen jeden Vorbehalt zu einem Menschenrechtsschutzvertrag erklärt werden dürfen soll oder nur gegen bestimmte Vorbehalte. Sofern man sich für die letzte Lösung entscheidet, muss darüber hinaus geklärt werden, zu welchen Vorbehaltstypen ein solcher Einspruch möglich sein soll. Zum anderen kann der Non-Benefitting-Ansatz nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sich die Wirkung solcher Einsprüche auch effektiv durchsetzen lässt. Wie dies gegenüber dem Vorbehaltsstaat geschehen kann, ist ebenfalls zu klären. (1) Vorbehaltstypen Zur Bestimmung, welche Vorbehaltstypen für einen Einspruch nach dem NonBenefitting-Ansatz geeignet sind, bieten sich verschiedene Möglichkeiten an. Will man eine möglichst große Orientierung am derzeit geltenden Vorbehaltsrecht erreichen, empfiehlt sich zunächst die Methode, Non-Benefitting-Einsprüche nur gegen solche Vorbehalte zuzulassen, die i. S. d. Art. 19 lit. c WVK unvereinbar mit Ziel und Zweck des jeweiligen Vertrags sind.182 Chancen solchen Vorgehens auf Akzeptanz könnten wegen dessen Ähnlichkeit mit dem derzeit geltenden Recht bestehen. Weiterhin haben sich die Staaten, die bislang nach dem Non-Benefitting181 Vgl. Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 210 f.; so wohl auch Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 669. 182 Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 204.

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Ansatz vorgegangen sind, meist darauf berufen, der betreffende Vorbehalt sei unvereinbar mit Ziel und Zweck des Vertrags.183 Dennoch überzeugt der Ansatz nicht, Non-Benefitting-Einsprüche nur gegen solche Vorbehalte zu erlauben, die unvereinbar mit Ziel und Zweck des Vertrags sind. Der Grund dafür liegt darin, dass solche Einsprüche zu Vorbehalten zu Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur, also vor allem zu Menschenrechtsschutzverträgen, erklärt werden können sollen. Grundvoraussetzung für die Tauglichkeit dieser Methode ist mithin, dass sich eindeutig feststellen lässt, was Ziel und Zweck eines solchen Vertrags ist. Nur dann könnte auch sicher festgestellt werden, ob ein Non-Benefitting-Einspruch zulässig wäre. Da die Begriffe Ziel und Zweck eines Vertrags jedoch in hohem Maße unbestimmt sind, kann im Hinblick auf Menschenrechtsschutzverträge eine solche Feststellung nie eindeutig getroffen werden.184 Eine weitere Lösungsmöglichkeit könnte darin liegen, die Entscheidung, welche Vorbehalte einem Non-Benefitting-Einspruch zugänglich sein sollen, einer übergeordneten neutralen Instanz zu überlassen. Erst wenn diese feststellen würde, dass ein Vorbehalt für einen Einspruch nach dem Non-Benefitting-Ansatz geeignet ist, könnten die Staaten einen solchen erklären. Eine solche Konstruktion mutet jedoch künstlich und kompliziert an. Sie lässt weiterhin einige elementar wichtige Fragen offen, weshalb auch dieser Lösungsansatz verworfen werden muss. Zunächst müsste festgestellt werden, welche internationale neutrale Instanz überhaupt kompetent wäre, eine solche Entscheidung zu treffen. In Betracht könnte man dabei zum einen die durch einen Teil der verschiedenen Menschenrechtsschutzverträge etablierten Vertragsgremien ziehen, beispielsweise das Human Rights Committee, den Ausschuss gegen Frauendiskriminierung,185 den Ausschuss für die Rechte des Kindes,186 den Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung187 oder den Ausschuss gegen Folter,188 zum anderen internationale Gerichte wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder den IGH. Zweifellos zur Entscheidung über die Zulässigkeit von Vorbehalten befugt ist der EGMR. Seine Kompetenz dazu hat er in der Belilos-Entscheidung unterstrichen. Sie wird von den Vertragsparteien der EMRK anerkannt.189 Würde man den EGMR zum Entscheidungsorgan darüber machen, welche Art Vorbehalt zur EMRK einem Non-Benefitting-Einspruch zugänglich sein soll, würde man seine Kompetenz wieder reduzieren. Er wäre dann nicht weiter derjenige, der über das rechtliche Schicksal eines Vorbehalts endgültig entscheidet, sondern seine Urteile 183 184 185 186 187 188 189

s. o. Kapitel 2, F. II.; vgl. Klabbers, Finnish YIL 8 (1997), S. 143 f. s. o. Kapitel 3, C. III. 1. b). Art. 17 CEDAW. Art. 43 CRC. Art. 8 CERD. Art. 17 CAT. s. o. Kapitel 4, B. I. 6.

13 Behnsen

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würden nur noch die Vorstufe zu einer abschließenden Entscheidung durch die Staaten bilden. Für eine solche Reduzierung der Kompetenz des EGMR sind keine Gründe erkennbar, insbesondere auch gerade weil die Mitgliedstaaten der EMRK dessen weitergehende Kompetenz anerkennen. Folgte man dieser Lösung, würde der Non-Benefitting-Ansatz mithin einen nicht wünschenswerten Rückschritt bei der Entwicklung einer möglichst umfassenden Garantie des Menschenrechtsschutzes bedeuten.190 Die von verschiedenen anderen Menschenrechtsschutzverträgen etablierten Vertragsgremien sind nicht zur Entscheidung darüber, ob ein Non-Benefitting-Einspruch zu einem Vorbehalt zulässig sein soll, geeignet. Ihre Kompetenzen sind nicht darauf zugeschnitten, den Staaten verbindliche Vorgaben über den Umgang mit Vorbehalten zu machen. Keines dieser Vertragsgremien besitzt die Kompetenz, bindende Entscheidungen über Streitigkeiten aus dem Vertrag gegenüber den Vertragsparteien zu treffen.191 So hat der Ausschuss gegen Frauendiskriminierung lediglich die Aufgabe, Staatenberichte zu prüfen, Vorschläge zu machen und allgemeine Empfehlungen abzugeben.192 Auch bei der Prüfung von Individualbeschwerden kann er nur nicht bindende Vorschläge machen.193 Ersteres gilt auch für den Ausschuss für die Rechte des Kindes.194 Eine Individualbeschwerde ist nach der Kinderrechtskonvention nicht einmal vorgesehen. Der Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung kann im Falle zwischenstaatlicher Streitigkeiten nur einen Vermittlungs- beziehungsweise einen Lösungsvorschlag machen,195 ebenso bei Individualbeschwerden.196 Der Ausschuss gegen Folter ist zum einen zuständig für die Prüfung von Staatenberichten und zur vertraulichen Prüfung von Hinweisen auf systematische Folterungen. Er kann in solchen Verfahren aber auch nur allgemeine Bemerkungen und Vorschläge machen.197 Zum anderen ist er im Staaten- und Individualbeschwerdeverfahren lediglich befugt, seine guten Dienste für eine gütliche Regelung zur Verfügung zu stellen198 oder einen Bericht vorzulegen199 beziehungsweise seine Auffassungen mitzuteilen. 200 Weder 190 Abgesehen davon, dass eine solche Lösung nur im Geltungsbereich der EMRK Wirkung entfalten könnte, der in dieser Hinsicht gegenüber dem Rest der Welt ohnehin als „Sondergebiet“ angesehen werden muss. Eine allgemeingültige Lösung kann hieraus daher ebenfalls nicht erwachsen. 191 Vgl. Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 680; ders., NYIL 16 (1985), S. 129; Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 246. 192 Art. 20, 21 CEDAW; bislang hat der Ausschuss im Bereich des Vorbehaltsrechts daher nur wenig erreichen können, vgl. Lijnzaad, S. 367. 193 Art. 7 Abs. 3 Optional Protocol to the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women. 194 Art. 44, 45 lit. d CRC. 195 Art. 11 – 13 CERD. 196 Art. 14 CERD. 197 Art. 19 Abs. 3, Art. 20 Abs. 4 CAT. 198 Art. 21 Abs. 1 lit. e CAT. 199 Art. 21 Abs. 1 lit. h CAT.

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in der Frauenrechtskonvention noch in der Rassendiskriminierungskonvention, der Kinderrechtskonvention oder der Antifolterkonvention finden sich darüber hinaus Hinweise, die auf eine spezielle Kompetenz der betreffenden Organe bezüglich der rechtlich bindenden Überprüfung von Vorbehalten hindeuten.201 Das Human Rights Committe hat in General Comment No. 24 versucht, eine solche Kompetenz für sich zu begründen. Im Staatenberichtsverfahren beschränkt sich seine Aufgabe jedoch auf die Prüfung der Berichte und die Abgabe allgemeiner Bemerkungen.202 Im Staatenbeschwerdeverfahren soll es seine guten Dienste für eine gütliche Einigung zur Verfügung stellen und einen Bericht vorlegen.203 Im Individualbeschwerdeverfahren hat es seine Auffassungen den Beteiligten mitzuteilen. 204 Dies zeigt, dass auch eine Kompetenz des Human Rights Committees, eine verbindliche Entscheidung über die Gültigkeit eines Vorbehalts zu treffen, sich nicht aus dem Vertragstext herleiten lässt.205 Die zum Teil bitteren Reaktionen einiger Staaten auf General Comment No. 24 zeigen darüber hinaus, dass die Staatenwelt nicht gewillt ist, eine solche dennoch anzuerkennen.206 Insofern kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Human Rights Committee befugt ist, eine verbindliche Entscheidung darüber zu treffen, ob zu einem Vorbehalt ein Non-Benefitting-Einspruch erklärt werden können soll oder nicht. Die Methode, die Feststellung, welche Vorbehalte einem Non-Benefitting-Einspruch zugänglich sein sollen, an die Entscheidung eines übergeordneten neutralen Organs zu koppeln, ist daher nur praktikabel, wenn die Staaten eine Änderung aller betreffenden Verträge vornehmen. Dass dies geschieht, ist angesichts der Tatsache, dass Staaten generell bei der ausdrücklichen Änderung von Verträgen wenn überhaupt nur sehr zurückhaltend vorgehen, mehr als zweifelhaft. Es würde darüber hinaus ein sehr kompliziertes System errichtet werden, so dass die Entscheidung, ob ein Vorbehalt im Sinne des Non-Benefitting-Ansatzes ergehen soll, einen sehr langen Zeitraum in Anspruch nehmen würde. Dadurch wären Probleme mit der Jahresfrist zur Erklärung eines Einspruchs vorprogrammiert. Nach dem derzeitigen Stand des Rechts ist daher insgesamt festzustellen, dass die besagten Vertragsgremien nicht in der Lage sind, eine Entscheidung über die Tauglichkeit eines Vorbehalts für einen Einspruch nach dem Non-Benefitting-Ansatz zu treffen. Bei Anwendung dieser Methode würde daneben das Problem entstehen, wie mit VorbehalArt. 22 Abs. 7 CAT. Einer solchen Kompetenz verschiedener Vertragsorgane steht auch Pellet kritisch gegenüber, UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 81 f., Ziff. 239 f., S. 87, Ziff. 252. 202 Art. 40 Abs. 4 CCPR. 203 Art. 41 Abs. 1 lit. e, h CCPR. 204 Art. 5 Abs. 4 des Fakultativprotokolls zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UNTS Bd. 999, S. 302, im Folgenden: 1. OP CCPR oder „erstes Zusatzprotokoll zum CCPR“). 205 Pellet, UN Doc. A / CN.4 / 477 / Add. 1, S. 81, Ziff. 237; Baylis, Berkeley JIL 17 (1999), S. 315. 206 Vgl. Cede, in: FS Ginther, S. 26; Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 191. 200 201

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ten zu verfahren ist, die sich auf Menschenrechtsschutzverträge beziehen, die kein solches Vertragsorgan vorsehen, wie beispielsweise die Genfer Flüchtlingskonvention. Der IGH besitzt die Kompetenz, verbindliche Urteile im zwischenstaatlichen Verhältnis zu fällen.207 Dennoch ist auch er nicht geeignet, um als neutrale Instanz zu fungieren, die die hier angesprochenen Entscheidungen treffen kann.208 Seine Urteile entfalten zwar rechtliche Bindung, dies jedoch nur für die Streitparteien.209 Er könnte daher nicht allgemein verbindlich entscheiden, ob ein Vorbehalt einem Non-Benefitting-Einspruch zugänglich ist oder nicht. Da der Non-Benefitting-Ansatz aber nur dann sinnvoll angewandt werden kann, wenn ein Einspruch hiernach seine Wirkung nicht nur im bilateralen Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat entfaltet, würde auch eine Entscheidung des IGH in dieser Frage nicht weiterhelfen. Darüber hinaus bestünde das Problem, dass der IGH im Streitverfahren nicht von sich aus tätig werden kann, sondern nur dann, wenn er durch einen Staat angerufen wird und der Klagegegner sich der Jurisdiktion des Gerichtshofs unterworfen hat.210 Der Vorbehaltsstaat hätte es also immer in der Hand, durch Verweigerung, Rücknahme oder Beschränkung seiner Unterwerfungserklärung zu verhindern, dass über seinen Vorbehalt in der beschriebenen Weise entschieden wird. Die Erstellung eines Rechtsgutachtens durch den IGH211 wäre mangels dessen rechtlich bindender Wirkung ebenso wenig geeignet.212 Ferner würde sich der IGH in Widerspruch zu seiner eigenen Spruchpraxis setzen, sollte er eine Kompetenz zur bindenden Entscheidung in Vorbehaltssachen reklamieren. Im Gutachten zur Völkermordkonvention hatte er die Wächterrolle der Vertragsstaaten im Bereich des Vorbehaltsrechts noch ausdrücklich anerkannt.213 Die Methode, die Zugänglichkeit eines Vorbehalts für einen Non-Benefitting-Einspruch durch eine unabhängige internationale Instanz überprüfen zu lassen, scheitert mithin bereits daran, dass eine Instanz, die eine solche Entscheidung verbindlich treffen könnte, derzeit nicht existiert. Selbst wenn man eines der genannten Organe als kompetent ansehen würde, würde dies dennoch nicht bedeuten, dass diese Methode funktionieren könnte. Ein solches Organ kann nur dann eine Entscheidung treffen, wenn es eine Entscheidungsgrundlage besitzt. Es müssten also Kriterien existieren, die darüber Auskunft Art. 59 IGH-Statut. Vgl. Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 126. 209 Art. 59 IGH-Statut. 210 Vgl. Art. 40, Art. 36 IGH-Statut. 211 Art. 65 IGH-Statut. 212 Vgl. Baylis, Berkeley JIL 17 (1999), S. 317. 213 Der Gerichtshof nahm zwar an, dass Ziel und Zweck eines Vertrags die Freiheit der Staaten bei ihrer Entscheidung über Anbringen eines Vorbehalts und Erklärung eines Einspruchs begrenze, ging aber stets davon aus, dass es diese Instrumente sind, die über die Rechtswirkung eines Vorbehalts entscheiden, IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 24; vgl. Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 126. 207 208

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geben, gegen welche Vorbehaltstypen ein Einspruch mit Non-Benefitting-Wirkung erklärt werden darf. Wie eben dargelegt, kann dies nicht der Ziel-und-Zweck-Test nach Art. 19 lit. c. WVK sein. Weiterhin ist es gerade das Ziel dieser Ausführungen, festzustellen, welche Vorbehalte einem solchen Einspruch zugänglich sind. Würde man diese Entscheidung auf ein neutrales Organ verlagern, ohne verbindliche Kriterien gefunden zu haben, bedeutete dies einen Zirkelschluss. Man kann Entscheidungskriterien nicht dadurch finden, dass man die Lösung in der Existenz einer Entscheidungsinstanz festsetzt, die wiederum nach Entscheidungskriterien suchen müsste. Schließlich bleibt die Frage offen, inwieweit Staaten insgesamt bereit wären, solche Entscheidungen zu akzeptieren. Wie die Reaktionen auf General Comment No. 24 gezeigt haben, sind Staaten in der Regel unwillig, Entscheidungen internationaler Instanzen im Bereich des Vorbehaltsrechts anzuerkennen.214 Die Europaratsstaaten mögen hier bezüglich des EGMR eine Ausnahme machen. Diese beruht aber darauf, dass dessen Kompetenz in der EMRK verbindlich festgelegt ist. Ansonsten ist kaum zu erwarten, dass Staaten, bevor sie einen Einspruch mit NonBenefitting-Wirkung erklären, zunächst jedes Mal eine internationale Instanz hierfür um Erlaubnis bitten werden. Zusammengefasst sprechen also sowohl praktische als auch logische Gründe dagegen, diese Methode weiter zu verfolgen. Schließlich bietet sich die Methode an, die Entscheidung in das Ermessen der Staaten zu stellen. Dieses hätte den Vorteil, dass eine große Anlehnung an das derzeit geltende Recht gegeben wäre. Nach der WVK sind Staaten in ihrer Entscheidung frei, ob und gegen welchen Vorbehalt sie einen Einspruch erklären und gegen welchen nicht.215 Wären sie außerdem befugt, selbst darüber zu entscheiden, gegen welche Vorbehalte sie mit Non-Benefitting-Einsprüchen vorgehen wollen, und wären sie nicht an die Entscheidung eines internationalen Gerichts oder einer sonstigen übergeordneten Instanz gebunden, würde ein solcher Ansatz größeren Respekt vor staatlicher Souveränität bezeugen. Die Chance auf Akzeptanz dieser Methode dürfte wegen dieser souveränitätsschonenden Wirkung mithin groß sein. Dieses lässt sich auch anhand der besagten Reaktionen auf General Comment No. 24 belegen. Wenn einige Staaten darin die Kompetenz eines internationalen Organs zur Überprüfung von Vorbehalten vehement ablehnten, so ist zu erwarten, dass diese Staaten mit einer Lösung, die ihre Kompetenz in dieser Frage weiterhin anerkennt, deutlich zufriedener sein werden. Trotz ihrer Vorteile ist aber auch diese Lösung nicht unproblematisch.216 Die Entscheidung darüber, auf welche Vorbehalte mit einem Non-Benefitting-Ein214 Vgl. Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 33; Cede, in: FS Ginther, S. 26; Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 191; ebenso die Äußerungen der Staatenvertreter, die sich im 6. Committee der Generalversammlung gegen eine Sonderbehandlung von Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen aussprachen, s. o. Fußnote Nr. 289 in Kapitel 2. 215 Vgl. Cede, in: FS Ginther, S. 23. 216 Vgl. Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 669.

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spruch reagiert werden darf, in das Ermessen der Staaten zu stellen, bedeutet, die Zulässigkeit eines solchen Einspruchs für jeden Vorbehalt anzuerkennen. Jeder Staat wäre in der Lage, nach seinem Ermessen auf jeden Vorbehalt in dieser Weise zu antworten. Es erscheint zunächst fraglich, ob dieses praktisch zu einer Verbesserung der Vorbehaltssituation führen kann. Wenn es jeder Vertragspartei eines Menschenrechtsschutzvertrags erlaubt ist, einseitig die Wirksamkeit jedes Vorbehalts einer anderen Vertragspartei zu beseitigen, kann dies dazu führen, dass Staaten sehr vorsichtig beim Beitritt oder Abschluss von Menschenrechtsschutzverträgen unter Vorbehalt werden. Ein einziger Einspruch würde genügen, um den Staat voll an die vertraglichen Verpflichtungen zu binden. Dabei muss dieser noch nicht einmal aus dem Gedanken des optimalen Schutzes der Menschenrechte an sich heraus motiviert sein. Denkbar erscheint auch, dass ein Staat dem Vorbehalt eines anderen Staates aus politischen Gründen widerspricht, sei es auch nur, um alte Rivalitäten zu pflegen. Oberflächlich betrachtet mag eine solche Zurückdrängung von Vorbehalten durch Anwendbarkeit des Non-Benefitting-Ansatzes auf jeden Vorbehalt wünschenswert erscheinen. Gerade der Gedanke des größtmöglichen Schutzes der treaty integrity lässt darauf schließen. Besteht jedoch das Risiko, trotz der Ratifikation eines Vertrags unter Vorbehalt plötzlich dennoch im vollen Maße an die vertraglichen Pflichten gebunden zu werden, kann die Situation eintreten, dass Staaten, die gewillt sind, nahezu alle vertraglichen Pflichten einzuhalten, und die lediglich einen zu vernachlässigenden Vorbehalt anbringen wollen, entscheiden dem Vertrag lieber insgesamt fernzubleiben, als ihn unter dem beschriebenen Risiko zu ratifizieren.217 Es tritt damit eine ähnliche Problematik auf, wie sie schon in Bezug auf den Lösungsansatz identifiziert wurde, überhaupt keine Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen zuzulassen.218 Trotz dieser Probleme ist die Methode, die Entscheidung darüber, welche Vorbehalte für einen Einspruch nach dem Non-Benefitting-Ansatz geeignet sein sollen, in das Ermessen der Staaten zu stellen, die einzig mögliche. Wenn man eine weitere Anwendung des Ziel-und-Zweck-Tests vermeiden will, erscheinen die mit dieser Methode verbundenen Probleme gegenüber denjenigen, die bei einer Verlagerung der Entscheidung auf eine übergeordnete Instanz bestehen würden, als weniger gravierend.219 Konsequenterweise bedeutet dies, dass der Non-Benefitting-Ansatz auf alle Vorbehalte anwendbar sein muss. Eine Eingrenzung auf bestimmte Vorbehalte ist mangels anderer zur Verfügung stehender Kriterien nicht möglich. Erinnert sei dabei noch einmal an die Vorteile dieser Lösung. Sie orientiert sich eng am derzeit geltenden Recht, das eine Beschränkung der Vorbehalte, zu denen ein Einspruch erklärt werden kann, ebenfalls nicht normiert. Die Gefahr, dass Staaten aus politischen Erwägungen, die mit den Gedanken des Menschenrechtsschut217 Erinnert sei in diesem Zusammenhang erneut an die Vorbehalte verschiedener Staaten zur Frauenrechtskonvention, die sich auf die Besetzung des Amts des monarchischen Staatsoberhaupts ausschließlich mit männlichen Personen bezogen, s. o. Kapitel 3, C. III. 1. b). 218 s. o. Kapitel 4, B. I. 1. 219 Vgl. Cede, in: FS Ginther, S. 34.

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zes nichts zu tun haben, Vorbehalten mit Non-Benefitting-Wirkung widersprechen, allein um Rivalitäten zu pflegen, ist zwar anzuerkennen. Allerdings besteht daneben die Chance, dass sich dieses Problem auch auf politischer Ebene löst. Bei der Neuverhandlung von Verträgen könnte ein möglicher Vorbehaltsstaat versuchen zu erreichen, dass seine Vorstellungen bereits in den Vertragstext – beispielsweise im Wege einer Öffnungsklausel – einfließen.220 Weiterhin bestünde für den Staat, der in missbräuchlicher Weise einen Einspruch erklärt, das Risiko, dass der Vorbehaltsstaat in einer ähnlichen Situation ihm gegenüber in der gleichen Weise auftritt. Staaten, die einen Non-Benefitting-Einspruch erheben, müssen einen solchen im Zweifel auch gegen eigene Vorbehalte gelten lassen.221 Insofern dürfte sich das Missbrauchsrisiko in Grenzen halten. Es darf weiterhin nicht übersehen werden, dass nach dem derzeit geltenden Vorbehaltsrecht ein erhebliches Missbrauchsrisiko dahingehend besteht, dass der Vorbehaltsstaat einen Vorbehalt dazu nutzt, Vertragspartei zu werden, ohne materielle Verpflichtungen einzugehen.222 Hinzu kommt, dass Staaten bislang bei der Erklärung von Einsprüchen gegen Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen zurückhaltend geblieben sind.223 Eine Umkehr dieser Praxis ist auch bei Anerkennung des Non-Benefitting-Ansatzes zumindest in naher Zukunft wohl nicht zu erwarten. Mithin ist das Risiko, mit dem ein Vorbehaltsstaat bei Anerkennung dieser Methode behaftet würde, hinzunehmen.224 Die Tatsache, dass der Vorbehaltsstaat immer seinen Willen bekommt, egal wie andere Staaten reagieren, war schließlich einer der Kritikpunkte, die dazu geführt haben, das geltende Recht als auf Menschenrechtsschutzverträge nicht sinnvoll anwendbar zu identifizieren. Wenn nach dem Non-Benefitting-Ansatz für einen Vorbehaltsstaat das Risiko besteht, nicht immer sicher seinen Willen zu bekommen, wäre dies insofern auch rechtspolitisch ein positiver Effekt.225 (2) Umsetzung und Durchsetzung von Einsprüchen Nachdem die Frage, gegen welche Vorbehalte ein Einspruch nach dem NonBenefitting-Ansatz zulässig sein soll, beantwortet ist, schließt sich die Frage an, auf welche Weise einem solchen Einspruch zur Wirkung verholfen werden kann. Die Durchsetzbarkeit ist es, die letztendlich über die Effektivität eines Reformansatzes entscheidet.226 Unter Geltung der WVK stellt sich diese Frage nicht, da 220 Ähnlich bereits IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, Diss. Opinion des Richters Alvarez, ICJ Reports 1951, S. 43 221 Goodman, AJIL 96 (2002), S. 547. 222 Vgl. Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 675. 223 Lijnzaad, S. 365; Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 664; Clark, AJIL 85 (1991), S. 288 f.; Marks, ICLQ 39 (1990), S. 323; vgl. Vierdag, NYIL 25 (1994), S. 133. 224 Vgl. Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 667. 225 Vgl. Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 190 f.; Cede, in: FS Ginther, S. 30, 34. 226 Vgl. zur Wichtigkeit der Durchsetzbarkeit von Menschenrechten die Worte Viljoens: „In 1990, Henkin earmarked our age the age of rights. What this should become, in the 21st century, is the age of implementation“, Max Planck UNYB 8 (2004), S. 50.

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nach deren Vorschriften ein Einspruch die vom Vorbehaltsstaat bezweckte Pflichtenreduzierung bezüglich eines Menschenrechtsschutzvertrags nicht verhindern kann. Insofern sind Gedanken darüber, wie die Wirkung eines Einspruchs durchzusetzen ist, überflüssig, solange man die derzeit gültigen Regeln als ausreichend zur Behandlung von Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen ansieht. Anders verhält es sich, wenn man die Geltung des Non-Benefitting-Ansatzes annimmt. Hiernach hat ein Einspruch rechtliche Wirkung. Der Vorbehaltsstaat soll gegen seinen Willen in vollem Umfang an die vertraglichen Verpflichtungen gebunden werden. Der Non-Benefitting-Ansatz kann mithin nur dann als Grundlage einer Reform des Vorbehaltsrechts dienen, wenn es einen Weg gibt, dessen Wirkung gegenüber Staaten durchzusetzen, die dennoch ihren vertraglichen Verpflichtungen nur in dem im Vorbehalt vorgesehenen Ausmaß nachkommen. Nach dem derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung kommt nicht in Betracht, ein neutrales internationales Organ als zur Durchsetzung von Non-Benefitting-Einsprüchen befugt anzusehen. Die Argumente, mit denen die Antwort auf die Frage verneint wurde, ob ein internationales neutrales Organ kompetent ist, darüber zu entscheiden, gegen welche Arten Vorbehalte solche Einsprüche zulässig sind, gelten entsprechend.227 Lediglich der EGMR kann eine solche Kompetenz für sich beanspruchen, da seine Urteile auch in Bezug auf Vorbehalte zur EMRK für deren Vertragsparteien bindend sind und ihre Einhaltung durch das Ministerkomitee überwacht wird. Insbesondere im Wege der Individualbeschwerde kann der Gerichtshof diese Funktion ausüben. Voraussetzung dafür ist, dass der Beschwerdeführer in einem solchen Fall die Ungültigkeit eines Vorbehalts geltend macht.228 Auch im Wege des Staatenbeschwerdeverfahrens kann eine solche Entscheidung ergehen.229 Allerdings wäre und ist in keinem solchen Verfahren zwingend notwendig, dass vor einer Entscheidung über die Gültigkeit eines Vorbehalts durch den Gerichtshof ein Non-Benefitting-Einspruch von Seiten eines anderen Vertragsstaats erhoben wurde. Wegen der Sonderregelung in Art. 57 EMRK kann der Gerichtshof jederzeit über die Gültigkeit eines Vorbehalts verbindlich entscheiden. Insofern kann er als Entscheidungsorgan auch unter Geltung des Non-BenefittingAnsatzes auftreten. Diese Entscheidungsbefugnis ist jedoch nicht zwingend an die Geltung des Non-Benefitting-Ansatzes gekoppelt. Sie besteht auch ohne dessen Geltung. Andere internationale Organe kommen darüber hinaus nicht zur Durchsetzung von Non-Benefitting-Einsprüchen in Frage. s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (1); vgl. auch Kapitel 4, B. III. 5. a). So geschehen im Fall Belilos, vgl. EGMR, Case of Belilos v. Switzerland, 29. April 1988, Ziff. 36 f.; vgl., allerdings bzgl. der EKMR, Kälin, EuGRZ 14 (1987), S. 428. 229 Art. 46 bindet Vertragsparteien in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen, mithin auch im Staatenbeschwerdeverfahren. Es würde keinen Sinn machen, wenn der Gerichtshof ansonsten in Staatenbeschwerdeverfahren Verletzungen der EMRK feststellen könnte, ohne dass die Staaten diese danach abstellen müssten. Solche Verletzungen stellte der Gerichtshof z. B. im Verfahren Irland gegen das Vereinigte Königreich fest, EGMR, Case of Ireland v. United Kingdom, 18. Januar 1978, Ziff. 246; vgl. Grabenwarter, § 16, Rn. 1 ff.; Peters, § 37, S. 253 f. 227 228

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Daneben steht Staaten zur Reaktion auf Völkerrechtsverstöße das allgemeine völkerrechtliche Sanktionenrecht zur Verfügung, was vor allem die Instrumente Repressalie und Retorsion umfasst.230 Wenn ein Staat, nachdem ein Non-Benefitting-Einspruch gegen seinen Vorbehalt ergangen ist, seinen vertraglichen Pflichten nicht in vollem Umfang nachkommt, verstößt er nach diesem Ansatz gegen Völkervertragsrecht.231 Insofern liegt der Schluss nahe, die Durchsetzung von NonBenefitting-Einsprüchen den übrigen Vertragsstaaten zu überlassen und hierbei auf Repressalie und Retorsion zurückzugreifen. Ziel einer Repressalie ist es, den betroffenen Staat zur Einstellung seines völkerrechtswidrigen Verhaltens zu bringen.232 Ähnliches gilt für die Retorsion.233 Eine solche Lösung wirkt im Hinblick auf staatliche Souveränität weniger einschränkend als die Übertragung der Durchsetzung von Einsprüchen auf internationale Organe. Sie wäre weiterhin nicht nur die konsequente Weiterentwicklung des Non-Benefitting-Ansatzes, sondern auch des derzeit bestehenden Vorbehaltsrechts. Nach beiden Systemen liegt es in der Hand der Vertragsparteien, darüber zu entscheiden, welche Rechtswirkung ein Vorbehalt haben soll. Es wäre logisch, wenn es dann auch den Staaten obliegt, ihre Entscheidung durchzusetzen. Jedoch setzt die Zulässigkeit einer Repressalie als Reaktion auf einen Völkerrechtsverstoß grundsätzlich voraus, dass der reagierende Staat in eigenen Rechten verletzt ist.234 Die Struktur der Primärpflichten im Menschenrechtsschutzvertrag ist aber so angelegt, dass Rechte und Pflichten auf zwischenstaatlicher Ebene nicht existieren, sondern lediglich auf der Staat-Individuum-Ebene. Durch Nichteinhaltung seiner vollen vertraglichen Primärverpflichtungen verletzt der Vorbehaltsstaat zwar das Völkervertragsrecht. Er verletzt aber keine Rechte anderer Vertragsparteien. Insofern ist es diesen verwehrt, auf einen solchen Verstoß mit einer Repressalie aus eigenem Recht zu reagieren. Die Struktur menschenrechtsschutzvertraglicher Primärpflichten weist aber einen Weg, um auf die Repressalie zur Durchsetzung eines Non-Benefitting-Einspruchs dennoch zurückgreifen zu können. Zwar können Staaten diese nicht aufgrund einer eigenen Rechtsverletzung anwenden. Möglich ist aber eine Anwendung zu Gunsten der von der Verletzung betroffenen Individuen. Diese sind Rechtsträger der Primärverpflichtungen, die sich aus einem Menschenrechtsschutzvertrag ergeben. Ihnen gegenüber verletzt der Vorbehaltsstaat seine vertraglichen Verpflichtungen, wenn 230 Einige Autoren fordern, den Begriff „Repressalie“ heute durch den Begriff „countermeasure“ zu ersetzen, vgl. Simma, in: LA Eitel, S. 443 f.; allerdings wird der Ausdruck „Repressalie“ oder „reprisal“ nach wie vor weitgehend im Schrifttum verwendet. Er soll daher auch in dieser Arbeit benutzt werden. 231 Vgl. Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 658. 232 Doehring, Rn. 1030; ders., in: Essays in Honour of Tieya, S. 236; Tomuschat, ZaöRV 33 (1973), S. 186; Geiger, S. 380 f.; Partsch, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 201; Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 59, Rn. 45. 233 Shaw, S. 1022; Partsch, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 232; Geiger, S. 381. 234 Schilling, AVR 35 (1997), S. 438; Verdross / Simma, § 1342; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 188 III.; Tomuschat, ZaöRV 33 (1973), S. 185; Zemanek, ZaöRV 47 (1987), S. 35 f.; vgl. Partsch, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 201; Wengler, Bd. 1, S. 579 f.

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er trotz eines Non-Benefitting-Einspruchs die betreffenden Menschenrechte nicht achtet. Eine Repressalie mit dem Ziel, diese Verletzung zu beenden und einem Non-Benefitting-Einspruch zur Wirksamkeit zu verhelfen, wäre daher ein Eingreifen zur Durchsetzung eines fremden Rechts. Zwischenstaatliches Handeln würde auf die Staat-Individuum-Ebene durchschlagen. Im Bereich des Menschenrechtsschutzes ist die Möglichkeit, auf Menschenrechtsverletzungen mit Repressalien zu reagieren, auch wenn der handelnde Staat nicht unmittelbar Opfer der Verletzung ist, mittlerweile weitgehend anerkannt.235 Dies entspricht der Praxis einer Reihe von Staaten wie den USA, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz, Großbritannien, Österreich, Deutschland, Belgien sowie den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Jahre 1995.236 Eine Entwicklung dieser Praxis zu Völkergewohnheitsrecht dürfte in absehbarer Zeit stattfinden.237 Auch Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 54 der Draft articles on the Responsibility of States for internationally wrongful acts, die die ILC im Jahre 2001 verabschiedete,238 weisen darauf hin.239 Bislang wurde die Zulässigkeit solchen Vorgehens vor allem mit der Erga-omnes-Wirkung grundlegender Menschenrechte begründet.240 Demnach stellte die Verletzung grundlegender Menschenrechte durch einen Staat nicht nur eine Verletzung der Rechte der seiner Hoheitsgewalt unterstehen235 So bereits im Jahre 1964 Wengler, Bd. 1, S. 580; ebenso Kewenig, BDGV 22 (1982), S. 31, These 10; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 188 V.; Dzida, S. 265 ff.; Verdross / Simma, § 1343; Geiger, S. 381 f.; Simma, in: LA Eitel, S. 446 f.; ders., in: Delbrück, The Future of International Law Enforcement, S. 141; Schreuer, Kommentar während des Symposiums zum Thema „International Law Enforcement“, abgedruckt bei Delbrück, The Future of International Law Enforcement, S. 148; vgl. auch Doehring, in: Essays in Honour of Tieya, S. 241; Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 59, Rn. 46; Tomuschat, Diskussionsbeitrag während des Symposiums zum Thema „International Law Enforcement“, abgedruckt bei Delbrück, The Future of International Law Enforcement, S. 157 f.; ders., zustimmend zumindest für gravierende Menschenrechtsverletzungen in: Caflisch / Stein / ders., S. 18 f. 236 Vgl. zur Staatenpraxis die ausführliche Darstellung bei Dzida, S. 262 ff. 237 Dzida, S. 265; etwas vorsichtiger Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 188 V. 238 Abgedruckt unter GAOR, 56th Session, Suppl. 10, S. 43 ff., Ziff. 76 ff., UN Doc. A / 56 / 10. 239 Dort wird festgelegt, dass auch solche Staaten, die nicht durch den Völkerrechtsbruch eines anderen Staates verletzt sind, sich auf dessen Verantwortlichkeit berufen können, wenn u. a. die verletzte Pflicht die Staatengemeinschaft als solche berechtigte (Art. 48 Abs. 1 lit. b). Art. 54 stellt darüber hinaus klar, dass Gegenmaßnahmen zu Gunsten der durch die verletzte Verpflichtung Geschützten ergriffen werden dürfen. Auch wenn die ILC sich damit von einer ursprünglich noch klareren Formulierung entfernte, lässt auch der aktuelle Wortlaut der Draft articles darauf schließen, dass die Drittrepressalie im Bereich des Menschenrechtsschutzes nicht nur erlaubt sein soll, sondern sogar erwünscht ist; so auch Simma, in: LA Eitel, S. 446 f.; Pellet, NYIL 32 (2001), S. 75 f.; s. o. Fußnote Nr. 162 in Kapitel 4. 240 Kewenig, BDGV 22 (1982), S. 31, These 10, Dzida, S. 265; vgl. Wengler, Bd. 1, S. 580; Tomuschat, Diskussionsbeitrag während des Symposiums zum Thema „International Law Enforcement“, abgedruckt bei Delbrück, The Future of International Law Enforcement, S. 157 f.; vgl. Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 59, Rn. 46.

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den Individuen dar, sondern gleichzeitig eine Verletzung der Rechte aller anderen Staaten, zumindest aller Parteien des betreffenden Menschenrechtsschutzvertrags. Insofern waren indirekt auch alle Staaten als Staatengemeinschaft Opfer des völkerrechtswidrigen Handelns des die Menschenrechte verletzenden Staates. Als solche waren sie zur Repressalie berechtigt. Dieser Begründungsweg entspricht jedoch nicht vollständig der Pflichtenstruktur eines Menschenrechtsschutzvertrags. Die Erga-omnes-Wirkung grundlegender Menschenrechte kann nicht so weit verstanden werden, dass Staaten selbst zum Rechtsträger menschenrechtlicher Primärverpflichtungen gemacht werden.241 Allerdings ist es von der bislang vorherrschenden Meinung zu einer die Struktur des Menschenrechtsschutzvertrags berücksichtigenden Begründung nur ein kleiner Schritt. Es ist lediglich nötig, nicht mehr eine Rechtsverletzung auf Seiten der Staaten zu fordern, sondern eine Verletzung der Rechte der Individuen als Rechtsträger menschenrechtlicher Primärpflichten für eine Repressalie durch Staaten ausreichen zu lassen. Ein solcher Schritt ist angesichts der Tatsache, dass Individuen im Bereich des Menschenrechtsschutzes mittlerweile als partielle Völkerrechtssubjekte anerkannt sind, zulässig. Die Betroffenen selbst haben unter der Geltung der meisten Menschenrechtsschutzverträge keine Möglichkeit, einen Staat wirksam von der Verletzung ihrer Rechte abzuhalten. Es ist daher aus zwei Gründen konsequent, eine Repressalie durch Staaten wegen der Verletzung von Individualrechten zuzulassen. Zum einen wird hinsichtlich der Rechtsfigur der humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger eine solche Konstruktion ebenfalls vertreten. Dort wirkt der intervenierende Staat als Nothelfer der Individuen, macht also keine eigenen Rechte geltend, sondern fremde.242 Wenn dies schon bei einer so drastischen Maßnahme wie der humanitären Intervention, die meist unter Einsatz von Waffengewalt erfolgt, zulässig sein soll, so muss die Geltendmachung fremder Individualrechte im Wege der Repressalie, die grundsätzlich gewaltfrei zu erfolgen hat, erst recht zulässig sein.243 Zum zweiten entspricht eine solche Konstruktion dem Grundgedanken des Non-Benefitting-Ansatzes. Hier ist es ebenfalls das Handeln eines Staates, das seine Wirkung auf der Staat-Individuum-Ebene des Vorbehaltsstaats entfalten soll, ohne dass der einsprechende Staat auf zwischenstaatlicher Ebene im engeren Sinne Rechtsträger ist. Denkt man diese Systematik konsequent weiter, so ergibt sich, dass es einem Staat, der einen solchen Einspruch erklärt hat, möglich sein muss, gegen ein Verhalten des Vorbehaltsstaats, das der Wirkung des Einspruchs entgegensteht, in einer Weise vorzugehen, die ebenfalls von zwischenstaatlicher Ebene auf die Staat-Individuum-Ebene durchschlägt. Der Pflichtens. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1). s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1). 243 Zum Erfordernis der Gewaltfreiheit einer zulässigen Repressalie Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 59, Rn. 48; Zoller, S. 38 ff.; vgl. den 1. Grundsatz der Friendly Relations Declaration; Art. 50 Abs. 1 lit. a der Draft articles on the Responsibility of States for internationally wrongful acts; zu möglichen Ausnahmen Doehring, in: Essays in Honour of Tieya, S. 239. 241 242

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struktur eines Menschenrechtsschutzvertrags würde auf diese Weise Rechnung getragen. Dieses wollen auch die Anhänger der anerkannten These, die Zulässigkeit einer Repressalie gegen Menschenrechtsverletzungen mit der Erga-omnes-Wirkung der Menschenrechte zu begründen, nur dass diese Wirkung dabei wohl zu weit verstanden wird. Nach jener Vorstellung handelt der die Repressalie vornehmende Staat für die in ihren Rechten verletzte Staatengemeinschaft. Nach dem hier vertretenen Ansatz handelt er für ein anderes Völkerrechtssubjekt, nämlich die in ihren Rechten verletzten Individuen.244 Ein solcher Unterschied erscheint angesichts der Einigkeit, die hinsichtlich der generellen Zulässigkeit der Repressalie als Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen besteht, nicht groß.245 Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die hier vertretene Ansicht noch stärker Rücksicht auf die Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags nimmt. Zusammengefasst lässt sich die Zulässigkeit eines solchen Schrittes kurz und prägnant mit den Worten Bruno Simmas veranschaulichen, nach dessen Ansicht „omnes“ nicht nur Staaten sein können, sondern auch andere „Glieder der internationalen Gemeinschaft, die langsam aber sicher mit (umfassender) Rechtsträgerschaft ausgestattet werden“,246 mithin auch die durch Menschenrechtsschutzverträge geschützten Individuen. Schließlich wäre es widersprüchlich, wenn man im Bereich des einfachen Völkerrechts die Repressalie zuließe, in einem so wichtigen Bereich wie dem Schutz der Menschenrechte aber nicht.247 Somit bleibt festzustellen, dass der Einsatz einer Repressalie dem einsprechenden Staat eine zulässige Möglichkeit bietet, um sicherzustellen, dass der Vorbehaltsstaat sich nach einem Non-Benefitting-Einspruch an alle vertraglichen Verpflichtungen hält. Die Repressalie wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Staat keine Verletzung eigener Rechte rügen kann. Die Struktur des Menschenrechtsschutzvertrags liefert den Grund dafür, dass auch eine Geltendmachung der Rechte der durch den Vertrag berechtigten Individuen durch den einsprechenden Staat ausreichend ist. Bei der Auswahl des zur Repressalie eingesetzten Mittels ist lediglich zu beachten, dass die Repressalie wegen des Verbots der Repressalie zu Lasten Dritter nicht selbst eine Menschenrechtsverletzung darstellen darf.248 Ein anderes Ergebnis kommt auch nicht dadurch zustande, dass Repressalien innerhalb so genannter self-contained régimes grundsätzlich unzulässig sein sollen. 244 Insofern handelt er auch zu Gunsten der „beneficiaries of the obligation breached“ (Art. 54 der Draft articles on the Responsibility of States for internationally wrongful acts), diese Auslegung weicht damit auch nicht entscheidend von der Ansicht der ILC ab. 245 Ähnlich auch Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 188 V., die die Repressalie im Bereich des Menschenrechtsschutzes anerkennen, ohne explizit die Erga-omnes-Wirkung der Menschenrechte zu erwähnen. 246 Simma, in: LA Eitel, S. 447. 247 Verdross / Simma, § 1343, Geiger, S. 381; vgl. Simma, in: Delbrück, The Future of International Law Enforcement, S. 135. 248 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 757; vgl. Art. 50 Abs. 1 lit. b der Draft articles on the Responsibility of States for internationally wrongful acts.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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Solche Rechtssysteme zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein spezielles wirksames Verfahren zur Unterbindung von Verletzungen enthalten und daher die Repressalie als Teil der allgemeinen Durchsetzungsmechanismen des Völkerrechts nicht anwendbar sein soll.249 Nahezu kein Menschenrechtsschutzvertrag bietet jedoch den von ihm mit Rechten ausgestatteten Individuen eine Möglichkeit, ihre Rechte im Falle einer Verletzung wirksam durchzusetzen, die Vertragsverletzung also zu unterbinden.250 Menschenrechtsschutzverträge können daher grundsätzlich nicht als self-contained régimes angesehen werden.251 Abgesehen davon wird gegen diese Ansicht zu Recht der Vorwurf erhoben, dass die Bestimmung, wann ein selfcontained régime gegeben ist, nur sehr schwer genau vorgenommen werden kann.252 Eine Ausnahme gilt lediglich für die EMRK. Diese bietet mit der Individualbeschwerde eine wirksame Durchsetzungsmöglichkeit253 und kann daher als self-contained régime bezeichnet werden.254 Gerade aus diesem Grunde ist es aber auch nicht nötig, hinsichtlich der EMRK über eine Reform des Vorbehaltsrechts nachzudenken.255 Eine Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes mit der Möglichkeit der Durchsetzung solcher Einsprüche durch die Staaten ist hinsichtlich der EMRK nicht nötig. Allein die Einordnung der EMRK als self-contained régime bedeutet aber trotzdem nicht, dass die Repressalie zur Durchsetzung eines NonBenefitting-Einspruchs zu Vorbehalten zu anderen Menschenrechtsschutzverträgen unzulässig ist, solange diese keine vergleichbaren Durchsetzungsmechanismen enthalten.256 Die Retorsion setzt im Gegensatz zur Repressalie keinen vorangegangenen Völkerrechtsverstoß des Adressatenstaats voraus.257 Zwar erfolgt auch sie als Reaktion auf einen schädlichen oder unfreundlichen Akt des Adressatenstaats. Sie 249 So für das Diplomatenrecht IGH, United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran (United States of America v. Iran), 24. Mai 1980, ICJ Reports 1980, S. 41; vgl. Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 59, Rn. 47; Zemanek, ZaöRV 47 (1987), S. 35 f. 250 s. o. Kapitel 4. 251 Schreuer, Kommentar während des Symposiums zum Thema „International Law Enforcement“, abgedruckt bei Delbrück, The Future of International Law Enforcement, S. 148; Simma, NYIL 16 (1985), S. 135. 252 Schröder, in: Vitzthum, VölkerRt., 7. Abschn., Rn. 30; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 188 VI. 1.; Zemanek, ZaöRV 47 (1987), S. 41; vgl. Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 59, Rn. 47. 253 Simma, NYIL 16 (1985), S. 133. 254 Kritisch in dieser Frage Koskenniemi, UN Doc. ILC(LVI) / SG / FIL / CRD.1 / Add. 1, S. 22, Ziff. 146, S. 26, Ziff. 153. 255 s. o. Kapitel 4, B. I. 6. 256 Für eine Anwendbarkeit der Repressalie zur Durchsetzung des Menschenrechtsschutzes auch im Bereich der Menschenrechtsschutzverträge und der Figur des self-contained régimes kritisch gegenüberstehend Zemanek, ZaöRV 48 (1987), S. 41, der den Einsatz der Repressalie sogar für die Situation befürwortet, dass ein Staat trotz aller vertraglichen Maßnahmen seinen Verpflichtungen aus der EMRK nicht nachkommt. 257 Verdross / Simma, § 1335, Partsch, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 232.

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bedarf jedoch keiner besonderen Rechtfertigung, da sie selbst keinen Völkerrechtsverstoß darstellt.258 Die Nichterfüllung vertraglicher Verpflichtungen stellt einen Völkerrechtsbruch dar. Ein solcher ist immer auch gleichzeitig ein unfreundlicher Akt.259 Als Reaktion auf die Nichterfüllung menschenrechtsvertraglicher Verpflichtungen auch nach Erhebung eines Non-Benefitting-Einspruchs durch einen Vorbehaltsstaat ist die Retorsion daher zulässig. Ein Staat kann in einem solchen Fall versuchen, beispielsweise durch Schließung seiner Häfen für Schiffe des Vorbehaltsstaats oder die Beendigung von Entwicklungshilfe den Vorbehaltsstaat zum Einlenken zu bringen.260 Ob ein solches Vorgehen die gleichen Erfolgschancen haben kann wie eine Repressalie, die auch unter Einsatz völkerrechtswidriger Handlungen durchgeführt werden kann, kann hier dahin gestellt bleiben. Es bleibt lediglich festzuhalten, dass sowohl die Repressalie als auch die Retorsion als Durchsetzungsmittel nach dem allgemeinen Völkerrecht geeignet sind, um einem Non-Benefitting-Einspruch zur Wirkung zu verhelfen.261 Auch diplomatischer Schutz ist ein Mittel, um Individuen vor dem völkerrechtswidrigen Verhalten eines Staates zu schützen.262 Jedoch ist er zur allgemeinen Durchsetzung von Non-Benefitting-Einsprüchen ungeeignet. Nach dem Non-Benefitting-Ansatz stellt das Beharren auf die Wirkung eines Vorbehalts zwar einen Völkerrechtsverstoß dar, wenn der Vorbehaltsstaat sich den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen gegenüber dementsprechend verhält. Die Ausübung diplomatischen Schutzes durch einen anderen Staat ist aber nur dann zu Beendigung dieses Verstoßes zulässig, wenn er zur Schutzgewährung berechtigt ist. Er kann also entweder zu Gunsten eigener Staatsangehöriger handeln oder zu Gunsten derjenigen, deren Schutz ihm durch Vertrag oder durch Einsetzung als Schutzmacht übertragen ist.263 Zudem wird oftmals ein genuine link zwischen Staat und betroffenem Individuum verlangt.264 Die Fälle, in denen ein Staat die Wirkung eines Non-Benefitting-Einspruchs dadurch durchsetzen kann, dass er zu Gunsten der verletzten Individuen diplomatischen Schutz ausübt, sind daher begrenzt. Selbst wenn man anerkennt, dass auch Individuen sich eigenständig einer Schutzmacht unterstellen können, setzt dies noch immer voraus, dass es sich dabei um 258 Tomuschat, ZaöRV 33 (1973), S. 184 f.; Doehring, in: Essays in Honour of Tieya, S. 236; Zemanek, ZaöRV 47 (1987), S. 35. 259 Partsch, in: Bernhardt, EPIL, Bd. IV (Q – Z), S. 232, vgl. Doehring, Rn. 1025; Zoller, S. 5. 260 Zu diesen Mitteln als Retorsionsmittel vgl. Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 59, Rn. 44; zu weiteren Retorsionsmitteln Shaw, S. 1022. 261 Vgl. Tomuschat, in: Caflisch / Stein / ders., S. 18, der die Retorsion generell als geeignetes Mittel zur Durchsetzung von Menschenrechten ansieht. 262 Epping / Gloria, in: Ipsen, VölkerRt., 5. Kapitel, § 24, Rn. 32; Geck, in: Bernhardt, EPIL, Bd. I (A – D), S. 1046. 263 Epping / Gloria, in: Ipsen, VölkerRt., 5. Kapitel, § 24, Rn. 34 ff. 264 IGH, Nottebohm Case (Liechtenstein v. Guatemala), 6. April 1955, ICJ Reports 1955, S. 23; vgl. Geck, in: Bernhardt, EPIL, Bd. I (A – D), S. 1046; Doehring, Rn. 869.

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Einzelfälle handelt und ein zumindest stillschweigendes Interesse des Heimatstaates besteht.265 In diesen besonderen Fällen stellt die Ausübung diplomatischen Schutzes damit zwar ein Instrument dar, um die Wirkung des eines Non-Benefitting-Einspruchs im Einzelfall durchzusetzen. Diese Methode kann allerdings nicht dazu dienen, dies generell und in allgemeiner Form zu tun. Eine Ausweitung des diplomatischen Schutzes auf alle Individuen, die von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind oder sein können, würde die Figur des diplomatischen Schutzes aushöhlen und sich zu weit von der ihr ursprünglich zugrunde liegenden nationality rule entfernen, die davon ausgeht, dass zwischen einem Staat und seinen Bürgern ein so enges Verhältnis besteht, dass er diesen zu Hilfe eilen darf.266 Im Falle einer systematischen Menschenrechtsverletzung durch einen Staat an seinen eigenen Bürgern könnte diplomatischer Schutz von anderen Staaten daher nicht ausgeübt werden. Insgesamt bleibt aber dennoch festzuhalten, dass die Durchsetzung von Einsprüchen nach dem Non-Benefitting-Ansatz möglich ist. Sofern ein Vorbehaltsstaat sich trotz eines solchen Einspruchs nur im Maße des von ihm angebrachten Vorbehalts an Verpflichtungen aus einem Menschenrechtsschutzvertrag hält, haben andere Staaten die Möglichkeit, durch Einsatz der Durchsetzungsmethoden nach dem allgemeinen Völkerrecht – Repressalie und Retorsion – den Vorbehaltsstaat zum Einlenken zu bringen. In Einzelfällen steht daneben das Instrument des diplomatischen Schutzes zur Verfügung. Dieser Weg lehnt sich wiederum eng an das System des bestehenden Rechts an. Hiernach sind es die Staaten, die über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zu entscheiden haben. Der Non-Benefitting-Ansatz bietet eine Methode, wonach dieses auch bei Menschenrechtsschutzverträgen praktiziert und durchgesetzt werden kann. Wegen der bislang in der Staatenwelt weit verbreiteten Ablehnung des Ansatzes, internationale Organe über Zulässigkeit und Rechtswirkung eines Vorbehalts entscheiden zu lassen, ist daher zu erwarten, dass dieser Ansatz die Zustimmung der Staaten finden kann. dd) Geeignetheit des Non-Benefitting-Ansatzes als Reformgrundlage Der Non-Benefitting-Ansatz kann nur zur Grundlage einerREForm des Rechts der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen werden, wenn man die Bilateralisierung vertraglicher Verpflichtungen im Falle eines Vorbehalts aufgibt. Ein NonBenefitting-Einspruch ist nur sinnvoll, wenn er seine Wirkung nicht nur im Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat, sondern für alle Vertragsparteien gleichermaßen äußert. Weiterhin muss ein solcher Einspruch gegen Epping / Gloria, in: Ipsen, VölkerRt., 5. Kapitel, § 24, Rn. 37. Dolzer, in: Bernhardt, EPIL, Bd. I (A – D), S. 1069; ursprünglich wurde diese Regel vom StIGH im Panevezys-Saldutikis-Eisenbahnfall entwickelt, StIGH, The Panevezys-Saldutiskis Railway Case, 28. Februar 1939, PCIJ Ser. A / B, No. 76, S. 16; vgl. Geck, in: Bernhardt, EPIL, Bd. I (A – D), S. 1049; Doehring, Rn. 869. 265 266

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jeden Vorbehalt zulässig sein. Legt man diese Annahmen zugrunde, zeigt sich, dass mit der Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes eine Reihe von Vorteilen verbunden ist, die ihn geeignet machen, Grundlage einer Reform des Vorbehaltsrechts zu werden. Dieses gilt gleichermaßen für rechtliche Fragen als auch für tatsächliche Fragen und die Akzeptanzchancen einer solchen Rechtsentwicklung in der Staatenwelt. Die rechtlichen Probleme, die mit einer Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes verbunden sind, beziehen sich im Wesentlichen auf die staatliche Souveränität. Sie lassen sich jedoch lösen. Im Bereich des Menschenrechtsschutzes ist eine Einschränkung der staatlichen Souveränität mittlerweile anerkannt. Diese wirkt auch im Bereicht des Vorbehaltsrechts. Daneben gestattet die Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags den Vergleich mit der ebenfalls zunehmend anerkannten Figur der humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger. Grundsätzlich darf mithin davon ausgegangen werden, dass hinsichtlich des Menschenrechtsschutzes die Souveränität eines Staates bereits so stark eingeschränkt ist, dass ein Einspruch nach dem Non-Benefitting-Ansatz keine Verletzung dieser mehr bedeuten würde und auch heute schon nicht mehr bedeutet. Da ein NonBenefitting-Einspruch daneben einem Vertragsstaat, der dem Vorbehalt nicht widersprochen hat, keine weiteren Pflichten auferlegt, bestehen auch bezüglich dessen Souveränität keine Probleme. Der Einzelstaat hat es im Bereich des Menschenrechtsschutzes darüber hinaus anzuerkennen, dass sein Individualinteresse in diesem Bereich hinter dem Interesse der Staatengemeinschaft am Menschenrechtsschutz an sich zurücktritt.267 Tatsächliche Probleme entstehen bei der Anwendung des Non-BenefittingAnsatzes nicht, wenn man ihn auf alle Vorbehalte für anwendbar erklärt. Solches Vorgehen ist zulässig und angesichts der derzeitigen Staatenpraxis wohl auch nicht mit allzu großer Missbrauchsgefahr verbunden.268 Schließlich würden im Falle der Anerkennung dieses Ansatzes den Staaten Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die Wirkung eines solchen Einspruchs auch durchzusetzen.269 Chancen auf Akzeptanz dürfte der Non-Benefitting-Ansatz vor allem deshalb haben, weil er sich stark am derzeit geltenden Recht der WVK orientiert und nur dort Korrekturen vorgenommen werden, wo dieses sich als auf Menschenrechtsschutzverträge unanwendbar gezeigt hat.270 Dies entspricht dem Grundgedanken dieser Arbeit, wonach eine Reform nur insoweit überlegt werden darf, wie das derzeit geltende Recht nicht sinnvoll anwendbar ist.271 So würde den Staaten hinsichts. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1) und (2). s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (1). 269 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (2). 270 Vgl. Kapitel 4, B. III. 2. b). 271 Vgl. Klabbers, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 179 ff., der auch für das Problem der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen eine am Vertragsrecht orientierte Lösung bevorzugt; s. o. Kapitel 1 sowie Kapitel 3. 267 268

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lich des Procederes bei Vorbehalten keine Umgewöhnung abverlangt werden. Weiterhin bliebe die Entscheidung über die Rechtwirkung des Vorbehalts in der Hand der anderen Vertragsparteien. Diese müssten sich keiner übergeordneten Instanz unterordnen, wozu sie auch kaum gewillt sein dürften.272 Da ein Non-BenefittingEinspruch bewirkt, dass der Vorbehaltsstaat nicht mehr zwingend seinen Willen bekommt, würde das Instrument des Einspruchs unter Geltung dieses Modells zum ersten Mal im Bereich des Menschenrechtsschutzes eine eigene Rechtswirkung erlangen. Dies bedeutet, dass die Weiterentwicklung des Vorbehaltsrechts, wie sie bei Anerkennung des Non-Benefitting-Ansatzes eintreten würde, den Grundgedanken der WVK nur konsequent weiterentwickeln und ihm auch bei Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur zu effektiver Geltung verhelfen würde. Auch in dieser Hinsicht würde sich eine mögliche Reform also nicht weit aber wirkungsvoll vom derzeit geltenden Recht entfernen. Die Idee, das Instrument des Einspruchs aufzuwerten, findet sich darüber hinaus im weiteren Völkervertragsrecht, so in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 CERD.273 Daneben entspricht dieser Ansatz der Praxis, wie sie bereits von einigen Staaten angewandt wird.274 Er ist also kein rein akademisches Gedankenkonstrukt,275 sondern stammt aus der Staatenwelt selbst. Die zumindest in den letzten Jahren zunehmende Anzahl von Einsprüchen zu Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen insgesamt zeigt, dass Staaten hierin offenbar die beste Lösung für das Vorbehaltsproblem sehen.276 Auch die Äußerungen einiger Delegationen im 6. Committee der Generalversammlung sprechen hierfür.277 Dies gilt sowohl für diejenigen, die eine moderate Reform des Vorbehaltsrechts als nötig erachteten, als auch für die, die auf eine Beibehaltung des bisherigen Rechts setzen.278 Der Non-Benefitting-Ansatz, wie er hier beschrieben wird, hat den Effekt, durch eine moderate Veränderung dem Grundgedanken der WVK-Vorbehaltsregeln effektiv zur Wirkung zu verhelfen. Dies dürfte in beiden „Lagern“ auf Zustimmung stoßen. Insofern erscheint es nicht unmöglich, dass er sich in der Zukunft zu Gewohnheitsrecht entwickeln kann,279 zumindest zu regionalem Gewohnheitsrecht im (nord-)europäischen Raum.280 Vgl. Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 210. s. o. Kapitel 4, B. I. 3. 274 s. o. Kapitel 2, F. II. 275 Der akademisch gebildete Leser möge mir diesen Ausdruck verzeihen. 276 Vgl. Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 207. 277 s. o. Kapitel 2, F. I.; vgl. Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fifth session, Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-eighth session, prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 537, S. 44, Ziff. 189; dort wird dieser Ansatz nach der Bezeichnung, die Allain Pellet ihm gab, meist als „super-maximaler“ Effekt bezeichnet. 278 s. o. Kapitel 2, F. I. 279 Vgl. Seibert-Fohr, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 208; Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 79; dagegen, allerdings knapp in der Begründung Moloney, Melbourne JIL 5 (2004), S. 165; Baratta, EJIL 11 (2000), S. 416 ff., 422 zweifelt an der derzeitigen gewohnheitsrechtlichen Geltung. 272 273

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Die Gefahr, dass bei einer Anerkennung des Non-Benefitting-Ansatzes als geltendes Recht Staaten davon absehen könnten, einem Menschenrechtsschutzvertrag beizutreten oder im Falle eines Non-Benefitting-Einspruchs vom Vertrag insgesamt zurücktreten könnten, besteht.281 Jedoch dürfte sie kleiner sein, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Für demokratische Staaten besteht insgesamt ein Interesse daran, Menschenrechtsschutz möglichst umfassend zu fördern. Insofern muss ein Staat, der sich ernsthaft an seinen eigenen Werten orientiert, bei unbedeutenden Vorbehalten das Risiko eines Non-Benefitting-Einspruchs eingehen.282 Sofern ein Staat wegen eines Non-Benefitting-Einspruchs gegen einen schweren und weitreichenden Vorbehalt seinen Rücktritt von einem Menschenrechtsschutzvertrag erklärt beziehungsweise wegen der Gefahr eines solchen Einspruchs dem Vertrag fern bleibt, ist dies ebenfalls eine hinzunehmende Folge.283 Denn würde der Vorbehalt anerkannt werden, müsste der Staat seinen Verpflichtungen genauso wenig nachkommen. Für die Staatengemeinschaft und das Interesse an der Förderung des Menschenrechtsschutzes an sich bedeutet dies eine Plus-Minus-Null-Situation. Im Falle eines ausdrücklichen Rücktritts vom Menschenrechtsschutzvertrag, aber auch schon beim Fernbleiben würde der betreffende Staat darüber hinaus mit dem politischen Stigma behaftet, gegen den Menschenrechtsschutz an sich zu sein, was letztendlich sein Interesse an einem Beitritt ohne Vorbehalt wecken könnte.284 Diese Abstriche von der treaty universality können im Interesse der treaty integrity hingenommen werden, womit sich auch zeigt, dass der Non-Benefitting-Ansatz zwischen diesen beiden widerstreitenden Interessen einen vernünftigen Ausgleich herbeiführen kann. Letztendlich ist es also vertretbar, einen Staat, der einen NonBenefitting-Einspruch gegen seinen Vorbehalt nicht hinnehmen will, vom Vertrag 280 Zur Entwicklung regionalen Gewohnheitsrechts Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., 4. Kapitel, § 16, Rn. 44 ff. 281 Vgl. Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 135. 282 Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 218; Goodman, AJIL 96 (2002), S. 545; vgl. Bleckmann, AVR 34 (1996), S. 235; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 166 III. 1.; St. John Macdonald, RBDI 21 (1988), S. 449; ähnlich auch Bowett, BYIL 48 (1976 / 77), S. 76, der prinzipiell den Willen eines Staates, an einen Vertrag gebunden zu sein, höher bewertet als den, der dem Vorbehalt zugrunde liegt; für die Mitgliedstaaten des Europarats ergibt sich diese Annahme aus dem Belilos-Urteil des EGMR, vgl. Marks, ICLQ 39 (1990), S. 326. 283 Vgl. Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 71; IGH, Interhandel Case (Switzerland v. United States of America), 21. März 1959, Diss. Opinion des Richters Lauterpacht, ICJ Reports 1959, S. 114 ff. 284 Dieses Ergebnis steht nicht im Widerspruch zu der Aussage, dass auf einen Staat, der einen Vertrag unter dem Vorbehalt, seine nationale Rechtsordnung noch in Einklang mit dem Vertrag bringen zu müssen, besser Druck ausgeübt werden kann, dieses Versprechen zu erfüllen, wenn er Vertragspartei ist. Zum einen handelt es sich dabei um eine sehr spezielle Gattung eines Vorbehalts. Zum anderen geht es an dieser Stelle um Vorbehalte, die nicht darauf gerichtet sind, später alle vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen, sondern dies gerade ausschließen sollen. Da sich für die übrige Staatengemeinschaft somit die erwähnte Plus-MinusNull-Situation ergibt, ist es gleichgültig, ob der Druck auf eine Vertragspartei ausgeübt wird, oder auf einen Nichtvertragsstaat.

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zurücktreten zu lassen.285 Die Gefahr hingegen, dass kein Staat einen Non-Benefitting-Einspruch gegen einen problematischen Vorbehalt erhebt, ist gering. Dieses beweist bereits die bestehende Staatenpraxis. Falls es zu einer solchen Situation tatsächlich kommen sollte, wäre sie hinzunehmen. In einem solchen Fall käme ein solches Verhalten faktisch einer stillschweigenden Vertragsänderung zu Gunsten des Vorbehaltsstaats gleich, selbst wenn Staaten „normale“ Einsprüche erheben würden. Solche Änderungen stehen den Staaten als Herren der Verträge zu. Schließlich berücksichtigt der Non-Benefitting-Ansatz in höherem Maße als das bislang geltende Vorbehaltsrecht die Pflichtenstruktur der Menschenrechtsschutzverträge. Die Akzeptanzchancen dieses Ansatzes stehen damit auf zwei Füßen. Zum einen bestehen Chancen auf politische Akzeptanz in der Staatenwelt, da staatliche Souveränität weitgehend geschont wird und nur auf solche Einschränkungen zurückgegriffen werden muss, die bereits bestehen. Zum zweiten wäre eine solche Lösung nicht nur rechtspolitisch akzeptabel, sondern auch strukturell sinnvoll.286 Insofern entspricht dieser Ansatz den Kriterien, die als maßgeblich für die Geeignetheit einer Lösung für das Problem der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen erkannt wurden.287 Das einzige Problem, das sich hinsichtlich des Non-Benefitting-Ansatzes stellt, ist jedoch ein strukturelles. Zwar erkennt dieser Ansatz an, dass die Pflichtenstruktur im Menschenrechtsschutzvertrag so gelagert ist, dass nur auf der Staat-Individuum-Ebene Rechte und Pflichten im engeren Sinne bestehen. Er reagiert auf das sich hieraus ergebende Problem, das bei der Anwendung des derzeit geltenden Vorbehaltsrechts entsteht, indem er nicht nur die Wirkung des Vorbehalts auf die StaatIndividuum-Ebene durchschlagen lässt, sondern auch die des Einspruchs. Damit wird die Rechtswirkung des Vorbehalts aber auf zwischenstaatlicher Ebene bestimmt und nicht auf der Ebene, auf der Rechte und Pflichten im Menschenrechtsschutzvertrag entstehen und Vorbehalte wirken. Den vom Vorbehalt effektiv betroffenen Individuen bleibt keine aktive Gestaltungsmöglichkeit. Diese strukturelle Ungenauigkeit kann beim Non-Benefitting-Ansatz nicht gelöst werden, da dieser als Grundüberlegung die Entscheidung über die Rechtswirksamkeit eines Vorbehalts in den Händen der Staaten belassen will und sich am derzeit geltenden Recht orientiert. Es erscheint jedoch möglich, dieses Problem angesichts der ansonsten durchweg positiven Resultate, die die Untersuchung des Non-Benefitting285 Goodmann, AJIL 96 (2002), S. 538; vgl. Sucharipa-Behrmann, ARIEL 1 (1996), S. 87, die der Ansicht ist, dass eine dem Non-Benefitting-Ansatz vergleichbare Konstruktion nur angewandt werde dürfe, wenn der Staat zu erkennen gegeben hat, dass er den Vorbehalt nicht als so wichtig ansehe, dass er ohne ihn überhaupt keine Vertragsbindung eingehen wolle, ansonsten solle man ihn nach Ansicht Sucharipa-Behrmanns wohl nicht als Vertragspartei ansehen. Dies ist dasselbe Ergebnis wie bei einem Rücktritt des Vorbehaltsstaats vom Vertrag, nur dass letzterer ausdrücklich erfolgen muss. 286 Dem Non-Benefitting-Ansatz grundsätzlich positiv gegenüber stehen auch Simma, in: LA Seidl-Hohenveldern, S. 666 f.; sowie Baylis, Berkeley JIL 17 (1999), S. 315 f. 287 s. o. Kapitel 4, A.

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Ansatzes erbracht hat, zu vernachlässigen. Zumindest ist es nicht so gravierend, dass die Eignung dieses Ansatzes, zur Grundlage einer Reform des Vorbehaltsrechts zu werden, entfallen könnte. Der Non-Benefitting-Ansatz kann damit als Grundlage einer solchen Reform angesehen werden. Jedoch liefert auch er wegen des eben bezeichneten Problems noch keine absolut perfekte Lösung. Es darf daher über weitere Lösungsansätze nachgedacht werden.

3. Struktureller Ansatz Will man das hinsichtlich des Non-Benefitting-Ansatzes erkannte und dort nicht lösbare Problem vermeiden, muss man eine Lösung entwerfen, die vollständig der Struktur des Menschenrechtsschutzvertrags entspricht. a) Modell eines strukturellen Ansatzes Wenn im Menschenrechtsschutzvertrag Primärpflichten nur auf Staat-Individuum-Ebene entstehen und ein Vorbehalt nur dort wirkt, scheint es nahe zu liegen, auf dieser Ebene auch die Lösung für das Vorbehaltsproblem anzusiedeln. Verfolgt man den Grundgedanken der Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags in letzter Konsequenz weiter, müssen es die vom Vorbehalt betroffenen Rechtsträger sein, die entscheiden, wie auf einen Vorbehalt zu reagieren ist und welche Wirkung er haben soll. Entscheidungsbefugt müssen mithin die der Hoheitsgewalt des Staates unterstehenden Individuen sein. Da auf zwischenstaatlicher Ebene im Menschenrechtsschutzvertrag keine Rechte und Pflichten entstehen, muss nach einem solchen Ansatz weiterhin ausgeschlossen werden, dass Aktionen auf dieser Ebene auf die Staat-Individuum-Ebene einwirken. Die Instrumente Annahme und Einspruch müssten den anderen Vertragsparteien konsequenterweise genommen werden, oder es müsste anerkannt werden, dass diese keinen Effekt auf die Wirkung eines Vorbehalts haben. Da für eine solche Lösung allein der innerstaatliche Rechtskreis maßgebend ist, ist es nicht möglich, ein genaues strukturelles Modell als Reformvorschlag zu erarbeiten. Sofern ein struktureller Ansatz sich als Reformmöglichkeit durchsetzen würde, wäre jeder Staat gefordert, aus seinem innerstaatlichen Recht eine für ihn passende Lösung zu entwickeln. Jedoch ist es möglich, ausgehend von der Struktur des Menschenrechtsschutzvertrags die Grundvoraussetzungen einer solchen Lösung zu entwerfen. Grundüberlegung eines strukturellen Ansatzes muss sein, die Entscheidung über die Rechtswirkung des Vorbehalts in die Hände derer zu legen, die von der mit dem Vorbehalt bezweckten Pflichtenreduzierung betroffen sind. Für eine solche Entscheidungsfindung bieten sich in der Praxis mehrere Lösungswege an. Zum

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einen könnte man daran denken, über jeden Vorbehalt, den ein Staat zu einem Menschenrechtsschutzvertrag erklären will, eine Volksabstimmung stattfinden zu lassen. Da der Kreis der der Hoheitsgewalt des Staates unterstehenden Individuen aber nicht notwendig mit der der wahlberechtigten Bevölkerung übereinstimmen muss, müsste bei einer solchen Abstimmung sichergestellt werden, dass nicht nur die im Staat wahlberechtigten Personen zur Abstimmung zugelassen werden, sondern auch Ausländer, die der Hoheitsgewalt des Staates ebenso unterstehen. Für Staaten, deren innerstaatliches Recht die Möglichkeit eines bindenden Volksentscheides nicht vorsieht, könnte zum anderen die Lösung entworfen werden, den Vorbehalt zur Abstimmung in den jeweiligen gesetzgebenden Körperschaften zu stellen. Auch dann müsste allerdings ein Weg gefunden werden, dass diese Körperschaften ihre Legitimation nicht nur auf das Staatsvolk, sondern auf die Gruppe der der Hoheitsgewalt des Staates unterworfenen Personen zurückführen kann. Da zwischen Grundrechten und Menschenrechten ein enger Zusammenhang besteht, wäre auch die Erweiterung dieser Lösung denkbar, dass ein Vorbehalt nur dann zulässig und wirksam würde, wenn das Volk, direkt oder vertreten durch die gesetzgebenden Körperschaften, diesen mit der Mehrheit annimmt, die für eine Verfassungsänderung erforderlich wäre.288 Dies könnte zumindest für die Staaten gelten, deren Verfassung einen Grundrechtskatalog enthält oder deren Rechtssystem zumindest die Möglichkeit des Grundrechtsschutzes in irgendeiner Form bietet. Welches System letztendlich angewandt werden würde, wäre Sache des jeweiligen Staates. Gesichert müsste nach einem strukturellen Lösungsansatz jedoch in jedem Fall sein, dass die Entscheidung über Gültigkeit und Wirkung des Vorbehalts durch ein Organ getroffen wird, das seine Legitimation auf die der Hoheitsgewalt des Vorbehaltsstaats unterworfenen Individuen zurückführen kann. b) Vorteile des strukturellen Ansatzes Der erste und wichtigste Vorteil des strukturellen Ansatzes besteht darin, dass er die Struktur menschenrechtsschutzvertraglicher Primärpflichten vollständig zu berücksichtigen versucht und dass die Entscheidung über Gültigkeit und Wirkung des Vorbehalts auf die vom Vorbehalt betroffene Ebene verlagert wird. Ein Durchschlagen zwischenstaatlichen Handelns auf die Staat-Individuum-Ebene erfolgt nicht, was den Begründungsaufwand verringert. Im strukturellen Lösungsmodell setzt sich weiterhin der Gedanke fort, dass Individuen im Bereich des Menschenrechtsschutzes mittlerweile als partielle Völkerrechtssubjekte anerkannt sind. Er würde damit modernen Völkerrechtsentwicklungen Rechnung tragen. Als partielle Völkerrechtssubjekte würde unter seiner Geltung den betroffenen Individuen er288

5. a).

Zum Zusammenhang zwischen Grund- und Menschenrechten s. o. Kapitel 3, B. IV.

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möglicht, Einfluss zu nehmen auf völkervertragsrechtliche Pflichten des Staates, dessen Hoheitsgewalt sie unterstehen und gegenüber dem sie die vom Vorbehalt betroffenen Rechte im Falle des Inkrafttretens des Vertrags ohne Vorbehalt geltend machen könnten. Auf diese Weise würden auch keine Probleme hinsichtlich der Souveränität des Vorbehaltsstaats entstehen. Zumindest in Staaten mit demokratischer Ordnung ist das Staatsvolk gleichzeitig Träger der Staatsgewalt.289 Übt es diese durch eine Entscheidung über die Wirkung eines Vorbehalts aus, wäre auch im Falle einer Ablehnung die Souveränität des Vorbehaltsstaats nicht verletzt, da der Souverän diese Entscheidung selbst oder durch seine Vertreter getroffen hätte. Eine Begründung, wie sie bei der Untersuchung des Non-Benefitting-Ansatzes hinsichtlich der Probleme bezüglich staatlicher Souveränität gefunden werden musste, wäre nicht erforderlich, da keine Intervention von außen erfolgt.290 Dies gilt auch, wenn nicht nur das eigentliche Staatsvolk, sondern alle der Hoheitsgewalt eines Staates unterstehenden Personen an der Abstimmung beteiligt werden. In den meisten Fällen dürfte die Zahl der Personen, die der Hoheitsgewalt eines Staates unterstehen, aber nicht Teil des Staatsvolks als Souverän sind, klein genug sein, um eine entscheidende Auswirkung auf das Abstimmungsergebnis nicht hervorzurufen. Sollte dies einmal nicht der Fall sein, würde die Annahme, dass staatliche Souveränität im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes nicht mehr uneingeschränkt besteht, auch hier eine tragfähige Begründung dafür liefern, dass keine Souveränitätsverletzung besteht. Da eine innerstaatliche Lösung des Vorbehalts keine Auswirkung auf die zwischenstaatliche Ebene haben kann, würde auch die Souveränität anderer Vertragsparteien nicht berührt. Daneben könnte man annehmen, dass auch zwischen dem strukturellen Lösungsmodell und dem derzeit geltenden Recht Übereinstimmungen in ihren jeweiligen Grundgedanken bestehen. Zumindest auf die Kategorie des Austauschvertrags beziehungsweise des Vertrags mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur ist das derzeit geltende Vorbehaltsrecht problemlos anwendbar. Dort ist immer eine andere Vertragspartei im jeweils bilateralen Verhältnis zum Vorbehaltsstaat von dessen Vorbehalt betroffen. Die WVK gibt ihr die Möglichkeit, durch entsprechendes Reagieren eine effektive Neutralisierung des mit dem Vorbehalt bezweckten Vorteils zu erreichen.291 Nach dem strukturellen Ansatz wird diese Möglichkeit ebenfalls den durch den Vorbehalt Betroffenen gegeben. Da Menschenrechte keinen Austauschcharakter haben,292 müsste die Reaktionsmöglichkeit so ausgestaltet sein, dass über die Rechtswirkung des Vorbehalts insgesamt von den Betroffenen entschieden werden kann. Vgl. Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG. Vgl. Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 192, der ebenfalls eine Lösung fordert, die auf die Besonderheiten der Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags Rücksicht nimmt. 291 s. o. Kapitel 3, C. I. 292 s. o. Kapitel 3, B. IV. 5. a). 289 290

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Schließlich würden durch einen strukturellen Ansatz die Probleme vermieden, die mit einer Entscheidungsgewalt eines etwaigen Vertragsorgans über die Rechtswirkung eines Vorbehalts verbunden sind.293 c) Nachteile des strukturellen Ansatzes Die mit dem strukturellen Lösungsansatz verbundenen Nachteile lassen sich in drei Gruppen einteilen, wobei Überschneidungen bei der Einteilung möglich sind. Wie bei einer Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes können Probleme in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht auftreten sowie in Bezug auf die Akzeptanzchancen eines solchen Modells. Allerdings lassen diese sich im Gegensatz zu denen, die hinsichtlich des Non-Benefitting-Ansatzes bestehen, nicht oder nur unbefriedigend lösen. aa) Rechtsprobleme Zunächst blendet der strukturelle Ansatz nahezu vollständig aus, dass ein Vorbehalt auch bei Menschenrechtsschutzverträgen auf der zwischenstaatlichen Ebene erklärt wird und erst danach auf der Staat-Individuum-Ebene seine Wirkung entfaltet. Auf einen Vorgang, der sowohl eine zwischenstaatliche Komponente als auch eine innerstaatliche Komponente hat, müsste allein mit einem innerstaatlichen Instrument reagiert werden. Dies zeigt, dass der strukturelle Ansatz ebenfalls nicht vollständig der Pflichtenstruktur eines Menschenrechtsschutzvertrags entspricht. Die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, würde darin bestehen, dass ein Vorbehalt nicht mehr auf zwischenstaatlicher Ebene, sondern auf der Staat-Individuum-Ebene erklärt werden müsste. Ein Staat, der bei Ratifikation eines Menschenrechtsschutzvertrags einen Vorbehalt erklären möchte, müsste also eine irgendwie geartete Erklärung seinen Bürgern gegenüber abgeben und diese von seinem Vorhaben in Kenntnis setzen, den Vertrag nicht in vollem Umfang anzuerkennen. Dies wäre die Vorbehaltserklärung. Da es sich auch bei Menschenrechtsschutzverträgen aber nach wie vor um völkerrechtliche Verträge handelt, ist diese Konstruktion äußerst problematisch. Die durch einen Menschenrechtsschutzvertrag definierten Primärpflichten werden auf zwischenstaatlicher Ebene begründet. Diesem Umstand könnte nicht einmal durch eine Änderung des Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK begegnet werden. Abgesehen davon, dass eine solche Änderung politisch kaum durchzusetzen sein dürfte, würde auch dadurch nur erreicht werden, dass der Vorbehalt formell nicht mehr auf zwischenstaatlicher Ebene erklärt werden müsste. Vollständig könnte die zwischenstaatliche Komponente eines Menschenrechtsschutzvertrags dennoch nicht beseitigt werden. Dieses wäre zu einer rein innerstaatlichen Erklärung des Vorbehalts jedoch nötig. Die Begründung der Pflichten 293

Siehe hierzu Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (1) sowie Kapitel 4, B. III. 5. a).

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durch einen Menschenrechtsschutzvertrag müsste auch nach diesem Ansatz weiterhin durch völkerrechtlichen Vertrag geschehen, es sei denn, der Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes würde in Zukunft insgesamt allein auf die innerstaatliche Ebene verlagert. Letzteres Vorgehen würde allerdings das Ende des internationalen Menschenrechtsschutzes bedeuten und sich von dem Gedanken verabschieden, dass die Staatengemeinschaft als solche ein Interesse am internationalen Menschenrechtsschutz hat und diesen als Staatengemeinschaft fördern muss. Anderen Staaten würde so nicht nur jede rechtliche Handhabe gegen einen Vorbehalt genommen, sondern auch die mit dem internationalen Menschenrechtsschutz verbundenen politischen Druckmittel gegen Staaten, die ihren Pflichten in diesem Bereich nicht nachkommen. Insofern kann nach dem derzeitigen Stand des Rechts, aber auch nach der Pflichtenstruktur von Menschenrechtsschutzverträgen keine Begründung gefunden werden, die es ermöglicht, einen Vorbehalt allein auf der Staat-Individuum-Ebene – rein innerstaatlich – zu erklären. Dies wäre jedoch notwendig, sofern man den strukturellen Ansatz konsequent anwenden will. Nun könnte man diesen Argumenten entgegnen, dass internationaler Menschenrechtsschutz in der heutigen Form bei uneingeschränkter Geltung des strukturellen Ansatzes nicht mehr nötig wäre, da die Entscheidung auf Staat-Individuum-Ebene über Vorbehalte diesen vollständig ersetzen könne. Einer solchen Überlegung liegt aber ein entscheidender Denkfehler zugrunde. Ein Vorbehalt kann nur zu einem Vertrag erklärt werden. Wenn Menschenrechtsschutz aber allein auf innerstaatlicher Ebene stattfinden soll, sind keine Verträge mehr notwendig. Vorbehalte würden damit überflüssig und damit auch die Entscheidung über diese durch die Individuen. Wäre ein Staat daran interessiert, möglichst wenig menschenrechtliche Verpflichtungen einzugehen, bräuchte er schlicht keine Menschenrechte innerstaatlich anzuerkennen. Dies ist zwar auch beim Beitritt eines Staates zu einem Menschenrechtsschutzvertrag unter Vorbehalt möglich. Allerdings setzt sich ein Staat dann zumindest dem Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens aus, wenn er einem Vertrag international beitritt, die damit verbundenen Pflichten aber nicht anerkennen will. Staaten gegenüber, die Menschenrechtsschutzverträgen insgesamt fernbleiben, kann die Staatengemeinschaft weiterhin wenigstens Druck ausüben, diesen beizutreten. Ein solches Verhalten wäre nicht möglich, würde man die Notwendigkeit internationalen Menschenrechtsschutzes insgesamt leugnen. Wenn für die Staatengemeinschaft kein Interesse mehr am Menschenrechtsschutz bestehen kann, könnte sie auch keinen Druck im Hinblick auf dessen Einhaltung ausüben. Weiterhin lässt sich dem Argument, internationaler Menschenrechtsschutz sei unnötig, sofern auf Staat-Individuum-Ebene über Vorbehalte entschieden werden kann, entgegen setzen, dass dieser Ansatz nur funktioniert, solange ein Staat ein effektives Entscheidungsverfahren geschaffen hat und bereit ist, dessen Ergebnisse zu respektieren. Sofern ein Staat unwillig wäre, dies zu tun, wäre es schwer, diese Verpflichtung international durchzusetzen. Zum einen hätte die Staatengemeinschaft hierzu nicht einmal mehr politische, geschweige denn rechtliche Mittel. Zum anderen ließe sich ein solcher Durchsetzungsversuch nur dann vornehmen,

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wenn das Verhalten des Vorbehaltsstaats einen Völkerrechtsverstoß darstellen würde. Bei einer Begründung des strukturellen Ansatzes müsste damit ein allgemeines Menschenrecht auf Demokratie anerkannt werden. Ein solches lässt sich derzeit aber weder im Völkervertragsrecht noch im Völkergewohnheitsrecht nachweisen. Zwar normiert Art. 25 CCPR gewisse Mitbestimmungsrechte. Sein Inhalt ist jedoch zu allgemein gefasst, um daraus das Recht der Individuen abzuleiten, Entscheidungen des Staates auf internationaler Ebene bindend mitzugestalten, was für eine innerstaatliche Entscheidungsbefugnis der Individuen über die Rechtswirksamkeit eines Vorbehalts notwendig wäre.294 Eine Änderung dieses Umstandes ist angesichts der großen Zahl der Staaten, die kein vollständig demokratisches System errichtet haben, nicht zu erwarten. Bereits diese Probleme zeigen, dass eine rechtliche Begründung eines strukturellen Ansatzes nach dem derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung nicht möglich ist. Um den strukturellen Ansatz rechtlich möglich zu machen, müssten für den Bereich des Menschenrechtsschutzes elementare Prinzipien des Völkerrechts aufgegeben werden, von der Einordnung des Vorbehalts als zwischenstaatlicher Erklärung bis hin zur Existenz des internationalen Menschenrechtsschutzes als solchem. Die Folgen einer solch radikalen Entwicklung wären kaum abzusehen. Insofern ist der strukturelle Ansatz schon aus diesen Gründen abzulehnen. Gegen seine Anwendung sprechen daneben eine Reihe weiterer Argumente. Diese beziehen sich zwar weniger auf die rechtliche Begründung des strukturellen Ansatzes, sondern mehr auf seine praktische Anwendbarkeit und seine Akzeptanzchancen in der Staatenwelt. Da Ziel dieser Arbeit ist, mögliche Reformansätze für das Vorbehaltsrecht umfassend zu untersuchen, sollen aber auch diese Argumente gegen die Anwendung des strukturellen Ansatzes im Folgenden behandelt werden. Dies gilt insbesondere für die Frage seiner Akzeptanzchancen. Eines der wichtigsten Kriterien bei der Suche nach einem Reformmodell für das Vorbehaltsrecht müssen dessen Akzeptanzchancen in der Staatenwelt sein. Reformvorschläge, die diese nicht besitzen, brauchen nicht erarbeitet zu werden, da ihre Relevanz von vornherein gegen Null tendieren würde.295 bb) Anwendungsprobleme Wenn jede Entscheidung über einen Vorbehalt von denjenigen Individuen getroffen werden soll, die von einem Vorbehalt betroffen sind, müsste bei jeder sol294 So sieht auch Franck, in: Henkin / Hargrove, Human Rights, S. 74, 79 ff., Anzeichen für ein Menschenrecht auf Demokratie und den Beginn einer entsprechenden Entwicklung. Jedoch lassen auch seine Ausführungen nicht auf die Möglichkeit einer Entscheidungsbefugnis der Individuen über die Rechtswirkung von Vorbehalten schließen; vgl. ders., AJIL 86 (1992), S. 64 ff.; ein solches Recht offenbar für wünschenswert, aber noch nicht für existent hält auch Gérard, Finnish YIL 13 (2002), S. 57. 295 s. o. Kapitel 4, A.

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chen Entscheidung vorher neu festgelegt werden, wer entscheidungsbefugt ist. Der betroffene Personenkreis würde je nach Inhalt des Vorbehalts, aber auch des Vertrags, zu dem der Vorbehalt erklärt werden soll, variieren. Nur bei allgemeinen Menschenrechtsschutzverträgen wären alle der Hoheitsgewalt des Vorbehaltsstaats unterstehenden Individuen von dessen Wirkung potentiell betroffen. Selbst dort könnte der Staat aber erklären, sein Vorbehalt beziehe sich nur auf eine bestimmte Personengruppe. Würde man den strukturellen Ansatz konsequent anwenden, wären auch nur die Angehörigen dieser Gruppe effektiv vom Vorbehalt betroffen und daher abstimmungsberechtigt. Von vornherein verkleinert wäre der Kreis der Abstimmungsberechtigten bei Verträgen, die nur eine bestimmte Personengruppe mit Rechten ausstatten, wie beispielsweise die Frauenrechtskonvention, die Kinderrechtskonvention oder die Genfer Flüchtlingskonvention. Selbst in solchen Fällen könnte der Staat wiederum versuchen, über den Inhalt seines Vorbehalts die Gruppe abstimmungsberechtigter Personen klein zu halten. Ein solches System könnte vielleicht noch funktionieren, wenn jede Abstimmung über einen Vorbehalt durch die Betroffenen direkt erfolgte, da die Liste der Abstimmungsberechtigten jedes Mal neu verfasst werden könnte. Wie die Festlegung der Abstimmungsberechtigten bei Abstimmung in einer gesetzgebenden Körperschaft, die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen ist, möglich sein soll, bleibt mehr als fraglich. In einem solchen Fall müsste jedes Mal ein eigenes Repräsentationsorgan geschaffen werden, das wiederum nur von den vom Vorbehalt Betroffenen gewählt werden dürfte, aber in Bezug auf Vorbehalte mit den gleichen Rechten ausgestattet sein müsste wie die reguläre gesetzgebende Körperschaft. Ein solches Vorgehen ist wenig praktikabel und birgt die Gefahr, dass die Abstimmungsberechtigten durch eine solche Wahlflut irgendwann das Interesse an der Abstimmung und das Verständnis für den Abstimmungsgegenstand verlieren. Weiterhin müssten die jeweils Abstimmungsberechtigten vor jeder Abstimmung zumindest in groben Zügen über den Inhalt des Vorbehalts unterrichtet werden, um eine Entscheidungsgrundlage zu haben. Dies mag in Staaten mit durchschnittlichem Bildungsniveau und funktionierender Informations-Infrastruktur möglich sein. Problematisch wird die Situation dagegen in Staaten, in denen das durchschnittliche Bildungsniveau der Bevölkerung niedriger ist, oder wenn die Bevölkerung keine ausreichenden Möglichkeiten hat, Zugang zu den benötigten Informationen zu erhalten. Daneben setzt eine solche Lösung voraus, dass sich ein Staat ernsthaft bemüht, vollständige und verständliche Information über den geplanten Vorbehalt, dessen Inhalt und dessen voraussichtliche Auswirkungen bereitzustellen. Angesichts des Interesses, das der Staat mit dem Vorbehalt verfolgt, ist dies gerade bei nicht demokratischen Staaten nicht zu erwarten. Schließlich besteht die Gefahr, dass Staaten zwar vorgeben, eine demokratisch legitimierte gesetzgebende Körperschaft würde über die Wirkung und Wirksamkeit eines Vorbehalts entscheiden, dieses aber nur vordergründig der Fall ist und beispielsweise gleichgeschaltete Parlamente einen Vorbehalt absegnen, ohne auf die Interessen der vom Vorbehalt betroffenen Individuen Rücksicht zu nehmen. All dies sind praktische Fragen, die allein auf innerstaatlicher Ebene

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gelöst werden müssten, ohne dass die internationale Gemeinschaft eine Wächterfunktion ausüben könnte. Durch die Beschränkung auf den innerstaatlichen Bereich werden für Staaten, die nicht gewillt sind, Menschenrechtsschutz umfassend zu praktizieren, somit große Missbrauchsmöglichkeiten geschaffen. Um solchen Missbrauchsmöglichkeiten zu begegnen, müsste eine Möglichkeit gefunden werden, den strukturellen Ansatz völkerrechtlich abzusichern und die Durchsetzung der sich daraus ergebenden Pflichten sicherzustellen. Eine rein innerstaatliche Absicherung wäre nicht ausreichend, da sie dieselben Missbrauchsgefahren in sich tragen würde. Eine völkerrechtliche Absicherung würde jedoch dem Grundprinzip des strukturellen Ansatzes widersprechen, die Vorbehaltsproblematik allein auf die Staat-Individuum-Ebene zu verlagern. Die völkerrechtliche Absicherung des strukturellen Ansatzes müsste in einem Vertrag oder entsprechendem Gewohnheitsrecht bestehen, wodurch die Staaten verpflichtet werden, die von einem Vorbehalt betroffenen Individuen über die Wirksamkeit und Wirkung des Vorbehalts entscheiden zu lassen. Damit würde wiederum ein auf zwischenstaatlicher Ebene geschaffenes Instrument auf die Staat-Individuum-Ebene einwirken. Die Rechte der Individuen würden von einem zwischenstaatlichen Vertrag abhängen. Diese Entwicklung soll aber durch den strukturellen Ansatz gerade vermieden werden. Die Absicherung des strukturellen Ansatzes wäre mithin innerstaatlich nicht wirkungsvoll möglich. Eine völkerrechtliche Absicherung würde einen Zirkelschluss verursachen, da einerseits erforderlich wäre, die zwischenstaatliche Ebene bei der Beurteilung von Vorbehalten außer Acht zu lassen, diese zur Absicherung jedoch benötigt werden würde. Dasselbe Problem entstünde schließlich auch hinsichtlich der Durchsetzung des strukturellen Ansatzes. Sollte hierfür allein die Staat-Individuum-Ebene maßgeblich sein, müssten dafür spezielle innerstaatliche Möglichkeiten geschaffen werden, beispielsweise besondere Gerichtsverfahren. Da es wieder in der Hand des Staates läge, diese zu schaffen und ihre Entscheidungen zu befolgen, bestünde dieselbe Missbrauchsgefahr wie bei der Schaffung und Befolgung der Entscheidung über einen Vorbehalt durch die betroffenen Individuen. Die internationale Gemeinschaft hätte ebenfalls keine Durchsetzungsmöglichkeiten. Würde man Durchsetzungsmechanismen auf internationaler Ebene anerkennen, bestünde das Problem, dass ein Durchschlagen zwischenstaatlichen Handelns beim strukturellen Ansatz gerade vermieden werden soll.

cc) Chancen auf Akzeptanz Um den strukturellen Ansatz umzusetzen, müsste ein Staat, der dieses ernstlich und ehrlich vorhat, sein innerstaatliches Rechtssystem gravierend verändern. Er müsste gegebenenfalls die Möglichkeit bindender Volksentscheide einführen und sicherstellen, dass immer genau diejenigen Personen abstimmungsberechtigt sind, die vom jeweiligen Vorbehalt betroffen wären. Sofern der Staat keinen Volksent-

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scheid einführen wollte, müsste er sicherstellen, dass für die gesetzgebenden Körperschaften als Repräsentationsorgane ein Verfahren zur Entscheidung über Wirksamkeit und Wirkung eines Vorbehalts bestünde. Er müsste ferner sicherstellen, dass diese bei einer solchen Entscheidung immer nur den Teil der Bevölkerung repräsentierten, der von einem Vorbehalt betroffen ist. Dies bedeutet, dass jeder Staat eine in Grundzügen demokratische Struktur annehmen müsste. Ein solches Ergebnis ist zwar wünschenswert. Die große Zahl der Staaten, deren Rechtssystem noch keine (ausreichenden) demokratischen Strukturen aufweist, führt jedoch zu dem Schluss, dass ein solches Verhalten in Zukunft von einer größeren Zahl von Staaten nicht zu erwarten ist. Selbst bei demokratischen Staaten bliebe fraglich, ob sie zu so radikalen Änderungen ihres innerstaatlichen Systems bereit wären. In der Vergangenheit waren es oftmals gerade demokratische Staaten, die ihr Engagement auf den internationalen Menschenrechtsschutz gelegt haben. Mit der Anerkennung des strukturellen Ansatzes müssten sie die Idee des internationalen Menschenrechtsschutzes begraben. Dieses dürfte von den meisten unter ihnen nicht begrüßt werden. Daneben müssten die Staaten darauf verzichten, auf Vorbehalte mit Einspruch oder Annahme zu reagieren, beziehungsweise anerkennen, dass diese Instrumente keine Auswirkungen haben. Zwar kann man die Vorgänge im U.S.-Senat, die zur Erklärung der Vorbehalte der USA zum CCPR führten, als dem strukturellen Ansatz in gewisser Weise ähnlich ansehen und damit auf vielleicht beginnende entsprechende Staatenpraxis schließen.296 Der U.S.-Senat ist Teil der gesetzgebenden Körperschaften der USA und insofern auch Repräsentationsorgan des Volkes. Allerdings entspricht auch sein Handeln bezüglich Vorbehalten nicht einem konsequent angewandten strukturellen Ansatz. Die Anwendungsprobleme bleiben bestehen. Insbesondere ist nicht gesichert, dass der U.S.-Senat immer die, aber auch nur die von einem Vorbehalt betroffenen Individuen repräsentiert. Auch diese Praxis bestätigt den hier entworfenen strukturellen Ansatz daher nicht. Schließlich bestehen zwischen strukturellem Ansatz und derzeit geltendem Recht nahezu keine Berührungspunkte. Zwar gehen beide von derselben Grundidee aus, die Entscheidung über die Wirkung eines Vorbehalts in die Hände derer zu legen, die von diesem betroffen sind. Konsequent angewandt würde der strukturelle Ansatz jedoch dazu führen, dass das gesamte Vorbehaltsrecht, sogar das gesamte Völkerrecht nicht mehr auf den Bereich des Menschenrechtsschutzes anwendbar wäre. Angesichts der Tatsache, dass Staaten bei Änderungen ihrer internationalen Verpflichtungen bislang eher zurückhaltend agiert haben und auch die ILC momentan keine radikale Umgestaltung des Vorbehaltsrechts favorisiert, ist nicht davon auszugehen, dass der strukturelle Ansatz in der Zukunft Akzeptanzchancen haben wird.

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Vgl. hierzu Stewart, HRLJ 14 (1993), S. 77 ff.

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d) Fazit Der strukturelle Ansatz stellt verglichen mit dem Non-Benefitting-Ansatz eine sehr viel radikalere Lösung dar. Seine Anerkennung würde den internationalen Menschenrechtsschutz als solchen ins Wanken bringen und in einen rein innerstaatlichen Menschenrechtsschutz verwandeln. Dieses bringt eine ganze Reihe von Problemen mit sich, die so schwerwiegend sind, dass der strukturelle Ansatz als Grundlage einer Reform des Vorbehaltsrechts zu Menschenrechtsschutzverträgen abzulehnen ist. Der Ansatz besitzt wegen seiner Radikalität kaum Chancen auf Akzeptanz in der Staatenwelt. Seine völkerrechtliche Absicherung und Durchsetzung wäre ohne Zirkelschluss nicht möglich, beziehungsweise es müsste konsequent auf jede völkerrechtliche Absicherung und Durchsetzung verzichtet werden. Auch die innerstaatliche Umsetzung wäre nur unter großen Schwierigkeiten möglich, da Verfahren entworfen werden müssten, die sicherstellen, dass jeweils nur die Individuen, die von einem Vorbehalt betroffen sind, über diesen entscheiden beziehungsweise nur diese durch ein Entscheidungsorgan repräsentiert werden. Das wohl schwerwiegendste Argument gegen den strukturellen Ansatz besteht jedoch darin, dass er selbst nicht ohne eine zwischenstaatliche Komponente auskommt, solange anerkannt ist, dass Menschenrechtsschutzverträge mit der Pflichtenbegründungsebene auch eine zwischenstaatliche Komponente enthalten. Hier würde derselbe Zirkelschluss entstehen, der schon im Hinblick auf völkerrechtliche Absicherung und Durchsetzung des strukturellen Ansatzes erkannt wurde. Daneben liegt dem strukturellen Ansatz die Annahme zugrunde, dass ein allgemeines Menschenrecht auf Demokratie oder Mitbestimmung besteht. Auch dieses entspricht derzeit nicht der Rechtswirklichkeit. Es zeigt sich damit, dass der strukturelle Ansatz in praktischer und systematischer Hinsicht nicht als Grundlage einer Reform des Vorbehaltsrechts geeignet ist. Vergleicht man ihn mit dem Non-Benefitting-Ansatz, stellt man fest, dass zwar auch letzterer nicht völlig problemlos begründet werden kann. Jedoch lassen sich diese Probleme lösen. Der Non-Benefitting-Ansatz entfernt sich weiterhin weit weniger vom derzeit geltenden Vorbehaltsrecht als der strukturelle Ansatz und setzt nicht auf radikale Veränderungen des Völkerrechts, sondern lediglich auf eine Modifikation der WVK-Regeln.297 Hiernach muss deren Grundgedanke lediglich so interpretiert werden, dass Staaten mit Annahme und Einspruch wirkungsvolle Instrumente zur Reaktion auf Vorbehalte gegeben sein sollen. Angesichts des Respekts, den die WVK vor staatlicher Souveränität bezeugt, erscheint dieses Lösungsmodell schlüssiger als der radikale strukturelle Ansatz. Der Non-BenefittingAnsatz kann sich daneben auf eine bereits bestehende Staatenpraxis stützen. Alle diese Vorteile weist der strukturelle Ansatz nicht auf, sondern liefert stattdessen eine große Zahl an Zirkelschlüssen und Problemen. Seine Begründung steht nur 297 Auch Hilpold fordert, dass die im Vorbehaltsrecht bestehenden Probleme nicht durch eine komplette Infragestellung der WVK, sondern durch Ergänzungen und Klärungen bzgl. dieser gelöst werden sollen, AVR 34 (1996), S. 423.

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auf einem Fuß. Er versucht, der Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzes in größtmöglichem Maße Rechnung zu tragen. Dieses ist aber nur unter Verabschiedung von der Idee des internationalen Menschenrechtsschutzes als solchem möglich, so dass schon dieser eine Fuß sich als wenig standfähig erweist. Der zweite Fuß, auf dem die Begründung des Non-Benefitting-Ansatzes ruht, fehlt dem strukturellen Ansatz komplett. Er hat keine Chance auf Akzeptanz in der Staatenwelt und auf Anerkennung als politisch sinnvoller Ansatz.

4. Öffentlichkeitsarbeit Einen weiteren interessanten Ansatz liefert Christoph Schreuer, der vorschlägt, zur Herbeiführung der Einhaltung vertraglicher Pflichten auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes vor allem auf Öffentlichkeitsarbeit zu vertrauen.298 Allerdings würde dies das Vorbehaltsproblem lediglich auf tatsächlicher, nicht aber auf rechtlicher Ebene lösen können. Auch durch Öffentlichkeitsarbeit könnte die Kluft zwischen der Pflichtenstruktur eines Menschenrechtsschutzvertrags und dem derzeit geltenden Vorbehaltsrecht nicht überbrückt werden. Bevor Öffentlichkeitsarbeit zur Herbeiführung der Einhaltung vertraglicher Pflichten eingesetzt werden kann, muss definiert werden, welches die vertraglichen Pflichten sind. Dies kann nur geschehen, wenn ein Vorbehaltsrecht entworfen wird, das hierzu in der Lage ist. Da das derzeit geltende Recht dieses nicht leistet, muss weiterhin auch in rechtlicher Hinsicht über eine Lösung nachgedacht werden. Wenn mit Hilfe eines möglicherweise reformierten Vorbehaltsrechts jedoch genau festgestellt werden kann, welche Verpflichtungen ein Staat einhalten muss, kann der Vorschlag Schreuers zur Durchsetzung dieser Verpflichtungen herangezogen werden. In dieser Hinsicht soll sein Vorschlag daher bei Erarbeitung eines Reformvorschlags weiter im Auge behalten werden.

5. Gesamtüberprüfung eines Vorbehalts durch eine übergeordnete Instanz Ein weiteres Reformmodell ist die Anerkennung einer übergeordneten Instanz als kompetent, über jede Art Vorbehalt und in jeder Hinsicht über dessen Rechtswirkung bindend zu entscheiden. Im Unterschied zu der hinsichtlich des NonBenefitting-Ansatzes abgelehnten Entscheidungskompetenz eines übergeordneten Organs würde diese Kompetenz sich nicht allein darauf beziehen, über die Art Vorbehalt zu entscheiden, zu denen ein bestimmter Einspruch erklärt werden darf. Die Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts würde ihm vollständig 298 Schreuer, in: Delbrück, Cooperation and State Sovereignty, S. 175; vgl. auch Fernandez, Finnish YIL 13 (2002), S. 45; Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 216.

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übertragen. Bei der Suche nach möglichen entscheidungsbefugten Instanzen fallen neben bereits errichteten Vertragsorganen auch internationale Gerichte sowie der Depositar des vom jeweiligen Vorbehalt betroffenen Menschenrechtsschutzvertrags ins Auge. a) Vertragsorgane Keines der durch die wichtigsten Menschenrechtsschutzverträge geschaffenen Vertragorgane, die keine Gerichte sind, kann für sich nach derzeit geltendem Recht die Kompetenz beanspruchen, bindende Entscheidungen auf dem Gebiet der Vorbehalte treffen zu können.299 Dies gilt insbesondere auch für das Human Rights Committee, das mit einem entsprechenden Versuch am Willen der Staaten gescheitert ist.300 Darüber hinaus wäre auch die Schaffung beziehungsweise Anerkennung einer solchen Kompetenz als Grundlage einer Reform des Vorbehaltsrechts ungeeignet, um die bestehenden Probleme zu lösen. Die Gründe dafür liegen zum einen darin, dass für eine Überprüfung eines Vorbehalts solchen Organen keine materielle Entscheidungsgrundlage an die Hand gegeben ist oder gegeben werden kann. Es wäre ihnen daher unmöglich, die von ihnen geforderte Entscheidung zu treffen, ohne dabei Willkür walten zu lassen. Zum anderen könnte, selbst wenn eine solche Entscheidung ergangen wäre, diese nicht wirksam durchgesetzt werden, wenn die Staaten nicht freiwillig bereit wären, sie anzuerkennen. Daran anschließend zeigt sich die dritte Schwäche eines solchen Ansatzes. Er müsste in der Staatenwelt Akzeptanzchancen besitzen. Auch davon ist nach dem aktuellen Entwicklungsstand des Vorbehaltsrechts nicht auszugehen.301 Eine Reform, die zur Lösung der Vorbehaltsproblematik die Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts allein in die Hände eines Vertragsorgans legt, würde mithin im Hinblick auf Machbarkeit, Durchsetzbarkeit und Anerkennungschancen keinerlei Erfolg haben. Dennoch ist ein solcher Weg vorgeschlagen worden, insbesondere mit dem Inhalt, jeden Vorbehalt bei Ratifikation eines Vertrags durch ein Vertragsorgan prüfen zu lassen.302 Als Begründung wird meist der Sachverstand eines mit 299 Die Darstellung der Funktion aller durch Menschenrechtsschutzverträge geschaffenen Vertragsorgane würde die Grenzen dieser Arbeit sprengen. Insofern soll hier in abstrakter Weise geschildert werden, welche Probleme bei einer Kompetenz etwaiger Vertragsorgane zur Gesamtüberprüfung eines Vorbehalts und daran anknüpfende bindende Entscheidungsbefugnisse entstehen. Zu den nach derzeitigem Recht bestehenden Kompetenzen der in der Praxis bedeutendsten Vertragsorgane s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (1). 300 Vgl. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (1); ein Überblick über die Aktivitäten einzelner Vertragsorgane auf diesem Gebiet findet sich bei Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 151 ff., allerdings nicht mehr vollständig aktuell. 301 Vgl. Ehrenkrona, Nordic JIL 72 (2003), S. 545, wo zum Ausdruck kommt, dass nicht einmal die ansonsten internationalen Entscheidungsorganen eher aufgeschlossen gegenüber stehenden nordischen Staaten eine solche Befugnis anerkennen.

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Experten besetzten Vertragsorgans erwähnt.303 Insofern ist trotz der schon auf den ersten Blick erkennbaren Nachteile eine eingehende Untersuchung dieses Vorschlags geboten. Ein Vertragsorgan könnte eine bindende Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts nur in materieller Hinsicht treffen. Die formellen Prüfungsbefugnisse wie die Frage der Einordnung einer Erklärung als Vorbehalt, dessen rechtzeitige Erklärung oder eines ausdrücklichen Vorbehaltsverbots liegen in der Hand des Depositars eines Vertrags. Dies ergibt sich bereits aus dem derzeit geltenden Recht. Für eine Änderung dieser Kompetenzverteilung besteht insbesondere aus Gründen der Effektivität des Umgangs mit Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen kein Bedarf.304 Um die Rechtswirkung eines Vorbehalts materiell festlegen zu können, bräuchte das dazu berufene Vertragsorgan eine Norm, anhand derer es seine Entscheidung treffen kann. Ohne eine verbindliche Entscheidungsgrundlage wäre jede Entscheidung reine Willkür. Eine solche Entscheidungsgrundlage existiert bis heute nicht. Der Ziel-und-Zweck-Test ist aus den genannten Gründen ungeeignet, um die Zulässigkeit eines Vorbehalts zweifelsfrei festzustellen.305 Er ist damit ebenso ungeeignet, einem Vertragsorgan als materielle Entscheidungsgrundlage zu dienen. Entsprechende Entscheidungen könnten nur in absolut klaren Fällen ergehen. In umstrittenen Fällen würde der Ziel-und-Zweck-Test als Entscheidungsgrundlage versagen. Damit würde nicht, wie von den Anhängern der Überprüfungskompetenz von Vertragsorganen behauptet, ein größeres Maß an Rechtssicherheit erreicht.306 Entscheidungen eines Vertragsorgans im Bereich der Vorbehalte würden vielmehr sogar verstärkt dem Vorwurf der Willkür ausgesetzt sein. Polemisch formuliert sind Ziel und Zweck eines Vertrags immer das, was der Rechtsanwender als Ziel und Zweck eines Vertrags definieren will.307 Es bestünde damit die Gefahr, dass sich die Entscheidungen der Vertragsorgane nicht nach objektiven Kriterien richten, sondern ergebnisorientiert nach der subjektiven Ansicht seiner jeweiligen MitSchabas, Brooklyn JIL 21 (1995), S. 315. Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 146 ff. 304 s. u. Kapitel 4, B. III. 5. c) bb) (1); vgl. Lijnzaad, S. 296 ff. 305 Ein solches Vorgehen fordert Lijnzaad, S. 294, ohne allerdings eine Lösung für die mit der Anwendung des Ziel-und-Zweck-Tests verbundenen Probleme zu präsentieren; Schabas schlägt vor, Vertragsorganen die Möglichkeit zu geben, eine Regel zu formulieren, mit deren Hilfe nachträgliche Änderungen von Vorbehalten möglich werden, um diese mit Ziel und Zweck des Vertrags in Einklang zu bringen, Canadian YIL 32 (1994), S. 77. Auch er äußert sich jedoch nicht zu den mit der Feststellung von Ziel und Zweck verbundenen Problemen. Weiterhin könnte eine solche Änderung eines Vorbehalts nur eine Reduzierung seines Anwendungsbereichs bedeuten. Solche nachträglichen Änderungen sind immer gestattet. Sie sind weniger eine Änderung als vielmehr eine teilweise Rücknahme. Unzulässig ist nur die nachträgliche Ausweitung; vgl. Partly Diss. Opinion des Richters Valticos zu EGMR, Case of Chorherr v. Austria, 25. August 1993, Ser. A, vol. 226, S. 42. 306 Vgl. Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 78. 307 s. o. Kapitel 3, C. III. 1. b). 302 303

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glieder. Das objektive Entscheidungskriterium würde zur Disposition derer gestellt, die es binden soll. Andere Kriterien, anhand derer die materielle Zulässigkeit eines Vorbehalts festgestellt werden kann, existieren nicht. Sie zu schaffen, ohne dabei die Gefahr willkürlicher Entscheidungen zu verursachen, dürfte darüber hinaus kaum gelingen können. Einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma liefert zwar Art. 57 EMRK. Einzige Möglichkeit hiernach, objektive materielle Zulässigkeitskriterien eines Vorbehalts zu entwerfen, die handhabbar sind, wäre, die Begründung des Vorbehalts ins Auge zu fassen und nur solche Vorbehalte zuzulassen, die aus näher definierten Gründen erklärt wurden. Die Erfüllung solcher Kriterien könnte von einem Vertragsorgan überprüft werden, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, willkürliche Entscheidungen derart zu fällen, dass es seinen eigenen Entscheidungsrahmen selbst stets neu definiere. Da andere materielle Entscheidungsgrundlagen nicht denkbar sind, müsste ein Reformansatz dieser Art daher zunächst eine Änderung aller Verträge vorsehen, die eine solche Entscheidungsnorm nicht enthalten. Dies bedeutet praktisch Änderungsbedarf für alle Menschenrechtsschutzverträge außer der EMRK. Daneben müssten für solche Verträge, durch die bislang kein entsprechendes Organ errichtet worden ist, Entscheidungsorgane im Wege der Vertragsänderung geschaffen werden. Dieser Änderungsbedarf bedeutet einen weiteren Nachteil eines solchen Reformansatzes. Eine Entwicklung hin zu einer derartigen Reform könnte sich nicht langsam vollziehen, sondern bräuchte im Voraus den Konsens der Staaten, da nur diese die entsprechenden Vertragsänderungen vornehmen können. Die Staaten müssten sich also an eine Entwicklung in einem auch ihre Souveränität betreffenden Bereich binden, ohne deren Folgen sicher absehen zu können. Dass ihre Bereitschaft hierzu kaum vorhanden sein dürfte, liegt auf der Hand. Dies zeigt, dass die Lösung, ein Vertragsorgan als übergeordnete mit materieller Entscheidungsgewalt ausgestattete Instanz anzuerkennen, einen entscheidenden Nachteil gegenüber Lösungen aufweist, die auf die gewohnheitsrechtliche Weiterentwicklung des geltenden Vorbehaltsrechts setzen. Bei letzteren sind die Staaten nicht gezwungen, im Voraus Entscheidungskompetenzen abzugeben beziehungsweise Entwicklungen als bindend anzuerkennen, von denen noch nicht gesagt werden kann, wohin diese führen werden. Eine gewohnheitsrechtliche Weiterentwicklung des derzeit geltenden Vorbehaltsrechts würde sich wesentlich langsamer und damit für die Staaten kontrollierbarer vollziehen. Jeder Staat hätte die Möglichkeit, diese Entwicklung durch seine Praxis mit zu beeinflussen. Insofern sind die Akzeptanzchancen einer solchen Lösung als ungleich größer zu beurteilen als diejenigen der Anerkennung eines Vertragsorgans als entscheidungsbefugt. Die bisherige Staatenpraxis, insbesondere das Scheitern des Human Rights Committees mit seinem durch General Comment No. 24 vorgenommen Versuch, eine solche Kompetenz für sich zu beanspruchen, belegen dies deutlich.308 Damit wird auch die Annahme widerlegt, ein Lösungssystem, das ein Vertragsorgan mit der bindenden Entscheidung 308

Graefrath, HuV-I 9 (1996), S. 72 ff.

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über die Rechtswirkung eines Vorbehalts betraut, würde einen höheren Ratifikationsgrad von Menschenrechtsschutzverträgen fördern.309 Eine Abmilderung dieser Konsequenzen kann auch nicht dadurch erreicht werden, dass neben einer Überprüfung durch ein Vertragsorgan das Verfahren von Annahme und Einspruch weiter anwendbar bleibt.310 Dieses hätte keinen Sinn, wenn die letzte Entscheidungsgewalt beim Vertragsorgan verbliebe. In der Erklärung eines Einspruches einen bloßen Hinweis des Staates auf einen Streitpunkt bezüglich des Vorbehalts zu sehen,311 würde das bisherige System auf den Kopf stellen und die Staaten als Entscheidungsträger ebenso entmachten wie die Anerkennung eines alleinigen Prüfungsrechts eines Vertragsorgans, ohne dass das Verfahren von Annahme und Einspruch erhalten bliebe. Akzeptanz für ein solches Verfahren kann von der Staatengemeinschaft mithin genauso wenig erwartet werden. Die Annahme, dass Akzeptanz allein durch den Druck der öffentlichen Meinung erreicht werden könnte,312 ist unrealistisch, was durch die Reaktionen auf General Comment No. 24 wiederum bewiesen wurde. Schließlich bleibt die Frage, wie ein mit Entscheidungskompetenzen ausgestattetes Vertragsorgan seine Entscheidungen nötigenfalls durchsetzen könnte. Der Einsatz der Durchsetzungsmechanismen, die allein Staaten zustehen, wäre ihm verwehrt. Das betreffende Vertragsorgan könnte nicht auf Repressalie oder Retorsion zurückgreifen.313 Neben der rechtlichen Unzulässigkeit solchen Vorgehens erscheint es auch praktisch kaum vorstellbar, mit welchen Mitteln der Repressalie oder Retorsion ein Vertragsorgan zur Durchsetzung seiner Entscheidungen vorgehen können sollte. Die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen oder der Abbruch diplomatischer Beziehungen durch das Vertragsorgan allein würden keinen Sinn machen. Eine Kompetenz des Vertragsorgans gegebenenfalls die anderen Vertragsparteien zu solchen Maßnahmen aufzufordern oder zu verpflichten, müsste wiederum von den Vertragsstaaten erst geschaffen werden. Da eine solche noch stärker in ihre Souveränität eingreifen würde, ist die Annahme eines solchen Handelns der Vertragsparteien für die Zukunft utopisch. Denkbar erscheint allein, den übrigen Vertragsparteien im Falle der Nichtbeachtung einer Entscheidung des Vertragsorgans die Möglichkeit zur Vornahme einer Repressalie zu geben, da der Vorbehaltsstaat in einem solchen Fall gegen seine Pflichten aus dem jeweiligen Vertrag verstoßen würde.314 Damit würde die Autorität des Vertragsorgans allerLorz, Der Staat 41 (2002), S. 33; vgl. Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 78. Solches nimmt Bauer hingegen als problemlos an, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 149; Cohen-Jonathan, AFDI 27 (1981), S. 283, der der Meinung ist, dass das Vertragsorgan die letzte Entscheidungsinstanz bilden solle. 311 So Cohen-Jonathan, AFDI 27 (1981), S. 283; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 769; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 149 f. 312 Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 151; Bourguignon, Virginia JIL 29 (1989), S. 384, der sich allerdings auf den Sonderfall der Staaten des Europarats bezieht. 313 Vgl. zu diesen Instrumenten Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (2). 314 Unabhängig von einem Völkerrechtsverstoß würde die Vornahme einer Retorsion den übrigen Vertragsparteien daneben grundsätzlich immer offen stehen. 309 310

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dings vollständig vom Verhalten der übrigen Vertragsparteien abhängig. Nur wenn diese dazu gewillt wären, könnte seine Entscheidung durchgesetzt werden. Faktisch würde damit die letztendliche Entscheidung über die materielle Rechtswirkung eines Vorbehalts erneut den Vertragsstaaten in die Hände fallen, womit die gesamte Lösungskonstruktion der Errichtung oder Anerkennung eines entscheidungsbefugten Vertragsorgans seinen Sinn verliert. Andere Durchsetzungsmechanismen wie die Einschaltung eines weiteren Vertragsorgans, das Konsequenzen für die Mitgliedschaft des Vorbehaltsstaats in der Gemeinschaft der Vertragsparteien androhen und gegebenenfalls ziehen könnte,315 bedürfte ebenso wie die entsprechende Ausstattung des über die Vorbehalte entscheidenden Vertragsorgans erneut der ausdrücklichen Vertragsänderung durch die Staaten. Die damit verbundenen Nachteile sind bekannt. Schließlich würde auch den durch einen Vorbehalt betroffenen Individuen aus einem solchen Reformansatz kein Vorteil erwachsen, der dessen Weiterverfolgung rechtfertigen könnte. Zwar ist dem Argument zuzustimmen, dass für diese durch eine Vorabentscheidung über das Schicksal eines Vorbehalts durch ein Vertragsorgan ein größeres Maß an Rechtssicherheit entstehen könnte.316 Dieser auf den ersten Blick große Vorteil erweist sich jedoch bei genauer Betrachtung aus zwei Gründen als unbedeutend. Erstens wäre die Entscheidung eines solchen Vertragsorgans mangels tauglicher Entscheidungsgrundlage keineswegs sicher, sondern in den meisten Fällen mit dem Stigma möglicher Willkür behaftet.317 Zweitens bestünde für die betroffenen Individuen keinerlei Möglichkeit, eine Entscheidung des Vertragsorgans zu beeinflussen. Hierzu müsste eine Verfahrensordnung geschaffen werden, die es auch Individuen in einem Verfahren außerhalb einer möglichen Individualbeschwerde gestattet, ihre Rechtsauffassung vor dem betreffenden Organ vorzutragen. Dieses würde wiederum einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor für die Staaten schaffen, so dass Akzeptanz hierfür nicht zu erwarten ist. Weiterhin hätten die betroffenen Individuen keinerlei Möglichkeit, eine einmal ergangene Entscheidung des Vertragsorgans überprüfen zu lassen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Lösung, ein Vertragsorgan mit bindenden Entscheidungsbefugnissen zur Rechtswirkung eines Vorbehalts auszustatten, auf Probleme im Bereich der Entscheidungsgrundlage, der Durchsetzbarkeit und der Anerkennung von Entscheidungen trifft, die nur über eine Vielzahl von Vertragsänderungen gelöst werden könnten, deren Vornahme aber nicht zu erwarten ist. Eine solche Lösung würde sich zudem sehr weit vom geltenden Vor315 Vgl. die Kompetenzen des Ministerkomitees des Europarats, welches die Einhaltung der Urteile des EGMR zu überwachen hat und gegebenenfalls Sanktionen gegen einen Staat verhängen kann, die bis zum Ausschluss aus dem Europarat führen können, vgl. Art. 46 Abs. 2 EMRK, Art. 8 Satzung des Europarats. 316 Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 78 f.; Sucharipa-Behrmann, ARIEL 1 (1996), S. 86 f. 317 Abgesehen von dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Staatengemeinschaft in alle Menschenrechtsschutzverträge eine mit Art. 57 EMRK vergleichbare Norm aufnimmt.

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behaltsrecht entfernen, da die Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts nicht mehr in der Hand der Staaten läge, was ein Kernelement der Art. 20 und 21 WVK ist. Auch insofern ist nicht mit großer Akzeptanz von Seiten der Staaten zu rechnen. Weiterhin könnte sich eine solche Reform nicht langsam und nachhaltig etablieren wie eine, die auf die gewohnheitsrechtliche Weiterentwicklung des geltenden Rechts durch Staatenpraxis setzt. Sie müsste komplett und mit allen nötigen Veränderungen von den Staaten beschlossen werden, bevor sie Wirkung entfaltet. Alle diese Argumente sprechen dagegen, diesen Ansatz bei der Ermittlung eines Reformvorschlags weiter zu berücksichtigen. Sogar bestehende Vertragsorgane haben mittlerweile anerkannt, dass eine entsprechende Tätigkeit ihrerseits keinen Nutzen hätte beziehungsweise sie auf diesem Gebiet bislang nur wenig zu erreichen vermochten.318 Vertragsorgane sollten eine materielle bindende Entscheidungsbefugnis über die Rechtswirkung von Vorbehalten daher nicht erhalten.319 318 So erkannte der Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung bereits im Jahre 1978 an, dass er keine bindenden Prüfungskompetenzen im Bereich des Vorbehaltsrechts hat, Report of the Committee on the Elimination of Racial Discrimination, UN Doc. A / 33 / 18, S. 85 f., Ziff. 374, und reagierte damit zustimmend auf eine entsprechende Äußerung des Generalsekretariats der UN, International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination – Legal Effects of Statements of Interpretation and Other Declarations made at the Time of Ratification or Accession – A Decision by the Committee on the Elimination of Racial Discrimination that a Reservation already accepted is incompatible with the Object and Purpose of the Convention would have no Legal Effect, UNJY 1976, S. 221, Ziff. 8; vgl. Imbert; HRR 6 (1981), S. 41 f.; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 170; auch der Ausschuss gegen Frauendiskriminierung hat im Bereich des Vorbehaltsrechts wenig erreicht und beschränkt sich auf allgemeine Stellungnahmen, so ebenfalls die Meinung des Offices of Legal Affairs des Sekretariats der UN, Legal opinion submitted by the Treaty Section of the Office of Legal Affairs of the United Nations Secretariat upon an Inquiry by the Committee concerning the implementation of article 28 of the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, UN Doc. A / 39 / 45 vol. II, Annex II, S. 55 f.; vgl. Lijnzaad, S. 367; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 175; Byrnes, Yale JIL 14 (1989), S. 56. 319 Vgl. Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 118 ff., 125; McGrory, HRQ 23 (2001), S. 802; Baratta, EJIL 11 (200), S. 416; dieses Ergebnis bezieht sich nur auf die Ausarbeitung eines generellen Reformvorschlags. Selbstverständlich steht es den Staaten weiterhin frei, einzelne Verträge in der besagten Weise zu ändern und eine Entscheidungskompetenz eines entsprechenden Vertragsorgans als bindend anzuerkennen; vgl. Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fourth session, Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-seventh session, prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 529, S. 19, Ziff. 76. Der von Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 43 f., gemachte Vorschlag, solchen Organen eine bindende Entscheidungsbefugnis zuzugestehen, es aber den Staaten i. S. eines Feststellungsurteils zu überlassen, wie sie diese erfüllen, ist ebenfalls abzulehnen, da auch damit letztendlich die Entscheidung über die Rechtswirkung des Vorbehalts in der Hand der Staaten läge und Durchsetzungsmöglichkeiten für das „Feststellungsurteil“ nicht bestehen.

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Bereits nach derzeit geltendem Recht haben Vertragsorgane jedoch verschiedene Kompetenzen zur zwar nicht bindenden Überwachung der Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen, aber zur Stellungnahme in dieser Frage. Stellungnahmen können dabei im Rahmen eines Staatenberichtsverfahrens, aber auch bei der Prüfung einer Staaten- oder Individualbeschwerde abgegeben werden.320 Es ist den Vertragsorganen damit nicht verwehrt, wenn ein Staatenbericht beziehungsweise ein Staaten- oder Individualbeschwerdeverfahren eine Frage hinsichtlich eines oder mehrerer Vorbehalte aufwirft, sich in ihren anschließenden Stellungnahmen zu einem Vorbehalt zu äußern.321 Auf diese Weise können sie eine Hinweisfunktion wahrnehmen und so eine mögliche Reaktion anderer Vertragsparteien zwar nicht bindend beeinflussen, aber zumindest vorbereiten. Durch den in der Stellungnahme eines Vertragsorgans enthaltenen Hinweis, ein Vorbehalt sei nach dessen Ansicht problematisch, könnten die Vertragsparteien angeregt werden, darauf entsprechend zu reagieren. Der Vorbehaltsstaat könnte seinerseits angeregt werden, den Vorbehalt zu überdenken.322 Eine reine Hinweisbefugnis der Vertragsorgane würde damit nicht nur in Einklang mit bereits geltendem Recht stehen. Sie würde diesem darüber hinaus zu größerer Effektivität verhelfen.323 Dies gilt insbesondere im Hinblick auf kleinere Staaten, die oftmals nicht über die nötigen Mittel und Ressourcen verfügen, jeden Vorbehalt zu einem Vertrag, dessen Partei sie sind, zu überprüfen. Durch den Hinweis eines Vertragsorgans würde ihnen nicht nur der Umstand einer Vorbehaltserklärung bekannt gemacht, ihnen würde ferner eine Grundlage geliefert, aufgrund derer sie ihre Entscheidung über eine mögliche Reaktion treffen könnten. Dadurch, dass ein solches Verfahren bereits im Einklang mit geltendem Recht steht, würde es den Staaten, selbst wenn es von den Vertragsorganen in größerem Umfang als bisher angewandt werden würde, keine großen 320 Vgl. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (1); die Vertragsorgane sind u. a. dazu befugt, ihre Ansichten in einem bestimmten Fall darzulegen, allgemeine Lösungsvorschläge zu machen, oder Berichte abzufassen. 321 Die ILC spricht davon, dass Vertragsorgane kompetent sind, Vorbehalte zu kommentieren und Empfehlungen abzugeben, mithin nicht bindende Erklärungen, die nicht über die den Organen gegebene Rolle hinausgehen dürfen, Report of the International Law Commission on the work of its forty-ninth session, 12. Mai-18. Juli 1997, UN Doc. A / 52 / 10, S. 126 f., Ziff. 5, 8; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 164 ff; 176; vgl. Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 709; Byrnes, Yale JIL 14 (1989), S. 52; Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 221 f. 322 Vgl. die Äußerungen des Ausschusses für die Beseitigung der Rassendiskriminierung zu Vorbehalten Jamaikas, CERD, E. 85, XIV. 2, S. 35, Ziff. 205, und Barbados, CERD, E. 85. XIV. 2, S. 33, Ziff. 193; Byrnes, Yale JIL 14 (1989), S. 52 f.; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 171 f. 323 Insofern irrt Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 769, nur insofern, als dass er feststellt, dass Einsprüche lediglich Indizien für die Unzulässigkeit eines Vorbehalts seien und sie daher bei der Entscheidung des Vertragsorgans Hilfe leisten. Es kann nur der Hinweis des Vertragsorgans sein, der einen Staat bei seiner Entscheidung über einen möglichen Einspruch Hilfe leistet; ebenso Cohen-Jonathan, AFDI 27 (1981), S. 283; dagegen offenbar Cameron, ICLQ 37 (1988), der selbst im System der EMRK, das mit dem EGMR ein kompetentes Überwachungsorgan errichtet, die Reaktionen der Staaten nicht als irrelevant ansieht; für eine Hinweisbefugnis Byrnes, Yale JIL 14 (1989), S. 56.

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Umgewöhnungen abverlangen. Eine solche Entwicklung könnte sich darüber hinaus langsam vollziehen. Eine Gefahr, dass die Staaten sich weigern könnten, dieses Verfahren anzuerkennen, besteht daher wohl nicht. Eine reine Hinweisbefugnis wäre für die Staaten in keiner Weise bindend. Ihre Entscheidungskompetenzen im Bereich des Vorbehaltsrechts würden nicht angetastet. Es spricht daher nichts dagegen, Vertragsorganen zwar keine bindende Entscheidungsgewalt, zumindest aber eine Hinweisbefugnis bezüglich problematischer Vorbehalte zuzubilligen.324 Dabei bleiben jedoch zwei Fragen offen. Erstens muss geklärt sein, auf welcher Grundlage das Vertragsorgan seine Entscheidung treffen soll. Zwar wäre eine Anwendung des Ziel-und-Zweck-Tests hier nicht in einem so hohen Maße problematisch wie bei einer bindenden Entscheidung durch das Vertragsorgan. Die endgültige Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts würde unabhängig von dessen Zulässigkeit bei den Staaten verbleiben. Bereits mit der abstrakten Anwendung des Ziel-und-Zweck-Tests sind jedoch so viele Probleme verbunden, dass seine Anwendung insgesamt unterbleiben sollte, auch um zu verhindern, dass sich diese Unsicherheiten in der Entscheidung der Staaten widerspiegeln. Insofern muss ein anderes Kriterium gefunden werden, woran ein Vertragsorgan seine Hinweisbefugnis orientieren kann.325 Dieses muss unabhängig von subjektiven Ansichten einzelner Staaten oder des Vertragsorgans selbst sein, da sich die Stellungnahmen oder Hinweise des Vertragsorgans nicht nur an bestimmte Staaten richten würden. Zwar ist dies bei Staaten- oder Individualbeschwerden primär der Fall. Jedoch erfüllen solche Stellungnahmen auch eine objektive Funktion bei der Auslegung des Vertrags.326 Das Versagen des Ziel-und-Zweck-Tests beweist, dass materielle Kriterien kaum in objektiver Weise angewandt werden können. Insofern muss das Kriterium, aufgrund dessen das Vertragsorgan seine Entscheidung zur Kennzeichnung eines Vorbehalts trifft, sich möglichst wenig auf den materiellen Inhalt eines Vorbehalts beziehen. Da sich der Reformbedarf des Vorbehaltsrechts zu Menschenrechtsschutzverträgen in erster Linie auf den wichtigen Bereich der Primärpflichten bezieht, ist denkbar, den Vertragsorganen immer dann eine Hinweisbefugnis zuzuerkennen, wenn der Vorbehalt sich auf Primärpflichten bezieht.327 Diese sind 324 Dafür wohl auch Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 767 ff., der zwar von einer Prüfungsbefugnis der Vertragsorgane spricht, allerdings wohl nur eine Hinweisbefugnis meint, da er ausdrücklich betont, dass solche Entscheidungen rechtlich nicht bindend sind. 325 Dies gilt nur, sofern der Vertrag selbst kein eindeutiges objektives Zulässigkeitskriterium festlegt, was allerdings mit Ausnahme der EMRK (Art. 57) bei keinem wichtigen Menschenrechtsschutzvertrag der Fall ist. 326 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 767. 327 Dies steht nicht im Widerspruch zu der Annahme, dass eine materielle Entscheidungsbefugnis der Vertragsorgane auch aus dem Grund abzulehnen ist, weil objektive Kriterien, anhand derer sich eine solche Entscheidung orientieren müsste, nicht zur Verfügung stehen. Würde ein Vertragsorgan jeden Vorbehalt zu einer Primärpflicht für ungültig erklären, würde dies einem Verbot solcher Vorbehalte gleichkommen. Ein solches ist wegen seiner teilweise zu erwartenden kontraproduktiven Wirkung nicht wünschenswert, s. o. Kapitel 4, B. I. 1. Es dürfte auch keine Chancen auf Akzeptanz haben. Sofern die Entscheidung über die Rechts-

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anhand ihrer Struktur einfach zu identifizieren. Sie umfassen alle Pflichten, die ein Vertragsstaat gegenüber den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen hat. Ein solches Kriterium würde sich daher mehr an formellen als an materiellen Kriterien orientieren. Die Kennzeichnungsentscheidung würde daher keine Entscheidung über den materiellen Gehalt des Vorbehalts bedeuten und diese auch nicht im Vorfeld beeinflussen. Weiterhin haben alle Vorbehalte, die zu einer menschenrechtlichen Primärpflicht erklärt werden, das Ziel, solche Pflichten für den Vorbehaltsstaat zu reduzieren. Jeder Vorbehalt dieser Art bedeutet also zumindest eine potentielle Gefahr für den Vertragsinhalt. Die Annahme, dass ein solcher Vorbehalt zumindest problematisch sein kann und die übrigen Vertragsparteien eine entsprechende Reaktion erwägen sollten, muss daher nicht von vornherein falsch sein. Zum zweiten kann die Hinweisbefugnis eines Vertragsorgans nicht allein die bestehenden Probleme im Bereich des Vorbehaltsrechts lösen. Auch hiernach würden die Staaten über die Rechtswirkung des Vorbehalts entscheiden. Die mit dem Einsatz von Annahme und Einspruch verbundenen Probleme würden nicht gelöst. Die Hinweisbefugnis der Vertragsorgane kann daher nur Teil eines weitergehenden Reformansatzes sein, der auch die Wirkung von Annahme und Einspruch verändert. In Kombination mit einem solchen Ansatz kann die Hinweisbefugnis jedoch wertvolle Hilfe bei einer effektiven Ausschöpfung seiner Möglichkeiten leisten. Sie wird daher insoweit bei der endgültigen Erarbeitung eines Reformvorschlags zu berücksichtigen sein. b) Gerichte Auch eine Überprüfungskompetenz internationaler Gerichte bezüglich der Rechtswirkung von Vorbehalten wird als Lösungsmöglichkeit für die im derzeitigen Vorbehaltsrecht bestehenden Probleme gehandelt.328 Innerhalb des Systems der EMRK hat der EGMR eine Rechtsprechung etablieren können, die ihn mit entsprechenden Kompetenzen ausstattet. Sie wird von den Mitgliedstaaten des Europarats anerkannt. Damit bildet das System der EMRK jedoch einen Sonderfall.329 Der EGMR ist bis heute das einzige internationale Gericht geblieben, das anerkannt bindende Entscheidungen im Bereich des Vorbehaltsrechts gefällt hat. Insofern kann seine Entwicklung auf globaler Ebene nicht automatisch als Reformwirkung allein bei den Staaten bleibt und das Vertragsorgan lediglich eine Hinweisbefugnis erhält, kann diese Wirkung nicht eintreten. 328 Edwards, Michigan JIL 10 (1989), S. 393. 329 s. o. Kapitel 4, B. I. 6.; Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 41; Frowein, in: FS Skubiszewski, S. 408; neben dem EGMR arbeiten im Bereich des Vorbehaltsrechts noch verschiedene vom Europarat eingesetzte Gremien, u. a. das Ad Hoc Committee of Legal Advisers on Public International Law, deren Tätigkeit in dieser Arbeit jedoch nicht weiter untersucht werden soll, da die Tätigkeit des EGMR als dem wichtigsten Organ zur Überwachung der Einhaltung menschenrechtlicher Verpflichtungen im Bereich des Europarats auch bzgl. Vorbehalten eine dominante Position einnimmt; vgl. zur Tätigkeit solcher Organe Spiliopoulou Åkermark, ELR 24 (1999), S. 511 ff.

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grundlage angesehen werden.330 Vielmehr ist zu untersuchen, ob sich andere Gerichte in einer ähnlichen Weise als zur Entscheidung über Vorbehalte befugt etablieren konnten. Nur wenn dies der Fall ist beziehungsweise sich in dieser Hinsicht bestehende Probleme ausräumen lassen, kann ein solcher Reformvorschlag auch auf universeller Ebene erstellt werden. Sofern dies nicht der Fall ist, muss das System der EMRK weiterhin als ein auf Europa beschränktes Sondermodell angesehen werden. Bei den folgenden Untersuchungen werden Ausführungen zum EGMR daher unterbleiben. Als internationale Gerichte sollen vielmehr der IGH und der IACHR auf ihre Kompetenzen hin untersucht werden beziehungsweise soll festgestellt werden, ob sich entsprechende Kompetenzen etablieren ließen. Als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen hat der IGH die Möglichkeit, in jeder ihm von den Parteien unterbreiteten Rechtsfrage eine Entscheidung zu treffen.331 Diese ist für die beteiligten Parteien bindend.332 Weiterhin ist er befugt, zu jeder ihm von dazu berechtigter Stelle vorgelegten Frage ein Rechtsgutachten zu erstellen.333 In beiden Verfahren kann der IGH sich zu Vorbehalten äußern. Im Streitverfahren kann er ein die Parteien bindendes Urteil auch in Vorbehaltsfragen fällen. Insofern besitzt der IGH bereits derzeit die Kompetenz zur Entscheidung über die Rechtswirkung von Vorbehalten.334 Diese Kompetenz ist jedoch nicht unbeschränkt. Eine bindende Entscheidung durch den IGH kann nur dann ergehen, wenn seine Zuständigkeit von beiden Streitparteien anerkannt wird.335 Kein Staat kann gegen seinen Willen zur Partei eines Rechtsstreits vor dem Gerichtshof gemacht werden.336 Gutachten können nur auf Anfrage erstellt werden. Der Gerichtshof kann nicht aus eigener Initiative entscheiden. Dies trifft zwar grundsätzlich auch auf den EGMR zu. Allerdings besteht zwischen diesem und dem IGH der entscheidende Unterschied, dass bei einer Entscheidung des EGMR, die in der Regel in einem Individualbeschwerdeverfahren ergeht, die Zustimmung des Vorbehaltsstaats hierzu nicht notwendig ist. Dieser ist schon durch seine Mitgliedschaft in der EMRK an die Zuständigkeit des EGMR gebunden. Der IGH kann dagegen von Individuen nicht mit Sachverhalten befasst werden.337 Ein Vorbehalt kann mithin nur dann zum Thema eines Streitverfahrens gemacht werden, wenn ein Staat bereit ist, ein solches vor den IGH zu bringen. Die insgesamt eher wenig ausgeprägte Bereitschaft der Staaten, Einsprüche gegen Vorbehalte zu erheben,338 liefert ein schlüssiges Indiz dafür, dass die Bereitschaft, Vorbehaltsfra330 331 332 333 334 335 336 337 338

So, allerdings ohne weitere Begründung, Edwards, Michigan JIL 10 (1989), S. 394. Art. 36 Abs. 1 IGH-Statut. Art. 59 IGH-Statut. Art. 96 UNC; Art. 65 IGH-Statut. Vgl. Lijnzaad, S. 334. Art. 36 IGH-Statut. Alexandrov, Leiden JIL 14 (2001), S. 90; Schorer, S. 32. Art. 34 Abs. 1 IGH-Statut. s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (1).

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gen vor den IGH zu bringen, genauso schwach ausgeprägt sein dürfte.339 Auch der Gerichtshof selbst hat in Fällen, in denen er die Zulässigkeit eines Vorbehalts zu beurteilen hatte, eher versucht, eine detaillierte Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Fragen zu vermeiden. So erklärte er im Jahre 2002 einen Vorbehalt Ruandas zu Art. 22 CERD allein deshalb für gültig, weil nicht die gemäß Art. 22 Abs. 2 CERD erforderlichen zwei Drittel der Vertragsparteien widersprochen hatten.340 Einen Vorbehalt Ruandas zu Art. IX der Völkermordkonvention erachtete der IGH als gültig, weil diese Konvention Vorbehalte nicht verbiete und der Kongo als Klagegegner in dem betreffenden Fall dem Vorbehalt auch nicht widersprochen hatte. Weiterhin begnügte sich der Gerichtshof mit dem recht knappen Hinweis, dass ein Vorbehalt zu einer seine Zuständigkeit betreffenden Norm nicht gegen Ziel und Zweck der Völkermordkonvention verstoße.341 Ein ernstes Problem des Ansatzes, den IGH über die Wirksamkeit von Vorbehalten bindend entscheiden zu lassen, liegt darin, dass der Vorbehaltsstaat es im Streitverfahren selbst in der Hand hat, durch Nichtabgabe oder Zurückziehen seiner Unterwerfungserklärung die Zuständigkeit des IGH auszuschließen. Dies ist Ausdruck seiner in dieser Hinsicht voll bestehenden Souveränität.342 Der Vorbehaltsstaat trifft mithin die Entscheidung darüber, ob über einen Vorbehalt durch den IGH geurteilt werden kann. Da Individuen den IGH nicht anrufen können, ist es denjenigen, die von einem Vorbehalt materiell betroffen sind, dagegen verwehrt, diesen gerichtlich überprüfen zu lassen. 339 So ist die Zahl der Fälle, in denen sich der IGH mit Fragen des Vorbehaltsrechts auseinandersetzen musste, gering geblieben. Abgesehen vom Gutachten zur Völkermordkonvention äußerte sich der IGH im Case Concerning the Aerial Incident of 10 August 1999 (Pakistan v. India), 21. Juni 2000, ICJ Reports 2000, S. 31; vgl. dazu auch Heyder / Thelen, GYIL 43 (2000), S. 308 ff., sowie im Fisheries Jurisdiction Case (Spain v. Canada), 4. Dezember 1998, ICJ Reports 1998, S. 451 ff., Ziff. 39 ff., wo sich der Gerichtshof jedoch lediglich mit einem Vorbehalt seine Zuständigkeit betreffend auseinanderzusetzen hatte, mithin lediglich mit einer vertraglichen Sekundärpflicht. Dazu auch die Seperate Opinion des Richters Schwebel, ICJ Reports 1998, S. 473, Ziff. 10, der ausdrücklich betont, dass der Gerichtshof nicht berechtigt sei, einen Vorbehalt für nichtig zu erklären, wenn ein Staat deutlich macht, dass er einen Vorbehalt zu seiner Unterwerfungserklärung als so wichtig erachtet, dass er diese ohne den Vorbehalt nicht abgegeben hätte. Weitere Stellungnahmen des IGH berührten die Frage der Interpretation von Vorbehalten, Anglo-Iranian Oil Co. Case (United Kingdom v. Iran), 22. Juli 1952, ICJ Reports 1952, S. 104 f., Aegean Sea Continental Shelf Case (Greece v. Turkey), 19. Dezember 1978, ICJ Reports 1978, S. 28 f., Ziff. 69; vgl. Case of Certain Norwegian Loans (France v. Norway), 6. Juli 1957, ICJ Reports 1957, S. 27; vgl. Schabas, Brooklyn JIL 21 (1995), S. 318. 340 IGH, Case Concerning Armed Activities on the Territory of the Congo (New Application: 2002) (Democratic Republic of the Congo v. Rwanda), Order vom 10. Juli 2002, Ziff. 67; vgl. Klingberg / Schlinkert, GYIL 45 (2002), S. 456 f. 341 IGH, Case Concerning Armed Activities on the Territory of the Congo (New Application: 2002) (Democratic Republic of the Congo v. Rwanda), Order vom 10. Juli 2002, Ziff. 72; vgl. Klingberg / Schlinkert, GYIL 45 (2002), S. 457; beide Vorbehalte bezogen sich jedoch lediglich auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs, auch hier musste der IGH mithin nicht über einen Vorbehalt zu einer menschenrechtlichen Primärpflicht entscheiden. 342 Vgl. Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 170 IV. 6.

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Im Gutachtenverfahren darf der Gerichtshof keine bindende Entscheidung treffen. Auch wenn ein Gutachten Auswirkungen auf die Entwicklung des Gewohnheitsrechts haben beziehungsweise politischen Druck auf Staaten erzeugen kann,343 ist es für keinen Staat rechtlich bindend. Weiterhin darf durch die Anfertigung eines Gutachtens kein Quasiurteil ergehen. Dies gilt insbesondere für Vorgänge, die aus unabhängigem Handeln von Staaten resultieren,344 mithin auch für Vorbehalte, da Staaten zu deren Erklärung grundsätzlich frei sind. Den vom Vorbehalt betroffenen Individuen ist es weiterhin nicht gestattet, den Gerichtshof um ein Gutachten zu bitten. Das Gutachtenverfahren ist daher ebenfalls nicht geeignet, den IGH eine endgültige Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts treffen zu lassen. Da der Gerichtshof keine bindende Entscheidung fällen kann, würde es weiterhin in der Hand der Staaten liegen, ihrerseits über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zu entscheiden. Eine Reform, die die Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts in die Hände des IGH legen will, müsste daher vor allem die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der IGH in die Lage versetzt wird, notfalls auch gegen den Willen des Vorbehaltsstaats eine bindende Entscheidung zu treffen. Dies ist nur über eine ausdrückliche Änderung des IGH-Statuts möglich. Für solche Änderungen gelten die Bestimmungen, wie sie auch für Änderungen der Charta der Vereinten Nationen gelten.345 Nötig wäre daher eine Annahme mit Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung und Ratifikation durch zwei Drittel der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats.346 Vor allem die USA, Frankreich und Großbritannien haben sich bei ihrer Ablehnung des General Comments No. 24 in besonders scharfer Weise gegen eine Kompetenz des Human Rights Committees zur bindenden Entscheidung im Bereich des Vorbehaltsrechts ausgesprochen. Diese drei sind ständige Mitglieder des Sicherheitsrats. Es ist daher nicht zu erwarten, dass sie einer Änderung des IGH-Statuts zustimmen würden, die einem internationalen Gericht bindende Kompetenzen in allen Vorbehaltsfragen verleiht. Weiterhin haben die USA nach dem Nicaragua-Urteil ihre Unterwerfungserklärung unter die Zuständigkeit des Gerichtshofs gemäß Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut sogar zurückgezogen, womit vier der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder sich nicht der Gerichtsbarkeit des IGH in dieser Form unterworfen haben.347 Dies beweist zusätzlich, dass diese Staaten einer bindenden Rechtsprechungskompetenz des IGH sehr skeptisch gegenüberstehen und nicht Aus diesem Grunde für eine solche Lösung Cook, Virginia JIL 30 (1990), S. 710 ff. StIGH, Status of Eastern Carelia (Advisory Opinion), 27. April 1923, PCIJ Ser. B, No. 5, S. 27 f.; IGH, Western Sahara (Advisory Opinion), 16. Oktober 1975, ICJ Reports 1975, S. 25, Ziff. 33 f.; Schlochauer, in: Bernhardt, EPIL, Bd. II (E – I), S. 1098. 345 Art. 69 IGH-Statut. 346 Art. 108 UNC. 347 Hierzu und zum aktuellen Stand der Abgabe von Erklärungen nach Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut vgl. die Homepage des IGH unter www.icj-cij.org; Oda, ICLQ 49 (2000), S. 264; Alexandrov, Leiden JIL 14 (2001), S. 92. 343 344

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bereit sind, ohne eine im Einzelfall abzugebende Unterwerfungserklärung die Zuständigkeit des Gerichtshofs anzuerkennen. Es ist daher nicht zu erwarten, dass eine Reform, die den IGH als Instanz zur Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts generell anerkennt, jemals zustande kommen kann.348 Darüber hinaus stellt sich auch bei einer Entscheidung des IGH im Bereich des Vorbehaltsrechts die Frage, auf welcher Grundlage er die materielle Zulässigkeit eines Vorbehalts beurteilen sollte. Zwar hat der Gerichtshof selbst den Ziel-undZweck-Test im Gutachten zur Völkermordkonvention erfunden. Auch für den IGH wäre es allerdings unmöglich, mit diesem zu vagen Test als Entscheidungsgrundlage zu arbeiten, ohne sich in die Gefahr von Willkürentscheidungen zu bringen. Insofern bestehen dieselben Probleme, die für Vertragsorgane gelten.349 Die Tauglichkeit dieses Tests wurde schon bei seiner Erfindung angezweifelt.350 Die Kritik an ihm verstummte nie.351 Es müsste daher auch für den IGH eine Entscheidungsgrundlage geschaffen werden, die Entscheidungen ermöglicht, ohne die Gefahr von Willkür zu erzeugen. Ein solches Unterfangen ist jedoch nur durch ausdrückliche Änderung nahezu aller wichtiger Menschenrechtsschutzverträge oder beziehungsweise und Art. 19 lit. c WVK möglich, was kaum zu erwarten ist.352 Schließlich besteht bereits heute das Problem, wie sich Urteile des IGH durchsetzen lassen.353 Zwar sind nach Art. 2 Abs. 2 UNC i. V. m. Art. 94 Abs. 1 die Parteien verpflichtet, Urteile des Gerichtshofs zu beachten. Die betroffenen Streitparteien können sie begünstigende Urteile aber nur dadurch durchzusetzen versuchen, dass sie entsprechende Zwangsmaßnahmen gegen den gegnerischen Staat einleiten354 oder den Sicherheitsrat gemäß Art. 94 Abs. 2 UNC hierum bitten.355 Über eigene Durchsetzungsmittel verfügt der IGH nicht.356 Selbst wenn es gelänge, das IGH-Statut so zu ändern, dass für den IGH eine bindende allgemeine EntVgl. Lijnzaad, S. 334. s. o. Kapitel 4, B. III. 5. a); für die Anwendbarkeit des Ziel-und-Zweck-Tests für Verfahren vor internationalen Gerichten Edwards, Michigan JIL 10 (1989), S. 393. 350 Joint Diss. Opinion der Richter Guerrero, McNair, Read, Hsu Mo, ICJ Reports 1951, S. 32, in der die Richter betonen, dass der Ziel-und-Zweck-Test wegen seiner Unbestimmtheit praktisch unanwendbar sei. 351 Die gleiche Kritik äußerte der Vertreter Frankreichs Bastid in der sich an das Gutachten anschließenden Diskussion im 6. Committee der Generalversammlung, GAOR, 6th Session, 6th Committee, 266th meeting (8. Dezember 1951), S. 80, Ziff. 5, UN Doc. A / C.6 / SR.266; vgl. auch: Jully, Die Friedenswarte 51 (1951 / 53), S. 268 f.; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 391; zu weiteren Diskussionen im 6. Committee Liang, AJIL 46 (1952), S. 486; vgl. Kapitel 2, C. III. sowie Kapitel 3, C. III. 1. b). 352 s. o. Kapitel 4, B. III. 5. a). 353 Guillaume, in: Jasentuliyana, Perspectives on International Law, S. 280. 354 Guillaume, in: Jasentuliyana, Perspectives on International Law, S. 285 f.; Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 62, Rn. 48. 355 Schlochauer, in: Bernhardt, EPIL, Bd. II (E – I), S. 1097. 356 Dies ist bei Schaffung des IGH-Statuts sogar ausdrücklich so gewollt gewesen, UNCIO Doc. Bd. 14, S. 853; Guillaume, in: Jasentuliyana, Perspectives on International Law, S. 280 f. 348 349

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scheidungsgewalt im Bereich der Vorbehalte festgelegt wird, würde sich am Umstand, dass es weiterhin die Staaten wären, denen die Durchsetzung seiner Urteile obliegt, nichts ändern. Insbesondere das Verfahren gemäß Art. 94 Abs. 2 UNC ist bei den Staaten unbeliebt und in der Praxis nicht relevant.357 Eine Änderung des IGH-Statuts, die dem Gerichtshof eigene Durchsetzungsinstrumente gibt, würde die Souveränität der Staaten so stark berühren, dass diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht bereit wären, einer solchen zuzustimmen. Wenn es aber Aufgabe der Staaten bleiben soll, Entscheidungen auf dem Gebiet des Vorbehaltsrechts durchzusetzen, ist es logischer, einen Reformansatz zu entwerfen, der auch die Entscheidungsgewalt über die Rechtswirkung eines Vorbehalts selbst in die Hände der Staaten legt, und sie nicht allein zum Vollstrecker fremder Entscheidungen macht. Zumindest dürften die Akzeptanzchancen einer solchen Lösung deutlich größer sein.358 Eine Reform, die den IGH als zuständige Instanz zur Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts vorsieht, hätte also mit nahezu den gleichen Problemen zu kämpfen wie eine Reform, die diese Entscheidung etwaigen Vertragsorganen auftragen will.359 Aus diesem Grunde ist auch ein solcher Reformvorschlag mit zu vielen Problemen und Nachteilen verbunden. Er kann daher nicht weiter als Grundlage einer Reform des Vorbehaltsrechts in Betracht gezogen werden. Der Inter-American Court of Human Rights ist ähnlich wie der EGMR mit der Befugnis ausgestattet, in allen die Auslegung und Anwendung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention betreffenden Angelegenheiten bindend zu entscheiden. Dies gilt allerdings nur, wenn der betreffende Staat durch Unterwerfungserklärung die Zuständigkeit dieses Gerichtshofs anerkannt hat.360 Im Falle einer Konventionsverletzung ist der Gerichtshof befugt, die Beseitigung der Verletzung anzuordnen.361 Berechtigt, einen Fall vor den IACHR zu bringen, sind alle Mitgliedstaaten der AMRK sowie die Inter-American Commission on Human Rights.362 Der Gerichtshof verhandelt einen Fall weiterhin nur, wenn dieser vorher von der Kommission behandelt worden ist.363 Die Kommission wiederum besitzt die für alle Vertragsparteien obligatorische Zuständigkeit zur Behandlung von Individualbeschwerden.364 Sofern in einem solchen Verfahren keine gütliche Einigung erzielt wird, kann die Kommission den Fall entweder dem Gerichtshof vorlegen oder ihre Guillaume, in: Jasentuliyana, Perspectives on International Law, S. 283. Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen zum Non-Benefitting-Ansatz, s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) dd). 359 Gegen eine Gutachtenlösung auch Lijnzaad, S. 334 f., die vor allem negative Auswirkungen auf den Entwicklungsstand der CEDAW durch zu konservative Gutachten befürchtet. 360 Art. 62 Abs. 1 AMRK. 361 Art. 63 Abs. 1 AMRK. 362 Art. 61 Abs. 1 AMRK. 363 Art. 61 Abs. 2 i. V. m. Art. 48 – 50 AMRK. 364 Art. 44 AMRK; Shelton, GYIL 26 (1983), S. 244. 357 358

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Auffassungen und Ergebnisse darlegen und dem betreffenden Staat gegebenenfalls eine Frist setzen, Abhilfemaßnahmen zu treffen.365 Sowohl die Kommission als auch der Gerichtshof als die Organe, die zur Entscheidung in den die Erfüllung der Konventionspflichten betreffenden Fällen zuständig sind,366 haben somit theoretisch die Befugnis, in Fragen der Vorbehalte zur AMRK zu urteilen. Diese betreffen die Auslegung und Anwendung der AMRK.367 Schließlich hat die Kommission das Recht, vom Gerichtshof Rat im Wege eines Rechtsgutachtens über die Auslegung der AMRK zu erbitten.368 Auch auf diesem Wege kann sich der Gerichtshof daher in Vorbehaltsfragen äußern. Anders als vor dem IGH hat ein Individuum mit der Individualbeschwerde die Möglichkeit, einen Vorbehalt zusammen mit einer behaupteten Verletzung seiner Konventionsrechte von einem der gerichtlichen beziehungsweise quasigerichtlichen Organe der AMRK überprüfen zu lassen.369 Eine Beschränkung auf Staaten als Parteifähige besteht nicht. Dies bedeutet eine Erweiterung der Prüfungskompetenzen der Kommission und des Gerichtshofs, verglichen mit denen des IGH. Weiterhin ist zumindest die Zuständigkeit der Kommission für alle Vertragsparteien der AMRK obligatorisch, so dass kein Staat die Möglichkeit hat, durch Nichtabgabe oder Rücknahme seiner Unterwerfungserklärung eine mögliche Entscheidung über die Gültigkeit seines Vorbehalts zu umgehen. Dies könnte nur durch eine Kündigung der AMRK durch den Vorbehaltsstaat erreicht werden.370 Das nach der AMRK zur gerichtlichen und quasigerichtlichen Behandlung von Vorbehalten geschaffene System entspricht damit theoretisch eher dem nach der EMRK als dem, in das der IGH eingebunden ist. Art. 48 – 51 AMRK, insbesondere Art. 51 Abs. 2 AMRK. Vgl. Art. 33 AMRK. 367 Insbesondere Art. 75 AMRK; vgl. IACHR, Restrictions to the Death Penalty (Advisory Opinion), 8. September 1983, OC 3 / 83, Ser. A, Nr. 3, Ziff. 45, 61 ff.; IACHR, The Effect of Reservations on the Entry into Force of the American Convention (Advisory Opinion), 24. September 1982, ILM 22 (1983), S. 40, Ziff. 12 f.; Inter-American Commission on Human Rights, Observations Concerning the Return of the Application in the Case of the Constitutional Court v. Peru (11.760), and the Jurisdiction of the Inter American Court of Human Rights, 20. Dezember 1999, V. B. 3 sowie VI. wo betont wird, dass Staaten sich umfassender Jurisdiktion des IACHR unterwerfen. Dies impliziere auch Unterwerfung unter dessen Jurisdiktion im Falle eines Vorbehalts; Shelton, GYIL 26 (1983), S. 244 f.; Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 609; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 160 f. 368 Art. 64 Abs. 1 AMRK i. V. m. Art. 51 lit. e, Art. 112 der Charter of the Organization of American States in der Fassung des „Protocol of Buenos Aires“; vgl. IACHR, The Effect of Reservations on the Entry into Force of the American Convention (Advisory Opinion), 24. September 1982, ILM 22 (1983), S. 41, Ziff. 15. 369 Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 160 f.; da es sich bei der Inter-American Commission of Human Rights um kein Gericht im eigentlichen Sinne handelt, sie allerdings eher die Funktion eines Gerichts als die eines Vertragsorgans hat, wird sie in dieser Arbeit als „quasigerichtliches Organ“ besprochen. 370 Die Frage einer Umgehung durch Erklärung eines Vorbehalts zu Art. 44 AMRK wird, da es sich dabei um einen Vorbehalt zu einer vertraglichen Sekundärverpflichtung handeln würde, erst im entsprechenden Teil dieser Arbeit mit behandelt werden, s. u. Kapitel 4, C. II. 1. 365 366

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Man könnte daher meinen, dass es auch auf globaler Ebene Vorbild eines Reformansatzes werden könnte. Dieses ist allerdings bislang nicht der Fall. Das System der AMRK hat gegenüber dem europäischen System den Nachteil, dass die materielle Entscheidungsgrundlage, nach der Gerichtshof und Kommission die Rechtswirksamkeit eines Vorbehalts beurteilen sollen, nicht mit Art. 57 EMRK vergleichbar ist. Stattdessen verweist Art. 75 AMRK auf die Normen der WVK. Die Überprüfungsorgane der AMRK müssen mithin den unbrauchbaren Ziel-und-ZweckTest anwenden, was zu denselben Problemen führt, die hinsichtlich des IGH und aller Organe bestehen, die darauf zurückgreifen müssen.371 Weiterhin können Kommission und Gerichtshof nicht von sich aus tätig werden. Es wäre also nicht in jedem Fall gesichert, dass ein möglicherweise problematischer Vorbehalt von ihnen überprüft wird.372 Schon in rechtlich-theoretischer Hinsicht zeigt sich damit, dass das AMRK-System zur Behandlung von Vorbehalten nicht reibungslos funktionieren kann. Dies dürfte einen der Gründe dafür liefern, dass dieses System auch in der Praxis keine wichtige Rolle bei der Entscheidung über die Rechtswirkung von Vorbehalten übernehmen konnte. Kommission und Gerichtshof waren nicht in der Lage, ihre Aufgaben im Bereich des Vorbehaltsrechts ausreichend zu erfüllen. Die Kommission beschränkte sich in der Regel darauf, den Gerichtshof in solchen Fällen um Rechtsgutachten zu bitten. Der Gerichtshof vermied es darin, eindeutige Stellungnahmen abzugeben.373 Weiterhin besteht auch hier das bei Rechtsgutachten generell zu beachtende Problem, dass diese keine bindende Wirkung entfalten.374 Insofern verpassten beide Organe über lange Zeit die Chance, ein dem europäischen vergleichbares System zu etablieren.375 Erst in den letzten Jahren begannen Kommission und Gerichtshof, sich mit Vorbehaltsfragen auch bei der Bearbeitung von Fällen auseinanderzusetzen. 376 Der Gerichtshof urteilte im Vgl. Montalvo, AUILR 16 (2001), S. 306; s. o. Kapitel 4, B. III. 5. a). Insofern besteht eine Gemeinsamkeit selbst mit dem System nach der EMRK; vgl. Sucharipa-Behrmann, ARIEL 1 (1996), S. 80. 373 Selbst im seinem Rechtsgutachten The Effect of Reservations on the Entry into Force of the American Convention (Advisory Opinion), 24. September 1982, beschränkte sich der Gerichtshof ausdrücklich auf die Frage der Auswirkungen eines Vorbehalts auf das Inkrafttreten der AMRK, eine weitere Befassung mit Fragen der Vorbehalte lehnte er ausdrücklich ab, ILM 22 (1983), S. 49, Ziff. 39. Er erkannte die mit dem in Art. 75 AMRK normierten Verweis auf die WVK verbundenen Probleme sogar ausdrücklich an und formulierte: „The reference in Article 75 to the Vienna Convention raises almost as many questions as it answers.“, S. 42, Ziff. 20; auch das Gutachten Restrictions to the Death Penalty (Advisory Opinion), 8. September 1983, OC 3 / 83, Ser. A, Nr. 3, Ziff. 60 ff. äußert sich nicht klar zu Vorbehaltsfragen, sondern ist eher allgemein gehalten. 374 Montalvo, AUILR 16 (2001), S. 311. 375 Montalvo, AUILR 16 (2001), S. 307. 376 IACHR, Hilaire v. Trinidad and Tobago Case (Preliminary Objections), 1. September 2001, Ziff. 53 ff., 79 ff.; Benjamin et al. v. Trinidad and Tobago Case (Preliminary Objections), 1. September 2001, Ziff. 52 ff., 69 ff.; Constantine et al. v. Trinidad and Tobago Case (Preliminary Objections), 1. September 2001, Ziff. 52 ff., 69 ff.; hierbei handelte es sich jedoch immer um Vorbehalte, die die Kompetenz des Gerichtshofs betrafen, mithin um Vor371 372

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Jahre 2001 zum ersten Mal, dass ein Staat sich nicht auf einen Vorbehalt berufen konnte.377 Auch das AMRK-System kann somit nur zur Grundlage eines Reformansatzes für das Vorbehaltsrechts insgesamt werden, wenn es grundlegend geändert wird. Hierzu müsste der bisherige Inhalt des Art. 75 AMRK so gestaltet werden, dass der Ziel-und-Zweck-Test nicht mehr Entscheidungsgrundlage über die materielle Rechtswirkung eines Vorbehalts bleibt. Es müsste zumindest eine inhaltliche Angleichung an Art. 57 EMRK erfolgen.378 Die Chancen für eine solche Änderung dürften zumindest kurz- und mittelfristig jedoch schlecht stehen.379 Der Spielraum der Vertragsstaaten unter einem mit Art. 57 EMRK vergleichbaren Vorbehaltsartikel wäre deutlich enger als er es unter dem jetzigen Art. 75 AMRK in Bezug auf die Weite möglicher Vorbehalte ist. Je vager eine Vorbehaltsbestimmung ist, desto größer ist die Möglichkeit für Staaten, davon zu profitieren und einen entsprechend weiten Vorbehalt zu erklären. Weiterhin müssten Gerichtshof und Kommission ihre Praxis ändern und die ihnen gegebenen Kompetenzen auch in Individualbeschwerdeverfahren effektiv nutzen. Eine solche Entwicklung könnte nur sehr langsam erfolgen. Es müsste daher noch viel Zeit vergehen, bevor das Überwachungssystem nach der AMRK Vorbild eines Reformansatzes auf globaler Ebene werden könnte. Schließlich ist das AMRK-System noch nicht in einem so hohen Maße bei den amerikanischen Staaten akzeptiert wie das System nach der EMRK bei den europäischen. So sind einige Mitgliedstaaten der OAS bis heute der AMRK fern geblieben, darunter die USA und Kanada.380 Zwei auch auf globaler Ebene mit einer wichtigen Rolle ausgestattete Staaten sind also offenbar noch nicht einmal bereit, auf regionaler Ebene einen Gerichtshof als befugt anzuerkennen, im Bereich der Vorbehalte zu Menbehalte zu Sekundärpflichten. Zu Vorbehalten zu Primärpflichten mussten sich Gerichtshof und Kommission bislang nicht äußern. 377 IACHR, Hilaire v. Trinidad and Tobago Case (Preliminary Objections), 1. September 2001, Ziff. 98; Benjamin et al. v. Trinidad and Tobago Case (Preliminary Objections), 1. September 2001, Ziff. 89; Constantine et al. v. Trinidad and Tobago Case (Preliminary Objections), 1. September 2001, Ziff. 89; auch hier gilt, dass es sich lediglich um Vorbehalte zu Sekundärpflichten handelte, vgl. auch Fußnote Nr. 376 in Kapitel 4. 378 Vgl. Montalvo, AUILR 16 (2001), S. 312, der zwar eine Beibehaltung des Ziel-undZweck-Tests vorschlägt, diesen aber durch eine weitere Änderung des Art. 75 AMRK präzisieren will. 379 Montalvo, AUILR 16 (2001), S. 313. 380 Die USA haben die AMRK zwar am 1. Juni 1977 unterzeichnet, sie bislang jedoch nicht ratifiziert; Kanada hat die Konvention bislang noch nicht einmal unterzeichnet. Weiterhin sind Antigua und Barbuda, die Bahamas, Belize, Guyana, St. Kitts und Nevis, St. Lucia sowie St. Vincent und die Grenadinen der AMRK bislang fern geblieben. Entsprechende Informationen finden sich auf der Homepage der OAS, www.oas.org. Die EMRK hingegen ist von allen 46 Mitgliedstaaten des Europarats unterzeichnet worden. Lediglich Monaco hat seiner am 5. Oktober 2004 erfolgten Unterzeichnung noch keine Ratifikation folgen lassen; Informationen erhältlich auf der Homepage des Europarats, www.coe.int.

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schenrechtsschutzverträgen bindende Entscheidungen zu treffen. Dies dürfte erst recht für einen Gerichtshof gelten, der auf internationaler Ebene solche Entscheidungen treffen können soll. Insgesamt zeigen die Beispiele des IGH sowie des Inter-American Courts of Human Rights beziehungsweise der Inter-American Commission on Human Rights, dass ein effektives gerichtliches Überprüfungssystem für Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen derzeit nur auf regionaler europäischer Ebene existiert. Auf regionaler amerikanischer Ebene hat das AMRK-System Chancen, in fernerer Zukunft einmal eine ähnliche Entwicklung zu nehmen.381 Die theoretischen Anlagen dafür sind insoweit vorhanden, als dass ein Gerichtssystem existiert, das rechtlich mit entsprechender Entscheidungsbefugnis ausgestattet ist.382 Eine Entwicklung zu einem dem europäischen vergleichbaren System setzt jedoch sowohl eine Reformierung der Entscheidungsgrundlage voraus als auch eine merkliche Weiterentwicklung der Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs und der Kommission sowie einen höheren Akzeptanzgrad bei den Mitgliedstaaten der OAS.383 Weiterhin müsste das Problem der erforderlichen Unterwerfungserklärung unter die Zuständigkeit des Gerichtshofs gelöst werden.384 Diese Reformbedürftigkeit des AMRK-Systems auf regionaler Ebene wiederum liefert den Beleg dafür, dass ein Reformansatz, der die Frage der Rechtswirkung von Vorbehalten auf internationaler Ebene in die alleinige Entscheidungsgewalt eines Gerichts legen will, nach heutigen Maßstäben nicht weiter verfolgt werden kann. Die internationale Entwicklung ist hierfür noch nicht weit genug vorangeschritten, als dass ein solcher Ansatz international Chancen auf Erfolg hat.385 Dies beweisen nicht nur die Reaktionen auf General Comment No. 24, sondern auch die Tatsache, dass auf der Welt lediglich in Europa ein einziges funktionierendes entsprechendes Gerichtssystem arbeitet. Ein weiteres regionales Gerichtssystem mag zwar mit dem System nach der AMRK auf dem Weg zu einer ähnlichen Entwicklung sein. Es kann aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht beanspruchen, mit dem europäischen System praktisch vergleichbar zu sein.386 Andere Montalvo, AUILR 16 (2001), S. 313; vgl. Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 609. Vgl. Montalvo, AUILR 16 (2001), S. 308 ff. 383 Der Erfolg des EGMR auf dem Gebiet der Vorbehalte beweist die Reformbedürftigkeit der Entscheidungsgrundlage nach Art. 75 AMRK zusätzlich. Mit Art. 57 EMRK steht dem EGM eine praktikable Entscheidungsgrundlage zur Verfügung. Seine Rechtsprechungskompetenz wird in Fragen der Vorbehalte mittlerweile nicht mehr angezweifelt, während die Tätigkeit des Gerichtshofs und der Kommission nach der AMRK bei weitem nicht mit der des EGMR vergleichbar ist; insofern erkennt auch Edwards, Michigan JIL 10 (1989), S. 393, die Notwendigkeit einer Entscheidungsgrundlage ohne Aufnahme des Ziel-und-Zweck-Tests an, da auch er ausdrücklich betont, dass der EGMR diesen nicht anwenden müsse, und gleichzeitig dessen Erfolg anerkennt. 384 Vgl. Art. 62 Abs. 1 AMRK. 385 Vgl. Graefrath, HuV-I 9 (1996), S. 69; ähnlich, wenngleich vorsichtig optimistisch Frowein, in: FS Skubiszewski, S. 408. 386 Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 41 f. 381 382

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regionale Systeme dieser Art sucht man vergebens. Wenn aber schon auf regionaler Ebene kein Konsens in der Staatenwelt darüber herrscht, dass eine Lösung des Vorbehaltsproblems über die Einrichtung eines über den Staaten stehenden Gerichts wünschenswert ist, ist erst recht nicht zu erwarten, dass eine solche Lösung auf internationaler Ebene gewollt ist. Auf derzeit bestehende Gerichte könnte ein solcher Ansatz nicht zurückgreifen. Es existiert schlicht kein internationales Gericht, das sich der Vorbehaltsfrage zu Menschenrechtsschutzverträgen in befriedigender Weise annehmen kann. Der IGH als einziges nicht spezialisiertes Gericht auf internationaler Ebene ist dazu, wie gesehen, nicht geeignet. Ein solcher Reformansatz bedürfte daher zu seiner Umsetzung entweder der ausdrücklichen Änderung des IGH-Statuts, welche aus den geschilderten Gründen nicht zu erwarten ist, oder der Schaffung eines neuen Gerichts durch völkerrechtlichen Vertrag. Zwar hat die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs gezeigt, dass solche Entwicklungen nicht unmöglich sind. Jedoch besteht zwischen einem Strafgericht und einem Gericht, das befugt wäre, über die Rechtswirkung von Vorbehalten zu urteilen, ein wichtiger Unterschied. Die Urteile eines Strafgerichts betreffen direkt lediglich den jeweiligen Angeklagten, nicht aber einen Staat. Ein Urteil, das über die Rechtswirkung eines Vorbehalts entscheidet, hätte Auswirkungen auf den Umfang der vertraglichen Verpflichtungen eines Staates, würde also direkt den Bereich seiner Souveränität betreffen.387 Die Schaffung eines internationalen Gerichts für Vorbehaltsfragen dürfte daher in der Staatenwelt noch weit kritischer gesehen werden als die Errichtung des IStGH. Für die Errichtung eines internationalen Gerichts für Vorbehaltsfragen würden weiterhin dieselben Probleme bestehen wie im Hinblick auf die Kompetenz von Vertragsorganen zur bindenden Entscheidung von Vorbehaltsfragen. Einerseits müsste eine Entscheidungsgrundlage gefunden werden, die ohne den Ziel-und-Zweck-Test auskommt. Andererseits müssten die Staaten im Voraus ihre Entscheidungskompetenzen auf den Gerichtshof übertragen, ohne zu wissen, wie sich dessen Rechtsprechung entwickeln wird. Eine Bereitschaft hierfür kann kaum angenommen werden. Wiederum zeigt sich damit, dass die Lösung, die weniger auf eine schnelle und umfassende Weiterentwicklung des Vorbehaltsrechts setzt, einer Lösung, die ein internationales Entscheidungsorgan bevorzugt, überlegen ist. Insbesondere die Akzeptanzchancen eines Ansatzes, der im Wege der Weiterentwicklung des Gewohnheitsrechts entstehen kann und die Staaten weiterhin als entscheidende Akteure im Bereich der Vorbehalte anerkennt, dürften deutlich größer sein. Da es die Staaten sind, die gerichtliche Entscheidungen in diesem Bereich meist nicht wollen, wäre es konsequent, ihnen auch weiterhin die Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zu überlassen.388

387 Vgl. Fernandez, Finnish YIL 13 (2002), S. 44, der v. a. den IStGH als wichtigstes Organ zur Durchsetzung der Menschenrechte in der Zukunft ansieht, dabei aber die individuelle Verletzung im Blick hat und nicht die Frage, welche Verpflichtungen ein Staat bei Ratifikation eines Menschenrechtsschutzvertrags eingeht. 388 Graefrath, HuV-I 9 (1996), S. 69.

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c) Depositar Als weitere Stelle, die kompetent zur Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts sein soll, wird immer wieder auch der Depositar eines Vertrags genannt. Dieser Ansatz ist keinesfalls neu. Bereits der IGH hatte im Gutachten zur Völkermordkonvention darauf hingewiesen, dass auch der Depositar hinsichtlich des Vorbehaltsproblems eine Rolle zu spielen hätte.389 Ob eine solche Überprüfungskompetenz insbesondere bezüglich Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen besteht und wie ausgeprägt diese gegebenenfalls ist, ist dagegen ungeklärt. Da aber eine Kompetenz des Depositars zumindest auf den ersten Blick nicht ausgeschlossen erscheint, ist geboten, diese Möglichkeit näher zu untersuchen und festzustellen, wie sich Elemente dieses Ansatzes gegebenenfalls mit anderen Lösungsmöglichkeiten kombinieren lassen, um eine umfassende Lösung des Vorbehaltsproblems entwickeln zu können. aa) Aufgaben des Depositars Der Depositar ist Verwahrer und Verwalter eines Vertrags.390 Seine Aufgaben beschränken sich vor allem auf die Verwahrung des Vertragstextes sowie aller sich auf den Vertrag beziehenden Dokumente. Er ist weiterhin verpflichtet, die Vertragsparteien von Handlungen, Notifikationen und Mitteilungen, die sich auf den Vertrag beziehen, zu unterrichten.391 Aufgaben, die sich ausdrücklich auf den Umgang mit Vorbehalten beziehen, normiert die WVK für Depositare nicht. Da Vorbehalte jedoch notifiziert werden, hat der Depositar die Pflicht, die übrigen Vertragsparteien sowie die Staaten, die berechtigt sind, Vertragspartei zu werden, über die Erklärung eines Vorbehalts zu unterrichten.392 Weiterhin besitzt er ein ausdrückliches Prüfungsrecht hinsichtlich der Form einer Vorbehaltserklärung. Falls diese nicht in guter und gehöriger Form abgefasst ist, muss der Depositar den Vorbehaltsstaat hierauf aufmerksam machen.393 Dieses Recht stellt das einzige Prüfungsrecht hinsichtlich Vorbehalte dar, dass dem Depositar eines Vertrags nach den Regeln der WVK über seine Aufgaben ausdrücklich zugewiesen ist. Eine Erweiterung dieser Befugnisse wird auch nicht durch spezielle Vorschriften in einzelnen Menschenrechtsschutzverträgen normiert. Auch hiernach werden dem Depositar lediglich die beschriebenen Aufgaben zugewiesen.394 Lediglich in der EMRK fin389 IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 24 f.; vgl. Hilpold, AVR 34 (1996), S. 385. 390 Art. 76 und 77 WVK; vgl. Horn, S. 338; Stoll, in: Bernhardt, EPIL, Bd. I (A – D), S. 1101. 391 Die konkreten Aufgaben des Depositars ergeben sich aus Art. 77 Abs. 1 WVK sowie gegebenenfalls aus Sonderbestimmungen in den jeweiligen Verträgen. 392 Vgl. Art. 77 Abs. 1 lit. e WVK; Stoll, in: Bernhardt, EPIL, Bd. I (A – D), S. 1011; Kappeler, Schweiz JIR 20 (1963), S. 28. 393 Vgl. Art. 77 Abs. 1 lit. d WVK.

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det sich zusätzlich das Recht des Depositars, von den Vertragsparteien Erläuterungen über die Gewährleistung der in der EMRK enthaltenen Bestimmungen in deren innerstaatlichem Recht zu verlangen.395 Kein Menschenrechtsschutzvertrag normiert dagegen ausdrücklich eine Kompetenz des Depositars, bindende Entscheidungen über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zu treffen. Diese kann sich daher nur implizit aus dem Text der WVK und den Sonderbestimmungen in Menschenrechtsschutzverträgen ergeben oder durch eine spätere gewohnheitsrechtliche Änderung des jeweiligen Vertrags durch Staatenpraxis und damit korrespondierender Praxis des Depositars.396 Sofern sich eine Prüfungskompetenz nicht implizit aus dem geltenden Recht ergibt, wäre Staatenpraxis Voraussetzung oder zumindest Indiz für die Akzeptanzchancen eines Lösungsmodells, das für die Zukunft dem Depositar eine solche Aufgabe zugesteht. bb) Implizite Kompetenz des Depositars Hinsichtlich der Frage nach dem Bestehen einer Entscheidungsbefugnis des Depositars über die Rechtswirkung eines Vorbehalts bietet es sich an, die Antwort hierauf in dreierlei Hinsicht zu suchen. Zum einen kann eine formelle Entscheidungsbefugnis bestehen. Daneben ist zu überprüfen, ob der Depositar auch in materiellrechtlicher Hinsicht eine solche Entscheidung treffen darf. Falls Letzteres nicht der Fall ist, muss untersucht werden, ob dem Depositar eine Hinweisbefugnis zusteht, wie sie bereits für Vertragsorgane erkannt worden ist.

394 Vgl. u. a. Art. 48 Abs. 5, Art. 49 Abs. 1, Art. 51 Abs. 1, Art. 52, Art. 53 Abs. 2 CCPR; Art. 8 Abs. 2, Abs. 4, Abs. 5, Art. 9 Abs. 1, Art. 11 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 13, Art. 14 1. OP CCPR; Art. 7 Abs. 2, Abs. 4, Abs. 5, Art. 8 Abs. 1, Art. 10, Art. 11 Abs. 2 2. OP CCPR; Art. 26 Abs. 2, Abs. 4, Abs. 5, Art. 27 Abs. 1, Art. 29 Abs. 1, Art. 30, Art. 31 Abs. 2 CESCR; Art. 17 Abs. 2, Art. 18 Abs. 2, Art. 19 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1, Abs. 3, Art. 21, Art. 23 Abs. 1, Art. 24, Art. 25 Abs. 2 CERD; Art. 25 Abs. 2 – 4, Art. 26 Abs. 1, Art. 27 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1, Abs. 3, Art. 29 Abs. 3, Art. 30 CEDAW; Art. 47, Art. 48, Art. 49 Abs. 1, Art. 50 Abs. 1, Art. 51 Abs. 1, Abs. 3, Art. 52 – 54 CRC; Art. 25 Abs. 2, Art. 26, Art. 27 Abs. 1, Art. 28 Abs. 2, Art. 29 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1, Art. 32, Art. 33 Abs. 2 CAT; Art. 52, Art. 58 Abs. 1, Art. 59 Abs. 1, Abs. 4 EMRK; Art. 18, Art. 20 Abs. 2, Abs. 3, Art. 22, Art. 23 ECAT; Art. 74 Abs. 2, Abs. 3, Art. 76 Abs. 1, Art. 78 Abs. 1, Art. 79, Art. 81 AMRK; Art. 63 Abs. 2, Art. 67, Art. 68 AfrMRK; eine ausdrückliche Pflicht zur Unterrichtung berechtigter Staaten über die Erklärung eines Vorbehalts hat der Depositar gem. Art. 10 2. OP CCPR, Art. 20 Abs. 1 CERD (dort auch ausdrücklich zur Entgegennahme von Einsprüchen), Art. 28 Abs. 1 CEDAW, Art. 51 Abs. 1 CRC; die in einigen Verträgen enthaltene Aufgabe des Generalsekretärs zur Entgegennahme und Weiterleitung von Staatsberichten soll hier unbeachtet bleiben. 395 Art. 52 EMRK. 396 Dabei kann in dieser Arbeit nicht auf die Praxis aller als Depositar tätigen Staaten und Institutionen eingegangen werden. Insofern werden sich die Untersuchungen auf den Generalsekretär des Völkerbundes, den Generalsekretär der Vereinten Nationen und den Generalsekretär des Europarats beschränken.

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(1) Formelle Entscheidungsbefugnis Die Aufgaben, die dem Depositar sowohl durch die WVK als auch durch Bestimmungen in einzelnen Menschenrechtsschutzverträgen und sowohl allgemein als auch in Bezug auf Vorbehalte zugewiesen werden, sind im Wesentlichen formeller Natur. Insofern spricht vieles dafür, dem Depositar bezüglich dieser ihm zugewiesenen formellen Aufgaben auch ein entsprechendes Recht zur Entscheidung über das weitere Schicksal eines Vorbehalts zuzugestehen. Hinsichtlich Vorbehalte beschränken sich die dem Depositar ausdrücklich zugewiesenen Befugnisse auf deren Entgegennahme und die Unterrichtung der anderen Vertragsparteien. Dies korrespondiert mit dem derzeit geltenden materiellen Vorbehaltsrecht, da auf diese Weise die zur Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts befugten übrigen Vertragsparteien in die Lage versetzt werden, die Entscheidung über ihre Reaktion zu treffen. Würde man dem Depositar ein formelles Prüfungsrecht einräumen, könnte dieses dazu führen, dass nur noch solche Vorbehalte den übrigen Vertragsparteien zugeleitet werden müssen, die formell zulässig sind. Nur über diese müssten die übrigen Vertragsparteien noch entscheiden, was eine Effektivierung der Behandlung von Vorbehalten bedeuten würde. Fraglich ist jedoch, wie ein formelles Prüfungsrecht aussehen kann beziehungsweise wie weitreichend die Entscheidungsbefugnisse des Depositars sein können. Wenn einige Menschenrechtsschutzverträge ausdrücklich die Pflicht des Depositars normieren, zum Vertrag erklärte Vorbehalte den übrigen Vertragsparteien bekannt zu machen, bedeutet dies, dass der Depositar zunächst eine Entscheidung darüber treffen muss, ob es sich bei der Erklärung eines Staates um einen Vorbehalt handelt oder nicht. Dieses ist eine rein formelle Prüfung, da der Depositar lediglich feststellen muss, ob die Erklärung eines Staates die in Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK festgelegten Merkmale eines Vorbehalts aufweist.397 Eine Aussage über die Zulässigkeit der Erklärung würde damit nicht getroffen. Der Depositar würde lediglich über ihren rechtlichen Charakter entscheiden. Da alle Verträge und die allgemeinen Regeln der WVK vorsehen, dass der Depositar auch jede andere Erklärung, die Staaten zu einem Vertrag abgegeben haben, an die übrigen Vertragsstaaten weiterleiten muss, besteht durch eine solche Prüfungskompetenz des Depositars keine Gefahr, dass Staaten ihre Kompetenz zur Entscheidung über die materielle Rechtswirkung eines Vorbehalts genommen würde. Selbst wenn der Depositar eine Erklärung nicht als Vorbehalt einordnete, würde sie den übrigen Vertragsparteien zumindest als andere Erklärung bekannt. Es stünde ihnen frei, diese dennoch als Vorbehalt einzuordnen und entsprechend darauf zu reagieren. Das materielle Vorbehaltsrecht würde durch eine solche Entscheidungsbefugnis des Depositars mithin nicht gefährdet, so dass hiergegen keine systematischen Argumente spre397 Vgl. Statement by the Representative of the Secretary-General im Committee on the Elimination of Racial Discrimination, UN Doc. CERD / C / SR.286, S. 216; Lerner, S. 161; Polakiewicz, S. 92; vorsichtig dafür auch McRae, BYIL 49 (1978), S. 171.

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chen.398 Allerdings lässt sich entgegnen, dass eine solche Vorabentscheidungskompetenz des Depositars bezüglich des Charakters einer Erklärung überflüssig ist, da die letztendlich gültige Entscheidung wiederum bei den Staaten liegen würde. Dieser Vorwurf ist zwar bedingt berechtigt, allerdings nicht vollständig. Durch die Unterrichtung der übrigen Vertragsparteien über eine Erklärung, die nach Auffassung des Depositars einen Vorbehalt darstellt, werden die Staaten bereits mit Unterrichtung darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie die nach der WVK vorgesehenen Reaktionsmöglichkeiten anwenden können. Weiterhin würden sie in deutlicher Form darüber unterrichtet werden, dass die Frist von zwölf Monaten zur Abgabe von Annahme- oder Einspruchserklärungen zu laufen begonnen hat. Durch eine solche Sensibilisierung der Staaten würde die Gefahr verringert, dass ein einspruchswilliger Staat die Einspruchsfrist versäumt, was wiederum eine Effektivierung der Funktionsfähigkeit des Vorbehaltsrechts zur Folge hätte. Ein formelles Prüfungsrecht des Depositars hinsichtlich der Einordnung einer Erklärung als Vorbehalt ist daher zu begrüßen und lässt sich bereits durch systematische Interpretation des derzeit in Kraft befindlichen Vertragsrechts begründen.399 Das einzig formelle Zulässigkeitskriterium eines Vorbehalts besteht in seiner rechtzeitigen Erklärung. Letzter Termin dafür ist der Zeitpunkt, in dem ein Vertrag für den Staat völkerrechtlich bindend wird.400 Dieses Zulässigkeitskriterium ist in der WVK außerhalb der eigentlichen Vorbehaltsbestimmungen normiert und insofern unabhängig vom Streit über opposability oder permissibility eines Vorbehalts zu sehen. Da dieser erst hinsichtlich der materiellen Zulässigkeit eines Vorbehalts aktuell wird, kommt die Entscheidung über die Rechtzeitigkeit einer Vorbehaltserklärung zeitlich früher zum Tragen. Im Gegensatz zu Vorbehalten, die wegen eines Verstoßes gegen Art. 19 lit. c WVK unzulässig sind, muss für einen nach Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK wegen verspäteter Abgabe unzulässigen Vorbehalt grundsätzlich die Permissibility-Ansicht gelten. Ein verspätet erklärter Vorbehalt ist formell unzulässig und damit nichtig. Die Entscheidungsbefugnisse der übrigen Vertragsparteien hinsichtlich der Rechtswirkung eines Vorbehalts gemäß Art. 19 ff. WVK beschränken sich auf solche Vorbehalte, die nach der Vorbehaltsdefinition der WVK401 Vorbehalte sind.402 Ihre Entscheidungsbefugnis ist mithin materieller Natur. Art. 19 lit. c WVK normiert die Überprüfung der Zulässigkeit eines Vorbehalts anhand materieller Kriterien, die sich auf den jeweiligen Vertrag beziehen. Diese Entscheidung ist wegen der in Art. 19 lit. c WVK enthaltenen UnzulänglichVgl. McRae, BYIL 49 (1978), S. 171. Polakiewicz, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 105. 400 Vgl. Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK, Wold, Colorado JIELP 14 (2003), S. 71; sowie oben Kapitel 2, E. I. 401 Bzw. deren gewohnheitsrechtlicher Entsprechung. 402 Vgl. Art. 21 Abs. 1 WVK; eine Ausnahme mag höchstens bestehen, wenn alle übrigen Vertragsparteien den verspäteten Vorbehalt (stillschweigend) annehmen und so den Vertrag insgesamt modifizieren, vgl. Ziff. 2.3.1. ff. der draft guidelines für einen Guide to Practice (on reservations to treaties) der ILC, UN Doc. A / 59 / 10, S. 259, Ziff. 294. 398 399

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keiten oft nicht zu treffen.403 Insofern ist es sinnvoll, die materielle Zulässigkeit eines Vorbehalts als irrelevant anzusehen und die Entscheidung über dessen Rechtswirkung allein in die Hände der übrigen Vertragsparteien zu legen. Anders verhält es sich mit der Frage, ob ein Vorbehalt rechtzeitig erklärt wurde.404 Diese kann zweifelsfrei beantwortet werden. Insofern besteht kein Bedarf dafür, die Entscheidung über die Rechtzeitigkeit eines Vorbehalts in die Hände der Staaten zu legen. Täte man dieses, würde sogar die Gefahr bestehen, dass einem formell unzulässigen Vorbehalt durch Annahme einiger Vertragsparteien teilweise zur Wirksamkeit verholfen würde. Dieses würde bedeuten, dass durch das Verhalten von Vertragsparteien zu irgendeinem Vertrag die Regeln der WVK über die formelle Zulässigkeit von Vorbehalten ausgehebelt werden könnten. Hinsichtlich der materiellen Zulässigkeit besteht diese Gefahr nicht, da diese nie vollständig sicher feststellbar sein wird und es daher unbeachtlich ist, ob die diesbezüglichen Regeln eingehalten werden oder nicht. Insofern entspricht die Opposability-Ansicht zur materiellen Zulässigkeit besser den Regeln der WVK. Anders ist es im Hinblick auf die formelle Zulässigkeit. Da diese anhand klarer Zeitpunkte zweifelsfrei feststellbar ist, würde eine Geltung der Opposability-Ansicht hier eine Gefahr für die Definition des Vorbehalts an sich bedeuten. Das Merkmal seines Erklärungszeitpunkts ist Teil seiner Definition, wie sich aus Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK ergibt. Für die Geltung der Opposability-Ansicht besteht daher bezüglich der formellen Zulässigkeit weder Bedarf noch ist sie wünschenswert. Schließlich entspricht das Herauslösen der Entscheidungsbefugnisse über die formelle Zulässigkeit von Vorbehalten aus den Befugnissen der Vertragsparteien auch der systematischen Aufteilung der WVK. Die den Vertragsparteien zugewiesenen Befugnisse sind in Teil II Abschnitt 2 der WVK definiert. Die formelle Zulässigkeit eines Vorbehalts ist hiervon räumlich getrennt normiert und zwar in Teil I der WVK im Zusammenhang mit der Definition des Vorbehalts. Ein weiteres systematisches Argument ergibt sich daraus, dass die WVK an anderer Stelle dem Depositar die Befugnis verleiht, eine Frist für Einsprüche zu Berichtigungen eines Vertragstexts festzusetzen.405 Nach Ende der Frist soll er entscheiden, wie gegebenenfalls weiter zu verfahren ist. Der Depositar wird also in der WVK auch an anderer Stelle zur Prüfung des fristgerechten Eingangs von Erklärungen als kompetent anerkannt.406 Da der Depositar derjenige ist, dem gegenüber Vors. o. Kapitel 3, C. III. 1. b). Miehsler, Diskussionsbeitrag während des 5. Kolloquiums über die EMRK, abgedruckt bei Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 164, der davon ausgeht, dass der Depositar die Entscheidung darüber treffen kann, ob es sich bei der Erklärung eines Staates um einen unzulässigerweise nachträglich angebrachten Vorbehalt handelt, und die Existenz gegenteiliger Praxis verneint. 405 Art. 79 Abs. 2 WVK. 406 Vgl. dazu Practice of the Secretary-General in his Capacity as Depositary of Multilateral Treaties Regarding (1) Reservations and Objections to Reservations Relating to Treaties Not Containing Provisions in that Respect (2) Correction of Errors in the Original of a Treaty, UNJY 1976, S. 215, Ziff. 8. 403 404

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behalte zu erklären sind, ist er in der besten Position, um festzustellen, ob dieser spätestens zusammen mit der Ratifikationserklärung eingegangen ist.407 Er besitzt daher auch eine Prüfungskompetenz hinsichtlich der rechtzeitigen Erklärung eines Vorbehalts. Ein weiterer formaler Aspekt der Zulässigkeit eines Vorbehalts ist die Frage, ob er ausdrücklich durch einen Vertrag verboten wird.408 Bei einer diesbezüglichen Prüfung spielen der materielle Inhalt des Vorbehalts sowie dessen Auswirkungen auf den Vertragsinhalt keine Rolle. Es ist nur zu prüfen, ob überhaupt ein Vorbehalt zum betreffenden Vertrag beziehungsweise zu einer bestimmten Norm erklärt werden darf. Diese Art Prüfung ist daher als bloß formale Prüfung einzuordnen. Auch insofern ist eine Überprüfungskompetenz des Depositars mithin gerechtfertigt.409 Eine Zuständigkeit der Staaten in dieser Frage würde ebenso wie in der Frage der rechtzeitigen Erklärung die Gefahr bergen, dass es zu Rechtsunsicherheit kommt, wenn einige Staaten den Vorbehalt annehmen, andere jedoch nicht. Lediglich im Falle einer Annahme durch alle anderen Staaten könnte ein solches Problem vermieden werden, da die Annahme einer stillschweigenden Vertragsänderung gleichkommt, zu der die Staaten als Herren des Vertrags jederzeit befugt sind. Sofern jedoch nur ein Teil der Vertragsparteien einen ausdrücklich verbotenen Vorbehalt annehmen würde, verstießen diese Staaten selbst gegen den Vertrag. Sie würden für sich das Recht in Anspruch nehmen, das im Vertrag normierte Vorbehaltsverbot einseitig zu unterlaufen. Dieses ist nicht nur problematisch im Hinblick auf den Respekt vor dem Willen der übrigen Vertragsparteien. Es würden auf diese Weise auch zwei unterschiedliche Pflichtenstrukturen für denselben Vertrag geschaffen. Ein ähnliches System ist bereits bei Untersuchung der Frage, ob die im Menschenrechtsschutzvertrag enthaltenen Verpflichtungen bilateralisierbar sind, abgelehnt worden.410 Insofern darf auch die Entscheidung über die Rechtswirkung eines ausdrücklich verbotenen Vorbehalts nicht in die Hände der Staaten gelegt werden. Als derjenige, der zuerst mit dem Vorbehalt in Berührung kommt, ist auch hier der Depositar in der besten Position, diese Prüfung stattdessen vorzunehmen. Insgesamt sprechen damit sowohl systematische Argumente als auch Effektivitätsargumente für ein formelles Prüfungsrecht des Depositars.411 Dieses Ergebnis 407 Vgl. Hylton, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 449; Kühner, ZaöRV 42 (1982), S. 90; ebenso das Statement by the Representative of the Secretary-General im Committee on the Elimination of Racial Discrimination, UN Doc. CERD / C / SR.286, S. 218. 408 Vgl. Art. 19 lit. a und b WVK. 409 Kappeler, Schweiz JIR 20 (1963), S. 32 f.; ebenso die Ansicht einiger Delegationen im 6. Committee der Generalversammlung, vgl. Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fourth session, Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-seventh session, prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 529, S. 18, Ziff. 72. 410 s. o. Kapitel 3, C. III. 1. a). 411 Miehsler, Diskussionsbeitrag während des 5. Kolloquiums über die EMRK, abgedruckt bei Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 164; ein formelles Prüfungsrecht, aller-

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wird zusätzlich dadurch untermauert, dass das einzige dem Depositar von der WVK ausdrücklich gegebene Prüfungsrecht zur Überprüfung der guten und gehörigen Form einer Erklärung und damit auch der Form eines Vorbehalts ebenfalls formeller Natur ist.412 (2) Materielle Entscheidungsbefugnis Eine Entscheidungsbefugnis des Depositars über die materielle Rechtswirkung von Vorbehalten würde bedeuten, dass dieser allein über das rechtliche Schicksal eines Vorbehalts bindend gegenüber dem Vorbehaltsstaat und den übrigen Vertragsstaaten entscheiden könnte. Ein solches Prüfungsrecht ist in der WVK nicht ausdrücklich vorgesehen. Es ergibt sich auch nicht aus dem System der Art. 19 ff. WVK.413 Durch diese werden allein die Vertragsparteien mit dieser Entscheidung betraut.414 Dennoch existieren Stimmen in der Literatur, die eine solche Kompetenz und damit eine Reform des geltenden Vorbehaltsrechts in dieser Richtung fordern. Daniel Hylton schlägt vor, dem Depositar die Entscheidung über die materielle Rechtswirkung eines Vorbehalts zu übertragen, wobei er diese nach objektiven Kriterien treffen soll. Als Entscheidungskriterium favorisiert Hylton den Ziel-undZweck-Test. Grundsätzlich soll diese Entscheidung des Depositars endgültig sein. Hat er festgestellt, dass ein Vorbehalt gegen Ziel und Zweck eines Vertrags verstößt, soll eine Annahme nicht mehr zulässig sein. Verstößt der Vorbehalt nicht gegen Ziel und Zweck, so soll kein Einspruch mehr erhoben werden können. Darüber hinaus sollen die Staaten nach Hylton ein System errichten, das es ihnen ermöglicht, im Streitfall mit qualifizierter Mehrheit die Entscheidung des Depositars aufzuheben und ihre eigene Entscheidung an deren Stelle zu setzen.415 Die Vorteile einer solchen Kompetenz des Depositars416 erblickt Hylton darin, dass die Entscheidung über die Rechtswirksamkeit eines Vorbehalts entpolitisiert werde. Damit dings bezogen auf nach dem Vertrag verbotene Vorbehalte, fordert auch Kappeler, Schweiz JIR 20 (1963), S. 32 f.; der IGH erwähnt ein Prüfungsrecht des Depositars im Hinblick darauf, ob zu einem Vorbehalt Einsprüche erklärt wurden. Sofern dies der Fall sei, sollte der Depositar unter Geltung des Konsensprinzips die Annahme eines Vorbehalts verweigern können, was ebenfalls ein Prüfungsrecht anhand formeller Kriterien darstellt, da es sich nicht auf den materiellen Inhalt des Vorbehalts bezieht, IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 24; vgl. auch Spiliopoulou Åkermark, ELR 24 (1999), S. 502. 412 Vgl. Art. 77 Abs. 1 lit. d WVK. 413 Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 197. 414 s. o. Kapitel 2, E. III.; erinnert sei aber daran, dass die WVK bei Vorbehalten zu Menschenrechtsschutzverträgen de facto eine alleinige Entscheidungsbefugnis des Vorbehaltsstaats normiert, s. o. Kapitel 3, C. III. 1. a). 415 Hylton, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 448 ff. 416 Neben dem Depositar sollen die Staaten nach Ansicht Hyltons auch andere Stellen mit einer solchen Prüfungskompetenz ausstatten können. Allerdings hält er den Depositar für die am stärksten geeignete Instanz, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 449.

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einhergehen sollen eine Zunahme der Berechenbarkeit der Entscheidungen über die Rechtswirkung von Vorbehalten sowie ein besserer Schutz der treaty integrity. Die Subjektivierung der Entscheidung und die damit verbundene Fragmentierung des Vertragsinhalts würden vermieden werden und damit alle Staaten davon profitieren, dass sie durch dieselben vertraglichen Verpflichtungen gebunden werden.417 Hyltons Ansatz kann für sich in Anspruch nehmen, gegenüber dem derzeit geltenden Vorbehaltsrecht den Vorteil zu haben, dass die Rechtswirkung eines Vorbehalts nicht mehr im bilateralen Verhältnis zwischen zwei Vertragsparteien erzeugt werden müsste, sondern von einer Instanz mit Gültigkeit für alle Vertragsparteien festgestellt werden würde. Sein Vorschlag berücksichtigt insofern die Struktur von Menschenrechtsschutzverträgen. Auch ist größtmögliche Klarheit bei der Beurteilung von Vorbehalten zu begrüßen. Daneben entspricht die Idee, den Depositar nach objektiven Kriterien entscheiden zu lassen, dem Gedanken des bisher geltenden Vorbehaltsrechts, wonach die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorbehalts ebenfalls nach objektiven Kriterien getroffen werden soll. Hierin liegt aber auch die entscheidende Schwäche Hyltons Ansatzes. Wenn die Entscheidung des Depositars aufgrund des Ziel-und-Zweck-Tests getroffen würde, würde eine solche Lösung in der Praxis an denselben Problemen kranken, die bereits jetzt hinsichtlich der Feststellung der Zulässigkeit eines Vorbehalts bestehen. Wenn es nicht möglich ist, sicher festzustellen, was Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags ist, kann auch der Depositar keine Entscheidung treffen, die den von Hylton vorgeschlagenen objektiven Zulässigkeitskriterien mit Sicherheit entspricht. Die Probleme des derzeit geltenden Rechts würden nicht gelöst, sondern lediglich verlagert. Auch der Depositar könnte nur in Fällen, in denen ein Verstoß eines Vorbehalts gegen Ziel und Zweck des Vertrags auf der Hand liegt, eine zweifelsfrei richtige Zulässigkeitsentscheidung treffen. In allen unklaren Fällen wäre er dazu nicht in der Lage, so dass die Gefahr bestünde, dass Staaten doch versuchen könnten, politisch Einfluss zu nehmen. Damit ist auch der von Hylton genannte Vorteil der Entpolitisierung hinfällig. Die Idee, eine Entscheidung des Depositars durch die Staaten mit qualifizierter Mehrheit aufheben können zu lassen, dürfte die Chancen auf Akzeptanz eines solchen Ansatzes zwar steigern. Immerhin entspricht dies dem Grundgedanken des bisherigen Systems, wonach die Staaten, nachdem anhand objektiver Kriterien die Zulässigkeit eines Vorbehalts festgestellt wurde, aus subjektiven Erwägungen heraus die Entscheidung über dessen Rechtswirkung treffen. Dem generellen Unwillen der Staaten, übergeordnete Instanzen im Bereich des Vorbehaltsrechts anzuerkennen, wird mithin Rechnung getragen. Trotzdem ist ein solcher Weg sowohl in Bezug auf seine Auswirkungen als auch auf seine Notwendigkeit problematisch. Es erscheint denkbar, dass Staaten aus politischen oder anderen Gründen die Entscheidung des Depositars vor allem in Fällen, in denen die Zulässigkeit unklar 417

Hylton, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 448 f.

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bleibt, zu häufig aufheben. Damit würde die Ausnahme zur Regel und so die Autorität des Depositars als erste Entscheidungsinstanz untergraben. Angesichts des Beharrens vieler Staaten auf ihrer Souveränität in diesen Bereichen ist ein solches Szenario nicht aus der Luft gegriffen. Auch die Einführung einer qualifizierten Mehrheit kann dabei keine Hilfe bieten. Um den Staaten eine realistische Chance zu lassen, die Entscheidung des Depositars aufheben zu können, dürfte das benötigte Quorum nicht zu groß sein. Andererseits verstärkt sich bei einem zu kleinen Quorum die Gefahr eines ausufernden Gebrauchs dieser Möglichkeit durch die Staaten. Schon hinsichtlich Art. 20 Abs. 2 CERD waren solche Gefahren erkannt und dieser daher als mögliche Grundlage einer Reform abgelehnt worden.418 Die Tatsache, dass das Beispiel dieses Artikels in der Vertragspraxis bislang keine Nachahmung gefunden hat, beweist, dass der Ansatz Hyltons trotz der Berücksichtigung des Staatenwillens in der Staatengemeinschaft wohl dennoch nicht mehrheitsfähig wäre. Da der Ansatz aber, wie Hylton selbst anerkennt, nur dann zu geltendem Recht werden kann, wenn die Staaten sich ausdrücklich auf ihn einigen,419 wird er deshalb ein theoretischer bleiben. Schließlich wird nicht klar, welcher Bedarf für eine solche Lösung besteht. Wenn der Depositar zwar generell zur alleinigen und objektiven Entscheidungsinstanz in Sachen Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen gemacht werden soll, dies aber nur in unproblematischen Fällen möglich ist, so werden die Staaten häufig ein Interesse daran haben, dessen Entscheidung aufzuheben. Wenn dies möglich sein soll, gesichert durch welches Quorum auch immer, hieße dies, dass die Entscheidung über die Rechtswirkung von Vorbehalten in allen problematischen Fällen doch wieder in die Hand der Staaten geriete. Damit behält Hyltons Vorschlag effektiv weitgehend das bisherige System bei, ohne die Probleme, die sich daraus ergeben, zu lösen. Ein einfacheres System schlägt Liesbeth Lijnzaad vor. Hiernach sollen die Staaten sich für jeden Vertrag auf einen speziellen Vorbehaltsartikel einigen, in dem festgelegt wird, zu welchen Bestimmungen Vorbehalte erklärt werden dürfen und zu welchen nicht.420 Es soll dann dem Depositar obliegen, anhand dieses Artikels zu entscheiden, ob der Vorbehalt zulässig ist.421 Auch Lijnzaad will damit Elemente des bisher geltenden Vertragsrechts mit neuen Ansätzen verknüpfen. Die Idee, dass nur bestimmte Vorbehalte zu einem Vertrag erlaubt sein sollen, findet sich bereits in Art. 19 lit. b WVK. Lijnzaad will daneben die Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts in die Hand eines Organs legen, dass vorher anhand objektiver Kriterien dessen Zulässigkeit überprüft hat. Ihr Ansatz hat gegenüber dem Hyltons den Vorteil, dass er die Verlagerung der materiellen Entscheidungsbefugnis auf den Depositar konsequent vorsieht und die mit der von Hylton vorgeschlagenen geteilten Kompetenz verbundenen Probleme vermeidet. Weiters. o. Kapitel 4, B. I. 3. Hylton, Vanderbilt JTL 27 (1994), S. 448. 420 Lijnzaad nennt diese Bestimmungen „core obligations“, S. 421. 421 Hierzu, inklusive auch zu Beispielen für die Formulierung solcher Sonderbestimmungen Lijnzaad, S. 421 f. 418 419

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hin wäre eine Sonderbestimmung, wie Lijnzaad sie vorschlägt, praktisch einfach anzuwenden, so dass Streitigkeiten über Entscheidungen des Depositars seltener zu erwarten wären. Schließlich würde eine solche Entscheidung des Depositars eher einer formellen Entscheidung entsprechen. Solche Kompetenzen besitzt er schon nach derzeit geltendem Recht. Allerdings setzt auch Lijnzaads Ansatz voraus, dass die Staaten sich sowohl generell und ausdrücklich als auch bei jeder Neuschaffung eines Menschenrechtsschutzvertrags auf ihn einigen. Zunächst müsste Konsens darüber herrschen, dass in jeden neu zu schaffenden Menschenrechtsschutzvertrag eine „Lijnzaadsche Klausel“ aufgenommen werden muss. Bei den konkreten Vertragsverhandlungen müssten die Staaten darüber hinaus eine Einigung in der Frage erzielen, welche Bestimmungen des Vertrags core obligations im Sinne dieses Ansatzes sein sollen. Auch hier dürften sich die Schwierigkeiten wiederholen, die sonst bei der Feststellung von Ziel und Zweck eines Menschenrechtsschutzvertrags auftreten. Gerade bei universellen Menschenrechtsschutzverträgen, dürfte es wegen der Inhomogenität der Staatengemeinschaft große Meinungsunterschiede darüber geben, welche Menschenrechte eine entsprechend hohe Wichtigkeit genießen.422 Es steht zu befürchten, dass sich die potentiellen Vertragsstaaten immer nur auf einen sehr kleinen gemeinsamen Nenner würden einigen können. Dies hätte zur Folge, dass der Kreis der effektiv durch das Vorbehaltsverbot geschützten Menschenrechte ebenso klein geraten und vermutlich auf den als ius cogens anerkannten beschränkt bliebe. Insofern würde sich die Wirkung des Ansatzes Lijnzaads darin erschöpfen, bereits Bekanntes ausdrücklich zu kodifizieren. Darüber hinaus bestünde für alle Menschenrechte, die nicht zu den so genannten core obligations gezählt werden, die Gefahr, Opfer exzessiver Vorbehalte zu werden. Wenn ein Vorbehalt zu diesen nicht verboten sein soll und alle weiteren Überprüfungsmechanismen ausgeschlossen wären, würde der Umkehrschluss gelten, dass alle Vorbehalte zu sonstigen durch den Vertrag geschützten Menschenrechten erlaubt beziehungsweise zumindest wirksam wären.423 Die Staaten hätten keine Möglichkeit mehr, korrigierend einzugreifen. Der Depositar müsste sich auf die Prüfung nach dem Vorbehaltsverbot beschränken. Außerhalb des Ius-cogensBereichs bestünde insofern die Gefahr einer Erosion der Menschenrechte, die so nicht gewollt sein kann. Weiterhin könnte der Ansatz Lijnzaads selbst bei gutem Willen aller Staaten nur für Verträge Wirkung entfalten, die in der Zukunft geschlossen werden. Für den Großteil der menschenrechtlichen Materie, der bereits in zahlreichen Verträgen kodifiziert ist, könnte er keine Lösung des Vorbehaltsproblems liefern, so dass weiterhin über die Möglichkeit einer Reform nachgedacht 422 Vgl. Sucharipa-Behrmann, ARIEL 1 (1996), S. 76; zum Problem, dass Staaten aufgrund kultureller Unterschiede Ziel und Zweck eines Vertrags unterschiedlich definieren können, s. o. Kapitel 3, C. III. 1. c). 423 Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 44, der stattdessen vorschlägt, jeweils den Kernbereich der einzelnen Menschenrechte zu bestimmen. Dieser Vorschlag erzeugt jedoch dieselben Probleme, da auch die Bestimmung des Kernbereichs eines Menschenrechts durch die Staaten wohl zu dem Ergebnis kommen würde, dass jeweils nur der mit ius-cogens-Qualität ausgestattete Bereich Kernbereich ist.

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werden müsste. Es ist schließlich fraglich, ob sich in der Staatenwelt ein ausdrücklicher Konsens entwickeln kann, eine solche Entwicklung in Gang zu setzen. Wiederum sei an den generellen Unwillen vieler Staaten erinnert, eine übergeordnete Instanz im Bereich des Vorbehaltsrechts anzuerkennen. Eine Lösung, die weniger auf ausdrücklichen Konsens, sondern mehr auf die Weiterentwicklung des bisher geltenden Rechts durch Gewohnheitsrecht setzt, könnte deutlich bessere Chancen auf Akzeptanz haben, insbesondere wenn sie die Staaten als Wächter über die Vorbehalte weiterhin anerkennt. Rolf Kühner schließlich präsentiert die Idee, die Kompetenzen des Depositars um das Recht auszuweiten, bei Zweifeln über die Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit dem Vertrag ein Gutachten eines dazu befugten Organs einzuholen und aufgrund dessen einen Vorbehalt gegebenenfalls zurückweisen zu müssen.424 Dieser Ansatz kombiniert zwei Entscheidungsmodelle, wobei die eigentliche Entscheidung nicht der Depositar trifft, sondern das mit der Abfassung des Gutachtens betraute Organ. Auf diese Weise wird zumindest oberflächlich das Problem vermieden, dass ein Vertragsorgan direkte Entscheidungsbefugnisse erhält. Eine größere Chance auf Akzeptanz dürfte der Ansatz allerdings dennoch nicht haben. Durch die Bindung des Depositars an das Gutachten, würde dieses de facto bindende Wirkung entfalten. Eine solche Lösung ist mit zu vielen Problemen verbunden, als dass sie Grundlage einer Reform des Vorbehaltsrechts zu Menschenrechtsschutzverträgen werden könnte.425 Der einzige Unterschied zu einer direkten Entscheidungsbefugnis des gutachterlich tätigen Organs bestünde darin, dass dem Depositar nach Meinung Kühners bei der Entscheidung, ob ein Gutachten eingeholt werden soll, Ermessen zusteht. Eine Prognose, wie oft und wie weit er von diesem Ermessen Gebrauch machen würde, ist nicht möglich und könnte je nachdem, wer das Amt des Depositars innehat, variieren. Es ist nicht zu erwarten, dass sich eine Mehrheit der Staaten auf ein solches, im Hinblick auf ihre Bindung an Entscheidungen übergeordneter Instanzen unsicheres System einlassen wird, da so (quasi-)gerichtliche Entscheidungskompetenzen durch die Hintertür eingeführt würden. Geeignet, eine solche Entscheidung zu treffen ist aber weder eines der bislang existierenden Vertragsorgane noch ein internationales Gericht.426 Weiterhin bleibt fraglich, auf welcher rechtlichen Grundlage ein solches Gutachten über die Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit dem jeweiligen Vertrag ergehen können soll. Auch hierfür müssten objektive Kriterien definiert werden. Dass dieses im Hinblick auf Menschenrechtsschutzverträge nicht möglich ist, ist bereits mehrmals festgestellt worden. Auch dieser Ansatz würde ein zentrales mit der Frage der Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen verbundenes Problem mithin nicht lösen, sondern bloß verlagern. Daneben widerspricht Kühners Vorschlag dem Wesen des Gutachtens an sich. Sinn eines solchen ist es gerade nicht, eine (de facto) bindende Ent424 425 426

Kühner, ZaöRV 42 (1982), S. 90. s. o. Kapitel 4, B. III. 5. a), b). s. o. Kapitel 4, B. III. 5. a) und b).

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scheidung herbeizuführen.427 Bei einer Bindungswirkung für den Depositar würde diese jedoch erreicht. Wenn der Depositar aufgrund eines den Vorbehalt als unzulässig bezeichnenden Gutachtens diesen zurückweisen würde, würde das Gutachten zu einem Instrument, das einen Vorgang mit Außenwirkung für einen Staat entscheidet. Dies würde materiell einem Verstoß gegen das Prinzip, dass kein Staat gegen seinen Willen Partei eines gerichtlichen Streitentscheidungsverfahrens werden kann, gleichkommen. Schließlich dürfte sich dieser Ansatz mittlerweile durch die Rechtsprechung des EGMR erledigt haben. Kühner hatte seine Idee anhand der mit Vorbehalten zur EMRK verbundenen Probleme entwickelt. Dies geschah, bevor der EGMR mit seinem Belilos-Urteil die Kompetenz zur bindenden Entscheidung über die Rechtswirkung von Vorbehalten für sich erfolgreich reklamierte. Nachdem diese nunmehr anerkannt ist, besteht kein Bedarf mehr dafür, eine bindende Entscheidungsbefugnis des EGMR auf dem Umweg über ein den Generalsekretär als Depositar bindendes Gutachtend zu begründen. Eine Verallgemeinerung des Ansatzes bezüglich Organen anderer Verträge, die eine solche Kompetenz nicht besitzen, ist aus den anderen hier aufgezeigten Argumenten abzulehnen. Eine materielle Entscheidungsbefugnis des Depositars ist aus diesen Gründen nicht bei der Erarbeitung eines Reformvorschlags zu berücksichtigen.428 (3) Hinweisbefugnis Nachdem nunmehr feststeht, dass der Depositar eines Menschenrechtsschutzvertrags keine Kompetenz besitzt, bindende Entscheidungen über die materielle Rechtswirkung von Vorbehalten zu treffen und die Einführung einer solchen weder wünschenswert noch systematisch möglich ist und zu geringe Chancen auf Akzeptanz hätte,429 bleibt die Möglichkeit, dem Depositar zumindest eine Hinweisbefugnis zuzubilligen. Diese könnte so ausgestaltet sein, dass der Depositar bei Unterrichtung der übrigen Vertragsparteien von einem Vorbehalt diesen als möglicherweise problematisch kennzeichnet. Dadurch erhielten die Staaten den Anstoß, mögliche Reaktionen zu erwägen.430 Eine ausdrückliche Kennzeichnung eines 427 Vgl. StIGH, Status of Eastern Carelia (Advisory Opinion), 27. April 1923, PCIJ Ser. B, No. 5, S. 27 f.; IGH, Western Sahara (Advisory Opinion), 16. Oktober 1975, ICJ Reports 1975, S. 25, Ziff. 33 f.; Schlochauer, in: Bernhardt, EPIL, Bd. II (E – I), S. 1098. 428 So auch die Ansicht verschiedener Delegationen im 6. Committee der Generalversammlung, vgl. Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fourth session, Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-seventh session, prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 529, S. 17, Ziff. 67 f.; vgl. Ehrenkrona, Nordic JIL 72 (2003), S. 545. 429 Gegen eine solche Kompetenz auch Kälin, EuGRZ 14 (1987), S. 428 f.; Treviranus, GYIL 25 (1982), S. 525; McRae, BYIL 49 (1978), S. 171; Spiliopoulou Åkermark, ELR 24 (1999), S. 502; Polakiewicz, S. 90; Cameron, ICLQ 37 (1988), S. 917 f.; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 197. 430 Suy, in: FS Mosler, S. 947; Edwards, Michigan JIL 10 (1989), S. 385; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 197; Cameron, ICLQ 37 (1988), S. 918; vgl. Brändle, S. 49;

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

problematischen Vorbehalts würde gegenüber der einfachen Unterrichtung der Vertragsparteien den Vorteil haben, dass diese besonders deutlich über den Vorbehalt informiert würden und somit mehr Anlass hätten, über mögliche Gegenmaßnahmen nachzudenken. Eine Hinweisbefugnis des Depositars würde damit zur Effektivierung des Vorbehaltsrechts auch in materieller Hinsicht beitragen.431 Da viele, vor allem kleinere Staaten überfordert sein könnten, jede zu Verträgen abgegebene Erklärung zu überprüfen, und die Reaktionsfrist vom einem Jahr hierzu wenig Zeit lässt, ist eine solche Effektivierung sehr zu begrüßen.432 Daneben könnte der Depositar die Befugnis erhalten, in Fällen, in denen der Anwendungsbereich des Vorbehalts unklar ist, den Vorbehaltsstaat um Klarstellung zu bitten. Auch eine solche Nachfrage würde bereits eine Hinweisfunktion erfüllen.433 Weiterhin könnte er zumindest auf Nachfrage des Vorbehaltsstaats vor Erklärung des Vorbehalts ein Votum darüber abgeben, ob er einen Vorbehalt für vereinbar mit dem jeweiligen Vertrag hält. Dieses würde den Staat nicht binden, würde also für eine Hinweisbefugnis des Depositars gegenüber einem potentiellen Vorbehaltsstaat sprechen.434 Auch bei einer solchen Lösung stellt sich wie bei der Untersuchung einer Hinweisbefugnis etwaiger Vertragsorgane die Frage, nach welchen Kriterien der Depositar darüber entscheiden können soll, welchen Vorbehalt er als problematisch und damit kennzeichnungswert ansieht.435 Eine Rückkehr zum Ziel-und-Zweck-Test muss hier aus denselben Gründen vermieden werden. Insofern müssen andere Kriterien gefunden werden, an denen der Depositar die Ausübung seiner Hinweisbefugnis orientieren kann.436 Da der Depositar seine Empfehlung an alle anderen Marks, ICLQ 39 (1990), S. 324; McRae, BYIL 49 (1978), S. 171; vgl. auch Report of the International Law Commission on the work of its fifty-third session, Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during the work of its fifty-sixth session prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 521, S. 9, Ziff. 62; sehr vorsichtig stimmt einem Mitwirkungsrecht des Depositars auch Treviranus zu, GYIL 25 (1982), S. 525. 431 Vgl. Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 197; ebenso die Ausführungen zu einer Hinweisbefugnis etwaiger Vertragsorgane unter Kapitel 4, B. III. 5. a). 432 Vgl. Hilpold, AVR 34 (1996), S. 405; Clark, AJIL 85 (1991), S. 312 f.; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 143 f.; hierfür spricht auch die Nachfrage des Generalsekretärs der UN an die Mitgliedstaaten der CEDAW bzgl. deren Ansicht zu bestimmten Vorbehalten, woraufhin diese antworteten, dass sie einige dieser Vorbehalte für unzulässig hielten, allerdings dennoch keinen Einspruch erhoben hatten, vgl. Status of the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, Report of the Secretary General, UN Doc. A / 41 / 608 S. 3 f., Ziff. 8 und A / 41 / 608 / Add. 1. 433 Imbert, in: Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 128; dies würde auch der bereits nach der EMRK bestehenden Rechtslage entsprechen, vgl. Art. 52 EMRK; Cameron, ICLQ 37 (1988), S. 918. 434 Vgl. Spiliopoulou Åkermark, ELR 24 (1999), S. 502; s. u. die Ausführungen zur Praxis des Generalsekretärs des Europarats als Depositar, Kapitel 4, B. III. 5. c) cc). 435 s. o. Kapitel 4, B. III. 5. a). 436 Die ILC empfiehlt eine Hinweisbefugnis des Depositars für Vorbehalte, die „manifestly impermissible“ sind. Was hiermit gemeint ist, bleibt allerdings unklar; vgl. Ziff. 2.1.8

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

255

Vertragsparteien richten würde, muss auch ein solches Kriterium unabhängig von subjektiven Ansichten einzelner Staaten oder des Depositars selbst sein.437 Da der Depositar ansonsten vor allem in formeller Hinsicht tätig wird, müsste es sich möglichst wenig auf den materiellen Inhalt eines Vorbehalts beziehen. Insofern bietet es sich an, beide Lösungsansätze, die Hinweisbefugnisse enthalten, anzugleichen und dem Depositar immer dann eine Hinweisbefugnis zuzuerkennen, wenn der Vorbehalt sich auf menschenrechtliche Primärpflichten bezieht.438 Ob die übrigen Vertragsparteien Einspruch gegen einen vom Depositar als möglicherweise problematisch indizierten Vorbehalt erheben, muss vollständig deren Entscheidung bleiben. Eine Hinweisbefugnis des Depositars würde daher genauso wenig in die Souveränität weder des Vorbehaltsstaats noch der übrigen Vertragsparteien eingreifen als dies durch das derzeit geltende Vorbehaltsrecht nach der WVK geschieht. Insofern dürfte eine solche Befugnis in der Staatenwelt weitaus größere Chancen auf Akzeptanz haben als eine alleinige materielle Prüfungskompetenz des Depositars. Die WVK selbst enthält darüber hinaus keine Bestimmung, die eine Kommentierung eines Vorbehalts durch den Depositar ausdrücklich verbietet. Daneben hat der Depositar schon jetzt die Befugnis, einen Befund darüber aufzustellen, ob ein Vorbehalt in guter und gehöriger Form abgefasst ist.439 Auch in dieser Hinsicht besitzt er eine Hinweisbefugnis. Der Hinweis auf mögliche mit dem Vorbehalt verbundene Probleme hätte mithin keine weitergehenden Auswirkungen, als es das derzeit gültige Vorbehaltsrecht ohnehin hat. Es ist daher sogar die Ansicht vertretbar, dass eine Hinweisbefugnis bereits unter Geltung der WVK besteht. Zumindest würde ihre Einführung nicht im Widerspruch zu den Regeln der WVK stehen. Teilweise wird die Forderung erhoben, dem Depositar sogar das Recht zuzugestehen, bei problematischen Vorbehalten den Vorbehaltsstaat aufzufordern, den der draft guidelines für einen Guide to Practice (on reservations to treaties), UN Doc. A / 59 / 10, S. 258, Ziff. 294; möglichst klare Kriterien forderten dagegen einige Delegationen im 6. Committee der Generalversammlung, vgl. Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fourth session, Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-seventh session, prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 529, S. 16, Ziff. 61, 65. 437 Vgl. Edwards, Michigan JIL 10 (1989), S. 385. 438 Dies steht ebenso nicht im Widerspruch zu der Annahme, dass eine materielle Entscheidungsbefugnis des Depositars auch aus dem Grund abzulehnen ist, weil objektive Kriterien, anhand derer sich eine solche Entscheidung orientieren müsste, nicht zur Verfügung stehen, s. o. Kapitel 4, B. III. 5. c) bb) (2). Würde der Depositar jeden Vorbehalt zu einer Primärpflicht für ungültig erklären, würde dies einem Verbot solcher Vorbehalte gleichkommen. Ein solches ist wegen seiner teilweise zu erwartenden kontraproduktiven Wirkung nicht wünschenswert, s. o. Kapitel 4, B. I. 1. Es dürfte auch keine Chancen auf Akzeptanz haben. Sofern die Entscheidung über die Rechtswirkung allein bei den Staaten bleibt und der Depositar lediglich eine Hinweisbefugnis erhält, kann diese Wirkung nicht eintreten; vgl. Ehrenkrona, Nordic JIL 72 (2003), S. 544. 439 Vgl. Art. 77 Abs. 1 lit. d WVK.

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

Vorbehalt zurückzunehmen.440 Auch dies bedeutet keine materielle Prüfungskompetenz des Depositars, da solche Aufforderungen nicht mit einer bindenden materiellen Entscheidung des Depositars gleichzusetzen wären. Insofern ist auch diese Idee noch dem Ansatz einer Hinweisbefugnis des Depositars zuzuordnen. Allerdings steht eine solche Aufforderung einer materiellen Entscheidungsbefugnis des Depositars deutlich näher als eine bloße Hinweisbefugnis darauf, dass ein Vorbehalt zu einer menschenrechtlichen Primärpflicht erhoben wurde. Die Aufforderung zur Rücknahme könnte nur im Hinblick auf solche Vorbehalte erklärt werden, die den materiellen Gehalt des Menschenrechtsschutzvertrags besonders stark gefährden. Müsste der Depositar eine solche Aufforderung dagegen bezüglich jedes Vorbehalts gegen eine Primärpflicht aussprechen, würden alle Aufforderungen langfristig ihre Autorität verlieren. Wenn aber die Aufforderung zur Rücknahme nur dann ausgesprochen werden dürfte, wenn der Vorbehalt eine besondere Gefahr für die Primärpflichten eines Menschenrechtsschutzvertrags bedeutet, müsste der Depositar bereits materiell über den Inhalt des Vorbehalts entscheiden und ein wertendes Urteil darüber fällen, inwieweit der Vorbehalt mit dem Inhalt des Menschenrechtsschutzvertrags vereinbar ist. Dieses würde einerseits einer objektiven Entscheidungsbefugnis des Depositars gefährlich nahe kommen; die Akzeptanzchancen des Ansatzes würden sinken. Andererseits drohte eine Rückbesinnung auf den Ziel-und-Zweck-Test, da der Depositar seine Entscheidung über den Gefährdungsgrad eines Vorbehalts nur hieran orientieren könnte. Insofern muss sich die Hinweisbefugnis auf den bloßen Hinweis, ein Vorbehalt sei zu einer primärrechtlichen Pflicht erklärt, beschränken. Eine darüber hinausgehende Kompetenz des Depositars zur Aufforderung des Vorbehaltsstaats zur Rücknahme des Vorbehalts sollte in einem Reformmodell des Vorbehaltsrechts nicht enthalten sein. Zu einem Umdenken und einer möglicherweise aus freien Stücken erfolgenden Rücknahme oder Änderung des Vorbehalts durch den Vorbehaltsstaat kann auch bereits die bloße Hinweisbefugnis beitragen.441 Eine so verstandene Hinweisbefugnis kann aber, genauso wie eine Hinweisbefugnis etwaiger Vertragsorgane, allein nicht zur Grundlage eines Reformmodells werden. Sofern der Depositar die übrigen Vertragsparteien lediglich darauf hinweisen soll, dass ein Vorbehalt zu einer menschenrechtlichen Primärpflicht erklärt worden ist, ist es Aufgabe der Staaten, durch ihre Reaktionen die Rechtswirkung des Vorbehalts festzulegen. Wenn außer der Anerkennung einer Hinweiskompetenz des Depositars keine weiteren Änderungen des geltenden Vorbehaltsrechts in Bezug auf Menschenrechtsschutzverträge vorgenommen werden, würden dessen alte Schwächen bestehen bleiben. Den übrigen Vertragsparteien stünden nach wie 440 Marks, ICLQ 39 (1990), S. 324; ähnlich Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 198. 441 Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 197; vgl. Imbert, HRR 6 (1981), S. 41 f., der zwar die alleinige Entscheidungsbefugnis der Staaten anerkennt, dennoch aber die Notwendigkeit einer Erinnerungsinstanz sieht. Diese könnte durch einen mit Hinweisbefugnis ausgestatteten Depositar wahrgenommen werden.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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vor nur Annahme und Einspruch als Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Ohne eine Modifizierung deren Wirkung würde aufgrund der Struktur menschenrechtlicher Primärpflichten der Vorbehaltsstaat weiterhin bereits mit Erklärung des Vorbehalts auch dessen Rechtswirkung festlegen. Der Ansatz einer Hinweisbefugnis des Depositars muss daher mit einem Modell kombiniert werden, das den Effekt von Annahme und Einspruch verändert.442 Sofern dies gelingt, kann die Hinweisbefugnis des Depositars dann zu einer Effektivierung dieses Modells und damit zur gesamten Reform des Vorbehaltsrechts zu Menschenrechtsschutzverträgen beitragen. Eine Gefahr, dass durch eine Indizierung von Vorbehalten durch den Depositar andere Vorbehalte von der Entscheidungsbefugnis der Staaten ausgeschlossen würden, besteht bei diesem Ansatz schließlich auch nicht. Es bliebe den Staaten frei, auch gegenüber nicht indizierten Vorbehalten Einsprüche zu erklären. cc) Praxis der Depositare In der Zwischenkriegszeit wurde vom Generalsekretär des Völkerbunds als Depositar verschiedener völkerrechtlicher Verträge die Praxis geübt, unter Vorbehalt erklärte Ratifikationen nur dann zu registrieren, wenn alle anderen Vertragsparteien den Vorbehalt angenommen hatten.443 Der Harvard Research-Entwurf bestätigte diese Praxis, indem er formulierte: „ . . . the Secretariat of the League of Nations ( . . . ) apparently does not regard an accession which is subject to reservations as definitively deposited until those reservations have been communicated to and accepted by the States signatories of or parties to the treaty concerned.“444

Unter Geltung des strengen Konsensprinzips konnte ein Vorbehalt nur wirksam werden, wenn ihn alle übrigen Vertragsparteien angenommen hatten.445 Bei der Überprüfung, ob diese Voraussetzung der Registrierung eines Vorbehalts erfüllt war, hatte der Depositar lediglich darauf zu achten, ob alle Annahmen erklärt worden waren. Diese Prüfung bezog sich nicht auf den materiellen Vertragsinhalt oder den Anwendungsbereich des Vorbehalts, sie war rein formeller Natur. Für die Zwischenkriegszeit ist daher von einem formellen Prüfungsrecht des Depositars bezüglich Vorbehalten auszugehen. Zwar konnte ein materielles Prüfungsrecht in dieser Zeit noch nicht im Raum stehen. Die Idee einer an materiellen Kriterien orientierten Zulässigkeitsentscheidung präsentierte erst im Jahre 1951 der IGH. Jedoch 442 Ein zur Kombination mit einer Hinweisbefugnis des Depositars geeignetes Modell stellt der Non-Benefitting-Ansatz dar, s. u. Kapitel 5. 443 Kühner, S. 59; Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 111 ff.; vgl. Schweisfurth, IRD 1970 II, S. 49 f.; Horn, S. 338. 444 AJIL 29 (1935), Suppl., S. 910; vgl. Kühner, S. 59. 445 s. o. Kapitel 2, A. II. 1.

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bleibt festzustellen, dass der Depositar schon vorher rechtlich bindend die Registrierung einer Vorbehaltserklärung verweigern konnte, was von Seiten der Mitgliedstaaten des Völkerbundes offenbar nicht angezweifelt wurde. Der Völkerbundsrat wies den Generalsekretär sogar ausdrücklich an, so zu handeln.446 Mit dem formellen Prüfungsrecht des Depositars blieb darüber hinaus die alleinige Entscheidungsbefugnis der Staaten über die Rechtswirkung des Vorbehalts unangetastet. Letztere behielten jeder für sich das Recht, durch einen einzigen Einspruch die Bindung des Vorbehaltsstaats an den Vertrag zu verhindern. Es war ihnen unbenommen, sich bei der Entscheidung über das Erheben eines Einspruchs von materiellen Kriterien leiten zu lassen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs richtete sich das Hauptaugenmerk bezüglich Depositarspraxis auf den Generalsekretär der Vereinten Nationen. Zunächst behielt dieser die Praxis des Generalsekretärs des Völkerbunds bei447 und beanspruchte in seinem Bericht vom 20. September 1950 ein Recht, zu überprüfen, ob ein Vorbehalt von allen anderen Vertragsparteien (stillschweigend) angenommen worden war.448 Auch er beanspruchte mithin ein formelles Prüfungsrecht. Als Reaktion auf das IGH-Gutachten zur Völkermordkonvention ersuchte die Generalversammlung am 12. Januar 1952 den Generalsekretär, seine Praxis als Depositar diesem anzupassen. Nach Auffassung der Generalversammlung sollte er Vorbehalte und andere Erklärungen registrieren, ohne sich zu deren Rechtswirkung zu äußern, sowie sie an die Vertragsparteien weiterleiten und es diesen überlassen, rechtliche Konsequenzen zu ziehen.449 Hierin wurde das Ende jeglicher Aufsichtsfunktion des Depositars gesehen.450 Der Generalsekretär reagierte auf dieses Ersuchen mit der Versicherung, dass Schlussfolgerungen über den rechtlichen Effekt eines Vorbehalts oder eines Einspruchs nicht in seinem Kompetenzbereich lägen, sondern in dem der Staaten.451 Er machte der Generalversammlung jedoch ausdrücklich das Angebot, auf Wunsch von dieser Praxis wieder abzuweichen.452 Am 29. Januar 1964 erläuterte der Generalsekretär in einem weiteren Bericht seine Praxis zu Vorbehalten erneut.453 Darin bestätigte er zum einen seine Pflicht 446 Hilpold, AVR 34 (1996), S. 385; Kühner, S. 60; vgl. Schweisfurth, IRD 1970 II, S. 50; McNair, S. 163; vgl. Ruda, RdC 146 (1975 III), S. 112 ff. 447 Horn, S. 339. 448 Reservations to Multilateral Conventions, Report of the Secretary General, UN Doc. A / 1372, S. 4, Ziff. 5 f.; Kühner, S. 66 f.; vgl. Hilpold, AVR 34 (1996), S. 387. 449 GA Res. 598 (VI) vom 12. Januar 1952, Ziff. 3; vgl. GA Res. 1452 (XIV) vom 7. Dezember 1959. 450 Hilpold, AVR 34 (1996), S. 396; Horn, S. 339. 451 Reservations to Multilateral Conventions: The Convention on the Inter-Governmental Maritime Consultative Organization, Report of the Secretary-General, UN Doc. A / 4235, S. 18 f., Ziff. 34. 452 UN Doc. A / 4235, S. 20, Ziff. 38. 453 Depositary Practice in Relation to Reservations, Report of the Secretary-General (submitted in accordance with General Assembly resolution 1452 B [XIV]), UN Doc. A / 5687.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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als Depositar, die übrigen Vertragsparteien über Vorbehalte zu unterrichten, zum anderen die Pflicht, sie zumindest darauf hinzuweisen, dass es sich bei einer Erklärung um einen Vorbehalt handeln könnte, so dass die Vertragsparteien über weitere Reaktionen nachdenken könnten.454 Auch hinsichtlich Fristüberschreitungen sah sich der Depositar kompetent, diese zu prüfen und gegebenenfalls die Annahme einer Erklärung zu verweigern.455 Dies sollte auch für Vorbehalte gelten, die erklärt würden, obwohl der Vertrag Vorbehalte jeder Art verbot, oder die einer bestimmten durch den Vertrag verbotenen Vorbehaltskategorie angehörten.456 Jedes materielle Prüfungsrecht lehnte der Generalsekretär dagegen ab.457 Damit entsprach er den Vorgaben der Generalversammlung.458 Insbesondere wollte er es unterlassen, in materieller Hinsicht der Entscheidung der Staaten über ihre Reaktion auf den Vorbehalt und den sich daraus ergebenden Auswirkungen für die vertraglichen Pflichten vorzugreifen. Allerdings schließt dies ein formelles Prüfungsrecht sowie eine Hinweisbefugnis des Depositars nicht aus. Gerade letztere dient der Effektivierung des Handelns der Vertragsparteien, ohne in ihre Befugnisse einzugreifen. Zumindest auf die Inanspruchnahme eines Vorprüfungsrechts in der Frage, ob eine Erklärung einen Vorbehalt darstellt oder nicht, lässt eine Stellungnahme des Generalsekretärs aus dem Jahre 1969 schließen. Darin bezog er sich ausdrücklich auf die damals gerade fertig verhandelte WVK und teilte mit, dass er in Fällen, in denen der rechtliche Charakter einer Erklärung unklar bliebe, den betreffenden Staat zur Klarstellung auffordern wolle.459 Damit gab der Generalsekretär zumindest zu verstehen, dass er darüber entscheiden wollte, dass die Einordnung einer Erklärung als Vorbehalt unklar sei, und er entsprechend handeln könne. Seine Entscheidung sollte daher die Reaktion der übrigen Vertragsparteien mit vorbereiten. Im Jahre 1975 erneuerte der Generalsekretär das Versprechen, seine Praxis weiterhin mit den Vorgaben der Generalversammlung in Einklang zu halten.460 Erneut UN Doc. A / 5687, S. 87 f., Ziff. 5. UN Doc. A / 5687, S. 92, Ziff. 20; dabei bezieht der Generalsekretär sich aber v. a. auf Reaktionen anderer Vertragsparteien auf Vorbehalte; im Jahre 1959 hatte er auch in zeitlicher Hinsicht noch jede Prüfungskompetenz abgelehnt, UN Doc. A / 4235, S. 19, Ziff. 35. 456 UN Doc. A / 5687, S. 92, Ziff. 21. 457 UN Doc. A / 5687, S. 90 f., Ziff. 16 f. 458 Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 199. 459 Convention on the Inter-Governmental Maritime Consultative Organization – Deposit of an Instrument of Acceptance Containing Declarations Apparently Amounting to a Reservation to the Convention – Practice of the Secretary-General, UNJY 1969, S. 223 f. 460 Depositary Practice of the Secretary-General when He Receives, in Connexion with a Multilateral Treaty Not Containing a Reservations Clause, an Instrument which Includes Reservations, UNJY 1975, S. 204, Ziff. 2 f.; International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights – Fulfilment of the Conditions Provided for by Article 27 (1) of the Covenant for the Purpose of itsEntry into Force, UNJY 1975, S. 205; Reservations or Declarations Made by States at the Time of Signing, Ratifying or Acceding to Multilateral Conventions in Respect of which the Secretary-General Performs Depository Functions – Practice Followed 454 455

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

betonte er allerdings auch, dass es seine Aufgabe sei festzustellen, ob eine Erklärung einen Vorbehalt darstelle, sowie gegebenenfalls den betreffenden Staat zur Klarstellung aufzufordern.461 Einen Vergleich zwischen dem System, einen Vorbehalt nur bei Vorliegen ausdrücklicher Annahmen durch alle anderen Vertragsparteien zu registrieren, und dem System, die Entscheidung über die Rechtswirkung des Vorbehalts allein den Staaten zu überlassen, zog der Generalsekretär im Jahre 1976.462 Er bezog dabei wiederum die Normen der seinerzeit noch nicht in Kraft befindlichen WVK in seine Betrachtungen ein.463 Für den Fall, dass Unklarheiten darüber bestünden, ob die Erklärung eines Staates ein Vorbehalt sei oder nicht, ging der Generalsekretär von einer für ihn bestehenden Pflicht aus, den betreffenden Staat zur Klarstellung aufzufordern und dessen Antwort allen übrigen Vertragsparteien zuzuleiten.464 Indirekt erhob er weiterhin Anspruch auf die Befugnis, einen Vorbehalt wegen nicht rechtzeitiger Erklärung als zurückgenommen beziehungsweise nicht erklärt anzusehen.465 Hinsichtlich der Wirkung von Vorbehalten und Einsprüchen, mithin der materiellen Rechtswirkung eines Vorbehalts, gelobte der Generalsekretär, die ihm in den Resolutionen Nr. 598 (VI) und 1452 B (XIV) von der Generalversammlung gemachten Vorgaben zu beachten. Die materielle Entscheidungsbefugnis der Vertragsparteien erkannte er erneut ausdrücklich an.466 Ein internes Memorandum aus dem Jahre 1981 gibt Anlass zur Annahme, dass der Generalsekretär sich zumindest in gewisser Weise als kompetent zur Überprüfung der Rechtzeitigkeit einer Vorbehaltserklärung ansah.467 by the Depositary Regarding Communications the Nature of which is Unclear, in the Case of Conventions Providing für a Specific Procedure to be Applied in Respect of Reservations, UNJY 1975, S. 206, Ziff. 6. 461 UNJY 1975, S. 206, Ziff. 6. 462 UNJY 1976, S. 209 ff., Ziff. 1 ff. 463 UNJY 1976, S. 209 ff., Ziff. 2 ff. 464 UNJY 1976, S. 210, Ziff. 4, der Generalsekretär verwendete dabei den Ausdruck „behove“, dessen Bedeutung im Deutschen auf eine Pflicht hinweist, MacKenzie, Pons Studienausgabe Englisch-Deutsch, S. 88; vgl. auch Cowie, Oxford Dictionary, S. 97. 465 UNJY 1976, S. 211, Ziff. 7, die vom Generalsekretär hierbei gewählte Formulierung lässt offen, welche Instanz gegebenenfalls eine solche Entscheidung zu treffen hätte. Er spricht lediglich davon, dass der Vorbehalt „( . . . ) is deemed to have been withdrawn“. Aus dieser objektiven Formulierung heraus lässt sich aber zumindest ableiten, dass es nach Meinung des Generalsekretärs in dieser Frage nicht auf die jeweils subjektive Ansicht der einzelnen Staaten ankommt, was für die Reklamierung einer Prüfungskompetenz durch den Generalsekretär, der als Depositar zeitlich als erster mit dem Vorbehalt in Berührung kommt und eine objektive Instanz ist, spricht. 466 UNJY 1976, S. 210 f., Ziff. 5.; S. 213, Ziff. 14. 467 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide – Submission by a State Party of an Instrument Withdrawing Reservations made at the Time of Ratification and Formulating new Reservations – Practice of the Secretary-General as Depositary of Multilateral Treaties With Respect to Reservations, UNJY 1981, S. 152 f., der Generalsekretär geht darin zumindest davon aus, dass solche Vorbehalte, die im Zusammenhang mit der

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Im Jahre 1992 gab der Generalsekretär noch einmal zu verstehen, dass er die Kompetenz der Staaten zur Entscheidung über die Rechtswirkung von Vorbehalten anerkenne. Er machte jedoch eine Ausnahme für Verträge, die Vorbehalte verbieten. In einem solchen Fall wollte er einen Vorbehalt nicht zur Registrierung annehmen.468 Bis heute hält sich der Generalsekretär an die von der Generalversammlung gemachten Vorgaben und übt seine Funktion dementsprechend aus.469 Dies geht aus seinem vorerst letzten Bericht über seine Praxis hinsichtlich Vorbehalte hervor, den er im Jahre 1999 veröffentlichte. Auch darin bekräftigte er seinen Respekt vor der Entscheidungsgewalt der Staaten über die materielle Rechtswirkung eines Vorbehalts.470 Er nahm jedoch für sich das Recht in Anspruch, Vorbehaltserklärungen zurückzuweisen, wenn ein Vertrag die Erklärung von Vorbehalten ausdrücklich verbietet. Ebenso beanspruchte er ein solches Recht, wenn ein Vertrag bestimmte Vorbehalte verbietet und der betreffende Vorbehalt prima facie zu dieser Kategorie gehört.471 Darüber hinaus geht der Generalsekretär offenbar bis heute davon aus, dass es in seine Kompetenz fällt, zumindest in klaren Fällen festzustellen, ob eine Erklärung einen Vorbehalt darstellt.472 In zweifelhaften Fällen würde er den betreffenden Staat um Klarstellung bitten und dessen Antwort allen interessierten Vertragsparteien zuleiten.473 Da der Generalsekretär sich aber nicht für verpflichtet hält, systematisch um solche Klarstellungen zu bitten, stellt er es den Staaten frei, Einsprüche gegen solche Erklärungen zu erheben, die sie selbst als Vorbehalte ansehen.474 Weiterhin gibt der Generalsekretär in diesem Bericht eindeutig zu erkennen, dass er sich für befugt hält, zu überprüfen, ob ein Vorbehalt fristgerecht erklärt worden ist. Er weist darauf hin, dass er sich an die in Art. 2 Abs. 1 lit. d WVK genannte Frist halte, nach der ein Vorbehalt spätestens bei Ratifikation erklärt werden muss. Gleichzeitig beschreibt er, dass er in Ausnahmefällen nach diesem Zeitpunkt erklärte Vorbehalte den Vertragsparteien zugeleitet habe und diese registrierte, wenn kein Einspruch erhoben wurde. Da der Generalsekretär diese Fälle selbst als Ausnahmen bezeichnet, ist davon auszugehen, dass er es als die Regel betrachtet, dass ein verspätet erklärter Vorbehalt den Vertragsparteien nicht zur EntscheiRücknahme eines anderen Vorbehalts erklärt werden, unzulässig sind und daher nach Alternativen gesucht werden müsse. 468 United Nations Practice with Respect to Reservation Clauses in Multilateral Treaties Deposited with the Seccretary-General, UNJY 1992, S. 468. 469 Eine umfassende Auflistung von Fällen, die dies belegen, findet sich im Summary of Practice of the Secretary-General as Depositary of Multilateral Treaties, UN Doc. ST / LEG / 7 / Rev. 1, S. 52 f., Ziff. 178 ff.; Horn, S. 340; Bauer, Vorbehalte zu Menschenrechtsverträgen, S. 199. 470 UN Doc. ST / LEG / 7 / Rev. 1, S. 54, Ziff. 185. 471 UN Doc. ST / LEG / 7 / Rev. 1, S. 56, Ziff. 191 ff. 472 UN Doc. ST / LEG / 7 / Rev. 1, S. 56 f., Ziff. 194. 473 UN Doc. ST / LEG / 7 / Rev. 1, S. 57, Ziff. 195. 474 UN Doc. ST / LEG / 7 / Rev. 1, S. 57 f., Ziff. 196.

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dung zugeleitet werden muss und seine Registrierung bereits aus formellen Gründen verweigert werden kann.475 Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen in den nunmehr über fünf Jahrzehnten seiner Tätigkeit als Depositar völkerrechtlicher Verträge eine relativ einheitliche Praxis in Bezug auf Vorbehalte geübt hat. Er hat sich zu aller Zeit einer materiellen Überprüfung des Vorbehalts und seiner Auswirkungen auf den Vertragsinhalt enthalten. Dieses betonte er, vor allem nachdem ihm von der Generalversammlung in den Resolutionen Nr. 598 (VI) und 1452 B (XIV) entsprechende Vorgaben gemacht wurden, immer wieder. Im Hinblick auf die Überprüfung von Vorbehalten in formeller Hinsicht wies er dagegen wiederholt darauf hin, dass er sich hierzu in verschiedener Weise als befugt ansehe. So fällt insbesondere auf, dass der Generalsekretär mehrere Male betonte, er könne darüber entscheiden, ob ein Vorbehalt innerhalb der von der WVK gesetzten Frist erklärt wurde. Weiterhin erklärte er sich mehrmals für kompetent, solchen Vorbehalten die Registrierung zu verweigern, die zu Verträgen erklärt wurden, zu denen keine oder nur bestimmte Vorbehalte zulässig sind, und der Vorbehalt nicht in die Kategorie der erlaubten fällt. Schließlich nahm er für sich in Anspruch, zumindest in klaren Fällen darüber zu entscheiden, ob eine Erklärung die Kriterien eines Vorbehalts erfüllt. Er wies aber stets darauf hin, in unklaren Fällen diese Entscheidung allein den Staaten zu überlassen, entweder im Wege der Klarstellung durch den möglichen Vorbehaltsstaat oder durch Entscheidung der übrigen Vertragsparteien. Dies bedeutet, dass der Generalsekretär in solchen Fällen aber zumindest von einer Hinweisbefugnis ausgehen könnte. Insgesamt entspricht die vom Generalsekretär der Vereinten Nationen geübte Praxis damit weitgehend dem nach dem derzeit geltenden Recht als möglich Festgestellten. Ein formelles Prüfungsrecht bezüglich des prima facie Charakters einer Erklärung als Vorbehalt sowie bezüglich der Rechtzeitigkeit einer Vorbehaltserklärung besteht ebenso wie ein Prüfungsrecht hinsichtlich ausdrücklich verbotener Vorbehalte. Da auch dieses sich nicht auf den materiellen Inhalt eines Vorbehalts bezieht, ist es ebenfalls als formelles Prüfungsrecht einzuordnen. Es ist daher übertrieben, wenn man in den erwähnten Resolutionen der Generalversammlung das Ende jedweder Aufsichtsbefugnisse des Depositars erblickt. Ein materielles Prüfungsrecht des Depositars im Hinblick auf die Zulässigkeit eines Vorbehalts besteht dagegen nicht. Die Entscheidung über die materielle Rechtswirkung eines Vorbehalts bleibt weiterhin allein in der Hand der Vertragsparteien. Anzeichen für eine bestehende Hinweisbefugnis des Depositars in materieller Hinsicht, finden sich in der Depositarspraxis bislang nicht. Allerdings hat es der Depositar auch niemals ausdrücklich als unzulässig bezeichnet, die Staaten gegebenenfalls darauf hinzuweisen, dass ein Vorbehalt problematisch sein könnte.476 Ein Verbot hierfür ergibt sich auch nicht daUN Doc. ST / LEG / 7 / Rev. 1, S. 60, Ziff. 204 ff. Vgl. die Ausführungen zu einer Hinweisbefugnis des Depositars darauf, dass ein Vorbehalt zu einer menschenrechtlichen Primärpflicht erklärt wurde, Kapitel 4, B. III. 5. c) bb) (3). 475 476

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raus, dass der Generalsekretär stets seine Bereitschaft bekundete, die von der Generalversammlung errichteten Vorgaben zu achten, die ihm verboten, sich zur Rechtswirkung eines Vorbehalts zu äußern. Die Resolutionen sind so zu verstehen, dass der Depositar zur materiellen Rechtswirkung keine eindeutigen Aussagen machen soll, die geeignet wären, die Entscheidung der Staaten hierüber wirksam zu beeinflussen. Eine bloße Hinweisbefugnis darauf, dass ein Vorbehalt zu einer primärrechtlichen Pflicht eines Menschenrechtsschutzvertrags erklärt worden ist, trägt keine solche Gefahr in sich. Insofern würde ein solches Verfahren dem Inhalt der Resolutionen nicht zuwiderlaufen. Der Generalsekretär des Europarats war als Depositar der im Rahmen dieser Organisation geschlossenen Verträge im Jahre 1975 zum ersten Mal gezwungen, sich mit der Frage eines ihm möglicherweise zustehenden Prüfungsrechts eingehend auseinander zu setzen. Die Türkei war einigen im Rahmen des Europarats geschlossenen Verträgen mit der Erklärung beigetreten, dass sie diese nicht im Verhältnis zur griechisch-zypriotischen Regierung anwenden wolle.477 Der Generalsekretär lehnte es zunächst ab, diese Erklärungen zu registrieren und bat das Ministerkomitee um Rat, wie in dieser Sache zu verfahren sei. Dieses wies ihn an, die türkischen Ratifikationserklärungen zu registrieren und den übrigen Vertragsparteien mitzuteilen, dass die Registrierung von Vorbehalten keinerlei Effekt auf deren Gültigkeit habe.478 Dies zeigt, dass auch der Generalsekretär des Europarats in seiner Praxis von keiner materiellen Prüfungskompetenz ausgeht. Auch nach seiner Praxis sollen die übrigen Vertragsparteien über die Rechtswirkung eines Vorbehalts entscheiden. In Fällen, in denen Unklarheit herrscht, ob eine Erklärung einen Vorbehalt darstellt, ist der Generalsekretär des Europarats bislang so verfahren, dass er den betreffenden Staat informell um Klarstellung bat.479 In der Regel schloss er sich danach dessen Erläuterungen an.480 Seine Praxis entspricht in dieser Hinsicht damit der des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Allerdings weist die Tatsache, dass der Generalsekretär des Europarats sich in der Regel den vom Staat gemachten Vorgaben anschließt, darauf hin, dass er sich in Ausnahmefällen offenbar zumindest den Rest einer Entscheidungsbefugnis in der Frage, ob eine Erklärung einen Vorbehalt darstellt, vorbehält. Dieses gilt auch für die Fälle, in denen ein vom Generalsekretär des Europarats verwalteter Vertrag keine Vorbehalte oder nur bestimmte Vorbehalte erlaubt. Sofern ein Staat einen nach dem Vertrag verbotenen Vorbehalt erklärt, verweigert der Generalsekretär selbstständig dessen Registrierung. In Fällen, in denen die materielle Vereinbarkeit eines Vorbehalts mit dem Vertrag zweifelhaft ist, leitet der Generalsekretär diesen hingegen an die übrigen Zu diesem Vorgang Polakiewicz, S. 91. Beschluss während des 254. meeting of Ministers’ Deputies, 9. bis 18. Februar 1976, abgedruckt bei Polakiewicz, S. 91. 479 Polakiewicz, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 105. 480 Spiliopoulou Åkermark, ELR 24 (1999), S. 502; Polakiewicz, S. 92. 477 478

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Vertragsparteien weiter, damit sie ihre Entscheidung treffen und gegebenenfalls Einspruch erheben können.481 Auch insofern gleichen sich die Praxis des Generalsekretärs der Vereinten Nationen und des Generalsekretärs des Europarats. Schließlich ist es eine vom Generalsekretär des Europarats stets geübte Praxis, nur solche Vorbehalte zu registrieren, die innerhalb des für ihre Erklärung vorgesehenen Zeitraums erklärt wurden. Verspätet erklärte Vorbehalte werden dagegen nur in Ausnahmefällen registriert.482 Als Ausnahme werden Fälle anerkannt, in denen die Erklärung eines Vorbehalts national bereits vor Ratifikation formuliert und nur durch einen Fehler der Verwaltung nicht rechtzeitig dem Generalsekretär zugeleitet wurde. Beispiele hierfür sind der Vorbehalt Griechenlands zur European Convention on the Suppression of Terrorism,483 der dem Generalsekretär am 6. September 1988 zuging, nachdem Griechenland bereits am 4. August 1988 seine Ratifikationserklärung hinterlegt hatte, sowie der Vorbehalt Portugals zur European Convention on Mutual Assistance in Criminal Matters,484 der dem Generalsekretär am 4. April 1997 zuging, nachdem Portugal bereits am 27. September 1994 seine Ratifikationserklärung abgegeben hatte.485 Auch hier beweist die Tatsache, dass der Generalsekretär des Europarats nur in Ausnahmefällen die Registrierung verspätet erklärter Vorbehalte vornimmt, dass er generell von einem ihm gegebenen formellen Prüfungsrecht in dieser Frage ausgeht. Dies dient insbesondere dem Schutz des Vertragsinhalts vor weiteren später erklärten Vorbehalten und entspricht insofern dem Wunsch des Ministerkomitees sowie der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, die Zahl der Vorbehalte zu beschränken.486 Aus demselben Grund hat es der Generalsekretär stets abgelehnt, nachträgliche Änderungen eines Vorbehalts, die dessen Erweiterung bedeutet hätten, zu registrieren, was ebenso wie die Ablehnung verspäteter Vorbehalte für ein formelles Prüfungsrecht des Depositars spricht.487 Auch das Ministerkomitee gab zu verstehen, dass es nicht von einer materiellen Prüfungskompetenz des Generalsekretärs ausgeht.488 Zwar wird vom Ad Hoc Committee of Legal Advisers on Public International Law489 des Europarats regelPolakiewicz, S. 92. Spiliopoulou Åkermark, ELR 24 (1999), S. 502; Polakiewicz, S. 94. 483 ETS Nr. 90. 484 ETS Nr. 30. 485 Zu diesen und weiteren Beispielen Polakiewicz, S. 94 f. 486 Parliamentary Assembly, Recommendation 1223 (1993) on reservations made by member states to Council of Europe conventions, Ziff. 7; Antwort des Ministerkomitees, 508. Meeting of the Ministers’ Deputies, 17. Februar 1994; vgl. Polakiewicz, S. 94. 487 Vgl. Polakiewicz, S. 96. 488 Recommendation No. R (99) 13, of the Committee of Ministers to Member States on Responses to Inadmissible Reservations to International Treaties, 670. Meeting of the Ministers’ Deputies, 18. Mai 1999, in der das Ministerkomitee ausdrücklich den übrigen Vertragsparteien Empfehlungen gibt, wie auf einen materiell unzulässigen Vorbehalt zu reagieren sei, den Generalsekretär dagegen aber nicht erwähnt. 489 Im Folgenden: CAHDI. 481 482

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mäßig eine Liste der „Outstanding Reservations and Declarations to International Treaties“ veröffentlicht.490 Allerdings gibt auch dies keinen Hinweis auf ein materielles Prüfungsrecht des Depositars oder anderer mit dem Treaty Office des Europarats zusammenarbeitenden Institutionen. Eine solche Liste lässt höchstens auf eine Hinweisbefugnis schließen, die die übrigen Vertragsstaaten in die Lage versetzt, Reaktionen auf Vorbehalte in Betracht zu ziehen. Hinweise auf ein materielles Prüfungsrecht finden sich daher insgesamt nicht in der Praxis des Generalsekretärs.491 Hinsichtlich Vorbehalte zur EMRK sind die Befugnisse des Generalsekretärs als Depositar besonders eingeschränkt. Da mit dem EGMR ein Vertragsorgan besteht, das die Kompetenz besitzt, in jeder Hinsicht über die Rechtswirkung von Vorbehalten bindend zu urteilen, obliegt diesem die Erfüllung diese Aufgabe auch zuvörderst.492 Jedoch hat sich insbesondere im Zuge der Erweiterung des Europarats eine Praxis entwickelt, wonach beitrittswillige Staaten vor ihrem Beitritt beim Generalsekretär nachfragen, ob ein ins Auge gefasster Vorbehalt mit der EMRK vereinbar wäre. Die Empfehlungen des Generalsekretärs wurden in der Regel beachtet.493 Auch speziell hinsichtlich der EMRK als dem wichtigsten im Rahmen des Europarats geschlossenen Vertrag hat der Generalsekretär als Depositar somit kein eigentliches materielles Prüfungsrecht. Ein solches wäre auch nicht notwendig oder wünschenswert, da mit dem EGMR ein Vertragsorgan existiert, das hierüber zweifelsfrei verfügt. Die Einschaltung eines weiteren Organs würde nur die Gefahr von Rechtsunsicherheit erzeugen. Insofern lehnte der Generalsekretär auch selbst jede materielle Überprüfung eines Vorbehalts zur EMRK ab.494 Allerdings scheinen Staaten den Depositar zumindest als fachliche Autorität in Sachen Vorbehalte anzusehen.495 Anders lässt sich die beschriebene Praxis nicht erklären, dass einige vor dem Beitritt zur EMRK einen Vorbehalt vom Depositar „überprüfen“ ließen. Auch wenn seine Entscheidung in der Regel beachtet wurde, bedeutet dies zwar noch keine entsprechende rechtliche Verpflichtung der Staaten nach der EMRK. Es kann allerdings von einer Hinweisbefugnis des Depositars ausgegan490 So in den Jahren 2000 bis 2004 unter den Dokumentennummern CAHDI (2000) 16, CAHDI (2001) 2, CAHDI (2001) 6, CAHDI (2002) 2, CAHDI (2002) 10, CAHDI (2002) 11, CAHDI (2003) 10, CAHDI (2004) 4, CAHDI (2004) 15, CAHDI (2004) 24. 491 Spiliopoulou Åkermark, ELR 24 (1999), S. 502; gegen ein solches Prüfungsrecht ist auch Imbert, HRR 6 (1981), S. 46. 492 Brief des Directors of Legal Affairs of the Council of Europe bzgl. eines Vorbehalts Frankreichs zu Art. 15 EMRK, abgedruckt bei Imbert, HRR 6 (1981), S. 60; Cameron, ICLQ 37 (1988), S. 917 f.; Polakiewicz, S. 105. 493 Drzemczewski, HRLJ 16 (1995), S. 243 ff.; Polakiewicz, S. 105; Spiliopoulou Åkermark, ELR 24 (1999), S. 502. 494 Brief des Director’s of Legal Affairs of the Council of Europe bzgl. eines Vorbehalts Frankreichs zu Art. 15 EMRK, abgedruckt bei Imbert, HRR 6 (1981), S. 60; vgl. Miehsler, Diskussionsbeitrag während des 5. Kolloquiums über die EMRK, abgedruckt bei Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 164. 495 Vgl. Imbert, HRR 6 (1981), S. 46.

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gen werden.496 Diese übt er auf Anfrage gegenüber dem möglichen Vorbehaltsstaat aus. Insgesamt deutet die nunmehr geschilderte Praxis des Generalsekretärs des Europarats auf ein für diesen bestehendes formelles Prüfungsrecht hin.497 Hinsichtlich der Frage, ob eine Erklärung einen Vorbehalt darstellt, richtet er sich zwar primär nach der Auffassung des erklärenden Staates. Er reklamiert für sich jedoch die Befugnis, darüber zu entscheiden, ob ein Vorbehalt rechtzeitig erklärt wurde sowie darüber, ob er vom Vertrag ausdrücklich verboten wird. Ein materielles Prüfungsrecht, das ihm die Kompetenz verleihen würde, bindend anhand des Inhalts des Vorbehalts über dessen Rechtswirkung zu entscheiden, besitzt der Generalsekretär dagegen nicht. Zwar können Staaten im Vorfeld eines Beitritts unter Vorbehalt seine Ansicht zur Zulässigkeit des Vorbehalts einholen. Sie sind an diese jedoch nicht gebunden. Die Tatsache, dass die Staaten eine solche Vorprüfung anerkennen, lässt aber darauf schließen, dass sie den Generalsekretär als zumindest hinweisbefugt ansehen. Zusammengefasst entspricht damit die vom Generalsekretär des Europarats geübte Praxis weitgehend der des Generalsekretärs der Vereinten Nationen sowie der, die bereits vom Generalsekretär des Völkerbundes geübt wurde. Ein formelles Prüfungsrecht besteht, ein materielles nicht. Es besteht aber eine Hinweisbefugnis, dass ein Vorbehalt materiell problematisch sein könnte.498 Damit steht die Praxis der wichtigsten als Depositar völkerrechtlicher Verträge und insbesondere auch Menschenrechtsschutzverträge handelnden Institutionen auch im Einklang mit den hier gewonnenen Ergebnissen zur Frage eines sich aus dem geltenden Recht ergebenden Prüfungsrechts des Depositars. dd) Strukturüberlegungen Die Struktur eines Menschenrechtsschutzvertrags führt im Falle eines Vorbehalts zu einer Primärpflicht zu einer Vielzahl betroffener Akteure: der Vorbehaltsstaat, 496 Imbert, HRR 6 (1981), S. 46, der insgesamt von einer Hinweisbefugnis des Depositars ausgeht; vgl. Polakiewicz, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 105 f.; Ansicht einiger Delegationen im 6. Committee der Generalversammlung, vgl. Report of the International Law Commission on the work of its fifty-fourth session, Topical summary of the discussion held in the Sixth Committee of the General Assembly during its fifty-seventh session, prepared by the Secretariat, UN Doc. A / CN.4 / 529, S. 18, Ziff. 71. 497 Vgl. Miehsler, Diskussionsbeitrag während des 5. Kolloquiums über die EMRK, abgedruckt bei Maier, Europäischer Menschenrechtsschutz, S. 164, der eine Entscheidungskompetenz des Depositars in der Frage nachträglicher Änderungen von Vorbehalten anerkennt; sowie Spiliopoulou Åkermark, ELR 24 (1999), S. 501, 515, die dem Generalsekretär des Europarats ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Behandlung von Vorbehalten zuerkennt. 498 Zwar ergeben sich hinsichtlich der Prüfungsintensität sowie dem Adressaten eines Hinweises des Depositars Unterschiede im Detail. Grundsätzliche Übereinstimmungen über das Bestehen eines formellen und das Nichtbestehen eines materiellen Prüfungsrechts sind jedoch nicht zu übersehen.

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der mit dem Vorbehalt seine vertraglichen Pflichten einseitig reduzieren will; die übrigen Vertragsparteien, die nach geltendem Vorbehaltsrecht dazu aufgerufen sind, hierauf mit Annahme oder Einspruch zu reagieren; und die der Hoheitsgewalt des Vorbehaltsstaats unterstehenden Individuen, die materiell von der Pflichtenreduzierung betroffen sind. Die Anerkennung eines formellen Prüfungsrechts des Depositars greift in dieses Gefüge nicht ein. Dieses wird vom Generalsekretär des Europarats und dem der Vereinten Nationen bereits praktiziert, ohne dass dies Auswirkungen auf den Bestand oder die Anwendung des geltenden Vorbehaltsrechts gehabt hat. Dafür existieren zwei Gründe. Zum einen lässt sich ein formelles Prüfungsrecht des Depositars bereits aus dem geltenden Vorbehaltsrecht herleiten, ist also ein Teil des bisher geltenden Rechtssystems zu Vorbehalten. Bei einem formellen Prüfungsrecht ergeben sich keine Unterschiede zwischen Menschenrechtsschutzverträgen und anderen multilateralen Verträgen. Diese unterscheiden sich nach der materiellen und nicht nach der formellen Pflichtenstruktur. Hieraus ergibt sich auch der zweite Grund dafür, dass ein formelles Prüfungsrecht mit dem Pflichtengefüge menschenrechtlicher Primärnormen vereinbar ist. Der formelle Ablauf bei Erklärung eines Vorbehalts unterscheidet sich nicht danach, ob der Vorbehalt zu einem Menschenrechtsschutzvertrag oder einem anderen multilateralen Vertrag erklärt wird. Lediglich auf der Wirkungsebene des Vorbehalts, mithin der materiellen Ebene, spielt die beschriebene Pflichtenstruktur eine Rolle. Insofern ist aus strukturellen Gründen nichts gegen ein formelles Prüfungsrecht des Depositars einzuwenden. Anders verhält es sich mit einem materiellen Prüfungsrecht. Dieses müsste sich auf den materiellen Inhalt des Vorbehalts beziehen, würde also in die Primärpflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags, wie sie bei Erklärung eines Vorbehalts aussieht, eingreifen. Wenn man dem Depositar ein solches materielles Prüfungsrecht einräumen wollte, müsste dieses weiterhin ausschließen, dass die übrigen Vertragsparteien daneben ihre Entscheidungsmacht behalten.499 Der Depositar würde daher in der Pflichtenstruktur einer menschenrechtlichen Primärpflicht die übrigen Vertragsparteien ersetzen. Dies müsste sowohl für die Erklärung des Vorbehalts gelten als auch für die Reaktion darauf. Die aufgrund der materiellen Entscheidung des Depositars ergehende Reaktion würde dann Auswirkungen auf beide Ebenen des Vertrags haben. Auf der Staat-Individuum-Ebene würde die Pflichtenreduzierung bestätigt oder aufgehoben werden. Der Depositar würde damit bindend über den Umfang der Verpflichtungen entscheiden, die den Vorbehaltsstaat gegenüber den seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Individuen treffen. Hierin liegt ein gravierendes strukturelles Problem. Ein Anhänger der Ansicht, dem Depositar stehe ein materielles Prüfungsrecht zu, muss eine schlüssige Begründung dafür liefern, aus welchem Grunde der Depositar quasi als Sprecher der vom Vorbehalt betroffenen Individuen auftreten kann. Zwar stellt sich die Situation hier ähnlich dar wie beim Non-Benefitting-Ansatz. Dort sind es die übrigen Vertrags499

s. o. Kapitel 4, B. III. 5. c) bb) (2).

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

parteien, die zu Gunsten der betroffenen Individuen auftreten. Ein Durchschlagen deren Handelns auf die Staat-Individuum-Ebene ließ sich jedoch mit Hilfe der Figur der humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger sowie im Hinblick auf seine Durchsetzbarkeit mit Hilfe der Repressalie und der Retorsion begründen.500 Der Depositar ist hingegen kein Staat beziehungsweise er übt seine Depositarsbefugnisse nicht als Staat aus. Eine humanitäre Intervention könnte er aus diesem Grunde nicht durchführen. Die Begründung deren Rechtmäßigkeit mit Hilfe einer Analogie zu Art. 51 UNC ist nur für Staaten tragfähig, da nur diesen ein Selbstverteidigungsrecht gegeben ist, das sie im besonderen Fall zu Gunsten anderer Völkerrechtssubjekte als kollektive Selbstverteidigung durch Nothilfe ausüben.501 Der Depositar als solcher ist dagegen kein Völkerrechtssubjekt, weder als Staat noch als internationale Organisation. Auch wenn die Depositarsaufgaben für Menschenrechtsschutzverträge mittlerweile von den Generalsekretären internationaler Organisationen ausgeübt werden, so kann von einer davon unabhängigen Völkerrechtssubjektivität des Depositars nicht ausgegangen werden. Sofern Depositarsaufgaben von einem Staat wahrgenommen werden, handelt er nicht als solcher, sondern in seiner Eigenschaft als Depositar. Es bedürfte daher einer doppelten beziehungsweise sogar dreifachen Analogie, um ein Auftreten des Depositars als Sprecher der von einem Vorbehalt betroffenen Individuen zu rechtfertigen. Eine solche würde eine zu große Gefahr in sich tragen, das Selbstverteidigungsrecht und damit das Gewaltverbot aufzuweichen. Sie ist damit, im Gegensatz zu der hinsichtlich der im Bereich des Menschenrechtsschutzes als partielle Völkerrechtssubjekte anerkannten Individuen zulässigerweise gezogenen bloß einfachen Analogie zu Art. 51 UNC, nicht tragfähig.502 Darüber hinaus wären dem Depositar als jemand, der nicht selbst mit Völkerrechtssubjektivität ausgestattet ist, die Hände bei der Durchsetzung seiner Entscheidungen mit Hilfe von Repressalie oder Retorsion gebunden. Auch diese Instrumente sind klassischerweise dem zwis. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1) sowie Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (2). Art. 51 UNC gesteht das Selbstverteidigungsrecht nur Mitgliedern der UN zu. Gemäß Art. 4 UNC können dies nur Staaten sein. Die hinsichtlich der humanitären Intervention vorgenommene Analogie zu Art. 51 UNC ist wegen der mittlerweile kaum noch bestrittenen partiellen Völkerrechtssubjektivität von Individuen im Bereich des Menschenrechtsschutzes allerdings tragfähig, s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1). 502 Dies gilt auch insofern, als dass die Analogie zu Art. 51 UNC hier nur benutzt wurde, um die Rechtmäßigkeit des strukturell gleich gelagerten Vorgehens nach dem Non-Benefitting-Ansatz zu begründen, die sich auch daraus herleitet, dass solches Vorgehen gewaltfrei erfolgt und daher im Vergleich zur humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger erst recht gegeben sein muss. Die Gefahr einer zu weiten Aufweichung des Art. 51 besteht bei Zulassung einer doppelten oder dreifachen Analogie, die sich auf Bereiche bezieht, die nicht in so hohem Maße geklärt sind wie die partielle Völkerrechtssubjektivität von Individuen im Bereich des Menschenrechtsschutzes, abstrakt dennoch. Die Zulassung solch unsicherer weiter Analogien zu einem ohnehin mit Ausnahmecharakter bestehenden Recht könnte Anreize schaffen, sie abstrakt auf den eigentlichen Anwendungsbereich des Art. 51 UNC zu übertragen, um so die Möglichkeit anderer unsicherer und weiter Analogien zu diesem zu begründen. Solches muss wegen des Ausnahmecharakters des Art. 51 UNC vermieden werden. 500 501

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schenstaatlichen Bereich zugeordnet.503 Selbst wenn sich eine Analogie für ihre Anwendung auf einen Depositar begründen ließe, würde die Durchsetzung seiner Entscheidungen auf diese Weise auch praktisch kaum möglich sein. Der Depositar eines Menschenrechtsschutzvertrags hätte nahezu keine tatsächlichen Möglichkeiten, mit deren Hilfe er einen Staat zum Einlenken zwingen könnte.504 Bei Anerkennung eines materiellen Prüfungsrechts des Depositars müssten daher auch neue völkerrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten erdacht werden. Dass solche eine Chance auf Anerkennung haben würden, ist angesichts des Widerwillens von Staaten, übergeordnete Instanzen vor allem im Bereich des Vorbehaltsrechts anzuerkennen, nicht zu erwarten. Ein strukturelles Problem ergibt sich ferner im Hinblick auf die zwischenstaatliche Ebene im Menschenrechtsschutzvertrag, weil Primärpflichten dort zwar nicht wirken, aber begründet werden.505 Müsste man im Hinblick auf Vorbehalte die übrigen Vertragsparteien durch einen mit materiellen Prüfungskompetenzen ausgestatteten Depositar ersetzen, könnte die Begründung von Primärpflichten nicht mehr insgesamt auf zwischenstaatlicher Ebene erfolgen. Dies wäre nur noch im Verhältnis zwischen Staaten möglich, die keine Vorbehalte zum betreffenden Menschenrechtsschutzvertrag angebracht haben. Wenn im Falle der Erklärung eines Vorbehalts der Depositar an die Stelle der übrigen Vertragsparteien treten soll, würden die menschenrechtlichen Primärpflichten des Vorbehaltsstaats auch zwischen diesem und dem Depositar begründet. Daneben würden dort die politischen Verpflichtungen entstehen. Dies entspricht aber nicht der Praxis, nach der Menschenrechtsschutzverträge nach wie vor allein von Staaten geschlossen werden. Man müsste daher für den Fall eines Vorbehalts davon ausgehen, dass die übrigen Vertragsparteien gegenüber dem Vorbehaltsstaat bei dessen Beitritt oder schon bei Abschluss des Vertrags als Vertreter des Depositars handeln, der dann später die endgültige Entscheidung über die Rechtswirkung des Vorbehalts trifft, beziehungsweise dass sie ihre Kompetenzen hinsichtlich Reaktionen auf den Vorbehalt dem Depositar übertragen. Den übrigen Vertragsparteien implizit einen solchen Willen zu unterstellen ist nicht möglich. Es würde eine ausdrückliche Änderung der Staatenpraxis voraussetzen. Für die Zukunft ist dies angesichts der geringen Bereitschaft des Anerkennens übergeordneter Entscheidungsinstanzen durch Staaten kaum zu erwarten. Weiterhin könnte eine solche Kompetenzübertragung nur de iure erfolgen, de facto aber nicht. Dies begründet sich damit, dass die Struktur des Menschenrechtsschutzvertrags im Falle eines Vorbehalts faktisch dazu führt, dass der Vorbehaltsstaat allein über die Rechtswirkung eines Vorbehalts entscheidet, während Annahme und Einspruch der anderen Staaten keine faktische Wirkung haben. Es müsste daher nicht nur de iure eine Kompetenzübertragung erfolgen, s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (2). So erscheint es nicht vorstellbar, dass ein Depositar allein beispielsweise ein Handelsembargo verhängt oder diplomatische Beziehungen abbricht. 505 s. o. Kapitel 3, B. IV. 5. c). 503 504

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

sondern de facto eine neue Überprüfungskompetenz des Depositars begründet werden, was nur möglich ist, wenn sich diese aus geltendem Recht ergibt oder vom Vorbehaltsstaat faktisch anerkannt wird.506 Pflichtenbegründungsebene + Vorbehaltserklärungsebene

a

bÙcÙd

Kompetenzanerkennung de facto

ia

Kompetenzübertragung de iure

OaiaG

Vorbehaltskontrollebene

RiaaG

Pflichtenwirkungsebene (bei Primärpflichten)

Bei Primärpflichten: politische Natur

Depositar

Abbildung 16: Darstellung der Pflichtenstruktur in einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikaler Pflichtenstruktur am Beispiel eines zwischen den Staaten a, b, c und d abgeschlossenen Menschenrechtsschutzvertrags bei Geltung eines materiellen Prüfungsrechts des Depositars, welches sich daraus begründet, dass die übrigen Vertragsparteien ihre de iure vorhandene Kompetenz zur Festlegung der Rechtswirkung des Vorbehalts bei Vertragsschluss mit dem Vorbehaltsstaat auf den Depositar übertragen

Graphisch dargestellt würde die Pflichtenstruktur, wenn die Staaten bei Vertragsschluss stillschweigend ihre Kompetenz zur Festlegung der Rechtswirkung eines Vorbehalts auf den Depositar übertragen, wie im obigen Bild aussehen. Die Darstellung der Pflichtenstruktur bei Anerkennung eines materiellen Prüfungsrechts des Depositars, das damit begründet wird, dass im Verhältnis zwischen diesem und dem Vorbehaltsstaat die politischen Verpflichtungen entstehen und die Primärpflichten begründet werden, und dass die übrigen Vertragsparteien ihn bei Vertragsschluss mit dem Vorbehaltsstaat lediglich vertreten, fällt ähnlich kompliziert aus. 506 Auch hier liegt ein Unterschied zum Non-Benefitting-Ansatz. Dieser verlagert die faktische Entscheidungskompetenz zurück auf die Staaten. Dabei ist jedoch der Konsens des Vorbehaltsstaats nicht nötig, da dessen Souveränität in dieser Hinsicht bereits weit genug eingeschränkt ist, s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1).

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Pflichtenbegründungsebene + Vorbehaltskontrollebene

Depositar Übertragung der Begründungskompetenz

Bei Primärpflichten: politische Natur

OaiaG

Abgabe der Willenserklärungen

RiaaG

Pflichtenwirkungsebene (bei Primärpflichten)

a

Anerkennung Vertretungsmacht / Vorbehaltserklärungsebene

ia

bÙcÙd

Abbildung 17: Darstellung der Pflichtenstruktur in einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikaler Pflichtenstruktur am Beispiel eines zwischen den Staaten a, b, c und d abgeschlossenen Menschenrechtsschutzvertrags bei Geltung eines materiellen Prüfungsrechts des Depositars, welches sich daraus begründet, dass die übrigen Vertragsparteien bei Vertragsschluss als Vertreter des Depositars handeln

Beide Abbildungen verdeutlichen, dass die Anerkennung eines materiellen Prüfungsrechts des Depositars, egal auf welche der beiden Weisen sie begründet wird, die Pflichtenstruktur im Menschenrechtsschutzvertrag unnötig verkompliziert. Vorbehaltserklärungsebene und Vorbehaltskontrollebene sowie Vorbehaltswirkungsebene fallen in jedem Fall auseinander. Die Kompetenzverteilung im Spannungsfeld der einzelnen Akteure wird noch undurchsichtiger, als sie es nach dem bisher geltenden Recht bereits ist. Diese Überlegungen zeigen einmal mehr, dass die Anerkennung eines materiellen Prüfungsrechts des Depositars im Gegensatz zur Anerkennung eines formellen Prüfungsrechts einen Fremdkörper in die Pflichtenstruktur eines Menschenrechtsschutzvertrags einführen würde. Dies würde zu einem erheblichen und angesichts der geschilderten Probleme kaum zu leistenden Begründungsaufwand führen. Da andere Lösungsmodelle, die auf eine solche Verkomplizierung verzichten können, existieren, besteht für die Einführung eines materiellen Prüfungsrechts des Depositars auch insofern kein Bedarf. Ein solches Prüfungsrecht taugt nicht als Reformmodell. Eine Hinweisbefugnis des Depositars auf möglicherweise problematische Vorbehalte würde dagegen den Depositar nicht an Stelle der übrigen Vertragsparteien setzen, sondern lediglich der Vorbereitung und Effektivierung ihrer Entscheidun-

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gen dienen. Insofern würde die Pflichtenstruktur des Menschenrechtsschutzvertrags dadurch nicht verändert. Gegen eine Hinweisbefugnis des Depositars sprechen daher keine strukturellen Argumente.

ee) Chancen auf Akzeptanz / Fazit Die aus dem derzeit geltenden Recht abzuleitenden Ergebnisse und die Praxis der Depositare, auch in Bezug auf Menschenrechtsschutzverträge, weisen ein hohes Maß an Übereinstimmung auf. In formeller Hinsicht ist geboten, dem Depositar aus Gründen der Effektivität des Vorbehaltsrechts eine Entscheidungsbefugnis darüber einzuräumen, ob die Erklärung eines Staates zumindest prima facie einen Vorbehalt darstellt. Da die den Staaten nach geltendem Recht zugeordnete Entscheidungsgewalt über die Rechtswirksamkeit des Vorbehalts dadurch nicht beeinträchtigt wird, ist davon auszugehen, dass ein solches Vorgehen innerhalb der Staatenwelt auf keinen Widerspruch stoßen wird. Die Tatsache, dass sowohl der Generalsekretär der Vereinten Nationen als auch der Generalsekretär des Europarats bereits seit längerer Zeit so verfahren, beweist dies zusätzlich. Letztendlich dürfte eine solche Praxis im Interesse der Staaten liegen, da ihnen so ein Teil der Arbeit, die nötig ist, um angemessen auf die Erklärung eines anderen Staates zu reagieren, im Vorfeld abgenommen wird. Ebenso lässt sich aus dem bestehenden Recht die Kompetenz des Depositars herleiten, die Rechtzeitigkeit einer Vorbehaltserklärung zu überprüfen und gegebenenfalls deren Registrierung zu verweigern. Auch dies findet in der Praxis der Depositare seine Entsprechung. Ein solches Prüfungsrecht stützt sich allein auf formelle Kriterien, deren Einhaltung sich klar feststellen lässt. Auch die Staaten sollten ein Interesse daran haben, dass Vorbehalte nur bis zu einem festgelegten Zeitpunkt erklärt werden können. Würde die Möglichkeit bestehen, generell nachträglich Vorbehalte wirksam zu erklären, könnte kein Vertragsstaat jemals sicher feststellen, inwieweit die einzelnen vertraglichen Pflichten gelten. Auch eine Zukunftsprognose in dieser Frage wäre unmöglich. Eine solche Rechtsunsicherheit kann kaum im Interesse der Staaten sein. Auch hierfür dient die Tatsache als Indiz, dass der Generalsekretär der Vereinten Nationen und der Generalsekretär des Europarats eine solche Prüfungskompetenz bereits in Anspruch nehmen, was wiederum auf Konsens in der Staatenwelt in dieser Frage hindeutet. Dieses gilt ebenso für nachträgliche Erweiterungen von Vorbehalten sowie für die Erklärung solcher Vorbehalte, die vom betreffenden Vertrag verboten werden. Materielle Prüfungskompetenzen des Depositars bestehen dagegen weder nach derzeit geltendem Vorbehaltsrecht noch nach der bislang von Depositaren geübten Praxis. Speziell bezogen auf Menschenrechtsschutzverträge wären solche Kompetenzen aus strukturellen Gründen auch nicht wünschenswert. Darüber hinaus dürften die Chancen eines materiellen Prüfungsrechts des Depositars auf Anerkennung in der Staatenwelt sehr gering sein. Eine ausdrückliche Anerkennung einer solchen

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Kompetenz durch Änderung der WVK oder aller betroffenen Menschenrechtsschutzverträge ist daher ebenso wenig zu erwarten wie eine gewohnheitsrechtliche Entwicklung in diese Richtung. Auch der Depositar würde dabei als objektive den Staaten übergeordnete Instanz auftreten. Seine Prüfungskompetenz würde die der Staaten verdrängen. Da die Vertragsparteien bislang diejenigen sind, die über die materielle Rechtswirkung eines Vorbehalts entscheiden, müssten sie ihre Kompetenzen im Falle der Anerkennung eines materiellen Prüfungsrechts des Depositars aufgeben. Dieses wäre zwingend notwendig, um Rechtsunsicherheit zu vermeiden, die entstehen würde, wenn Staaten neben dem Depositar materielle Prüfungskompetenzen behielten. Die Vergangenheit zeigt, dass eine Bereitschaft der Staaten, eine solche Instanz anzuerkennen, kaum vorhanden ist.507 Insofern werden sich Ansätze, die ein materielles Prüfungsrecht des Depositars fordern, nicht durchsetzen können. Wegen der mit ihnen verbundenen Probleme wäre dies auch abzulehnen. Zu einer Effektivierung im Bereich des Vorbehaltsrechts kann der Depositar in materieller Hinsicht jedoch beitragen, wenn man ihm eine diesbezügliche Hinweisbefugnis zubilligt. Eine solche würde die materiellen Entscheidungskompetenzen der Staaten unangetastet lassen. Allerdings würde sie den Staaten Anreiz und Anstoß geben, von ihren Entscheidungskompetenzen auch Gebrauch zu machen. Im Bereich des Menschenrechtsschutzes würde dies insbesondere gelten, wenn der Depositar darauf hinweisen kann, dass ein Vorbehalt zu einer Primärpflicht erklärt worden ist. Weiterhin kann auch eine Nachfrage des Depositars an den Vorbehaltsstaat über den Anwendungsbereich des Vorbehalts eine Hinweisfunktion erfüllen. Sofern man auch eine Hinweisbefugnis gegenüber dem Vorbehaltsstaat, bevor dieser einem Vertrag beitritt, anerkennt, würde die Effektivierung sowohl für erklärte als auch für noch zu erklärende Vorbehalte wirken können. Da Staaten dennoch in ihrer Entscheidung über Erklärung und Rechtswirkung des Vorbehalts frei blieben, sind Probleme hinsichtlich der Akzeptanz solchen Verhaltens des Depositars nicht zu erwarten. Hinsichtlich ihrer Souveränität würde sich gegenüber der bisherigen Rechtslage nichts ändern. Insbesondere die Praxis des Generalsekretärs des Europarats, beitrittswilligen Staaten im Voraus seine Rechtsmeinung über einen Vorbehalt mitzuteilen, und die Bereitschaft der Staaten, entsprechend zu handeln, beweist dies ebenso wie die auch vom Generalsekretär der Vereinten Nationen geübte Praxis, bei unklaren Vorbehalten den Vorbehaltsstaat zur Klarstellung aufzufordern. Eine Befugnis des Depositars, einen Staat zur Rücknahme eines Vorbehalts auffordern zu können, ist hingegen abzulehnen. Eine Hinweisbefugnis des Depositars wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Generalversammlung den Generalsekretär der Vereinten Nationen aufgefordert hat, bei Erfüllung seiner Aufgaben als Depositar nur auf Grundlage des 507 Erneut sei auf die Reaktionen auf General Comment No. 24 verwiesen, die insbesondere auch außerhalb des Mitgliedstaatenraums des Europarats sehr heftig ablehnend ausfielen; vgl. Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 245 f.

18 Behnsen

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

Gutachtens des IGH zur Völkermordkonvention zu handeln. Darin ist zwar eine Absage an jede materielle Prüfungskompetenz des Depositars zu sehen. Eine Hinweisbefugnis schließt diese Anweisung aber nicht aus. Die Generalversammlung erteilte lediglich einem bindenden materiellen Prüfungsrecht des Depositars eine Absage. Auf die Befugnis, nicht bindende Hinweise zu geben, ging sie nicht ein. Dies ist logisch, da ein solches keine Auswirkungen auf die Freiheit der Staaten hat, rechtliche Konsequenzen zu ziehen. Weiterhin hat der IGH in seinem Gutachten selbst anerkannt, dass der Depositar gewisse formelle Prüfungskompetenzen besitzt.508 Wenn die Generalversammlung den Generalsekretär also auffordert, die Vorgaben des Gutachtens zur Völkermordkonvention einzuhalten, kann dies weder den Ausschluss eines formellen Prüfungsrechts noch den einer materiellen Hinweisbefugnis bedeuten. Zusammenfassend ist damit festzustellen, dass eine Reform des Vorbehaltsrechts unter Einbeziehung des Depositars ein formelles Prüfungsrecht dessen anerkennen darf. Wegen der damit verbundenen Effektivierung wäre dies auch wünschenswert. Insofern muss ein formelles Prüfungsrecht des Depositars beim endgültigen Entwurf eines Reformmodells berücksichtigt werden. Aus demselben Grund muss daneben auch eine Hinweisbefugnis des Depositars Berücksichtigung finden. Sie muss jedoch mit einem weiteren Reformmodell in materieller Hinsicht kombiniert werden, das die Wirkung von Annahme und Einspruch verändert.509 d) Tauglichkeit einer Prüfungskompetenz übergeordneter Instanzen als Reformgrundlage Fasst man die nunmehr gewonnen Ergebnisse zur Tauglichkeit der Ansätze als Reformgrundlage zusammen, die die Überprüfung des gesamten Vorbehalts durch eine übergeordnete Instanz bevorzugen, ergibt sich zunächst, dass keine solche Instanz aktuell die Befugnis hat, über die materielle Rechtswirkung eines Vorbehalts zu entscheiden. Auch für die Zukunft ist eine solche Entwicklung nicht abzusehen. Es ist daher nicht möglich, eine Reformgrundlage zu entwerfen, nach der übergeordnete Instanzen berechtigt sind, über die materielle Rechtswirkung eines Vorbehalts zu entscheiden. Ein formelles Prüfungsrecht besitzt allein der Depositar. Dieses ist bereits mit dem geltenden Recht vereinbar, so dass es bei Erarbeitung eines Reformansatzes mit bedacht werden kann. Die weiteren Reform508 Vgl. IGH, Gutachten zur Völkermordkonvention, ICJ Reports 1951, S. 24; vgl. ausführlich zu dieser Frage die Ausführungen unter Kapitel 4, B. III. 5. c) bb) (1), dort auch Fußnote Nr. 411 in Kapitel 4. 509 Offenbar scheinen auch die Staaten bereit zu sein, irgendeine Form einer Überprüfungskompetenz des Depositars anzuerkennen. Immerhin berief sich die Schweiz darauf, ihr Vorbehalt im Belilos-Fall sei gültig, weil weder eine andere Vertragspartei noch der Depositar widersprochen habe, vgl. Schabas, Canadian YIL 32 (1994), S. 66 f. Da eine formelle Prüfungskompetenz am wenigsten in staatliche Kompetenzen eingreifen würde, ist davon auszugehen, dass in diesem Bereich die Bereitschaft zur Akzeptanz besonders ausgeprägt ist.

B. Multilateral begründete vertikal wirkende Verpflichtungen

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überlegungen können sich daher auf Fragen der materiellen Rechtswirkung eines Vorbehalts konzentrieren. Weiterhin widerspricht es weder dem geltenden Recht noch dem Prinzip staatlicher Souveränität, sowohl Vertragsorgane als auch den Depositar mit einer Hinweisbefugnis auszustatten, nach der sie die Vertragsparteien auf möglicherweise problematische Vorbehalte hinweisen dürfen. Dabei muss auf den Einsatz des Ziel-und-Zweck-Tests verzichtet werden. Vielmehr ist lediglich darauf hinzuweisen, dass der Vorbehalt zu einer menschenrechtlichen Primärpflicht erklärt worden ist. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, wenn Vertragsorgane und Depositar ihre Hinweisbefugnis nebeneinander ausüben. Selbst unterschiedliche Äußerungen seitens dieser beiden Stellen hätten rechtlich keine Auswirkungen, da die Staaten nach wie vor frei in ihren Entscheidungen wären. Jedoch wäre eine solche Situation zumindest geeignet, Verwirrung zu stiften. Dass Verwirrung und Rechtsunsicherheit gerade in Bezug auf die Festlegung menschenrechtlicher Primärpflichten nicht wünschenswert sind, war bereits bei der Untersuchung des Ziel-und-Zweck-Tests festgestellt worden.510 Praktisch sinnvoller ist es daher, allein dem Depositar eine Hinweisbefugnis zuzugestehen. Er kommt als erste Stelle und in jedem Fall mit jedem Vorbehalt in Berührung, der zu dem jeweiligen Vertrag erklärt wird. Er übt weiterhin bereits das formelle Prüfungsrecht aus. Es wäre damit sichergestellt, dass der Depositar alle Vorbehalte daraufhin untersucht, ob sie möglicherweise problematisch sind. Durch seine Pflicht, alle Vorbehalte den übrigen Vertragsstaaten zuzuleiten, würde weiterhin garantiert, dass seine Meinung, wenn er sie mit der Weiterleitung verknüpft, ebenso den Vertragsparteien zugeht. Da der Depositar lediglich die Frage klären müsste, ob der Vorbehalt zu einer Primärpflicht erklärt wurde, würde diese Prüfung auch keine große Zeitverzögerung bedeuten. Eine entsprechende Sicherheit wäre bei einer Hinweisbefugnis durch Vertragsorgane nicht im gleichen Maße gegeben, da diese zunächst Kenntnis von dem betreffenden Vorbehalt erlangen beziehungsweise mit diesem befasst werden müssten.511 Weiterhin würde eine Hinweisbefugnis eines Vertragsorgans nur innerhalb von zwölf Monaten nach Erklärung des Vorbehalts sinnvoll ausgeübt werden können. Nach Ablauf dieser Frist wäre es den übrigen Vertragsparteien verwehrt, Einsprüche gegen einen Vorbehalt einzulegen. Eine Hinweisbefugnis des Depositars würde von dieser Frist dagegen nicht beeinträchtigt werden, da diese frühestens zu laufen beginnt, wenn der Vorbehalt dem Depositar zur Kenntnis gebracht wurde. Für internationale Gerichte eine Hinweisbefugnis anzuerkennen, ist nicht möglich. Zunächst bestünde die Gefahr, dass diese überhaupt nicht mit dem Vorbehalt s. o. Kapitel 3, C. III. 1. b). So beträgt die Frist für die Vorlage des ersten Staatenberichts, durch den ein Vertragsorgan in jedem Fall Kenntnis von einem Vorbehalt erlangen würde, in der Regel ein Jahr, so dass es der Vorbehaltsstaat in der Hand hätte, die Hinweisbefugnis des Vertragsorgans durch Ausschöpfen dieser Frist praktisch auszuschließen, vgl. Art. 9 Abs. 1 CERD, Art. 18 Abs. 1 lit. a CEDAW, Art. Art. 19 CAT, Art. 40 Abs. 1 lit. a CCPR; Art. 44 Abs. 1 lit. a CRC sieht sogar eine Frist von 2 Jahren vor. 510 511

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befasst werden und sich daher gar nicht äußern könnten. Weiterhin würde eine Hinweisbefugnis faktisch einem Rechtsgutachten entsprechen. Da alle auf internationaler Ebene tätigen Gerichte bereits jetzt die Kompetenz zur Erstellung von Gutachten besitzen, besteht kein Bedarf, eine gesonderte Hinweisbefugnis im Bereich der Vorbehalte zu schaffen oder anzuerkennen.512 Eine Hinweisbefugnis des Depositars sowie sein formelles Prüfungsrecht können und müssen daher bei der abschließenden Erarbeitung eines Reformvorschlags berücksichtigt werden. Dies darf aber nur in Kombination mit einem Ansatz geschehen, der die Entscheidung über die materielle Rechtswirkung des Vorbehalts bei den übrigen Vertragsparteien belässt und die Rechtswirkung von Annahme und insbesondere Einspruch reformiert. Hierfür bietet sich der Non-Benefitting-Ansatz an.

6. Verhandlung eines Zusatzprotokolls zur WVK Teilweise wird vorgeschlagen, die Probleme des aktuellen Vorbehaltsrechts durch die Verhandlung eines Zusatzprotokolls zur WVK oder zu den einzelnen Menschenrechtsschutzverträgen zu lösen.513 Darin allein liegt jedoch kein brauchbarer Lösungsansatz. Die Schaffung eines Zusatzprotokolls ist lediglich eine Möglichkeit, eine Reform rechtlich verbindlich zu machen. Bevor man aber mit einem solchen Projekt beginnen kann, müssen der Inhalt des zu verhandelnden Protokolls feststehen beziehungsweise präzise Vorschläge über den Inhalt einer möglichen Reform erarbeitet worden sein. Selbst in diesem Fall bliebe darüber hinaus fraglich, ob dieser Ansatz sinnvoll ist, oder ob eine andere Methode, die Reform rechtsverbindlich zu machen, mehr Aussicht auf Erfolg hat. Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Schaffung eines Zusatzprotokolls den Vorteil hat, dass nach Abschluss der Verhandlungen der Inhalt der Reform sicher feststehen würde. Jeder Staat, der gewillt wäre, dem Zusatzprotokoll beizutreten, wüsste im Voraus, welche Rechtslage für ihn in der Zukunft bestünde. Durch Teilnahme an den Verhandlungen hätten die Staaten außerdem die Möglichkeit, die Entwicklung des durch das Zusatzprotokoll zu schaffenden Rechts zu beeinflussen. Nach dessen Inkrafttreten könnte die Staatenpraxis die weitere Auslegung des Protokolls mit prägen.514 Schließlich bestünden, welche Lösung auch immer in einem solchen Zusatzprotokoll verankert werden würde, keine Probleme hinsichtlich staatlicher Souveränität, da jeder Vertragsstaat bei Ratifikation in deren Begrenzung ausdrücklich einwilligen würde. Die Schaffung eines Zusatzprotokolls birgt jedoch die Gefahr, dass sich dieses in der Staatenwelt nicht stark genug durchsetzen kann. Wenn es in Kraft träte, da512 Zu den ansonsten bei gutachterlicher Tätigkeit im Bereich der Vorbehalte bestehenden Problemen s. o. Kapitel 4, B. III. 5. b). 513 Vgl. Wei, Asian YIL 7 (1997), S. 139. 514 Vgl. Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK.

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bei jedoch nur von einer Minderheit der Staaten ratifiziert wurde, entstünde die Situation, dass für einen Teil der Staaten das reformierte Vorbehaltsrecht gilt, für die übrigen das Recht der WVK. Es wären gleichzeitig zwei verschiedene Vorbehaltsrechtsmodelle gültig, was zu Rechtsunsicherheit führen würde, vor allem in Bezug auf Verträge, deren einer Teil der Vertragsparteien gleichzeitig Partei des neuen Zusatzprotokolls wäre, der andere aber nicht. Insbesondere im Bereich des Menschenrechtsschutzes sind solche Unsicherheiten nicht wünschenswert. Der Weg, eine Reform durch eine nach und nach erfolgende Änderung des Gewohnheitsrechts verbindlich zu machen, ist besser. Zwar kann eine solche Änderung einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen. Die Gefahr der parallelen Geltung zweier Rechtsordnungen bestünde jedoch nicht. Erst wenn feststünde, dass eine gewohnheitsrechtliche Änderung des derzeit geltenden Vorbehaltsrechts erfolgt ist, würde diese endgültig verbindlich. Vorher wäre es möglich, sich auf das alte Recht zu berufen. Es würde daher immer nur ein Rechtssystem zur gleichen Zeit gelten. Zwar besteht auch bei einem gewohnheitsrechtlichen Weg die Gefahr, dass einzelne Staaten als persistent objectors durch stetes Widersetzen die Geltung der Reform für sich ausschließen. Diese Gefahr ist allerdings nicht so groß wie die, die bestünde, wenn ein Zusatzprotokoll verhandelt würde, das die Staaten entweder ratifizieren könnten oder nicht. Bei Schaffung eines Zusatzprotokolls könnte ein Staat die Geltung des neuen Rechts für sich durch bloßes Nichtstun ausschließen. Die Verhinderung der Entstehung von Gewohnheitsrecht für sich auszuschließen, erfordert vom Staat dagegen ein aktives Widersetzen.515 Die bisherige Rechtsentwicklung des Völkerrechts zeigt, dass das Auftreten von Staaten als persistent objector eher selten geblieben ist.516 Der Weg, eine Reform über eine Weiterentwicklung des Gewohnheitsrechts verbindlich zu machen, würde insofern zwar wohl einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen als die Schaffung eines Zusatzprotokolls, hätte aber wohl auch die größeren Chancen, eine Reform allgemein verbindlich zu machen.517 Eine solche Entwicklung dürfte weiterhin auch bei den515 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, VölkerRt., 4. Kapitel, § 16, Rn. 26 f.; vgl. Bernhardt, in: ders., EPIL, Bd. I (A – D), S. 900, 901. 516 Charney, BYIL 56 (1985), S. 11 ff., 15 f., der als Beispiele aus der Staatenpraxis für die Persistent-objector-Regel Fälle aus den Bereichen des Seerechts, des Entschädigungsrechts und der Apartheid nennt, sogar dabei aber die Anzahl der Fälle, in denen sich Staaten erfolgreich auf diese Regel berufen haben, als gering einstuft; in der weiteren Literatur zum Völkergewohnheitsrecht wird die Figur des persistent objectors nur am Rande behandelt, vgl. z. B. Doehring, Rn. 292; Bernhardt, in: ders., EPIL, Bd. I (A – D), S. 904; Herdegen, VölkerRt., § 16, Rn. 13; die zur Figur des persistent objectors meist zitierten IGH-Fälle stammen aus den frühen 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, IGH, Asylum Case (Columbia v. Peru), 20. November 1950, ICJ Reports 1950, S. 277 f., Fisheries Case (United Kingdom v. Norway), 18. Dezember 1951, ICJ Reports 1951, S. 131; auch dies lässt darauf schließen, dass das Auftreten eines Staates als persistent objector selten ist; zur Frage des persistent objectors im heutigen Staatensystem mit nur noch einer Supermacht, vgl. Hofmann, in: Byers / Nolte, S. 351. 517 Vgl. Merrills, S. 15, der ebenfalls eine gewohnheitsrechtliche Weiterentwicklung des Völkerrechts einer Weiterentwicklung durch Vertragsänderung vorzieht.

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jenigen Zustimmung finden, die einen „Guide to Practice (in respect of reservations)“ einer Änderung der WVK vorziehen.518 Auch ein Guide to Practice würde eine Änderung des Vorbehaltsrechts nicht vertraglich verbindlich machen, sondern nur Anregungen für die Staatenpraxis geben. Insofern würde sich auch eine Änderung in dieser Hinsicht letztendlich durch eine Weiterentwicklung des Gewohnheitsrechts vollziehen. Weiterhin ist die Annahme, ein Zusatzprotokoll könnte gegenüber einer gewohnheitsrechtlichen Entwicklung einen zeitlichen Vorteil haben, nicht zwingend. Es ist nicht gesichert, dass die Schaffung eines Zusatzprotokolls immer zügig vorangehen würde. 7. Neuordnung des gesamten Völkervertragsrechts Die radikalste Lösung zur Behandlung des Vorbehaltsproblems schließlich wäre eine komplette Neuordnung des gesamten Völkervertragsrechts unter der Annahme, dass mittlerweile nicht mehr nur Staaten Völkerrechtssubjektivität genießen, sondern auch Individuen, und diese dadurch auch von Ungereimtheiten im Vertragsrecht betroffen sein können.519 Eine solche Radikallösung ist möglicherweise sogar die beste Lösung, um das Vertragsrecht umfassend den neuen rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen. Sie setzt allerdings einen äußerst langwierigen Verhandlungsprozess voraus. Ob an dessen Ende substantiell neue Ergebnisse stehen könnten, ist mehr als fraglich, angesichts der Tatsache, dass sich heute noch weitaus mehr Staaten auf eine Neuordnung des Vertragsrechts einigen müssten, als zu Zeiten der Schaffung der WVK. Weiterhin wäre bei einem solchen Ansatz das Problem noch stärker ausgeprägt, dass nicht klar ist, welchen Inhalt ein solches vollständig neues Vertragsrecht haben sollte. Es müssten nicht nur die im Vorbehaltsrecht bestehenden Probleme, sondern alle derzeit im Völkervertragsrecht aktuellen Probleme betrachtet und gelöst werden. Ob die gefundenen Lösungen in der Staatenwelt universell anerkannt werden würden, kann ebenfalls nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorausgesagt werden. Schließlich wäre ein solches Vorgehen auch eine zu heftige Reaktion auf die Probleme im Vorbehaltsrecht. Eine Reform sollte und darf immer nur so weit gehen, wie bestehendes Recht nicht funktioniert. Die WVK bietet für Vorbehalte zu reziproken Verträgen funktionierende Lösungsmöglchkeiten. Schon eine komplette Neuordnung des Vorbehaltsrechts wäre daher nicht nötig und nicht zulässig, eine komplette Neuordnung des Völkervertragsrechts insgesamt daher erst recht nicht.520 Auch für die Probleme hinsichtlich Vor518 s. o. Kapitel 2, F. I.; vgl. Klein, in: Byers / Nolte, S. 381, sowie dort Fußnote Nr. 52 in Kapitel 2. 519 Eine solche Radikallösung fordert Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 192. 520 s. o. Kapitel 3, C. I. Auch der strukturelle Ansatz war u. a. damit abgelehnt worden, dass er zu radikale Veränderungen nötig gemacht hätte, s. o. Kapitel 4, B. III. 3. c) cc).

C. Multilateral wirkende horizontale Pflichten

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behalte zu Menschenrechtsschutzverträgen existieren Lösungsmöglichkeiten, die weniger radikal in die bestehende Rechtsstruktur eingreifen.521 Ihnen ist daher gegenüber einer kompletten Neuordnung des Völkervertragsrechts der Vorrang einzuräumen.522

C. Multilateral wirkende horizontale Pflichten bzw. Verträge In diesem Abschnitt müssen nunmehr die Probleme behandelt werden, die das geltende Vorbehaltsrecht bei Anwendung auf Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur beziehungsweise auf entsprechend strukturierte Pflichten verursacht. Da zwischen Sekundärpflichten im Menschenrechtsschutzvertrag und Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur kein struktureller Unterschied besteht, sind die Ausführungen hierzu für beide gültig.523 Primär soll sich der Blick jedoch auf die Sekundärpflichten eines Menschenrechtsschutzvertrags richten. Die dabei gewonnen Ergebnisse lassen sich entsprechend auf den Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur übertragen.

I. Das Problem Menschenrechtliche Sekundärpflichten weisen eine horizontale Pflichtenstruktur auf. Sie entstehen und wirken allein auf zwischenstaatlicher Ebene, ohne auf die Staat-Individuum-Ebene durchzuschlagen. Die Verpflichtungen eines Vertragsstaats bestehen zwischen ihm und der Gemeinschaft der anderen Vertragsparteien als solcher. Die Gemeinschaft der anderen Vertragsparteien hat ihm gegenüber ein Recht, die Erfüllung der vertraglichen Pflichten zu fordern. Für die Gemeinschaft der anderen Vertragsparteien als solche bestehen jedoch keine vertraglichen Verpflichtungen. Zusammengefasst heißt dies, dass menschenrechtliche Sekundärpflichten jeweils den Einzelstaat treffen und durch dessen Handeln gegenüber der Gesamtheit der anderen Vertragsparteien erfüllt werden, ohne dass der Staat ein Recht hat, entsprechendes Verhalten von der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien zu fordern. Diese Pflichtenstruktur bildet den Grund dafür, dass So v. a. der Non-Benefitting-Ansatz. Vgl. Klabbers, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 153, der mittlerweile auch der Ansicht ist, dass die WVK für die Vorbehaltsproblematik funktionierende Lösungen bieten kann, ohne dass man sie einschneidend verändern müsste. Insofern müsste auch ihm der Non-Benefitting-Ansatz gefallen, da auch dieser die Geltung der WVK-Regeln nicht anzweifelt und nur durch eine kleine, aber entscheidende Änderung bzgl. der Wirkung des Eingriffs diese Regeln an die neue Rechtsrealität anpassen will. 523 s. o. Kapitel 3, C. III. 2. 521 522

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

das geltende Vorbehaltsrecht auf menschenrechtliche Sekundärpflichten oder Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur nicht sinnvoll angewandt werden kann. Die von der WVK vorgesehene Bilateralisierung der vertraglichen Pflichten kann im Falle eines Vorbehalts nicht eintreten, da sie sich spätestens nach der Jahresfrist des Art. 20 Abs. 5 WVK wieder multilateralisiert. Der Vorbehaltsstaat erreicht grundsätzlich, was er mit dem Vorbehalt bezweckt. Er wird gegenüber der Gesamtheit der anderen Vertragsparteien wie gegenüber jedem einzelnen Vertragsstaat nur in dem Maße an den Vertrag gebunden, wie es der Vorbehalt vorsieht. Den übrigen Vertragsparteien steht weder einzeln noch als Gesamtheit ein wirksames Instrument zur Verfügung, um den Vorteil, den sich der Vorbehaltsstaat durch die einseitige Pflichtenreduzierung verschafft, effektiv auszugleichen.524

II. Möglichkeit einer Reform An diesen Problemen muss ein Reformmodell für Vorbehalte zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten ansetzen. Auch hier gilt die Regel, dass eine Reform nur so weit gehen darf, wie das geltende Recht nicht anwendbar ist. Weiterhin sollte sich ein diesbezüglicher Reformvorschlag möglichst an den anlehnen, der zu Vorbehalten zu menschenrechtlichen Primärpflichten zu erarbeiten ist.525 Schließlich sollte er Gemeinsamkeiten mit den Teilen des geltenden Vorbehaltsrechts haben, die nach wie vor sinnvolle Ergebnisse liefern, also vor allem mit dem Vorbehaltsrecht zu Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur.526 Je einheitlicher und damit anwenderfreundlicher eine Reform des Vorbehaltsrechts ausfällt, desto größer dürfte ihre Chance auf Akzeptanz sein. Auffällig ist, dass zu diesem Aspekt der Probleme, die hinsichtlich Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen bestehen, nur wenig Literatur vorhanden ist.527 Der Großteil konzentriert sich auf den Bereich der Vorbehalte zu menschenrechtlichen Primärpflichten. Dies ist insofern nachvollziehbar, als dass diese Vorbehalte für den Vertragsinhalt die größeren Auswirkungen haben und die von einem Menschenrechtsschutzvertrag geschützten Individuen durch solche Vorbehalte stärker betroffen werden. Dennoch dürfen auch Vorbehalte zu Sekundärpflichten nicht aus den Augen verloren werden. Sekundärpflichten dienen vor allem zur Überwachung und Durchsetzung der Einhaltung der Primärpflichten. Ohne wirksame Durchsetzungsmöglichkeiten besteht für Primärpflichten die Gefahr, ihre Autorität zu verlieren. Insofern können auch Vorbehalte zu Sekundärpflichten gravierende Auswirs. o. Kapitel 3, C. II. Dieser findet sich unter Kapitel 5. 526 s. o. Kapitel 3, C. I. 527 Lijnzaad bezeichnet die Diskussionen in dieser Frage sogar als „distinctly monotonous, to the point of boredom“, S. 294. 524 525

C. Multilateral wirkende horizontale Pflichten

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kungen haben, die es rechtfertigen, die Möglichkeit einer Reform des Vorbehaltsrechts für solche Pflichten näher zu untersuchen. 1. Das Recht auf Individualbeschwerde als Sonderfall Die Individualbeschwerde ist eine Durchsetzungsmöglichkeit für in einem Menschenrechtsschutzvertrag enthaltene Primärpflichten. Auch sie ist insofern als menschenrechtliche Sekundärpflicht einzuordnen. Die nachfolgenden Ausführungen gelten für sie aus strukturellen Gründen jedoch nicht. Die Individualbeschwerde dient dem Individuum zur Durchsetzung seiner Rechte. Sie weist damit eine vertikale Struktur auf. Da sie im zwischenstaatlichen Bereich keine Wirkung erzeugt, entspricht ihre Struktur der des Vertrags mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur.528 Für sie gelten daher die Ausführungen zur Möglichkeit einer Reform des Vorbehaltsrechts, die für diesen Vertragstyp gemacht wurden. Sollte ein Staat daher einen Vorbehalt zu einer Norm erklären, die das Recht auf Individualbeschwerde errichtet, ist hierauf beispielsweise der Non-Benefitting-Ansatz anwendbar, wie er es auf menschenrechtliche Primärpflichten ist. Dieses gilt auch für die Staatenbeschwerde. Zwar handelt es sich hierbei um ein zwischenstaatliches Instrument. Da sie im Bereich des Menschenrechtsschutzes aber mehr einer actio popularis zu Gunsten in ihren Rechten verletzten Individuen gleichkommt, weist auch sie strukturell betrachtet ein vertikales Element auf,529 so dass beispielsweise der Non-Benefitting-Ansatz auch auf sie anwendbar ist. Die weiteren Ausführungen beschränken sich daher auf solche Sekundärpflichten, die eine rein horizontale Struktur haben, sowie auf Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur, es sei denn, auf etwas anderes wird ausdrücklich hingewiesen. 2. Vorbehalte zu gerichtlichen Streitbeilegungskompetenzen Auf Vorbehalte zu Bestimmungen, die die Kompetenz von Gerichten begründen, über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zu entscheiden, braucht ebenfalls nicht eingegangen zu werden. Einige Verträge sehen sogar ausdrücklich vor, dass Vorbehalte zu Bestimmungen erklärt werden dürfen, die Streitigkeiten über den Vertrag einem internationalen Gericht oder einem Vertragsorgan zuweisen.530 Solche Vorbehalte sind bereits aus diesem Grunde zulässig und wirksam.531 McGrory, HRQ 23 (2001), S. 816. s. o. Kapitel 3, B. IV. 5. b) cc). 530 So z. B. Art. 29 Abs. 2 CEDAW; vgl. Art. 28 Abs. 1 CAT. 531 Szafarz, S. 26; zur Frage der Möglichkeit, Unterwerfungserklärungen gem. Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut mit Vorbehalten zu verbinden vgl. Alexandrov, Leiden JIL 14 (2001), S. 93 ff., diese Frage soll in dieser Arbeit jedoch nicht weiter behandelt werden, da sich sol528 529

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

Auch wenn eine solche ausdrückliche Erlaubnis in einem Vertrag nicht enthalten ist,532 gilt das Prinzip, dass kein Staat gegen seinen Willen in ein gerichtliches Verfahren verwickelt werden darf.533 Insbesondere das Verfahren vor den IGH als der Instanz, die häufig mit der Entscheidung von Vertragsstreitigkeiten im Wege einer kompromissarischen Klausel betraut wird, beruht auf dem Konsens der streitenden Parteien über die Rechtsprechungskompetenz des Gerichtshofs. Auch Vorbehalte zu Normen, die dem Gerichtshof die Zuständigkeit zur Entscheidung über Vertragsstreitigkeiten zuweisen, sind daher zulässig. Dagegen kann der Umkehrschluss nicht gelten, der besagt, dass in einigen Verträgen die Zulässigkeit eines solchen Vorbehalts ausdrücklich normiert wird, und daher Vorbehalte desselben Inhalts zu Verträgen, die eine ausdrückliche Vorbehaltserlaubnis nicht enthalten, grundsätzlich unzulässig sind. Dieser Schluss stünde im Widerspruch zu dem Prinzip, dass kein Staat gegen seinen Willen Beklagter in einem Streitverfahren vor dem IGH werden kann, und würde damit die Souveränität des betroffenen Staates verletzen. Eine Begründung für eine solche Souveränitätsbeschränkung findet sich derzeit weder im Vertragsrecht noch lässt Staatenpraxis hierauf schließen. Ein aktuelles Beispiel der Praxis weist vielmehr auf das Gegenteil hin. Die USA kündigten am 7. März 2005 das Optional Protocol to the Vienna Convention on Consular Relations Concerning the Compulsory Settlement of Disputes.534 Durch Art. I dieses Abkommens unterwerfen sich die Staaten für alle Streitigkeiten, die sich auf die Interpretation oder Anwendung der Wiener Konsularrechtskonvention beziehen, der Jurisdiktion des IGH. Da die Spruchpraxis des Gerichtshofs in Fällen, in denen die Todesstrafe für Ausländer in den USA eine Rolle spielte, sich nach Ansicht der Vereinigten Staaten zu stark dahingehend entwickelte, dass der IGH zu einer Art Revisionsinstanz für das innerstaatliche Recht der USA wurde, kündigten die USA das Zusatzprotokoll.535 Die Wiener Konsularrechtskonvention und das sich auf sie beziehende Zusatzprotokoll haben zwar keine multilaterale wirkende horizontale Pflichtenstruktur.536 Die Kündigung der USA macht aber deutlich, dass Staaten allgemein wenig bereit sind, auf ihre Souveränität in Bezug auf internationale Gerichtsbarkeit zu verzichten. che Vorbehalte nicht auf Sekundärpflichten eines Menschenrechtsschutzvertrags, sondern auf einseitige Erklärungen eines Staates beziehen. 532 Vgl. Art. IX der Völkermordkonvention, Art. 10 der Convention on the Nationality of Married Women; Art. 10 der Supplementary Convention on the Abolition of Slavery, the Slave Trade, and Institutions and Practices Similar to Slavery. 533 StIGH, Status of Eastern Carelia (Advisory Opinion), 27. April 1923, PCIJ Ser. B, No. 5, S. 27; IGH, Case Concerning Monetary Gold Removed from Rome in 1943 (Italy v. France, United Kingdom and United States of America), 15. Juni 1954, ICJ Reports 1954, S. 32; Case Concerning East Timor (Portugal v. Australia), 30. Juni 1995, ICJ Reports 1995, S. 101; Western Sahara (Advisory Opinion), 16 Oktober 1975, ICJ Reports 1975, S. 25, Ziff. 33; Alexandrov, Leiden JIL 14 (2001), S. 90 f.; Szafarz, S. 28; Schorer, S. 32. 534 UNTS Bd. 596, S. 487. 535 Vgl. das Daily Press Briefing des U.S. Departments of State, Sprecher Adam Ereli, vom 10. März 2005, zu finden unter http: //www.state.gov/r/pa/prs/dpb/2005/43225.htm. 536 s. o., Kapitel 3, B. IV. 3.

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Es spielt daher keine Rolle, ob ein Vertrag Vorbehalte zu Normen, die ein Gericht mit Entscheidungskompetenz über Vertragsstreitigkeiten ausstatten, ausdrücklich erlaubt oder nicht. Solche Vorbehalte sind immer zulässig. Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob die Streitigkeit nur von beiden Streitparteien oder auch von einer Partei allein vor den Gerichtshof gebracht werden kann. Auch Vorbehalte zu Normen, die die obligatorische Entscheidungsbefugnis des IGH festlegen, sind zulässig und wirksam, da auch in diesem Fall nicht von dem beschriebenen Grundsatz abgewichen werden darf.537 Ein Ansatz, der eine Kompetenz internationaler Gerichte zur Entscheidung von Vertragsstreitigkeiten auch dann anerkennen würde, wenn ein Staat zu einer entsprechenden Vertragsbestimmung einen Vorbehalt erklärt hat, dürfte in der Staatenwelt keine Chancen auf Akzeptanz haben. Schon im Hinblick auf Vorbehalte zu Primärpflichten wurde ein solches Ergebnis erkannt.538 Es sind keine Gründe ersichtlich, warum Staaten im Bereich der Vorbehalte zu Sekundärpflichten oder zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur bereit sein sollten, sich der Entscheidungsgewalt internationaler Gerichte zu unterwerfen und von dem Grundsatz abzuweichen, dass kein Staat gegen seinen Willen Partei eines gerichtlichen Streitverfahrens werden kann. In einem solchen Fall müssten die Staaten ausdrücklich auf ihre in diesem Bereich bestehende Souveränität verzichten. Zusammenfassend ist damit festzustellen, dass Normen, die die Entscheidungszuständigkeit eines internationalen Gerichts für Vertragsstreitigkeiten begründen, im Bereich des Vorbehaltsrechts zu Sekundärpflichten eine Sonderrolle einnehmen. Zu ihnen erklärte Vorbehalte sind grundsätzlich zulässig und wirksam. Der Satz „Par in parem non habet imperium.“ gilt in dieser Hinsicht noch voll.539 Eine Bestätigung dafür findet sich in mehreren Menschenrechtsschutzverträgen und Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur.540 Über eine Reform des Vorbehaltsrechts zu solchen Bestimmungen soll daher in dieser Arbeit nicht weiter nachgedacht werden. Dies gilt auch im Hinblick auf den 537 Szafarz, S. 32, die weiterhin davon ausgeht, dass Vorbehalte gegen Normen, die ein internationales Gericht mit Entscheidungsbefugnissen über Vertragsstreitigkeiten ausstatten, nicht gegen Ziel und Zweck des Vertrags verstoßen, S. 27. 538 s. o. Kapitel 4, B. III. 5. b). 539 Dies im Gegensatz zur Zulässigkeit des Non-Benefitting-Ansatzes bzgl. Vorbehalten zu menschenrechtlichen Primärpflichten. Diese begründete sich daraus, dass in diesem Bereich die staatliche Souveränität nur noch eingeschränkt vorhanden ist, was sich wiederum aus der mittlerweile anerkannten Völkerrechtssubjektivität des Individuums ergibt. Im Bereich der Sekundärpflichten sowie der Verträge mit multilateral begründeter horizontaler Pflichtenstruktur müssen die Beziehungen zwischen Staat und Individuum außer Acht gelassen werden, so dass eine Souveränitätseinschränkung im zwischenstaatlichen Bereich hier noch nicht begründet werden kann. 540 So erkennen auch Art. XI Abs. 2 Antarktisvertrag, Art. 8 der Convention against Discrimination in Educa-tion und Art. 8 der Convention on Consent to Marriage, Minimum Age for Marriage and Registration of Marriages an, dass kein Staat gegen seinen Willen Partei einer gerichtlichen Streitigkeit werden kann; vgl. Szafarz, S. 28.

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

EGMR. Dieser nimmt wiederum eine Sonderstellung ein, da er kompetent ist, in allen Fragen der Vertragsauslegung der EMRK zu entscheiden, ohne dabei an den im Einzelfall zu erklärenden Konsens der beteiligten Vertragsparteien gebunden zu sein. Diese Sonderstellung ergibt sich aus Art. 32 EMRK selbst und wird somit von den Vertragsparteien der EMRK automatisch anerkannt. Auch vor Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls hatte der EGMR bereits erfolgreich für sich die Kompetenz beanspruchen können, über die Wirksamkeit und Wirkung von Vorbehalten zu Sekundärpflichten aus der EMRK zu entscheiden.541 Es ist einem Staat ferner nicht möglich, anders als bei anderen internationalen Gerichten, die Zuständigkeit des EGMR durch einen Vorbehalt auszuschließen. Solche Vorbehalte gehören nicht zu den durch Art. 57 EMRK erlaubten. Der EGMR verfügt damit im Gegensatz zum IGH über „true compulsory jurisdiction“.542 Diese Sonderrolle schließt aus, für die EMRK über eine Reform des Vorbehalts zu solcher Art von Sekundärpflichten nachzudenken.543 Zum Teil wird schließlich in der Praxis das Vorbehaltsproblem zu Sekundärpflichten von Menschenrechtsschutzverträgen sowie zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur dadurch umgangen, dass solche Pflichten nicht mehr als Bestandteil des eigentlichen Vertrags, sondern in Zusatzprotokollen normiert werden.544 Damit kann jeder Staat, der die im Zusatzprotokoll definierten Pflichten nicht akzeptieren will, ohne Vorbehalt Partei des eigentlichen Vertrags werden. Er muss lediglich auf die Ratifikation des Zusatzprotokolls verzichten. In dieser Hinsicht stellt sich die Frage nach einer Reform des Vorbehaltsrechts daher ebenfalls nicht.545 Der Vollständigkeit halber ist noch darauf hinzuweisen, dass in Fällen, in denen streitig ist, ob ein Gericht im konkreten Fall befugt ist, eine Vertragsstreitigkeit zu entscheiden, etwa weil die Wirksamkeit eines Vorbehalts beispielsweise aus formalen Gründen unklar ist, das Gericht die Kompetenz besitzt, über seine eigene Rechtsprechungszuständigkeit zu entscheiden.546 Auch dies ist jedoch ein Sonderfall, der den Entwurf einer generellen Reform des Vorbehaltsrechts zu solchen Se541 EGMR, Case of Loizidou v. Turkey, 23. März 1995, Ziff. 65 ff., insb. Ziff. 89., Ziff. 90 ff., insb. Ziff. 98; ebenso bereits die EKMR, Case of Chrysosthomos et al. v. Turkey, 4. März 1991, Ziff. 8, Ziff. 9 ff., insb. Ziff. 42, Ziff. 43 ff., insb. Ziff. 49.; vgl. Polakiewicz, ZaöRV 51 (1991), S. 147 ff. 542 Shahabuddeen, in: Muller / Raiè / Thuránsky, ICJ, S. 7; Schorer, S. 40; vgl. Alexandrov, Leiden JIL 14 (2001), S. 91; das Problem möglicher Vorbehalte, die mit der Anerkennung des Rechts auf Individualbeschwerde verbunden wurden, stellt sich seit der Reform des Rechtsschutzsystems nach dem 11. Zusatzprotokoll nicht mehr und soll hier daher nicht behandelt werden, vgl. hierzu Rumpf, ZaöRV 47 (1987), S. 778 ff. 543 Zu Art. 32 EMRK selbst wurden ebenfalls keine Vorbehalte erklärt, was unter http: //conventions.coe.int feststellbar ist. 544 So z. B. in Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zum CCPR; vgl. Szafarz, S. 27. 545 Vgl. zu diesem Problem Nicolai, Syracuse JILC 31 (2004), S. 313 f., 318. 546 Vgl. Schorer, S. 33; IGH, Fisheries Jurisdiction Case (Spain v. Canada), 4. Dezember 1998, ICJ Reports 1998, S. 450 f.

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kundärbestimmungen nicht rechtfertigt. Vielmehr setzt diese Kompetenz der Gerichte erst an, wenn klar ist, dass generell die Regel gilt, dass formal gültige Vorbehalte zu solchen Bestimmungen grundsätzlich wirksam sind.

3. Verknüpfung von Primärpflichten und Sekundärpflichten Ein Lösungsmodell sieht vor, einen Vorbehalt zu einer Sekundärpflicht als unzulässig anzusehen, wenn hierdurch gegen Ziel und Zweck einer Primärpflicht und damit gleichzeitig gegen Ziel und Zweck der Sekundärpflicht verstoßen wird. Dieses soll insbesondere dann der Fall sein, wenn der Vorbehalt zu einer Sekundärpflicht bewirkt, dass Primärpflichten nur noch diskriminierend angewandt werden können.547 Dieser Ansatz erscheint vor allem vor dem Hintergrund der Kündigung des ersten Zusatzprotokolls zum CCPR durch Trinidad und Tobago im Jahre 1998 vorzugswürdig.548 Im Anschluss an die Kündigung war dieser Staat dem Zusatzprotokoll unter einem Vorbehalt erneut beigetreten, der den Insassen von Todeszellen die Möglichkeit einer Individualbeschwerde zum Human Rights Committee vorenthielt.549 Ebenso verhielt sich Guyana.550 Hierin erblickte man ein unzulässiges Verhalten, da nun ein Teil der Rechtsträger der im CCPR normierten Menschenrechte nicht mehr die Möglichkeit hatte, eine mögliche Rechtsverletzung geltend zu machen.551 Insofern vertrat ein Teil der Literatur, dass ein solcher Vorbehalt zu einer Sekundärpflicht durch seine diskriminierende Wirkung gegen Ziel und Zweck einer Primärpflicht verstoße und daher unzulässig sei. Grundüberlegung dieses Reformansatzes ist mithin, Primär- und Sekundärpflichten im Falle eines Vorbehalts zu verknüpfen. 547 HRC, General Comment No. 24, UN Doc. CCPR / C / 21 / Rev.1 / Add. 6, S. 5, Ziff. 13; Mr. Rawle Kennedy v. Trinidad and Tobago, Communication No. 845 / 1998, UN Doc. CCPR / C / 74 / D / 845 / 1998, Ziff. 6.7 = EuGRZ 27 (2000), S. 617, im Folgenden: Kennedy v. Trinidad and Tobago; Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 610. 548 Zur Kündigung vgl. die Notice to denounce the Optional Protocol to the International Covenant in Civil and Political Rights, 16. Mai 1998, abgedruckt in HRLJ 20 (1999), S. 280; hierzu auch Herdegen, VölkerRt., § 15, Rn. 25; dieser Vorgang bezog sich auf das Recht, Individualbeschwerde zu erheben. Dieses ist zwar ein Sekundärrecht, weist jedoch eine vertikale Pflichtenstruktur auf, so dass auf diesen Vorbehalt mit einem einfachen Non-Benefitting-Einspruch hätte reagiert werden können, s. o. Kapitel 4, C. II. 1. Für Sekundärrechte, die eine rein horizontale Struktur aufweisen, könnte der Ansatz, Primär- und Sekundärpflichten zu verknüpfen, dennoch einen Reformansatz liefern. Es kommt für ihn nicht zwingend auf die Pflichtenstruktur an. Insofern soll er hier weiter untersucht werden. 549 Vgl. das Instrument of re-accesssion to the Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights with a reservation excluding the competence of the Human Rights Committee to receive and consider communications relating to the imposition of the death penalty, 26. Mail 1998, abgedruckt in HRLJ 20 (1999), S. 280 f. 550 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol. I), S. 174 f. 551 Im betreffenden Fall spielten v. a. mögliche Verletzungen des Folterverbots nach Art. 7 CCPR durch das sog. „Death Row Syndrom“ eine Rolle.

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Hierin liegt jedoch gleichzeitig die entscheidende Schwäche dieses Ansatzes. Er liefert keine Lösung der Probleme, die bei Vorbehalten zu Sekundärpflichten beziehungsweise zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur entstehen. Er verlagert diese lediglich. Die Vorstellung, dass ein Vorbehalt unzulässig sein soll, wenn er gegen Ziel und Zweck einer Primärpflicht verstößt, bewirkt, dass der Vorbehalt zu einer Sekundärpflicht an Ziel und Zweck einer Primärpflicht gemessen werden muss. Die Feststellung, was Ziel und Zweck einer Primärpflicht ist, ist jedoch nicht sicher zu treffen.552 Aus diesem Grunde ist bereits hinsichtlich Vorbehalte zu Primärpflichten festgestellt worden, dass bei Erarbeitung eines Reformansatzes der Ziel-und-Zweck-Test nicht berücksichtigt werden darf. Es wäre sinnwidrig, bei Erarbeitung eines Reformansatzes für Vorbehalte zu Sekundärpflichten trotzdem auf diesen zurückzugreifen und ihn sogar auf Primärpflichten anzuwenden zu versuchen. Auch der Vorschlag, insbesondere dann einen Verstoß gegen Ziel und Zweck der Primärpflichten anzunehmen, wenn durch den Vorbehalt zu einer Sekundärpflicht eine diskriminierende Anwendung der Primärpflichten verursacht wird, kann dieses Dilemma nicht lösen. Bei genauer Betrachtung stellt sich heraus, dass ein Vorbehalt zu einer Sekundärpflicht eine diskriminierende Anwendung einer Primärpflicht nicht verursachen kann. Im geschilderten Beispiel bleiben auch die Insassen von Todeszellen durch Art. 7 und alle anderen durch den CCPR definierten Menschenrechte geschützt.553 Ihnen wird nicht das mit der Primärpflicht des Staates korrespondierende Individualrecht genommen, sondern die Möglichkeit, sich in einem Verfahren vor dem Human Rights Committee darauf zu berufen. Der Vorbehalt zur Sekundärnorm bewirkt damit eine diskriminierende Anwendung der Sekundärpflicht, nicht aber der Primärpflicht.554 Zusatzprotokoll und Pakt müssen insofern getrennt betrachtet werden.555 Ein Verweis auf ihren Zusammenhang genügt nicht zur Begründung der Annahme, dass Vorbehalte zu einer Sekundärpflicht gleichzeitig gegen Primärpflichten wirken.556 552 s. o. Kapitel 3, C. III. 1. b); zur Frage des Ziel und Zwecks eines Vertrags mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur vgl. Wold, Colorado JIELP 14 (2003), S. 80 ff., dem es trotz umfassender Ausführungen nicht gelingt, überzeugend und klar Ziel und Zweck der International Convention for the Regulation of Whaling, UNTS Bd. 161, S. 72, darzulegen. 553 Diss. Opinion der Ausschussmitglieder Ando, Bhagwati, Klein und Kretzmer zu HRC, Kennedy v. Trinidad and Tobago, UN Doc. CCPR / C / 74 / D / 845 / 1998, Ziff. 18 = EuGRZ 27 (2000), S. 619; Trinidad und Tobago sowie Guyana erkannten die Weitergeltung aller im Pakt selbst definierten Rechte in ihren Vorbehalten zum ersten Zusatzprotokoll sogar ausdrücklich an, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol. I), S. 175, 176. 554 Diss. Opinion der Ausschussmitglieder Ando, Bhagwati, Klein und Kretzmer zu HRC, Kennedy v. Trinidad and Tobago, UN Doc. CCPR / C / 74 / D / 845 / 1998, Ziff. 9 = EuGRZ 27 (2000), S. 618; Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 610. 555 Diss. Opinion der Ausschussmitglieder Ando, Bhagwati, Klein und Kretzmer zu HRC, Kennedy v. Trinidad and Tobago, UN Doc. CCPR / C / 74 / D / 845 / 1998, Ziff. 3 = EuGRZ 27 (2000), S. 617. 556 So aber das HRC, General Comment No. 24, UN Doc. CCPR / C / 21 / Rev.1 / Add. 6, S. 5, Ziff. 13; ebenso, jedoch ohne besondere Begründung Lijnzaad, S. 196; in der hier ver-

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Der Ansatz, das Vorbehaltsproblem zu Sekundärpflichten durch eine Verknüpfung von Sekundärpflichten und Primärpflichten zu lösen, scheitert damit nicht nur daran, dass er auf den untauglichen Ziel-und-Zweck-Test zurückgreifen muss, sondern auch aus strukturellen Gründen. Eine solche Betrachtungsweise mag auf den ersten Blick formalistisch und angesichts des geschilderten drastischen Beispiels des Verhaltens Trinidad und Tobagos sowie Guyanas zynisch erscheinen. Sie ist jedoch strukturell die einzig mögliche. Aus der Struktur menschenrechtlicher Sekundärpflichten beziehungsweise der Pflichten, die durch einen Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur definiert werden, ergibt sich, dass das bisher geltende Vorbehaltsrecht auf diese nicht anwendbar ist. Ein Reformansatz zu solchen Pflichten muss diese Struktur daher ernst nehmen und darf diesbezüglich nicht ungenau vorgehen, wie es der hier beschriebene Ansatz tut. Die Tatsache, dass das Gerechtigkeitsempfinden geradezu aufdrängt,557 dass ein Verhalten wie das Trinidad und Tobagos sowie Guyanas nicht geduldet werden kann, darf nicht zu einer Missachtung der Pflichtenstruktur bei Erarbeitung eines Reformansatzes führen. Sie zeigt dennoch erneut, dass auch im Hinblick auf Vorbehalte zu Sekundärpflichten Reformbedarf besteht. Auch wenn der daraus zunächst gefolgerte Ansatz untauglich ist, bedeutet dies, dass weiter nach einem Reformansatz gesucht werden muss, der einerseits der Struktur solcher Pflichten entspricht und andererseits Ungerechtigkeiten zu vermeiden hilft. Offen bleibt nach diesem Ansatz auch, was die Rechtsfolge eines unzulässigen Vorbehalts zu einer Sekundärbestimmung sein soll. Auch hier belebt dieser Ansatz damit nur dieselben Probleme wieder, die insofern bei Vorbehalten zu Primärpflichten entstehen. Auch er leidet an der künstlichen Trennung zwischen Zulässigkeit und Rechtswirkung eines Vorbehalts. Das Human Rights Committee versuchte dieses Problem dadurch zu lösen, dass es in Anknüpfung an General Comment No. 24 einen unzulässigen Vorbehalt automatisch als nichtig ansah.558 Auch tretenen Ansicht liegt ferner kein Widerspruch zu der Aussage, dass die AfrMRK nicht als plurilateraler Vertrag anzusehen ist, da es den Staaten gemäß Art. 34 Abs. 6 erlaubt ist, die Zuständigkeit des durch das Protokoll errichteten Gerichtshofs nicht anzuerkennen. Die einheitliche Betrachtung von Zusatzprotokoll und AfrMRK für die Frage nach deren Charakter als plurilateraler Vertrag ist wegen der engen Auslegung der Kriterien eines plurilateralen Vertrags gerechtfertigt. Es ist einem Staat hier erlaubt, den Vertrag bzgl. dessen Durchsetzung nicht in seiner Gesamtheit zur Anwendung zu bringen, so dass die AfrMRK nicht als plurilateraler Vertrag angesehen werden kann. Dennoch bleibt es dabei, dass Zusatzprotokoll und AfrMRK zwei völkerrechtliche Verträge darstellen. Es ist daher möglich, dass ein Staat bei Ratifikation des Zusatzprotokolls einen Vorbehalt hierzu erklärt, ohne dass dieser automatisch auf die Primärpflicht durchschlägt. Auch im Falle eines Vorbehalts zur Sekundärpflicht bleibt die Primärpflicht unangetastet. Lediglich ihre Durchsetzung ist ausgeschlossen. Auf die Primärpflicht kann ein Vorbehalt nur einwirken, wenn er auch zu dieser erklärt wird; s. o. Kapitel 3, B. II. 557 Vgl. Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 191 f. 558 Jedoch erkennt das an der damaligen Entscheidung beteiligte Mitglied des Committees Martin Scheinin an, dass auch der Fall denkbar ist, in dem ein Vorbehalt schlicht unzulässig ist. Nach seiner Ansicht sollte dieses Problem durch Rücknahme des Vorbehalts oder Inter-

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diese Ansicht ist nicht nur von Seiten der Minderheit im Ausschuss, sondern auch in der Staatenwelt heftig angegriffen worden, so dass auch in dieser Hinsicht keine Chancen auf Akzeptanz eines solchen Ansatzes bestehen.559 Die Zulässigkeit dieses Ansatzes kann ferner nicht mit einem bloßen Hinweis darauf begründet werden, dass sie im Sinne eines Effet-utile-Gedankens zur größtmöglichen Durchsetzung der Menschenrechte nötig ist.560 Zwar ist größtmögliche Durchsetzung der Menschenrechte wünschenswert. Es darf jedoch nicht das gewünschte Ergebnis an die Stelle der Begründung gerückt werden. Dies ist methodisch unzulässig und würde ebenfalls in der Praxis keine Akzeptanzchancen besitzen.561 Entsprechendes gilt für die Theorie der bewussten Risikoübernahme, die besagt, dass Staaten bei Ratifizierung eines auch Sekundärpflichten enthaltenden Vertrags bewusst das Risiko eingehen, dass ihr Vorbehalt von einem Vertragsorgan für nichtig erklärt wird.562 Die Reaktionen auf General Comment No. 24 und auf die Entscheidung des Human Rights Committees in der hier untersuchten Sache Kennedy v. Trinidad and Tobago sprechen deutlich dagegen, dass die Staaten davon ausgegangen sind, ein solches Risiko zu übernehmen. Schließlich übersehen die Vertreter dieses Ansatzes das Problem, dass kein kompetentes Organ besteht, das bindend über die Unwirksamkeit des Vorbehalts zu einer Sekundärnorm wegen Verstoßes gegen Ziel und Zweck einer Primärnorm entscheiden kann. Ein gerichtliches oder quasigerichtliches Organ, das mit solchen Kompetenzen ausgestattet ist, existiert nicht. Es ist nicht erkennbar, dass die Staaten gewillt sein dürften, ein Organ anzuerkennen, das eine solche Entscheidung bindend treffen könnte. Insofern gelten dieselben Argumente, wie sie zur Überprüfungskompetenz etwaiger Organe bezüglich der Rechtswirkung von Vorbehalten zu Primärpflichten erarbeitet wurden.563 Im geschilderten Fall hatte die Entscheipretation gelöst werden, Scheinin, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 51; eine wirkliche Lösung bedeutet dies jedoch nicht. Es zeigt sich hieran vielmehr, dass die unpraktikable Trennung von Zulässigkeit und Rechtswirkung eines Vorbehalts derzeit nur durch den guten Willen der Staaten gelöst werden kann, nicht aber durch die Praxis etwaiger Vertragsorgane. 559 Erneut sei auch auf die hierzu gefundenen Argumente bzgl. Vorbehalten zu menschenrechtlichen Primärpflichten verweisen, s. o. Kapitel 4, B. III. 5. a); vgl. auch Kapitel 4, C. II. 4.; ablehnend auch Diss. Opinion der Ausschussmitglieder Ando, Bhagwati, Klein und Kretzmer zu HRC, Kennedy v. Trinidad and Tobago, UN Doc. CCPR / C / 74 / D / 845 / 1998, Ziff. 16 = EuGRZ 27 (2000), S. 618 f.; Klein, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 64 f. 560 So Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 614. 561 Insofern ist die Loizidou-Entscheidung des EGMR als auf den Kreis des Europarats beschränkte Ausnahme zu werten, vgl. EGMR, Case of Loizidou v. Turkey, 23. März 1995, Ziff. 68; ebenso wohl auch die Entscheidung der EKMR, Case of Chrysostomos et al. v. Turkey, 4. März 1991, Ziff. 22; kritisch auch McGrory, HRQ 23 (2001), S. 810 f.; vgl. Polakiewicz, ZaöRV 51 (1991), S. 151 ff. 562 Vgl. Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 614. 563 s. o. Kapitel 4, B. III. 5. a); vgl. auch McGrory, HRQ 23 (2001), S. 802 ff.; Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 246.

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dung des Human Rights Committees, den Vorbehalt Trinidad und Tobagos zum ersten Zusatzprotokoll des CCPR als unzulässig und damit nichtig zu betrachten, die Auswirkung, dass Trinidad und Tobago das Zusatzprotokoll im Jahre 2000 kündigte. Trinidad und Tobago wollte sich als Staat vom Committee keine Verpflichtungen auferlegen lassen, die man nicht akzeptiert hatte.564 Auch praktisch hätte ein solcher Ansatz also eher kontraproduktive Wirkung,565 wie dieses Beispiel zeigt. Nunmehr besteht zwar oberflächlich betrachtet keine diskriminierende Anwendung der Primärpflichten mehr. Die Primärpflichten sind jedoch insgesamt nicht mehr im Wege der Individualbeschwerde durchsetzbar. Dass die Vertreter dieses Ansatzes dieses Ziel erreichen wollten, ist nicht anzunehmen. Es ist auch nicht wünschenswert. 4. Bindende Überprüfungsbefugnis etwaiger Vertragsorgane oder des Depositars Anschließend an den Versuch, eine weltweit gültige Lösung des Problems der Vorbehalte zu den nunmehr besprochenen Pflichten durch eine Verknüpfung von Primär- und Sekundärpflichten zu finden, stellt sich die Frage, ob das Human Rights Committee oder ein anderes Vertragsorgan die Kompetenz besitzt, bindend über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zu einer menschenrechtlichen Sekundärpflicht oder einem Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur zu entscheiden. Wie jedoch schon zur der Frage einer solchen Überprüfungskompetenz hinsichtlich Vorbehalte zu menschenrechtlichen Primärpflichten festgestellt wurde, kann die Annahme einer solchen Überprüfungskompetenz auch im Bereich der Sekundärpflichten nicht Grundlage eines Reformansatzes werden. Es gelten insofern dieselben Argumente.566 Zum einen würde einem Vertragsorgan die Entscheidungsgrundlage fehlen. Die Entscheidung des Human Rights Committees in der Sache Kennedy v. Trinidad and Tobago und seine Ansicht in General Comment No. 24 zeigen, dass auch im Bereich der Sekundärpflichten ein Rückgriff auf den Ziel-und-Zweck-Test nicht zu akzeptablen Ergebnissen führt.567 Das Committee führte lediglich aus, Ziel und Zweck des ersten Zusatzprotokolls zum CCPR sei, Verletzungen der im CCPR 564 Mitteilung über die Kündigung des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, 27. März 2000, abgedruckt in EuGRZ 27 (2000), S. 671; vgl. Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 608. 565 McGrory, HRQ 23 (2001), S. 814 f. 566 s. o. Kapitel 4, B. III. 5. a). 567 Auch dieses gilt, auch wenn das hier gebrauchte Beispiel sich auf ein Recht mit vertikaler Struktur bezieht. Ziel und Zweck einer horizontalen Pflicht sind ebenso wenig sicher feststellbar wie Ziel und Zweck einer vertikalen Pflicht, was sich insbesondere auch aus den nachfolgend besprochenen Aussagen des HRCs ergibt. Es macht keinen Unterschied, ob die dort versuchte Begründung des Ziel und Zwecks einer Überwachungspflicht sich auf eine mit vertikaler oder eine mit horizontaler Struktur bezieht.

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genannten Rechte durch das Committee überprüfen zu lassen. Ein Vorbehalt, der dies verhindert, sei damit unzulässig.568 Dieser Ansatz enthält einen Zirkelschluss. Das Committee verwendet den Inhalt des Vorbehalts, um Ziel und Zweck des Protokolls zu definieren und damit gleichzeitig seine Entscheidungskompetenz zu begründen, die durch den Vorbehalt aber ausgeschlossen werden soll. Weiterhin bedeutet ein solches Vorgehen für das erste Zusatzprotokoll ein generelles Vorbehaltsverbot. Das erste Zusatzprotokoll definiert die Möglichkeit der Individualbeschwerde. Wenn das Human Rights Committee festlegt, dass ein Vorbehalt unzulässig ist, der diese Möglichkeit ganz oder wie im Fall Kennedy v. Trinidad and Tobago teilweise ausschließt, schließt es damit die Zulässigkeit jedweden Vorbehalts aus. Ein generelles Verbot des Anbringens von Vorbehalten ist aber meist kontraproduktiv zum eigentlichen Anliegen eines Vertrags.569 Weiterhin würde ein solches Vorgehen die Augen vor der Staatenpraxis bezüglich des ersten Zusatzprotokolls zum CCPR verschließen. Diese zeigt, dass Staaten Vorbehalte hierzu angebracht haben. Sie bringen damit ihre Ansicht zum Ausdruck, dass kein generelles Vorbehaltsverbot für das Protokoll besteht.570 Da außerdem im zweiten Zusatzprotokoll ein solches ausdrücklich normiert ist,571 ist davon auszugehen, dass es für das erste nicht gelten soll.572 Andere Entscheidungsgrundlagen, aufgrund derer ein etwaiges Vertragsorgan bindend über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zu einer menschenrechtlichen Sekundärpflicht beziehungsweise einem Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur entscheiden könnte, sind nicht erkennbar. Insbesondere die Annahme, dass generell kein Vorbehalt zu einer Sekundärnorm oder einem solchen Vertrag erklärt werden dürfe, ist wie ein generelles Vorbehaltsverbot zu Primärpflichten als kontraproduktiv abzulehnen. Der Ansatz, das Vorbehaltsproblem durch Einführung einer Entscheidungsbefugnis etwaiger Vertragsorgane zu lösen, scheitert mithin bereits aus dem Grunde, dass diese nicht in der Lage wären, nachvollziehbare Entscheidungen auf diesem Gebiet zu treffen. Jede Entscheidung wäre mit dem Makel möglicher Willkür behaftet. Schließlich ist die Möglichkeit der sicheren Feststellung von Ziel und Zweck einer Sekundärpflicht beziehungsweise eines Vertrags mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur ebenfalls nicht gegeben. Es gelten auch hier die Ausführungen entsprechend, die hinsichtlich menschenrechtlicher Primärpflichten gemacht wurden.573 568 HRC, Kennedy v. Trinidad and Tobago, UN Doc. CCPR / C / 74 / D / 845 / 1998, Ziff. 6.6 = EuGRZ 27 (2000), S. 617; General Comment No. 24, UN Doc. CCPR / C / 21 / Rev.1 / Add. 6, S. 5, Ziff. 13. 569 Vgl. Klein, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 63; s. o. Kapitel 4, B. I. 1. 570 McGrory, HRQ 23 (2001), S. 800 f. 571 Art. 2 Abs. 1 des zweiten Zusatzprotokolls zum CCPR. 572 McGrory, HRQ 23 (2001), S. 800. 573 s. o. Kapitel 3, C. III. 1. b); vgl. Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 611, der zwar am Zielund-Zweck-Test festhalten will, aber selbst anerkennt, dass ein Verstoß hiergegen durch Vor-

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Die Akzeptanzchancen eines Ansatzes, Vertragsorganen eine bindende Entscheidungsbefugnis über Vorbehalte zu Sekundärpflichten zu geben, dürften in der Staatenwelt darüber hinaus sehr begrenzt bis nicht vorhanden sein. Auch hierfür gelten dieselben Argumente, wie sie hinsichtlich Vorbehalte zu menschenrechtlichen Primärpflichten gefunden wurden. Erneut muss auf das Scheitern des General Comments No. 24 verwiesen werden. Darüber hinaus beweist das Verhalten des betroffenen Staats nach der Entscheidung Kennedy v. Trinidad and Tobago, dass die Staaten kaum gewillt sind, Entscheidungsbefugnisse eines übergeordneten Organs auch speziell in Bezug auf Vorbehalte zu menschenrechtlichen Sekundärbestimmungen oder Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur anzuerkennen. Zwar lässt sich argumentieren, dass Trinidad und Tobago, wenn es davon ausgegangen wäre, dass das Human Rights Committee keine diesbezügliche Entscheidungsbefugnis besitzt, dessen Entscheidung auch schlicht hätte ignorieren können, ohne das erste Zusatzprotokoll zum CCPR zu kündigen. Eine Anerkennung dessen Entscheidungsbefugnis lässt sich hieraus jedoch nicht ableiten. Die Kündigung des ersten Zusatzprotokolls erfolgte gerade weil das Committee erneut versuchte, gegen den Willen der Staaten Entscheidungsbefugnisse für sich zu reklamieren. Insofern ist die Kündigung nicht als Anerkennung dieses Versuchs, sondern als besonders starke Form der Ablehnung einzuordnen. Im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten ist weiter aus dem Grund keine Akzeptanz für eine Entscheidungsbefugnis etwaiger Vertragsorgane zu erwarten, da sonst die Gefahr bestünde, dass der Satz, dass kein Staat gegen seinen Willen Partei eines gerichtlichen oder quasigerichtlichen Verfahrens werden kann, aufgeweicht wird.574 Erschwerend kommt im Bereich eines Teils menschenrechtlicher Sekundärpflichten und bei Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur weiterhin hinzu, dass die Gemeinschaft der übrigen Vertragsparteien Rechtsträger dieser Pflichten ist.575 Die Staatenpraxis zeigt, dass sich Staaten dieses Umstandes bewusst sind. Insbesondere die Einsprüche, die gegen den Vorbehalt Trinidad und Tobagos sowie Guyanas zum ersten Zusatzprotokoll des CCPR erklärt wurden, beweisen, dass es die Staaten sind, die sich als befugt zur Entscheidung über die Rechtswirkung solcher Vorbehalte ansehen.576 Kombiniert mit den Reaktionen auf General Comment No. 24 und Kennedy v. Trinidad and Tobago ergibt sich, dass diese Entscheidungsbefugnis nach Auffassung der Staaten alle materiellen Entscheidungsbefugnisse anderer Instanzen ausschließt. Schließlich ist bereits herausgearbeitet worden, dass der Non-Benefitting-Ansatz die zur Zeit beste Grundlage für eine Reform des Vorbehaltsrechts bezüglich behalt zu einer Sekundärnorm kaum möglich ist. Konsequenterweise will also auch Stahn faktisch auf Anwendung des Ziel-und-Zweck-Tests verzichten. 574 Auch dies gilt unabhängig von der Struktur einer Sekundärpflicht, die der Überwachung der Einhaltung menschenrechtlicher Primärpflichten dient. 575 Vgl. zur Struktur dieser Pflichten Kapitel 3, B. IV. 4. sowie Kapitel 3, B. IV. 5. b) cc). 576 Vgl. McGrory, HRQ 23 (2001), S. 806 f.; die Einsprüche finden sich unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol. I), S. 176 f. 19*

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menschenrechtlicher Primärpflichten liefern kann.577 Wesentliches Merkmal dieses Ansatzes ist, dass die Entscheidungsgewalt über die Rechtswirkung eines Vorbehalts bei den Vertragsstaaten verbleibt. Eine Lösung, die im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten sowie Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur dagegen eine Entscheidungsgewalt etwaiger Vertragsorgane bevorzugt, würde damit nicht zu einer einheitlichen Reform und zu einem einheitlichen Vorbehaltsrecht insgesamt beitragen.578 Es ist daher besser, auch im Bereich des Vorbehaltsrechts zu Sekundärpflichten und zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur ein Reformmodell zu erarbeiten, das die Staaten und nicht Vertragsorgane als entscheidungsbefugt in Bezug auf die materielle Rechtswirkung eines Vorbehalts anerkennt. Ein solches würde sich weiterhin weniger vom derzeit geltenden Recht und von dessen nicht reformbedürftigen Teilen entfernen, die ebenfalls die Staaten als entscheidungsbefugt ansehen.579 Sowohl rechtliche als auch praktische Gründe sprechen mithin dagegen, etwaigen Vertragsorganen eine Entscheidungsbefugnis über die materielle Rechtswirkung von Vorbehalten zu Sekundärpflichten oder zu Verträgen mit multilateral begründeter horizontal wirkender Pflichtenstruktur zuzugestehen. Derzeit beanspruchen können Vertragsorgane ein solches Recht nicht.580 Dieses Ergebnis gilt ebenso für den Depositar. Auch hier besteht kein Unterschied zwischen den zu menschenrechtlichen Primärpflichten gewonnenen Argumenten und denen zu den nunmehr behandelten Vorbehalten. Angenommen werden kann hingegen eine Hinweisbefugnis sowohl etwaiger Vertragsorgane als auch des Depositars, wonach diese befugt sind, im Falle der Erklärung eines Vorbehalts zu einer menschenrechtlichen Sekundärpflicht beziehungsweise einem Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur die Vertragsparteien auf diesen Umstand hinzuweisen.581 Dass auch solche Vorbehalte problematisch sein können, zeigt die kontroverse Diskussion, die zwischen Staaten und Vertragsorganen, aber auch zwischen den Staaten untereinander in diesem Bereich herrscht.582 Aus praktischen Gründen ist dabei wie auch im Bereich Siehe Kapitel 4, B. III. 2. d) dd) sowie Kapitel 5. Zur Ungeeignetheit des Ansatzes bindender Entscheidungskompetenzen etwaiger Vertragsorgane bei Vorbehalten zu Primärpflichten, s. o. Kapitel 4, B. III. 5. a). 579 Vgl. McGrory, HRQ 23 (2001), S. 804; Wold, Colorado JIELP 14 (2003), S. 90. 580 Auch insofern ergeben sich keine Unterschiede zu den entsprechenden Ausführungen zu menschenrechtlichen Primärpflichten. 581 Die ILC spricht davon, dass Vertragsorgane kompetent sind, Vorbehalte zu kommentieren und Empfehlungen abzugeben, also nicht bindende Erklärungen, die nicht über die den Organen gegebene Rolle hinausgehen dürfen, Report of the International Law Commission on the work of its forty-ninth session, 12. Mai-18. Juli 1997, UN Doc. A / 52 / 10, S. 126 f., Ziff. 5, 8; vgl. Tyagi, BYIL 71 (2000), S. 229; McGrory, HRQ 23 (2001), S. 821, 824, der von einem Recht auf „assessment“ der Vertragsorgane ausgeht, was im Deutschen die Bedeutung von „Einschätzung“ oder „Bewertung“, also einen nicht bindenden Charakter hat, vgl. MacKenzie, Pons Studienausgabe Englisch-Deutsch, S. 56. 577 578

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menschenrechtlicher Primärpflichten einer Hinweisbefugnis des Depositars der Vorzug zu geben.583 Da zwischen Vorbehalten zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten beziehungsweise Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und Vorbehalten zu menschenrechtlichen Primärpflichten keine formellen Unterschiede bestehen, kann auch ein formelles Prüfungsrecht des Depositars bei solchen Vorbehalten als zulässig erachtet und in einem Reformvorschlag berücksichtigt werden.584

5. Ius Cogens Unter Rückgriff auf das ius cogens lässt sich das Vorbehaltsproblem zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten und Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur ebenfalls nicht lösen. Dies ergibt sich für menschenrechtliche Sekundärpflichten bereits daraus, dass diese keinen solchen Status für sich beanspruchen können.585 Selbst im Bereich der Primärpflichten haben nur einzelne Menschenrechte solch hohen Rang.586 Menschenrechtliche Sekundärpflichten dienen zwar unter anderem deren Durchsetzung. Primär- und Sekundärpflicht müssen jedoch unabhängig voneinander betrachtet werden. Eine Primärpflicht, die mit Ius-cogens-Rang ausgestattet ist, kann auch existieren, ohne dass sie durch eine Sekundärpflicht gesichert wird. Im Bereich der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur finden sich ebenfalls keine Verpflichtungen, die eindeutig im Range des ius cogens stehen.587 582 Auch der Vorbehalt Trinidad und Tobagos sowie der Guyanas zum ersten Zusatzprotokoll zum CCPR sind nicht unwidersprochen geblieben, Einsprüche z. T. gegen den Vorbehalt Guyanas, z. T. gegen den Trinidad und Tobagos erhoben Dänemark, Deutschland, die Niederlande, Norwegen und Spanien, Multilateral treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol. I), S. 176 f.; Finnland erhob sogar einen Non-Benefitting-Einspruch gegen den Vorbehalt Guyanas, abgedruckt bei Sotaniemi, Nordic JIL 70 (2001), S. 523; wobei nicht ersichtlich ist, warum immer nur gegen den Vorbehalt jeweils eines Staats Einspruch erhoben wurde; vgl. McGrory, HRQ 23 (2001), S. 806 f. 583 s. o. Kapitel 4, B. III. 5. d). 584 s. o. Kapitel 4, B. III. 5. c) bb) (1). 585 Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 611; vgl. Diss. Opinion der Ausschussmitglieder Ando, Bhagwati, Klein und Kretzmer zu HRC, Kennedy v. Trinidad and Tobago, UN Doc. CCPR / C / 74 / D / 845 / 1998, Ziff. 8 = EuGRZ 27 (2000), S. 618. 586 s. o. Kapitel 3, C. III. 1. b); zur Unbestimmtheit des Konzepts des ius cogens Hilpold, AVR 34 (1996), S. 401 f. 587 Kadelbach, S. 75 f., 318 ff., der nicht einmal die Vorschriften der UN-Seerechtsübereinkommens über den Meeresboden und Meeresuntergrund jenseits der Hoheitsgewalt der Küstenstaaten sowie die Normen des internationalen Umweltrechts (ohne Verbindungen zum humanitären Völkerrecht) als mit Ius-cogens-Rang ausgestattet ansieht und auf andere Verträge mit multilateral begründeter horizontal wirkender Pflichtenstruktur nicht einmal eingeht; vgl. Hannikainen, S. 572, der nur z. T. dieser Ansicht ist und auch das Verbot der Aneignung des oder Teile des Weltraums als möglicherweise im Rang des ius cogens stehend

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Selbst wenn sich menschenrechtliche Sekundärpflichten oder Verpflichtungen aus Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur fänden, die mit Ius-cogens-Rang ausgestattet sind, könnte dies nicht zu einer Lösung des Vorbehaltsproblems beitragen. Ein Vorbehalt, der sich gegen ius cogens richtet, wäre von vornherein als Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht nichtig.588 Die Anwendung der Art. 53 und 64 WVK ist insofern ausreichend.589 Ein hierauf fußendes Vorbehaltsrecht könnte mithin diesen Umstand lediglich ausdrücklich feststellen. Da die Nichtigkeit von Verstößen gegen zwingendes Völkerrecht bereits heute allgemein anerkannt ist, würde in einem solchen Ansatz keine Weiterentwicklung des Rechts liegen, die sich aus der Struktur der verschiedenen Verträge ergibt. Es gilt damit auch nach einer möglichen Reform der Satz, dass kein Vorbehalt, gleichgültig zu welchem Vertragstyp oder zu welcher Art von Pflicht er erklärt worden ist, gegen ius cogens verstoßen darf. Für alle anderen Vorbehalte muss weiterhin nach einer Reformmöglichkeit gesucht werden, will man sie nicht alle als von vornherein gültig ansehen. Dieses würde angesichts der nur geringen Anzahl von Pflichten, die mit Ius-cogens-Rang ausgestattet sind, nicht überzeugen. 6. Verbot des Rechtsmissbrauchs Auch der Ansatz, Vorbehalte als unzulässig anzusehen, wenn sie rechtsmissbräuchlich erklärt worden sind, überzeugt nicht. Ein solches Konzept scheitert daran, dass sich nicht sicher definieren lässt, wann in diesem Sinne Rechtsmissbrauch vorliegt. Letztendlich müsste wieder auf den Ziel-und-Zweck-Test zurückgegriffen werden.590 Das Problem bekäme damit lediglich einen anderen Namen, würde aber nicht gelöst. Zwar tauchen auf diesen Ansatz hinweisende Formulierungen in den Einsprüchen auf, die von Dänemark, Deutschland, den Niederlanden, Norwegen und Spanien zu den Vorbehalten Trinidad und Tobagos sowie Guyanas zum ersten Zusatzprotokoll zum CCPR erklärt wurden.591 Dieses zeigt jedoch zunächst nur, dass die Staaten der Ansicht sind, dass sie die Entscheidungsmacht über die materielle Rechtswirksamkeit eines Vorbehalts besitzen. Weiterhin bezogen sie sich auf die Besonderheit des Vorgehens Trinidad und Tobagos sowie ansieht, S. 591 f., aus dem Antarktisvertrag jedoch solche Normen nicht ableitet, S. 593 f.; vgl. speziell zum internationalen Umweltrecht Kornicker, S. 232 f. 588 Linderfalk, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 215 f., 231; vgl. Kadelbach, S. 335; Hilpold, AVR 34 (1996), S. 401; Frowein, in: FS Skubiszewski, S. 411. 589 s. o. Kapitel 3, C. III. 1. b); Kühner, S. 138 f.; Lijnzaad, S. 82; vgl. Linderfalk, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 226 ff.; gegen einen Schluss von dem ius-cogens-Charakter einer Norm auf die Unzulässigkeit von Vorbehalten ist auch Graefrath, S. 82. 590 Diese Konsequenz zieht Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 611 als Vertreter dieser Ansicht ausdrücklich. 591 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol. I), S. 176 f.; Stahn, EuGRZ 27 (2000), S. 611.

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Guyanas, das erste Zusatzprotokoll zum CCPR zu kündigen und am selben Tag unter Vorbehalt erneut beizutreten, was so in Bezug auf andere Vorbehalte keine Nachahmung gefunden hat. Da Staaten nach dem bisherigen System der WVK jedoch frei darin sind, gegen jeden Vorbehalt einen Einspruch zu erklären, hat die Begründung, die sie dafür anführen, keine rechtliche Bedeutung. Es hätte den erwähnten Staaten ebenso freigestanden, ihre Einsprüche zu erklären, ohne dabei auf einen möglichen Rechtsmissbrauch hinzuweisen.592 Ihre Praxis spricht daher insgesamt nicht für einen entsprechenden Reformansatz. Neben den Staaten ist keine Instanz denkbar, die bindend über die Zulässigkeit eines Vorbehalts anhand des Kriteriums des Rechtsmissbrauchs entscheiden kann oder könnte. Eine entsprechende Kompetenz eines Vertragsorgans dürfte am Willen der Staaten, keine Instanz mit bindenden Entscheidungsbefugnissen im Bereich des Vorbehaltsrechts über sich anzuerkennen, scheitern. Dies gilt insbesondere auch aus dem Grund, dass einem solchen die Entscheidungsgrundlage fehlen würde, aufgrund derer es vorhersehbare und sichere Entscheidungen treffen könnte. Der nur in das Gewand des Rechtsmissbrauchs gehüllte Ziel-und-Zweck-Test könnte die Gefahr von willkürlichen Entscheidungen nicht beseitigen. Außerdem bliebe das Problem der Durchsetzbarkeit solcher Entscheidungen erhalten. Auch eine Reform des Vorbehaltsrechts zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten sowie zu Vorbehalten mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur, die auf die Figur des Rechtsmissbrauchs setzt, würde damit die künstliche Trennung von Zulässigkeit und Rechtswirkung von Vorbehalten erhalten, ohne dafür überzeugende Gründe zu liefern. Weiterhin würde sich auch eine solche Lösung zu stark vom derzeit geltenden Vorbehaltsrecht entfernen, da sie, selbst wenn sie den Staaten die Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts überließe, diese an zwar vage, aber festgelegte Kriterien binden würde. Die Staaten wären nicht wie nach dem bisherigen System frei darin, gegen jeden Vorbehalt Einspruch zu erklären, beziehungsweise sie müssten sich immer auf dieselbe Begründung stützen. Damit stünde ein solcher Ansatz schließlich auch nicht im Einklang mit der hier vertretenen Grundidee eines Reformmodells des Vorbehaltsrechts zu menschenrechtlichen Primärpflichten, so dass auch das Kriterium eines möglichst einheitlichen Reformansatzes nicht erfüllt wäre.

7. Ausschluss des Vorbehaltsstaats bei Verstoß gegen Ziel und Zweck des Vertrags Die wohl schärfste Möglichkeit, auf einen Vorbehalt zu einer menschenrechtlichen Sekundärnorm oder zu einem Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur zu reagieren, ist, den Vorbehaltsstaat im Falle eines Versto592

E. III.

Vgl. zur Freiheit der Staaten, gegen jeden Vorbehalt Einspruch zu erheben Kapitel 2,

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

ßes des Vorbehalts gegen Ziel und Zweck des Vertrags insgesamt nicht mehr als Vertragspartei anzusehen.593 Zwar hat auch diese Möglichkeit den Vorteil, dass sie auf eine Bilateralisierung der vertraglichen Pflichten verzichtet. Sie stellt gleichwohl eine sehr radikale Lösung dar, die sich vom derzeit geltenden Recht weit entfernt. Hiernach ist es zwar auch möglich, dass ein Vorbehaltsstaat nicht Vertragspartei wird. Dieses findet jedoch entweder nur im bilateralen Verhältnis zwischen einem Staat statt, der auf den Vorbehalt ausdrücklich mit einem Einspruch mit Ausschlusswirkung reagiert, oder nur dann im Verhältnis zwischen dem Vorbehaltsstaat und allen anderen Vertragsparteien, wenn keine dieser den Vorbehalt nicht einmal stillschweigend annimmt. Dabei spielt der Ziel-und-Zweck-Test jedoch keine Rolle.594 Schon wegen dieser weiten Entfernung vom derzeit geltenden Recht und der damit verbundenen Umgewöhnung für die Staaten ist zweifelhaft, ob dieser Ansatz in der Staatenwelt mehrheitsfähig ist. Er widerspricht weiterhin der dieser Arbeit zugrunde gelegten Ansicht, dass Radikallösungen bei der Suche nach Reformmöglichkeiten für das Vorbehaltsrecht vermieden werden sollten. Auch bei seiner Anwendung müsste weiterhin auf den unbrauchbaren Ziel-undZweck-Test zurückgegriffen werden. Bezüglich in Menschenrechtsschutzverträgen enthaltener Sekundärpflichten ist ein solcher Ansatz auch strukturell nicht logisch anwendbar. Wenn Primärund Sekundärpflichten zusammen in einem Menschenrechtsschutzvertrag geregelt sind, würde für dies bedeuten, dass ein Staat im Falle eines Verstoßes seines Vorbehalts zu einer Sekundärnorm gegen Ziel und Zweck des Vertrags auch nicht mehr an die Primärpflichten aus dem Vertrag gebunden wäre. Dies wäre ein nicht wünschenswertes Ergebnis. Insbesondere in Fällen, in denen der Vorbehalt keine allzu gravierenden Auswirkungen hätte, er aber wegen der Unbestimmtheit des Ziel-und-Zweck-Tests in den Anwendungsbereich dieses Ansatzes fallen könnte, würde ein Ausschluss des Vorbehaltsstaats dem Menschenrechtsschutz mehr schaden als nützen. Eine Trennung zwischen Primär- und Sekundärpflichten im Rahmen dieser Ansicht ist nicht möglich. Der Vorbehaltsstaat würde dann hinsichtlich der Primärpflichten Vertragspartei werden, hinsichtlich der Sekundärpflichten jedoch nicht. Eine solche Trennung ist künstlich und logisch unmöglich. Allein aus Gründen der Rechtssicherheit muss jederzeit klar feststellbar sein, ob ein Staat Vertragspartei ist. Die Möglichkeit teilweiser Parteieigenschaft ist abzulehnen. Darüber hinaus hätte ein solcher Trennungsansatz gegenüber dem bisher geltenden Recht keinen Vorteil. Würde der Vorbehaltsstaat nur bezüglich der Sekundärnormen nicht Vertragspartei, würde er de facto seinen Willen bekommen und nur nicht an die Pflicht gebunden, die er nicht eingehen will. So stellt sich in ihren Auswirkungen bereits die geltende Rechtslage dar. Die Tatsache, dass der Vorbehaltsstaat 593 Vgl. IGH, Interhandel Case (Switzerland v. United States of America), 21. März 1959, Separate Opinion des Richters Spencer, ICJ Reports 1959, S. 55; Wold, Colorado JIELP 14 (2003), S. 89. 594 Zur Unbeachtlichkeit des Ziel-und-Zweck-Tests für die Reaktionen anderer Vertragsparteien auf einen Vorbehalt s. o. Kapitel 2, E. III.

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danach in jedem Fall seinen Willen bekommt, ist aber einer der Gründe dafür, warum das geltende Vorbehaltsrecht im Hinblick auf menschenrechtliche Sekundärpflichten und Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur reformbedürftig ist.595 Der Ansatz, einen Vorbehaltsstaat im Falle eines Verstoßes des Vorbehalts gegen Ziel und Zweck des Vertrags nicht als Vertragspartei anzusehen, stellt damit nicht nur eine sehr radikale Lösung dar. Er würde auch keine Vorteile bieten, die über die Wirkung hinausgehen, die das derzeit geltende Recht bietet. Schließlich würde dieser Ansatz zu einer unterschiedlichen Lösung für menschenrechtliche Primärpflichten einerseits und menschenrechtliche Sekundärpflichten beziehungsweise Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur andererseits führen. Weiterhin wäre nicht klar, welches Organ befugt sein könnte, darüber zu entscheiden, ob der Vorbehalt gegen Ziel und Zweck des Vertrags verstößt.596 Auch aus diesem Grunde überzeugt dieser Ansatz nicht und soll daher nicht weiter behandelt werden.

8. Non-Benefitting-Ansatz Im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten kann der Non-BenefittingAnsatz noch nicht in einem solchen Maß als Teil der bestehenden Staatenpraxis angesehen werden wie im Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten. Jedoch hat Finnland im Jahre 2000 auf den Vorbehalt, den Guyana bei erneuter Ratifikation des ersten Zusatzprotokolls zum CCPR anbrachte, mit einem Non-BenefittingEinspruch reagiert.597 Ein Beginn entsprechender Staatenpraxis ist also auch in diesem Bereich zu verzeichnen. Daneben existiert Staatenpraxis, wonach Formulierungen in Einsprüchen verwendet werden, die dem Non-Benefitting-Ansatz nahe kommen.598 Diese beziehen sich jedoch nicht auf Vorbehalte zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur oder zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten. So reagierten unter anderem Australien, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Irland, Kanada, Neuseeland, Polen und Ungarn auf verschiedene Vorbehalte zur Wiener Diplomatenrechtskonvention mit Einsprüchen, die besagten, dass sie die Vorbehalte als nichtig ansähen.599 Gegen einen zur Wiener Konsularrechtskonvention durch Qatar erklärten Vorbehalt600 erhob Finns. o. Kapitel 3, C. II. sowie Kapitel 3, C. III. 2. Insofern sei auf die Ausführungen hierzu unter Kapitel 4, C. II. 4. verwiesen. 597 Abgedruckt bei Sotaniemi, Nordic JIL 70 (2001), S. 523. 598 Vgl. Frowein, in: FS Skubiszewski, S. 410. 599 Die betreffenden Vorbehalte der Staaten Bahrain, Weißrussland, Sowjetunion, China, Jemen, Qatar, Ukraine und Bulgarien finden sich unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 13, S. 53 ff. 600 Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 19 (vol. I), S. 117. 595 596

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land einen Einspruch, der sogar ausdrücklich die Non-Benefitting-Formulierung enthielt.601 Die Wiener Diplomatenrechtskonvention sowie die Wiener Konsularrechtskonvention weisen jedoch keine multilateral wirkende, sondern eine bilateral wirkende horizontale Pflichtenstruktur auf.602 Hier ist das derzeit geltende Recht problemlos anwendbar. Einsprüche zu solchen Vorbehalten haben de facto bereits jetzt Non-Benefitting-Wirkung, wenn man allein den vom Vorbehaltsstaat mit dem Vorbehalt bezweckten einseitigen Vorteil betrachtet. Ähnliche Staatenpraxis existiert zur UN Convention on the Law of the Sea.603 Hier lassen die Einsprüche Australiens, Bulgariens, Russlands, der damaligen Tschechoslowakei, der Ukraine und Weißrusslands gegen einen Vorbehalt der Philippinen darauf schließen, dass die Staaten von einer Geltung des Non-Benefitting-Ansatzes auch für diesen Vorbehalt ausgingen.604 Die Mitgliedstaaten der EU vertraten dieselbe Ansicht.605 Dabei verwandten die Staaten allerdings nicht ausdrücklich die Worte „without benefitting“ oder „not benefitting“. Vielmehr gebrauchten sie Wendungen wie „not valid“,606 „without any legal force“,607 „cannot exclude or modify the legal effect of the provisions of the Convention“608 oder „cannot ( . . . ) accept that the statement ( . . . ) has any legal effect“.609 Dies lässt auf einen Non-Benefitting-Hintergrund der EinAbgedruckt bei Sotaniemi, Nordic JIL 70 (2001), S. 524. s. o. Kapitel 3, B. IV. 3. 603 UN Doc. A / CONF.62 / 122; im Folgenden: „UN-Seerechtsübereinkommen“; zur Staatenpraxis Nelson, ICLQ 50 (2001), S. 781 f.; zwar gestattet das UN-Seerechtsübereinkommen gem. Art. 309 generell keine Vorbehalte, dieses ist für die hierzu bestehende Staatenpraxis aber irrelevant. Vielmehr kommt es auf die Tatsache an, dass Staaten Non-Benefitting-Einsprüche erhoben haben, nicht worin der genaue Grund dafür lag. 604 Vgl. Nelson, ICLQ 50 (2001), S. 782 f.; der Vorbehalt der Philippinen findet sich unter Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 773. 605 Vgl. Nelson, ICLQ 50 (2001), S. 782, dort Fußnote Nr. 59. 606 Einsprüche Australiens, Bulgariens, Kanadas, Dänemarks Frankreichs, Ungarns, Irlands, Japans, der Mongolei, Polens, der Sowjetunion, Thailands und Großbritanniens gegen jeweils einen Teil der Vorbehalte zur Wiener Diplomatenrechtskonvention, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 13, S. 56 ff. 607 Erklärung des Vertreters Frankreichs in der Generalversammlung Alabrune, dabei sprechend für die Mitgliedstaaten der EU, zur allgemeinen Wirkung von Vorbehalten zum UNSeerechtsübereinkommen, GAOR, 55th Session, 42nd Plenary Meeting (26. Oktober 2000), S. 9, UN Doc. A / 55 / PV.42. 608 Wortlaut des Einspruchs Russlands gegen den Vorbehalt der Philippinen zum UNSeerechtsübereinkommen, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17 / S. 774; ähnlich auch die Einsprüche Weißrusslands, Belgiens, Kanadas, Dänemarks, Frankreichs, Irlands, Maltas, Neuseelands, Thailands und Großbritanniens gegen jeweils einen Teil der Vorbehalte zur Wiener Diplomatenrechtskonvention, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General,. UN Doc. ST / LG / SER.E / 13, S. 57 ff. 609 Wortlaut des Einspruchs Australiens gegen den Vorbehalt der Philippinen zum UNSeerechtsübereinkommen, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 780. 601 602

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sprüche schließen.610 Der philippinische Vorbehalt sollte sicherstellen, dass die staatliche Souveränität insbesondere über die Gewässer, die die Philippinen als unter ihre Souveränität fallend ansahen, durch den Beitritt zum UN-Seerechtsübereinkommen nicht beeinträchtigt würde. Er bezog sich ausdrücklich auf das Recht auf friedliche Durchfahrt durch Archipelgewässer, mithin Art. 52 und 53 des UNSeerechtsübereinkommens.611 Das Recht auf friedliche Durchfahrt ist jedoch ein Recht, das jeweils nur im bilateralen Verhältnis zwischen zwei Staaten zur Anwendung kommt. Art. 52 Abs. 1 sowie Art. 17 des UN-Seerechtsübereinkommens legen dieses Recht zwar ausdrücklich als für die Schiffe aller Staaten gültig fest. Jedoch kommt es im konkreten Fall immer im Verhältnis zwischen zwei Staaten, dem Küstenstaat und dem Flaggenstaat des betreffenden Schiffes, zum Tragen.612 Würde ein Staat seine Gewässer für Schiffe, die unter der Flagge eines bestimmten anderen Staates fahren, sperren, so könnte dieser nach dem gängigen Vorbehaltsrecht mit Hilfe von Annahme und Einspruch erreichen, dass der Vorteil, den der sperrende Staat sich davon erhofft, zumindest insofern aufgehoben wird, als dass dies wechselseitig auch für dessen Schiffe gilt.613 Ein weiteres Indiz für den bilateral wirkenden Charakter des Rechts auf friedliche Durchfahrt liefern die Gründe, die zu seiner Verwirkung führen. Die in Art. 19 Abs. 2 lit. a bis l des UN-Seerechtsübereinkommens genannten Gründe sind allesamt nicht durch ein bloßes Verhalten des Küstenstaats denkbar, sondern müssen vom Schiff selbst ausgehen.614 Auch dies deutet darauf hin, dass das Recht auf friedliche Durchfahrt im Verhältnis zwischen Küstenstaat und Flaggenstaat zum Tragen kommt. Es ist nicht vergleichbar mit Pflichten, die sich beispielsweise aus einem TestStop-Vertrag ergeben. Zu deren Erfüllung treten nicht zwei Staaten in ein bilaterales Verhältnis, sondern der Einzelstaat erfüllt durch eigenes Verhalten automatisch gegenüber der Gesamtheit der anderen Vertragsparteien, ohne dass diese etwas dazu tun muss.615 Insofern bilden auch die Reaktionen auf den philippiVgl. die unter Kapitel 2, F. II. beschriebenen Formulierungen. Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 17, S. 773, Ziff. 6 f. 612 Dies zeigt sich z. B. anhand des Falls der Lusitania Expresso, einem portugiesischen Schiff, das im Jahre 1992 in indonesischen Gewässern zur Umkehr gezwungen wurde und eine Berufung auf das Recht zur friedlichen Durchfahrt von indonesischer Seite nicht anerkannt wurde. Die im Anschluss stattfindenden zwischenstaatlichen Vorgänge fanden zwischen Indonesien und Portugal statt. Dies deutet auf eine bilateral wirkende Pflichtenstruktur hin und nicht auf eine, die lediglich im Bereich des Verhaltens eines Staates liegt, vgl. Rothwell, Marine Policy 16 (1992), S. 429. 613 Dieses unter der Voraussetzung, dass das UN-Seerechtsübereinkommen Vorbehalte zuließe sowie unter Außerachtlassen des Art. 25 Abs. 3 UN-Seerechtsübereinkommen, was strukturell beim Recht auf friedliche Durchfahrt grundsätzlich möglich wäre, die erwähnten Einschränkungen sind zusätzlicher Natur und ergeben sich nicht aus der Struktur des Rechts als solcher. 614 Vgl. Rothwell, Marine Policy 16 (1992), S. 432 f. 615 Test-Stop-Verträge bilden ein wichtiges Beispiel für einen Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur, s. o. Kapitel 3, B. IV. 4. 610 611

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nischen Vorbehalt kein Beispiel für existierende Staatenpraxis für den Non-Benefitting-Ansatz im Bereich der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur. Da dieser Ansatz jedoch hinsichtlich menschenrechtlicher Primärpflichten einen guten Reformansatz liefert und dort sowie vereinzelt sogar im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten entsprechende Staatenpraxis existiert, ist es geboten, seine Tauglichkeit zur Anwendung auf Vorbehalte zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten und Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur weiter zu untersuchen. a) Voraussetzungen und Wirkung Das Erfordernis eines möglichst einheitlichen Reformvorschlags gibt vor, dass der Non-Benefitting-Ansatz auch im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten sowie Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur nicht anders verstanden werden darf als im Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten. Voraussetzung ist daher zunächst, dass ein Einspruch nach dem Non-Benefitting-Ansatz auch in diesem Bereich nicht nur im bilateralen Verhältnis zwischen dem einsprechenden Staat und dem Vorbehaltsstaat wirkt, sondern generell im Verhältnis zwischen dem Vorbehaltsstaat und der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien.616 Weiterhin macht die Struktur der nunmehr besprochenen Verpflichtungen, die so aufgebaut ist, dass der Satz Oa(b∧c∧d)G $ R(b∧c∧d)aG gilt, keine andere Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes mo¨glich. Die Gesamtheit der u¨brigen Vertragsparteien hat gegenu¨ber dem einzelnen Staat ein Recht auf Einhaltung der menschenrechtlichen Sekunda¨rpflicht oder der sich aus einem Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur ergebenden Pflicht. Hiermit korrespondiert die Pflicht des einzelnen Staates, der Gesamtheit der u¨brigen Vertragsparteien gegenu¨ber seine Pflicht einzuhalten. Gleichzeitig bestehen fu¨r den einzelnen Staat kein Recht, von der Gesamtheit der u¨brigen Vertragsparteien ein bestimmtes Verhalten zu verlangen, und keine entsprechende Pflicht der Gesamtheit der u¨brigen Vertragsparteien. Diese ist Rechtstra¨ger, aber nicht Verpflichtete. Der einzelne Staat ist Verpflichteter, aber als einzelner nicht Rechtstra¨ger.617 Wegen dieser Struktur kann keine Bilateralisierung der vertraglichen Pflichten erfolgen. Dieses ist einer der Gru¨nde dafu¨r, dass das derzeit geltende Vorbehaltsrecht auf Vertra¨ge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur nicht sinnvoll angewandt werden kann.618 Wenn eine Pflicht multilateral wirkt, darf sie im Falle eines Vorbehalts nicht bilateral betrachtet werden. Auch ein Reformansatz in diesem Be616 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. c); auch dies gilt, obwohl die Formulierungen der dargestellten Einsprüche teilweise auf eine andere Auffassung der Staaten schließen lassen. Insofern muss der Non-Benefitting-Ansatz in der Praxis noch weiterentwickelt werden. 617 s. o. Kapitel 3, B. IV. 4. sowie Kapitel 3, B. IV. 5. b) cc). 618 s. o. Kapitel 3, C. II.

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reich muss daher zwingend ohne die Bilateralisierung der vertraglichen Pflichten auskommen. Im jetzt untersuchten Bereich muss der Non-Benefitting-Ansatz weiterhin ebenfalls so verstanden werden, dass der Vorbehalt durch die Erklärung eines Einspruchs nichtig wird. Da auf die Bilateralisierung der vertraglichen Pflichten bei der Behandlung eines Vorbehalts verzichtet werden muss, muss ein Einspruch nach dem Non-Benefitting-Ansatz auch im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten und der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur mithin die Gesamtnichtigkeit des Vorbehalts zur Folge haben. b) Chancen auf Akzeptanz Voraussetzung dafür, dass der Non-Benefitting-Ansatz auch in diesem Bereich Chancen auf Akzeptanz hat, ist, dass er sich einerseits nur so weit wie nötig vom bisher geltenden Vorbehaltsrecht entfernt und andererseits mit dem zu Vorbehalten zu menschenrechtlichen Primärpflichten erarbeiteten Reformansatz übereinstimmt. Weiterhin müssen sich die mit seiner Anwendung verbundenen rechtlichen und tatsächlichen Probleme lösen lassen. Diese bestehen in derselben Hinsicht wie bei einer Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes auf menschenrechtliche Primärpflichten: Beschränkung der Souveränität des Vorbehaltsstaats sowie der Staaten, die einem Vorbehalt nicht widersprochen haben; Definition der Vorbehalte, gegen die ein Non-Benefitting-Einspruch erklärt werden kann; sowie Um- und Durchsetzung solcher Einsprüche. Auch hier teilen sich die möglichen Probleme mithin in Rechtsprobleme und Anwendungsprobleme. aa) Rechtliche und strukturelle Übereinstimmungen Eine Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes in der Weise, dass nach ihm erklärte Einsprüche generell für das Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien wirken und die Nichtigkeit des Vorbehalts zur Folge haben, würde genau dem Modell entsprechen, das unter Zugrundelegung der sich zum Non-Benefitting-Ansatz entwickelnden Staatenpraxis in dieser Arbeit für den Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten entwickelt worden ist.619 Sollte sich der Non-Benefitting-Ansatz auch im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten und der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur als taugliches Reformmodell erweisen, würde sich dadurch ein einheitlicher Reformansatz ergeben, der ohne eine unterschiedliche Behandlung solcher Pflichten und menschenrechtlicher Primärpflichten auskommt. Darüber hinaus würde dieses Modell ein einheitliches Vorbehaltsrecht insgesamt ermöglichen, da es den in der WKV enthaltenen Grundgedanken des Vorbehaltsrechts aufnimmt 619

Siehe Kapitel 4, B. III. 2. c) sowie Kapitel 4, B. III. 2. d) dd) und Kapitel 5.

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

und konsequent weiterentwickelt. Nach der WVK soll es den übrigen Vertragsparteien obliegen, über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zu entscheiden. Im Bereich der Vorbehalte zu bilateralen Verträgen und zu Verträgen mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur können dadurch sinnvolle Ergebnisse erzielt werden. Hier sind es tatsächlich die übrigen Vertragsparteien, die über die Rechtswirkung des Vorbehalts oder zumindest die Effektivität eines vom Vorbehaltsstaat mit dem Vorbehalt bezweckten Vorteils entscheiden, so dass diese Regeln nach einer Reform des Vorbehaltsrechts für die erwähnten Vertragstypen anwendbar bleiben müssen.620 Bei den beiden anderen in dieser Arbeit besprochenen Vertragstypen verschob sich die Entscheidungsmacht ohne den Willen der WVK bislang auf den Vorbehaltsstaat. Die Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes würde dies verhindern und die Entscheidungsmacht auch tatsächlich in die Hände der übrigen Vertragsparteien legen. Damit entstünde insgesamt ein einheitliches Vorbehaltsrecht, das für jede Art des völkerrechtlichen Vertrags den übrigen Vertragsparteien die Möglichkeit einräumt, über die Rechtswirkung des Vorbehalts zu entscheiden. Der in der WVK enthaltene Grundgedanke würde für alle Vertragstypen verwirklicht. Staaten müssten sich bei ihrer Reaktion auf einen Vorbehalt also nicht nur im Bereich der äußeren Form auf keine Umgewöhnungen einstellen.621 Es wäre garantiert, dass ihr Einspruch immer dieselbe Wirkung hat. Der vom Vorbehaltsstaat bezweckte Vorteil würde neutralisiert. Die Garantie dieser Vereinheitlichung des Vorbehaltsrechts insgesamt, wie sie nicht einmal das derzeit geltende Recht bietet, ist als großer Vorteil des Non-Benefitting-Ansatzes gegenüber allen anderen diskutierten Reformmodellen einzustufen. Vergleicht man den Non-Benefitting-Ansatz bei Anwendung auf Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und auf menschenrechtliche Sekundärpflichten mit den Strukturen dieser Pflichten, stellt man ein hohes Maß an Übereinstimmung fest. Da diese Pflichten eine Oa(b∧c∧d)-Struktur aufweisen, ist fu¨r die Behandlung der hierzu erkla¨rten Vorbehalte ein System no¨tig, das darauf Ru¨cksicht nimmt. Es mu¨ssen also immer die einem Staat gegenu¨ber der Gesamtheit der u¨brigen Vertragsparteien obliegenden Pflichten betrachtet werden. Dieses ist bei Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes mo¨glich. Auf einen Vorbehalt, der eine Pflicht des Vorbehaltsstaats gegenu¨ber der Gesamtheit der u¨brigen Vertragsparteien ausschließen oder reduzieren soll, wird in der Weise reagiert, dass sich der damit bezweckte Vorteil gegenu¨ber der Gesamtheit der u¨brigen Vertragsparteien neutralisiert, indem der Vorbehalt zu einem rechtlichen Nullum wird. Wenn Vorbehaltsstaat a beispielsweise bezweckt, dass durch seinen Vorbehalt zu einem mit den Staaten b, c und d geschlossenen Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur der darin enthaltene Satz Oa(b∧c∧d)G $ R(b∧c∧d)aG außer Kraft gesetzt wird, bedeutet ein Einspruch nach dem Non-Bes. o. Kapitel 3, C. I. Insofern ergeben sich keine Änderungen zum Non-Benefitting-Ansatz bezogen auf menschenrechtliche Primärpflichten, s. o. Kapitel 4, B. III. 2. b). 620 621

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nefitting-Ansatz, der insgesamt Wirkung entfaltet und die Nichtigkeit des Vorbehalts erzeugt, dass der Satz Oa(b∧c∧d)G $ R(b∧c∧d)aG wieder in Kraft gesetzt wird. Gegenüber allen anderen Reformmodellen hat der Non-Benefitting-Ansatz auch bezogen auf menschenrechtliche Sekundärpflichten und Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur schließlich den Vorteil, dass er das derzeit kodifizierte Recht nicht radikal verändert, sondern lediglich die Korrekturen vorgenommen werden, die nötig sind, um es weiterhin anwendbar zu machen. Die Reform des Vorbehaltsrechts würde dadurch insgesamt sehr vorsichtig verlaufen, was wiederum die Chancen auf Akzeptanz in der Staatenwelt erhöhen dürfte. Dies gilt umso mehr, als dass der Non-Benefitting-Ansatz kein den Staaten übergeordnetes Entscheidungsorgan vorsieht, dessen Akzeptanz in der Staatenwelt chancenlos wäre. Es besteht keine Gefahr einer Verletzung des Grundsatzes, dass Staaten gegen ihren Willen nicht Partei eines gerichtlichen oder quasigerichtlichen Verfahrens werden können. Die Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes auf die hier behandelten Pflichten würde daher auch eine deutlich souveränitätsschonendere Wirkung als alle anderen Reformmodelle haben. Sowohl strukturell als auch im Hinblick auf einen möglichst einheitlichen Reformansatz als auch bezüglich der Akzeptanzchancen in der Staatenwelt sind mit der Zugrundelegung des Non-Benefitting-Ansatzes als Reformmodell auch für die nunmehr behandelten Pflichten somit große Vorteile verbunden. Diese ergeben sich aus den Übereinstimmungen dieses Ansatzes sowohl mit dem geltenden Vorbehaltsrecht als auch mit der Struktur menschenrechtlicher Sekundärpflichten und der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur.

bb) Rechtsprobleme Rechtliche Probleme bestehen wie bei der Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes auf menschenrechtliche Primärpflichten vor allem bezüglich der Souveränität des Vorbehaltsstaats. (1) Souveränität des Vorbehaltsstaats Trotz der souveränitätsschonenden Wirkung, die der Non-Benefitting-Ansatz im Vergleich zu den übrigen diskutierten Reformansätzen aufweist, wird durch Einsprüche hiernach dennoch in die Souveränität des Vorbehaltsstaats eingegriffen. Dieser kann den durch seinen Vorbehalt bezweckten Vorteil nicht erreichen und wird gezwungen, Pflichten einzugehen, die er nicht eingehen will. Es muss daher auch bezüglich der nunmehr behandelten Pflichten nach einer Begründung dafür gesucht werden, dass dort bereits eine Einschränkung staatlicher Souveränität besteht, die eine Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes möglich macht.

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

Für eine solche Begründung kann die Figur der humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger nicht herangezogen werden. Dieses ist im Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten möglich, weil deren Struktur sowie die Wirkung, die ein Vorbehalt hierauf hat, mit der Struktur, die eine Einwirkung auf die Souveränität eines Staates bei Vornahme einer humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger aufweist, übereinstimmt.622 Sowohl bei Vornahme einer humanitären Intervention als auch bei Erklärung eines Non-Benefitting-Einspruchs zu einem zu einer menschenrechtlichen Primärpflicht erklärten Vorbehalt bezweckt ein Staat, durch einen Vorgang auf zwischenstaatlicher Ebene eine Pflicht des Staates, auf dessen Souveränität eingewirkt wird, auf der Staat-Individuum-Ebene wiederherzustellen beziehungsweise deren Einhaltung zu sichern. Diese Begründung ist also nur tauglich, wenn die Struktur der vom Vorbehalt betroffenen Pflichten ein vertikales Element aufweist und zwischenstaatliches Handeln auf dieses durchschlägt. Dies ist bei menschenrechtlichen Sekundärpflichten und Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur jedoch nicht der Fall. Die damit einhergehende Schwierigkeit bei der Begründung einer Souveränitätsbeschränkung des Vorbehaltsstaats kann auch nicht dadurch überwunden werden, dass man die für menschenrechtliche Primärpflichten gefundene Begründung analog auf menschenrechtliche Sekundärpflichten und Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur überträgt und dies lediglich damit begründet, dass Primär- und Sekundärpflichten in einem engen Verhältnis stehen. Sekundärpflichten dienen der Durchsetzung von Primärpflichten und sind ohne diese nicht denkbar. Die Existenz der Primärpflichten setzt jedoch nicht zwingend das Bestehen von Sekundärpflichten voraus. Eine Lösung, die allein auf die Verknüpfung von Primär- und Sekundärpflichten setzt, kann nicht Grundlage eines Reformvorschlags werden.623 Insofern ist die schlichte Übertragung der zur Anwendbarkeit des Non-Benefitting-Ansatzes auf Vorbehalte zu menschenrechtlichen Primärpflichten gefundenen Lösung auf die Begründung einer Souveränitätsbeschränkung im Sinne des Non-Benefitting-Ansatzes bei menschenrechtlichen Sekundärpflichten nicht möglich. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass das uneingeschränkte Bestehen staatlicher Souveränität im Bereich des Menschenrechtsschutzes und damit letztendlich auch bezüglich menschenrechtlicher Sekundärnormen heute zunehmend in Frage gestellt wird. Dieses geschieht vor allem mit Blick auf das Individuum.624 Weiterhin bedeutet die Mitgliedschaft eines Staates in den Vereinten Nationen, dass gerade im Bereich des Menschenrechtsschutzes seine Souveränität nicht mehr uneingeschränkt besteht.625 Dies gilt auch für die Mitgliedschaft im Europarat.626 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1). s. o. Kapitel 4, C. II. 3. 624 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1); Habermas, S. 123; Kahn, Stanford JIL 40 (2004), S. 262. 625 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1); Riedel, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 2, Art. 55 (c), Rn. 16; ders., in: Baum / Riedel / Schaefer, S. 33; Delbrück, Indiana JGLS 4 (1997), 622 623

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Für alle Mitglieder der UN, mithin für nahezu alle Staaten der Welt, besteht die Pflicht, an der Entwicklung von Menschenrechtsschutzverträgen beziehungsweise an der Verwirklichung der Individualrechte, die in den im Rahmen der UN geschaffenen Menschenrechtsschutzverträgen enthalten sind, konstruktiv mitzuwirken.627 Gerade die Verwirklichung dieser Menschenrechte vollzieht sich auch durch die Durchsetzungsmechanismen, die durch Sekundärpflichten errichtet werden. Insofern besteht auch hier zumindest in diesem Sinne eine Souveränitätsbeschränkung. Diese wird durch zwischenstaatlichen Akt, den Beitritt eines Staates zu den Vereinten Nationen, begründet. Eine Begründung, die ein zwingendes vertikales Element enthält, muss nicht herangezogen werden. Insofern existiert ein Indiz dafür, dass im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten ebenfalls keine vollständige staatliche Souveränität mehr besteht. Da die Mitgliedschaft eines Staates in den Vereinten Nationen auf dessen freie Willensentscheidung zurückzuführen ist, geschieht auch die damit verbundene Souveränitätsbeschränkung freiwillig, so dass in dieser Hinsicht keine weiteren Probleme entstehen.628 Über eine Anwendung des Art. 103 UNC ergibt sich, dass die Souveränitätsbeschränkung sogar Auswirkungen auf den Bereich des Vorbehaltsrechts hat. Es dürfen zumindest solche Vorbehalte nicht erklärt werden, die besonders extensiv wirken und einer Negierung der Notwendigkeit des internationalen Menschenrechtsschutzes an sich gleichkommen.629 Auch die Einschränkung staatlicher Souveränität, die dadurch entsteht, dass ein Mindestmaß an Menschenrechten den Status eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes i. S. d. Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut beanspruchen kann, vollzieht sich, ohne dass ein vertikales Element zwingend erforderlich ist, wie bei einer Begründung über die Figur der humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger.630 Inwiefern jedoch auch Sekundärpflichten zu einem solchen Mindestmaß gehören, ist wegen der Unbestimmtheit dieses Begriffs schwer zu definieren. Jedoch sollte der Begriff „Mindestmaß“ eng ausgelegt werden. Man muss daher davon ausgehen, dass er lediglich bestimmte menschenrechtliche Primärpflichten, nicht aber Sekundärpflichten umfasst. Zulässig ist jedoch auch im Bereich der jetzt besprochenen Pflichten die Frage, warum auf die Souveränität des Vorbehaltsstaats allein Rücksicht genommen werden soll, wenn sein Vorbehalt selbst auch gewisse Einschränkungen der Souveränität anderer Vertragsparteien bedeutet.631 S. 288 f.; Brownlie, S. 293 f.; Beyerlin, in: Bernhardt, EPIL, Bd. II (E – I), S. 932; Steinkamm, in: FS Dau, S. 275; vgl. Fröhlich, DIE ZEIT 40 / 2004, S. 15. 626 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1). 627 Giegerich, ZaöRV 55 (1995), S. 764; Riedel, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 2, Art. 55 (c), Rn. 15; Wolfrum, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 2, Art. 56, Rn. 3 f. 628 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1). 629 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1). 630 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1); vgl. Trautner, S. 41. 631 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1). 20 Behnsen

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Andere Begründungswege für die Einschränkung staatlicher Souveränität im Sinne des Non-Benefitting-Ansatzes, die sich auf menschenrechtliche Sekundärpflichten sowie auf Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur übertragen lassen, sind nach dem derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung nicht ersichtlich.632 Man muss damit festzustellen, dass im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten, die eine horizontale Struktur aufweisen, das Prinzip staatlicher Souveränität bereits heute Einschränkungen erfahren hat. Dies lässt sich in dem Satz zusammenfassen, dass das Einzelinteresse eines Staates in einem solchen Fall hinter dem Gesamtinteresse der Mitgliedstaaten am Menschenrechtsschutz an sich zurücktreten muss.633 Jedoch ist der Umfang dieser Souveränitätsbeschränkung noch unbestimmt. Es ist kaum genau feststellbar, wann ein Staat durch einen Vorbehalt zu einer menschenrechtlichen Sekundärnorm so weit geht, dass ihm vorgeworfen werden kann, er würde nicht konstruktiv an der Entwicklung und Verwirklichung des Menschenrechtsschutzes mitarbeiten oder dessen Notwendigkeit insgesamt negieren. Allzu restriktiv darf eine solche Prüfung nicht vorgenommen werden, da sie sonst mit einem generellen Verbot der Vorbehalte zu Sekundärpflichten gleichzusetzen wäre.634 Wegen dieser Unbestimmtheit kann anders als hinsichtlich Vorbehalte zu menschenrechtlichen Primärpflichten nicht sicher festgestellt werden, wie stark die Souveränitätsbeschränkung in den Bereich der Vorbehalte hineinwirkt. Mangels einer exakten Begründung, wie sie hinsichtlich menschenrechtlicher Primärpflichten mit Hilfe der Figur der humanitären Intervention zum Schutze fremder Staatsangehöriger gefunden wurde, kann man daher auch nicht zweifelsfrei begründen, ob ein Non-Benefitting-Einspruch in jedem Fall auch gegen Vorbehalte zu menschenrechtlichen Sekundärnormen zulässig ist. Im Bereich der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur ist selbst die Begründung einer unbestimmten Form der Souveränitätsbeschränkung nicht sicher möglich. Zwar finden sich in der Charta der Vereinten Nationen Normen, die darauf hindeuten, dass ein Teil der Materie, die in Verträgen mit solcher Struktur behandelt wird, auch zu den Zielen der Vereinten Nationen gehört. So kann man einen Vertrag über die Abkehr von Tests oder vom Einsatz bestimmter Waffen als dem Ziel der Vereinten Nationen zugehörig ansehen, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren.635 Der Antarktisvertrag kann mit seinen Festlegungen über die Nutzung der Antarktis ausschließlich zu friedlichen Zwecken, über die Freiheit der Forschung, die internationale Zusammenarbeit oder die Unterlassung von Kernexplosionen und der Beseitigung radioaktiven Ab632 Alle ansonsten im Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten gefundenen Begründungswege setzen ein vertikales Element in der Struktur der von einem Vorbehalt betroffenen Pflichten voraus, s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1). 633 Vgl. Marks, ICLQ 39 (1990), S. 326. 634 Zur Unzulässigkeit einer solchen Annahme vgl. Kapitel 4, C. II. 4. 635 Art. 1 Abs. 1 UNC; Wolfrum, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 1, Art. 1, Rn. 9, 11.

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falls636 ebenfalls zur Verwirklichung dieser Ziele beitragen,637 ebenso zumindest begrenzt zur Verwirklichung des Ziels, Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art durch internationale Zusammenarbeit zu lösen.638 Es ist daher auch verboten Vorbehalte solcher Art zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur, die der Verwirklichung der in der UNC definierten Ziele dienen, zu erklären, wenn sie die Wirkung haben, die vertraglichen Pflichten für einen Staat komplett zu beseitigen oder ihre Notwendigkeit zu negieren. Jedoch ist die Begründung dieses Schlusses noch unbestimmter als im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten. Der Schutz der Menschenrechte findet in Art. 1 Abs. 3 UNC ausdrücklich Erwähnung. Die in Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur definierten Pflichten werden, wie dargelegt, nur indirekt erwähnt. Auch insofern kann zwar vom Bestehen einer Souveränitätsbeschränkung auch für den Bereich dieser Verträge ausgegangen werden. Ihr exakter Anwendungsbereich bleibt allerdings angesichts der Unbestimmtheit der Begründung nicht eindeutig bestimmbar. Insbesondere fehlt auch hier ein genauer Begründungsweg, der es ermöglicht, durch Einsprüche speziell nach dem NonBenefitting-Ansatz Vorbehalte für nichtig zu erklären und die damit verbundene Souveränitätsbeschränkung zu rechtfertigen. Für die Tauglichkeit des Non-Benefitting-Ansatzes als Grundlage eines Reformansatzes für das Recht der Vorbehalte zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten bedeutet dies, dass ein damit verbundenes Problem nach dem derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung nicht gelöst werden kann. Eine Beschränkung staatlicher Souveränität, die so weit geht, dass die konkrete Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes in jedem Fall möglich ist, existiert bislang nicht. Zumindest im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten sind die Auswirkungen dieses Umstandes auf die Möglichkeit der Erarbeitung einer Reform jedoch weniger groß, als es zunächst erscheinen mag. Auf Vorbehalte, die sich auf die Möglichkeit beziehen, die Verletzung menschenrechtlicher Primärpflichten mit Hilfe der Individualbeschwerde abzuwenden, kann der Non-Benefitting-Ansatz angewandt werden. Das Recht auf Individualbeschwerde weist hierfür das nötige vertikale Strukturelement auf.639 Für die Staatenbeschwerde gilt dasselbe, da sie im Bereich des Menschenrechtsschutzes als actio popularis zur Durchsetzung von Rechten mit vertikalem Element angesehen werden kann.640 Daneben werden in Menschenrechtsschutzverträgen nur noch wenige Sekundärpflichten normiert. Die Pflicht eines Staates, Berichte über die Menschenrechtslage in seinem Hoheitsgebiet abzugeben, ist die wichtigste hiervon.641 Gemessen an den Möglichkeiten, 636 637 638 639 640

20*

Art. I – III, V Antarktisvertrag. Vgl. Wolfrum, in: Simma, Charter of the UN, Bd. 1, Art. 1, Rn. 9, 11. Art. 1 Abs. 3 UNC. s. o. Kapitel 4, C. II. 1. s. o. Kapitel 4, C. II. 1.

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die Individualbeschwerde oder auch Staatenbeschwerde zur Durchsetzung menschenrechtlicher Sekundärpflichten bieten, ist das Berichtssystem jedoch als weniger bedeutend einzustufen. Nur für Verträge, die keines der beiden erstgenannten Instrumente kennen, würde ein ernstzunehmendes Problem entstehen, wenn der Non-Benefitting-Ansatz nach derzeitigem Stand der Rechtsentwicklung nicht anwendbar wäre. Solche Verträge existieren.642 Jedoch gilt dies nicht auch nicht für alle Menschenrechtsschutzverträge.643 Selbst bei Verträgen, die entweder ausschließlich das Staatenberichtssystem als Möglichkeit zur Durchsetzung von Primärpflichten kennen oder bei denen Staaten sich durch Nichtabgabe einer Unterwerfungserklärung möglichen Staaten- oder Individualbeschwerden entziehen können, dürften sich die Auswirkungen von Vorbehalten, die ein Staat unter Berufung auf seine Souveränität und damit verbunden unter ausdrücklicher Missachtung möglicher Non-Benefitting-Einsprüche erklären könnte, praktisch in Grenzen halten. Das System der Staatenberichte ist ein bereits von sich aus schwach ausgestaltetes Instrument zur Durchsetzung menschenrechtlicher Primärpflichten. In der Praxis hat es sich als wenig effektiv erwiesen.644 Hierauf wies das damalige Mitglied des HRC Martin Scheinin bereits im Jahre 1999 hin.645 Bis heute wurden die relevanten Bestimmungen jedoch nicht neu gefasst.646 Im Gegensatz zur Staatenund Individualbeschwerde wird im Staatenberichtsverfahren keinem anderen Rechtssubjekt oder Rechtsträger die Möglichkeit gegeben, in einem konkreten Fall die Verletzung einer Primärpflicht in einem formellen Verfahren zu rügen.647 Im Staatenberichtssystem ist der Einzelstaat selbst der Hauptakteur. Ein Vertragsorgan, dem die Berichte vorzulegen sind, kann diese zwar prüfen und seine An641 s. o. Kapitel 3, B. IV. 5. b) cc); anhand dieser Pflicht wurde die Existenz horizontaler Pflichten im Menschenrechtsschutzvertrag erst nachgewiesen. 642 Weder die Individual- noch die Staatenbeschwerde normieren der CESCR, die CEDAW, dort die Individualbeschwerde allerdings normiert durch das Optional Protocol to the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women, die CRC sowie die Framework Convention for the Protection of National Minorities (ETS Nr. 157). 643 Zumindest entweder die Staaten- oder die Individualbeschwerde normieren die CERD, vgl. Art. 11, 14 CERD; die CAT, vgl. Art. 21, Art. 22 CAT und der CCPR, vgl. Art. 41 CCPR, Art. 1des 1. Zusatzprotokolls zum CCPR; wobei die Zuständigkeit teilweise gesondert anerkannt werden muss. 644 Scheinin, in: Hanski / Suksi, International Protection of Human Rights, S. 433; Bayefsky, in: Henkin / Hargrove, Human Rights, S. 232 ff.; vgl. Simma, in: Klein, The Monitoring System, S. 45; Probleme sieht auch Mugwanya, AHRLJ 1 (2001), S. 283 f.; positiver beurteilt das System der Staatenberichte hingegen Hofmann, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 135, 136 ff., 142 ff., seine Ausführungen beziehen sich allerdings auf die Mitgliedstaaten der Framework Convention for the Protection of National Minorities, mithin also auf 35 Mitgliedstaaten des Europarats, wobei erneut darauf hinzuweisen ist, dass dieser Staatenraum bzgl. des Menschenrechtsschutzes als Sonderfall einzustufen ist; von Ausführungen zu Art. 29 der betreffenden Konvention sei hier abgesehen. 645 Scheinin, in: Hanski / Suksi, International Protection of Human Rights, S. 433. 646 Die aktuelle Textversion des CCPR findet sich auf der Homepage des UNHCHR unter www.ohchr.org/english/law/ccpr.htm. 647 Bayefsky, in: Henkin / Hargrove, Human Rights, S. 232 f.

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sichten hierzu verbreiten. Es hat jedoch keine Möglichkeiten, den Staat, bezogen auf den konkreten Einzelfall oder auf die Verletzung konkreter Rechte, zu einer Einstellung der Verletzung zu bewegen. Der Effekt des Staatenberichtssystems kann sich daher höchstens nach langer Zeit einstellen und ist stark vom Willen des jeweiligen Staates abhängig. Insofern dürften Vorbehalte hierzu keine allzu gravierenden Auswirkungen haben, selbst wenn der Vertrag keine anderen Überwachungsmechanismen vorsieht. Aus diesem Grunde und auch wegen der Möglichkeit des Überwindens des Problems der Souveränität des Vorbehaltsstaats durch Weiterentwicklung der Staatenpraxis648 sollen die weiteren mit Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes verbundenen Probleme trotzdem im Folgenden auf eine Lösung hin untersucht werden und der Non-Benefitting-Ansatz weiterhin als Reformmodell auch bezüglich der jetzt untersuchten Pflichten im Auge behalten werden. (2) Souveränität nicht einsprechender Staaten Im Hinblick auf die Souveränität der Staaten, die keinen Einspruch gegen einen Vorbehalt zu einer menschenrechtlichen Sekundärpflicht oder einem Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur erhoben haben, ergibt sich wie bei Vorbehalten zu menschenrechtlichen Primärpflichten kein Problem.649 Die Souveränität eines dritten Staates wird gemäß dem Grundsatz „Pacta tertiis nec nocet nec prosunt.“ nur dann berührt, wenn diesem gegen seinen Willen Pflichten auferlegt werden. Bei rein formalistischer Anwendung des derzeit geltenden Rechts kann man eine solche Erweiterung zwar bejahen. De facto tritt sie jedoch nicht ein. Das derzeit geltende Recht fingiert zwölf Monate nach Notifikation des Vorbehalts für jeden Staat, der diesem nicht widersprochen hat, eine Annahme, sofern diese nicht bereits vorher ausdrücklich erklärt wurde. Spätestens ab diesem Zeitpunkt reduzieren sich im Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und nicht widersprechendem Staat die vertraglichen Pflichten, auf die der Vorbehalt sich bezieht, wechselseitig in der im Vorbehalt vorgesehenen Weise. Wenn ein Non-BenefittingEinspruch durch einen anderen Staat die Wirkung hat, im Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien den Vorbehalt nichtig zu machen, entstehen zwischen dem Vorbehaltsstaat und dem Staat, der nicht widersprochen hat, damit formell betrachtet Pflichten, die letzterer nicht eingehen will. De facto erweitert sich die Menge der Pflichten, die diesem Staat obliegen, jedoch nicht. Auch im Falle der Gültigkeit des Vorbehalts wäre jeder Staat, der dem Vorbehalt nicht widersprochen hat, voll an alle im Vertrag definierten Pflichten gebunden. Dies ergibt sich wie bei menschenrechtlichen Primärpflichten aus der Struktur der Pflichten, auf die durch den Vorbehalt eingewirkt werden soll. Da diese nicht bilateralisiert werden können, ist es nicht möglich, von einer Erweite648 649

Vgl. Kapitel 4, C. II. 8. b) dd). s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (2).

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rung der Pflichten, die den nicht widersprechenden Staat im Verhältnis zum Vorbehaltsstaat treffen, zu sprechen. Diese Pflichten bestehen im Verhältnis zwischen jeder einzelnen Vertragspartei und der Gesamtheit der Vertragsparteien als solcher. Schon vor einem möglichen Einspruch wäre ein Staat, der nicht widersprochen hat, gegenüber der Gesamtheit aller anderen Vertragsparteien als solcher in vollem Umfang verpflichtet gewesen, ganz gleich, ob man den Vorbehaltsstaat als Teil dieser ansieht oder nicht. Die Menge der Pflichten, die den nicht widersprechenden Staat vor und nach Erklärung eines Einspruchs mit Non-Benefitting-Ansatz treffen, bleibt mithin gleich. Beispielsweise bleibt, wenn ein Staat einen Vorbehalt zu einer menschenrechtlichen Sekundärnorm erklärt, die die Verpflichtung zur Abgabe regelmäßiger Staatenberichte enthält, der nicht widersprechende Staat nach wie vor verpflichtet, Staatenberichte zur Menschenrechtssituation in seinem eigenen Hoheitsgebiet vorzulegen. Ebenso bleibt ein Staat, der keinen Einspruch gegen einen Vorbehalt erhebt, der zu einem Test-Stop-Vertrag erklärt wurde, weiterhin verpflichtet, selbst keine verbotenen Tests durchzuführen. cc) Anwendungsprobleme Für die Anwendungsprobleme, die mit einer Geltung des Non-Benefitting-Ansatzes im Bereich der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und der menschenrechtlichen Sekundärpflichten verbunden sind, gelten mit geringen Modifizierungen die Lösungen, die diesbezüglich im Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten gefunden wurden. (1) Vorbehaltstypen Für den Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten wurde festgestellt, dass eine Beschränkung der Vorbehalte, zu denen ein Non-Benefitting-Einspruch erhoben werden kann, nicht möglich ist.650 Um die künstliche Unterscheidung zwischen Zulässigkeit und Rechtswirkung eines Vorbehalts in der Zukunft vollständig vermeiden zu können, muss auch ein Reformvorschlag für Vorbehalte zu Sekundärpflichten im Menschenrechtsschutzvertrag und zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur Non-Benefitting-Einsprüche für jeden Vorbehalt zulassen. Auch hier existiert keine taugliche Entscheidungsgrundlage für die Frage, welcher Vorbehalt einem Non-Benefitting-Einspruch zugänglich ist und welcher nicht. Der Ziel-und-Zweck-Test ist dazu ebenso wenig geeignet wie bei Anwendung des derzeit geltenden Rechts.651 Gerichte oder Vertragsorgane können eine solche Entscheidung ebenfalls nicht treffen. Zum einen würde ihnen die Entscheidungsgrundlage fehlen. Zum anderen existieren bislang keine Organe, die zu einer solchen Entscheidung rechtlich ermächtigt sind. Zu ihrer Neuschöp650 651

s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (1). s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (1).

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fung oder zur Anerkennung entsprechender Kompetenzen für bereits bestehende Organe werden die Staaten nicht bereit sein. Es ergeben sich insofern keine Unterschiede zu derselben Frage bezogen auf Vorbehalte zu menschenrechtlichen Primärpflichten.652 Weiterhin wird dieses belegt durch die Untauglichkeit des Ansatzes, Gerichte oder Vertragsorgane über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zu einer menschenrechtlichen Sekundärpflicht oder einem Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur insgesamt bindend entscheidend zu lassen.653 Wenn die Staatenpraxis klar darauf hinweist, dass Staaten einen solchen Reformvorschlag nicht akzeptieren werden, ist ebenso nicht anzunehmen, dass sie sich von denselben Organen Vorgaben machen lassen werden, gegen welche Vorbehalte sie Non-Benefitting-Einsprüche erheben dürfen. Weiterhin wäre ein solches System der gemischten Kompetenzen äußerst unübersichtlich und würde für einen Teil vertraglicher Pflichten kompliziertes Sonderrecht schaffen.654 Dieses ist angesichts der Tatsache, dass auch alle Vorbehalte zu menschenrechtlichen Primärpflichten einem Non-Benefitting-Einspruch zugänglich sind, nicht nötig. Die Entscheidung, ob und gegen welchen Vorbehalt er einen Non-Benefitting-Einspruch erklären will, kann jedem Staat selbst überlassen werden. (2) Umsetzung und Durchsetzung von Einsprüchen Wie Non-Benefitting-Einsprüche gegen Vorbehalte zu menschenrechtlichen Primärpflichten können auch Non-Benefitting-Einsprüche gegen Vorbehalte zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten und zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur mit Hilfe der Instrumente Repressalie und Retorsion durchgesetzt werden.655 Ein Vorbehalt zu einer solchen Pflicht, auf den ein Staat mit einem Non-Benefitting-Einspruch reagiert, wird nichtig. Damit ist der Vorbehaltsstaat voll an die sich aus dem Vertrag ergebenden Pflichten gebunden. Kommt er diesen auch weiterhin nur in dem im Vorbehalt vorgesehenen Ausmaß nach, verletzt er die ihm gegenüber der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien bestehenden Pflichten. Hierauf darf diese mit Repressalie und Retorsion reagieren, um so den Vorbehaltsstaat zu zwingen, seinen Pflichten in vollem Umfang nachzukommen. Tatsächlich ist es der Gemeinschaft als solcher zwar unmöglich, Maßnahmen der Repressalie oder der Retorsion praktisch zu ergreifen. Sie ist daher insofern auf das Handeln einzelner Staaten angewiesen, die dieses quasi stellvertretend für sie übernehmen. s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (1). s. o. Kapitel 4, C. II. 4. 654 Zur Unsicherheit, die entsteht, wenn zwischen bestimmten Vorbehalten unterschieden werden muss, vgl. Wold, Colorado JIELP 14 (2003), S. 91 f. 655 Zur Durchsetzung von Non-Benefitting-Einsprüchen im Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (2). 652 653

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Zur Begründung der Rechtmäßigkeit einer Repressalie ist im Gegensatz zu menschenrechtlichen Primärpflichten nicht einmal erforderlich, dass der Staat wegen Verletzung eines ausschließlich fremden Rechts tätig wird. Im Falle eines Vorbehalts zu einer menschenrechtlichen Primärpflicht konnte die Zulässigkeit einer Repressalie nur hiermit begründet werden, da die Struktur der durchzusetzenden Pflicht beziehungsweise des durchzusetzenden Rechts ausschließlich das der Hoheitsgewalt des Vorbehaltsstaats unterworfene Individuum als Rechtsträger anerkennt, während auf zwischenstaatlicher Ebene keine Rechte und Pflichten entstehen.656 Die Struktur der hier besprochenen menschenrechtlichen Sekundärpflichten und der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur ist hingegen eine rein zwischenstaatliche ohne vertikale Elemente. Rechtsträger dieser Pflichten ist die Gemeinschaft der übrigen Vertragsparteien als solche. Unternimmt ein einzelner Staat mithin Maßnahmen der Repressalie zur Durchsetzung eines Non-Benefitting-Einspruchs, verfolgt er das Ziel, die Einhaltung von Rechten wiederherzustellen, die der Gemeinschaft der Vertragsparteien und insofern auch ihm als Teil dieser Gemeinschaft zustehen. Er wird damit zumindest wegen einer Verletzung auch eigener Rechte auf Vertragserfüllung tätig657 beziehungsweise stellvertretend für die Gemeinschaft der übrigen Vertragsparteien zur Durchsetzung deren Rechte. Dies rechtfertigt in Kombination mit der praktischen Tatsache, dass die Gemeinschaft der anderen Staaten als solche keine Maßnahmen der Repressalie ergreifen kann, die Durchsetzung von Non-Benefitting-Einsprüchen mit Hilfe dieses Instruments auch im Bereich der nunmehr besprochenen Pflichten. Die Figur des self-contained régimes führt auch hier nicht zur Unzulässigkeit der Durchsetzung von Non-Benefitting-Einsprüchen mit Hilfe der Repressalie. Zum einen ist die Figur des self-contained régimes selbst umstritten, da sich nicht sicher feststellen lässt, welche Verträge ein solches errichten.658 Zum anderen existiert im Bereich der Menschenrechtsschutzverträge kein Vertrag, der ein Instrument enthält, das Staaten eine wirksame Möglichkeit gibt, Verletzungen von Sekundärpflichten zu rügen und zu beseitigen. Die Staatenbeschwerde ist zwar in mehreren Verträgen vorgesehen. Die Entscheidung hierüber wird jedoch von einem Organ getroffen, das meist nicht über die Kompetenz verfügt, bindende Entscheidungen gegenüber den Vertragsparteien zu treffen.659 Gerade dies ist jedoch Voraussetzung, um einen Vertrag als self-contained régime anzusehen.660 Weiters. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (2). Vgl. zur Pflichtenstruktur im Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur, in dem jeder einzelne Staat ein Interesse an der und ein Recht auf Vertragserfüllung hat, Kapitel 3, B. IV. 4. 658 s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (2); Schröder, in: Vitzthum, VölkerRt., 7. Abschn., Rn. 30; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 188 VI. 1.; Zemanek, ZaöRV 47 (1987), S. 41; vgl. Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 59, Rn. 47. 659 Vgl. Art. 41 f. CCPR; Art. 11 ff. CERD; Art. 21 Abs. 1 CAT. 660 Vgl. Art. 52 Abs. 3 lit. b der Draft articles on the Responsibility of States for internationally wrongful acts; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Bd. I / 3, § 188 VI. 2. 656 657

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hin sehen einige Verträge die Staatenbeschwerde nur für den Fall vor, dass ein Staat ihre Anwendbarkeit ausdrücklich anerkannt hat.661 Spezielle Durchsetzungsmöglichkeiten, die effektiv genug sind, um einen Vertrag als self-contained régime einzuordnen, sind daher auch im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten nicht vorhanden. Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht erneut lediglich die EMRK, da diese mit dem EGMR über ein Organ verfügt, das bindend über jede Form der Vertragsstreitigkeit entscheiden kann. Andere Menschenrechtsschutzverträge bieten diese Möglichkeit jedoch nicht, so dass sie auch im Hinblick auf Sekundärpflichten nicht als self-contained régimes eingeordnet werden können.662 Auch deshalb darf bei der Durchsetzung von Non-Benefitting-Einsprüchen, die sich auf die letztgenannten Verträge beziehen, auf das Instrument der Repressalie zurückgegriffen werden. Im Bereich der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur stellt sich die Situation ebenso dar. Die Figur des self-contained régimes ist vom IGH für das Diplomatenrecht entwickelt worden.663 Die in diesem Rechtsgebiet enthaltenen Verpflichtungen sind von bilateral wirkender horizontaler Struktur und entsprechen somit nicht den hier untersuchten Pflichten.664 Verträge, die eine multilateral wirkende horizontale Pflichtenstruktur aufweisen, sind bislang zu Recht nicht als self-contained régime bezeichnet worden.665 Da die Durchsetzung mit Hilfe der Retorsion schließlich keine vorangegangene Rechtsverletzung erfordert, kann diese daneben ebenfalls erfolgen. Ein Vorbehalt ist insofern als ausreichender unfreundlicher Akt zu bewerten. Bei Vornahme der Repressalie oder Retorsion müssen die Staaten allerdings beachten, keine unverhältnismäßigen Maßnahmen zu wählen.666

Vgl. Art. 41 Abs. 1CCPR; Art. 21 Abs. 1 CAT. Vgl. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (2). 663 IGH, United States Diplomatic and Consular Staff in Tehran (United States of America v. Iran), 24. Mai 1980, ICJ Reports 1980, S. 41. 664 s. o. Kapitel 3, B. IV. 3.; weiterhin kann man die Entscheidung des IGH selbst in diesem Bereich auch so verstehen, dass lediglich Repressalien gegen das diplomatische Personal unzulässig, solche gegen den Entsendestaat jedoch weiterhin zulässig sein sollen; vgl. Zemanek, ZaöRV 47 (1987), S. 40 f. 665 So werden in der einschlägigen Literatur als mögliche self-contained régimes ebenfalls meist nur das Diplomatenrecht sowie die EMRK genannt, daneben Z. T. noch Gründungsverträge internationaler Organisationen wie die UN-Charta oder der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (BGBl. 2001 II, S. 1667); vgl. Fischer, in: Ipsen, VölkerRt., 15. Kapitel, § 59, Rn. 47; Zemanek, ZaöRV 47 (1987), S. 41; Herdegen, VölkerRt., § 48, Rn. 5, § 59, Rn. 9; Simma, NYIL 16 (1985), S. 118 ff., 123 ff., 129 ff.; Marschik, S. 193 ff. 666 Zu den sonstigen Begrenzungen bei der Auswahl des Mittels der Repressalie oder Retorsion s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (2). 661 662

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dd) Geeignetheit des Non-Benefitting-Ansatzes als Reformgrundlage Fasst man die Ergebnisse zusammen, die nunmehr zur Tauglichkeit des NonBenefitting-Ansatzes für die Entwicklung eines Reformmodells auch im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten und der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur gewonnen wurden, ergibt sich zunächst, dass mit seiner Anwendung große Vorteile verbunden sind. Der Non-Benefitting-Ansatz garantiert eine einheitliche Reform, die auch bei Vorbehalten zu den nunmehr untersuchten Pflichten das derzeit kodifizierte Recht nur so weit wie nötig weiterentwickelt und alle dessen taugliche Teile übernimmt. Darüber hinaus wird der Grundgedanke des geltenden Rechts nicht nur weiterhin akzeptiert. Er wird konsequent weiterentwickelt und der neuen Rechtsentwicklung angepasst. Bislang bestand das Problem, das bei Anwendung des geltenden Rechts auf menschenrechtliche Sekundärpflichten und auf Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur entstand, darin, dass die Struktur dieser neueren Vertragstypen die Entscheidungsmacht über die Rechtswirkung des Vorbehalts ohne den Willen des geltenden Rechts auf den Vorbehaltsstaat verschob. Diesem kann durch eine Reform des Vorbehaltsrechts im Sinne des Non-Benefitting-Ansatzes wirksam begegnet werden. Der Non-Benefitting-Ansatz würde auch für Vorbehalte zu den nunmehr untersuchten Pflichten die Entscheidungsmacht über deren Rechtswirkung bei den übrigen Vertragsparteien belassen, wie es im derzeit geltenden Recht für bilaterale Verträge und Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur vorgesehen ist. Der Struktur der hier besprochenen Pflichten würde dabei Rechnung getragen. Einsprüche nach dem Non-Benefitting-Ansatz wären weiterhin ebenso wie im Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten mit Hilfe von Repressalie und Retorsion durchsetzbar. Daneben zwingt der Non-Benefitting-Ansatz die Staaten nicht zur Anerkennung eines radikalen Umbaus des bisherigen Systems, insbesondere nicht zur Anerkennung eines übergeordneten Entscheidungsorgans für Vorbehalte zu den jetzt besprochenen Pflichten. Die Chancen auf Akzeptanz in der Staatenwelt dürften daher für den Non-Benefitting-Ansatz größer sein als für alle anderen hier besprochenen Reformmöglichkeiten. Er wirkt in dieser Hinsicht souveränitätsschonender. Dies lässt sich für Staaten, die einem Vorbehalt nicht widersprochen haben, exakt begründen. Lediglich für die mit der Anerkennung des Non-Benefitting-Ansatzes im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten und der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur verbundene Einschränkung der Souveränität des Vorbehaltsstaats lässt sich nach dem derzeitigen Stand der Rechtsentwicklung noch keine exakte Begründung finden. Zwar besteht auch in diesem Bereich staatliche Souveränität nicht mehr als absolutes Prinzip. Eine Begründung speziell für die mit Non-Benefitting-Einsprüchen verbundenen Souveränitätsbeschränkungen kann aber nicht gefunden werden. Dies bedeutet, dass der NonBenefitting-Ansatz für Vorbehalte zu den nunmehr besprochenen Pflichten nicht

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ganz in derselben Weise als Reformmodell tauglich ist wie im Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten. Dennoch liefert er im Vergleich zu den anderen dargestellten Möglichkeiten wohl dennoch den besten Reformansatz. Seine Vorteile überwiegen. Der Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten, in dem der NonBenefitting-Ansatz unter Umständen nicht zum Einsatz kommen könnte, ist weniger bedeutend. Weiterhin besteht die begründete Hoffnung, dass die Staatenpraxis den Non-Benefitting-Ansatz auch für Vorbehalte zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten und zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur entdecken wird. Im Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten kommt er seit mehr als zehn Jahren zum Einsatz. Eine Entwicklung zu (regionalem) Gewohnheitsrecht ist möglich. Auch auf Vorbehalte zu anderen Vertragstypen wird er zunehmend angewandt.667 Der Schritt, ihn in Zukunft in der Staatenpraxis auch auf Vorbehalte zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten und zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur anzuwenden, erscheint eher klein. Die Entwicklung kann dabei sowohl durch den ausdrücklichen Einsatz solcher Einsprüche voranschreiten als auch dadurch, dass andere Staaten, die als Teil der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien vom einsprechenden Staat quasi „vertreten“ werden, sich gegen eine solche Praxis nicht wehren.668 Insofern würde nicht nur die stillschweigende Annahme, sondern auch eine Art „stillschweigender Einspruch“ möglich sein. Die berechtigte Hoffnung auf eine solche Entwicklung gilt umso mehr, als dass sie sich eng am derzeit geltenden Recht orientieren, eine einheitliche Behandlung aller Vorbehalte ermöglichen und insgesamt die Staaten vergleichsweise gering in ihrer Souveränität belasten würde. Schließlich müssten sich diese auch im Verfahren bei der Reaktion auf einen Vorbehalt praktisch auf keine Änderungen einstellen. Das bisherige Verhalten der Staaten, Einsprüche auch in diesem Bereich zu erheben, zeigt, dass Staaten sich zumindest als Prüfungsinstanz für Vorbehalte ansehen.669 Die Gefahr eines missbräuchlichen Einsatzes von Non-Benefitting-Einsprüchen dürfte sich dabei wie im Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten in Grenzen halten, da ein Staat, der so handelt, im Falle eines eigenen Vorbehalts eine entsprechende Reaktion des Vorbehaltsstaats fürchten muss.670 Es erscheint daher möglich, dass sich in Zukunft neben der Staatenpraxis auch eine opinio iuris entwickelt, die davon ausgeht, dass die Souveränität eines Vorbehaltsstaats auch im Bereich der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und der menschenrechtlichen Sekundärpflichten in der Weise eingeschränkt ist, wie es der Non-Benefitting-Ansatz erforderlich macht. Insofern ist die Hoffnung auf eine gewohnheitsrechtliche Beschränkung der Souveränität des Vors. o. Kapitel 4, C. II. 8. Zur Möglichkeit der stillschweigenden Entstehung von Gewohnheitsrecht Bernhardt, in: ders., EPIL, Bd. I (A – D), S. 900, 901. 669 Vgl. Wold, Colorado JIELP 24 (2003), S. 110 f. 670 Im Übrigen kann auf die Ausführungen zu diesem Thema für den Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten verwiesen werden, s. o. Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (1). 667 668

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Kap. 4: Möglichkeit einer Reform

behaltsstaats in diesem Sinne nicht unbegründet.671 Erste in diese Richtung tendierende Staatenpraxis verstärkt diese Hoffnung zusätzlich.672 Damit würde sich das nach derzeitigem Stand der Rechtsentwicklung noch bestehende Problem lösen. Der Non-Benefitting-Ansatz kann daher unter der Prämisse, dass eine solche gewohnheitsrechtliche Weiterentwicklung des Rechts stattfindet, auch im Bereich der Vorbehalte zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten und zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur als Reformmodell verwendet werden. Aus Gründen der Effektivität ist es hier ebenso wie im Bereich menschenrechtlicher Primärpflichten wünschenswert, den Non-Benefitting-Ansatz um eine formelle Überprüfungskompetenz und eine Hinweisbefugnis des Depositars zu erweitern.673

671 Immerhin bezog sich die Stellungnahme des französischen Vertreters in der Generalversammlung Alabrune auf Vorbehalte zum UN-Seerechtsübereinkommen allgemein und insbesondere auch auf seeumweltrechtliche Fragen, vgl. GAOR, 55th Session, 42nd Plenary Meeting (26. Oktober 2000), S. 9, UN Doc. A / 55 / PV.42. Umweltrechtliche Verträge können eine multilateral wirkende horizontale Pflichtenstruktur haben, s. o. Kapitel 3, B. IV. 4.; im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten hat sich jedoch zumindest für die Einspruchspraxis Dänemarks und Norwegens der Non-Benefitting-Ansatz noch nicht durchsetzen können, vgl. Einspruch Dänemarks und Norwegens zum Vorbehalt Trinidad und Tobagos bei dessen erneutem Beitritt zum ersten Zusatzprotokoll zum CCPR, Multilateral Treaties Deposited with the Secretary General, UN Doc. ST / LEG / SER.E / 18 (vol. I), S. 176, 177; vgl. Klingenberg, Nordic JIL 69 (2000), S. 336, diese Einsprüche sind jedoch sehr scharf formuliert, so dass die Hoffnung dennoch nicht unbegründet ist, dass sich in einem ähnlichen Fall auch der Non-Benefitting-Ansatz als weitere Steigerung eines scharfen Einspruchs mit Rechtswirkung durchsetzen kann. Für Schweden erscheint eine Entwicklung in diese Richtung ebenfalls möglich, vgl. Magnuson, Nordic JIL 69 (2000), S. 379 f. 672 Erneut sei auf den Einspruch Finnlands verwiesen, mit dem es auf den Vorbehalt Guyanas bei dessen erneutem Beitritt zum ersten Zusatzprotokoll zum CCPR reagierte, abgedruckt bei Sotaniemi, Nordic JIL 70 (2001), S. 523. 673 s. o. Kapitel 4, B. III. 5. d) sowie Kapitel 4, C. II. 4.

Kapitel 5

Vorschlag einer Reform des Vorbehaltsrechts Als wichtigstes Ergebnis dieser Arbeit ist festzuhalten, dass für eine Reform des Rechts der Vorbehalte Bedarf besteht. Die Regeln der WVK setzen bei der rechtlichen Behandlung von Vorbehalten zu stark auf das bilaterale Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einer jeweils anderen Vertragspartei. Dieses führt dazu, dass ihre Anwendbarkeit auf zwei Arten multilateraler Verträge nicht gegeben ist. Im Falle eines Vorbehalts zu einem Vertrag mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur oder zu einem Vertrag mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur führt die Anwendung der WVK zu sinnwidrigen Ergebnissen, die nicht hinzunehmen sind. Dieses gilt insbesondere für Menschenrechtsschutzverträge als die Verträge, die sowohl Elemente einer multilateral wirkenden horizontalen als auch Elemente einer multilateral begründeten vertikal wirkenden Pflichtenstruktur aufweisen. Zum einen muss nach den Art. 19 ff. WVK eine künstliche Trennung zwischen der Zulässigkeit und der Rechtswirkung eines Vorbehalts vorgenommen werden. Abgesehen von den in Art. 19 lit. a und b WVK vorgesehenen Unzulässigkeitsgründen richtet sich die Zulässigkeit eines Vorbehalts vor allem nach dem in der Praxis unbrauchbaren Ziel-und-Zweck-Test. Dieses allein reicht aus, um Reformbedarf für das Vorbehaltsrecht zu begründen. Der Gedanke, dass vertragliche Verpflichtungen in jedem Fall bilateralisierbar sind, erzeugt im Falle eines Vorbehalts zu einem Vertrag, der einer der beiden erwähnten Kategorien entstammt, ebenfalls untragbare Ergebnisse. Da diese Pflichten einen rein multilateralen Charakter haben, darf die Entscheidung über die Rechtswirkung eines Vorbehalts nicht im bilateralen Verhältnis fallen. Zum anderen führen sich die geltenden Regeln des Vorbehaltsrechts bei einer Anwendung auf die genannten Verträge selbst ad absurdum. Die WVK normiert den Grundgedanken, dass nach der Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorbehalts die übrigen Vertragsparteien aufgerufen sind, über dessen Rechtswirkung zu entscheiden. Bei Vorbehalten zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur verschiebt sich diese Entscheidungsmacht jedoch auf den Vorbehaltsstaat selbst. Entweder werden die vertraglichen Verpflichtungen zwischen ihm und dem annehmenden Staat gemäß Art. 21 Abs. 1 WVK in dem im Vorbehalt vorgesehenen Maße geändert, oder die strittigen Pflichten werden gemäß Art. 21 Abs. 3 WVK im Falle des Einspruchs eines Staates im Verhältnis zwischen diesem und dem Vorbehaltsstaat aus dem Kreis der ver-

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Kap. 5: Vorschlag einer Reform des Vorbehaltsrechts

traglichen Verpflichtungen ausgeklammert. Im äußersten Fall kann der einsprechende Staat erklären, dass er den Vorbehaltsstaat im Verhältnis zwischen sich und ihm nicht als Vertragspartei ansieht. Allen diesen Reaktionsmöglichkeiten ist gemein, dass der Vorbehaltsstaat keine Verpflichtungen eingehen muss, die er nicht eingehen will. Mit Erklärung des Vorbehalts entscheidet er damit automatisch über die Rechtswirkung des Vorbehalts, ohne dass die übrigen Vertragsparteien die Möglichkeit haben, seine Pflichten zu erweitern. Ihnen wird die Entscheidungskompetenz über die Rechtswirkung des Vorbehalts genommen. Der Vorbehaltsstaat muss keine kompensatorischen Nachteile fürchten, so dass die WVK-Regeln ihre Rechtswirkung verlieren. Insofern muss für Vorbehalte zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und für Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur ein Reformvorschlag präsentiert werden. Auf Vorbehalte zu anderen Vertragstypen kann das derzeit geltende Recht hingegen problemlos angewandt werden. Dies sind, abgesehen von den in dieser Arbeit nicht behandelten bilateralen Verträgen sowie den in der WVK speziell geregelten plurilateralen Verträgen und den Gründungsverträgen internationaler Organisationen, alle Verträge mit tatsächlich bilateraler Pflichtenstruktur, mithin multilaterale Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur. Auch hier verlagert sich die Entscheidungsmacht über die Rechtswirkung eines Vorbehalts zwar streng genommen ebenfalls auf den Vorbehaltsstaat. Durch die Ausklammerungswirkung oder Änderungswirkung von Einspruch und Annahme reduzieren sich für den Vorbehaltsstaat jedoch nicht nur seine Pflichten gegenüber einem anderen Vertragsstaat, sondern auch seine Rechte, so dass der mit dem Vorbehalt bezweckte einseitige Vorteil ausgeglichen wird. Die Regeln der WVK geben den übrigen Vertragsparteien damit ein Instrument in die Hand, das den Effekt des Vorbehalts wirksam beeinflussen kann, so dass sinnvolle Ergebnisse erzielt werden können. Insofern kann und muss bezüglich dieser Verträge auf eine Reform verzichtet werden. Nach den in dieser Arbeit gewonnenen Ergebnissen muss eine Reform des Vorbehaltsrechts für Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur mehrere Kriterien erfüllen, um die mit einer Anwendung des geltenden Rechts verbundenen Probleme zu lösen. Wichtig ist, dass ein Reformmodell möglichst viele positive Aspekte der einzelnen untersuchten Reformansätze vereint. Zuerst darf es keinen Bezug zum Ziel-und-Zweck-Test mehr haben. Die künstliche und schon nach geltendem Recht überflüssige Trennung zwischen Zulässigkeit und Rechtswirkung eines Vorbehalts muss aufgegeben werden. Wegen der rein multilateralen Struktur der betreffenden Vertragspflichten muss die Reform weiterhin darauf verzichten, den Gedanken der Bilateralisierung weiter zu verfolgen. Vorbehalte zu multilateral wirkenden Pflichten dürfen nur multilateral ihre Wirkung entfalten. Ferner darf als Ergebnis dieser Arbeit nur ein Reformmodell stehen, das Chancen hat, in der Staatenwelt auf Akzeptanz zu stoßen. Ein Modell, das diese nicht hat,

Kap. 5: Vorschlag einer Reform des Vorbehaltsrechts

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wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Akzeptanz in der Staatenwelt dürfte ein Reformmodell vor allem dann erlangen können, wenn es nur solche Änderungen am geltenden Recht vornimmt, die zwingend notwendig sind, um die derzeit bestehenden Probleme zu lösen, und sich ansonsten möglichst eng am geltenden Recht orientiert. Je mehr Grundgedanken des geltenden Rechts im Reformmodell zum Tragen kommen, desto weniger müssen sich Staaten bei seiner Anwendung umgewöhnen, so dass die Akzeptanzchancen wiederum steigen. Weiterhin wird so ein möglichst einheitliches Vorbehaltsrecht insgesamt möglich, da alle Gemeinsamkeiten mit dessen Teilen, die nicht reformbedürftig sind, beibehalten werden können. Die derzeit bestehenden verschiedenen Ergebnisse, die eine Anwendung der WVK-Regeln je nach Vertragstyp erzeugt, würden vereinheitlicht. Aus lediglich formal unity des derzeit geltenden Vorbehaltsrechts würde true unity.1 Ebenso aus Gründen der Akzeptanzchancen ist gleichzeitig eine möglichst enge Anlehnung des Reformmodells an bereits bestehende Staatenpraxis nötig. Staatliche Souveränität darf durch die Reform nur möglichst wenig eingeschränkt werden, insbesondere nur so weit, wie es sich mit Mitteln des geltenden Völkerrechts begründen lässt. Daneben muss eine Reform den Strukturen von Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur Rechnung tragen. Aus der Unvereinbarkeit dieser mit den Strukturen der WVK-Regeln erwächst die Reformbedürftigkeit des geltenden Rechts. Eine Reform, die diese Strukturen nicht beachtet, wäre daher ebenso zum Scheitern verurteilt, wie eine, die keine Chancen auf Akzeptanz in der Staatenwelt hätte. Schließlich müssen die Ergebnisse eines Reformmodells durchsetzbar und effektiv handhabbar sein. Bei der Erarbeitung eines Reformmodells soll der Blick wiederum zunächst auf den Vertrag mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur beziehungsweise auf menschenrechtliche Primärpflichten gelenkt werden. Nach Präsentation des hierfür als wünschenswert erachteten Reformvorschlags folgen Ausführungen zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur beziehungsweise zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten. Dabei soll versucht werden, einen Vorschlag zu präsentieren, der weitestgehend deckungsgleich mit dem hinsichtlich der Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur ist.2

1 Zu diesen beiden Begriffen vgl. den Veröffentlichungsband zum Symposium anlässlich des 90. Jahrestages der Gründung des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel, 4. bis 6. November 2004, insbesondere den Programmpunkt „Unity and Diversity with Regard to the Law of Treaties“ sowie den Beitrag Monika Heymanns, noch nicht erschienen; s. o. Kapitel 1. 2 Hierbei kann auf die einzelnen Punkte nur zusammenfassend bzw. kurz eingegangen werden. Für eine detailliertere Untersuchung vgl. die Ausführungen an den jeweiligen Stellen in dieser Arbeit.

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Kap. 5: Vorschlag einer Reform des Vorbehaltsrechts

Das in verschiedenen Menschenrechtsschutzverträgen normierte Sonderrecht kann in einem Reformmodell für Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur keine Berücksichtigung finden. Entweder stellt es bereits jetzt für den einzelnen Vertrag keine Optimallösung dar, oder es normiert ein System, das auf globaler Ebene keine Akzeptanzchancen hat. Das System der EMRK bietet zwar regional die beste Methode, Vorbehalte rechtlich zu behandeln. Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass der Ansatz, einen Gerichtshof bindend über die Rechtswirkung von Vorbehalten entscheiden zu lassen, auf globaler Ebene von den Staaten akzeptiert würde. Dasselbe gilt für jeden anderen Reformansatz, der eine bindende Entscheidungsgewalt eines internationalen Gerichts vorsieht. Hierin dürften die Staaten einen zu großen Eingriff in ihre Souveränität erblicken, so dass die Chancen für eine dafür erforderliche Rechtsänderung außerordentlich gering wären. Insofern kann ein Reformmodell auch keine bindende materielle Entscheidungsgewalt eines etwaigen Vertragsorgans oder des Depositars vorsehen. Lösungen über den Satz „Pacta sunt servanda.“, eine Anwendung der WVKRegeln unter Außerachtlassung der Reziprozitätselemente, eine Rückkehr zum Ziel-und-Zweck-Test sowie die Einführung reziproker Elemente in Menschenrechtsschutzverträge sind ebenfalls nicht möglich. Der strukturelle Ansatz würde zwar die Struktur menschenrechtlicher Primärpflichten konsequent berücksichtigen, würde daneben aber zu unhaltbaren Ergebnissen, insbesondere letztendlich zur Negierung des internationalen Menschenrechtsschutzes an sich, führen. Darüber hinaus würde er eine äußerst radikale Reform darstellen, die aus Akzeptanzgründen vermieden werden muss. Letzteres gilt auch für die Forderung nach einer kompletten Neuordnung des gesamten Völkervertragsrechts. Als Reformansatz mit den deutlich positivsten Eigenschaften ist der Non-Benefitting-Ansatz zu sehen. Dies gilt zunächst deshalb, weil er auf die Trennung zwischen Zulässigkeit und Rechtswirkung eines Vorbehalts verzichtet. Der Ziel-undZweck-Test wird dadurch obsolet. Staaten brauchen einen Einspruch insofern nicht anhand des materiellen Inhalts des Vorbehalts zu begründen, so dass auch der Vorwurf des Werteimperialismusses gegen einen solchen Einspruch nicht erhoben werden kann.3 Zwar kann der Non-Benefitting-Ansatz in der Form, wie er derzeit von den Staaten praktiziert wird, noch nicht allein zur Reformgrundlage werden.4 Erweitert man ihn jedoch vorsichtig, liefert er eine Möglichkeit für eine Reform des Vorbehaltsrechts, die alle hierfür als nötig definierten Kriterien erfüllt. Er darf dabei nicht so verstanden werden, dass ein Non-Benefitting-Einspruch einen Vorbehalt lediglich im Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und einsprechendem Staat nichtig macht, sondern im Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien als solcher. Er muss einen Vorbehalt insgesamt zu 3 Klabbers, in: Ziemele, Reservations to Human Rights Treaties, S. 178 ff., der daher ebenfalls einen am Vertragsrecht orientierten Lösungsweg fordert, und damit einen, der sich nicht auf moralische Überlegungen bzw. Fragen der Werte bezieht. 4 Vgl. Klabbers, Nordic JIL 69 (2000), S. 190, der den Non-Benefitting-Ansatz aber als erweiterungsfähig bzw. als Beeinflussungsmöglichkeit für das geltende Recht ansieht.

Kap. 5: Vorschlag einer Reform des Vorbehaltsrechts

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einem rechtlichen Nullum machen. Auf diese Weise wird eine Bilateralisierung der vertraglichen Pflichten vermieden und die Rechtswirkung des Vorbehalts allein im multilateralen Verhältnis bindend festgelegt. Daneben entspricht der Non-Benefitting-Ansatz weitestgehend der Struktur menschenrechtlicher Primärpflichten und der Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur und liefert so gerade für die daraus resultierenden Probleme die Lösung. Da die Wirkung eines Einspruchs nach dem Non-Benefitting-Ansatz bei diesen Verträgen von der zwischenstaatlichen Ebene auf die Staat-Individuum-Ebene durchschlägt, bildet ein solcher Einspruch das exakte Pendant zu einem hierzu erklärten Vorbehalt. Damit wird das große Dilemma der WVK beseitigt, dass sie lediglich horizontale, aber keine vertikalen Pflichten erfassen kann. Gegenüber dem strukturellen Ansatz hat der Non-Benefitting-Ansatz darüber hinaus den Vorteil, dass es nicht nötig ist, den jeweiligen Kreis entscheidungsbefugter Personen exakt zu bestimmen.5 Ein Staat, der einen Non-Benefitting-Einspruch erklärt, wird immer aus fremdem Recht tätig.6 Es muss daher nicht genau geklärt werden, um wessen Recht es sich dabei konkret handelt. Vielmehr genügt, dass die Rechte irgendeines Individuums betroffen sind. Die Akzeptanzchancen des Non-Benefitting-Ansatzes sind weiterhin groß. Er entspricht bereits heute der Praxis eines Teils der Staaten und ist auf einem guten Weg, demnächst als (möglicherweise zunächst regionales) Gewohnheitsrecht völkerrechtliche Geltung zu erlangen. Die davon ausgehende Ausstrahlungswirkung auf andere Teile der Staatengemeinschaft ist ungleich höher einzuschätzen als die aller anderen Reformansätze. Seine Auswirkungen auf die staatliche Souveränität sind gering. Sie fallen wesentlich milder aus als die der anderen Reformvorschläge, insbesondere die der Überprüfung eines Vorbehalts durch eine den Staaten übergeordnete Instanz. Damit wird dem offenkundig vorhandenen Willen der Staaten Rechnung getragen, keine solche über sich anerkennen zu müssen. Die mit Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes verbundene Einschränkung der Souveränität des Vorbehaltsstaats lässt sich weiterhin bereits mit Mitteln des heute geltenden Völkerrechts rechtfertigen. Die Souveränität anderer Staaten bleibt vollständig unangetastet. Darüber hinaus entspricht der Non-Benefitting-Ansatz weitgehend dem derzeit geltenden Vorbehaltsrecht. In Bezug auf das bei einem Vorbehalt einzuhaltende Procedere würde er den Staaten keinerlei Umgewöhnung abverlangen. Noch wichtiger ist, dass er den Grundgedanken des geltenden Rechts ernst nimmt und weiterhin beachtet. Eine Reform des Vorbehaltsrechts, die den Non-Benefitting-Ansatz zugrunde legt, würde sich damit nicht nur kaum vom geltenden Recht entfernen. Es würde nur minimal modifiziert und dies in der Weise, dass der ihm zugrunde liegende Gedanke sogar für alle Vertragstypen wirksam gemacht wird. Die WVK sieht vor, dass die anderen Vertragsparteien über die Rechtswirkung eines Vor5 6

Zu diesem Nachteil des strukturellen Ansatzes s. o. Kapitel 4, B. III. 3. c) bb). Vgl. Kapitel 4, B. III. 2. d) bb) (1) sowie Kapitel 4, B. III. 2. d) cc) (2).

21 Behnsen

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Kap. 5: Vorschlag einer Reform des Vorbehaltsrechts

behalts entscheiden sollen. Der Non-Benefitting-Ansatz garantiert dieses für den Bereich der Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur zum ersten Mal, und damit insbesondere für die durch einen Menschenrechtsschutzvertrag definierten Primärpflichten. Die Staaten werden damit erstmals auch in diesen Bereichen des Völkerrechts nicht nur de iure, sondern de facto zu den Wächtern des Vorbehaltsrechts. Das Instrument des Einspruchs wird zum ersten Mal mit echter Rechtswirkung ausgestattet. Dies kann einerseits eine erneute Steigerung der Akzeptanzchancen dieses Ansatzes bedeuten. Andererseits führt es zu einer Vereinheitlichung des Vorbehaltsrechts insgesamt, indem der Grundgedanke und damit das Recht der WVK durch eine lediglich leichte Modifikation der Wirkung eines Einspruchs auch für die hier besprochenen Verträge sinnvoll anwendbar gemacht werden. Schließlich liefert der Non-Benefitting-Ansatz ein Reformmodell dessen Ergebnisse auch praktisch durchsetzbar sind. Die Staaten haben als Wächter über das Vorbehaltsrecht mit Repressalie und Retorsion zwei wirksame Instrumente in der Hand, um ihren Willen gegebenenfalls auch nachdrücklich durchzusetzen. In Einzelfällen ist die Ausübung diplomatischen Schutzes möglich. All dies beweist, dass der Non-Benefitting-Ansatz verglichen mit allen anderen untersuchten Reformvorschlägen die mit Abstand größten Akzeptanzchancen besitzt. Er löst die Probleme, die bei Anwendung des bisher geltenden Rechts auf Vorbehalte zu Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur, vor allem bei Anwendung auf Vorbehalte zu menschenrechtlichen Primärpflichten, entstehen. Er liefert weiterhin praktisch durchsetzbare Ergebnisse. Schließlich garantiert er eine äußerst schonende Reform des Vorbehaltsrechts, die das geltende Recht nur insoweit modifiziert, wie es zwingend notwendig ist. So verhilft er dem geltenden Recht letztendlich zur vollen Entfaltung. Der Non-Benefitting-Ansatz liefert damit die beste Möglichkeit einer Reform des Vorbehaltsrechts zu Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur. Kleinere strukturelle Probleme können angesichts dieser deutlich überwiegenden Vorteile vernachlässigt werden.7 Der Non-Benefitting-Ansatz muss Grundlage einer solchen Reform sein. Ein optimales Reformmodell entsteht, wenn dieser Ansatz noch mit den positiven Aspekten anderer Reformansätze kombiniert wird. Positiv zu bewerten sind eine formelle Überwachungsbefugnis des Depositars sowie eine diesem zustehende Hinweisbefugnis darauf, dass ein Vorbehalt zu einer menschenrechtlichen Primärpflicht beziehungsweise einer Pflicht mit der hier besprochenen Struktur erklärt worden ist. Diese Befugnisse bestehen bereits nach derzeit geltendem Recht. Die Beibehaltung einer formellen Überwachungsbefugnis des Depositars kombiniert mit der wirklichen materiellen Entscheidungsbefugnis der Staaten kann sich daher sogar auf bereits bestehende rechtliche Entwicklungen stützen. Sie ent7 Dies gilt auch deshalb, weil ein struktureller Ansatz, der diese zwar löst, mit weitaus größeren Problemen verbunden ist.

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spricht der Situation, wie sie schon vom Völkerbundsrat bevorzugt wurde.8 Weiterhin positiv zu bewerten ist Öffentlichkeitsarbeit. 9 Diese drei Aspekte lassen sich problemlos in den Non-Benefitting-Ansatz eingliedern und verbessern diesen, indem sie seine Anwendbarkeit weiter effektivieren. Das Vorbehaltsrecht zu Menschenrechtsschutzverträgen (beziehungsweise deren Primärpflichten) sowie zu allen Verträgen mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur sollte daher in Zukunft so aussehen, dass der Depositar nach Erklärung eines Vorbehalts zunächst seine formelle Prüfungskompetenz wahrnimmt und formell unzulässige Vorbehalte nicht registriert. Alle anderen leitet er, gegebenenfalls verbunden mit dem Hinweis, es handele sich um einen Vorbehalt zu einer Primärpflicht, an die Staaten weiter, die dann aufgrund dieses Hinweises in die Lage versetzt werden, effektiv im Sinne des Non-Benefitting-Ansatzes zu handeln. Die Durchsetzung eines möglichen Einspruchs kann, soweit nötig, im Wege der Repressalie oder Retorsion erfolgen und durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit unterstützt werden. Auf diese Weise werden alle positiven Aspekte möglicher Reformansätze kombiniert und zu einem funktionierenden Reformmodell vereint. Auch im Bereich der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und der in Menschenrechtsschutzverträgen enthaltenen Sekundärpflichten muss der Non-Benefitting-Ansatz Grundlage eines Reformmodells sein. Eine Ausnahme besteht lediglich für Vorbehalte zu Normen, die ein Gericht mit Entscheidungskompetenzen über Vertragsstreitigkeiten ausstatten. Solche müssen wegen des Grundsatzes, dass kein Staat gegen seinen Willen Partei eines gerichtlichen oder quasigerichtlichen Verfahrens werden darf, grundsätzlich wirksam sein. Für die Staatenbeschwerde und die Individualbeschwerde ergibt sich die Anwendbarkeit des Non-Benefitting-Ansatzes dagegen bereits aus dem Grunde, da sie als Sekundärpflichten in Menschenrechtsschutzverträgen eine vertikale Pflichtenstruktur aufweisen. Es gilt daher dieselbe Begründung wie für die Anwendbarkeit des NonBenefitting-Ansatzes auf Vorbehalte zu menschenrechtlichen Primärpflichten. Neben dem Non-Benefitting-Ansatz existiert kein überzeugendes Reformmodell für Vorbehalte zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und menschenrechtlichen Sekundärpflichten. Die Ansätze, Sekundär- und Primärpflichten zu verknüpfen oder eine bindende Entscheidungsbefugnis eines den Staaten übergeordneten Organs anzuerkennen, überzeugen ebenso wenig wie eine Lösung über das ius cogens, ein Verbot des Rechtsmissbrauchs oder ein Ausschluss des Vorbehaltsstaats bei Verstoß des Vorbehalts gegen Ziel und Zweck des Vertrags. Im Vergleich hierzu hat der Non-Benefitting-Ansatz das größte Potential und die meisten Vorteile. Auch hier vermeidet er eine Bilateralisierung der vertraglichen Pflichten. Er stellt weiterhin keine Radikallösung dar, sondern setzt nur auf s. o. Kapitel 4, A. III. 5. c) cc). Die ebenfalls positiv zu beurteilende Rechtsprechung des EGMR muss leider aus den geschilderten Gründen außen vor bleiben. 8 9

21*

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Kap. 5: Vorschlag einer Reform des Vorbehaltsrechts

eine Modifikation des geltenden Rechts, soweit diese nötig ist, um es wieder voll anwendbar zu machen. Auf diese Weise garantiert eine Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes auch auf die nunmehr behandelten Verträge nicht nur eine einheitliche Reform des Vorbehaltsrechts. Der Non-Benefitting-Ansatz garantiert ein einheitliches Vorbehaltsrecht insgesamt. Der Gedanke, dass es allein die übrigen Vertragsparteien sein sollen, die über die Rechtswirkung eines Vorbehalts entscheiden, wird für alle multilateralen Verträge konsequent umgesetzt und anwendbar gemacht. Im Bereich der multilateralen Verträge mit bilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur wird er bereits durch das bestehende Recht normiert. Für Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und Verträge mit multilateral begründeter vertikal wirkender Pflichtenstruktur würde er durch die Reform erstmals de facto garantiert. Insofern würde auch für alle in Menschenrechtsschutzverträgen enthaltenen Pflichten ein wirksames Vorbehaltsrecht existent. Diese Vereinheitlichung des Vorbehaltsrechts stellt den größten Vorteil des Non-BenefittingAnsatzes als Gesamtreformmodell dar. Daneben würde auch im Bereich der Verträge mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur und der menschenrechtlichen Sekundärpflichten der Non-Benefitting-Ansatz eine vergleichsweise schonende Auswirkung auf die staatliche Souveränität haben. Dies gilt insbesondere bei einem Vergleich mit der Lösung, die ein den Staaten übergeordnetes Organ mit bindender Entscheidungsbefugnis über die Rechtswirkung von Vorbehalten ausstatten will. Der für den Non-Benefitting-Ansatz im Bereich dieser Verträge derzeit noch bestehende einzige Nachteil ist, dass sich die mit seiner Anwendung verbundene Beeinträchtigung der Souveränität des Vorbehaltsstaats noch nicht mit Mitteln des geltenden Rechts exakt rechtfertigen lässt. Allerdings ist heute schon sicher, dass staatliche Souveränität auch in diesem Bereich nicht mehr vollständig gegeben ist. Daneben besteht die begründete Hoffnung, dass der Non-Benefitting-Ansatz sich auch für solche Vorbehalte zu Gewohnheitsrecht entwickeln kann. In diesem Fall wäre eine Begründung für die Einschränkung der Souveränität des Vorbehaltsstaats gegeben. Diese Hoffnung gründet sich vor allem darauf, dass der Non-Benefitting-Ansatz im Bereich der Vorbehalte zu menschenrechtlichen Primärpflichten bereits heute Staatenpraxis ist. Eine Übertragung auf Sekundärpflichten beziehungsweise multilateral wirkende horizontale Pflichten ist nicht ausgeschlossen, vor allem weil auf diese Weise wiederum ein einheitliches Vorbehaltsrecht entstehen würde. Schließlich gilt auch für Vorbehalte zu menschenrechtlichen Sekundärpflichten und zu Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur, dass NonBenefitting-Einsprüche gegebenenfalls mit Hilfe von Repressalie oder Retorsion durchgesetzt werden können. Auch im nunmehr besprochenen Bereich kann der Non-Benefitting-Ansatz noch dadurch effektiviert werden, dass er um die formelle Überprüfungskompetenz und die entsprechende Hinweisbefugnis des Depositars erweitert wird. Die Durchsetzung solcher Einsprüche kann weiterhin durch Öffentlichkeitsarbeit unterstützt werden.

Kap. 5: Vorschlag einer Reform des Vorbehaltsrechts

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Als Fazit dieser Arbeit ist daher festzuhalten, dass der Non-Benefitting-Ansatz in der Form, dass ein hiernach erklärter Einspruch einen Vorbehalt im Verhältnis zwischen Vorbehaltsstaat und der Gesamtheit der übrigen Vertragsparteien als solcher insgesamt nichtig macht, erweitert um eine formelle Prüfungskompetenz und eine Hinweisbefugnis des Depositars sowie die Möglichkeit, Öffentlichkeitsarbeit zur Unterstützung der Durchsetzung solcher Einsprüche heranzuziehen, das beste Reformmodell für die zu reformierenden Teile des geltenden Vorbehaltsrechts liefert. Die Hinweisbefugnis des Depositars muss sich dabei darauf beziehen, dass ein Vorbehalt zu einer menschenrechtlichen Primär- oder Sekundärpflicht beziehungsweise zu einer Pflicht mit multilateral wirkender horizontaler Struktur erklärt wurde. Damit kann in der Zukunft ein insgesamt einheitliches Vorbehaltsrecht entstehen. Die Frage „Unity or diversity in the law of treaties?“ wird so erstmals konsequent zu Gunsten der unity entschieden. Darüber hinaus stellt der Non-Benefitting-Ansatz auch ein rechtspolitisch akzeptables Reformmodell dar. Er ermöglicht zum ersten Mal wirkungsvolle Reaktionen auf Vorbehalte zu Menschenrechtsschutzverträgen und kann damit einer positiven Entwicklung der Menschenrechte mit allen den damit verbundenen Vorteilen Vorschub leisten. Die Begründung für den Non-Benefitting-Ansatz steht damit auf zwei Füßen: einem im Hinblick auf Struktur und Akzeptanzchancen, aber auch einem politisch-moralischen. 10 Die letzte zu klärende Frage ist, wie eine solche Reform rechtlich verbindlich gemacht werden soll. Hier sind die Staaten in der Wahl des Mittels frei. Empfehlenswert sind jedoch nicht die Schaffung eines Zusatzprotokolls zur WVK oder die vertragliche Festschreibung des Ansatzes. Die Tatsache, dass der Non-BenefittingAnsatz bereits Teil der Staatenpraxis ist, weist vielmehr den Weg zur Erzeugung völkerrechtlicher Geltung über eine Weiterentwicklung des Gewohnheitsrechts.11 Auf diese Weise könnte auch die mit der Anwendung des Non-Benefitting-Ansatzes verbundene Beschränkung der Souveränität des Vorbehaltsstaats im Bereich menschenrechtlicher Sekundärpflichten und Verträgen mit multilateral wirkender horizontaler Pflichtenstruktur endgültig als geltendes Völkerrecht begründet werden. Diese Entwicklung könnte dabei zunächst auf den europäischen Raum beschränkt erfolgen. Das Potential des Non-Benefitting-Ansatzes für eine darüber hinausgehende Ausstrahlungswirkung ist groß genug, haben doch auch schon andere Staaten vorsichtig mit entsprechender Praxis begonnen.12 Bei gutem Funktionieren dieser Entwicklung ist eine Übertragung auf die globale Ebene auch in der Praxis nicht ausgeschlossen. Gerade im Bereich des Menschenrechtsschutzes hat Europa in der Vergangenheit oft eine Vorreiterrolle übernommen.13 10 Der politisch-moralische verstärkt die Begründung des Non-Benefitting-Ansatzes als taugliches Reformmodell. Entscheidend ist aber, dass der Non-Benefitting-Ansatz sogar wertfrei als Reformmodell tauglich ist. 11 Zu den Vorteilen dieser Methode s. o. Kapitel 4, III. 2. d) dd) sowie Kapitel 4, B. III. 6. 12 Vgl. die unter Kapitel 4, C. II. 8. geschilderten Beispiele sowie das Beispiel Mexikos, geschildert unter Kapitel 2, F. II.

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Kap. 5: Vorschlag einer Reform des Vorbehaltsrechts

Eine Reform des Vorbehaltsrechts hin zu einem einheitlichen Recht ist deshalb möglich und würde letztendlich sogar dem Willen des bisher geltenden Rechts entsprechen. Dies mag nicht die von manchen bevorzugte große Reform sein. Eine solche ist jedoch auch nicht nötig. Wo durch eine kleine Modifikation das geltende Recht insgesamt sinnvoll anwendbar gemacht werden kann, sollte es nicht gänzlich beseitigt werden. Mit der hier empfohlenen Reform wird effektiv erstmals ein wirklich einheitliches Vorbehaltsrecht erzeugt, das logisch auf alle Formen multilateraler Verträge angewandt werden kann. Ein Inkrafttreten dieses Ansatzes mag auf den ersten Blick vielleicht etwas unrealistisch erscheinen.14 Dieser Befürchtung lässt sich jedoch ein Satz Michael Bothes entgegenhalten: „Sometimes logic is unrealistic.“15 Angesichts der begründeten Hoffnung auf Akzeptanzchancen für diesen Ansatz in der Staatenwelt kann dieser Satz sogar noch ergänzt werden: „But sometimes reality may already be on its way.“

13 Vgl. Herdegen, Europarecht, § 3, Rn. 19, der dies gerade auch wegen der Effektivität der Durchsetzung von EMRK-Rechten annimmt; zur Entwicklung der Menschenrechtsschutzverträge nach Inkrafttreten der EMRK Grabenwarter, § 2, Rn. 1. 14 Vgl. Lorz, Der Staat 41 (2002), S. 38, der der Ansicht ist, der Non-Benefitting-Ansatz erzeuge zu große Unsicherheit und hätte keinen Effekt. Dieses mag richtig sein, wenn man ihn lediglich so betrachtet, wie er in der Praxis bislang angewandt wird. Weiterentwickelt wie im hier vertretenen Reformansatz liefert er jedoch eine effektive Lösung für die derzeit im Vorbehaltsrecht enthaltenen Probleme. 15 Diskussionsbeitrag während des Symposiums zum Thema „International Law Enforcement“, abgedruckt bei Delbrück, The Future of International Law Enforcement, S. 167.

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Sachwortverzeichnis AfrMRK 80 ff. AMRK 80 ff., 96 f., 102 ff., 135, 149, 237 ff. Antifolterkonvention 44, 71 ff., 146, 153, 155, 195 Atomteststopvertrag 91 f. Belilos-Entscheidung 193, 253 CAT 45 CCPR 50 f., 69, 73, 96 ff., 135 ff., 217, 220, 285 ff. CEDAW 66 f., 149, 153 ff. CERD 150 ff., 209, 233, 250 CRC 68 ff., 149 Depositar 42, 58, 107, 125, 223, 242 ff., 289, 292, 316, 320, 322 ff. Derogation 67, 99, 134 ff. Diplomatischer Schutz 206 f., 226, 322 EGMR 65, 158 ff., 193 ff., 231 f., 236, 253 f., 265, 284 f., 313 EMRK 45, 65 ff., 80 ff., 96 ff., 99 ff., 132, 136 ff., 146, 157 ff., 182, 193, 197, 200, 205, 225, 231, 238 ff., 265, 284 ff., 320 Europarat 75, 84, 137, 160, 182 ff., 197, 231, 263 ff., 272 ff., 304 Frauenrechtskonvention 147 f., 195, 218

66, 72 ff.,

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GATT 87 General Comment No. 24 165, 166, 195 ff., 225 f., 234, 240, 287, 288 ff. Gewohnheitsrecht 20 ff., 29 f., 47 f., 54 ff., 75, 147, 159, 202, 209, 217 ff., 225 ff., 234, 241 ff., 252, 273 ff., 315 ff. Gutachten zur Völkermordkonvention 20, 33 ff., 35, 52, 132, 196, 235, 242, 258

Human Rights Committee 75, 193 ff., 223 ff., 234, 285 ff. Humanitäre Intervention 184 ff., 268 IACHR 236 ff. ILO 25 Individualbeschwerde 104, 194, 200, 205, 227, 229 ff., 236, 281 ff., 285, 289, 307 f., 323 Ius cogens 134, 149, 251, 293 ff., 323 Kennedy v. Trinidad and Tobago-Fall 288 ff. Kinderrechtskonvention 61, 67 ff., 170, 194 ff., 218 Menschenrechtsschutzvertrag 97 ff., 124 ff., 157, 165 ff., 222, 243, 247 f., 296, 310, 322 Non-Benefitting-Ansatz 168 ff., 212, 267, 276, 291, 297 ff., 316 ff. Object and purpose 28 ff. Opposablilty 52 f., 152, 165, 245, 246 Pacta sunt servanda 161 ff., 320 Pan-Amerikanisches Modell 23 ff., 26 f., 32, 35 f., 38, 49, 51 Permissibility 52, 152, 165 f., 245 Persistent objector 277 f. Pflichtenstruktur 79, 86 ff., 170 ff., 187, 193, 203 ff., 247 ff., 267 ff., 317 ff. Rassendiskriminierungskonvention 72, 150 ff., 195 Rechtsmissbrauch 294 ff., 323 Repressalie 201 ff., 226 f., 268 f., 311 ff., 322 ff. Retorsion 201 ff., 226, 268 f., 311 f., 322 ff. Reziprozität 57, 114 ff., 163 ff., 320

Sachwortverzeichnis Schücking, Walther 95 Self-contained régime 64 f., 204 f., 312 f. Souveränität 19, 26, 29, 32, 51, 84, 117 f., 130, 165, 178, 197, 201, 208, 211, 214, 225 ff., 233, 236, 241, 250, 255, 273 ff., 282, 299, 301, 303 ff., 314 f., 319 ff. Staatenbeschwerde 81, 104, 195, 200, 281, 307, 312, 323 Treaty integrity 30, 32, 35, 39, 56, 79, 146 ff., 151, 198, 210, 249 Treaty universality 30, 32, 35, 39, 56, 151, 210

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Diplomatenrechtskonvention 87,

Wiener Konsularrechtskonvention 87, 282, 297, 298 Wiener Schlussakte 19 Wiener Vertragsrechtskonvention 143 ff.

41 ff.,