Das verlorene Paradies: Europa 1517-1648 3806236615, 9783806236613

Ob Bauer oder Prinz, niemand blieb unberührt von den gesellschaftlichen Umwälzungen des 16. Jahrhunderts. Martin Luthers

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Das verlorene Paradies: Europa 1517-1648
 3806236615, 9783806236613

Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Einleitung
1. Das Ende des westlichen Christentums
Vom „silbernen Zeitalter“ zum „eisernen Jahrhundert“
2. Ressource Mensch
3. Stadt und Land
4. Schätze und Geschäfte
5. Adlige Beschäftigungen
Der Griff nach der Welt
6. Europa in der Welt
7. Naturbeobachtung
8. Kommunikationen
Die Heimsuchung des Christentums
9. Politik und Reich im Zeitalter Karls V.
10. Schisma
11. Reaktion, Repression, Reform
Christliche Staaten im Widerstreit
12. Konflikte im Namen Gottes
13. Leben mit religiösen Spaltungen
14. Die Kirchen und die Welt
15. Die Kreuzzugsidee verblasst
Christliche Staaten in Auflösung
16. Das Geschäft der Staaten
17. Staaten in Konfrontation
18. Europa im Krieg
19. Zeit der Wirren in Ost und West
Schlussbemerkung: Europas Paroxysmus
Anhang
Danksagung
Karten
Lektürehinweise
Abbildungsnachweise
Verzeichnis der Stammbäume
Register
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Mark Greengrass

Das verlorene Paradies Europa 1517-1648

Aus dem Englischen von Michael Haupt

THEISS

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Für die englischsprachige Originalausgabe: Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel "Christendom Destroyed. Europe 1517-1648" bei Penguin Books Ltd, London; Copyright © 2014 by Mark Greengrass (the author has asserted his moral rights) ; all rights reserved Für die deutschsprachige Ausgabe: Der Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2018 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Übersetzung: Michael Haupt, Hanstedt Fachlektorat Daphne Schadewaldt, Wiesbaden Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Einbandabbildung: "Die Offenbarung"; Holzschnitt aus der Bibel von Hans Schönsperger, 1 523 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt/M. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978 -3-8062-3661-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF) : 978-3-8062-3756-6 eBook (epub) : 978 -3-8062-3757-3

Für Emily

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1 . Das Ende des westlichen Christentums

14

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

2. 3. 4. 5.

Ressource Mensch Stadt und Land Schätze und Geschäfte Adlige Beschäftigungen

54 80 1 17 140

Der Griff nach der Welt

6. Europa in der Welt 7. Naturbeobachtung 8. Kommunikationen

168 ...................................... 203 .. 250

Die Heimsuchung des Christentums 9.

Politik und Reich im Zeitalter Karls V.

10. Schisma 1 1 . Reaktion, Repression, Reform

.. 282 .. 333 .. 380

Christliche Staaten im Widerstreit

12. 13. 14. 15.

Konflikte im Namen Gottes .................................... 420 Leben mit religiösen Spaltungen ................................ 471 Die Kirchen und die Welt .. 500 .. 535 Die Kreuzzugsidee verblasst

7

Inhalt

Christliche Staaten in Auflösung

Das Geschäft der Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 4 17. Staaten in Konfrontation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608 18. Europa im Krieg 650 694 1 9. Zeit der Wirren in Ost und West 16 .

Schlussbemerkung: Europas Paroxysmus

727

Anhang

Danksagung Karten ........... . Lektürehinweise Abbildungsnachweise Verzeichnis der Stammbäume Register ....................

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. . . 736 738 746 74 9 752 753

Einleitun g

D

er Holländer David de Vries war stolz darauf, die Welt gesehen zu haben. 1655 veröffentlichte er in seiner Muttersprache den Bericht über seine sechs Reisen, die ihn in die Welt des M ittelmeers, in den Fernen O sten, nach Neufundland, in die Karibik und nach Süd- und Nordamerika geführt hatten. De Vries war als Sohn holländischer Eltern 1 593 in La Rochelle geboren worden. Er ließ sich zum A rtilleriemeister ausbilden, beherrschte mehrere europäische Sprachen, war ein erfahrener Navigator, ein versierter Geschäftsmann, ein scharf beobachtender Autodidakt. Er trug keine Schuld daran, dass seine kolonialen Unternehmungen - am Delaware (damals South River; 1633), am Oyapock in Guyana (1634) und auf Staten Island (1638-1643) - sämtlich fehlschlugen. Von Sponsoren zugesagte Gelder blie­ ben aus, der Umgang mit der indigenen Bevölkerung war schwierig, kon­ kurrierende Unternehmen erwiesen sich als feindselig. De Vries wusste, wem er Loyalität schuldete. Seine Heimat waren die Niederlande, die Stadt Hoorn seine patria. Wäre es ihm gelungen, in Nieuw Nederland, das er häu­ fig erwähnte, eine koloniale patroonschap - Herrschaft über Landeigen­ tum - zu errichten, hätte er sie nach dem Modell der Güter des holländi­ schen Landadels gestaltet. Er war ein Calvinist, der sich am B au der ersten protestantischen Kirche auf Staten Island beteiligt hatte. De Vries begriff Europa als Teil der großen weiten Welt. Auf der Fahrt nach St. John's in Neufundland bewunderte er die riesigen Eisberge, und nach der Ankunft im Jahr 1620 berichtete er von den Seglern aus Holland, dem Baskenland, Portugal und England, die in den Gewässern dort Fischfang und Handel trieben. Da er seinen Blick bereits vorab durch die Lektüre anderer Reise­ berichte geschärft hatte, konnte er sich den Bräuchen der in Neufundland lebenden Indigenen anbequemen. Als er 1640 den Gouverneur der neuen englischen Kolonien am James River besuchte, wurde er mit einem Glas venezianischen Weins empfangen und nahm Platz neben einem englischen Kolonisten, der ebenfalls Ende der 1620er-Jahre die O stindischen Inseln 9

Einleitung

befahren hatte. De Vries berichtet von der angenehmen Unterhaltung mit dem Engländer, der bemerkte, Berge könnten einander nicht begegnen, wohl aber Männer, die auszögen, die Welt zu sehen. Wie an ihrer Kleidung, ihren Essgewohnheiten und ihrem Betragen kennt­ lich, waren es Europäer, die sich der Tatsache, auf einem anderen Kontinent zu sein, bewusst waren, da sie (so de Vries) "die vier Ecken der Welt angesteuert hatten". An der Laufbahn des Holländers zeigten sich die weiter gewordenen Horizonte seiner Generation, die dadurch sich bietenden Möglichkeiten und Herausforderungen, wurde eine außergewöhnliche Vielfalt von Kontakten und Kommunikationswegen sichtbar, die alte Loyalitäten und Zugehörigkeits­ gefühle infrage stellte. Diese neue Auffassung von Europa als einer im Rah­ men der weiteren Welt zu begreifenden geographischen Einheit wäre ein Jahr­ hundert zuvor noch nicht möglich gewesen. Im 16. und frühen 17. Jahrhundert verlor die ältere Vorstellung an Strahlkraft, die unter "Europa" die "Christen­ heit'' verstand. Dieser Niedergang und die mit ihm einhergehenden tief grei­ fenden Wandlungsprozesse sind Gegenstand dieses Buches. "Christenheit" beschwört, wie die Sage von Camelot, eine imaginierte Ver­ gangenheit herauf. Im Mittelalter umriss der lateinische Ausdruck für "Chris­ tenheit" christianitas oder corpus Christianorum etwas anderes, nämlich eine imaginierte Gegenwart und Zukunft für eine Welt, die durch die christ­ lichen Glaubensinhalte und Bestrebungen vereint war. Diese Glaubens­ gemeinschaft trat hervor, während das Römische Reich im Westen seinem Untergang entgegenstrebte. Das Christentum, das in dessen Überresten Wur­ zeln schlug, befand sich anfänglich am westlichen Rand einer viel größeren christlichen Welt, deren Kerngebiet weiter östlich lag, dort, wo der Vordere Orient an das weiterhin aktive Oströmische (Byzantinische) Reich grenzte. Allmählich jedoch, und begünstigt durch wechselseitige Entfremdungs­ prozesse, trennten sich die Wege des westlichen und des östlichen Christen­ tums, bis 1054 der Papst in Rom und der Patriarch in Konstantinopel einander gegenseitig exkommunizierten. Seit diesem tiefen Einschnitt bildeten die römischen Christen die westliche Christenheit, während sich in Griechenland, auf dem Balkan und in Russland das orthodoxe Christentum ausbreitete. Im ersten Jahrtausend der Existenz einer westlichen Christenheit entwi­ ckelte sich das Christentum ohne genaue Auffassung davon, wo sein Zentrum lag, weshalb es auch keine Vorstellung von seiner Peripherie besaß. Es exis­ tierte (um die Ausdrucksweise eines ausgezeichneten Mediävisten zu benut­ zen) als eine Reihe von "Mikro- Christentümern", die in ihrer Gesamtheit eine Art "geodätischer Kuppel" aus in sich geschlossenen Segmenten bildeten. Der Handel mit "symbolischen Gütern" (Reliquien, aber auch Menschen wie etwa -

10

-

Einleitung

Missionaren und Heiligen) trug das Charisma heiliger Macht von Ort zu Ort ­ und zugleich damit die Werte und Bestrebungen der Glaubensgemeinschaft von einem Segment zum nächsten. Im Hochmittelalter dann, nach dem Bruch mit dem Osten, entwickelte das westliche Christentum ein genaueres Gespür für das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, indem sich zwei geographi­ sche und ideologische Einheiten deutlich herauskristallisierten: das Papsttum und das Heilige Römische Reich. Zuversichtlich baute man auf den Universa­ lismus, während die jeweiligen Ansprüche im Wettstreit zwischen Theologen, Rechtsgelehrten, politischen Theoretikern und Intellektuellen formuliert wur­ den. Unterstützt wurde dieses Ideal durch die wirtschaftlichen Wandlungs­ prozesse jener Epoche: das beeindruckende Wachstum der Märkte und den interregionalen wie internationalen Handel, sowie durch die Heiratspolitik und die diplomatischen Bündnisse der Aristokratie. "Christentum" war die Art und Weise, in der die gebildeten Zeitgenossen im 1 2 . und 13. Jahrhundert die Welt der römischen Christen im westlichen Europa verstanden. Für diese Glaubensgemeinschaft war die römisch-katholische Kirche die tragende Säule. Die geistigen Eliten des westlichen Christentums hatten sich um eine internationale Sprache (das Lateinische im Gegensatz zum Griechi­ schen), ein gemeinsames Curriculum (das sich in Sachen Philosophie und Logik an den Werken des Aristoteles orientierte) und eine bestimmte Art des Lehrens und Lernens (die Scholastik) gebildet. Wie Macht in theokratischer und bürokratischer Hinsicht zu begründen, auszuüben und zu legitimieren sei, war päpstlichen Gesandten und Ratgebern von Fürsten gleichermaßen vertraut. Die Kreuzzüge wurden zum ehrgeizigsten Projekt des westlichen Christentums. Vor allem aber fand die lateinische Christenheit ihren Aus­ druck in tradierten und regelmäßig praktizierten Glaubensriten, die sich jener bereits existierenden vieldimensionalen, geheiligten Landschaft aus Reliquien­ schreinen, Pilgerstätten, Heiligenkulten und Festlichkeiten einschrieben. Die Taufe war ein universeller Initiationsritus. Die nicht christlich Getauften Juden und Moslems - lebten im Hochmittelalter in beträchtlicher Anzahl an den Rändern des westlichen Christentums und wurden genau deshalb tole­ riert, weil sie nicht der Glaubensgemeinschaft angehörten. Doch als christliche Königreiche die Grenzen des Christentums in Spanien und Süditalien weiter nach Süden ausdehnten, wurden sie zunehmend als bedrohliche Vertreter jener Mächte angesehen, die nicht zum Christentum gehörten. Das Christentum fühlte sich schnell bedroht, doch waren seine gefährlichs­ ten Feinde keineswegs die Nichtchristen. Wer an den Schalthebeln der Macht saß, hatte vor allem von ganz anderer und sehr heterogener Seite Unbill zu erwarten, nämlich seitens all derjenigen, die besondere, lokale Loyalitäten 11

Einleitung

hegten, weswegen sie mit den übergreifenden Bestrebungen des Christentums wenig oder nichts anfangen konnten. Das westliche Europa war übersät mit Tausenden von Dörfern und Kirchspielen, deren Einwohner häufig genug ihren adligen Herren auf eine Weise verpflichtet waren, die sie zu Leibeigenen machte. Den universellen Ordnungsprinzipien von Kirche und Heiligem Römischem Reich (jenem mitteleuropäischen Herrschaftsgebilde, dessen Name seinen Anspruch ausdrückte, Nachfolger des Römischen Reichs und zugleich die zeitgemäße Form universeller Herrschaft zu sein) standen solche Bindungen entgegen. Neben den Landgemeinden gab es Städte, die vom Wirt­ schaftswandel des Hochmittelalters profitierten. Allerorten wurden Büro­ kratie und kosmopolitischer Ehrgeiz der international agierenden Ordnungs­ mächte mit Misstrauen betrachtet. Je stärker das Bewusstsein von Zentrum und Peripherie im Christentum wuchs, desto mehr Menschen ärgerten sich über die Zeit, die sie benötigten, um von höheren Stellen Genehmigungen für dieses oder jenes einzuholen. Viele waren es leid, die universelle Kirche durch Abgaben finanzieren zu müssen, und misstrauten dem aufgeblähten, überna­ tionalen Projekt namens Kreuzzug. Ab dem 12. Jahrhundert wuchsen sich diese Gefühle zu Streitsucht oder gar Ketzerturn aus, wobei Letzteres durch sein epidemisches Auftreten ein gravierendes Problem darstellte. Dies wurde gerade von denen, die sich den christlichen Idealen am stärksten verpflichtet fühlten, als Bedrohung empfunden. Das Vertrauen in diese Ideale schwand dahin, als die europäische Wirt­ schaft infolge der Pest in die Krise geriet. Leibeigenschaft und Pflichten gegen­ über den Herren wurden von den Abhängigen unter Verweis auf das, was sie ihr gutes, altes Recht nannten, infrage gestellt. Zwar bestanden die christ­ lichen Glaubensformen und -praktiken fort, und die heiligen Wege und Stät­ ten erblühten stärker als je zuvor, doch nahm die lokale Glaubwürdigkeit des Christentums in dem Maß ab, in dem es zum Gegenstand konkurrierender Ansprüche darauf wurde, die traditionelle Gesellschaftsordnung zu repräsen­ tieren. Auch das "Abendländische Schisma" (1 378-1417) war der Idee univer­ seller Loyalität abträglich. Da es nun zwei Päpste gab, teilten sich die Christen in solche, die Rom die Treue hielten, und andere, die das Avignoneser Papst­ tum unterstützten, wobei der Papst in Südfrankreich von seinen Feinden als Marionette an den Fäden einer spalterischen französischen Monarchie hinge­ stellt wurde. Der Streit endete mit einem Kompromiss, doch war die morali­ sche Autorität des Papsttums dauerhaft beschädigt. Nunmehr traten auch die Gefahren eines Bündnisses zwischen unzufriedenen lokalen Kräften und den Vertretern einer neuen säkularen, jedoch nicht ans Reich gebundenen Macht zutage, denn der Kompromiss war mittels der Autorität eines ökumenischen 12

Einleitung

Konzils zustande gekommen. Ein Konzil nährte die - für Theokraten und Bürokraten besorgniserregende - Auffassung, eine solche Versammlung stehe über dem Papst. Dergleichen war schon zwei Jahrhunderte früher erörtert worden, wurde jetzt aber mit größerem Nachdruck vorgetragen. Die Idee war ihrem Wesen nach radikal, obschon die meisten "Konziliaristen" gemäßigt waren und das Konzil nur als Möglichkeit sahen, auf angenehme Weise aus einer Zwangslage herauszukommen. Keineswegs begriffen sie es als Mechanis­ mus zur Zerstörung der päpstlichen Universalmonarchie und schon gar nicht als Möglichkeit, auf unorthodoxe Weise Lehrautorität zu erlangen. Genau das aber erreichte die Reformation als implizite Erbin der Konzilsbewegung. Somit lautete die zentrale Frage in der europäischen Geschichte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, was mit dem Christentum geschehen würde - mit den Institutionen, die sein Gravitationszentrum bildeten und, mehr noch, mit der Glaubensgemeinschaft, die sein Fundament darstellte. Was sollte, wurde das Christentum zerstört, an seine Stelle treten? Es setzte ein Prozess ein, in dem das Christentum zunehmend hinter Europa (hier verstanden als geogra­ phischer Begriff in einem Verhältnis der Distanz zu anderen Weltteilen) ver­ schwand. "Christentum" und "Europa" unterschieden sich grundlegend: Ers­ teres erhob Anspruch auf die Treue all derer, die mit der Taufe Angehörige der Glaubensgemeinschaft geworden waren und ihr Verhältnis zur äußeren Welt dementsprechend gestalteten. Europa dagegen beanspruchte keine Einheit, die über die von ihm repräsentierte geographische Landmasse und ein zuneh­ mendes Bewusstsein moralischer und zivilisatorischer Überlegenheit der hier beheimateten Staaten und Völker hinausgegangen wäre. Das westliche Chris­ tentum war ein großes Projekt, das auf die europäische Einheit zielte und ein Jahrtausend brauchte, um zur Reife zu gelangen - während seine Zerstörung sich ebenso schnell wie vollständig vollzog. Nach kaum mehr als einem Jahr­ hundert war von diesem Projekt nur noch der Traum übrig geblieben. Gewal­ tige Kräfte vollendeten das Zerstörungswerk und veränderten Europa von Grund auf. Ihr Zusammenspiel steht im Mittelpunkt des ersten Kapitels.

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1 . Das Ende des westlichen

Christentums

Aschen dem katholischen Spanien und der gerade im Entstehen begriffe­ ls Thomas Cockson 1609 nach dem umstrittenen Waffenstillstand zwi­

nen Republik Holland seinen Kupferstich mit dem Titel The Revells of Chris­ tendome (Die Vergnügungen des Christentums) veröffentlichte, bediente er sich bereits bekannter satirischer Darstellungsweisen, um das Christentum zu verspotten. Ganz oben am Tisch steht Papst Paul V., während zu seiner Lin­ ken, dem Betrachter zugewandt, drei europäische Könige sitzen (Heinrich IV. von Frankreich, Jakob I. von England und Christian IV. von Dänemark). Ihnen gegenüber haben sich drei katholische Mönche niedergelassen, die mit den Königen würfeln, Backgammon und Karten spielen - um die Zukunft Europas. Ein Hund uriniert auf den Fuß eines Mönchs. Was der Stich sagen will, ist deutlich: Das Schicksal des Christentums liegt in dieser Runde nie­ mandem am Herzen, es ist zu einem Witz geworden. Viele der Elemente, die zum Ende des westlichen Christentums beitrugen, waren in Europa schon vor 1500 wirksam, doch erst, als sie vollzählig waren und interagierten, war das Schicksal des Christentums beschlossene Sache.

Der Einfluss der Renaissance Schon lange vor 1517 hatte die Wiederentdeckung klassischer Texte und Ideen in den städtischen Kulturen Norditaliens, Flanderns und des Rhein­ lands begonnen. Bis dahin war die Scholastik die allgemein akzeptierte Ver­ fahrensweise gewesen, um die philosophischen Probleme der europäischen Eliten anzugehen, und mit der Scholastik war die Vorherrschaft der aristo ­ telischen Philosophie einhergegangen. Das wurde nun infrage gestellt. Die humanistischen Gelehrten sahen es als ihre Aufgabe an, die Texte der klassi14

l . Das Ende des westlichen Christentums

sehen Antike unverfälscht wiederherzustellen und mit den Gedanken ihrer Verfasser in einen kritisch prüfenden Dialog zu treten. Die humanistisch ins­ pirierten Lehrer betonten die Bedeutung der persuasio (Überzeugung) : Gelernt werden sollte das geordnete Vortragen von Argumenten, um andere Menschen für die eigenen Ansichten zu gewinnen. Ihre Schüler lernten mit den lateinischen Texten (überwiegend von Cicero) eine neue Sprache und erfuhren etwas über die angemessene Lenkung eines Gemeinwesens. Das führte zu veränderten Vorstellungen über die Beziehung zwischen Herr­ schern und Beherrschten, über das Politische und das Gesellschaftliche und zu einem anderen Universalismus - der "Öffentlichkeit" (lateinisch publi­ cum) - als dem tradierten des "Christentums". "Öffentlichkeit" war die größte begrifflich fassbare universitas, in den Augen des römischen Rechts eine fiktive Person, unterschieden von denen, die sie erschufen, eine Gesamtheit, die eine lebende Person nachzuahmen vermochte, Rechte und Pflichten sich aneignen und andere damit beauftra­ gen konnte, sie in ihrem Namen wahrzunehmen. Die universitas einer Repu­ blik (einer "öffentlichen Sache") verkörperte den Willen ihrer Mitglieder. Es konnte eine Vielzahl von Republiken geben, wobei einige virtueller waren als andere. So nutzte etwa die "Gelehrtenrepublik" den Wandel der Kommuni­ kationsmöglichkeiten und wurde von den humanistischen Gelehrten jener Epo che lebhaft gefördert. Ebenso aber spiegelte sich in ihr die Geschichte von Europas "geistigem Kapital", das zunehmend aus den Händen einer klei­ nen geistlichen und höfisch-bürokratischen Elite in einen so vielschichtigen wie kosmopolitischen Markt von Produzenten und Konsumenten überging, auf dem Verleger, Drucker, Graphiker, Bibliothekare und Leser unterschied­ licher P rovenienz ihre jeweiligen I nteressen vertraten. Wie dieser Markt funktionierte, hing von den lokalen Gegebenheiten ab, was erklärt, warum die intellektuelle wie die soziale "Geometrie" der Renaissance so verschieden ausfiel. Ihr Einfluss wechselte von Region zu Region, wobei die unterschied­ lichen Konturen durch religiöse Spaltungen noch verstärkt wurden. Zu ihren wichtigen Komponenten zählten die Fürstenhöfe, und die Renaissance wan­ delte sich bereitwillig zu einer höfischen Kultur, indem sie sich den am Hof herrschenden Bedürfnissen und Bestrebungen anpasste. Wie die großen wis­ senschaftlichen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts besaß auch die Renais­ sance die Macht, zu verwandeln und zu zerstören. Sie konnte kirchliche und p olitische Obrigkeiten zementieren oder untergraben. Sie konnte grund­ legende Vorstellungen über Gottes Vorsehung in der Welt infrage stellen oder bekräftigen. Ihre Pädagogiken zeigten auf ganz neue Weise, wie man lernen konnte, sich selbst, die Welt und ihren Schöpfer zu begreifen. 15

1 . Das Ende des westlichen Christentums

Neben anderen Dingen entdeckten die humanistischen Gelehrten, dass die antike Philosophie ihre eigene Geschichte hatte. Um Aristoteles zu verstehen, musste man ihn in den Zusammenhang mit all jenen Denkern stellen, mit denen er sich auseinandersetzte. Dadurch war er keine einzigartige Autorität mehr, die allein Wahrheit und Legitimität verlieh. Dieser Prozess hatte damit begonnen, dass man den griechischen Text der Schrift Leben und Lehre der Philosophen von Diogenes Laertius übersetzte, veröffentlichte und populari­ sierte. Nun verfügte man über eine Genealogie für die miteinander wettei­ fernden "Sekten" der griechischen Philosophen und konnte Ansichten, die im Mittelalter randständig geblieben waren, Glanz verleihen. Die Lehrer brach­ ten ihren Studenten den Aristoteles nun in dieser vielschichtigeren Traditi­ onslinie nahe und nahmen die Argumente und Debatten der griechischen Welt ernst. Einige Philosophen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts orientier­ ten sich an den antiken Schulen der Epikureer, Stoiker, Platoniker und pyr­ rhonischen Skeptiker. So verlor die antike Philosophie ihre bisherige Rolle als Magd der christlichen Theologie und als Instrument zur Konstruktion einer universellen Ordnung, was die Philosophen freilich nicht daran hinderte, einem grundlegenden Ensemble von Wahrheiten nachzuforschen. Einige meinten, man könne, wie in jeder Genealogie, die Linie zu einer Urahnen­ schaft zurückverfolgen, von der sich auf alle Nachfolger ewig gültige Spuren vererben würden. Ein Beispiel dafür ist Francesco Patrizi da Cherso, der in seiner Nova de universis philosophia (Neue Universalphilosophie, 1 591) die Schriften des Aristoteles über Platon zu Solon und Orpheus zurückverfolgte und noch weiter zum biblischen Bericht über die Erschaffung der Welt und zum Mystizismus der Ägypter, wie er in den Werken des Hermes Trismegis­ tos gedeutet wird. Die hermetischen Schriften, die gut 1 100 Jahre vor Platon entstanden sein sollen, enthielten, so behauptete Patrizi, mehr Weisheit als die "gesamte Philosophie des Aristoteles". Andere zogen es vor, die Gemeinsam­ keiten zwischen Platon und Aristoteles zu betonen, die ihrer Ansicht nach trotz der unübersehbaren Differenzen auf eine dem antiken Denken zugrunde liegende "Harmonie" verwiesen. Gerade als dieser Synkretismus im Begriff war, sich zu konsolidieren, erho­ ben sich die radikal skeptischen Stimmen derer, die den griechischen Philoso­ phen Sextus Empiricus gelesen hatten. Sextus Empiricus hatte die Auseinan­ dersetzungen zwischen seinen Kollegen dazu benutzt, um nicht nur des Aristoteles Bemühungen, Wahrheit zu erlangen, grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Folgte man seiner Argumentation (und einige bedeutende Denker, wie etwa Michel de Montaigne, taten es), so steckte die klassische Philosophie voller Irrtümer. Gianfrancesco Pico della Mirandola, der Martin Luther der 16

l . Das Ende des westlichen Christentums

Philosophie des 16. Jahrhunderts, schrieb in seinem 1520 veröffentlichten Exa­ men vanitatis doctrinae gentium (Untersuchung über die Nichtigkeit der heid­ nischen Lehren): "Die gesamte Lehre der Heiden steckt voller Aberglauben, Ungewissheit und Irrtum." Erst einem Genie wie Rene Descartes gelang es, diesen Pyrrhonismus zum Fundament einer Universalphilosophie zu machen, die eine neue, auf Experimenten beruhende Physik zu stützen in der Lage war. Doch konnte mittlerweile niemand mehr ernsthaft die Auffassung vertreten, das Christentum sei auf der Grundlage radikalen Zweifels bunt zusammen­ gewürfelt worden. Humanistisch gebildete Geographen, Ärzte und Naturforscher waren glei­ chermaßen von der Wichtigkeit direkter praktischer Erfahrung und vom Wert des Experimentierens überzeugt. Dadurch veränderte sich das Bild, das man sich von der Welt der Natur machte. Europas geographische Entdeckungen jenseits seiner Grenzen trugen dazu bei, die natürliche Welt für ein Füllhorn reicher und seltener Phänomene, für ein Schatzhaus voller Geheimnisse zu halten. Diese Welt sollte von jenen entschlüsselt werden, die von dem dafür notwendigen Code wussten. Astrologen, Alchemisten, Kosmographen, Natur­ magier und unorthodox praktizierende Mediziner wetteiferten miteinander um Erklärungen dafür, wie jene ungeheure Vielfalt der Natur auf geordnete, die Materie betreffende Grundsätze zurückgeführt werden könne. Zumindest aber wollte man zeigen, dass diese Vielfalt der empirischen Forschung zugäng­ lich sei. Einige der Naturkundler suchten solche Prinzipien in übernatürlichen Mächten - in einer Zauberkraft, die der Natur innewohnte wie ein im Erd­ geschehen verborgener Geist, oder die durch Wärme und Bewegung der Lüfte übertragen wurde. Den Philosophen gleich kritisierten diese Naturkundler die aristotelischen Auffassungen; hauptsächlich hielten sie seine Vorstellungen von Materie für zu abstrakt. Ihr Wissen und ihre Einsichten umhüllten sie mit einer Aura des Geheimnisvollen, um sie vor ihren zahlreichen Kritikern zu schützen und so ihren Ruf zu vermehren, wonach sie über außerordentliche Weisheit und Macht verfügten. Doch gab es auch die entgegengesetzte Auffas­ sung, die besagte, dass menschliches Wissen begrenzt sei, weshalb es einem einzelnen Menschen nicht gelingen könne, in die Geheimnisse der Natur ein­ zudringen. Das müsse vielmehr Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung vieler Forscher sein, die die praktischen Aspekte des Wissens ebenso wie die unterschiedlichen Möglichkeiten der Interpretation berücksichtigten. Nirgendwo machte sich der Einfluss solcher Veränderungen auf die Idee von der Christenheit stärker bemerkbar als in der Kosmologie. Das heliozent­ rische Universum des Kopernikus verdankte sich in nicht geringem Maß der Wiederbelebung alternativer Kosmologien der klassischen Antike, die den auf 17

1 . Das Ende des westlichen Christentums

aristotelischen Anschauungen basierenden Konsens infrage stellten. War aber die Erde nichts weiter als ein um die Sonne sich drehender Planet wie andere auch, wurde das Universum im Vergleich zur Erde unfassbar groß - "uner­ messlich", wie Kopernikus einräumte. Diese Unermesslichkeit rührte daher, dass man zwischen der Orbitalbahn des Saturn und der Sphäre der Sterne eine enorme Entfernung anzunehmen gezwungen war. Gehörte die Erde zu den Planeten, waren die Prozesse des Entstehens und Vergehens, die Aristoteles anhand von Vorgängen in der Natur und auf der Erde erklärt hatte, nunmehr plausibler durch den Einfluss der Sonne oder die Bewegung und Stellung der Erde im Hinblick auf die Sonne und die anderen Planeten zu erklären. Am besten aufgehoben hatte sich das Christentum inmitten eines konzentrischen und anthropomorphen Universums gefühlt, doch der Heliozentrismus hatte es nun aus dem Zentrum der Schöpfung entfernt. Natürlich gab es noch die Sittenwächter des Christentums, Papsttum und Inquisition. Beide wachten scharf über Versuche, das heliozentrische Weltbild zu propagieren. Verdächtigt wurden, in unterschiedlichem Maß, etwa der für seine brillante Eigenwerbung bekannte Arzt und Alchemist Paracelsus (Theo­ phrastus Bombastus von Hohenheim), der Magier und Astrologe John Dee, der Theologe und Kosmograph Giordano Bruno sowie die Naturphilosophen Francesco Patrizi und Galileo Galilei. Im Februar 1600 verbrannte die Kirche Giordano Bruno auf einem Scheiterhaufen in Rom. Ein Jahr später wurde der Dominikaner Tommaso Campanella im Castel Nuovo in Neapel 40 Stunden lang brutal gefoltert, weil er an einem Volksaufstand teilgenommen hatte. Ein Vierteljahrhundert verbrachte er im Castel Nuovo als Gefangener, wobei er gegen die "vergifteten Wurzeln" der heidnischen aristotelischen Philosophie wütete. Er träumte von der radikalen Transformation einer Welt, der er nicht mehr wirklich angehörte. Das Problem für radikale Denker in dieser Zeit bestand darin, dass sowohl die augenblicklichen Umstände wie auch die Zufäl­ ligkeit ihres Aufenthaltsorts darüber entschieden, ob und inwiefern ihre Ideen als Herausforderung verstanden wurden. Dergestalt gab es kein "Ende" der Renaissance, sondern nur eine fortwährende Neuverhandlung ihrer Möglich­ keiten, alte Gewissheiten im Rahmen neuer Zusammenhänge zu zerstören.

Die protestantische Reformation Im Zentrum der Bewegung für einen religiösen Wandel stand die protestanti­ sche Reformation, ein Bruch im westlichen Christentum, der so spektakulär und dauerhaft war wie die Spaltung zwischen West- und Ostkirche im 18

l . Das Ende des westlichen Christentums

1 1 . Jahrhundert. Kompliziert wurde die Angelegenheit dadurch, dass sich der schmerzliche Bruch gewaltsam vollzog. Martin Luther war der Überzeugung, das Christentum müsse wegen der Flegel und Huren in Rom zugrunde gehen. Im Mai 1520 veröffentlichte der Leipziger Franziskaner Augustin von Alveld eine Flugschrift in deutscher Sprache, um die Behauptung zu verteidigen, der Papst genieße durch göttliches Recht die Oberhoheit über die Christenheit. Luther wetterte gegen den "Alvelder Esel" mit der Bemerkung, dass der Papst und seine "Romanisten" das Papsttum zur "roten Hure zu Babylon" gemacht hätten und der päpstliche Antichrist die Schuld am Zustand des Christentums trage. Zu dieser Zeit war Luther durch das Studium von Bibel und Kirchen­ geschichte zu der streitbaren Auffassung gelangt, er wisse von Gottes Wahr­ heit und wie sie zu beweisen sei. "Allein durch den Glauben" (sola fide) gelange man dorthin, und "allein durch die Schrift" (sola scriptura) werde die Wahr­ heit erwiesen. Die Autorität des Papstes aber war menschlichen, nicht gött­ lichen Ursprungs, und die letztendliche Autorität kam nicht den Päpsten, den Konzilen oder den Kirchenvätern zu, sondern allein der Bibel. Nur auf diese Weise, so Luther, könne das Christentum zu seinen Wurzeln - dem Evange­ lium Christi - zurückkehren. Die Bibel verzeichnete Gottes Versprechen an die Menschheit seit Anbeginn der Welt. Dieses Versprechen wurde im Alten Testament erneuert und schließlich in Christus erfüllt. Nichts konnte in wort­ wörtlicherem Sinn wahr sein als dies Versprechen, da Gott selbst im Glauben vertraut werden muss. Dieser reduktionistische und nachdrückliche Wahrheitsanspruch hatte weitreichende Folgen, einschließlich des unwiderruflichen Bruchs mit der katholischen Kirche und einer großen Uneinigkeit der protestantischen Theologen darüber, wie wortwörtlich man die Schrift denn nun nehmen solle. Für Luther waren die Ausdrücke "Christentum", "Kirche" und "christliche Gemeinschaft" Synonyme. Sie alle bezeichneten ein virtuelles Gemeinwesen, nämlich jene Gemeinschaft der Heiligen, auf die Christus sich bezog, als er sagte: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt." Es sei eine Lüge, zu behaupten, das Christentum befinde sich in Rom oder überhaupt an einem bestimmten Ort. Die wahre Kirche kannte keine äußeren Formen, keine besonderen Gewänder oder Gebete, keine Bischöfe oder Bauwerke. Damit schrumpfte die Landschaft des Heiligen beträchtlich. Luther zufolge war es allein der Glaube, der aus allen Gläubigen wahre Priester machte und die Welt, die sie zufällig bewohnten, in eine christliche Ordnung brachte. Luther gelang es auf glänzende Weise, und dies vor allem in Deutschland, bereits vorhandene und lokal durchaus verschiedene Vorbehalte gegen die katholische Kirche zu mobilisieren. Wenn Rom die Ursache für das Krebs19

1 . Das Ende des westlichen Christentums

geschwür war, das das Christentum befallen hatte, musste man eingreifen und den Tumor entfernen. Die Christen sollten handeln wie Kinder, deren Eltern verrückt geworden waren, oder wie jemand, der ein Gebäude brennen sieht und nun die Pflicht hat, Alarm zu schlagen und das Feuer zu bekämpfen. Dafür waren insbesondere die Könige, Fürsten und Adligen verantwortlich; ihre Aufgabe war es, Luther zufolge, Gotteslästerung zu verhindern oder auch, dass jemand Schande über den göttlichen Namen bringe. Luther wollte das Christentum stärken, nicht zerstören oder ersetzen. Doch indem er Autorität und Legitimation innerhalb des Christentums völlig neu verortete, traf er die vereinte Glaubensgemeinschaft an ihrer empfindlichsten Stelle. 1520 war Luther da ganz unzweideutig: Keine Person ist mit universeller Autorität aus­ gestattet, vielmehr sind in Wahrheit alle Christen rangmäßig gleiche Mitglie­ der einer christlichen Gemeinschaft, in der Taufe, Evangelium und Glaube allein "ein christlich heilig Volk" schaffen. Es gibt, was den Status als Christen angeht, keinen Unterschied zwischen Laien und Priestern oder zwischen Fürst und Volk. Das war von spektakulärer Einfachheit, warf in der Praxis aber mehr Fragen auf, als es beantwortete. Wie sollte sich ein Christenvolk realiter organisieren? Wie sollte es geeignete Pastoren finden, und worin bestanden deren Pflichten und Verantwortlichkeiten? Welche Rolle kam unter solchen Umständen dem Herrscher zu? Wie sollte sich die Bevölkerung verhalten, wenn Fürst oder Rat ihren christlichen Pflichten nicht nachkamen? Wem kam es zu, die wahre Glaubenseinheit zu verkünden und durchzusetzen? Wessen Aufgabe war es, das Christentum zu verteidigen? Den theologischen Gräben, die sich in der Reformation auftaten, lag eine Transformation zugrunde, die das Wesen und die Äußerungsformen heiliger Macht betraf. Eine der fundamentalsten Veränderungen betraf das Verhältnis zwischen kirchlichen und staatlichen Institutionen. Zwar behielten Luther und die anderen Reformatoren augenscheinlich die Trennung zwischen kirch­ licher und ziviler Jurisdiktion bei, doch übten die religiösen Veränderungen Druck auf die Beziehung aus, was zu einer unbehaglichen, nicht reibungs­ freien Nähe führte. Luther gab vor, die "zwei Reiche" von Kirche und Staat unverändert aufrechtzuerhalten, vergrößerte in Wirklichkeit jedoch den Spiel­ raum des Letzteren und schwächte die Erstere. Diese Umverteilung von Macht veränderte im protestantischen Europa die Auffassung von religiöser Wahr­ heit. Es war nunmehr eine von Gott erklärte und von der Heiligen Schrift garantierte, eine in Bekenntnissen verkörperte Wahrheit, gelebt in konfessio­ nell gestalteten Gemeinden, in denen die Instrumente der Obrigkeit Leben und Verhalten der Menschen formten und überwachten. Dagegen trat die Auf­ fassung, die Menschheit sei an Gottes Werk - der Erlösung seiner Schöpfung 20

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beteiligt, in den Hintergrund. Gott hatte eine natürliche Welt erschaffen, in der die Sünden der Menschheit ein Tatbestand waren, der reguliert, kontrol­ liert und begrenzt werden musste. Diese Grenzen wurden von einer staat­ lichen Macht bewacht, die ihrerseits in eine theologisch-politische Vorstel­ lungswelt eingebettet war, in der Gottes Macht das Vorbild für die Macht des Staates darstellte - beide waren allmächtig und unwiderstehlich.

Die römisch-katholische Kirche Was blieb nun der katholischen Kirche? Ihren Anspruch, der spirituelle Füh­ rer dessen zu sein, was vom Christentum übrig geblieben war, hielt sie jeden­ falls aufrecht. Doch was das angesichts der Tatsache, dass das protestantische Europa diesen Anspruch verworfen hatte, bedeuten konnte, musste erst noch entschieden werden. Anfänglich konzentrierte die katholische Kirche ihre Anstrengungen auf das Kernland des westlichen Europas. Diese Bemühungen führten schließlich zu einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Pro­ testantismus auf dem Konzil zu Trient (1545-1563) und sollten weithin mit der Vormachtstellung der spanischen Habsburgermonarchie und ihren Konflik­ ten (insbesondere mit den Osmanen) in eins gesetzt werden. Zugleich aber bewahrte die katholische Kirche die Verbindung zu ihrer angestammten Tra­ dition, indem sie sich durch eine spirituelle und religiöse Neubelebung jener lokalen Wurzeln versicherte, von denen die protestantische Rhetorik sie hatte lösen wollen. Nun fand auch die katholische Kirche, wie bereits der Protestan­ tismus, ihre Einheit in der Konfessionalität. Die Organisation blieb theokra­ tisch und bürokratisch, was jedoch durch das Aufblühen von Ordensgemein­ schaften verdeckt wurde. Neben Neugründungen wie Jesuiten und Kapuzinern erfuhren auch ältere Orden wie Franziskaner und Dominikaner eine Wieder­ belebung. Sie alle fühlten sich herausgefordert durch die Probleme, denen sich die Christenheit gegenübersah. Diese organisatorische Einheit bildete die Grundlage für den Kampf gegen die theologischen Abspaltungen des Protes­ tantismus und seine - wie es von den Verteidigern der Tradition empfunden wurde - Inkohärenz in Fragen der Autorität. Schlussendlich hing die Wiederbelebung der katholischen Kirche von der Neuverhandlung der Beziehung zwischen der Kirchenhierarchie und den Gemeinden vor Ort ab. Im Mittelpunkt stand dabei das Ziel, den Menschen Zugang zum Heiligen und zur Erlösung zu verschaffen. Zugleich sollte beseitigt werden, was die Hierarchie als "abergläubische" Auswüchse ansah, die zu früherer Zeit in die Heilslandschaft eingedrungen waren, desgleichen 21

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die Reste "heidnischer" Kulte und Glaubensformen bei jenen Völkern, die außerhalb Europas erst kürzlich zum Christentum bekehrt worden waren. Das letztere Vorhaben wurde zum Ausgangspunkt für das bemerkenswerte missionarische und kirchliche Bemühen um "spirituelle Landgewinne" in den Kolonien, wodurch die altgedienten universellen Werte des Christentums in das neue Gewand einer globalen Christenheit gehüllt wurden.

Das Überleben des Christentums Die Reformatoren waren ebenso wie die Verteidiger der alten Ordnung ganz grundsätzlich davon überzeugt, dass sie das Christentum vor der Zerstörung bewahrten. Beide Seiten verkündeten ihre Wahrheiten als dermaßen selbstver­ ständlich, dass der Schluss gezogen werden musste, nur ein vollständiger Sieg über die jeweils andere Seite könne das Christentum wirklich retten. Zugleich behielt das Christentum für die gewöhnlichen Menschen durchaus seine Bedeutung. Ein frommer Mailänder Bürger, der mit Predigten groß geworden war, welche die Bedrohung der Christenheit durch die Osmanen betonten, konnte 1565 beten, Gott möge seine Familie und die ganze Christenheit "in vollkommener Einheit und Liebe" erhalten. Reisende formulierten damals immer noch, sie würden die Christenheit "ansteuern", dort "ankommen" oder sie "verlassen", und doch waren nur die wenigsten in Richtung Jerusalem unterwegs. Die Reformatoren hielten die Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten ohnehin für unwichtig. Für den englischen Geistlichen Samuel Purchas hatte sich Jerusalem nach Westen verlagert: "Jesus Christus, der der Weg, die Wahr­ heit und das Leben ist, hat dem undankbaren Asien, wo er geboren wurde, schon lange die Scheidungsurkunde überreicht, ebenso Afrika, dem Ort seiner Flucht und Zuflucht, und er ist mittlerweile fast ganz nach Europa gekom­ men", schrieb er in Purchas his Pilgrimage (1613), einer Sammlung von Reise­ berichten, welche die geographische Vielfalt von Gottes Schöpfung veran­ schaulichen sollte. Selbst Katholiken konnten eine Pilgerfahrt im bequemen heimischen Lehnstuhl unternehmen, indem sie einen der vielen veröffentlich­ ten Berichte zur Hand nahmen, die die Bedürfnisse der Neugierigen wie der Frommen gleichermaßen bedienten. Wenn es aber passte, konnte selbst der glühendste Protestant an das Bewusstsein einer wesenhaften Einheit aller christlichen Völker appellieren. Thomas Morus, einstmals Lordkanzler von England, wurde für die Behaup ­ tung hingerichtet, das Christentum sei ein "common corps", eine gemein­ same Körperschaft. Ein späterer Nachfolger, Francis Bacon, hätte ein solches 22

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Opfer wohl nicht gebracht, appellierte aber an dasselbe Bewusstsein, als er 1617 die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs forderte, der zwi­ schenstaatliche Auseinandersetzungen beilegen sollte, um "das Vergießen christlichen Blutes" zu verhindern. Bacons Zeitgenosse Edwin Sandys gab in Europae speculum (1605) dem Wunsch Ausdruck, "das Christentum ver­ söhnt zu sehen", eine Geisteshaltung, die, wie er schrieb, von seinem Herrn, König Jakob 1., zur politischen Leitlinie erhoben werden sollte. Keiner der Nachfolger des Erasmus von Rotterdam legte je wieder so viel an Geschichte und Bedeutung in den Terminus christianitas wie der Humanist selbst, doch sahen auch sie Kriege zwischen christlichen Staaten noch in gewisser Weise als "Bürgerkriege" und wollten, wie er, Möglichkeiten finden, mit der religi­ ösen Vielfalt zu leben.

Das Nachlassen der Kreuzzüge Im 16. und frühen 17. Jahrhundert schien das Christentum in seinen südöst­ lichen und südlichen Randgebieten am stärksten durch die wachsende Macht des Islams bedrückt und bedrängt. Seit dem Fall von Konstantinopel 1453 war die militärische Macht der Osmanen zu Land und zur See wieder ange­ wachsen. 1 520 hatte sich das Osmanische Reich Griechenland, die Ägäis sowie die dalmatische Adriaküste in Bosnien einverleibt und sich die Ober­ hoheit über den Balkan gesichert. Der Sieg über die ungarische Armee in der Schlacht von Mohacs (1 526) garantierte den Einfluss auf die Große Ungari­ sche Tiefebene und die Karpaten; Transsylvanien und Moldau wurden zu Vasallenstaaten. So entstand eine lange, schwer zu kontrollierende Grenze, die ungemütlich nahe an Wien vorbeiführte. Als Süleyman I. 1566 starb, leb­ ten mehr als 15 Millionen Menschen unter osmanischer Herrschaft; die Osmanen regierten ein gewaltiges eurasisches Landreich, dessen Zentrum Istanbul (Konstantinopel) war. Kluge europäische Beobachter bewunderten die Struktur und Großartigkeit des osmanischen Staats und fürchteten Diszi­ plin und Umfang seiner Armeen. Istanbul selbst war das Aushängeschild des Reichs, eine große Stadt, die 1566 mehr als eine Viertelmillion Einwohner hatte und mit dem prächtigen Großen Basar, dem Topkapi-Palast und den vielen Moscheen mit ihren zugehörigen Schulen, Krankenhäusern und Hamams beeindruckend ausgestattet war. D ie O smanen betrieben auch den Flottenbau, um Seemacht zu werden. Im 16. Jahrhundert erlangten und bewahrten sie die Vormacht im östlichen M ittelmeer. D ie Eroberung von Ägypten und Syrien ( 1 5 1 7) sowie die Ein23

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nahme von Rhodos (1 522) waren das Vorspiel zum Versuch, jene nordafri­ kanischen Küsten zu kontrollieren, die zentrale Passagen im M ittelmeer wie etwa die Straße von Sizilien beherrschten. Die O smanen arbeiteten dabei mit Mittelsmännern - von ihnen lizenzierte moslemische Piraten und lokale Statthalter, die militärische Ränge erhielten. D ie Gewässer des süd­ lichen M ittelmeers blieben noch weit bis ins 17. Jahrhundert hinein für europäische Schiffe gefährlich. Hat aber diese osmanische Expansion den Kreuzzugsmythos wieder belebt? Hat das Mittelmeer in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen "Clash der Kulturen" erlebt? Jedenfalls scheint das Papsttum in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehr von den türkischen Ungläubigen beunruhigt gewesen zu sein als von den protestantischen Ketzern. Seine diplomatischen Initiativen zielten auf die Errichtung einer "Heiligen Liga" gegen die Ungläubigen, die schließlich von Papst Pius V. ins Werk gesetzt wurde. Vor den letzten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts investierten die Päpste mehr Ressourcen in den Kampf gegen die Osmanen als gegen die Protestanten. Dabei bedienten sie sich nicht nur aus den eigenen Schatztruhen, sondern profitierten auch von den Ablasszahlungen, die die Gläubigen an andere zum Kampf gegen die Tür­ ken bereite Kräfte leisteten. Die päpstliche Rhetorik war ein Widerhall der Mobilisierung zum Kreuzzug, wie sie im Mittelalter gang und gäbe gewesen war. Kaiser Karl V. und sein Sohn Philipp II. nahmen ihrerseits die osmani­ sche Bedrohung zum willkommenen Anlass, um ihre Ansprüche auf fürst­ liche Vorrangstellung zu untermauern. In dieser Epoche bildete die Mobilisie­ rung gegen die Osmanen das Mittel zum Erhalt des Christentums trotz der tiefen konfessionellen Spaltung in seinem Herzen. In seiner Gegnerschaft zum Islam blieb für das westliche Christentum das Bild des türkischen Ungläubigen von zentraler Bedeutung: Die latente Angst vor der türkischen Gefahr konnte sich auch weiterhin manifestieren und Loyalitätsverhältnisse bekräftigen, vor allem natürlich in jenen Gebieten, die den osmanischen Expansionsgelüsten direkt ausgesetzt waren. Doch drückte sich der Antagonismus nicht mehr in einem konkreten Projekt - der Erobe­ rung des Heiligen Landes - aus. Vielmehr war aus dem " Kreuzzug" ein " Hei­ liger Krieg" geworden, dessen Ziel ein unbestimmterer und eher defensiv orientierter " Schutz" der christlichen Welt vor dem gemeinsamen aggressi­ ven Feind war. Allbeherrschend war demzufolge die Furcht, das Christen­ tum könne überwältigt werden. Nachdem die Osmanen versucht hatten, Wien zu erobern (1 529), berichtete der dortige Botschafter Karls V., Roberto Nifi.o, der den Habsburgern als Horchposten für die Vorgänge in der osma­ nischen Welt diente, von der Flottenaufrüstung Süleymans des Prächtigen 24

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und dessen Plänen, in Italien einzufallen und auf Rom zu marschieren: "Süleyman träumt von dieser Stadt und wiederholt endlos: ,Nach Rom, nach Rom!'" 1566 veröffentlichte der venezianische Kosmograph Jeronimo Ruscelli eine Sammlung von Emblemen auf zeitgenössische Herrscher, die deren geheime Absichten enthüllen sollte. Süleyman war durch vier Kerzenhalter dargestellt, von denen nur einer eine brennende Kerze trug. Ruscellis Deu­ tung machte keine Umschweife: Die vier Kerzen standen für die damals bekannten Kontinente. In dreien waren die Osmanen bereits präsent, und schon bald würden sie auch auf dem vierten (den neu entdeckten Amerikas) auftauchen. Süleymans Plan war, als Weltherrscher das Licht des Islams auf allen vier Kontinenten zu entzünden. Eine weitere Quelle der Furcht bildeten christliche "Renegaten", also jene, die "türkisch geworden" waren - ein Aspekt, der in Flugschriften eifrig disku­ tiert wurde. Nicht alle dieser Abtrünnigen waren durch die Umstände dazu gezwungen worden. Hatten nicht beispielsweise die Einwohner der ägäischen Inseln Naxos und Scarpanto (Karpathos) die Osmanen in den Anfangsj ahren des 16. Jahrhunderts als "Befreier" von christlicher Unterdrückung begrüßt? Hatten die Osmanen ihre Macht in der Ungarischen Tiefebene nicht auch des­ halb konsolidieren können, weil ihre Herrschaft in dieser bäuerlichen Welt auf stillschweigende Akzeptanz stieß? Und rührte das nicht daher, dass die Bewohner sich von der Einführung der osmanischen Justiz die Minderung ihrer feudalen Belastungen durch die christliche Herrschaft ersehnten? Freilich wurden aus der Angst, von den Türken überrannt zu werden, von den Zeitgenossen unterschiedliche Schlüsse gezogen. So nahm etwa Erasmus von Rotterdam die Gefahren einer osmanischen Expansion ernst, sah aber anfänglich die einzig mögliche Reaktion darauf in der Stärkung des Christen­ tums durch innere Reformen. Später allerdings, nach der Belagerung Wiens, änderte er seine Auffassung. Er meinte nun - und sprach damit implizit die Lutheraner an -, dass die Christen individuell wie kollektiv die Pflicht hätten, den an der Front Leidenden mit Waffengewalt zu Hilfe zu kommen. Aber Luther wie nach ihm Calvin sahen in der osmanischen Bedrohung einen war­ nenden Fingerzeig Gottes, der auf die Notwendigkeit innerer Reformen hin­ wies, und lehnten es ab, der äußeren Bedrohung mit Waffen zu begegnen. Für andere wiederum wandelte sich die tradierte Figur des türkischen Ungläubigen zu einer komplexeren, weniger stark religiös definierten Verkör­ perung des fremden "Anderen", für dessen "Barbarentum" und "Despotis­ mus" sich Entsprechungen fanden in der weiteren Welt, wo sich die Europäer zunehmend umtaten. Im Gegenzug wich die Vorstellung einer dauerhaften Feindschaft zwischen Christenheit und Osmanischem Reich einer zögerlichen 25

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Koexistenz, die die Rede von der Unversöhnlichkeit widerlegte. Mit dem Kreuzzugsgedanken verfiel auch das Christentum. Geographisch und kultu­ rell formte sich Europa, indem es, wie in einen Spiegel, nicht nur nach Ame­ rika, sondern auch zur Levante blickte.

Der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Im Oktober 1520 wurde Karl von Habsburg, Herzog von Burgund, Thronerbe von Kastilien und Arag6n, in Aachen zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt. Hinter den riesigen Bronzetüren des Doms erwartete ihn eine bis ins Kleinste durchgestaltete Zeremonie. Ihm wurden Schwert und Ring seines illustren Vorgängers und Namensvetters - das war Karl der Große überreicht und die Kaiserkrone Ottos des Großen aufs Haupt gesetzt. Zudem erhielt er das kaiserliche Zepter, den Reichsapfel und den sternenbestickten Mantel sowie etliche Reliquien, zu denen auch die Heilige Lanze gehörte, mit der Christus am Kreuz in die Seite gestochen worden war. Das alles waren die Sinnbilder des heiligen Erbes einer universellen Monarchie. Die Krone, acht­ eckig wie der Dom, verwies auf das himmlische Jerusalem. Der Reichsapfel repräsentierte den Globus, und der Mantel besagte, dass Karl der Schutzherr des Christentums war und als Christi weltlicher Stellvertreter über den Kos­ mos herrschte. Formell jedoch war Karl "erwählter Kaiser" mit dem Titel Rarnanorum rex semper augustus, bis er durch eine weitere Krönung vom Papst endgültig eingesetzt wurde. Reich und Papsttum waren die beiden Säu­ len des Christentums. Dieses Folgeereignis fand im Februar 1530 zu Bologna an Karls 30. Geburtstag statt. Karl V. war der letzte Herrscher in Europa, zu dessen Gunsten ein Anspruch auf universelle Monarchie erhoben wurde und für den ein solcher Anspruch noch Bedeutung hatte. Er war auch der letzte Herrscher, der von einem Papst eingesetzt und in Aachen gekrönt wurde. Als Karl 1556 abdankte, war das Heilige Römische Reich keine Säule des Christen­ tums mehr, sondern nur noch ein dynastisches Instrument der Habsburger, zum Gebrauch in deutschen Landen. In dynastischer Hinsicht kannte Karl V. nicht seinesgleichen. Im Alter von 25 Jahren hatte er Anspruch auf 72 dynastische Titel, 27 Königtümer, 13 Her­ zogtümer, 22 Grafschaften und andere Feudalherrschaften, die sich vom Mit­ telmeer bis zum Ostseeraum und über die Neue Welt erstreckten. Damit waren ihm an die 28 Millionen Menschen auf diese oder jene Weise treue­ pflichtig - fast 40 Prozent von Westeuropa. Sein Kanzler, Mercurino Gatti­ nara, ermahnte ihn: "Gott war Euch äußerst gnädig. Er hat Euch über alle 26

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Könige und Fürsten in der Christenheit erhoben und Euch eine Macht verlie­ hen, die seit Eurem Vorfahren, Karl dem Großen, kein Souverän je besessen hat. Er hat Euch auf den Weg zu einer Weltmonarchie, zur Vereinigung der gesamten Christenheit unter einem einzigen Hirten geschickt." Gattinara machte es sich zur Aufgabe, ein glaubhaftes Bild des Monarchen als weltlicher Führer der Christenheit zu entwerfen. Karl selbst zog niemals ernsthaft in Betracht, ein vereintes, autonomes Herrschaftsgebilde zu schaffen, und spielte das Erbe Karls des Großen nicht in den Vordergrund. Ihm war darum zu tun, die Rechte und Privilegien derjeni­ gen zu respektieren, die lokale Identitäten verkörperten, weshalb er universelle Herrschaft fast ausschließlich als Wächter über den Glauben beanspruchte. Doch um sein Image bemühte Berater entwarfen ein Amalgam aus christ­ lichem und klassischem imperium, wobei sie auf die politischen Implikationen humanistischer Überzeugungsrhetorik rekurrierten und neue Formen der mechanischen Reproduktion und Verbreitung nutzten: die Drucktechnik, Stiche, aber auch Münzen, Medaillen oder Wandteppiche. Kein politischer Führer des mittelalterlichen Christentums war je so bewusst etabliert wor­ den - in so unterschiedlichen Medien, für so viele verschiedene Zielgruppen und mit so vielfältigen Absichten - wie Karl V. Die Krönung zu Aachen bildete dafür das Grundmuster: Detaillierte Darstellungen der Zeremonie zirkulier­ ten in unterschiedlichen Sprachen zusammen mit Holzschnitten, Medaillen und Kupferstichen, die den Kaiser gemäß deutscher Mode mit eckigem Bart und langem Haar zeigten. Ein Jahrzehnt später war Karl ein römischer Kaiser mit kurzem Haar und Bart, ein Impresario militärischer Siege und ein Frie­ densstifter für Europa. Die Berichte von Karls Triumphzug durch Bologna schildern, wie er die extra für diesen Anlass geprägten Münzen mit der Abbil­ dung der Säulen des Halbgatts Herkules und mit Karls Motto "Plus ultra" (Noch weiter) in die Menge warf und dabei "Largesse! Largesse ! " schrie, wäh­ rend auf den Straßen der Singsang "Imperio! Imperio! " erscholl. Doch erkannten selbst diejenigen, die mit Karls Sache sympathisierten, dass diese Vision zunehmend geringere Realisierungschancen hatte. Der Anspruch, Wächter des Christentums zu sein, geriet ins Zwielicht, als kaiser­ liche Truppen im Mai 1 527 im Sacco di Roma die heilige Stadt verwüsteten. Die protestantische Reformation erteilte jeglicher Vision einer einigen res publica christiana in Deutschland, ganz zu schweigen von Europa, eine Absage. Karls militärische Erfolge spiegelten, wie seine diplomatischen Initi­ ativen, zunehmend die Imperative der Habsburgerdynastie. Was Karl betrieb, war eine Art von indirektem Imperialismus, wobei die universelle Monarchie die Hintertür zur Hegemonie einer glücksverwöhnten Fürstenfamilie bildete. 27

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Protestantische wie auch katholische deutsche Fürsten sahen in Karls Anspruch auf ein geheiligtes imperium eine Bedrohung für die Freiheiten der deutschen Nation. In Italien, wo Karls dynastische Erbschaften das König­ reich von Sizilien und Neapel wie auch eine Reihe von Territorien nördlich der päpstlichen Besitztümer umfassten, wurde der Anspruch auf die univer­ selle Monarchie am nachdrücklichsten erhoben und ebenso nachdrücklich bestritten. Karls französischer Gegner, Pranz 1., wollte den imperialen Ambi­ tionen das Wasser abgraben, wo immer es nur ging. Französische Humanis­ ten reagierten auf Karls Vorhaben mit Gegenentwürfen einer durch göttliche Vorsehung bestimmten, gar messianischen Monarchie, die dazu auserkoren war, die Freiheiten und Privilegien der politischen Ordnung Europas gegen die habsburgische Hegemonie zu verteidigen.

Die dynastische Herrschaft Wenn nun der Kaiser das Christentum nicht mehr schützte, wer dann? Die Amtsgewalt - die Macht des Schwertes - lag hauptsächlich in den Händen dynastischer Fürsten. Dynastische Herrschaft (beruhend auf Erbfolge) war die Grundlage politischer Ordnung. Ihre Attraktivität lag in der durch Abstammung begründeten Legitimität. Wurde dieses Herrschaftsprinzip noch durch den Anspruch auf absolute Autorität verstärkt, konnte es in der aristokratischen und patrimonialen Welt der Fürstenhöfe Ressourcen mobi­ lisieren. In deren informellen Machtstrukturen konnten die Fürsten sich bestimmter Hebel bedienen: der introvertierten Kultur der Gunstgewährung und des den Ehrenkodizes innewohnenden Konkurrenzdenkens. Es fiel den Herrschern nicht schwer, das egoistische Streben der Personen in ihrem Umfeld - nach einem Amt für sich, für Freunde und Angehörige - zu begrei­ fen und zu nutzen. Als Form der Institutionalisierung politischer Ordnung war die dynastische Herrschaft nie überzeugender als zu der Zeit, da sie eine Alternative zu den religiösen Spaltungen und sozialen Wirrnissen der nach­ reformatorischen Epoche anzubieten schien. Allerdings konzentrierten sich die gerade in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts virulenter werdenden politisch-religiösen Gewalttaten in Westeuropa, wo die Staatsmacht schon sehr früh Fuß zu fassen begonnen hatte. Die augenfälligsten Gewaltakte wur­ den entweder von schwachen Herrschern angestiftet oder von ihrer Schwäche stark begünstigt. Die dynastische Monarchie war an den religiös grundierten Auseinandersetzungen der nachreformatorischen Zeit ebenso beteiligt wie an deren späterer Eindämmung. 28

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Der dynastische Staat erfuhr vor allem deshalb eine Stärkung, weil die Fähigkeit, Streitkräfte aus zunehmender Entfernung auszuheben und in Gang zu setzen, in dieser Periode beträchtlich wuchs. Ebenso nahm, und dies oftmals dramatisch, die Durchsetzungskraft bei der Eintreibung von Steuern zu, und es wuchs die Zuversicht, wirtschaftliche Aktivitäten aller Art über­ wachen, kontrollieren und daraus Einkünfte generieren zu können. Vor allem aber veränderte die Möglichkeit, sich auf der Grundlage solchen Machtzu­ wachses Kredite zu verschaffen, das Wesen der Staatsmacht im Vergleich zu anderen Formen von Macht in der Gesellschaft. Europas erstes koloniales Unternehmen wäre ohne staatliche Unterstützung nicht möglich gewesen. Das soll keine Bestätigung der tradierten Auffassung sein, diese Epoche habe den Aufstieg des "modernen Staates" gesehen. Tatsächlich spielte sich etwas ganz anderes ab. Jenseits von Beamtenturn und Steuerpacht, von Stamm­ rollen und Kolonialsiedlungen malte sich die kollektive Fantasie ein christ­ liches Gemeinwesen aus, in dem das Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten ein moralisches war. Aus praktischen Gründen waren die staat­ lichen Verwaltungsmechanismen lokal, breit gestreut und schwach, während im Zentrum die Staatsmacht schnell zur Zielscheibe höfischer Rivalitäten, Fraktionen und Spaltungen wurde. Auf lokaler Ebene lag sie häufig in den Händen von Drahtziehern, adligen Granden und ihren Vasallen. Mochten die Staatsmänner und -frauen jener Epoche auch nach vorne schauen, lässt sich hinter ihrem Verhalten doch nur schwer die kohärente Vision eines ordnen­ den Staates entdecken, der von allen Bürgern Gehorsam und Loyalität ver­ langte. Viel einfacher lassen sich ihre Machtspiele aufdecken - wie sie ihre Gegner erniedrigten und sich das Machtmonopol sicherten. Wenn es darum ging, Loyalität und Gehorsam der Untertanen einzufordern, gebärdete sich die frühmoderne, nicht-militärische Macht prinzipiell "performativ": "Macht" war Bauchrednerei für die Zuschauertribüne. Schon für das Christentum waren die lokalen Strukturen in Europa der Schwachpunkt gewesen; für den dynastischen Staat sollten sie die Achillesferse sein. Die dynastische Herrschaft nämlich beruhte auf der Logik der Genealogie und damit auf der Zufälligkeit von Geburt und Tod. Sie missachtete lokale kulturelle Identitäten ebenso wie Privilegien und Eigenarten der Rechtspre­ chung. In den von ihr regierten Staatsgebilden schuf sie Einheiten ohne inne­ ren Zusammenhang und mit völlig unterschiedlichen Traditionen von Recht und Religion, die für die konfessionellen Spaltungen der nachreformatori­ schen Welt besonders anfällig waren. Die der dynastischen Herrschaft inne­ wohnenden Konkurrenzinstinkte zerstörten jegliche Chancen auf eine an einem Ideal ausgerichtete Zusammenarbeit. In internationaler Hinsicht sorgte 29

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diese Herrschaftsform beständig für Instabilität und kriegerische Auseinan­ dersetzungen. Die Fähigkeit der Dynasten Europas, Macht zu mobilisieren, forderte in immer höherem Maß den Preis interner Konflikte, wogegen die eurasischen Machtstrukturen, mit denen die Dynasten nun im Wettstreit lagen, davon frei waren. Eine Folge heftigster regionaler Konflikte unter­ minierte die Fähigkeit des Christentums, Ressourcen und Energien in die koloniale Expansion zu investieren; vielmehr vollzog sich der umgekehrte Prozess: Der Reichtum der Neuen Welt finanzierte die dynastischen Ambitio­ nen der Alten Welt. Hieraus entstand binnen Kurzem jener Mahlstrom, der Europa in den Abgrund des Dreißigjährigen Krieges zog. Im Gegensatz zu den Dynasten waren Adlige, bisweilen im Bündnis mit repräsentativen Institutio­ nen, häufig in einer besseren Position, um lokale Wünsche und Begehren zu verstehen und die Bindung an landesübliche Institutionen und Gebräuche gegen die zentralisierenden Bestrebungen der Fürsten auszunutzen. Das Hauptproblem bestand darin, dass die von dynastischer Herrschaft erzeugten Loyalitäten grundsätzlich nur schwache Bindungskräfte entwickel­ ten. Es war schon ein Glücksfall, wenn es dynastisch regierten Staaten gelang, sich mit den stärkeren Identitäten von Religion oder patria zu verbinden. Im Allgemeinen mussten sie die Grenzen akzeptieren, die der von ihnen betrie­ benen politischen Integration gesetzt waren - und damit auch den fortwäh­ renden Wirbel von Fraktionen, Lobbys und Netzwerken an ihren Höfen sowie lokale Autonomiebestrebungen, die sich am deutlichsten artikulierten, wenn es darum ging, die Peripherien und Kolonien Europas zu regieren. Der Versuch, die Stärkung der dynastischen Monarchie mit umfassenderen Loya­ litäten zu verbinden, machte nur die Vergeblichkeit solcher Ansprüche offen­ kundig. Dem dynastischen Staat fehlte eine überzeugende Ideologie. Sein politisches Modell ging am Kern des christlichen Gemeinwesens vorbei: an der Stärkung des Gemeinwohls und der rechten Beziehung zwischen politi­ scher Obrigkeit und Bevölkerung. Im Kontext der Reformation mündeten diese Ideale in die Auffassung, dass die Menschen für ihr Tun zuerst und zumeist Gott verantwortlich waren. Die daraus sich ergebenden Aufforde­ rungen - zum Gemeinwohl beizutragen und Gottes Wille auf Erden zu tun veränderten die Grundregeln der Politik im späteren 16. Jahrhundert, nicht zuletzt deshalb, weil diese rasch den neuen Kräften eines durch den Wandel der öffentlichen Medien vervielfältigten Informationsflusses angepasst wur­ den. So entstanden auf allen möglichen Ebenen Modelle für politischen Zusammenschluss und politisches Engagement. Nicht nur in kleinen, unab­ hängigen, militärisch eher schwachen Städten und Republiken ließen sich gottesfürchtige und wohlmeinende Notabeln von der Überzeugung leiten, 30

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dass sie an Entscheidungen beteiligt werden sollten, die zu wichtig waren, um sie allein den Herrschern zu überlassen. Die dynastischen Staaten standen hilflos den Forderungen derjenigen gegenüber, die erwarteten, in die zukünf­ tige Entwicklung des Gemeinwesens einbezogen zu werden. In der Politik der nachreformatorischen Zeit war die Spannung zwischen Herrschern und Beherrschten ein grundlegendes Element.

Die christlichen Gemeinwesen im religiösen Konf likt der Nachreformationszeit Die Humanisten hatten die Idee eines "Gemeinwesens" (res publica) populär gemacht, wobei jede Form legitimer Herrschaft ein solches Gemeinwesen sein konnte. Das war wichtig, weil es in Europa so unterschiedliche Herrschafts­ formen gab. Neben dem Heiligen Römischen Reich und Erbdynastien gab es Wahlmonarchien, Stadtstaaten und Republiken. Christliche Gemeinwesen zogen ihre Legitimität aus der Beziehung zwischen Herrschern und Beherrsch­ ten, einer gegenseitigen Verpflichtung, in der der Gehorsam der Untertanen zwar natürlich und gottgewollt war, doch rechtens erst durch die Verpflich­ tung des christlichen Fürsten oder der Obrigkeit wurde, Gottes Geboten zu gehorchen und im Interesse des Volkes gerecht zu regieren. Ein Herrscher, der sich nicht daran hielt, war ein Tyrann. Die christliche Obrigkeit hatte die Auf­ gabe, die rechte Religion zu verteidigen, Recht zu sprechen und den Frieden zu fördern. Als Folge der Reformation entstand das grundlegende Problem, wie die widersprüchlichen Ziele, die sich aus dem religiösen Pluralismus für die Herrscher ergaben, in Einklang gebracht werden konnten. Wenn sie nicht die rechte Religion verteidigten, waren raison d 'etre und Einheit des christlichen Gemeinwesens bedroht. Taten sie es aber, riefen sie die Gefahr herauf, dass religiöse Spaltungen das Gemeinwesen zerrissen und Eintracht, Frieden und Harmonie - für seine Existenz ebenso wichtig - zerstört wurden. Die Herr­ scher vor allem in den mittleren Breiten Europas, wo religiöse Loyalitäten bis 1648 ein gewaltiges Problem darstellten, standen vor einem unlösbaren Rätsel. In Mitteleuropa waren die Risiken sektiererischer Gewalt am größten und wirkten sich religiös motivierte Spannungen gleich auf jeden Aspekt des öffentlichen und privaten Lebens aus. So unvorhersehbar und vielgestaltig, wie diese Spannungen waren, griffen sie auf andere, bereits bestehende Kon­ fliktbereiche über. Sie manifestierten sich auf allen Ebenen der Gesellschaft und erwiesen sich für die Obrigkeiten in einem christlichen Gemeinwesen als besonders schwer zu handhaben. Religiöse Konflikte kompromittierten Regen31

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ten, indem sie sie zur Parteinahme für die eine oder die andere Seite zwangen. Das belastete die wechselseitige Verpflichtung (und das Vertrauen) zwischen Regent und Volk. Die Rechtfertigung für das Christentum hatte darin bestanden, dass es ein Ensemble von Idealen und Institutionen zur Verfügung stellte, durch die der Frieden innerhalb der Glaubensgemeinschaft gefördert und verwirklicht wer­ den konnte. In der nachreformatorischen Welt besetzte der religiöse Konflikt genau jene Stelle, wo zuvor der Brennpunkt für die Einheit des Christentums gelegen hatte. Was einst ein Mittel der Versöhnung gewesen war, wurde nun zum Instrument der Zwietracht. Die Welt wurde gefährlicher und gespaltener durch neue, erratisch verlaufende Glaubensgrenzen, die nicht, wie die einsti­ gen Grenzen des Christentums, die Peripherie der Glaubensgemeinschaft markierten und sie von der Außenwelt absetzten, sondern deren Mitte durch­ zogen. Die neue Glaubensgrenze trennte diverse protestantische Denomina­ tionen im Norden vom Katholizismus im Süden und brachte damit christ­ liche Gemeinwesen in Konfrontation zueinander. Im Bewusstsein der Menschen verschärften sich diese Trennungen in dem Maß, in dem wider­ streitende religiöse Identitäten aus den gegenläufigen Prozessen der Reforma­ tion selbst entstanden. Und es gab noch weitere Veränderungen, die die Eindämmung der religiö­ sen Konflikte erschwerten. Zum einen veränderte sich das Wesen der Reli­ gion selbst. Die Reformation brachte eine Vielzahl von Glaubensrichtungen hervor, deren Anhänger jeweils mit voller Überzeugung argumentierten und Legitimität aufgrund einer behaupteten Kontinuität mit der Vergangenheit beanspruchten. In diesem Prozess wurde das Christentum ein umstrittenes Erbe, mit dessen Zerlegung die Humanisten bereits begonnen hatten, als sie ein von Verfall und Korruption gezeichnetes "Mittelalter" aussonderten. In der neuen, von Vielfalt geprägten Glaubenslandschaft wurde " Religion" (eti­ kettiert als "rechte", "reformierte", "katholische") zum Mittel, um wahre Glaubensüberzeugungen von falschen zu trennen. Religion konsolidierte sich immer weiter rund um das, was die Menschen, losgelöst von den religiösen Ritualen, die sie vollzogen, "glaubten". Diese Loslösung zeigte sich am deut­ lichsten in dem zunehmend "konfessionalisierten" Wesen von Religion in der nachreformatorischen Zeit. Die religiösen Konfessionen (Lutheraner, Calvi­ nisten, Anglikaner) wollten definieren, was die Menschen zu glauben hat­ ten - und wurden zum Fundament für riesige Investitionen in Bildung und Überzeugungsarbeit durch Kirche und Staat. Doch war es für beide schwieri­ ger, Konformität für eine konfessionelle Ausprägung von Glauben durchzu­ setzen als zuvor für eine einheitliche Glaubensgemeinschaft, in der das 32

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Brauchtum (dessen Befolgung auch durch Nicht-Theologen leicht einge­ schätzt werden konnte) die Glaubensüberzeugungen der betreffenden Indivi­ duen und Gemeinschaften widergespiegelt hatte. Es gab in nachreformatorischer Zeit viele Orte, an denen religiöse Konfor­ mität sich nicht verwirklichen ließ. Christliche Fürsten fanden Gründe, innenpolitischen Frieden für wichtiger zu halten als religiöse Einheitlichkeit, weshalb religiöse Auseinandersetzungen mithilfe von Rechtsmitteln beigelegt werden sollten. Doch waren in den Augen ihrer konfessionellen Gegner sol­ che Versuche, mit der religiösen Vielfalt zu leben, das deutlichste Zeichen für den endgültigen Verfall des Christentums. Derartiger Pluralismus könne nur in der Katastrophe enden. Indem sie die Probleme verwischten und ihrer Ver­ antwortung nicht nachkamen, riskierten Herrscher, die den Pluralismus zuließen, nicht nur Gottes Zorn, sondern machten die unvermeidliche und ultimative Konfrontation umso gewalttätiger und zerstörerischer. Derlei Pro­ phezeiungen neigten zur Selbsterfüllung. Es gab keine Lektion in religiöser Toleranz, die nicht verlernt werden konnte. Jede Generation musste von Neuern entdecken, wie gefährlich einfach es war zu glauben, die Verfügung religiöser Konformität sei der direkte Weg zur Lösung jener Probleme, die aus dem religiösen Dissens erwuchsen. Die religiös motivierten Konflikte der nachreformatorischen Periode ließen die Einigkeit im Rahmen konfessionalisierter Glaubensüberzeugungen so wichtig erscheinen wie nie zuvor. Christliche Gemeinwesen sollten, so die Erwartung, konfessionelle Konformität als notwendige Bedingung für die politische Einheit durchsetzen und aufrechterhalten. Die mit der Reformation verbundenen kirchlichen Wandlungsprozesse (mitsamt der katholischen Reaktion darauf) veränderten die Beziehung zwischen Kirchen und Herr­ schern, wobei die "Geometrie" dieser Beziehung höchst unterschiedlich aus­ fiel. In einigen Teilen des protestantischen Europas gab es Staatskirchen, in anderen Amtskirchen, die zum Staat eine eher lockere Beziehung unterhielten oder ganz unabhängig waren. Im katholischen Europa unterhielten Kirche und Staat eine Partnerschaft, in der es genügend Raum gab für gegenseitige Missverständnisse und Enttäuschungen. Im Allgemeinen jedoch erlangten die Staaten mehr Befugnisse über kirchliche Angelegenheiten, und damit einher ging eine größere Verantwortlichkeit für die Erhaltung der rechten Religion. Die Herrscher sahen sich nun häufiger Appellen seitens der Geistlichkeit aus­ gesetzt, die mit Nachdruck forderte, der Fürst solle seiner Pflicht nachkom­ men und den wahren Glauben fördern. Die Geistlichen verlangten vom Regenten, in umstrittenen Angelegenheiten - kirchlich-institutionelle Struk­ turen, Disziplin und sogar Glaubenssätze betreffend - zu entscheiden, während 33

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sie ihm zugleich den Vorwurf machten, er mische sich in Rechte und Besitztü­ mer der Kirche ein. So geriet nicht nur die Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten mitsamt ihren gegenseitigen Verpflichtungen, sondern auch das Verhältnis von Kirche und weltlicher Obrigkeit unter Druck. Solche Spannungen nahmen in dem Maß zu, in dem sich Rolle und Funk­ tion staatlicher Macht veränderten. Das in ihrem Namen gesprochene Recht breitete sich aus und vereinnahmte auch lokale Rechtsverhältnisse. Die Herr­ scher erwarteten von ihren Ländereien und Untertanen höhere Steuerein­ nahmen. Veränderungen im Militärwesen demonstrierten der Bevölkerung die obrigkeitliche "Macht des Schwertes" mit größerem Nachdruck. Ferner bestand ein erhöhter Bedarf an Spezialisten, um der komplexer gewordenen Aufgabe nachzukommen, das wirtschaftliche, soziale und öffentliche Leben rechtlich und administrativ zu kontrollieren. Von verschiedenen Seiten wur­ den Forderungen laut, das Steuersystem auf ein größeres Spektrum an Pro­ dukten und Dienstleistungen auszuweiten, den Wirtschaftswettbewerb zwi­ schen den Staaten zu fördern und soziale Disziplin wie auch moralische Konformität durch Staat und Kirche zu fördern. Zugleich wurde der Zusam­ menhalt in den lokalen Gemeinschaften schwächer, was die Loyalität der zuständigen Obrigkeiten beschädigte, bei denen bisher die Auffassung von einer gegenseitigen Verpflichtung zwischen Herrschern und Beherrschten am stärksten verwurzelt gewesen war. Um 1600 waren die christlichen Gemeinwesen in Europa die politischen Überbleibsel des christlichen Ideals einer Glaubensgemeinschaft, und dabei durch die reformationsbedingten Spaltungen starkem Druck von innen wie außen ausgesetzt, verwundbar durch die explosive Mischung aus Religion und Politik. Selbst in jenen Gemeinwesen, in denen ein gewisses Maß an reli­ giösem Pluralismus erreicht worden war, erwiesen sich die Ergebnisse als instabil, weil sie von einem ausgewogenen Kräfteverhältnis zwischen den Religionen abhingen. Das aber wurde auch durch die Argumente und Strate­ gien all jener gefährdet, die religiöse Vielfalt grundsätzlich ablehnten. Wo die Mischung aus religiösen und politischen Zwistigkeiten zu Kriegen und Kon­ flikten führte, wurde offenbar, wie schwach die Bande des Vertrauens zwi­ schen den Völkern Europas und ihren Herrschern bereits geworden waren. Die ersten Zeichen demographischer und wirtschaftlicher Schwäche kündig­ ten das nahende Ende des " silbernen Zeitalters" an, was die Brüchigkeit des Vertrauensverhältnisses nur verstärkte. In den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts gab es wieder ein gewisses Maß an Stabilität und damit eine momentane Erholung, was die Menschen zu der Vorstellung veranlasste, dass die grundlegenden Probleme der nachreforma34

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torisehen Politik wenn nicht gelöst, so doch wenigstens im Zaum gehalten werden konnten. Einige Herrscher waren ganz bewusst bestrebt, sich vom zentralen Wert eines christlichen Gemeinwesens - der gegenseitigen Ver­ pflichtung von Herrschern und Untertanen, für das Gemeinwohl einzuste­ hen - zu distanzieren. Sie beriefen sich auf die Tradition der theokratischen Monarchie, wonach der Regent nur Gott allein verantwortlich sei, und sahen sich selbst als Verkörperung der Geschicke des " Staats" - ein konfessionell neutraler Begriff, der nun eine politische Gesamtheit bezeichnete. In dieser Hinsicht waren sie absolute Monarchen, und die Dynastie der Bourbonen, die ein nach den " Religionskriegen" allmählich wiedervereintes französi­ sches Königreich regierte, diente anderen Regenten als Vorbild. Ihrem eige­ nen Bekunden nach standen diese Herrscher über den fundamentalen Span­ nungen der nachreformatorischen Politik. Sie konnten Gesetze für die religiöse Uniformität erlassen oder den religiösen Pluralismus dekretieren, diplomatische Bündnisse unter oder ohne Berücksichtigung religiöser Spal­ tungen schließen - ganz so, wie es ihnen richtig und dem Wohl des Staates dienlich zu sein dünkte. Diese Form absoluter Herrschaft wirkte gerade in jenen Fürstentümern deplatziert, in denen die Idee eines christlichen Gemeinwesens inklusive der Vorstellung einer gegenseitigen Verpflichtung zwischen Herrscher und Untertanen noch lebendig war, beziehungsweise generell dort, wo sich die destruktivsten Kräfte der nachreformatorischen Auseinandersetzungen wenig bemerkbar gemacht hatten.

Europa in maximaler Erschütterung Während der 1550er-, der 1 590er-Jahre und dann wieder seit den 1620er-Jah­ ren erreichten die militärischen Aktivitäten in Europa ein nie zuvor gekann­ tes Ausmaß. Die Erholung zu Beginn des 17. Jahrhunderts war nur Schein gewesen. Europa stürzte in einen immer stärker um sich greifenden Wirbel aus miteinander verbundenen Kriegen von großer Zerstörungskraft, die ihren Höhepunkt in den späteren 1640er-Jahren erreichten. Diese Konflikte ver­ schärften das wirtschaftliche Auseinanderdriften in Europa und schwächten den sozialen Zusammenhalt. Die 1590er-Jahre waren das Vorzeichen für kommenden, länger anhaltenden Unfrieden: Der Dreißigj ährige Krieg umfasst drei gleichzeitige und miteinander verbundene Konflikte, von denen nur der erste 30 Jahre dauerte, nämlich der Krieg in Deutschland - von 1618 bis 1648 -, in den die Nachbarstaaten verwickelt wurden. Der zweite Kon­ flikt war eine erneute Auseinandersetzung zwischen den spanischen 35

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Habsburgern und der holländischen Republik, der von 162 1 bis 1648 währte. Der dritte war ein erbitterter Kampf zwischen Frankreich und Spanien (163 5 - 1659). Die ersten beiden Kriege resultierten aus nachreformatorischen Streitigkeiten, während der dritte insofern grundsätzlich neu war, als Spa­ nien und Frankreich ganz offen um die Hegemonie in Europa kämpften. Alle Konflikte hingen miteinander zusammen und zogen fast das gesamte westliche Europa in den militärischen Strudel. D afür mussten Ressourcen in großem Umfang aufgewendet werden, was die Loyalität der Untertanen in den europäischen Staaten bis aufs Äußerste strapazierte. Besonders betroffen waren die Königreiche der Habsburgermo­ narchie, wo lokale Akteure mit Unterstützung durch Spaniens Feinde eine alternative Zukunft für sich und ihre Leute erstrebten. Es gab eine Reihe von Aufständen, die in Katalonien und Portugal begannen (1640 -1659) und dann auf Italien übergriffen: In Neapel (1647/48) und Palermo (1647) kam es ebenfalls zur Revolte. Das französische Königreich war geeinter, sah sich aber auch mit größeren Problemen konfrontiert. Zunächst erlebte es eine Reihe von lokalen und regionalen Volksaufständen und Adelsrebellionen, die durch eine Mischung aus Unterdrückungsmaßnahmen und Zugeständ­ nissen eingedämmt werden konnten. Nach 1643 war die absolute Monarchie durch die Minderj ährigkeit Ludwigs XIV. geschwächt, der im Alter von nicht einmal fünf Jahren auf den Thron gelangt war. Zugleich musste Frankreich einen Mehrfrontenkrieg führen, was die militärischen und finanziellen Res­ sourcen des Staats an den Rand des Zusammenbruchs brachte, während die Loyalität derer, die sich bisher als Stützen des Staats erwiesen hatten - die Parlamentarier und die adligen Amtsinhaber -, ins Wanken geriet. So kam es zur Fronde (1648 -1653), einem Aufstand gegen das Königshaus, mit zwei eher kurzen Bürgerkriegsepisoden. Die Konflikte des Dreißigjährigen Kriegs wurden von zwei weiteren, paral­ lel verlaufenden politischen Implosionen begleitet, die auf ihre Weise für Zer­ störung sorgten. In beiden Fällen resultierten sie aus nachreformatorischen Regelungen, die sich als brüchig erwiesen. Und in beiden Fällen ging es um die Frage, ob sich ein christliches Gemeinwesen gegenüber der neueren Konzep­ tion absoluter Herrschaft würde behaupten können. Auf den Britischen Inseln begann das, was ein Zeitgenosse (James Heath) als "falling out in the three Kingdoms" bezeichnete, mit einer Rebellion gegen das Haus Stuart in Schott­ land 1639. Hinzu kam dann der irische Aufstand 1641, und den Höhepunkt bildete der Ausbruch des Englischen Bürgerkriegs 1642 . In dessen Verlauf erlitt Karl I. 1646 eine entscheidende militärische Niederlage. Seine Versuche, aus einer Position verhängnisvoller Schwäche wieder die Oberherrschaft zu 36

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erlangen, führten zu seiner Hinrichtung im Januar 1649. Die siegreichen Streitkräfte des Parlaments besetzten nun unter dem Kommando von Oliver Cromwell Irland und vernichteten 1649 eine royalistische Armee. Als dann die Schotten Karls I. Sohn und Erben zu ihrem König (Karl II.) krönten, führten erneute Feindseligkeiten mit England zu Cromwells Eroberung von Schott­ land 1650/5 1. Ende 165 1 wurden die drei Königreiche zu einem Staat vereint, der sich selbst "Commonwealth" nannte und eine Republik sein sollte. Unterdessen war es in O steuropa 1648 zu einem großen Aufstand der Kosaken in der Ukraine gekommen, wodurch mit der Rzeczpospolita, der polnisch-litauischen Adelsrepublik, ein weiteres christliches Gemeinwesen in Gefahr geriet. Der polnische Staat hatte sich mancher Bedrohungen durch Moskowiter, Tataren und Türken an seinen östlichen und südöstlichen Grenzen erwehrt und zahlreiche vorherige Revolten mithilfe ruthenischer Kosaken überstanden. Polnische Adlige hatten in Ruthenien (der Ukraine) große Güter errichtet und behandelten die ansässigen Kosaken mit Verach­ tung. Dennoch traf der von dem Hetman Bogdan Chmielnicki angeführte Kosakenaufstand (1648 -1657) den polnischen Staat unvorbereitet. Mit der Unterstützung von Tataren, dann von Moskowitern vertrieben die Kosaken den polnischen Adel (die szlachta) aus Ruthenien und beendeten die Vor­ herrschaft der katholischen Kirche. Der einstmals mächtige polnische Staat war bereits durch einen Konflikt mit Schweden in den 1620er-Jahren geschwächt und brach nach 1648 militärisch wie politisch zusammen, was O steuropa destabilisierte. Gemeinsam war diesen Protestbewegungen, Aufständen und Rebellionen trotz aller Unterschiede der Zusammenbruch des Vertrauens zwischen Herr­ schern und Beherrschten. Regelmäßig erscheinende gedruckte Nachrichten­ blätter informierten die Zeitgenossen über die diversen, fast simultan verlau­ fenden S chockwellen. Vielen erschienen sie als wohlverdiente Früchte göttlichen Zorns, als eine gerechte Strafe für die menschliche Sündhaftigkeit. In diese Betrachtungsweise floss noch ein weiterer Aspekt der fundamentalen Erschütterung ein, die Europa um die Jahrhundertmitte kennzeichnete: Europa hatte nunmehr alles verloren, wofür das Christentum einmal eingetre­ ten war, und an seine Stelle war ein glanzlos geteiltes Europa getreten, durch dessen Landmasse sich eine religiöse Grenze zog, die einen Glaubensbruch markierte. Sein politisches System beruhte auf Staaten, die den Regeln konven­ tioneller Moral offenkundig nicht länger gehorchten und mit ihren Unter­ tanen in offenem Streit lagen. Die führenden Staaten waren in einen Kampf um die Vormachtstellung verstrickt, und auch der Westfälische Frieden ver­ mochte es nicht, eine neue internationale O rdnung zu errichten, die jene 37

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Rivalität hätte eindämmen können. Europa war in sich uneins und exportierte seine Spaltungen in die übrige Welt. Der soziale Zusammenhalt in den Gemeinwesen hatte gelitten. Der wirtschaftliche Wandel vergrößerte den Abstand zwischen Arm und Reich sowie den Abstand zwischen Regionen, die florierten, und anderen, die es nicht taten. Hinzu kamen klimatische Verän­ derungen, die überall auf dem Planeten die Landwirtschaft beeinträchtigten. Selbst die Natur und das Universum entzogen sich dem bisherigen Verständ­ nis, und Mutmaßungen und Meinungsdifferenzen gewannen die Oberhand. Die Reformation war die letzte Krise des Christentums gewesen. Der Paroxys­ mus der Jahrhundertmitte war die erste Krise dessen, was Europa nun war.

Die Welt und die Entdeckung Europas Interkulturelle Beziehungen zwischen den Zivilisahonen Burasiens hatte es seit Jahrhunderten gegeben, aber im 16. und frühen 17. Jahrhundert kam es zwischen den Völkern nicht nur Eurasiens, sondern allgemeiner der östlichen und westlichen Hemisphäre zu einem intensiveren und länger währenden Austausch. Zwar spielte Europa, dem an der Etablierung von Fernhandelsbe­ ziehungen gelegen war, dabei eine führende Rolle, doch fanden die in Gang gesetzten Prozesse in einem globalen Rahmen statt und waren in doppeltem Sinn interaktiv. Zum einen waren sie auf komplexe Weise miteinander ver­ woben, und zum zweiten waren sie das Resultat des Austauschs mit anderen, vor allem eurasischen Zivilisationen. Nur eine extrem eurozentrische Kurz­ sichtigkeit könnte zu der Sichtweise verleiten, diese ganze Expansion sei lediglich auf innereuropäische Dynamiken zurückzuführen. Die Austausch­ prozesse beruhten auf der Eröffnung globaler Seewege, über die potenziell alle Küsten der Welt zu erreichen waren. Deren Vermessung stellte allerdings ein heikles Unterfangen dar. Mitte des 15. Jahrhunderts "kannten" die euro­ päischen Seefahrer (mehr oder weniger zumindest) etwa 1 5 Prozent dieser Küsten. Ihren Nachfolgern um 1650 waren schon etwa 50 Prozent "bekannt". Das ist zweifellos eine bemerkenswerte Erweiterung, doch beschränkten sich ihre Kenntnisse im Wesentlichen auf die mittleren Breitengrade und eine kleine Anzahl gut bekannter Seewege. Darüber hinaus war vieles nur vom Hörensagen bekannt, unbestätigt und vage. Um 1650 aber wird deutlich, dass Europas Expansion nach Übersee die Seefahrtstechnologie, die navigatori­ sche und kartographische Sachkenntnis sowie die Fähigkeiten im Schiffbau und in der Waffenproduktion für die Marine im Vergleich zu anderen eura­ sischen Zivilisahonen vorangebracht hatte. 38

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Ein zweiter, aus dem vermehrten Kontakt folgender globaler Prozess war ein unvorhergesehener und ungeplanter biologischer Transfer, der als "Colum­ bian Exchange" bekannt ist. Gemeint ist der transkontinentale Austausch von Feldfrüchten und Wildpflanzen, wie er besonders zwischen Amerika und Burasien stattfand. Aus der Neuen Welt kamen wichtige Feldfrüchte, die um 1650 bereits den Speiseplan Europas und die dortigen landwirtschaftlichen Praktiken beeinflussten: Mais, Maniok, Kidney-, Lima- und Wachtelbohnen, Kartoffeln; ferner Salatpflanzen und Zucchini, Cranberrys, Ananas, Kürbis. Ein Transfer fand aber auch in umgekehrter Richtung statt: Aus der Alten Welt gelangten Feldfrüchte nach Amerika, die dort bislang unbekannt gewe­ sen waren: Weizen, Hafer, Hirse, Gerste; dazu Salatpflanzen und verschiedene Früchte und Gemüse wie Feigen, Pfirsiche, Birnen, Erbsen, Karotten und Kohlsorten. Dasselbe gilt für Haus- und Wildtiere: Aus der Neuen Welt kamen Truthähne, Lamas, Alpakas, Moschusenten und Meerschweinchen; den umge­ kehrten Weg nahmen Hauskatzen, Kühe, Schafe, Hühner, Esel, Frettchen, Honigbienen und Seidenraupen. Die Einführung neuer Lebensmittel und Nutztiere förderte das Bevölkerungswachstum nicht nur in Europa, sondern auch in Ostasien und möglicherweise in Nordafrika. Allerdings ging der bio­ logische Transfer auch mit negativen Phänomenen einher, nämlich epidemi­ schen Krankheiten. Die Alte Welt exportierte die Beulenpest, Windpocken, Cholera, Pocken und Typhus - Krankheiten, gegen die Eurasier und in gewis­ sem Maß auch Afrikaner resistent geworden waren, während sie die indigene Bevölkerung in Amerika dahinrafften. Hierbei verlief der Transfer jedoch asymmetrisch: Aus Amerika gelangte nichts nach Europa, was die hiesige Bevölkerung nachhaltig zu gefährden imstande war. Der Kolumbianische Austausch wurde zum wesentlichen Bestandteil einer frühreifen globalen kapitalistischen Wirtschaft. Der biologische Transfer war grundlegend für einige im Entstehen begriffene Strukturen von Produktion, Distribution und Konsumtion, ganz zu schweigen von Veränderungen in der Sozialstruktur. Um 1620 zum Beispiel wurden bis zu 20 000 Tonnen Zucker (gewonnen aus einer neu nach Amerika eingeführten Pflanze) vermutlich für den Verbrauch in Europa durch Arbeit von Sklaven gewonnen, die von Afrika aus über den Atlantik verschifft worden waren. Rohstoffe und Halbfabrikate zirkulierten weltweit in beträchtlichen Mengen, um die Nachfrage auf den neuen Märkten zu befriedigen. Was Jan Vermeer in Delft auf die Leinwand brachte, sieht auf den ersten Blick nach einer geordneten und provinziellen Innenwelt aus. Schaut man aber näher hin, erzählen die dargestellten Gegen­ stände eine andere Geschichte: Der schwarze Filzhut ist aus kanadischem Biberfell gemacht, jene Porzellanschüssel kommt aus China, das Rohmaterial 39

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der Silbermünzen dort aus Peru, die Farbe für das karmin- oder scharlachrote Tuch wurde von den Indios in Mittel- und Südamerika aus Cochenilleschild­ läusen gewonnen. Dies alles waren - wie auch die Seide aus China, die Gewürze aus Südostasien, Pfeffer und Baumwolle vom indischen Subkonti­ nent und der Tabak aus Amerika - Produkte, die weltweit in nie zuvor gekannten Mengen gehandelt und konsumiert wurden. In manchen Fällen konnten die Bedürfnisse der neuen Märkte einfach durch die Ausweitung der existierenden Produktion befriedigt werden, wie im Fall der indischen Baum­ wollweber oder der chinesischen Porzellanfabriken. In anderen Fällen jedoch waren größere gesellschaftliche Veränderungen und brutal betriebene Zwangsarbeit nötig - wie bei der Minenausbeutung in Mexiko und Peru oder der Sklavenarbeit in den brasilianischen Zuckerrohrplantagen. In globaler Perspektive ist die Bedeutung der riesigen, hoch entwickelten und monetarisierten Wirtschaft, wie sie in China und Indien herrschte, offen­ sichtlich. Dies, genauer noch: Die Dynamik der chinesischen Wirtschaft war auch der Grund dafür, warum der Osten in dieser ganzen Epoche ein Ziel für die europäische Expansion nach Übersee blieb. Der Marktwert des Silbers in den Gebieten der Ming-Herrschaft betrug in etwa das Doppelte seines Werts in anderen Weltgegenden. Insofern gewinnt die Entdeckung und Ausbeutung der südamerikanischen Silberminen eine andere Dimension. Europa produ­ zierte nur wenige Güter, die von den Märkten der östlichen Hemisphäre nach­ gefragt wurden. Silber aber war genau jene Ware, mit der Europas Kaufleute in Asien Handel treiben konnten. Wichtiger noch: Mit den Schätzen aus Süd­ amerika in ihren Händen wurden die Europäer zu den Zwischenhändlern überhaupt im weltweiten Handel mit Silber, das nur zum geringen Teil je Europas Küsten erreichte. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden vielleicht etwas mehr als 50 Tonnen Silber pro Jahr von Acapulco am Pazifik nach Manila auf den Philippinen verschifft. Das entspricht ungefähr dem jährlichen Gesamtwert des europäischen Handels mit den ostindischen Inseln. Von den Philippinen gelangte das Silber auf das chinesische Festland und wurde dort gegen Seide und andere Güter eingetauscht. Spanische Galeonen sorgten für den Hin- und Hertransport, so wie portugiesische Handelsschiffe japanisches Silber nach China lieferten, bis die Portugiesen 1637 von den Japa­ nern des Landes verwiesen wurden. Wer die Zentren der Silberproduktion kontrollierte, konnte Riesengewinne verbuchen - so die spanischen Habsburger und das Tokugawa-Shogunat in Japan. Doch auch all jene, die auf die eine oder andere Weise am Handelsweg beteiligt waren - von den Minen in den Anden bis zu den chinesischen Märk­ ten - konnten reiche Gewinne einstreichen, die wiederum Investitionen in die 40

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ersten europäischen Kolonialprojekte in Amerika ermöglichten. Diese Gewinne trieben die Räder des Handels mit Fernost an, dessen Profiteure, vor allem nach der Gründung privilegierter Handelsgesellschaften wie der engli­ schen und holländischen Ostindienkompagnien (1600 beziehungsweise 1602), die Kaufleute waren. Eine erste, noch oberflächlich organisierte Globalisie­ rung war im Entstehen begriffen. Europas damaliges Bevölkerungswachstum beruhte zum Teil auf dem Kolumbianischen Austausch von Feldfrüchten, war aber nur eine Facette der weltweiten Bevölkerungszunahme, die sich besonders in Eurasien zeigte. Die Zunahme der Staatsmacht in Europa hatte ihre Parallele in der Konsolidie­ rung von Staaten in Asien. Das China der Ming-Dynastie, das Indien der Mogulnherrschaft und das Osmanische Reich waren, ebenso wie die Nieder­ lassungen der Spanier oder der Portugiesen und Holländer in Fernost, "Schießpulverreiche" (gunpowder empires). Doch unterlagen diese globalen Phänomene selbst wiederum globalen Beschränkungen. Der markante Bevöl­ kerungszuwachs, den das 16. Jahrhundert erlebte, erhöhte den Druck auf die natürlichen Ressourcen in nie zuvor gekanntem Maß, was besonders in den Grenzbereichen von Kultur und Natur sichtbar wurde - die Steppe wich vor dem Acker zurück, die Menschen nahmen auch weniger geeignetes Land unter Kultur, die kommerzielle Jagd wuchs ins fast Grenzenlose. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wurden die naturgegebenen Beschränkungen spürbar, und dies nicht nur in Europa. Umso nachdrücklicher machten sie sich im Zusammenhang mit einem globalen Klimawandel bemerkbar - ab 1580 liegen Hinweise und Berichte über ein Abkühlen des Planeten vor, und zur Mitte des 17. Jahrhunderts hin treten die Auswirkungen deutlicher zutage. Die europäische Krise der Jahrhundertmitte muss in einen globalen Zusammenhang gestellt werden, auch wenn die meisten ihrer konstitutiven Elemente hausgemacht waren.

Ein Bild von Europa entsteht Paradoxerweise wurde die europäische Expansion nach Übersee von Euro­ päern vorangetrieben, die ihrerseits kaum einen Begriff von " Europa" hat­ ten. Erst Amerika ermöglichte ihnen, das Christentum neu als geographi­ sche Einheit zu definieren, als einen Raum, der für sie dann in zunehmendem Maß " Europa" repräsentierte. Ohne die Entdeckung Amerikas hätte "Europa" wohl nicht existiert. Die Mythologie bot Europas Dichtern und Künstlern Möglichkeiten, um die Vieldeutigkeit der Welt, in der sie lebten, 41

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darzustellen. Humanismus und Renaissance eröffneten Wege zur Wieder­ belebung der antiken Mythologie; mit den Kapriolen der griechischen und römischen Götter konnte man den eigenen Machthabern einen Spiegel vor­ halten und der sexuellen Freizügigkeit an den Höfen Tribut zollen. Leser und Betrachter wurden dabei in ein Paralleluniversum entführt, in dem Glück, Tugend, Leidenschaften, Gefahren und der so wichtige göttliche Schutz dargestellt werden konnten, ohne die christliche Moral oder das kon­ ventionelle christliche Welt- und Menschheitsbild zu kompromittieren. "Europa" war Bestandteil eines Mythos, den die Renaissancehumanisten aus dem Altertum übernahmen, indem sie die bewohnte Landmasse in drei Zonen gliederten: Die wichtigste war Asien, danach kam Afrika und schließlich Europa. Den Ursprung für diese D reiteilung bildeten die Geschichten über die Söhne Noahs. M it der Verbreitung von Weltkarten und Globen wandelte sich der Mythos, und aus den drei Zonen wurden geo­ graphisch bestimmte Kontinente. Zu diesem Wandel trug die Entdeckung Amerikas als viertem Kontinent entscheidend bei. Aber erst nach und nach drangen die Ideen von "Amerika" und "Europa" in die europäische Vorstellungswelt ein. Die spanische Kolonialverwaltung in Amerika etwa verwendete nach wie vor die Bezeichnung "Las Indias" und benutzte " Amerika" in offiziellen Dokumenten so gut wie gar nicht. Shake­ speare und Montaigne sprachen in ihren Werken fast nie von "Europa"; wenn der Franzose jedoch "wir" sagte, hatte er offenkundig einen gemeinsamen Raum vor Augen, der namenlos blieb. Dennoch wurde " Europa" zunehmend als ein Ensemble von Werten verstanden, als eine gemeinschaftliche Identi­ tät, der die humanistisch gebildeten Eliten eine geographische Ausdehnung zuwiesen. Der französische Philosoph Louis Le Roy sprach von "unserer Mutter Europa", worunter er eine ganze Zivilisation mit einer komplexen Geschichte, einer dynamischen Gegenwart und einer hoffnungsvollen Zukunft verstanden wissen wollte. Auch Francis Bacon bezog sich 1605 mit großer Geste auf "uns Europäer". Für die nähere Bestimmung der Identität Europas und seiner Werte war Amerika von entscheidender Bedeutung. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren die Rechte, in der Neuen Welt Handel, Eroberung und Siedlung zu betreiben, vom Papst und vom Kaiser des Heili­ gen Römischen Reichs gewährt worden. Später stritten all jene, die nicht von der Iberischen Halbinsel stammten oder dem Papst verpflichtet waren, im Namen einer umfassenderen Idee, der des Naturrechts, mit Vehemenz dage­ gen. Das Naturrecht galt in einer Welt, die sich in räumlicher und zeitlicher Hinsicht vergrößert hatte, grundsätzlich auch für andere Menschen. Es konnte indes ebenso dazu benutzt werden, bestimmte Verhaltensweisen als 42

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"menschlich" zu charakterisieren im Gegensatz zu anderen, die als "wild" und "barbarisch" galten. Diese Begrifflichkeiten wurden Teil des europäi­ schen Selbstverständnisses, indem sie "Europa" von der Welt der "Wilden" jenseits von Europa abgrenzten. Es waren dann die Protestanten, die "Christentum" begrifflich zuneh­ mend durch "Europa" ersetzten - vor allem wenn sie zeigen wollten, dass die von konfessionellen Konflikten verursachten Grausamkeiten ebenso schlimm, wenn nicht schlimmer waren als die von sogenannten "Wilden" verübten. Die europäischen Siedler in der Neuen Welt definierten sich über die Werte ihrer Herkunftsorte, wobei sie das jeweilige Mutterland idealisier­ ten ("Neu-Spanien", "Neu-Frankreich", "Neu-England ") und allmählich ihre eigene Identität entdeckten. Manche konnten gar nicht schnell genug wieder heimkommen. Manuel da N6brega, Ordensgeneral der Jesuiten in Brasilien und Autor einer einflussreichen Geschichte dieses Landes, schrieb über seine Landsleute: " Sie lieben das Land nicht, und all ihre Zuneigung gilt Portugal. Das erste, was sie ihren Papageien beibringen, lautet: ,Papagei königlich, nach Portugal zurück will ich."' Für andere lag das Ziel der kolo­ nialen Unternehmung darin, nach dem Vorbild des Alten etwas Neues zu schaffen. Die indigenen Völker wurden zu einem warnenden Beispiel für alles, was die Kolonisten nicht waren oder nicht sein sollten - barbarisch, heidnisch, lasterhaft, unzuverlässig, faul, ziellos und unvernünftig. Protes­ tantische wie auch katholische Missionare machten bei den indigenen Völ­ kern eine Einstellung zur " Freiheit" aus, die sich von der den Europäern gemäß Naturrecht zugewiesenen erheblich unterschied - die "Wilden" stan­ den, so hieß es, dem Prinzip Verantwortung und der gesetzlichen Autorität eher gleichgültig gegenüber und kümmerten sich nicht um die Zukunft. Andererseits wurde Amerika allmählich zu einem Utopia für all jene Werte, die Europa bewahren sollte, es aber nicht tat. Für Domenico Scandella, einen autodidaktisch gebildeten Müller aus dem Friaul, rief der Terminus "Neue Welt" eine Welt des Glücks hervor, durch die man Europa wie in einem Spie­ gel sehen konnte. Wer aus religiösen Gründen in die Neue Welt auswanderte, stellte sich ein Neues Jerusalem auf einem anderen Kontinent vor und im Gegenzug dazu ein fremdes Europa, das ihn verstoßen hatte. Amerika bot den Europäern die Möglichkeit, die Alte Welt neu zu denken. Die Mythologie spielte dabei eine nicht unwichtige Rolle. Am 19. Juni 1 559 schrieb Tizian aus Venedig an den mächtigsten Herrscher der Christenheit, Philipp II. von Spanien, um ihm mitzuteilen, dass er dabei sei, das letzte von sechs großen Gemälden fertigzustellen. Das Ensemble resultierte aus einem Auftrag, den er acht Jahre zuvor mit dem jungen Fürsten in Augsburg 43

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erörtert hatte. Thema des letzten Gemäldes war der Raub der Europa. Im Frühj ahr 1 5 62 war es vollendet und wurde Philipp übersandt. Das Werk zeigt eine aufgewühlte See unter einem bedrohlichen Himmel; im Vorder­ grund liegt auf einem Stier eine überlistete und halb entkleidete Europa, die ihre Jungfräulichkeit zu verlieren droht. Während sie fort- und aus dem Bild herausgetragen wird, hält sie sich um ihr Leben an den Hörnern des Stiers fest, bei dem es sich, wie sie gerade erkannt hat, um den mächtigen Zeus selbst handelt. Tizian bezog seine Inspiration aus dem zweiten Buch der Metamorphosen des Ovid, eines römischen Dichters, dessen Werke in der Renaissance zu den meist übersetzten und kommentierten gehörten. Tizian selbst konnte den lateinischen Text nicht lesen, aber sein Freund Ludovico Dolce, ein in Padua ausgebildeter Humanist, hatte gerade in Venedig eine illustrierte Ovid-Ausgabe veröffentlicht. Tizians brillantes Gemälde war vieldeutig. Er gab der Bilderfolge, deren Höhepunkt es darstellt, den Titel Poesie - gemalte D ichtkunst. D a Ovid zufolge das Thema des Raubs der Europa schon von der Weberin Araebne auf­ gebracht worden war, die im Wettstreit mit Athene zeigen wollte, dass sie die Kunst des Teppichwebens besser beherrschte, erhob Tizian mit seiner Bildver­ sion Anspruch darauf, der Apelles der modernen Welt zu sein (Apelles war der berühmteste Maler im antiken Griechenland gewesen). Doch wie sein Freund Pietro Aretino kurz vor seinem Tod bemerkte (und er musste es als Verfasser pornographischer Werke wissen), war auch Tizians Bilderzyklus ein erotisches Kunstwerk, das dem königlichen Gönner sexuelle Anziehungskraft und All­ macht in all ihren Verkleidungen vor Augen führen sollte. Auch besaß das Gemälde mit der entführten Europa eine politische Botschaft, denn "Raub" wurde mit den Türken und den Gräueltaten des Krieges in Verbindung gebracht. Somit sollte dem jungen König anschaulich gemacht werden, dass sein Erbe von innen wie von außen bedroht war - von innen durch seine eige­ nen Leidenschaften, und von außen durch räuberische Angriffe. Letztlich ging es bei dem Gemälde also auch um Werte. Vor allem aber wurde Europa zu einem geographisch bestimmten Raum. König Ferdinands Kartograph, Johannes Bucius Aenicola, stellte Europa als Königin (Europa regina) dar - ein graphischer Einfall, der Popularität erlangte, als er in spätere Ausgaben von Sebastian Münsters berühmter Cosmographia (1544) aufgenommen wurde. Wenig überraschend bildet Spanien das gekrönte Haupt und Italien den rechten Arm Europas, während ihr Mantel etwas unbe­ stimmt im Osten endet. Wichtig war die Krone. Cesare Ripa, Europas führen­ der Interpret all der Emblematik, die Dichtern, Malern und Schriftstellern zur Verfügung stand, gab in seiner Iconologia von 1603 die Anweisung, Europa 44

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solle stets mit einer Krone dargestellt werden, "um zu zeigen, dass Europa immer die Führerio und Königin" der vier Kontinente gewesen sei. Damit war die tradierte Hierarchie, bei der Europa an den Rockschößen von Asien und Afrika hing, auf den Kopf gestellt. Was sich darin niederschlug, war ein erwa­ chendes Gefühl von Überlegenheit, das einherging mit der Vorstellung von Europa als eines geographisch verortbaren Wertekanons. Allerdings gab es dabei ein Problem: Wo sollte Europa enden, da es doch keine natürlichen Grenzen der eurasischen Landmasse gab? Das Christentum hatte derlei Schwierigkeiten nicht gekannt, da seine Grenzen ebendie der christlichen Glaubensgemeinschaft gewesen waren. Doch wo verliefen die Grenzen eines geographisch verorteten Europas der Werte? Die Zeichner, die Europa als Jungfrau darstellten, verwischten das Problem, indem sie das Kleid eine große Region im Osten bedecken ließen und den Saum mit einer Vielzahl von Namen umgaben - "Skythien", "Moskowien", "Tatarei". Gehörte Russland überhaupt zu Europa? Die Frage war umso schwieriger zu beantworten, als eine russische Expansion nach Osten und Süden (wolgaabwärts) und über den Ural hinaus in die riesige asiatische Landmasse hinein stattfand. Diese Aus­ dehnung wurde weniger gefeiert als Europas überseeische Abenteuer, war aber nicht weniger wichtig. Die Antwort auf diese Frage hing zunehmend von dem Bild ab, das ein europäischer Beobachter sich von dem fremden "Anderen" im Hinblick auf jene Werte machte, die für die Historiker und Philosophen der Aufklärung im 18. Jahrhundert den Kern von "Zivilisation" bildeten, wobei sie sich auf eine bestimmte Interpretation des politischen, religiösen und kultu­ rellen Erbes Europas stützten. Schließlich konnte Europa in dieser Epoche als geographische Einheit begriffen und dargestellt werden, weil sich das Verständnis von Raum und Räumlichkeit änderte. Die Kartographie erlaubte es, den Raum als geometri­ sche Größe zu verstehen, losgelöst von qualitativen Aspekten wie Bedeutung und Erfahrung. Wie Ptolemäus erklärt hatte, waren es allein die Entfernungs­ verhältnisse, die zählten. Anfang des 15. Jahrhunderts entdeckte man in Kon­ stantinopel seine Geographia, die in der islamischen Welt schon seit Langem bekannt, dem westlichen Christentum aber neu war. Ptolemäus' Werk enthielt die theoretischen Grundlagen der Kartographie samt Längen- und Breitengra­ den. Es entfaltete eine Projektionsmethode und betonte die Bedeutung empi­ rischer Beobachtung. Europäische Kartographen benutzten diese Vorgaben, um Räume zu vermessen und zu bestimmen. Die Ergebnisse ließen sich anhand von Globen und gedruckten Karten sehen. Europas "Zeitalter der Ent­ deckungen" machte nicht einfach nur weit entfernte neue Welten sichtbar, sondern auch die eigene räumliche Identität. 45

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Die neue Dynamik der Information Mit dem wachsenden Bewusstsein von einem europäischen geographischen Raum veränderte sich auch der Blick auf das, was als lokal galt. Gewürze, Fär­ bemittel, Häute, Pelze, Seide und Zucker gehörten zu den Handelsgütern, die Europas Märkte miteinander und mit der außereuropäischen Welt verbanden. Eine zunehmende Dynamik in der Kommunikation und Information tat das ihre. Die Wirkung der Drucktechnologie war nur Teil eines weitaus größeren Veränderungsprozesses, der handgeschriebene Briefe ebenso umfasste wie Postzustelldienste, die mündliche Weitergabe, das Reisen und damit zusam­ menhängende Begegnungen, die wissenschaftliche Forschung und die Struk­ turierung von Wissen. Organisationen und Strukturen funktionierten besser über weite Entfernungen hinweg. Die Überzeugung (moralischer oder anderer Art) rückte als bestimmendes Element politischen Handelns, religiösen Glau­ bens und sozialen Verhaltens in den Vordergrund. Räumliche und zeitliche Beschränkungen, die bisher definiert hatten, wer man war und welche Mög­ lichkeiten einem offenstanden, schwächten sich ab. Die Menschen wurden sich, auf direkte und indirekte Weise, der Tatsache bewusst, dass die Welt größer, vielfältiger und komplexer geworden war. Größer wurde auch die Kluft zwischen denen, die - selbst des Lesens, Schreibens und Rechnens kun­ dig - an der Dynamik direkt teilhaben konnten, und denen, die sich dafür auf andere verlassen mussten. Die Nachrichtenblätter und Flugschriften machten die Generäle des Dreißigjährigen Krieges und der sonstigen Konflikte - die noch heute mit eisigem Blick, Lockenperücke und schwarzem Brustpanzer die Besucher der europäischen Museen begrüßen - weithin bekannt. Berichte von Massakern, Hungersnöten und Pestausbrüchen wurden zu Lehrstunden über Gottes Zorn und konnten überall in Europa mit- und nachempfunden werden. Zur Mitte des 17. Jahrhunderts hin verdichtete sich das Bewusstsein einer umfassenden, allen gemeinsamen Krise, und dies ist das wohl deutlichste Zei­ chen für die Veränderungen in der europäischen Informationsdynamik, die sich seit Beginn des 16. Jahrhunderts vollzogen hatten. Die Bedeutung der neuen Kommunikationsgewohnheiten ist kaum zu überschätzen. Hätte, um ein Beispiel zu nehmen, Europa nicht begriffen und an Beispielen erfahren, dass ein politisches Gemeinwesen und eine soziale Ordnung durchaus in der Lage sind, mit religiösem Pluralismus zu leben, wäre die Erschütterung des 17. Jahrhunderts wohl noch tiefer und schädlicher gewe­ sen. Hätte Europa nicht die politischen und organisatorischen Rahmenbedin­ gungen des Staats verändert, um Informationspluralismus zu ermöglichen und die Machtverhältnisse zu regeln, wäre das Risiko eines systemischen 46

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Staatszusammenbruchs gewachsen und wären die unerbittlichen Rivalitäten zwischen adligen und dynastischen Eliten außer Kontrolle geraten. Hätte Europa nicht auf die an Zahl zunehmenden und in der Fläche immer weiter gestreuten Zusammenballungen von Reichtum und Macht zurückgreifen können, die durch immer dichter geknüpfte Netzwerke gegenseitiger wirt­ schaftlicher Verpflichtungen und vielfältige Kanäle des Wissenstransfers miteinander verbunden waren, hätte sein Kolonialismus nicht jenen dauerhaf­ ten und tief greifenden Einfluss haben können, der innerhalb und außerhalb Europas zutage trat. Hätten sich keine diplomatischen Kanäle, keine Kommu­ nikations- und Verhandlungsprotokolle entwickelt, wäre der so beispiellos genau ausgearbeitete Westfälische Frieden, der den Dreißigjährigen Krieg in Deutschland beendete, nicht möglich gewesen.

Das "silberne Zeitalter" und seine Folgen Bis 1650 waren mehr als 180 Tonnen Gold aus Ostindien und 16 000 Tonnen Silber aus der Neuen Welt nach Europa gelangt. Das war das "silberne Zeital­ ter". Zunehmend wurde wichtig, ob man über Edelmetall verfügte oder nicht - und selbst wenn man es nicht tat, konnte man seinem Einfluss nicht entkommen. Der Grund dafür lag in der beispiellosen Inflation, die im 16. Jahrhundert über lange Strecken das wirtschaftliche Klima bestimmte und in einigen Teilen Europas bis ins 17. Jahrhundert andauerte. Die europäische "Preisrevolution" (oder "Große Elisabethanische Inflation") war tatsächlich eine Zeit stagnierenden Wachstums, sei es in monetärer oder bevölkerungs­ mäßiger Hinsicht. Französische Historiker sprechen vom "schönen 16. Jahr­ hundert"; allerdings bereitete der Krieg dem Säkulum in Frankreich ein vor­ zeitiges Ende, und "schön" war es für einige Menschen, für andere aber ganz gewiss nicht. Die Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen denen, die von der Inflation profitierten, und den anderen, vertiefte sich. Zu den Verlierern gehörten Personen mit festem Einkommen, das sie in Geld erhielten (zum Bei­ spiel Renten und andere Anlageformen, aber auch Steuern) . Dazu zählten auch Angehörige der europäischen Eliten - Fürsten, Landadlige und Geistliche. Inflation und Wirtschaftsexpansion wirkten sich negativ auf ihr festes Ein­ kommen aus. Doch fanden sie zumeist andere - häufig genug umstrittene Möglichkeiten, sich Einkünfte zu verschaffen. So führten die Fürsten etwa neue Steuern ein, der Landadel ersann neue Lasten für die Pächter. Das bedeu­ tete ein aggressiveres Verhalten seitens der Landbesitzer, hier und da höhere Abstandssummen für Pächter, Enteignung von Waldgebieten und Allmenden, 47

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wo bisher die örtliche Gemeinschaft gewisse Nutzungsrechte besaß. Östlich der Elbe und nördlich der Saale wurden die Bauern stärker als bisher mit Herrendiensten belastet. Im Zuge von Inflation und wirtschaftlicher Expansion verlangten immer mehr soziale Gruppen aufgrund ihres zunehmenden Gewichts und ihres gewachsenen Sozialstatus, als Notabeln in der etablierten Gesellschaftsord­ nung anerkannt zu werden. Zugleich mehrte sich die Zahl der Verlierer: Da war die Masse der Kleinbauern, die nur winzige Grundstücke besaßen, von deren Ertrag sie nicht leben konnten, die chronisch verschuldeten Bauern, die ihren Hof an die Gläubiger verkaufen mussten oder zu bloßen Pächtern mit winzigen Gütern herabsanken, schließlich die wachsenden Reihen der armen Stadtbewohner, die wiederum für die Kommunen stärkere soziale Lasten bedeuteten. Europa erlebte zwar keine tief greifende soziale Transformation, aber der soziale Zusammenhalt wurde schwächer. Zwar wurde der Verfall der lokalen Solidarität durch die wirtschaftliche Expansion des 16. Jahrhunderts zunächst überdeckt, doch durch die in den meisten Teilen Europas folgende Rezession umso mehr zutage gefördert und durch die Verwerfungen im Drei­ ßigjährigen Krieg noch intensiviert. Die Schwächung des Zusammenhalts setzte den andauernden Lokalismus in Europa unter Druck. Bis zu einem gewissen Grad war das in den Dörfern und Landstädten Europas herrschende Identitätsbewusstsein immer eine künstliche Konstruktion gewesen, durch die lokale Notabeln - seien es reiche Bauern, die häufig zu Führungspersonen in der Dorfgemeinschaft aufstiegen, lokale Adlige oder die Kaufleute und führenden Zunftmitglieder, die als korporative Elite eine Stadt verwalteten - ein Konzept von lokaler Solidarität zum Schutz von Frieden, Gerechtigkeit, guter Ordnung und, natürlich, ihren Eigeninteressen entwickelten. Doch fanden diese lokalen Führungsschichten es zunehmend schwieriger, ihre Auffassung dessen, was für das Gemeinwohl förderlich sei, als mit den Interessen eines jeden Einzelnen in den gespaltenen Gemeinschaften übereinstimmend darzustellen. Religiöse Differenzen er­ schwerten diese Aufgabe zusätzlich, und zugleich wirkte die Staatsmaschine­ rie ferner und fremder, weniger bereit, den Sorgen der Herren zu lauschen oder auf ihre Petitionen zu reagieren. Auch die Beziehungen zwischen Stadt und Land erfuhren auf der lokalen Ebene einen Wandel. Die Städte beherrschten nun das umgebende Land stär­ ker, während die Bauern sich in das städtische Marktleben vorwagten (und dadurch partiell von den Märkten abhängig wurden). Betuchte Bürger kauf­ ten Ländereien auf (und betrieben bei zahlungsunfähigen Pächtern die Zwangsvollstreckung). Lokale Proteste und Aufstände gehörten so sehr zum 48

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Alltag, dass ihr Auftreten bei Weitem nicht von solcher Bedeutung ist wie die Frage, in welchem Maß lokale Unzufriedenheit und Streit im Zuge der erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten über die eigene Gemeinschaft hinaus Zustimmung finden konnten und so als Protest weithin vernehmbar wurden. Der schwindende soziale Zusammenhalt und die damit einher­ gehenden sozialen Spannungen blieben nicht ohne Einfluss auf die lokalen Oberschichten. Sie suchten nach Erklärungen für die so unbewehrte und unkontrollierbare Welt, in der sie sich wiederfanden. Viele suchten und fan­ den Halt in der katholischen Gegenreformation. Andere beriefen sich auf Gottes unerforschliche Ratschlüsse oder auf die endzeitliehen Erwartungen jener, die in der Unsicherheit der Zeit ein Zeichen für den Anbruch der letz­ ten Tage sahen. Wieder andere machten die Präsenz des Teufels in der Welt verantwortlich oder suchten in der Astrologie nach Erklärungs- und Vorher­ sagemöglichkeiten. Interessant an all diesen Erklärungsversuchen ist ihre Universalität und das Ausmaß, in dem sie auf lokaler Ebene von den Ober­ schichten übernommen wurden. Mit der Vorstellung von einer Metamorphose ließ sich der Wandel der Zeit verstehen. Als Lucas Cranach der Ältere, der Freund von Martin Luther in Wittenberg, Die Früchte der Eifersucht (Das silberne Zeitalter) malte, schuf er eine ovidische Allegorie auf seine eigene Zeit. Jedes der Bilder dieser Werk­ gruppe zeigt schutzlose nackte Frauen und Kinder, die in kleinen Gruppen sich zusammendrängen, während aggressiv-eifersüchtige Männer einander umbringen. Hesiod hatte diese Metamorphose beschrieben als jene Zeit, in der "die Menschen sich weigerten, die Götter zu verehren" und stattdessen mitei­ nander in Streit gerieten. Für Ovid war das silberne Zeitalter der Vorläufer des bronzenen Zeitalters, als die Menschen "von schlecht'rem Wesen waren, bereit zu furchtbarem Krieg", worauf dann das eiserne Zeitalter folgte. Cranach machte daraus eine bildgewordene Mahnung mit Parallelen zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Er wollte daran erinnern, wie schnell die Menschheit dem Niedergang und Verfall geweiht war, wenn sie den Göt­ tern nicht mehr gehorchte. Mit dem Jahrhundert neigte sich auch Europas "silbernes Zeitalter" dem Ende entgegen. Der Prozess begann in den 1580er- und 1590er-Jahren, als die Silberimporte aus der Neuen Welt ihren Höhepunkt eben erreicht, Wirt­ schaftswachstum und Wohlstand den ihren allerdings bereits überschritten hatten. Während Frankreich und die Niederlande die blutigsten Phasen ihrer Bürgerkriege durchlitten, löste eine schleichende Wirtschaftskrise allerorten Ängste aus. Am stärksten machten sich diese bemerkbar, wo das Bevölke­ rungswachstum stagnierte, was besonders im südlichen Europa der Fall war. 49

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In einigen Gebieten traten Epidemien, Hungersnöte und Entvölkerung in einem Ausmaß auf, wie es die Zeitgenossen noch nie erlebt hatten. Diese Phänomene setzten sich bis ins nächste Jahrhundert fort. Auch kannte man keine Mechanismen, um die diversen politischen, sozialen und kirchlichen Verpflichtungen, die sich in den guten Zeiten herausgebildet hatten, an die veränderten Umstände anzupassen. Nun stellten sie eine Belastung und ein Hindernis für den gesellschaftlichen Wandel dar. Feudalpflichten, Formen der Naturalpacht und Leibeigenschaft waren die Mittel, mit denen die Ober­ schicht die bäuerliche Welt belastete. Unterdessen gelang es in Teilen von Nordeuropa den dortigen Gesellschaften, ihre Wirtschaft neu in Gang zu bringen, den Sturm zu überstehen und von den Missgeschicken anderer zu profitieren. An der nordwestlichen Atlantikküste führte die wirtschaftliche Erholung zum Aufbau von überseeischen Reichen und Wirtschaftssystemen, die ihren Vorgängern nachstrebten, aber auch neue Elemente einführten. Die unterschiedlichen Entwicklungsmuster in Europa gehörten zu den hervorste­ chendsten Phänomenen des Wandels. Dank der neuen Dynamik in der europäischen Kommunikation waren die politischen Verwaltungen darüber informiert, dass die Wasserscheide der letz­ ten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts die verschiedenen Regionen Europas in unterschiedlicher Weise getroffen hatte. Zu den wachsenden Spannungen innerhalb Europas trug nun auch der Versuch bei, von den erfolgreicheren Ländern zu lernen, sie, wo möglich, nachzuahmen, den Konkurrenten zuvor­ zukommen. Wenig hilfreich waren da die sehnsuchtsvollen Blicke zurück in eine als "goldenes Zeitalter" verklärte Vergangenheit. Die den kriegerischen Auseinandersetzungen nach 1618 zugrunde liegenden wirtschaftlichen Rivali­ täten riefen soziale Spannungen hervor, die bereits in den Jahren nach der Reformation kurz sichtbar geworden waren, aber durch erfolgreiche Verhand­ lungen wieder von der Bühne verschwunden waren. Jetzt war die Verhand­ lungsbasis schmäler, waren die Aussichten auf ökonomisches Wachstum und wirtschaftliche Expansion geringer geworden. Der Staat und besonders seine "Subunternehmer" und ausführenden Organe (Steuereintreiber, Söldnerfüh­ rer, Beamte und andere) übten stärkeren Zwang aus und stellten härtere For­ derungen. Mochten chiliastische Überzeugungen oder kaufmännische Erwar­ tungen auch manchen die Zukunft rosig erscheinen lassen, lag diese für andere eher im Himmel als auf Erden. "Glückliche Jahrhunderte, glückliches Zeitalter", sagt Don Quijote angesichts einiger Ziegenhirten, die noch ein ganz traditionelles Leben führen, "dem die Alten den Namen des Goldenen beileg­ ten." Und so zieht der in seiner Traumwelt lebende Ritter gegen die harte Wirklichkeit "in unserm eisernen Zeitalter" in den guten Kampf. 50

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In den späteren 1630er-Jahren beauftragte der toskanische Herzog Ferdi­ nando de' Medici den Maler Pietro da Cortona damit, die Wände der kleinen Sala della Stufa im Palazzo Pitti in Florenz mit Darstellungen der vier Zeitalter zu schmücken. Das Thema war ihm von Michelangelo Buonarroti (dem Jün­ geren), dem Neffen des großen Künstlers Michelangelo, nahegebracht worden. Das letzte Fresko zeigt das Eiserne Zeitalter. Es wurde 1640 vollendet und ist die hyperrealistische Darstellung eines Blutvergießens. Vor den Insignien der Zivilgesellschaft wird im Vordergrund eine schutzlose Familie von Soldaten niedergemetzelt, während weiter hinten ihre Kameraden trotz der flehent­ lichen Bitten eines machtlosen Priesters gegeneinander kämpfen. Die Szene ist gewalttätiger, intensiver und furchterregender als Cranachs Bild der betroge­ nen Unschuld ein Jahrhundert zuvor. Cortonas Darstellung beschwört die Kriege und mörderischen Belagerungen, die zerstörten Landschaften und ohnmächtig dem Wüten ausgelieferten einfachen Leute des Dreißigjährigen Krieges ebenso herauf wie die Zerrissenheit der Britischen Inseln und das darniederliegende Polen. "Then, blushlesse Crimes, which all degrees surpast, the World Surround. Shame, Truth, & Faith departe, Fraud enters, ignorant in no bad Art; Force, Treason, & the wicked loue of gayne . . . " (Verbrechen ohne Scham und Maß durchdringen nun die Welt. Scham, Wahrheit, Glauben geh'n dahin, eintritt Betrug, der alles Schlechte kennt; Gewalt, Verrat, die böse Lust am Gewinn . . . ). George Sandys' populäre Übersetzung der Metamorphosen des Ovid (ein erster Teil wurde 1621 publiziert) stellt beispielhaft dar, wie die Zeitgenossen Europas Leiden in der Mitte des 17. Jahrhunderts begriffen - es war eine Krise, die in eine Metamorphose zu münden drohte, dann aber nicht mündete, ein Paroxysmus, von dem sich Europas ancien n?gime erholte, und zwar auf den bereits gelegten Fundamenten.

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Vorn " silbernen Zeitalter(( zum "eisernen Jahrhundert((

2 . Ressource Mensch

Die materiellen Grundlagen des Christentums

Abesteuerten, geschah das häufig anhand des "Herdfeuers". Dieser Aus­

ls im 16. Jahrhundert Beamte in Europa die Bevölkerung zählten und

druck lässt an eine um ein offenes Feuer versammelte Familie denken. Ein Loch im Dach sorgt für den Abzug; der bewohnte Raum besteht aus einer Diele, in der gekocht, gegessen und Hausarbeit verrichtet wird, und einer Schlafkammer. Vorratshaltung hatte Vorrang, Komfort und Privatheit muss­ ten zurückstehen. Wohlstand zeigte sich an der Existenz von Keller, Vorrats­ raum und Scheune. In den kalten Winternächten holte man das Vieh herein (ins "Langhaus"), um mehr Wärme zu haben. Aber diese Vorstellung ist ein Klischee. Tatsächlich fielen die materiellen Grundlagen des Christentums regional höchst unterschiedlich aus. Das zeigte sich schon im Hausbau, dessen Stil von den lokal verfügbaren Materi­ alien ebenso abhing wie von sozialen und kulturellen Eigenarten. Die Art zu wohnen hatte sogar Einfluss auf die demographische Entwicklung Europas. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich in den Städten und bei größeren Bauernhäusern eine bauliche Neuerung durchgesetzt: der in eine Wand ein­ gelassene Kamin. Er erzeugte (dank besseren Abzugs) sehr viel mehr Hitze, die zwar nur zum geringen Teil genutzt werden konnte, doch hielt er die Räume weitgehend rauchfrei. Besser noch waren geschlossene Öfen aus Lehm und Kacheln. Ein Italiener, der zu Beginn des 16. Jahrhunderts Polen bereiste, berichtete, dass ganze Familien, in Felle gewickelt, auf Bänken rund um den Ofen schliefen. Bei Descartes lesen wir (im Discours de la methode), wie er im Winter 1619 bei Ulm an einem poele (einem Kaminofen) zu einer Einsicht gelangte, die zum Ausgangspunkt für seine Suche nach einer neuen Methode zur Ordnung und Bewertung menschlichen Wissens werden sollte. Von einem zeitgenössischen Chronisten erfahren wir, dass es sage und schreibe 74 Öfen im Palast von Böhmisch Krumau (Cesky Krumlov) gab. Ihre 54

2. Ressource Mensch

geschwungenen Formen und farbig glasierten Kacheln verliehen den Räumen einen zusätzlichen visuellen Reiz. Kunsthandwerker versahen die Kacheln vor dem Brennen mit biblischen Szenen, die sie von Altären oder aus Stun­ denbüchern übernahmen, und machten daraus eine Art "Ofenreligion". Sol­ che Veränderungen der Heizkultur wirkten sich direkt auf das Leben der Menschen aus - auf die Räumlichkeiten, die Privatheit, die Kleidung, sogar auf ihren Glauben und auf die Präsenz von Nagetieren. Holz, Steine, Ziegel - wenn es um den Hausbau ging, standen die verwen­ deten Materialien in enger Beziehung zum sozialen Status. Der Hausbau war für die lokale Wirtschaft von größerer Bedeutung als die Weberei. Allerdings lässt sich nur schwer einschätzen, wie viel es kostete, ein Haus zu errichten oder zu erhalten. Vieles beruhte auf menschlicher Arbeit und wurde in Natu­ ralien bezahlt. Selbst bescheidene Cottages wurden aus Stein erbaut, wo die­ ser reichlich verfügbar war, wie zum Beispiel in Cornwall, der Bretagne, im Burgund und im Pariser Becken. In den Mittelmeerregionen - Katalonien, Languedoc, Provence - waren die Wohnsitze oftmals von beeindruckendem Umfang: Bis zu drei Stockwerke hoch wurden Steine mit einem Gesamt­ gewicht von einigen hundert Tonnen verbaut. Im Parterrebereich wurden Weintrauben und Oliven gepresst und anschließend Wein und Öl gelagert. Die Familie bewohnte die oberen Stockwerke. Der Dachboden unter den (im Mittelmeerraum weit verbreiteten) Hohlpfannen diente der Lagerung von Getreide. Wichtig war in Anbetracht des warmen Klimas die Belüftung; im Winter sorgten Kohlebecken für Wärme. Diese Häuser wurden für eine Lebensdauer von bis zu 300 Jahren gebaut, ihre Erhaltung und Pflege kostete fast nichts. Dafür waren sie aber auch bis zu 1 5 -mal teurer in der Errichtung als ein Holzhaus. Holz war in den waldreicheren Gebieten Nordeuropas das bevorzugte Material für den Hausbau, in Stadt und Land gleichermaßen. Doch fanden sich komplett aus Stämmen errichtete Blockhäuser nur in Teilen der Alpen. Die meisten Gebäude bestanden aus einem das Dach tragenden Rahmenwerk aus behauenem Holz; die Zwischenräume wurden mit Flecht­ werk gefüllt, das man dann mit Lehm bewarf. Holz war preiswert, hatte gute thermische Eigenschaften und konnte stückweise ausgebessert oder ersetzt werden. Die Bandbreite dieser Bauweise reichte von der typisch polnischen Holzrahmenkonstruktion auf einem Steinfundament, mit einem Lehmboden und einem Dach aus Stroh oder Schindeln, und Erde und Stroh an der Außen­ wand als Isoliermaterial, bis hin zu den massiveren Fachwerkhäusern Mittel­ und Nordeuropas mit oberen Wohngeschossen und Speichern. An den Küsten und Flüssen Nordeuropas und in den größeren Städten des Südens waren Ziegel das bevorzugte BaumateriaL Deren Herstellung erforderte jedoch 55

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

Transportmöglichkeiten, P roduktionsstätten, gelernte A rbeitskräfte und InvestitionskapitaL Für haltbaren Mörtel benötigte man Kalkstein, der teuer war. So wurden zwar die städtischen Wohnhäuser aus Prestigegründen gern aus Ziegeln errichtet, doch bediente man sich ansonsten, häufig gleich außer­ halb der Stadt, verschiedener Mischbauweisen aus Ziegeln und Fachwerk oder Holz, wenn stabile größere Gebäude mit guter Wärmedämmung und ohne allzu großes Gewicht gefragt waren. Funktion und sozialer Status bestimmten die Art und Weise, wie gewohnt wurde. Die Behausungen der Tagelöhner boten bestenfalls Schutz vor dem Wüten der Elemente; in Deutschland lebten Klein- und Kleinstpächter ohne eigenen Landbesitz ebenfalls in elenden Baracken gleich neben den Höfen der wirtschaftlich besser gestellten Bauern, deren Land sie bearbeiteten. Minen­ arbeiter in der Auvergne waren in Hütten untergebracht, die aus einem einzi­ gen Raum bestanden. In Ungarn und auf leichten, trockenen Böden in Mittel­ und Osteuropa lebte die Landbevölkerung bisweilen in Häusern aus Torf- und Grassoden, die halb in die Erde gebaut waren. Einer Erhebung aus dem Jahr 1 564 zufolge wohnten in der Hafenstadt Peseara an der Adria etwa drei Vier­ tel der Bewohner, bei denen es sich um Wanderarbeiter handelte, in Gerber­ hütten. In der bäuerlichen Lebenswelt war das Haus Bestandteil des Lebens­ unterhalts. Platz für die Verarbeitung und Lagerung von Getreide, Oliven und Weintrauben war wichtiger als Wohnraum. Waren die einfachen Unter­ künfte von Tagelöhnern nicht mehr als eine Zuflucht, so stellten die Höfe der bäuerlichen Oberschichten, wie die erhaltenen Inschriften an Holzhäusern in mitteleuropäischen und alpinen Gebieten zeigen, ein Statussymbol und zugleich eine Geldanlage dar. Die Gebäude, die aus jener Zeit auf uns gekom­ men sind, zeigen, wie gut sich die Handwerker mit den Materialien auskann­ ten und mit welchem statischen Gespür sie das Gewicht der Obergeschosse gleichmäßig zu verteilen wussten. Im 16. Jahrhundert tauchten in Italien und Frankreich zum ersten Mal "Architekten" auf. 1 564 publizierte der Humanist Charles Estienne La maison rustique (Der Meierhof). Es war ein Musterbuch für die Anlage eines Gehöfts, an dem sich die französischen Handwerksmeis­ ter fast zwei Jahrhunderte lang orientierten. Europas demographische Lebens­ kraft ließ einen bemerkenswerten Teil an Kapitalinvestitionen in den Gebäu­ debestand fließen. Das materielle Leben des Christentums offenbart sich in Nachlassinventa­ ren, wie sie von Auktionatoren, Notaren und Landschreibern angefertigt wurden, die mit einem Blick wussten, was Gegenstände wert waren. Die Erstellung eines Inventars war der erste Schritt, wenn eine Generation die vorangegangene beerbte, und sie lohnte sich nur, wenn es tatsächlich etwas zu 56

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erben gab - was auch auf dem Land und in bescheideneren Lebensumständen der Fall war. Derartige Dokumente waren, wie Testamente, nicht auf die Rei­ chen beschränkt, sondern im Gegenteil für jeden Erblasser wichtig, der das Erbe unmündiger Kinder gesichert wissen wollte. In der Gemeinde Willing­ ham im Marschland von East Anglia verfügten die Dorfbewohner mit großer Sorgfalt über ihr Vieh und die Gerätschaften für die Käsezubereitung. 1 593 bestimmte William Pardye, ein Bootsführer, dass sein einziger Sohn John zwei Kühe, "mein ganzes Haus, so wie es dasteht . . . mit dem Viehfutter, das im nämlichen Haus gelagert ist, mein Boot in der Marsch, meine Stiefel und ein Paar Knöchelschuhe" erhalten solle. In Burgund waren die am häufigsten in den Inventaren genannten Gegenstände Dreifüße, Kochtöpfe, Kochge­ schirr und Brotbretter (zum Schneiden oder Teigkneten), öfters erwähnt wurden auch verschließbare Truhen, Holzbetten und Matratzen. Bereits im 15. Jahrhundert war die Gewohnheit, auf einem strohgefüllten Sack zu schla­ fen, der auf dem Boden oder auf Brettern lag, anderen Formen der Bettung gewichen. Betten, die aus einem Holzrahmen bestanden, in dem die Matratze auf einem Kreuzgeflecht aus Lederriemen oder Tauwerk ruhte, waren nun eine wichtige Mitgift bei der Heirat. Himmelbetten mit ihren vier Pfosten gar waren beeindruckende Möbelstücke und ein deutliches Zeichen für familiä­ ren Wohlstand. William Shakespeare vermachte in seinem Testament (vom 25. März 1616) seiner Frau Anne sein "zweitbestes Bett". Matratzen, gefüllt mit Federn oder Wolle (Stroh war ein billiger Ersatz), konnten mit Samt, Seide und Borten reich verziert sein. Armut war freilich weit verbreitet; viele Men­ schen besaßen kaum etwas. Auf dem Bild La Chanson a boire (1605-1606) stellte der holländische Maler Adriaen Brouwer das Innere einer Hütte dar, die vielleicht in den Dünen nördlich von Antwerpen liegt. Drei Bauern singen dort ihr Trinklied, umgeben von nichts außer den nackten Wänden, einfa­ chen Schemeln und den Krügen, aus denen sie trinken. Wie die Siedlungen Europas angelegt waren, hing von einer Mischung aus historischer und sozialer Geographie ab. Vor dem geistigen Auge entsteht als vorherrschendes Muster das Dorf mit der Kirche als Mittelpunkt, um die herum sich die Häuser gruppieren, ihrerseits umgeben von Feldern und Allmenden. Diese Siedlungsform war typisch für die Ebenen und Fluss­ niederungen wie auch für die Küstenregionen des Mittelmeers und die Randgebiete, in denen Europa Land rekolonisiert hatte - auf der Iberischen Meseta oder in der Großen Ungarischen Tiefebene. Unterschiedlicher gestal­ teten sich die Siedlungsformen in den Regionen mit Nutztierhaltung, in den Heide- und Marschgebieten, den bewaldeten und gebirgigen Zonen. Vielfach verbreitet in O st- und Mitteleuropa war das Straßendorf, bei dem sich die 57

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

Ansiedlung zu beiden Seiten der Straße hinzog. Typisch für die nordeuropä­ ischen Atlantikküsten war das Küstendorf, das sich um eine Bucht oder einen Hafen gruppierte. Diese Siedlungstypen können im Detail auf Grundbesitzkarten der dama­ ligen Zeit studiert werden. Sie waren die Frucht zunehmender Vermessungs­ aktivitäten. Eines der ersten in deutscher Sprache verfassten Vermessungs­ handbücher ist Jacob Köbels Geometrey von 1535, die beispielsweise folgenden Praxistipp gibt: "Es sollen sechtzehn mann I klein vn groß I wie die ungefehr­ lich nacheinander aus der Kirchen gehen I ein ieder vor dem andern einen Schuh stellen I vnnd damit ein Lenge I die da gerad sechtzehn derselben Schuh begriffet I messen." Dann wird die "Lenge" an beiden Enden markiert, und fertig ist der 16-Schuh-Stab für die Feldvermessung. Gegen Ende des 16. Jahr­ hunderts erwartete man von Landvermessern den Einsatz von Geometrie und Kompass, um Oberflächen, die aus unregelmäßigen Vielecken bestanden, durch Triangulation zu bestimmen. Neue Instrumente halfen dabei, wie etwa Philippe Danfries graphometre (angezeigt in einer Pariser Publikation von 1597) und "Messräder" zur Entfernungsmessung. Dennoch blieb das Erstellen genauer Karten eine schwierige Aufgabe. Paul Pfinzings 1598 in Nürnberg ver­ öffentlichtes Vermessungshandbuch empfahl: "Wenn nun einer wider zu Hauß kömbt I so kann er solch gemessen Feldt I auß seinen Täfelein . . . auff ein Pappir I so auff einem Tisch angehefftet werden muß I eintragen I und den Thailer 10 Schrit sein lassen." Seine Grundbesitzkarten zeigen Besiedlung und Landnutzung in bemerkenswerter Detailgenauigkeit. Die Karte seines Geburtsortes Hennenfeld von 1592 listet die Felder und Grundstücke der 79 Einwohner auf. Weiter südlich legte Johann Rauch, ein Vermesser aus Vorarl­ berg, eine Reihe von Karten für das Ostufer des Bodensees und für Ober­ schwaben an. Auf seiner Karte des Dorfes Rickenbach (die er um 1628 zeich­ nete) ist jedes Haus nummeriert und inklusive der dazugehörigen Felder mit dem Namen des Besitzers versehen. In Bayern kartographierte Peter Zweidler gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Ländereien des Bischofs von Bamberg mitsamt Straßen und Dörfern, Fischteichen und sogar den Grenzsteinen. Europas Siedlungsmuster erlebten in dieser Epoche keine gravierende Ver­ änderung. Ein den (infolge der Pest) "verlorenen Dörfern" des Mittelalters entsprechendes Phänomen ist nach 1600 in den Mittelmeergebieten zu beob­ achten, und dort insbesondere in Zentralspanien, wo in den trockenen Hoch­ ebenen die Entvölkerung der ländlichen Regionen bedrohliche Ausmaße annahm. In seinem Testament von 1642 vermachte der Graf von Olivares acht religiösen Stiftungen Geldsummen zur Wiederbesiedlung verlassener Ortschaften. Für das Verschwinden von Dörfern und Weilern nach 1500 gibt 58

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es noch weitere Gründe: bewusste Landschaftsgestaltung (ehrgeizige Aristo­ kraten bauten oder erweiterten Parks), Rache (die Vernichtung der waldensi­ schen Gemeinschaften im südfranzösischen Luberon 1 545 oder in Kalabrien 1 558), Plünderung (im Kielwasser der türkischen Offensive zu Beginn des 16. Jahrhunderts in der Südslowakei und in Teilen von Ungarn) oder Klima­ wandel. Im Gegenzug wurden neue Gemeinschaften ins Leben gerufen, als man in West- und Südeuropa Sumpf- und Marschgebiete urbar machte. Es entstanden Dörfer, bewohnt von Gruben- und Salinenarbeitern, Steinbre­ chern und Fischern. Im Norden und Osten gab es noch unberührte Wald­ gebiete und unkultiviertes Land. So war die Anzahl der Bauernhöfe in Nor­ wegen seit circa 1300 stabil geblieben - im Jahr 1665 waren es dann an die 57 000. In Norrland (Nordschweden) und Savolax (Ostfinnland) machte sich um 1 570 eine neue Siedlungsbewegung bemerkbar, auch wenn es immer noch weite Landstriche gab, die vom Menschen kaum berührt waren. Deutsche und Slawen ließen sich in Ostmitteleuropa nieder. Weiter südlich, in Böhmen und Mähren, wurden im 15. Jahrhundert verlassene Dörfer wieder besiedelt. Das Land wurde neu belebt.

Seitenweise Namen Vor der Französischen Revolution gab es in Europa keine Volkszählungen moderner Art, wohl aber zensusähnliche Erhebungen, vor allem in Städten und stärker urbanisierten Regionen. Der Zweck dieser Zählungen war kein demographischer. Europas Herrscher wollten damit vielmehr ihre Bevölke­ rungen besteuern, zum Militärdienst einziehen oder neu Eingewanderte erfassen. Die Humanisten schätzten Volkszählungen aus anderen Gründen. Niccolo Machiavelli befürwortete die 1427 in Florenz eingeführte Vermö­ genssteuer, weil er meinte, sie folge römischem Vorbild und verhindere die Tyrannei. Sein Zeitgenosse Francesco Guicciardini sah in Vermögenssteuern zwar einen Angriff auf die Notabeln, trat aber für andere progressive Steuern ein, die auf dem Zensus beruhten. Der französische Humanist Jean Bodin empfahl die Volkszählung in seinen Six livres de la republique (Sechs Bücher über den Staat, 1 576), weil er sie als Grundlage für ein Steuersystem ansah, das die geometrischen Proportionen der Welt in ihrer Gesamtheit (die "Har­ monien") widerspiegelte. Trotz dieses Messeifers herrschte die stille Überzeu­ gung, dass die Bevölkerung seit der Antike zahlenmäßig abgenommen habe und sich weiter verringere. In den Utopien jener Zeit (Thomas Morus' Utopia erschien 1 5 16, Tommaso Campanellas Sonnenstaat 1602 , Francis Bacons 59

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Neu-Atlantis 1624) fiel dem Staat die Aufgabe zu, die Anzahl seiner Bürger zu vermehren, denn zu viele Untertanen oder Bürger konnte es laut Jean Bodin gar nicht geben - weil nämlich ohne Menschen weder Reichtum noch Macht zu gewinnen seien. Mit der Etablierung des "Steuerstaats" wurde die Bevölkerung häufiger gezählt. In dieser Hinsicht waren die politischen Gemeinwesen in Italien Vor­ reiter - Venedig, Mailand, die Toskana, Genua, Rom, die Königreiche von Neapel und Sizilien. In den südlichen Niederlanden beruhte die Besteuerung auf der Zählung der Herdfeuer, im Languedoc auf dem geschätzten Reich­ tum, der in Aufstellungen des Land- und Vermögensbesitzes festgehalten wurde. Vor dem frühen 17. Jahrhundert fand keine systematische Registrie­ rung der Zivilbevölkerung statt. Doch nach Papst Pauls V. Rituale Romanum von 1614 begannen diverse italienische Diözesen damit, jährliche Kongrega­ tionslisten zu führen, in denen Alter und Familienangehörige einer jeden Person, die die Osterkommunion empfing, verzeichnet waren. Im Norden war die lutherische Geistlichkeit ab 1628 angewiesen, Jahresregister zu füh­ ren, die Auskunft über den Bildungsstand und die religiöse Unterweisung der Gemeindemitglieder gaben. Diese Dokumente sind bisweilen nichts weiter als seitenweise Namen. Steu­ erverzeichnisse Iisten Herdstellen, kirchliche Dokumente Kommuniongänger auf. Das bedarf der Interpretation. In dieser Epoche ist Demographie Schwarz­ kunst. Zwar wird allgemein angenommen, es habe damals einen bedeutenden B evölkerungsanstieg gegeben, doch wann er begann und endete, bleibt unklar. Jedenfalls war er im späten 15. Jahrhundert noch sehr verhalten und vor 1 520 mancherorts kaum zu bemerken. In England wurde das Wachstum erst ab etwa 1 5 10 registriert und verdoppelte sich dann in den folgenden 100 Jahren. In den Niederlanden setzte es früher ein und währte in den nördli­ chen Provinzen bis 1650, während es im Süden ins Stocken geriet. In den deutschen Territorien begann das Bevölkerungswachstum schon recht früh, und zwar stärker im Westen als im O sten. Ob es sich bis 1618 ver­ langsamte, ist umstritten, doch wurde es zweifellos durch den Dreißigjähri­ gen Krieg zunichte gemacht. In Frankreich entwickelten sich die Wachstums­ rhythmen von 1500 bis 1545 stark und gleichmäßig, von 1 545 bis 1 560 unregelmäßig, danach mit neuer Kraft, die in Unsicherheit überging. Von 1580 bis zum Ende des Jahrhunderts fand ein Niedergang statt, der mit dem schlimmsten aller damaligen Bürgerkriege zusammenfiel. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war wieder ein - wenn auch ungleichmäßiges - Wachstum zu verzeichnen, mit dem es ab 1630 zu Ende ging, wobei die Entwicklung je nach Region verschieden ausfiel. Die Pestepidemien der Jahre 1628-1632 und 60

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1636-1639 machten häufig das zunichte, was die vorherige Generation an Zuwachs erbracht hatte. In Teilen von Norditalien begann das Wachstum schon vor 1500 und setzte sich in den meisten Regionen bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, hier und dort bis in die ersten Jahre des 17. Jahrhun­ derts fort. Doch die Pestepidemien der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (in der Lombardei 1628 -1632, 1635 und 1649) fraßen die meisten Zugewinne des vorherigen Jahrhunderts wieder auf. Auf der Iberischen Halbinsel wuchs die Bevölkerung Kastiliens während des ganzen 16. Jahrhunderts, am schnellsten vielleicht in den 1530er-Jahren. Dann gab es, wie in Frankreich und Italien, Epidemien (und möglicherweise auch steigende Sterberaten infolge von Hungersnöten), wodurch der Bevölke­ rungszugewinn binnen weniger Jahre dahinschmolz. Die Pest von 1599/1600 war von erschreckender Intensität. Im Zeitraum zwischen 1596 und 1614 fie­ len ihr wahrscheinlich 750 000 Spanier - ein Zehntel der Bevölkerung - zum Opfer. Einige Orte scheinen sich davon nicht mehr erholt zu haben, während andere zwar zunächst wieder Anschluss fanden, doch späteren Ausbrüchen der Krankheit, insbesondere denen von 1647 und 1650, zum Opfer fielen. Eine Untersuchung, die sich auf die Anzahl der Taufen in 64 Pfarrgemeinden quer durch Kastilien konzentriert, lässt auf einen starken Rückgang im Inneren der Halbinsel (in Altkastilien und der Extremadura) schließen. In anderen Regio­ nen hatte die Vertreibung der Morisken (zwangskonvertierte Moslems) katas­ trophale Folgen. 1609 wurden an die 275 000 des Landes verwiesen, wodurch Valencia ein Viertel seiner Einwohner verlor. In Kastilien und Andalusien waren die Auswirkungen nicht so dramatisch, aber, vor allem in den Städten, durchaus spürbar. Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, den allgemei­ nen Aufschwung des 16. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den Hinweisen auf eine Stagnation in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu begreifen, denn dabei handelte es sich nicht um eine generelle Krise in der Größenord­ nung von Pestepidemien. Aber sie wirft Fragen hinsichtlich der grundlegen­ den Schwächen auf, die dem Wachstum im 16. Jahrhundert innewohnten. Ein Gesamtbild ergibt sich aus diesen Trends nicht auf den ersten Blick. Die Zahlen, auch wenn sie vorsichtig zu interpretieren sind, geben die Pers­ pektive auf das Bevölkerungswachstum im "langen 16. Jahrhundert" frei. Irgendwann gegen 1600 hatte Europa 75 bis 80 Millionen Einwohner. Das entspricht in etwa dem unteren Ende der Schätzungen für die Bevölkerungs­ zahl im frühen 14. Jahrhundert, am Vorabend der Epidemien. Europa nivel­ lierte im 16. Jahrhundert die Verluste durch die Pest also, mehr aber auch nicht. 1340 entfielen auf Europa vielleicht 17 Prozent der Weltbevölkerung (74 von 442 Millionen), 1650 waren es nur 1 5 Prozent. Um 1600 könnte Chinas 61

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Bevölkerung, die womöglich schneller wuchs als die europäische, 175 bis 200 Millionen Einwohner betragen haben. Trotz Verlusten im Zeitraum bis 1650 blieb sie mehr als doppelt so groß wie die europäische. Europas demographi­ sche Entwicklung im "langen 16. Jahrhundert" war, bezogen auf den Welt­ maßstab, mithin nicht spektakulär, sondern aus moderner Sicht eher beschei­ den (ein Prozent pro Jahr) und ungleichmäßig - träge im Mittelmeerraum, dynamischer im Nordwesten. Frankreich beherrschte das europäische Kern­ gebiet, mit fast 20 Millionen Einwohnern stellte es ungefähr ein Viertel der Gesamtbevölkerung Europas. Es war die Zeit der Pfarrregister, wobei einige Diözesen, vor allem in Italien und Spanien, damit besonders früh begannen. Einige der frühesten Beispiele stammen aus der Umgebung von Nantes: Der dortige Bischof hielt seine Pfarrgeistlichen schon ab 1406 dazu an, Taufregister zu führen. Die Motive waren allerdings nicht demographischer, sondern religiöser Natur es sollte " spiritueller Inzest" vermieden, sprich verhindert werden, dass ein Pfarrkind in die Familie seines Paten einheiratete. Nach und nach fanden sol­ che lokalen Initiativen Eingang in kirchliche und staatliche Verordnungen. Auf der letzten Sitzung des Konzils von Trient (24. November 1 563) wurde beschlossen und verkündet, dass die Gemeindepriester Geburts- und Heirats­ register zu führen hätten. Aber auch die weltliche Obrigkeit wollte gerne Mit­ tel an der Hand haben, um nachweisen zu können, dass Menschen an einem bestimmten Tag geboren, verheiratet und begraben worden waren. In Frank­ reich rechtfertigten die Verordnungen von Blois (1 579) solche Register damit, dass sie zur Vermeidung von Betrug dienten. Die Reformation zog die Gren­ zen zwischen Kirche und Staat neu, was in Teilen der Schweiz (seit den späte­ ren 1 520er-Jahren), in England (ab 1 538) und andernorts zur Anlage von Registern in den Ffarrgemeinden führte. In Zürich wurden sie 1 526 einge­ führt, um die Ausbreitung des Wiedertäuferturns zu kontrollieren. In Genf verordnete Calvin ihre Erstellung 1541, weil er befand, ein wohlgeordnetes Gemeinwesen könne ohne sie nicht auskommen. Schon in einem einzigen französischen Departement (Loire-Atlantique) haben sich aus dem 16. Jahrhundert an die 100 000 Blätter kirchlicher Gemeinderegister im Folioformat erhalten, in denen Tausende von Knaben mit dem Namen "Jean" (einer von vieren) und von Mädchen mit dem Namen "Jeanne" (eine von fünfen) auftauchen. Theoretisch lässt sich durch Familien­ rekonstitution - die Rekonstruktion der Genealogie einer ausreichenden Anzahl von Familien über einen langen Zeitraum - eine demographische Entwicklungskurve erstellen. Realiter ist der Prozess jedoch kompliziert, vor allem, was die Periode vor 1650 angeht. Frühe Taufregister verzeichnen die 62

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Geburt von Kindern, die vor der Taufe verstarben, nur höchst unregelmäßig. In manchen Gegenden von Europa (etwa im Baskenland und in Estland) war es nicht üblich, Patronyme zu verwenden, und in Holland gaben die Ange­ hörigen der unteren Klassen bei Taufen häufig ihre Familiennamen nicht an, obwohl sie es bei anderer Gelegenheit durchaus taten. Namen wurden gemäß der Aussprache niedergeschrieben, und viele Leute waren unter ihrem Ruf­ namen bekannt. Überdies macht die Migration die Familienrekonstitution zu einem Puzzlespiel, bei dem wichtige Teile fehlen und weitere zu einem ganz anderen Bild gehören. Gelingt jedoch eine solche Rekonstitution, gleichen die Resultate dem Abhören einer Lunge durch das Stethoskop, wobei Leben die Systole und Ster­ ben die Diastole ist. Gestorben wurde in hohen Raten während und nach der Schwangerschaft: Vielerorts erreichte ein Viertel der Kinder nicht einmal das erste Lebensjahr, und nur die Hälfte konnte den zehnten Geburtstag feiern. Das Tagebuch des Jean Le Coullon, eines Landmanns aus der Gegend um Metz, berichtet in dieser Hinsicht nichts Ungewöhnliches. Er stammte aus einer Familie mit 13 Kindern, von denen zehn vor der Heirat starben. Er selbst heiratete im Januar 1545; im Jahr darauf gebar ihm seine Frau den ersten Sohn, Colignon, zwei Jahre später den zweiten Sohn, 1549 den dritten, mit Namen Jean, und 1552 den vierten. 1553 starb seine Frau an der Pest, und auch zwei Kinder waren bereits gestorben. Jean verheiratete sich elf Monate später erneut und hatte mit seiner zweiten Frau weitere Kinder, doch von den insge­ samt 19 Nachkommen, die er im Tagebuch nennt, erreichten nur sechs das 20. Lebensjahr. Er berichtet davon, so wie er das Wetter und das Gedeihen der Feldfrüchte erwähnt. Man könnte nun meinen, dass ihm das Sterben nicht besonders naheging, doch als sein erster nach ihm benannter Sohn, Jean, 1549 starb, schrieb er: "Ich spürte so großen Schmerz, dass ich untröstlich war." Großfamilien kamen also nicht häufig vor. Die Lebenserwartung bei der Geburt war gering (vielleicht 25 Jahre). Sie verbesserte sich zwar mit zuneh­ mendem Alter, doch hatte Glück, wer sein 55. Jahr erlebte. Wer so alt gewor­ den war, wusste oft gar nicht mehr, wie alt er war. 1566 erklärte Wiriot Guerin, Bürgermeister des Moseldorfs Gondreville, er sei 44 Jahre alt. Ein Jahrzehnt später machte er gegenüber den Beamten des lothringischen Her­ zogs die Angabe, er sei " sechzig oder älter". Tödliche Krankheiten - Beulen­ pest, Typhus, Scharlach und Grippe - konnten ganze Familien auslöschen und sich in manchen Gegenden verheerend auswirken. Unser demographi­ sches Stethoskop erfasst die Zuckungen eines sozialen Organismus, der Sterberaten zu verkraften sucht, die plötzlich auf 6-10 Prozent, bisweilen gar auf 30 -40 Prozent hochschnellen. Zu diesen Zuckungen gehört aber auch der 63

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natürliche oder vielleicht besser: soziale Drang, die Verluste wieder wettzu­ machen. Erst geraten die Taufzahlen ins Stocken, um sich dann schnell wie­ der zu erholen, damit der Organismus sein Gleichgewicht zurückgewinnt; kleine Babybooms waren eine normale Reaktion auf demographische Ein­ brüche. Heiratsregister zeigen, wie Witwen und Witwer ihre Familien rekon­ stituieren und ihre Erbschaften konsolidieren. Wie also konnte Europas Bevölkerung ihre Verluste ausgleichen? Wo län­ gere Serien von Pfarrregistern erhalten sind, lassen sie Zyklen lokalen und regionalen Wachstums erkennen, periodisch unterbrochen von einer größe­ ren Sterblichkeitskrise, die ihre je eigenen Höhe- und Tiefpunkte in den Familien- und Alterskohorten der Zukunft zeitigte. Über diese D inge hat­ ten die Menschen zumeist keinerlei Kontrolle. D ie Antwort auf die oben gestellte Frage liegt also nicht in jenen Elementen, die das Bevölkerungs­ wachstum verhinderten, s ondern darin, wie es der Bevölkerung trotz aller negativen Einflüsse gelang, eine relativ hohe Fruchtbarkeitsrate aufrechtzu­ erhalten. H ier geht die D emographie (im wahrsten Sinn des Wortes) mit ebenso viel Fragen wie Antworten schwanger. Wie viele Männer und Frauen es vorzogen, unverheiratet zu bleiben, ist nicht bekannt, doch könnten es 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung gewesen sein. Bei den Verheirateten ent­ sprach die Fruchtbarkeit der Frau der modernen biologischen Uhr: Am stärksten war sie zwischen dem 20. und 24. Lebensj ahr ausgebildet, um danach abzunehmen, zuerst langsam, doch desto schneller, je näher das 40. Jahr rückte. In diesem Alter wurden die meisten Frauen zum letzten Mal in ihrem Leben schwanger. D ie Rate der außerehelichen Geburten war dabei auf einem Niveau, von dem moderne Vertreter familiärer Werte nur träu­ men können. Zwischen vier und zehn P rozent der Frauen, die das Ehe­ versprechen abgaben, waren schwanger - doch mehr als die Hälfte befand sich noch in einem frühen Stadium und konnte ihren Zustand rechtfertigen. Von allen Kindern wurden nur vier P rozent außerehelich geboren, häufig waren es nicht einmal zwei Prozent, und auch diese Zahl sollte sich noch verringern. D eutet dies auf eine größere soziale und sexuelle Disziplin hin, die mit der Reformation im 16. Jahrhundert einherging? Das mag sein, doch die Raten außerehelicher Geburten folgten in ihrer Bewegung in etwa dem Trend der Eheschließungen. Im frühmodernen Europa waren außereheliche Geburten keine Alternative zu den ehelichen, s ondern ergänzten sie. Die Geburtenraten in Europa fielen regional sehr unterschiedlich aus. Vor 1650 gibt es keine Hinweise auf die Existenz einer weiter verbreiteten künst­ lichen Geburtenkontrolle. Eine solche zu verhindern, war gleichermaßen das Anliegen von religiösen Vorschriften wie von sozialen Normen. Zwar blieb 64

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den Paaren die Möglichkeit unbenommen, auf Sex zu verzichteten, um wei­ tere Schwangerschaften zu vermeiden, doch scheint ein derartiger Verzicht nicht eben häufig der Fall gewesen zu sein. Somit liegt die Erklärung für das Bevölkerungswachstum in Europa in der komplexen sozialen Institution namens Ehe.

Ehe und Familie Die Familie ist die Grundlage des Christentums. Was hat sich nun in der hier untersuchten Epoche in der Beziehung zwischen Mann und Frau verändert? Dass die Frau auch weiterhin dem Mann innerhalb wie außerhalb der Ehe untergeordnet blieb, kann nicht überraschen. Wohl aber die besonders schril­ len Stimmen, die sich im Gefolge der religiösen Veränderungen durch die Reformation zugunsten des Patriarchats erhoben. Unterordnung konnte, je nach dem konkreten Zusammenhang, höchst Unterschiedliches bedeuten. Arrangierte Heiraten waren weit verbreitet, doch ging es nicht ohne Braut­ werbung und Verhandlung. Witwen wurden von ihren Familien durchaus nicht generell zur Wiederverheiratung gezwungen, und wenn sie über eine Erbschaft verfügten, gab ihnen das sogar eine gewisse Macht. Viele Heran­ wachsende lebten nach der Pubertät nicht mehr im Elternhaus, sodass elterli­ che Autorität in ihrem Leben keine große Rolle mehr spielte. Frauen hatten nur geringe Bildungschancen, aber immerhin Beschäftigungsmöglichkeiten, und die Kirche suchte ihre Gewissensfreiheit zu schützen. Frauen waren in ihrem Verhalten vor allem sozial eingeschränkt. Im Kielwasser der Reforma­ tion waren Kirche und weltliche Gerichtsbarkeit noch stärker an einer Kont­ rolle des Sexualverhaltens interessiert. Voreheliche Schwangerschaft löste weithin Ängste aus, gerade weil damit die Drohung verbunden war, die pat­ riarchale Welt des familiären Haushalts könne auf den Kopf gestellt werden. Vor allem auf dem Land hatten die Frauen ein schweres Schicksal zu tragen. Sie konnten keine Ämter übernehmen und ohne Vormundschaft zumeist kein Land pachten. Abscheuliche männliche Gewalt gegen Frauen war völlig gewöhnlich, was an den Versuchen der Opfer, rechtlichen Beistand zu bekom­ men, abzulesen ist. Sie riskierten dabei ihren Ruf und ihre Ehre, und konnten dem Gegenvorwurf ausgesetzt werden, eine " Zicke" zu sein. Auffällig ist, wie verschieden die europäischen Gepflogenheiten in Sachen Heirat und Ehe waren. Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeigen die Familienrekonstitutionen für England und die städtisch geprägten Regionen des Nordwestens späte Heiraten und eine beträchtliche Anzahl von "Singles" 65

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(hauptsächlich Dienstpersonal). Das hilft zu erklären, warum es in Teilen von Europa gelang, die wirtschaftlichen Widrigkeiten des späten 16. und des 17. Jahrhunderts zu überstehen. Späte Heiraten waren eine Form natürlicher Empfängnisverhütung. Das Heiratsalter verhielt sich invers zum Reallohn: Wenn dieser fiel, stieg jenes. Der Pool von "life- cycle servants" - geschlechts­ reife Menschen, die auf eine Heiratsgelegenheit warteten und derweil in einer Anstellung verharrten - bildete ein Reservoir für den demographischen Ver­ lustausgleich. Aufgrund dieser Anpassungsfähigkeit waren Teile des urbani­ sierten Europas im 17. Jahrhundert demographisch so widerstandsfähig. In anderen Regionen sah es anders aus. Östlich der Eibe und in Dänemark wurden Heiraten von der Realität der Leibeigenschaft diktiert. Hier konnten Gutsherren eine Heirat verfügen und einen Haushalt mit weiblichem Vorstand ablehnen. In den baltischen Ländern, in Ungarn, Südfrankreich sowie Mittel­ und Süditalien schlugen sich in den jeweiligen Familienstrukturen verschiedene Formen sozialen und wirtschaftlichen Drucks nieder, wie er von der Bewirt­ schaftung des Landes, dem Zugang zu Ressourcen, dem gewohnheitsmäßigen Erbrecht und der Form der Besteuerung ausging. In Süditalien - und sonst überall, wo die Getreideproduktion in den Händen großer Landgüter (Latifun­ dien) lag, die Tagelöhner beschäftigten - sind die Ehemuster das Abbild eines harten Lebens, in dem die Männer nicht alt wurden. Geheiratet wurde früh, bei den Frauen im Alter von 16 bis 20 Jahren. Ein zölibatäres Leben kam im Wesentlichen nur vor, wenn jemand in ein Kloster eintrat. Die Frauen arbeiteten ausschließlich zu Hause, dafür sorgten strenge Auffassungen über die Familien­ ehre. Witwen heirateten so schnell wie möglich erneut - es gab genug Männer, die bereit waren, den Platz des Verstorbenen einzunehmen. Überall dort, wo wie in Kalabrien, Kampanien oder Sizilien die Landwirt­ schaft gemischter oder spezialisiert war (Wein-, Oliven- und Obstanbau) und wo es kleinbäuerliche Hofbesitzer gab, heirateten die Frauen später (im Alter von 22 bis 26 Jahren), und junge Männer, die nicht auf dem elterlichen Hof bleiben wollten, konnten ihn verlassen. Auf Sardinien heiratete man sehr spät, und es gab viele männliche und weibliche Bedienstete, die im Haushalt lebten - Melkerinnen und Landarbeiter. Von sardischen Mädchen wurde erwartet, dass sie vor der Heirat für ihre eigene Mitgift sorgten, indem sie außerhalb ihres Zuhauses arbeiteten, und den Frauen stand hier ein Anteil am väterlichen Besitz zu. In Umbrien, der Toskana und der Romagna besonders in Regionen, wo Formen der Naturalpacht und damit der Teilung des Ernterisikos zwischen Pächter und Besitzer praktiziert wurden - lebten die Tagelöhner mit den Hofbesitzern in deren Familien. Der Haushalt umfasste mehrere Generationen der eigenen Familie wie auch Pächter und 66

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Tagelöhner. Wo das römische Recht die Bestimmung eines einzigen Erben und Nachfolgers erforderte, benannte der Vater im Allgemeinen den ältesten Sohn, doch konnte es auch der erste Sohn sein, der heiratete. In diesem Fall übergab der Vater den Hof dem Erben und zog sich aufs Altenteil zurück, wobei bereits Vorkehrungen getroffen wurden, um die Eltern in ihren gebrechlichen Jahren zu versorgen. Die Komplexität der pekuniären und sonstigen Arrangements in einer Familie hing von ihrem Status ab. Reiche Familien, die womöglich dem Adel angehörten und über ausgedehnten Besitz und Vermögen verfügten, hatten zur Bewahrung und Mehrung desselben im Fall von Heirat und Erbschaft eben auch vielfältige Vorkehrungen zu treffen. Die Art und Weise, in der sich eine Familie organisierte, war ein individueller und zugleich kollektiver Versuch, sich beste Lebensbedingungen zu sichern in einer Welt, in der ständig wiederkehrende wirtschaftliche und demographi­ sche Krisen das Überleben der gesamten Familie bedrohten, und für solche Strategien gab es kein universell gültiges Rezept. Wer was erbte, wurde oft von Sitte und Brauch vorgegeben. Ausgehandelt wurden die Höhe der Mitgift für Frauen und der Anteil, der den Männern bei Heirat zufiel. Noch stärker diktierte das Gewohnheitsrecht die Nachfolge­ regelungen in einem SterbefalL Auf seine Bestimmungen verwiesen auch Notare, wenn sich Leute an die herrschaftlichen Gerichte wandten. Aber in Nordeuropa gab es eine verwirrende Vielfalt an solchen Rechten, und als sich Juristen im 16. Jahrhundert daranmachten, sie zu kodifizieren, waren sie zutiefst erstaunt über die zutage tretenden Diskrepanzen. In Südfrankreich, Nordostspanien und den habsburgischen Erblanden des Heiligen Römischen Reichs bestimmte das römische Recht die Nachfolge. Im Ergebnis stärkte das die Stellung des pater familias (des Haushaltsvorstands), der frei darüber ver­ fügen konnte, wem er sein Eigentum vermachen wollte, indem er etwa durch Schenkungen oder besondere Vermächtnisse eine bestimmte Person begüns­ tigte. Solange Kinder im väterlichen Haushalt verblieben, bewahrten sie sich ein Anrecht auf die Nachfolge, wenn sie aber Haus und Hof verließen, konn­ ten sie lediglich eine Mitgift beanspruchen. In den baltischen Regionen und auf den Britischen Inseln favorisierte das commmon law das männliche Erst­ geburtsrecht, während in Spanien, Italien, Nordfrankreich und den Nieder­ landen das Gewohnheitsrecht eher darauf bedacht war, in einem Erbfall die Rechte aller Erben zu schützen. Hier wurde demzufolge die Realteilung prak­ tiziert, bei der alle Erben anspruchsberechtigt waren. In der Normandie und Westfrankreich mussten Kinder, die Eigentum in Form einer Mitgift erhalten hatten, dieses im Fall des Todes der Eltern sogar wieder an die Familie zurückgeben, damit der Gesamtbesitz zu gleichen Teilen neu auf alle Erben 67

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verteilt werden konnte. Dieses Verfahren war von großer Bedeutung, denn eine Mitgift stellte für die Familie stets eine Belastung dar, die sie in dieser Periode zumeist in Form von Rentenzahlungen schulterte, eine weitere Form ländlicher Kredit- und Schuldvereinbarungen. Juristen lehnten die Realteilung ab, weil sie zur Zersplitterung des Besitzes und zur Schwächung der patriarchalen Autorität führte. Ein ganzer Chor von juristischen Traktaten wies, was immer das Gewohnheitsrecht sagen mochte, nach, dass die Erfahrung der Hebräer und die gesammelte Weisheit der antiken Autoren für das männliche Erstgeburtsrecht sprächen. In einem wohl zu Beginn der 1530er-Jahre in Italien geschriebenen Dialog wollte der englische Humanist Thomas Starkey beide Seiten der Argumentation, für und gegen das Erstgeburtsrecht, darstellen. Es sei, so schrieb er, "ganz und gar grausam, [jün­ gere Söhne] von allem auszuschließen, so als hätten sie ein großes Verbrechen gegen die Eltern begangen". Das Erstgeburtsrecht stehe gegen die Vernunft und natürliche Billigkeit und "scheint die natürliche Liebe zwischen denen, die die Natur miteinander verbunden hat, zu vermindern". Doch konnte andererseits die Realteilung leicht zur Rutschbahn werden, an deren Ende die Auflösung nicht nur des Vermögens stand: "Wenn die Ländereien in allen großen Fami­ lien zu gleichen Teilen an die Brüder vererbt werden, wird schon nach wenigen Jahren der Hauptstamm der Familie verfallen und allmählich verschwinden. So sind die Menschen irgendwann ohne Herrscher und Oberhäupter . . . und man hat die Grundlage unserer ganzen Zivilisiertheit fortgenommen." Dass sich in dieser Epoche das männliche Erstgeburtsrecht bei den euro­ päischen Eliten triumphal durchsetzte, kann mithin kaum überschätzt wer­ den. Als Begleiterscheinung erfuhr die Genealogie erhöhte juristische und gesellschaftliche Anerkennung, da die Primogenitur durch Recherchen in Stammbäumen von Adelsfamilien und staatliche Nachforschungen zur Recht­ mäßigkeit von Adelsansprüchen untermauert wurde. Schon bald war das Erst­ geburtsrecht in England bei den Eliten des Landadels und der Kaufmann­ schaft weit verbreitet. Der französische Adel war lange Zeit an seiner Anwendung gehindert worden, und auch Bürgerliche, die einen Adelsrang anstrebten, suchten das Gewohnheitsrecht zu umgehen, um ihr Vermögen und ihren Immobilienbesitz möglichst ungeteilt dem ältesten Sohn zu verma­ chen. Der italienische Adel bevorzugte eine funktionale Version des Anerben­ rechts - entweder fiel der Besitz an einen einzelnen Erben oder an eine Brü­ dergemeinschaft, von denen letztlich nur einer heiraten würde. Nur bei den deutschen Fürsten und dem Landadel in Osteuropa und Russland lebte die Realteilung fort, wie sich in dem verwirrenden Muster immer wieder geteilter Besitzungen in Deutschland eindrucksvoll zeigt. 68

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Hieran schließt sich die Frage an, in welchem Umfang das Gewohnheits­ recht die Familienbildung beeinflusste. 20 Prozent aller Paare hatten gar keine überlebenden Kinder, weitere 20 Prozent nur Töchter. Das schränkte die Zukunftsplanungen ein. Allerdings gab es Möglichkeiten, das Gewohn­ heitsrecht zu umgehen, und diese wurden zunehmend genutzt, als die Men­ schen das Recht an ihre Bedürfnisse anpassten. Beispielsweise wuchs das nicht auf Landbesitz gründende Vermögen, was die Vererbung flexibler machte. Doch scheinen Erbfolgerechte in zweierlei Hinsicht von erheblichem Einfluss auf die Familienbildung gewesen zu sein - und damit auf die Art und Weise, in der die verschiedenen europäischen Regionen auf das demo­ graphische Wachstum reagierten. Der Vergleich zweier Gebiete in Nieder­ sachsen lässt die Unterschiede erkennen. Im Gebiet von Calenberg forderten der Staat wie auch das feudale Gewohnheitsrecht das Anerbenrecht, sodass umfangreiche Ländereien in den Händen wohlhabender Bauern verblieben, die häufig in großen Haushalten mit mehr als einer Generation unter einem Dach lebten. Familienmitglieder, die den Haushalt verließen, erhielten eine Mitgift oder Aussteuer, die mit Darlehen auf ihren bäuerlichen Besitzanteil bezahlt wurden. Am anderen Ende des Spektrums wuchs die Zahl von land­ armen Kleinstellenbesitzern, sogenannten " Brinkköttern", die am Brink, auf der Allmende am Dorfrand, wohnten und davon abhängig waren, dass man ihnen Arbeit gab. Im Gegensatz dazu war weiter südlich, in der Gegend um Göttingen, die Realteilung möglich. Das führte zu einer wachsenden Zahl von Kleinbauern mit ihren Kernfamilien, die bisweilen die Ställe und Schup­ pen am Wohnhaus als Unterkunft benutzten, und zu einer zunehmenden Aufsplitterung von Eigentum - gerade als das Bevölkerungswachstum des 16. Jahrhunderts die Frage aufwarf, wie all jene wirtschaftlich überleben soll­ ten, die Grundstücke geerbt hatten, welche ihnen in Notzeiten kein Auskom­ men verschafften. Partiell enterbte junge Leute, ein längeres Dienstboten­ dasein oder zunehmende Knechtschaft, bäuerliche Verschuldung, geringerer Landbesitz, Streit um Erbschaften - das alles verband die Erbfolge mit dem, was dem Christentum sonst noch widerfuhr.

Das rote Pferd, das schwarze Pferd, das fahle Pferd 1498 schuf Albrecht Dürer 15 Holzschnitte für eine Ausgabe der Offenbarung des Johannes. Diese apokalyptische Vision übte auf die Europäer des 16. und 17. Jahrhunderts zweifellos eine immense Faszination aus. Zwischen 1498 und 1650 wurden mehr als 750 Textausgaben oder Kommentare dazu veröffent69

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licht, viele davon in preiswerten Druckformaten. Von Dürers Holzschnitten erlangten Die vier apokalyptischen Reiter die größte Berühmtheit. Frühere Illustratoren hatten die Reiter einzeln abgebildet, Dürer aber ließ sie alle vier zusammen vor einem drohend bewölkten Himmel daherstürmen und alles niedermetzeln, was in ihren Weg gerät, während unten das Höllenungeheuer die Reichen und Mächtigen verschlingt. In der Offenbarung sitzt der zweite Reiter auf einem roten Pferd und symbolisiert den Krieg. Der dritte, der Kün­ der von Hungersnot, reitet ein schwarzes Pferd, und der vierte mit seinem fahlen Pferd bringt Krankheit und Tod. Wenngleich die Auswirkungen kriegerischer Konflikte schwer zu ermes­ sen sind, waren sie in den eineinhalb Jahrhunderten zwischen 1500 und 1650 doch nicht zu übersehen. Die Größe der Heere erreichte eine neue Dimension, und die Kriegführung nahm die Züge eines Zermürbungskriegs an. Bei der Belagerung und schlussendlichen Einnahme von Maastricht durch spanische Truppen verlor ein Drittel der Einwohner das Leben. La Rochelle wurde (1627/28) 14 Monate lang belagert, was in der Bevölkerung eine Hungersnot und Krankheiten auslöste. Von 27 000 Bewohnern überlebten 5000. Als Mag­ deburg 1631 von kaiserlichen Truppen erobert wurde, kamen an die 25 000 Menschen (85 Prozent der Einwohner) in der brennenden Stadt um. Die gesamten militärischen Verluste im Dreißigjährigen Krieg dürften bei gut 400 000 Toten gelegen haben; bezieht man die Todesfälle durch Krankheit mit ein, könnte die Zahl durchaus das Vierfache betragen. Noch gravierender waren die Folgen des Krieges für die Zivilbevölkerung. Es wurde zur militä­ rischen Praxis, die Lebensgrundlagen in einem Landstrich zu zerstören, um ein Vordringen des Feindes zu verhindern oder zu verzögern. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gehörten den Söldnern in Italien für gewöhnlich auch spezielle Einheiten an, die nicht nur Befestigungsanlagen bauten, son­ dern Feldfrüchte vernichteten, Weinstöcke ausrissen und Olivenbäume umhackten, um so die Landwirtschaft einer Region auf Jahre hinaus lahm­ zulegen. Genau dieser Taktik bediente sich auch Marschall Anne de Mont­ morency 1 536 in der Provence, um den Vorstoß der kaiserlichen Truppen aufzuhalten. Ebenso verfuhren die Heere, die zu Beginn der 1630er-Jahre in das Herzogtum Lothringen eindrangen, und die schwedischen Streitkräfte in Bayern 1632 und erneut 1646. Unbezahlte und schlecht verproviantierte Sol­ daten stellten eine besondere Gefahr für die Zivilbevölkerung dar, wie es jene Städte in den Niederlanden erfahren mussten, die während des holländischen Aufstands von meuternden Truppen besetzt wurden. In seinem Kupferstich Bauernleid zeigt der holländische Künstler David Vinckboons (1 576 - 1632) Bauern, die von Soldaten brutal behandelt werden. Doch in einem weiteren 70

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Bild stellt er die umgekehrte Situation dar: Bauern, die an Soldaten Rache nehmen. Armeen auf dem Marsch waren verhasst und gefürchtet. Bei Nürn­ berg wurden 1622 spanische und italienische Kontingente der bayerischen Armee, die ins Hintertreffen geraten waren, von Bauern massakriert; ebenso erging es versprengten schwedischen Einheiten nach ihrer Niederlage bei Bamberg 163 1 . Flucht in die relative Sicherheit einer befestigten Stadt bedeutete, Haus und Hof zu verlassen und die Ernte der Vernichtung preiszugeben. Zudem erhöhte solche Abwanderung das Risiko, dass sich unter lauter schlecht ernährten Menschen jene epidemischen Krankheiten weiter verbreiteten, die häufig von den Armeen ins Land geschleppt worden waren. Die Quellenaufzeichnungen sind lückenhaft, doch könnte der Krieg bereits im späteren 16. Jahrhundert das Bevölkerungswachstum in Frankreich und den Niederlanden ins Gegen­ teil verkehrt haben. Nach 1600 waren die Verluste an Menschenleben im zivi­ len und militärischen Bereich, die direkt oder indirekt von den militärischen Konflikten - den Bürgerkriegen auf den Britischen Inseln und dem Dreißig­ jährigen Krieg in Deutschland - verursacht wurden, im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung jedenfalls schlimmer als die Verluste im Ersten Welt­ krieg. In Russland verursachte der katastrophale Livländische Krieg (15581583, auch "Erster Nordischer Krieg" genannt) einen politischen und finanzi­ ellen Zusammenbruch, der die "Zeit der Wirren" (1 598 -1613) zur Folge hatte. Als die Steuerlast sich verdoppelte, flohen die Bauern in die Steppengebiete, wobei (einigen Berichten zufolge) mehr als die Hälfte der Höfe verlassen zurückblieb. Dadurch kam es zwischen 1601 und 1603 zu Hungersnöten, deren Auswirkungen durch Bürgerkrieg, Bauernaufstände und ausländische Interventionen noch verschärft wurden. Um 1620 übertraf die Entvölkerung in vielen Regionen sogar noch die verheerenden Ausmaße der 1580er-Jahre. Das russische Kernland brauchte zur Erholung mehr Zeit als Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg. Mit Blick auf die menschlichen "Kosten" seiner Konflikte stand Europa in dieser Periode unter den eurasischen Zivili­ sationen einzigartig da. Die Beulenpest hatte auch weiterhin das Potenzial, Europas Bevölkerung dahinzuraffen, wobei die miteinander vernetzten urbanen Regionen der Ver­ breitung überaus förderlich waren. Zwischen 1493 und 1649 kam es in Ams­ terdam zu 24 Ausbrüchen, in Leiden zu 27, in Rotterdam zu 20 und in Dordrecht zu 18. In einem vergleichbaren Zeitraum (1485 - 1666) trat die Pest in 14 englischen Städten im Schnitt einmal alle 16 Jahre auf; in London kam es regelmäßig zu Ausbrüchen. Große städtische Ballungsgebiete waren dem Infektionsrisiko am meisten ausgesetzt. Da die Pest durch Ratten übertragen 71

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

wurde (eine Erkenntnis, die zweifelsfrei gesichert scheint), kam es, begünstigt durch die vielfältigen Kontakte und die erhöhte Mobilität innerhalb Europas, zu immer wieder neuen Infektionen. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhun­ derts erließen die Behörden Quarantänebestimmungen, wenngleich nicht aus wissenschaftlich-medizinischen, sondern aus pragmatischen Gründen, näm­ lich um die Ausbreitung der Krankheit besser unter Kontrolle zu bekommen. Immerhin folgten sie dabei dem Rat der Ärzte, indem sie die Ursachen der Sterblichkeit beobachteten, Regeln zur Frühwarnung bei Pestausbrüchen andernorts einführten und die Kontakte dementsprechend beschränkten sowie spezielle Pestkrankenhäuser einrichteten, um die Erkrankten zu iso­ lieren und so eine Epidemie zu verhindern. Die Pest war zu Recht gefürchtet, denn von den Infizierten starben viele sehr schnell. Der Tod war schmerzhaft und nahm keine Rücksicht auf Klasse oder Stand. Der französische Chirurg Ambroise Pan� nannte die Pest einen Feind, der "die Festung oder Burg des Lebens" im Sturm eroberte. Eine Hei­ lung gab es nicht. Alles, was Pan� anbieten konnte, war ein Palliativ, eine Mischung aus Sirup und Mithridat (ein altes, "königliches" Gegenmittel), dazu eine Salbe, um das Gift aus dem Körper zu ziehen. Das hielt seine Kol­ legen nicht davon ab, einander mit Erklärungen zu überbieten, deren belieb­ teste dem "Miasma", einer giftigen, die Luft verunreinigenden Ausdünstung, die Schuld an der Krankheit gab. Das beste Gegenmittel sei die Flucht - was die Krankheit nur weiter verbreiten half. Neben der Pest gab es noch andere ansteckende Krankheiten wie Pocken, Typhus und Grippe, deren Ausbreitung den Menschen immer bewusster machte, wie eng eine Region mit der anderen verflochten war. Typhusepide­ mien könnten zwischen 1580 und 1620 eine Million russischer Bauern das Leben gekostet haben. Die Ärzte benannten die Krankheit nach dem griechi­ schen Wort typhos (für "Schwindel"), weil die Erkrankten oft einen Zustand geistiger Benommenheit zeigten. Soweit man sich erinnerte, war die Krankheit vor dem letzten Feldzug gegen die Mauren in Granada 1489-1492 kaum je auf­ getreten. Im Englischen war der Typhus auch als camp-fever bekannt, weil er besonders in der Armee verbreitet war. Er befiel die Truppen in den Italieni­ schen Kriegen und dezimierte Ende des 16. Jahrhunderts in Ungarn die dort einander bekämpfenden Heere der Christen und Osmanen gleichermaßen. Auch die Truppen des Grafen Mansfeld, die nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) erst in die Pfalz und dann ins Elsass und in die Niederlande (1621) flohen, hatten den Typhus im Marschgepäck; 4000 Tote gab es dadurch allein in Straßburg. Französische Truppen, die aus dem Feldzug von Mantua (1629/30) heimkehrten, infizierten in Südfrankreich über eine Million Menschen. 72

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Auch die Syphilis wurde von Soldaten übertragen. Zum ersten größeren Ausbruch kam es in den französischen Heeren, die 1494 in Italien einmar­ schierten. Sie gaben ihr den Namen "Neapolitanische Krankheit". In anderen Gegenden Europas sprach man von den Französischen oder auch den Deut­ schen, Polnischen oder Spanischen Blattern. 1 527 schlug ein Arzt in Rouen, Jacques de Bethencourt, eine Alternative für die abschätzige Bezeichnung morbus gallicus (Französische Krankheit) vor, nämlich "Venerische Krank­ heit" (morbus venereus, nach der Liebesgöttin Venus). Drei Jahre später ver­ fasste der Arzt Girolamo Fracastoro in Verona ein Epos in vergilscher Manier über einen Hirten namens "Syphilus". Fracastoro stand Kolumbus' Reise nach Amerika vor Augen, als er beschrieb, wie eine Flotte ein neues Land im Westen erreichte, wo die Entdecker die Götter beleidigten, indem sie exoti­ sche Tiere töteten. Wie die Eingeborenen selbst erklärten, hatten ihre Vorfah­ ren irgendwann aufgehört, die Götter zu verehren, weshalb sie von ihnen mit einer Krankheit geschlagen worden seien. Der Schäfer Syphilus sei der Erste gewesen, den es getroffen habe. Mit dieser Geschichte schrieb Fracastoro den Mythos fort, die Syphilis sei amerikanischen Ursprungs und durch den Han­ del verbreitet worden ("by Traffic brought", wie es in Nahum Tates Versüber­ setzung von Fracastoros Epos heißt). Fracastoro erinnerte daran, dass inter­ nationaler Handel auch mit Nachteilen verbunden war. Hunger trat häufig auf, und Hungersnöte waren nicht unbekannt. Chro ­ nische Nahrungsknappheit - wenn Lebensmittel kaum zu haben und des­ halb für viele unerschwinglich waren - kam oft vor. In England trat s olche Knappheit 1 527/28, 1 55 0 - 1 552 , 1 55 5 - 1 559 und 1 596-1 598 (der "Große Hun­ ger" ) auf. In Paris hungerten die Menschen 1 520/2 1, 1 523, 1 52 8 - 1 534, 1 548, 1 556 und 1 560. D ie M ittelmeerregionen erlebten 1 52 1 - 1 524 eine weit ver­ breitete Nahrungsknappheit, und der Mangel wurde dort nach 1600 ein s o regelmäßiges Phänomen, d a s s er nicht länger Gegenstand von Aufzeich­ nungen war. In den baltischen Ländern und Polen grassierten 1 570 und 1 58 8 Hungersnöte, und in vielen Gegenden Europas in den 1 590er-Jahren. Aber starben die Menschen vor Hunger? Auf diese schwierige Frage gibt es nur eine provisorische Antwort. Eine schwerere Infektion konnte auch bei einem wohlgenährten Menschen tödlich verlaufen. Allerdings setzte Man­ gelernährung die physische Widerstandsfähigkeit herab und begünstigte Erkrankungen. Der Leibarzt von König Jakob 1., Theodore Turquet de M ay­ erne, wies den englischen Kronrat an, die Vorräte an Nahrungsmitteln zu kontrollieren, weil Hungersnot "fast unvermeidlicherweise zur Ausbreitung der Pest führt". In Teilen von Nordengland geben die erhaltenen Pfarrregis­ ter vor allem der 1 590er- und 1630er-Jahre deutliche Hinweise auf eine mit 73

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Nahrungsmangel zusammenhängende Sterblichkeit (durch einen Anstieg der Todesfälle in den späten Wintermonaten). Vergleichbare Hinweise lie­ gen für Teile Innerkastiliens, Norditalien, den Kirchenstaat und Neapel in den 1 590er-Jahren vor. Es gibt glaubhafte Berichte, wonach umherziehende Landfahrer besonders in den Wintermonaten der Jahre 1635, 1649 und 1655 nach Missernten an Hunger und Kälte starben. Eine solche mangelbedingte Sterblichkeit war noch ein relativ junges Phänomen, nämlich ein P rodukt des späten 16. Jahrhunderts, und spiegelte den einschneidenden Einfluss wider, den der wirtschaftliche Wandel auf die bewährten Muster der Wider­ standsfähigkeit hatte. Nahrungsmittelknappheit war ein lokales Problem. Vor allem auf dem Land blieben die Getreidemärkte autonom, und die Preisentwicklung nahm ihren je eigenen Verlauf. Dagegen waren in den größeren Städten entschie­ dene Bemühungen zu verzeichnen, Preiserhöhungen durch die Einrichtung von städtischen Kornkammern zu vermeiden, denn die Stadträte fürchteten mit Recht Aufstände infolge hoher Getreidepreise. Die mittelmeerischen Küs­ tenstädte bevorrateten sich mit polnischem Weizen, den holländische Kauf­ leute lieferten. Letztere hatten den Ferngroßhandel mit Getreide seit den 1 590er-Jahren fest in der Hand. In den holländischen Städten selbst griffen die Behörden so gut wie nie in den Getreidehandel ein, weil die Interessen von Händlern und Magistraten allzu unterschiedlich waren. Anderenorts jedoch wurden strengere Kontrollen des Getreidehandels zum Markenzeichen einer merkantilistisch orientierten politischen Ökonomie. Insgesamt hatte es den Anschein, als würden zwei Arten von Europa entstehen: eine, die Perioden von Nahrungsmangel gut bewältigen konnte, und eine andere, die das nicht vermochte. Beide wussten voneinander und ihre Geschicke waren nicht ohne Einfluss aufeinander.

Europa in der globalen Kälteperiode Gab es für die Missernten eine gemeinsame Ursache? Das europäische Kli­ masystem ist so komplex, dass kleine Veränderungen zu äußerst kalten Frühlingsperioden und regnerischen Sommern führen können, die den Ern­ teerträgen schaden. Die Paläoklimatologen verfügen heute über Datenban­ ken, in denen europa- und weltweite Klima- und Umweltdaten zu unter­ schiedlichen Epochen gesammelt sind. Europa hatte aber bereits im 16. und 17. Jahrhundert Klimaforscher. In Emden führte David Fabricius von 1585 bis 1612 ein Wettertagebuch, in dem er die große Anzahl später Frostperio74

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den und kalter Sommer in jenem Zeitraum festhielt. Vom dänischen Astro­ nomen Tycho Brahe stammt ein detaillierter Bericht von der Insel Hven im Öresund, der Fabricius' Aufzeichnungen stützt. Renward Cysat, Ratsherr und Stadtschreiber in Luzern, fasste detaillierte Beobachtungen in monat­ lichen Berechnungen zusammen und berichtete auch von Gesprächen mit Hirten, die er beim Botanisieren in den Bergen traf. Dieses "menschliche Archiv" ermöglicht, wenn man es mit dem "Naturarchiv" kombiniert (den wechselnden Daten der Weinernte im Herbst und des Viehauftriebs im Frühling, ferner Daten aus der Pollenanalyse, dendrochronologischen Daten, glaziologischen und Eiskern-D aten), eine vorsichtige Rekonstruktion der Auswirkung klimatischer Strukturen und Ereignisse auf die Produktion von Getreide, Milch und Wein. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass sich zu jener Zeit das europäische wie auch das globale Klima sehr rasch und mit erheblichen Folgen veränderte. Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts bis etwa 1 560 gab es eine Periode der Erwärmung, danach - von etwa 1 560 bis in die 1640er-Jahre - kam es zu einschneidenden Veränderungen. Die Winter setz­ ten früh ein und waren niederschlagsreich, ebenso die Frühlinge, die dazu kalt ausfielen; die Sommer waren kühl, und in den Erntemonaten Juli und August fielen außerordentliche Mengen an Regen. Am schlimmsten war es, wenn zwei Jahre mit kalten Frühlings- und regenreichen Herbstmonaten aufeinander folgten. Hier besteht ein Zusam­ menhang mit den Jahren, in denen die Getreidepreise den höchsten Stand erreichten - 1 569-1 574, 1 5 8 6 - 1 5 89, 1 593 -1 597, 1626- 1629 und 1647- 1649. Es ist mithin möglich, dass der Klimawandel die Nahrungsmittelproduktion in Teilen Europas erheblich reduziert hat. Der Einfluss der "Kleinen Eiszeit" erreichte seinen Höhepunkt in den 1640er-Jahren: 1641 war den Klima­ aufzeichnungen zufolge der drittkälteste Sommer in der europäischen Geschichte. Skandinavien verzeichnete seinen kältesten Winter 1641/42. In den Alpen wurden Felder und Häuser unter vorrückenden Gletschern begra­ ben; in den Jahren von 1647 bis 1649 ließen sich ebenfalls klimatische Ano­ malien größeren Ausmaßes beobachten. Auf der anderen Seite des Globus trugen überlange Kälte- und Trockenperioden zur demographischen Krise der Jahrhundertmitte und zu den Aufständen bei, die den Sturz der Ming­ Dynastie bewirkten. Zur Erklärung wird auf die überaus geringe Sonneneinstrahlung verwiesen (die niedrigste in zwei Jahrtausenden verzeichneter Aktivität), ebenso auf große Vulkanausbrüche (zwischen 1638 und 1644 gab es zwölf davon im pazi­ fischen Bereich, die höchste je registrierte Anzahl). Teleskope ermöglichten die Beobachtung von Sonnenflecken mit bis dahin nicht gekannter Genauig75

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keit. In größerer Zahl tauchten sie zwischen 1612 und 1614 auf, während 1617 und 1618 so gut wie keine zu erkennen waren. 1625/26 war ihre Zahl sehr gering, und dann wieder 1637-1639. Von 1642 bis 1644 fertigte der Astronom Johannes Hevelius täglich Zeichnungen der Sonne an, mitsamt dem genauen Ort der Sonnenflecken. Sie waren nicht zahlreich, und nach 1645 verschwan­ den sie bis zum 18. Jahrhundert fast vollständig. Auch das Nordlicht (die aurora borealis) blieb aus. Zudem stießen die Vulkanausbrüche Staubwolken in die Atmosphäre, die zu deren weiterer Abkühlung beitrugen und weltweit für instabile Wetterverhältnisse sorgten. Ein Ladenbesitzer in Sevilla bemerkte, dass während der ersten Hälfte des Jahres 1649 "die Sonne nicht ein einziges Mal schien . . . und wenn sie auftauchte, war sie blassgelb oder viel zu rot, was Furcht erregte". Es gab Sommer, die keine waren, und einige außergewöhnliche Klimaer­ eignisse - Hagelstürme, sommerlichen Schneefall, lange Regenperioden -, die von den Zeitgenossen als Hand Gottes und möglicherweise das Werk von Hexen interpretiert wurden. Der spanische Agronom Lope de Dexa befür­ wortete ein Regierungsministerium von Astrologen, um schlechtes Wetter vorherzusagen. Die Veränderungen waren, gemessen an modernen Maß­ stäben, eher gering - die Temperaturen schwankten im jährlichen Mittel um zwei Prozent, die Regenmenge um zehn Prozent. Doch kann das von erheb­ lichem Einfluss auf die Landwirtschaft und die Entstehung von Hungersnot und Krisenbewusstsein gewesen sein. Um 1650 war Europa mehr denn je vom Getreidehandel in großem Maßstab abhängig, um seine Stadtbevölke­ rung zu ernähren. Hinzu kam, dass die Städter dank der europäischen Korn­ munikationssysteme besser über drohende Gefahren informiert waren - was ihre Ängste nur noch vermehrte. Die Auswirkungen von Nahrungsmittelknappheit ließen sich leichter erklären, wenn wir mehr über die Essgewohnheiten wüssten. Woraus die Mahlzeiten der weniger Begüterten bestanden, können wir aber nur aus dem schließen, was für die in institutioneller Obhut Befindlichen eingekauft wurde - für die Kranken in Hospitälern oder die Studenten in Colleges. Am wichtigsten war das Getreide zum Brotbacken. Brot gab es zu jeder Mahlzeit als Laib, als Pastetenkruste, als stärkereiche Beigabe zu Suppen und Soßen. Brot gab den Menschen die Kraft zu arbeiten, es war das kalorienreichste und billigste Nahrungsmittel; Getreide lieferte sechsmal mehr Kalorien als Milch, und pro Hektar mehr Protein als Weidevieh. Das Christentum wurde gera­ dezu definiert durch seine Abhängigkeit vom Weizen und dessen Trocken­ anbau, der nicht so produktiv war wie die Bewässerungskulturen, die um 1600 von 60 Prozent der Weltbevölkerung betrieben wurden. 76

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Tagelöhner bezahlten für Brot die Hälfte ihres Lohns. Weizen galt als beste Getreidesorte für die Herstellung von Brot und Nudeln, war aber teuer, denn als "Wintergetreide", das im Herbst ausgesät und im darauffolgenden Som­ mer geerntet wurde, laugte es gute Böden aus. Schlechtere Böden mussten alle drei bis vier Jahre brachliegen oder mit Kalk oder Mergel gedüngt werden, damit Weizen wachsen konnte. Die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung baute Weizen an, um ihn zu verkaufen, oder vermischte ihn zum Brotbacken mit Roggen. Roggen war verbreiteter als Weizen, und beide Sorten wurden manchmal zusammen ausgesät, weil der Roggen (im Gegensatz zum Weizen) einen nasskalten Frühling überstehen konnte. Erntete man diese Kombina­ tion, erhielt man ein überwiegend aus Roggen bestehendes Mehl. Dinkel, Gerste und Hafer waren "Sommergetreide", das im Frühling ausgesät und noch im selben Jahr geerntet wurde. Dinkel wurden vorwiegend in der Schweiz, in Tirol und Deutschland angebaut, weil er kurze Sommer ertrug. Gerste wurde in Nordeuropa vielfach zur Herstellung von Bier verwendet, während Hafer den Pferden, in Schottland und Skandinavien aber auch den Menschen als Nahrung diente. Der Kolumbianische Austausch brachte weitere kalorienreiche Nahrungs­ mittel auf den europäischen Speiseplan und stärkte so die demographische Widerstandsfähigkeit. In der Gegend um die südspanische Stadt Valencia gewann aus Nordafrika importierter Reis an Bedeutung, und dieses " Marsch­ getreide" fand bald in Teilen von Norditalien und Südfrankreich Eingang in die Ernährung. Mais gelangte in den 1490er-Jahren von Amerika auf die Iberische Halbinsel und wurde zunehmend in den europäischen Mittel­ meerregionen angebaut. Anfänglich diente er als Viehfutter, dann machte man daraus Brot und in Italien ein feingemahlenes Mehl (Polenta) . In den Cevennen wurde aus gemahlenen Esskastanien ein Nussbrot für die Armen. D o ch insgesamt blieb die Haltung gegenüber Nahrungsmitteln konservativ. Henry Best, ein Bauer aus Elmswell in Yorkshire, hielt 1641 fest, wer in sei­ nem Haushalt welche Speise aß: Weizen für die Familie, Roggen-Weizen für die Bediensteten, und dunkles Brot aus Roggen, Erbsen und Gerste für die Arbeiter. Getreide war wichtig, weil es vergleichsweise lange lagerfähig war, wäh­ rend die meisten anderen Nahrungsmittel schnell verdarben. Trotzdem kam zunehmend Gemüse auf die Tische. Pastinaken, Karotten, diverse Kohlsor­ ten und Rüben wurden zum ersten Mal überhaupt oder erstmals in größeren Mengen serviert. Viel Neues verdankte sich dem Austausch mit dem Nahen O sten, dessen Erzeugnisse einen noch größeren Einfluss auf die europäische Ernährung ausübten als die der Neuen Welt. Kürbisse, Melonen, Gurken und 77

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Zucchini gelangten als Novitäten in Europas Gemüsegärten. Salate und Arti­ schocken, die in Rom auf den Tischen der Reichen landeten, eroberten Frankreich und die bewässerten Gärten um Valencia. Kalabrien und Katalo­ nien dienten als Gewächshäuser für neue Sorten von Mandel-, Feigen-, Birn­ und Pflaumenbäumen. Getrocknete Hülsenfrüchte waren geeignet, um sich von den Jahreszeiten unabhängig zu ernähren, weckten aber nicht überall Begeisterung: "Das taugt eher für Schweine und Wild als für Menschen", urteilte William Harrison 1587. Doch in Südeuropa linderten aus Peru ein­ geführte Bohnen Zeiten der Nahrungsmittelknappheit Um 1 5 8 0 schuf Annibale Carracci das Gemälde Der Bohnenesser. Es zeigt einen Landarbei­ ter, der vor einer Schüssel mit Bohnen sitzt und den Löffel zum Mund führt. Auf dem Tisch befinden sich auch noch Zwiebeln, Brötchen und ein Glas Wein. Die Herstellung von Sauerkraut aus Weißkohl, eine weitere Methode zur Konservierung von Gemüse, war in Deutschland und Osteuropa verbrei­ tet. Das Kraut wurde in Butterfässern oder Steinkruken aufbewahrt, mit einem feuchten Musselintuch abgedeckt und das Ganze dann mit einem schweren Holzdeckel verschlossen. Sauerkraut war in den Wintermonaten ein wichtiges zusätzliches Nahrungsmittel. Butter, Käse und Olivenöl konn­ ten ebenfalls gut als Vorrat gelagert werden. D agegen waren Fleisch und Fisch, als leicht verderbliche Ware, orts- und saisonabhängig. Frisch geschlachtetes Fleisch gab es zumeist im Frühling und im Herbst, wobei ein gewisser Teil durch Methoden wie Pökeln, Salzen, Räuchern, Würzen und Trocknen konserviert werden konnte. Daraus machte man dann Würste in einer Vielzahl von Formen, Farben, Geschmäcken und Namen. Für den französischen Dichter Fraw;:ois Rabelais waren Würste der Höhepunkt der Küche und Gegenstand zotiger Witze. Als Handelsware aber ragte der Fisch heraus, der lediglich dem Getreide nachgeordnet war. Die Fischerei schuf Arbeitsplätze, und die Fischgründe boten als eine Art virtu­ eller Anbaufläche (ghost acreage) eine Nahrungsreserve ohnegleichen. Der Atlantik-Kabeljau wurde gesalzen, den in Atlantik und Mittelmeer vorkom­ menden Lengfisch räucherte man. Aale wurden in Holland an den Schleusen der neu dem Meer entrungenen Marschen gefangen und en gros auf den Fischmärkten von Amsterdam und London verkauft. Möglicherweise trieb die globale Abkühlung die Heringsschwärme weiter nach Süden - jedenfalls wurde der Fang dadurch wesentlich erleichtert. Insgesamt waren in den Jah­ ren bis 1650 die Fischfanggebiete des Nordwestatlantiks für den Ausgleich des durch Bevölkerungswachstum und Klimawandel verursachten Nah­ rungsmangels in Europa wichtiger als die Fanggründe in den amerikani­ schen Gewässern. 78

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Für die Sterblichkeitsraten in dieser Epoche gibt es keine völlig überzeu­ genden Erklärungen. Offensichtlich ist der Einfluss der einschneidenden demographischen Krisen. Ungewiss bleibt aber schon die genaue Beziehung zwischen epidemischen Krankheiten und Unterernährung, weil wir über die Ernährung der Menschen und ihr Verhältnis zu Mikroben, Flöhen und Rat­ ten zu wenig wissen. Es lässt sich nicht erklären, warum einige Gemeinwesen von größeren demographischen Krisen im Generationenwechsel verschont blieben, andere aber nicht. Viel hing vermutlich von den schwächsten Glie­ dern einer Gemeinschaft ab, die nicht in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen, und von jenen, die viel unterwegs waren und ansteckende Krankhei­ ten von einem Ort zum anderen übertrugen. Die Ätiologie epidemischer Erkrankungen bleibt unklar, und der Einfluss von Missernten war lokal beschränkt. Europas Bevölkerungswachstum war anfällig für die Unwäg­ barkeiten der Naturkräfte wie auch für die kriegerischer Konflikte. In Süd­ und Mitteleuropa wurden die Wachstumserfolge des 16. Jahrhunderts in der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts fast völlig zunichte gemacht. Die Widerstandskraft in anderen Regionen, vor allem im wirtschaftlich fort­ geschrittenen Nordwesten, ließ die regionalen Divergenzen erkennen, die das Christentum in unterschiedliche Richtungen drängten.

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3 . Stadt und Land

m 1650 lebten mehr Menschen in Städten als 150 Jahre zuvor. In dieser Epoche entstand ein dichter besiedelter Korridor, der von Norditalien bis ins Rheinland führte und eine Achse wirtschaftlicher Stärke bildete. Der Wohlstand dieser Region beruhte auf Wandlungsprozessen im Hinterland wie auch in den urbanen Zentren. Eine solche Entwicklung fand auch in anderen Weltgegenden statt. In China existierten Regionen mit fortgeschrit­ tener Wirtschaftsentwicklung und Urbanisierung bereits viel früher als in Europa. Um 1650 verlagerte sich die Dynamik des urbanisierten Korridors stärker nach Nordwesteuropa, an den Niederrhein und, über die Nordsee hin­ weg, nach Ostengland. Zu dieser Zeit hatte, Schätzungen zufolge, der Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung den in China übertroffen. Die Konsolidierung dieser dichter bevölkerten Region und andere wirtschaftliche Veränderungen schwächten allerdings den sozialen Zusammenhalt, der die Grundlage des Christentums gebildet hatte. Dieser Zusammenhalt ist Thema der folgenden Ausführungen.

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Städtische Räume Städte waren in verschiedener Weise von Bedeutung für die Zeitgenossen: als militärische B ollwerke, als O rte der Rechtsprechung, als Handelszent­ ren, als Aufenthalt von Eliten und als Treffpunkte für kulturellen Aus­ tausch. Es waren Knotenpunkte einer konzentrierten Präsenz, die miteinan­ der wetteiferten und für die Welt um sie herum ein Zeichen setzten. Ihr Einfluss war ambivalent, j a paradox: Einerseits belebten sie ihre Umwelt, andererseits wuchsen sie auf Kosten anderer. Sie vergrößerten die Ungleich­ heit und das Risiko. Dass der städtische Raum in neuem Licht erschien, geht aus dem Genre der "Chorographie" hervor, das sich damals entwickelte. Diese Form der Darstel80

3. Stadt und Land

lung von Städten, die einen Blick aus der Vogelperspektive gestattete, wurde zunächst dem Stadtplan vorgezogen. Sebastian Münsters Cosmographia (1 544) und Guillaume Gueroults Epitome de la corographie d'Europe (1 552/53) enthalten solche Stadtansichten, die öffentliche Gebäude, Befestigungsanla­ gen und kirchliche Bauwerke im Detail zeigen. Der Betrachter konnte die Umgebung der Stadt in Augenschein nehmen. Es war so, als würde man einen Besucher auf das höchste Gebäude einer Stadt führen und ihn von dort den Blick schweifen lassen - was der Florentiner Humanist Antonio Francesco Doni als die beste Möglichkeit empfahl, Besucher mit seiner Stadt bekannt zu machen. Stadtansichten gehörten zur Kunst des Reisens, in die Humanisten ihre Leser einführen wollten. 1567 veröffentlichte Lodovico Guicciardini seine einflussreiche Descrittione . . . de tutti i Paesi Bassi (1581 auch auf Deutsch unter dem Titel Beschreibung . . . der ganzen Niederlande), womit der Autor, selbst Bewohner einer stark urbanisierten Region, sich eine vergleichbare Gegend zum Gegenstand nahm. Seine "Beschreibung", illustriert mit chorographischen Stichen, war ein Meis­ terwerk der Stadtgeographie des 16. Jahrhunderts. Fünf Jahre danach erschien der erste Band von Civitates orbis terrarum (Die Städte der Welt) als Begleit­ band zum Weltatlas von Abraham Ortelius. Dieser Band enthielt 1 32 Stadt­ ansichten; weitere fünf Bände folgten. Sie wurden hauptsächlich in Köln ver­ öffentlicht. 1619 war die Sammlung vollendet und umfasste nun 546 prachtvolle Stadtansichten aus der Vogelperspektive inklusive Begleittext. Viele Ansichten entstammten der Feder von Frans Hogenberg, dem eigentlichen Initiator die­ ses Projekts. Schon bald war es für eine Stadt eine Art Statussymbol, in dieser Sammlung abgebildet zu sein. Die Ansichten waren am Rand mit figürlichen Darstellungen von Menschen und mit Wappen verziert, was einem doppelten Zweck diente: Zum einen sollte lokales Brauchtum illustriert werden, und zum anderen glaubte man, dass die Personendarstellungen die Türken davon abhalten würden, sich die Stadtansichten zunutze zu machen, da ihre Religion die Betrachtung des menschlichen Abbilds verbot. Allerdings fiel das Wachstum der Städte nicht einheitlich aus. In Italien war Mailand um 1500 eine Großstadt mit 91 000 Einwohnern, doch nach einer schrecklichen demographischen Krise im Jahr 1 542 schrumpfte diese Zahl um ein Drittel. Erst gegen Ende des Jahrhunderts hatte die Stadt ihre ursprüngliche Einwohnerzahl wieder erreicht. 1 520 besaß Florenz 70 000 Einwohner, fand aber erst 1650 zu dieser Größe zurück. Bologna (55 000 Ein­ wohner 1493, 36 000 im Jahr 1 597), Brescia (48 500 Einwohner 1493, 1 597 weniger als 37 000) und Cremona (40 000 Einwohner 1 502 und dann erst wie­ der 1600) hatten es schwer, mit kleineren Nachbarn (Padua, Verona, Vicenza), 81

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

die schneller expandierten, mitzuhalten. Venedig wuchs gar um 50 Prozent (lOS 000 Einwohner 1 509, 168 000 im Jahr 1 563, 150 000 im Jahr 1600). Nea­ pel vergrößerte sich fast um das Doppelte und rang mit Paris um den Titel der größten Stadt Europas (150 000 Einwohner 1 500, 275 000 im Jahr 1 599). Auch Siziliens Städte - Palermo und Messina - wuchsen in außergewöhnlichem Maß. Zur Zeit des Sacco di Roma, 1 527, war Rom eine mittelgroße regionale Hauptstadt mit 55 000 Einwohnern, doch 1607 waren es 109 000. Auch nördlich der Alpen war die Entwicklung uneinheitlich. Paris war die große Metropole der Christenheit, die einzige Stadt mit mehr als 200 000 Ein­ wohnern im Jahr 1500. Und sie wuchs weiter: Um 1 560 dürften es 300 000 Einwohner gewesen sein. Danach aber gingen Glück und Reichtum der Stadt in den französischen Bürgerkriegen unter; erst nach 1600 setzte neues Wachs­ tum ein. London dagegen wuchs und gedieh ungeachtet aller demographi­ schen Unglücksfälle (die Große Pest sollte 1665 erst noch kommen), was ein Schlüsselelement der politischen Ökonomie Englands darstellte. Lyon könnte seine Bevölkerung zwischen 1500 und 1560 von 40 000 auf 80 000 verdoppelt haben, doch musste die Stadt danach kämpfen, um den Status quo zu halten. Und das galt auch für andere französische Städte wie Rauen und Toulouse; nur Marseille konnte seine Bevölkerung zwischen 1 520 und 1600 verdreifa­ chen (von 15 000 auf 45 000). In den Niederlanden mussten die Ballungszen­ tren (Brügge, Gent und Brüssel) kämpfen, um gegenüber kleineren Städten (Lüttich, Namur und Amsterdam) zu wachsen, während Antwerpen seine Größe zwischen 1498 und 1568, als es schließlich 100 000 Einwohner besaß, verdreifachte. Aber im niederländischen Aufstand wurde der Stadt übel mit­ gespielt: Sie wurde von meuternden Truppen geplündert (1 576 und 1 583) und belagert (1584), wodurch sich die Bevölkerungszahl halbierte. Antwerpen erholte sich davon nur langsam. Einige größere Städte in Mitteleuropa (Köln, Lübeck) hatten Mühe, ihre Größe zu bewahren, während andere (Danzig, Hamburg) wuchsen. Nürn­ berg wurde die größte Stadt der Christenheit östlich des Rheins. Auf der Ibe­ rischen Halbinsel konnten Lissabon und Sevilla ihre Bevölkerung mehr als verdoppeln. Andere spanische Städte (Valencia, Toledo, Granada) erlebten beträchtliches Wachstum, und Madrid stieg von einer Kleinstadt mit 5000 Einwohnern im Jahr 1500 zu einer Großstadt auf, die einhundert Jahre später mehr als 35 000 Einwohner besaß. Städte mit einer Einwohnerzahl von min­ destens 10 000 bildeten den Maßstab für urbane Größe vom Mittelmeerraum bis nach Nordwesteuropa. D ennoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ein Reisender die Nacht in einer Kleinstadt (unter 10 000 Einwohner) verbrachte, fünfmal höher. In 82

3. Stadt und Land

England gab es mehr als 700 Kleinstädte, in Frankreich über 2000, im Hei­ ligen Römischen Reich mehr als 3 0 0 0 und in Polen über 800. Auch die Städ­ tedichte war höchst unterschiedlich. In Süd- und Westdeutschland kam im Durchschnitt eine Kleinstadt auf zweieinhalb Quadratkilometer, während die Städte in den Ausläufern der Vogesen so nahe beieinander lagen, dass man, wie Sebastian Münster schrieb, "mit der A rmbrust von einer zur ande­ ren schießen konnte". Mehr als durch die Bevölkerungszahl definierten sich Kleinstädte durch funktionale Vielfalt und urbanen Ehrgeiz. In Schweden und Finnland hatten sie zumeist einen Schuster, einen Schneider, einen Schmied und einen Zimmermann. Das Streben nach Urbanität zeigte sich an der Infrastruktur - M auern, Tore, Rathaus, Marktplatz und Brunnen. Neue Städte blühten auf, weil Adlige den Wert ihrer Besitzungen maxi­ mieren wollten und Fürsten die Stadtentwicklung förderten. Nach 1 500 wurden in Schottland 270 neue freiherrschaftliche Stadtgemeinden (baro­ nial burghs oder boroughs) gegründet, und in Litauen entstanden im späten 16. Jahrhundert fast 400 private Adelsstädtchen, mit deren H ilfe der Adel aus dem Wachstum der Landwirtschaft in den O stseegebieten durch Ver­ marktung Kapital zu schlagen gedachte. In den 100 Jahren nach 1 58 0 gewährte die Wasa-Dynastie in Schweden im Zuge der Kolonisierung noch unkultivierten Landes 30 neue Freibriefe für Städte. In I rland wurden die neu privilegierten Städte - zum Beispiel Philipstown (Daingean) und Mary­ borough (Portlaoise) - Vorreiter der englischen Besiedlung unter den Tudors und Stuarts . Spanien erlebte fast jedes Jahr eine Stadtgründung, weil die an Geldknappheit leidende Monarchie bereitwillig Privilegien verkaufte. Kleine Städte konnten nur gedeihen, wenn die wirtschaftliche Lage im Umland günstig war, anderenfalls fiel das Überleben schwer. Ambleside und Shap im englischen Lake District beispielsweise konnten ihren Status als Marktstädte nicht halten und wurden wieder zu Dörfern. Etwa drei Vier­ tel der neuen burghs in Schottland und der frisch privilegierten Städte in Norwegen endeten als " Schattenstädte", die realiter Dörfer waren. Hond­ schoote, eine kleine Gemeinde östlich von Dünkirchen, wuchs sehr rasch zu einer Stadt mit mehr als 15 000 Einwohnern heran, weil man dort ein leich­ tes Tuch, bestehend aus einem Gemisch von Wolle und Leinen, herzustellen wusste. Als aber in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Flandern vom K rieg heimgesucht wurde, war es mit dem Wohlstand vorbei. Das südlich von Gent gelegene O udenaarde verdoppelte seine Einwohnerzahl in der ers­ ten Hälfte des 16. Jahrhunderts, war indes um 1600 auf weniger als die Hälfte seiner ursprünglichen Größe geschrumpft, weil die Bevölkerung 83

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

während der Kriege massenhaft das Weite suchte. Die Urbanisierung war kein Maßstab für ein endlos fortgesetztes Wachstum. Um den urbanen Ballungsraum zogen sich konzentrische Kreise, in denen sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Stadt und Land entfalteten. Im Mittelpunkt stand der binnen eines Tages zu erreichende Wochenmarkt, wo die Bauern leicht verderbliche Produkte in großen Mengen verkauften; hier wurden 75 bis 90 Prozent der lokalen Produktion angeboten. Zum Markt, der einmal im Monat oder alle Vierteljahre stattfand, wurden Waren aus einem weiteren Umkreis gebracht. Hier ging es um Getreide und Vieh, das manch­ mal von Orten, die zwei oder drei Tagesreisen entfernt lagen, herbeigeschafft wurde. Der Umfang des Einzugsgebiets hing von der Größe der Stadt ab: Nürnberg bezog sein Getreide aus einem 5000 Quadratkilometer großen Gebiet, und seine Kommissionäre operierten in einem Radius von etwa 100 Kilometern. Ein solcher Raum entsprach einer ganzen ländlichen Wirt­ schaftsregion und stimmte keineswegs zufällig oft mit den lokalen Rechts­ und Verwaltungsgrenzen überein. In wirtschaftlicher Hinsicht war dieser Raum für die übrigen 10 bis 25 Prozent der lokalen Produktion besonders relevant, wobei der konkrete Anteil von den Transportkosten für Massenware abhing. 1 559 erhöhten sich die Transportkosten für Getreide zum Markt nach Valladolid mit jeder legua (der Strecke, die ein Karren in einer Stunde zurück­ legte - weniger als sechs Kilometer) um zwei Prozent pro Sack. Am größten war die Ausdehnung der dritten Sphäre, des Einzugsgebiets für den jährlich stattfindenden Markt. Auf ihm wurde mit Wolle, Tuch und Garn gehandelt ­ Waren, die oftmals aus einer Entfernung von 40 Kilometern herbeigeschafft wurden. Diese wirtschaftlichen Einflusszonen waren von besonderer Bedeu­ tung, wenn im Mittelpunkt Großstädte standen, die dazu neigten, den kleine­ ren umliegenden Gemeinden die Luft abzuschnüren. Bäuerlicher Protest mochte in einer Metropole Gehör finden, doch verfügten die Patrizier in sol­ chen Fällen die Schließung der Tore und die Bewachung der Mauern. Das gegenseitige Misstrauen, das Bürger und Bauern füreinander hegten, war zu groß, als dass sie längerfristig gemeinsame Sache hätten machen können.

Migration und Mobilität Besonders in den Zonen verdichteter Urbanität war die Bevölkerung ausge­ sprochen mobil. Krankenhausregister, Kirchengerichtsbücher, Ausbildungs­ verträge, Nachlassverzeichnisse, Musterungsrollen, Immatrikulationslisten, Verzeichnisse von Neubürgern und "Fremden" lassen komplexe Migrations84

3. Stadt und Land

muster erkennen. Das war nicht neu, wurde aber für die weitere Entwicklung immer bedeutsamer. Die demographische Mobilität erklärt, wie die übersee­ ischen Imperien bevölkert wurden. Im 16. Jahrhundert wanderte eine Vier­ telmillion Menschen von Kastilien in die Neue Welt aus, wobei die Mehrheit der Neusiedler aus jungen Männern bestand. Die meisten Migranten aber bevorzugten kurze Entfernungen, bewegten sich gewissermaßen Schritt für Schritt vom Land in die nächste Kleinstadt und von dort aus in eine größere Metropole. Gelegentlich lassen sich diese Bewegungen rekonstruieren, wie etwa - in der zweiten Hälfte des Jahres 1562 - für 155 Hausbedienstete in der Gemeinde Romford, 22 Kilometer öst­ lich von London: Die meisten stammten aus ortsansässigen Familien, aber ein gewisser Anteil war von weiter her gekommen. Ein Landarbeiter war als Zwanzigjähriger von Cumbria nach Romford gelangt und Yeoman (Freibauer) im benachbarten Hornchurch geworden; eine Dienstbotin war im Alter von 14 Jahren aus Kent gekommen (sie heiratete später in Romford einen Schneider). Von den Zeugen, die vor dem Kirchengericht in Canterbury aussagten, erklär­ ten nicht einmal zehn Prozent, dort geboren und aufgewachsen zu sein. Etwas über 40 Prozent kamen aus anderen Gegenden von Kent, und weitere 28,5 Prozent stammten gar nicht aus der Grafschaft. Außerhalb urbanisierter Regi­ onen war die Mobilität weniger stark. Im Iothringischen Vezelise, einem Marktstädtchen, stammte die Hälfte der Bräute (von einem Sampie aus dem Zeitraum zwischen 1578 und 1633) aus Orten, die mehr als zehn Kilometer von Vezelise entfernt waren, aber nur eine Braut von sechs heiratete einen Mann, der mehr als 22 Kilometer von der Stadt entfernt geboren war. Die Zuwanderung in die Städte lässt sich leichter dokumentieren als die Migration in die entgegengesetzte Richtung. Doch kam es, wo immer Land urbar gemacht wurde, auch zum Wegzug aus Städten und Dörfern. Dies zeigt sich in Finnland, an den Ostseeküsten und auch in O steuropa am Auftreten fremdsprachiger Namen. Die Ausweitung der norwegischen Küstenfischerei wäre ohne schottische und dänische Immigranten nicht möglich gewesen. Selbst in den englischen Hutewaldregionen, im Wald von Arden oder im Dorf Myddle in Shropshire (von wo uns eine detaillierte Aufstellung der Einwoh­ nerschaft aus dem 17. Jahrhundert vorliegt), war ein Zufluss von neuen Sied­ lern zu verzeichnen, die eine Hütte errichteten und sich eine Existenz aufbau­ ten. Daneben gab es zeitlich begrenzte und saisonale Migration, die für die europäische Wirtschaft essentiell war. In jedem Frühling strömten Arbeits­ kräfte in Mengen aus dem Binnenland in die Häfen der Atlantikküste, um auf den Kabeljauschiffen anzuheuern. Fast 60 Prozent der Mannschaften, die im 17. Jahrhundert von Amsterdam aus in See stachen, waren keine Einheimi85

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

sehen. Auch die Getreideernte wäre ohne Wanderarbeiter nicht möglich gewesen. Gebirgsregionen waren ein Reservoir für gelernte und ungelernte Arbeitskräfte, die in die Niederungen kamen, um Mauern zu bauen, Gräben zu säubern, die Maultierzüge zu begleiten und in der Armee zu dienen. In manchen schweizerischen Bergdörfern gab es in den Sommermonaten fast keine Männer mehr. Die Migration war ein wichtiger Faktor in der urbanen Demographie, weil sie das Defizit ausglich, das durch die hohen städtischen Sterblichkeitsraten entstand. Dabei handelte es sich um ein typisch europäisches Phänomen - in den städtischen Regionen Chinas und Japans unterschieden sich die Sterblich­ keitsraten nicht wesentlich von denen der ländlichen Umgebung, was zum Teil mit der größeren Aufmerksamkeit zusammenhängt, die man dort der Wasser­ versorgung, der Kanalisation und der Reinheit von Lebensmitteln widmete. In Europa dagegen sorgte Zuwanderung für den Ausgleich der Bevölkerungsver­ luste durch demographische Krisen. Selbst in "normalen" Jahren bedurfte es wohl der Neuzugänge, um Geburtendefizite bei der Stadtbevölkerung wettzu­ machen. Mit Recht hielten die städtischen Oberschichten ihre Umgebung für gefährlich, ekelerregend und sogar schädlich - für einen großen gemeinschaft­ liehen Misthaufen. Die städtische Gesetzgebung verweist häufig auf die Unzu­ träglichkeit der Verhältnisse, insbesondere von (um aus Londoner Texten zu zitieren) "stinkendem Abfall", "fauligen Gerüchen", "übel riechendem Schmutz" und "ekelhaftem und infektiösem Gestank". In der Medizin ging man davon aus, dass ein guter Geruch einen schlechten vertreiben könne, und pries Zibet, Moschus und Ambra als hilfreiche Mittel gegen Ansteckung an. Humanistisch orientierte Stadträte schlugen Projekte für das Gemeinwohl vor - öffentliche Brunnen mit sauberem Wasser von außerhalb, Abwasserka­ näle und öffentlich finanzierte Straßenkehrer. In Paris beschäftigte der Stadt­ vogt Reinigungskräfte, die die Straßen fegten und den nächtlichen Unrat aus der Stadt heraus nach Montfaucon brachten. In Rom richtete Papst Cle­ mens VII. ein Abfallamt ein, aber die Einwohner wollten es nicht finanzieren. Das war auch der Hemmschuh für viele Versuche, frisches Wasser in die Städte zu bringen: Solche Projekte kamen den Stadtsäckel teuer zu stehen, und obwohl alle die Notwendigkeit einsahen, wollte niemand dafür aufkommen.

Pflug und Spaten Dem Boden Nahrung abzuringen war harte Arbeit, und die große Mehrheit der Bevölkerung plagte sich damit ab. Die Technologie war nur rudimentär 86

3. Stadt und Land

entwickelt, der Ertrag gering, die Abhängigkeit vom Wetter immens. Wer das Land bebaute, versuchte, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ohne die ohnehin vorhandenen hohen Risiken noch zu vermehren. So betrachtete der Landmann jeden Wandel mit Argwohn und sorgte mit ökologischer Umsicht für alles, was längerfristig zu erhalten war. Derlei Vorsicht war system­ bedingt - fest eingearbeitet in das Gewebe der ländlichen Welt durch tra­ dierte Wirtschaftsformen und rechtliche Rahmenbedingungen. Blickte man von einem Satelliten auf Europa herunter, sähe man die große europäische Ebene, die weiten, sanft gewellten Flächen, die sich von Polen über Norddeutschland, Süddänemark und Südschweden nach Nord­ frankreich und bis in die englischen M idlands erstrecken. Das vorherr­ schende Bild wäre das einer offenen Landschaft, unterteilt in große Felder, auf denen die bäuerlichen Hofstellen ihre Flurstücke besaßen. Im Sommer wären die Farben Gelb und Braun gewesen, weil man mehr als 90 Prozent der Fläche für den Anbau von Getreide nutzte. Damit der B oden nicht aus­ gelaugt wurde, erfolgte der Getreideanbau in einem System von Wechsel­ wirtschaft - in weiten Teilen von Nordeuropa war dies die D reifelderwirt­ schaft. Im Schnitt musste ein Bauer wenigstens 25 Tage im Jahr für die Vorbereitung der Felder aufwenden, und dann noch einmal drei bis fünf Tage für die Ernte. Die bäuerliche Wirtschaftsweise folgte den tradierten dörflichen Gepflo­ genheiten. Jedes Jahr gab es eine Menge zu erörtern, von dem richtigen Zeit­ punkt für Aussaat und Ernte bis zur Instandhaltung der Pflüge, der Größe der Parzellen, dem Recht auf Nachlese oder der Anzahl der Tiere, die jede bäuerliche Einheit auf der Brache weiden lassen durfte. Derartige Entschei­ dungen fällte man nicht leichthin, denn sie konnten Spannungen hervorru­ fen - und das bäuerliche Leben war ebenso auf den Ausgleich von Streitigkei­ ten ausgerichtet wie auf den Umgang mit ökologischen Unwägbarkeiten. Man musste miteinander auskommen, denn auch davon hing das Ergebnis der harten körperlichen Arbeit ab. Wir wissen nicht viel über die jährlichen Gesamterträge an Getreide, sind vielmehr auf Schätzungen und Folgerungen angewiesen. Die Brache entzog jedes Jahr ein Drittel bis eine Hälfte des nutz­ baren Landes dem Anbau, was den Ernteertrag von vornherein einschränkte. Die Ernte selbst war ineffizient, weitere Verluste gab es beim Dreschen und Lagern. Hatte der Bauer das Saatkorn für das nächste Jahr beiseitegelegt, konnte er mit Glück einen Weizenertrag von mehr als 4:1 erzielen. Den jeden­ falls erreichten die Bauern des Domkapitels von Krakau in Rzgow- Gospodarz 1 553. Bis 1 573 wurden hier nur zweimal bessere Erträge verzeichnet. Weiter im Westen, bei Wolfenbüttel, war man mit einem Ergebnis von 6,5:1 im Jahr 87

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1 540 erfolgreicher. Jedoch änderte sich die Gesamtsituation, wenn überhaupt, nur sehr langsam. Wählt man jedo ch eine weitere Perspektive, wandelt sich das Bild etwas, gab es doch Gegenden mit stärker ausgeprägter Viehzucht und M ilchwirt­ schaft. In den Niederlanden, im friesischen Marschland o der in Mecklen­ burg und Vorpommern zwischen Eibe und O der wirkte sich die Nutzvieh­ haltung positiv auf den Ernteertrag beim Getreide aus, denn die Tiere düngten den B oden und lockerten beim Beweiden die Ackerkrume auf. Die Weideflächen wurden provisorisch eingezäunt, sodass sich eine Einfriedung der Felder erübrigte. Wenn es gelang, einigermaßen konstant zu düngen, erbrachten die Böden gute Erträge: In den Jahren 1 570 -1 573 wurde im frie­ sischen H itzum ein Ertragsdurchschnitt von 1 0 : 1 erzielt. D ie B auern konn­ ten dort sogar die Wechselwirtschaft aussetzen und auf allen Feldern jedes Jahr Hafer ernten. Unterdessen hatte man in Teilen von England und West­ frankreich mit der Rationalisierung des Anbaus begonnen, indem man die Felder um die einzelnen Höfe herum gruppierte und einfriedete. Zu diesem Zweck wurden an den Besitzgrenzen Gräben ausgehoben und auf dem Aus­ hub Hecken gepflanzt - das Äquivalent von Stacheldraht in unserem sicher­ heitsbesessenen Zeitalter. Das sollte die ärmeren Leute davon abhalten, von ihren Gewohnheitsrechten Gebrauch zu machen, auf die sie oft so dringend angewiesen waren: Nutzung der Allmenden, Nachlese auf abgeernteten Fel­ dern und Holzsammeln in Waldgebieten. Allerdings s ollte man die Verän­ derungen nicht überbewerten: Zwischen 1455 und 1617 wurden in England etwas mehr als 300 000 Hektar Land eingehegt, aber nur 35 000 Landarbei­ ter von Grund und B oden vertrieben. Das Parlament war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass die eingeleiteten Maßnahmen zu Unruhen führen könnten. Es setzte Untersuchungskommissionen ein und verabschiedete 1 5 1 7, 1 548, 1 566 und 1607 Gesetze, um die Auswirkung der Einhegungen (enclosures) zu mildern. Vielleicht erklärt die Angst vor sozialer Unruhe ein Stück weit auch, warum der Wandel in der Landwirtschaft nicht weiter um sich griff. Noch stärker fällt hier freilich ins Gewicht, dass der Landbau auf ausgleichenden Maßnahmen beruhte. Die Bauern wussten, wie wichtig es war, Nährstoffe wieder dem Boden zuzuführen. Rein intuitiv war ihnen klar, dass zu viel Nutzvieh mit seinen Ausscheidungen den Boden sauer machte. Dagegen konnte man angehen, indem man Mergel (Ton, kalkreiche Erde) ausbrachte, doch ging das nur dort, wo entsprechende Transportmöglichkeiten zur Ver­ fügung standen. Dehnte man die Anbaufläche zu stark aus und verzichtete auf die Brache, würde die Fruchtbarkeit des Bodens leiden. B ezog man 88

3. Stadt und Land

Waldland und weniger gute Böden in die Anbaufläche ein, waren vielleicht die langfristigen Erträge die Mühe nicht wert. Erhöhte man die Anzahl des Weideviehs, hatte man möglicherweise nicht genug Heu, um es durch den Winter zu bringen. Zu viel Nutzvieh beeinträchtigte das Frühlingswachstum der Wiesen und damit die Heuernte für die Wintersaison. Die europäischen Bauern waren nicht faul, unwissend oder dumm, vielmehr trafen sie inner­ halb enger Grenzen kluge Entscheidungen. In manch anderer Hinsicht vollzogen sich Veränderungen einfach im Stil­ len. Rienck Hettes van Hemmema, ein Bauer in Hitzum, experimentierte mit dem Anbau von Erbsen und Bohnen auf dem Brachland, und es gelang ihm, dadurch den Anteil von unbebautem Boden auf seinem Besitz auf zwölf Pro­ zent zu reduzieren. 1558 wurden in Leicestershire 14 Bauernhöfe inspiziert. Die Untersuchung ergab, dass weniger Winterweizen und dafür mehr Früh­ lingsweizen angebaut wurde, während auf dem Brachland in den meisten Jahren Erbsen und Bohnen angepflanzt wurden. Ein Vertrag, der 1548 über Land in Montrouge bei Paris geschlossen wurde, sah vor, dass der Bauer gleich nach der Ernte das Feld pflügen und Wurzelgemüse pflanzen sollte. Wie andere Bauern im Pariser Umland nutzte er die Nähe der Hauptstadt, indem er Viehmast betrieb und Ställe für Pferde bereithielt. Derlei Verände­ rungen gab es auch im Umkreis anderer Städte. Aber die landwirtschaftliche Innovation ging langsam voran und ereignete sich nur dann und dort, wo das natürliche Umfeld und der Markt dies hergaben. Außerhalb der europäischen Ebenen war die Dreifelderwirtschaft nie die Norm gewesen, sondern wurde neben der Zweifelderwirtschaft betrieben, bisweilen als Reaktion auf den intensiveren Anbau von Getreide oder Indus­ triepflanzen wie Hanf oder Krapp. Auf den Heideflächen der Gascogne oder der Iberischen Meseta, der zentralen Hochebene in Spanien, mussten die Bauern für jedes Anbaujahr sogar zwei Brachjahre einplanen. Östlich der Eibe erstreckte sich in O stpolen, Moldau und der Ungarischen Tiefebene Weideland. Dort wurde extensive Nutzviehhaltung betrieben. Die südlich der europäischen Ebenen liegenden Flusstäler wiesen die größte landwirtschaft­ liche Vielfalt in Mitteleuropa auf. Im milden Klima der Talböden herrschten ideale Bedingungen für den Getreideanbau, während auf den Hügelrücken Schafe weiden konnten. Dazwischen, an den geschützten Süd- und Osthän­ gen, wuchsen Weinstöcke. An den übrigen Hängen boten Wälder und Haine landwirtschaftliche Nutzungsmöglichkeiten wie die Ernte von Walnüssen, Oliven und Esskastanien sowie den Holzeinschlag - Produkte, mit denen gleichfalls Handel getrieben werden konnte. Allmenden (Weiden, Waldge­ biete, Brachland) ergänzten anderes, intensiver kultiviertes Terrain. 89

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Diese landwirtschaftliche Vielfalt würde sich im Satellitenbild als Auftei­ lung offener Felder in kleinere, unregelmäßige, bisweilen eingehegte Flächen zeigen. In Nordengland, Wales, West- und Südfrankreich, Teilen von Nieder­ sachsen, Westfalen und großen Gebieten Südwestdeutschlands war die Land­ schaft von Hecken und Mauern aus Feldsteinen durchzogen. Weitere Vielfalt boten die Mittelmeergebiete: Auf der Tierra de Campos in Nordkastilien und in Teilen des sizilischen Binnenlands dominierte der Getreideanbau, anderswo sah man Bewässerungsanlagen für Reis, gemischten Getreideanbau, Kasta­ nien-, Oliven-, Walnuss- und Maulheerhaine (für die Seidenproduktion) sowie die allgegenwärtigen Weingärten. Buchweizen, das "schwarze Getreide", das gar kein Getreide ist, sondern zur Familie der Knöterichgewächse gehört, eroberte ab dem frühen 16. Jahrhundert die eher mageren Böden der Breta­ gne, wohin er aus Nordafrika gelangt war. Die Banco di San Giorgio als die Institution, die Korsika im Auftrag der Republik Genua verwaltete, wies die Gemeinden an, Esskastanienbäume zu pflanzen, um ein marktfähiges Pro­ dukt und zugleich Mehl für die Armen zu haben. Der Druck auf die Land­ wirtschaft, für neue Anbauflächen zu sorgen, nahm zu: Mauern und Terras­ sen bedeckten bald die Hügel. Überall wurde Land für den Anbau erschlossen. In Nordnorwegen säte man, zum ersten Mal seit 200 Jahren, Hafer aus. Im baltischen Teil Russlands und in Polen vergrößerten Klöster und Adlige ihre landwirtschaftlichen Domänen. Der unternehmungsfreudige Kardinal und Minister Antoine Per­ renot de Granvelle, einer der großen Staatsmänner des 16. Jahrhunderts, nutzte die Gewinne aus seinem Amt, um in den Ardennen und im Jura neue Dörfer zu gründen. Waldhüter kämpften gegen unberechtigte Eindringlinge. Die Landinspektionen im Bas- Languedoc zeigten, dass jedes Fleckchen Land genutzt wurde. Die Bereitschaft, auf Veränderungen flexibel zu reagieren, war jedoch am deutlichsten ausgeprägt in Regionen, die landwirtschaftlich viel­ fältig aufgestellt und stadtnah gelegen waren. Dabei waren es nicht immer die Städte, die ihre Bedürfnisse und Forderungen an das Hinterland richteten, sondern häufig brachte erst das Zusammenspiel komplementärer Kräfte eine Wirtschaftsregion hervor, in der Agrarprodukte stärker kommerzialisiert wurden. Der Einfluss des Marktes auf die Produktion - und den Preis - von Getreide war beträchtlich. Um 1600 verbrauchte Rom jährlich 60 000 Wagen­ ladungen Getreide. Messbar wird der Markteinfluss an dem urbar gemachten Land, dem Aus­ bau von Wasserstraßen und Bewässerungsanlagen. Hier investierte städti­ sches Kapital am stärksten in die ländliche Infrastruktur. In der Lombardei vollendete der Bewässerungsbau im 16. Jahrhundert, was im Jahrhundert 90

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zuvor begonnen worden war. Von Mailand bis zum Ticino verlief der Navi­ glio Grande in einer Länge von 50 Kilometern, ein Triumph der Hydraulik. Zu den beteiligten Ingenieuren gehörte auch Leonardo da Vinci, und unter den Zeichnungen im Codex Atlanticus findet man seinen Entwurf für die doppeltorige Kammerschleuse, die für die Schleuse von San Marco in Mai­ land vorgesehen war. Im Vergleich zu Wehrschleusen arbeiteten Kammer­ schleusen wesentlich effizienter. Gegen 1 53 0 war die lombardische Ebene von Mailand bis Pavia mit einem Netz von Seitenkanälen und Wasserstraßen bedeckt. Die Lombardei war ein reiches Land, jedenfalls für wohlhabende Notabeln aus Mailand. Bologna setzte die Hydraulik besonders erfindungsreich ein. Zwei neue Kanäle lieferten die mechanischen Antriebskräfte für Getreidemühlen, Walk­ müblen und hydraulische Sägen, die ihr Wasser aus unterirdischen Leitungen erhielten. Die bewässerten Gärten um Valencia und die Schleusen am Vinalop6 sorgten für die Erweiterung des Reisanbaus. In der Provence leitete der Ingenieur Adam de Craponne ein Konsortium (dem auch der Astrologe Nostradamus angehörte), mit dessen Hilfe er die Durance kanalisierte, um 20 000 Hektar Schottersteppe der Crau zu bewässern. Kleinere Unterneh­ mungen bestanden darin, Feuchtwiesen unter Wasser zu setzen, um im Früh­ ling mehr Viehfutter zu haben. Allerdings waren nicht alle solche Bemühun­ gen erfolgreich. Venedig gab den Versuch auf, die unteren Täler von Po und Etsch trockenzulegen, und Großherzog Ferdinando von der Toskana, der das­ selbe mit den Seen des Chianatals vorhatte, konnte diesen Plan nur mit mäßi­ gem Erfolg umsetzen. Papst Pius IV. wollte unbedingt die Fontinischen Sümpfe austrocknen und heuerte deswegen den Ingenieur Rafael Bombelli an. Im ersten Anlauf misslang der Plan, der dann von Papst Sixtus V. reak­ tiviert wurde. Doch starb der Pontifex nach einem Besuch auf der Baustelle an Malaria. Nördlich der Alpen wurde Landgewinnung am stärksten in den Flussmün­ dungsgebieten der Niederlande betrieben - es war die spektakulärste von Menschenhand bewirkte Veränderung der europäischen Küstenlinie vor 1650. Tatsächlich war die Trockenlegung von Land in Küstennähe ein welt­ weites Phänomen, das möglicherweise mit dem Klimawandel zusammen­ hing. In Südostasien verwandelten sich die Flussdeltas von Burma, Siam, Süd­ china, Kambodscha und Vietnam in bevölkerte Gebiete, wo - begünstigt vom interregionalen Handel - neue Reisfelder kultiviert wurden. In den Nie­ derlanden konnten mithilfe hydraulischer Techniken in den 1 540er- bis 1560er-Jahren jedes Jahr 1400 Hektar Land zusätzlich für die landwirtschaft­ liche Nutzung gewonnen werden. D iese Aktivitäten erfuhren eine Unter91

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brechung durch die religiösen und politischen Auseinandersetzungen nach 1 560, wurden aber in den 1 590er-Jahren wieder aufgenommen. Die Geschichte bewegt sich in eine wohlbekannte Richtung: hin zum Triumph der kapitalintensiven Landwirtschaft mit großen, unabhängigen Höfen, geführt von marktorientierten bäuerlichen Experten, die mit flexibler Nutzviehdüngung hohe Erträge pro Hektar erzielen, ihre Felder einhegen und sich auf die Schnellstraße zur "landwirtschaftlichen Revolution" bege­ ben. Dahinter erstreckt sich der Schatten einer noch größeren Geschichte: Europas nordwestliche Atlantikküste war dazu ausersehen, den Kontinent in die Moderne voranzubringen. Es fällt schwer, diese Story nicht vom Ende her zu lesen. Doch gemahnt die Wirtschaftsgeschichte Europas in dieser Epoche daran, wie falsch die Ergebnisse sind, wenn man per Teleskop in der Geschichte nach den frühesten Ursachen für späteren "Erfolg" fahndet. Erfolg in der bäuerlichen Welt zu haben, war damals eine schwierige Angele­ genheit. Es beinhaltete auch, Risiken miteinander zu teilen und zu minimie­ ren, die eigene Familie und die weitere Verwandtschaft Jahr für Jahr zu ernähren und die längerfristige Fruchtbarkeit des Bodens zu bewahren, vor allem, wenn Land kultiviert wurde, das nur bedingt für den Anbau von Nutz­ pflanzen tauglich war. Sind nicht die zahllosen Terrassen kultivierbaren Lan­ des, die im Bas-Languedoc die Hänge bis zu der steinigen Hochebene empor­ kriechen, Anzeichen für eine kommende Ernährungskrise a la Malthus? Es gibt Hinweise für die Richtigkeit dieser Auffassung. Die Höfe der Klein­ bauern wurden durch Realteilung noch kleiner, womit die Versuchung wuchs, das Risiko zu mehren und die Produktivität des Bodens über alle Maßen zu strapazieren. Und wenn beispielsweise in Wiekharn (Tyneside, im Norden Englands) der Kohleabbau eine kleine Armee von Arbeitern anzog, die ihre Hütten zum Teil in unmittelbarer Nähe zum Schacht errichteten, brachte diese Lebensweise eine starke Abhängigkeit vom Nahrungsmittel­ markt mit sich. 1 596/97 mussten sie hungern, weil Nahrungsmittel knapp waren. In einigen Hochlandregionen von Nordengland wiederum konzent­ rierte man sich so sehr auf die Weidewirtschaft und deren Gewinnmaximie­ rung, dass zum Teil auf den Anbau von Nutzpflanzen verzichtet wurde. Infol­ gedessen starben die Menschen in einigen Ausnahmejahren an Hunger. In den nichts verzeihenden Hochebenen von Kastilien bemerkten schon die Zeitgenossen, dass der Boden auslaugt und die Felder nicht mehr so produk­ tiv waren wie einst, ein Eindruck, den etwa erhaltene Zehntaufzeichnungen zumindest teilweise bestätigen. Solche abnehmenden Erträge waren freilich auch Ergebnis fehlender Zusammenarbeit zwischen Schafzüchtern und Bau­ ern, die realiter einander brauchten. Ebenso ist es möglich, dass das schlechte 92

3. Stadt und Land

Wetter und die negativen Auswirkungen epidemischer Krankheiten in den 1 590er-Jahren die Bauern durch besonders hohe Getreidepreise dazu verlock­ ten, weniger verantwortungsvoll mit den Ressourcen umzugehen. In den 1620er-Jahren galt die Landwirtschaft auf den spanischen Hochebenen wegen der hohen Betriebskosten und der geringen Einnahmen jedenfalls als weithin unprofitabel. Doch einige Gemeinden wirtschafteten weiterhin erfolgreich, weshalb das Gesamtbild nicht eindeutig ist. Auch war Spanien im 18. Jahr­ hundert in der Lage, eine größere Bevölkerung zu ernähren, ohne dass die Landwirtschaft erhebliche Veränderungen erlebt hätte. Wenn es in jener Peri­ ode also malthusianische Krisen gegeben haben sollte, blieben sie auf bestimmte Zeiten und Orte beschränkt. Obwohl sich der Einfluss des städtischen Wachstums auf dem Land also durchaus bemerkbar machte, wurden Zuwächse in der landwirtschaftlichen Produktion im Großen und Ganzen nicht durch kapitalintensive Agrarwis­ senschaft oder spektakuläre Ertragssteigerungen pro Hektar erreicht. Viel­ mehr geschahen sie durch lokale Veränderungen, die hauptsächlich im Bereich der landwirtschaftlichen Nutzfläche stattfanden, angetrieben durch ein Wachstum der ansässigen Bevölkerung und durch die Marktpreise für Nahrungsmittel, wobei sich die Rolle der Preisentwicklung unmöglich bezif­ fern lässt. Der Einfluss des Marktes auf die Landwirtschaft variierte immer abhängig von Preisgefüge, Risiko und Lohn - und war zudem häufig indirekt. Wer einen Pflug besaß, konnte zu den Gewinnern gehören; wer nur einen Spaten sein Eigen nannte, stand eher aufseiten der Verlierer. Mehrheitlich aber besaß Europas Landbevölkerung keinen Pflug, sondern Sicheln, Sensen und Spaten, und deren Besitzer waren vielen Fährnissen ausgesetzt.

Landbesitz und Landnutzung Selbst für Institutionen wie Städte, Hospitäler oder Klöster war der Besitz von Land zu vollem Recht ungewöhnlich. 1 5 1 5 fasste der Theologe Silvestro Maz­ zolini da Prierio (Sylvester Prierias), ein italienischer Dominikaner, die seit Langem geführte Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen ius (Recht) und dominium (Besitz, Eigentum) zusammen. Er schrieb, es sei falsch anzunehmen, dass ius und dominium dasselbe wären und dass, wer das ius habe, auch das damit einhergehende dominium besäße und umgekehrt. Idealerweise, räumte er ein, sollte das so sein, aber die Welt war komplizierter. So konnte jemand ein ius haben, der kein dominium besaß. Mazzolini führte das Beispiel von einem Vater und seinem noch unmündigen Sohn an. Der 93

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Vater besaß das dominium über den Sohn, doch dieser hatte das ius, nämlich das Recht, im väterlichen Haushalt versorgt zu werden. Die rechtliche Unter­ scheidung zwischen dem Besitzanspruch auf eine Sache (dominium directum, Obereigentum, nannten das die römischen Rechtsgelehrten) und dem Nut­ zungsrecht daran (dem dominium utile oder nutzbarem Eigentum) wurde all­ gemein verstanden, weil sie in der Wirklichkeit wurzelte. Was die meisten Menschen lebhaft interessierte, war die konkrete Nutzung der verwertbaren Ressourcen des Landes. Sehr häufig lag sie nicht bei dem eigentlichen Besitzer des Bodens selbst. Das Recht, in einem Fluss zu fischen, ein Stück Land zu überqueren oder in einem Wald Holz zu schlagen - dies alles war Gegenstand unterschiedlicher Besitztitel, die von dem unmittel­ baren Besitz des Bodens selbst getrennt werden konnten. Hieraus erwach­ sende Streitfälle wurden, wenig verwunderlich, besonders häufig und kontro­ vers vor den Gerichten verhandelt. Viele Nutzungsrechte für wirtschaftliche Güter lagen noch bei den Kommunen und wurden gegen eine Prämie verge­ ben. In weiten Teilen Europas gab es noch Gemeindeland, und die Gemein­ den vor Ort mussten über dessen Nutzung entscheiden, wobei es galt, Risiken für die bäuerliche Gemeinschaft zu mildern, den organisatorischen Aufwand und Streit zwischen den Beteiligten zu minimieren und die strukturelle Ver­ fasstheit der Gesellschaft, der man angehörte, zu berücksichtigen. In vielen Regionen Europas herrschten auf dem Land weiterhin die feuda­ len Gutsbesitzer. Selbst wenn sie das meiste Land an Kleinbauern verpachtet hatten, behielten sie sich oft das Prärogativ vor, über strittige Nutzungsrechte durch eigene Gerichte zu entscheiden. Abgesehen davon zeigten sich die Oberherren zunehmend hartleibig, wenn es um die Abgaben und Pflichten ging, die von den Bauern zu leisten waren. Dazu gehörte eine Art Lehngeld, das beim Tod eines Bauen oder Herrn fällig wurde. Es betrug 5 bis 15 Prozent vom Wert des bäuerlichen Besitzes (in manchen schwäbischen Territorien wurde daraus eine Strafgebühr von 50 Prozent). In einigen Teilen von Süd­ westdeutschland kürzten die Grundherren die Laufzeit von Pachtverträgen, um die Erträge aus den Anerkennungsgebühren zu erhöhen, die bei Abschluss eines neuen Vertrags anfielen. Derlei Lasten vervielfältigten sich, wenn ein Bauer einer Vielzahl von Herren für unterschiedliche Teile seines Grund und Bodens oder einer Vielzahl von Herren für dasselbe Stück Land verpflichtet war. Die Grundherren ergriffen auch die Offensive, wenn es darum ging, Nutzungsrechte für Wälder, Flüsse, Seen und Gemeinweiden einzuschrän­ ken. Das geschah im Zeichen landwirtschaftlicher Intensivierung. Aber die Kleinbauern waren gewitzt und gut genug organisiert, um ihre dörflichen Institutionen zu mobilisieren. D orfversammlungen nahmen 94

3. Stadt und Land

repräsentative, organisatorische und begrenzt auch juristische Funktionen wahr. Im westlichen Europa waren vielerorts die Bauern mit dem größten Besitz und Ansehen die Hauptstützen solcher Versammlungen, wobei sie in Deutschland und vielleicht auch anderswo von dem lokalen Herrn bestätigt oder sogar ernannt wurden. Dennoch wussten sich die Dorfversammlungen erfolgreich auf das Gesetz zu berufen, um Schutz vor (wirklichen oder ver­ meintlichen) Beeinträchtigungen ihrer Nutzungsrechte zu suchen. Zwar waren die Oberherren darauf aus, die Macht dieser Institutionen zu beschrän­ ken, doch trafen sie dabei oft auf Bauern, die in ihrer Funktion als Steuerein­ treiber und lokale Amtmänner sowie durch das wachsende Wohlstandsge­ fälle gegenüber ihren Nachbarn höchst einflussreich geworden waren. Diese ländlichen Honoratioren konnten, bisweilen unterstützt durch Priester oder Notare, durchaus Widerstand mobilisieren und über seine konkrete Ausge­ staltung entscheiden. Die Politik auf dem Land drehte sich um diese Leute und ihr Verständnis von Recht und persönlicher Verantwortlichkeit. Sie spielten eine entscheidende Rolle bei Verhandlungen mit übergeordneten Instanzen (Grundherren, kirchliche und weltliche Obrigkeit). Schlugen die Verhandlungen fehl, organisierten sie passiven Widerstand oder offenen Aufstand. Zur Rebellion kam es zumeist dann, wenn verschiedene Faktoren zusammentrafen: Kleinbauern oder anderweitig wirtschaftlich abhängige Produzenten, eine starke Tradition kommunaler Selbstorganisation und Repräsentation, die Eintreibung neuer Forderungen durch Grundherrschaft, Kirche und Staat. Inflationäre Entwicklungen konnten die Bauern hart treffen. Sie boten ein begrenztes Spektrum an Produkten auf einem Markt an, auf dem sie oftmals für ihre Teilnahme bezahlen mussten, ohne genau zu wissen, ob sie lohnende Geschäfte machen würden. Die Produkte, die sie verkauften, bildeten zugleich die Nahrungsgrundlage für ihren Haushalt und dienten zur Aussaat im nächsten Jahr. 1622 wurden im Herzogtum Württemberg die Getreidereser­ ven der einzelnen Haushalte erfasst. Das Ergebnis zeigte den Umgang mit den Ängsten vor Nahrungsmangel, die der Dreißigjährige Krieg auslöste. Mit Ausnahme einer Minderheit von größeren Bauern hielten die Kleinbauern ihre Ernteerträge an Dinkel zurück und handelten damit nur untereinander im Tausch gegen andere Naturalien. Dagegen brachten sie den Hafer auf den Markt, wenn die Preise annehmbar waren und der Handel nicht ihre eigene Versorgungssicherheit infrage stellte. Hafer war preiswerter und wurde als Futter für Pferde und anderes Nutzvieh sowie als Nahrungsmittel für die Armen stark nachgefragt. Auf diese Weise variierte die Interaktion zwischen Kleinbauern und Markt von Jahr zu Jahr und von Produkt zu Produkt. Die 95

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Bauern benötigten starke Anreize, damit sie ihre Produkte auf den Markt brachten, ohne sich in ihrem eigenen Wohlergehen beeinträchtigt zu fühlen. Die ländliche Verschuldung war allgegenwärtig, selbst in Zeiten der Geld­ knappheit. Kreditlinien wurden von wohlhabenden Städtern, kirchlichen Institutionen und Juden zur Verfügung gestellt, von Gruppen also, die ihrer­ seits zu Zielscheiben bäuerlicher Unruhen wurden. Schulden wurden von Notaren beurkundet, die häufig zusammen mit Kaufleuten und größeren Landbesitzern selbst die Hauptkreditgeber waren - eine weitere Interaktion zwischen Stadt und Land. Konnten die Bauern ihre Schulden nicht zurück­ zahlen, ging das auf Kosten der Besitzsicherheit Es kam zu Besitzverlust oder - immer häufiger - zur Einführung von Formen der Naturalpacht, im angelsächsischen Bereich share-cropping genannt, bei denen die Bauern statt Geldes einen Anteil am Ernteertrag, der oft bei der Hälfte lag, an den Grund­ herrn als Pachtzins entrichteten. Wen das Unglück einer Insolvenz traf, musste alles verkaufen. Fast überall in Frankreich erwarben Kaufleute, Anwälte und Adlige Land von verschulde­ ten Bauern - es fand ein gewaltiger Besitztransfer statt, der in Hunderttausen­ den von notariellen Verträgen beurkundet ist und von den Zeitgenossen nicht übersehen werden konnte. So beschrieb etwa der Chronist von Lyon, Guillaume Paradin, im Jahr 1 573, wie die reichen Kaufleute der Stadt Bau­ ernland zu günstigen Preisen erwarben. Ging das Land nicht an Kaufleute, königliche Offiziere und Adlige, wurde es von den reicheren bäuerlichen Nachbarn der Betroffenen erworben, die so ihren Besitz konsolidierten. Auf diese Weise entstand allmählich eine kleinbäuerliche Elite einerseits und eine verarmte, abhängige Unterschicht von Häuslern und landlosen Arbeitern andererseits. Diese Tendenzen riefen in den Gemeinden Spannungen hervor und schwächten zugleich ihr Potenzial zum Ausgleich. 1650 war die Zahl der praktisch landlosen Arbeiter beträchtlich angestie­ gen. Fast alles, was sie aßen, mussten sie sich erst verdienen, und immer wie­ der neu sehen, wie sie sich durchschlugen. Ihre Fähigkeit, mit widrigen Bedingungen zurechtzukommen, war bemerkenswert. Im toskanischen Alto­ pascio (bei Lucca), einem Dorf auf dem Landbesitz der Medici, bauten die Armen ihre Hütten in dem sumpfigen Land am Fluss, aus dem sie ihren Lebensunterhalt bestritten. In Ossuccio, einem Dorf oberhalb des Corner Sees in der Nordlombardei, schleppten die Landlosen auf ihrem Rücken Holz zu Tal nach Domodossola. Doch bei Hungersnot zeigte sich ihre Schutzlosigkeit mit aller Brutalität. Dann blieb ihnen nur noch die Flucht in die Stadt und die Hoffnung auf bessere Zeiten. Der von zunehmender ländlicher Verarmung ausgehende Druck manifestiert sich auch in den Beschwerden städtischer 96

3. Stadt und Land

Obrigkeiten über den Zustrom von Armen. Die Gemeinde von Codogno bei Lodi mitten in der wohlhabenden Lombardei richtete 1591 eine Petition an den Herzog von Mailand: " Das Dorf . . . liegt so nahe dem Territorium von Piacenza, dass es fast als offene Tür für jene dient, die von dort kommen. Im Augenblick ist das ein Haufen übler Bettler, die, vom Hunger getrieben, von den Bergen herabsteigen und hier Zuflucht finden . . . und es sieht so aus, als ob das Dorf in kurzer Zeit mit Menschen überfüllt ist." Insofern erschien es vielen Bauern keine schlechte Sache, einen Oberherrn zu haben. Ein Gutsherr garantierte sozialen Zusammenhalt, vermittelte bei Streitigkeiten, schützte die Gemeinschaft vor Außenseitern, sorgte für die Anstellung eines Geistlichen und übernahm die Interaktion mit der größe­ ren, fremden Welt des Staats. Als man Kleinbauern aus dem Umland von Cremona in den 1640er-Jahren befragte, ob sie unter einem Feudalherrn leben wollten, antwortete einer von ihnen: "Ja, das würden wir, denn wir haben so viel Zerstörung erlitten, und ein Herr würde uns helfen in unseren Nöten." Vor diesem Hintergrund muss man das Wachstum und die Konsoli­ dierung der Gutswirtschaft in Mittel- und O steuropa sowie die Zunahme der Leibeigenschaft bewerten. Die Leibeigenschaft war zu Beginn des 16. Jahrhunderts östlich der Eibe, nördlich der Saale sowie in Böhmen und Ungarn zum Teil bereits institutio­ nalisiert. Im Zuge der Kolonisierung neuer landwirtschaftlicher Flächen erlangte der Adel ausgedehnte juristische und wirtschaftliche Rechte über die Arbeitskräfte auf seinen Gütern. Verstärkt wurden diese Prozesse durch leb­ haft steigende Preise für landwirtschaftliche Produkte auf den lokalen Märk­ ten. Groß war aber auch die Nachfrage der mitteleuropäischen Märkte nach Vieh und nach Getreide, das in Ostseehäfen verschifft wurde. Unternehme­ risch denkende adlige Gutsbesitzer und Verwalter fürstlicher oder kirchlicher Domänen zielten auf den Betrieb großer Landflächen mittels unbezahlter bäuerlicher Arbeit. Es war ein Modell, das allen Beteiligten etwas zu bieten schien. Wer große Ländereien besaß, verfügte nicht über das Kapital, um in Pfluggespanne und all die nötige Feldarbeit zu investieren. Die Bauern ver­ fügten über beides, doch wurden Gespanne und Arbeit nicht das ganze Jahr über genutzt. Da der Pachtzins stieg, waren die Bauern bereit, ihn in Arbeit umzuwandeln. In jedem Fall gesellte sich damit wirtschaftliche Abhängig­ keit zur örtlichen Gerichtsgewalt, die der Adel bereits innehatte. Und selbst wenn die Bauern zum Bau der wuchtigen Herrenhäuser und der für die Gutswirtschaft charakteristischen riesigen Scheunen herangezogen wurden, hatten sie doch den Tro st, dass eine starke Herrschaft sie vor der Außenwelt beschützte und im Inneren für Zusammenhalt sorgte. Vor 1600 wurden 97

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dörfliche Bauernstellen im Verbund einer Gutsherrschaft so behandelt, als wären sie dem Herrn untertan, das heißt, sie konnten mitsamt dem Grund­ besitz einem anderen Herrn überschrieben werden, doch waren die Bauern selbst, die die Höfe bewirtschafteten, nicht persönlich unfrei. Wie schwer die Arbeitsdienste ausfielen, hing von der Größe der bäuerli­ chen Flurstücke, von der Pachtsicherheit und schließlich auch von der Fähig­ keit der Bauernschaft ab, den herrschaftlichen Dienstanforderungen gewisse Grenzen zu setzen. In Brandenburg waren die bäuerlichen Flure groß - oft­ mals 24 Hektar oder mehr - und vor dem Dreißigjährigen Krieg wurde noch der überwiegende Teil der Gesamtfläche bäuerlich bewirtschaftet. Die Bauern mussten in der Woche vielleicht eine Arbeitsleistung von zwei oder drei Tagen mit Pflug und Ochsengespann für den Gutsherrn erbringen, doch konnten sie einen Sohn hinschicken oder jemand anheuern, der für sie die Arbeit erledigte. Unverheiratete Söhne und Töchter konnten zu häuslicher oder anderer Arbeit auf dem Gutshof herangezogen werden, doch hatten alle an den steigenden Marktpreisen für landwirtschaftliche Produkte ihren Anteil, indem sie beim Transport und Verkauf mit der Gutswirtschaft zusam­ menarbeiteten. Die Bauern gehörten Dorfgemeinden an, deren Status recht­ lich anerkannt war, und konnten ihren Herrn vor Gericht bringen. Sie waren an der lokalen Wirtschaft beteiligt und zutiefst ortsgebunden. In Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Pommern dagegen, wo Vieh und Getreide auf den Märkten besonders stark nachgefragt waren und wo die öffentlich-rechtliche Gewalt in den Händen der am stärksten unternehme­ risch orientierten Gutsherren lag, verschlechterte sich das Besitzrecht der Dorfbewohner am Boden. Für die Juristen gehörten sie damit nicht mehr der Kategorie der Freisassen (im römischen Recht: emphyteutae) an. Sie waren nun unfreie Pächter (coloni) und an die Scholle gebunden (ad glebam adscrip­ tus). Sie waren keine Sklaven oder "Eigenleute" (homines proprii), aber Leib­ eigene (servi) und persönlich unfrei. Als Dorfgemeinschaft hatten sie mit Blick auf Repräsentation, Petition oder Rechtsbehelfe nur wenige Rechte. Weiter östlich, in Polen, waren die Grundstücke der Bauern kleiner und die Arbeitsdienste umfangreicher. D o ch konnten sie zuweilen feste Quoten aushandeln und eine gewisse Pachtsicherheit erreichen. Zwar verloren die polnischen D örfler 1 5 1 8 das Recht, gegen ihre Herren vor königlichen Gerichten zu klagen, aber immerhin wahrten sie das Recht, Dinge selbststän­ dig kaufen und verkaufen zu dürfen. Wurden sie enteignet oder drangsaliert, konnten sie sich auf den Weg machen und unter den Schutz eines anderen Herrn stellen, wozu es etwa in der Ukraine oder in Litauen vielfache Gele­ genheit gab. In Litauen hatten 20 Magnatenfamilien (die Radziwills, die 98

3. Stadt und Land

Sapieha und andere) ein Viertel aller bäuerlichen Haushalte unter sich, doch lebten und arbeiteten die Bauern hier unter guten Bedingungen. Die polni­ sche Krone förderte die Entwicklung der Domänenwirtschaft durch Refor­ men auf ihren eigenen Besitzungen. Üblich war ein nach dem Reißbrett angelegter Bauernhof von 18 Hektar, mit auf die Hofgröße abgestimmten bäuerlichen Verpflichtungen. Wer so einen Hof besaß, hatte kein schlechtes Leben. Etwa 1 3 0 Tage im Jahr waren für die Arbeit auf der Domäne vorgese­ hen, die übrige Zeit blieb den Bauern für die Bewirtschaftung ihres eigenen Landes. Als sich aber die Siedlungen vermehrten, wuchsen die Arbeits­ dienste ebenso wie der Pachtzins, da es den Grundherren jetzt um Gewinn­ maximierung ging. Die Eroberung des Raums und die allmähliche Überfüh­ rung der Bauern in die Leibeigenschaft entsprachen in dieser Hinsicht der europäischen Kolonisierung der Neuen Welt. In Böhmen und Ungarn existierten große Gutswirtschaften oft neben unabhängigen B auern mit eigenem Landbesitz. Vielfach gehörten solche Ländereien zum K ronbesitz, wurden jedoch an adlige Vertragsnehmer oder kirchliche Einrichtungen verpachtet oder verpfändet. D ie königlichen Domänenverwalter forderten, dass die Besitzungen in dem Zustand zurück­ gegeben wurden, in dem sie ursprünglich verliehen worden waren. Aus die­ ser Motivation heraus machten sich die H absburger in Ö sterreich daran, Normen für die A rbeitsdienste, die sonstigen Verpflichtungen und den Status der Bauern auf ihren verpachteten Ländereien zu entwickeln. D ie zahlreichen bäuerlichen P roteste und Aufstände in diesen Regionen zielten darauf ab, den Kaiser und seine Beamten zum Einschreiten zu bewegen, wenn lokale Grundherren ihre Befugnisse missbräuchlich verwendeten. 1 5 1 5 begann ein größerer Aufstand mit der Ermordung eines Gutsherrn, und 1 52 3 revoltierten die B auern in Tirol gegen die jüngst von Erzherzog Ferdinand eingesetzten Herren. Als der deutsche B auernkrieg der Jahre 1 524- 1 526 nach Tirol, Salzburg und Oberösterreich vordrang, forderten die B auern auch dort unter anderem das Ende der Verpachtung von Domänen an Adlige und die Entfernung eines der führenden Herren. In den Nachwe­ hen des K rieges war Ferdinand (damals König von B öhmen) 1 527 bereit, alle bäuerlichen Pachtverhältnisse registrieren zu lassen, damit sie eine rechtli­ che Grundlage bekamen. Nach weiteren Aufständen in Nieder- und Ober­ österreich in den Jahren 1 594-1 597, die sich gegen Arbeitspflichten und andere Zwangsmaßnahmen richteten, erließ Kaiser Rudolf ll. eine Interims­ verfügung (1 597), die den D ienst auf den Domänen begrenzte und den Bau­ ern das Recht auf Wiedergutmachung bestätigte, wenn diese Grenzen nicht eingehalten wurden. Zwar schritt die Leibeigenschaft auch in den habs99

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burgiseben Landen voran, doch quasi unter staatlicher Aufsicht und ohne die dörfliche Solidarität in M itleidenschaft zu ziehen. Die hauptsächlichen Triebkräfte für die Verschärfung der Leibeigen­ schaft in O steuropa waren nicht die gewinnorientierte Gutsherrschaft und die Verlockungen des Marktes, sondern die Zwillingsübel K rieg und Ent­ völkerung. In Russland führten der Livländische Krieg und die darauf folgende Zeit der Wirren zu einer massiven Landflucht. 1 58 0 verbot Zar Iwan I V. ("der Schreckliche") den Bauern jeglichen O rtswechseL Ab 1603 war jedes Jahr bis 1649 ein "verbotenes Jahr"; von da an waren die B auern samt ihren Familien per Gesetz dauerhaft an die Scholle gebunden. Wagten sie die Flucht, konnte der Grundherr ihre Rückkehr einfordern. Die Zahl derjenigen, die zuvor vielleicht einen eigenen Hof besessen hatten, nun aber abhängige Häusler und Landarbeiter waren, wuchs dramatisch an. Von 1560 bis 1620 stieg die Zahl der landlosen Arbeiter in der Region um Now­ gorod um das Sechsfache und betrug schließlich ein Viertel der Bevölke­ rung. Im russischen Kernland machten solche A rbeiter sogar an die 40 Pro­ zent der Bevölkerung aus . So wie die Wurzeln der russischen Leibeigenschaft in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu suchen sind, hatten im ostelbi­ schen Deutschland und in Polen der Dreißigj ährige Krieg und die polni­ schen Kriege ähnliche Auswirkungen. Die Bauern flohen aus den K riegsge­ bieten, und die Gutsherrschaft brach zeitweilig zusammen. M it der Wiederkunft des Friedens stellten die lokalen Herren ihre Autorität wieder her und machten die Verluste wett, indem sie die Herzöge von Brandenburg und das polnische Reich dazu drängten, die persönliche Leibeigenschaft zu legalisieren. Die langfristig schmerzhafteste Folge j ener Krise, welche die M itte des 17. Jahrhunderts kennzeichnete, war mithin das Anwachsen der Leibeigenschaft in O steuropa.

Das Weberschiffchen verbindet Stadt und Land So unscheinbar das Schiffchen eines Webstuhls aussehen mag, so wichtig war es doch für die Tuchindustrie: Das kleine Werkzeug zog das Schussgarn durch die vom Webrahmen gehaltenen Kettfäden und webte so das Tuch. Und die Textilindustrie verschaffte Tausenden von Leuten in Stadt und Land Arbeit. Häufig fand die Herstellung außerhalb der Stadt in Heimarbeit statt; sie bildete für viele bäuerliche Familien einen wichtigen Nebenerwerb. Doch waren es fast immer städtische Textilkaufleute, die den gesamten Herstel­ lungsprozess und später den Verkauf kontrollierten. Auch fabrikähnliche 100

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Fertigungsstätten waren bereits bekannt - in Wirklichkeit handelte es sich freilich eher um eine besondere "Verdichtung" von Webereien und Färbereien in Städten wie Venedig, Augsburg, Florenz, Norwich oder Armentieres. Selbst nach einem Jahrhundert der Expansion in die Neue Welt blieben Tuche das Hauptprodukt für den europäischen FernhandeL Bettwäsche, Tischtücher, Vorhänge, Handtücher und Servietten waren Indikatoren für den sozialen Status. Die Aussteuer der Braut kündete mit bestickten Roben, Schleiern und Chemisettes von der Familientugend. Fast alles, was transportiert werden musste (sogar Leichen für die Bestattung), benötigte Stoff. Die Königin der Stoffe war jedoch die Draperie, wie sie in den farbigen Ehrentüchern, Girlan­ den und Vorhängen hinter den Madonnen in der religiösen Kunst der Renais­ sance zur Schau gestellt wurde. Wie diese Kunst war feine Draperie im frühen 16. Jahrhundert eine italie­ nische Spezialität. Produktionszentren gab es in Mailand, Corno, Bergamo, Pavia, Brescia und Florenz. Die Herstellung solcher Draperie war ein kost­ spieliges Unterfangen; die Kunden waren anspruchsvoll und die Qualitäts­ kontrollen entscheidend für den Wert des Produkts. Insofern war die Pro­ duktion durch Konkurrenz und äußere Störungen stets gefährdet. Beides traf die italienischen Hersteller in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die ita­ lienischen Kriege legten die Tuchweberei in Brescia, Mailand, Florenz und andernorts zeitweise lahm. Einige der Zentren konnten danach wieder an die ruhmreiche Vergangenheit anknüpfen, doch die Konkurrenz schlief nicht: Die Draperieherstellung der Venezianer blühte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, und nördlich der Alpen verstand man in Gent, Brügge und Courtrai ebenfalls eine Menge von der Sache. Doch auch diesen Herstellern erwuchs Konkurrenz, diesmal durch eine "neue Draperie". Dabei handelte es sich nicht etwa um eine neue Herstellungstechnik, son­ dern um die Imitation von Wolle alter Qualität, die durch billigere Wolle ersetzt und mit anderen Stoffen wie Leinen oder Baumwolle verarbeitet wurde. Das Resultat war der leichtere, glänzendere und preiswertere Serge. Mit seiner Produktion verjüngten sich traditionelle Weberregionen in den südlichen Niederlanden wie Lilie und sein Hinterland. Mit Serge wurden auch Orte reich, in denen keine altgediente Kaufmannsvereinigung den Weg verbaute: Tournai, Hondschoote, Bailleul, Valenciennes, Armentieres. Weber waren starkem Druck ausgesetzt, wurden leicht Opfer von Wirtschaftskrisen und suchten ständig nach neuen Wegen, um sich und ihren Familien ein Aus­ kommen zu verschaffen. Die Konkurrenz lag gleich jenseits der Nordsee - in der Kammgarnwolle aus East Anglia und den Broadcloth-Draperien aus Suffalk und Essex. 101

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

Der Großteil der Produktion fand auf dem Land statt. Hier wurden Stoffe für den Alltagsgebrauch gewebt. Leinen, Segeltuch, Wollmischgewebe - die Vielfalt war beträchtlich, die Qualität variabel und die Rolle der Kaufleute bei der Vermarktung von Region zu Region unterschiedlich. An vielen Orten ­ Genua, Lilie, Ulm, Regensburg, Norwich - wurde die Tuchproduktion noch von selbstständigen Handwebern betrieben. Sie brachten ihre Stücke wöchent­ lich zum Markt und erwarben mit dem Erlös wiederum gesponnenes Garn als Arbeitsgrundlage für die nächsten Tage. So waren sie Woche um Woche vom Markt abhängig. Wenn sie ihre Waren nicht verkauften, konnten sie auch kein Material einkaufen, um mit der Arbeit fortzufahren. Sie hatten kei­ nen Einfluss auf die Kosten für die Rohmaterialien oder den Preis für ihre Halbfertigwaren, und sie unterlagen strengen Qualitätskontrollen. In harten Zeiten neigten die Weber dazu, den Textilkaufleuten die Schuld an ihrer Misere zu geben. Wenn diese ihre Halbfertigwaren nicht kaufen wollten, wur­ den sie zur Zielscheibe der Kritik. Die Tuchherstellung intensivierte jedenfalls die Dynamik der Stadt-Land-Beziehungen und verschärfte innerstädtisch die sozialen Gegensätze. Einige wurden dadurch reich, andere verarmten. Webe­ rei und gesellschaftlicher Protest gingen Hand in Hand.

Armut und soziales Gewissen Arm zu sein, gehörte für die meisten Menschen einfach zum Leben dazu. Armut dagegen war eine soziale Konstruktion im Gewissen der Reichen. Die Armen versammelten sich genau da, wo auch die Reichen waren, weshalb zwischen 1 520 und 1 560 vielerorts Stadträte ihrem Gewissen mit Anordnun­ gen zur Bekämpfung der Armut Ausdruck verliehen. Von Nürnberg (1 522) bis Straßburg (1 523/24), von Mons und Ypern (1 525) bis Gent (1 529), von Lyon (1 531) bis Genf (1 535) und weiter bis Paris, Madrid, Toledo und London schaute eine Stadt, wie es die anderen machten, und übernahm, was ihr sinn­ voll erschien. Diese Beispiele fanden dann Eingang in allgemeine Gesetze (1531 in den Niederlanden, 1531 und 1536 in England). Das soziale Gewissen der Stadträte erwuchs aus den humanistischen Idealen eines geordneten, tugendhaften Gemeinwesens. Schauten sie im Licht solcher Ideale auf die Straßen ihrer Stadt, sahen sie, dass viel zu tun war. Es gab viele karitative Ein­ richtungen, häufig in kirchlicher Hand, aber sie wurden schlecht geführt. Sie taten nichts, um die unübersehbare Zahl der Armen zu vermindern, die die Leute auf öffentlichen Plätzen und an den Kirchportalen bedrängten, auf Türschwellen schliefen, sich in den Straßen umhertrieben, um Almosen 102

3. Stadt und Land

bettelten und den tugendhaften Bürger bei seinem Gewissen packten. Und da sie (wie viele glaubten) das Miasma von Krankheiten verbreiteten, bedeutete Reform auch, das Gemeinwesen hygienischer zu machen. So jedenfalls sah es der spanische Humanist Juan Luis Vives. In seiner Schrift De subventione pauperum (Über die Unterstützung der Armen, 1 526) konnte er auf seine Erfahrungen als Exilant, der (auch wegen seiner jüdischen Herkunft) von Spanien nach Brügge ausgewandert war, zurückgreifen. Seine Schrift war den Stadtvätern von Brügge gewidmet. Es sei, erklärte er, "für Christen eine Schande . . . so viele bedürftige Leute und Bettler auf unseren Straßen zu sehen". Die Bürger hätten die moralische Pflicht, ihnen zu helfen, weil Armut ein den zivilen Maßstäben zuwiderlaufendes Verhalten fördere. Vives fand, dass Bettler eine Beleidigung für die Sinne seien, ein Zeichen dafür, dass die Gemeinschaft erkrankt sei. Um jedoch eine Lösung für das Problem zu finden, musste man es zunächst analysieren. Hilfsbedürftig waren, so Vives, Witwen, Waisen, Verstümmelte, Blinde und Kranke. Viel­ leicht benötigten sie dauerhafte Unterstützung, obwohl sie, wie er meinte, häufig in der Lage waren, selbst mehr für sich zu tun. Es sollte jedenfalls ent­ sprechende Einrichtungen geben, die für diese Armen ein Dach überm Kopf, Essen, Unterricht, Schlafplätze und karitative Hilfe bereithielten. Vives sah auch, dass es andere Menschen gab, die zu Hause Hilfe benötigten, weil sie ins Elend geraten waren (die "verschämten Armen" nannten sie die Zeitgenos­ sen). Er empfahl, ihnen durch Gemeindehelfer Unterstützung zukommen zu lassen. Nun blieben noch diejenigen, die auf den Straßen bettelten. Diese "robusten Gauner" sollte die Obrigkeit zusammentreiben und aus der Stadt jagen. Das alles klang ziemlich einfach. Vives' Abhandlung stand sinnbildlich für die Denkungsart eines tugend­ haften Stadtrats, doch darf bezweifelt werden, dass sie direkten Einfluss auf die Politik hatte. Die Denkweise jedoch war einflussreich, und das vor allem im protestantischen Europa, wo das Almosengeben nicht mehr als Möglich­ keit galt, sich Gottes Gnade zu verdienen, und wo man in den Bettelorden eine Ermutigung zu Schurkenstreichen sah. Protestantische Stadträte verbo­ ten die öffentliche Bettelei. Die Auflösung von Ordenshäusern bot Gelegen­ heit zu ihrer Umwandlung in Hospitäler und Schulen, so geschehen in Zürich, Genf und anderswo. In den katholischen Regionen Europas dagegen wurde am institutionellen Erbe festgehalten, samt der kirchlichen Anbindun­ gen und dem Verantwortungsgefühl für das Seelenheil beider: der Mildtäti­ gen wie der Empfänger von Almosen. In Venedig waren und blieben die religiösen Bruderschaften der scuole gran di großzügig unterstützte Institutionen für das Gewissen und die 103

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

karitativen Impulse der Reichen, deren Geld dem Staat zugutekam, wenn er knapp bei Kasse war. In Florenz boten zahlreiche Hospitäler den Bürgern medizinische Betreuung durch kompetente Ä rzte in Einrichtungen, die sich um die Seelen der Bürger genauso kümmerten wie um ihre Körper. Andere katholische Städte folgten dem Beispiel von Lyon (1 534) und wandelten ihre karitativen Körperschaften in Hospitäler um, die von Laien und Geistlichen gemeinsam verwaltet wurden und sich um all die Armen kümmern sollten. Manche katholischen Stadträte (und tridentinischen Geistlichen) folgten dem Beispiel ihrer protestantischen Kollegen, indem sie das Betteln ein­ schränkten. Auf die Armut reagierten sie mit Einrichtungen vor allem für Waisen und ehemalige Prostituierte, aber auch mit Pfandleihgeschäften für Arme, den monti di pieta (Berge der B armherzigkeit) . Freilich ließ sich die Unterscheidung zwischen bedürftigen A rmen und Faulenzern nicht lange aufrechterhalten, und die Vertreibung Letzterer aus den Städten war immer nur eine zeitweilige Maßnahme - zumal die fundamentalen Erschütterun­ gen, die mit dem Wachstum Europas einhergingen, jene besonders hart tra­ fen, die für Lohn arbeiteten und ihr Brot damit bezahlen mussten. In den 1 930er-Jahren führte ein internationales Komitee für Preisge­ schichte bahnbrechende Forschungen durch, indem es Daten zum Tages­ lohn von Arbeitern sammelte. Wirtschaftshistoriker trugen die Angaben über die Löhne gelernter und ungelernter B auarbeiter zusammen und ver­ glichen sie miteinander bezogen auf den Silbergehalt lokaler Währungen ("Silberlohn") und auf die Menge an Getreide ("Getreidelohn" ), Brot ("Brot­ lohn") und anderen Grundversorgungsgütern, die sie von ihrem Lohn kau­ fen konnten. Die Ergebnisse bestätigen das Bild einer sich entwickelnden Wirtschaftsregion in Nordwesteuropa, wo die Silberlöhne hoch und gelernte Arbeitskräfte reichlich vorhanden waren. In Süd- und O steuropa dagegen war der Trend zu höheren Löhnen (gemessen an ihrem Silbergehalt) weni­ ger ausgeprägt, und gelernte A rbeitskräfte waren knapp. D ie Löhne für gelernte Bauarbeiter waren außerhalb jener Zone besonderen Wirtschafts­ wachstums zwar um bis zu 100 P rozent höher als jene der ungelernten Arbeiter, während sie in der besonders entwickelten Wirtschaftszone nur um 50 P rozent höher lagen. Misst man die Löhne allerdings an ihrer Kauf­ kraft, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Allgemein sank die Kaufkraft der Arbeiter, die von Geldlohn abhingen, in dieser Epoche dramatisch, beson­ ders für ungelernte Arbeiter. Die Kluft zwischen Nordwesteuropa, wo die Reallöhne gelernter Arbeiter am wenigsten sanken, und den geringer ent­ wickelten Regionen von Süd-, M ittel- und O steuropa, wo die Reallöhne vor allem der ungelernten A rbeiter kollabierten, war freilich riesig. 104

3. Stadt und Land

Deshalb also gab es in Europas Städten eine beträchtliche Anzahl (zwi­ schen 15 und 30 Prozent) an Haushalten, die dauerhaft von karitativen Zuwendungen abhängig waren und damit als " arm" galten. Es war unmög­ lich, sie sauber von den Vagabunden (den "gefährlichen A rmen") zu tren­ nen, die vom Land in die Stadt kamen, ohne dass man ihnen Einhalt hätte gebieten können. In Neapel, dem Kirchenstaat, Katalonien und sogar Vene­ dig waren Vagabunden die idealen Handlanger für Verbrecherbanden. Da sie auf dem Land geduldet wurden, gelang es Taschendieben und Auftrags­ mördern, noch den entschlossensten Stadträten zu entwischen. Wohl­ meinende Landadlige und Gemeindevertreter setzten 1601 in England das Elisabethanische A rmenrecht in Kraft. Sie taten ihr Bestes, um, wie gefor­ dert, zwischen den wirklich Bedürftigen und den Vagabunden, "die sich nirgendwo niederlassen", zu unterscheiden. 1630/31 machte das Book of Orders (gedruckte Anweisungen für lokale Verwaltungen, die unter ande­ rem den Umgang mit Armen und Vagabunden regelten) noch detailliertere Vorschriften, aber ohne Erfolg. Gleichermaßen hilflos waren die Verwalter der holländischen A rbeitshäuser, die sich zum Ziel gesetzt hatten, jene sozi­ alen Gruppen zu disziplinieren, die den Stadträten als faul, aufrührerisch und ein Affront für die Überflussgesellschaft galten. Allerdings entsprachen die städtischen Aufwendungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen von A rmen nur einem winzigen Bruchteil des gesamten städtischen Reichtums, und die städtische A rmenhilfe war nur eine - und noch nicht einmal die wichtigste - M aßnahme zur A rmutsbe­ kämpfung. Das war vielmehr die privat betriebene Caritas. Protestantische P rediger betonten, dass Arm und Reich einander verpflichtet seien. Men­ schen, die die Nächstenliebe hintansetzten und ihr Geld einfach verschwen­ deten, wurden "poor-makers" genannt. In seinem Treatise of Christian Beneficence (Abhandlung über die christliche M ildtätigkeit, 1600) räumte Robert Allen ein, dass einige A rme zu der " scheußlichen und versoffenen Menge" gehörten, was aber kein Grund sei, sich nicht weiterhin karitativ zu verhalten: " Ihre Bosheit vermindert in keiner Weise deine Güte." Für protes­ tantische wie katholische Moralisten ging es bei der Nächstenliebe um die Rettung von Seelen, und an O rten, wo die Religionen Seite an Seite lebten, herrschte direkter Wettbewerb. In den 1580er-Jahren wurden in Brüssel, später auch in Lyon und Nimes, Hospitäler und Almosenhäuser zu regel­ recht umkämpften O rten und die karitativen Bemühungen zu einem Vehi­ kel, um die Gläubigen unter dem je eigenen B anner zu versammeln und Konvertiten zu gewinnen. Es erwies sich als leichter, Seelen zu retten als den A rmen das Leben zu erleichtern. 105

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

Protest wird laut Die Macht des Lokalen zeigte sich deutlich in den Strukturen des Protests. Die Stadt mit ihrer politischen Autonomie und ihren korporativen Loyalitä­ ten hatte unter den Patriziern eine Tradition geschaffen (von Historikern auch "Great Tradition" genannt), die sie selbstbewusst für ihre Stadtrechte einstehen und mit den Fürsten über den Erhalt ihrer in Gesetzen und Urkun­ den festgeschriebenen Privilegien verhandeln ließ. Wenn Stadträte mit ande­ ren Obrigkeiten etwas aushandelten, beanspruchten sie, die gesamte Stadtge­ meinde zu vertreten, auch wenn sie im Allgemeinen kein explizites Mandat dazu besaßen. In die Stadtmauern, die Rathäuser, die Amtssiegel und -roben schrieb sich die Geschichte einer Gemeinschaft ein. Zwar waren dieser Gemeinschaft auch Protest und Revolte nicht unbekannt, doch gingen diese in die Chronik als Phänomene eines fortwährenden Aushandlungsprozesses ein zwischen jenen, die Machtansprüche erhoben, und jenen, auf die diese Macht sich erstreckte. Allerdings gab es neben dieser "großen" noch eine "kleine Tradition" des Protestes, in der städtische Handwerker und Arbeiter eine Rolle spielten und die auch in den ländlichen Raum hineinwirkte. Diese Tradition fand keinen Eingang in die historische Überlieferung und wurde auch nicht institutiona­ lisiert, wohl aber bewahrt in der lokalen politischen Kultur, der auch der "gemeine Mann" Ausdruck verlieh. Sie hatte ihre eigenen Feindbilder (die "Reichen", die "Verräter", die " Blutsauger", kurz: alle, die dem Gemeinwohl schadeten), ihre eigenen Rituale (die oft im Kontext von Patronatsfesten oder Prozessionen ihren Platz fanden) und ihre Volkshelden (lokale Robin Hoods) und fand auch Mittel und Wege, um ihre Beschwerden vorzutragen. Von ihren Vertretern (der "better sort of people" oder "middling sort of people", wie sie im England des 16. Jahrhunderts manchmal genannt wurden) erwar­ tete man, dass sie die örtlichen Bräuche und Traditionen gegen Übergriffe verteidigten, was sie, soweit möglich, durch Verhandlung und Vermittlung zu erreichen trachteten. Schlug das aber fehl, fanden sie sich an der Spitze einer Protestbewegung wieder. Im zweiten Teil von Shakespeares Königsdrama Heinrich VI. tritt Jack Cade auf, der Anführer der Rebellion, die 1450 in Kent losbrach. In Shakes­ peares D arstellung, die sich auf Holinsheds Chronik stützt, verleiht Cade den Hoffnungen und Befürchtungen der "kleinen Tradition" Ausdruck. Das gemeine Volk, sagt er, werde in Unwissenheit gehalten und mit Verachtung behandelt. Cade hatte sich mit dem Landadel auseinanderzusetzen, dem er zutiefst misstraute; auch Fremde und Ausländer waren ihm verdächtig. Er 106

3. Stadt und Land

setzte seine Hoffnung auf die Wiederkehr eines mythischen goldenen Zeital­ ters: " Sieben Sechser-Brote sollen künftig in England für einen Groschen verkauft werden, die dreireifige Kanne soll zehn Reifen halten, und ich will es für ein Hauptverbrechen erklären, D ünnbier zu trinken. Das ganze Reich sollen alle in gemein haben . . . " Die "kleine Tradition" machte sich durch Petitionen, Verhandlungen und Vermittlungsversuche bemerkbar, aber auch durch Aufstände. Die politische Obrigkeit im Christentum hatte gelernt, damit zu leben. Vor 1500 blieb der Protest zumeist begrenzt, weil der verbreitete Respekt vor Ordnung und Obrigkeit ein Gegengewicht bildete. Das änderte sich mit dem 16. und frühen 17. Jahrhundert. Hinzu kam, dass die Menschen in zunehmendem Maß über Feuerwaffen verfügten, weshalb die mit dem Pro­ test einhergehende Gewalt zunahm. Wie oft solches Aufbegehren vorkam, ist schwer zu ermessen, gerade weil es so häufig und in so unterschiedlichen For­ men auftrat. Auch wird es nie gelingen, sämtliche derartigen Ereignisse in einer vollständigen Liste zu versammeln, weil viele Aufstände überregional unbemerkt blieben. Allein in der Provence gab es zwischen 1 590 und 1634 einer Schätzung zufolge 108 Vorfälle (2,4 pro Jahr), in der Folgezeit, zwischen 1635 und 1660, dann gar 156 (6, 3 pro Jahr). In Irland kam es unter den Stuarts ebenfalls zu zahlreichen Aufständen, nachdem die gälische Herrschaft als Folge der Vernichtung des Fitzgerald-Clans in der Rebellion von Kildare 1 534 zusammengebrochen war und die Engländer sich daranmachten, auf der Grundlage kolonialer Besiedlung (plantation) eine englische Thronfolge und einen protestantischen Staat zu errichten. Die organisierten Rebellionen im Irland des späteren 16. Jahrhunderts (Desmond, Kildare, O'Neill, O'Doherty) zwangen die Engländer zum Unterhalt einer Besatzungsarmee, die größer war als die Heere, die zur gleichen Zeit nach Frankreich und in die Nieder­ lande geschickt wurden. Die wirksamsten Proteste waren gewiss stets die passiven - wie etwa die Weigerung, Steuern und Abgaben zu entrichten -, über die uns keinerlei Berichte vorliegen. Weit verbreitet war Aufruhr, der nicht ganz den Umfang einer richtigen Revolte erreichte. Meutereien von Soldaten, Brigantenwesen und organisierte Kriminalität darf man getrost zu dieser Kategorie hinzuzäh­ len. Dass die Briganten nun so stark ins Auge fielen, war auch eine Reaktion auf die intensivierte Bewirtschaftung der Domänen in Neapel, dem Kirchen­ staat und Katalonien ab den späten 1580er-Jahren. Die Banditen machten die Weideregionen der Berge unsicher, ohne viel zu befürchten zu haben, denn sie waren berühmt-berüchtigt und von den dörflichen Gemeinschaften akzep­ tiert. Marco Sciarra aus Castiglione in den Abruzzen etwa war während der 107

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

späteren 1580er-Jahre in der Romagna ein regelrechter Volksheld. Er nannte sich selbst "die Geißel des Herrn, von Gott gesandt gegen Wucherer und alle, die unproduktiven Reichtum besitzen". Er sei geschickt worden, um die Rei­ chen zugunsten der Armen zu berauben, wobei er die lokale Feindschaft gegenüber den Spaniern klug auszunutzen wusste. 1 593 wurde er ermordet, doch zuvor hatte es in Neapel schon Gerüchte gegeben, dass er bald kommen und sich zum König machen werde. Allerdings wurde, in diesem wie in ande­ ren Fällen, mehr über Revolten geredet als umgesetzt. So ängstigte sich die Obrigkeit in England, nicht ganz zu Unrecht, 1 596 vor einer Rebellion in den Midlands, die jedoch nicht stattfand, auch wenn es einige Leute gab wie den Müller Roger Ibill aus Hampton Gray, die daran glaubten ("es muss bald einen Aufstand geben, weil die Getreidepreise so hoch sind"). Selbst wenn das Bild unvollständig bleibt, gibt es genügend Hinweise dar­ auf, dass Aufstand und Revolte in West-, Mittel und Nordeuropa weit verbrei­ tet waren. Zu manchen Zeiten traten sie in mehreren Regionen gleichzeitig auf, so in den 1 530er-, 1560er-, 1 590er- und 1640er-Jahren. Viele Revolten erwiesen sich als langlebig, weil sie auf lokal verwurzelter Opposition beruh­ ten und sich in Grenznähe oder in unzugänglichen Regionen abspielten. Die "große Tradition" der urbanen Revolte (zu der etwa die comuneros in Kasti­ lien 1 520 und die Ereignisse in Gent 1 539 gehörten) fand Eingang in jenes umfassendere städtische wie auch ländliche Konfliktgeschehen, das weit über den Bereich einer einzelnen Stadt hinausging und in die politisch-religiösen Auseinandersetzungen der Reformation eingebettet war. Im Gegensatz dazu entwickelte sich die "kleine Tradition" in Richtung einer größeren Dynamik bei Unruhen auf breiter Bevölkerungsbasis. Das gewöhnliche Volk glaubte weiterhin an sein Recht, sich selbst zu verteidigen, wenn seine "natürlichen" Schutzmächte dabei versagten. Der Umfang der Proteste stellte die Rebellionen des späten Mittelalters weit in den Schatten. Der deutsche Bauernkrieg (1524 - 1 526) war die größte Mobi­ lisierung des gemeinen Mannes in den deutschen Territorien vor dem 19. Jahrhundert. Auf seinem Höhepunkt zählte man wohl an die 300 000 Bau­ ern unter Waffen. In Württemberg schlossen sich 1 525 bis zu 70 Prozent derer, die waffenfähig waren, den Rebellen an. Der Bauernkrieg war von tief greifendem Einfluss auf die Reformation. 1536 marschierten 20 000 Men­ schen nach Doncaster unter Bannern, welche die fünf Wunden Christi zeig­ ten - das Kreuzfahrersymbol dieser " Pilgrimage of Grace" (Pilgerfahrt der Gnade). Die Rebellion der Croquants 1636/37 in Südwestfrankreich war der größte Bauernaufstand in Frankreich nach der Jacquerie von 1351; Berichten zufolge sollen im August 1636 60 000 Bauern unter Waffen gestanden haben. 108

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Der Aufstand zwang die Regierung zu Gesprächen. Die rebellischen Bauern verbündeten sich, handelten untereinander und mit den Bewohnern nahe gelegener Städte Vereinbarungen aus und fanden Anführer. Auf Versamm­ lungen verschafften sie ihren Beschwerden Gehör, motivierten oder zwangen andere, sich ihnen anzuschließen, und suchten mit den Obrigkeiten zu verhandeln. Obwohl sie ihre Wurzeln in ganz verschiedenen Missständen hatten, vermischten sich ländlicher und städtischer Protest und wurden Bestandteil einer umfassenderen Bewegung, die auf Veränderung zielte. Solche Koalitionen spiegelten, bei aller Instabilität, die Unvorhersehbarkeit von Unruhen wider. Der beispiellose Umfang öffentlicher Unruhe hing mit ihrer Mannigfaltig­ keit zusammen und war zumindest in einem gewissen Maß den wirtschaftli­ chen Veränderungen und dem abnehmenden gesellschaftlichen Zusammen­ halt geschuldet. Das machte sich besonders in den zahlreichen Tumulten gegen die Einhegungen im England des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in den großen Bauernerhebungen derselben Zeit in Nieder- und Oberösterreich und im Widerstand gegen die Leibeigenschaft und die feudalen Herren wäh­ rend des deutschen Bauernkriegs bemerkbar. Wie in den weniger zahlreichen Hungerunruhen in westeuropäischen Städten ging es bei den Bauernaufstän­ den um handfeste Dinge - das Recht auf Land, Ressourcen, Nahrung. Doch selbst in diesen Fällen wurden die Beschwerden in einer Art und Weise vor­ gebracht, die es verbietet, den Protest auf eine rein ökonomische Ebene zu reduzieren. Die Protestler verstanden sich als Vertreter des "Gemeinwohls" gegen "die Reichen" und all jene, welche "die Armen verhungern lassen". Sie beriefen sich auf das "alte Gesetz" und wollten ihre "alten Rechte" wieder in Kraft gesetzt sehen. Die berühmten Zwölf Artikel von Memmingen (1525), die am weitesten verbreiteten Forderungen der Bauern im deutschen Bauern­ krieg, enthielten auch eine deutliche Wendung gegen die Leibeigenschaft. Aber sie kam daher in Form der traditionellen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, in lutherischer Sprache, respektvoll gegenüber der Obrigkeit. Der dritte Artikel beginnt mit den Sätzen: " Zum dritten, Ist der brauch byß­ her gewesen das man vns für jr aigen leüt gehalten haben, wölchs zu erbarmen ist, angesehen das vns Christus all mit seynem kostparliehen plutvergüssen erlößt vnnd erkaufft hat. Den Hyrtten gleych alls wol alls Den höchsten, kain außgenommen, Darumb erfindt sich mit der geschryfft das wir frey seyen vnd wollen sein. Nit diz wir gar frey wollen seyn, kain oberkait haben wellen, Lernet vnß Gott nit." (Drittens: Bisher hat man uns als Leibeigene [Eigen­ leute] gehalten, obwohl Christus uns alle mit seinem Blut erlöst hat, den Geringsten [Hirten] wie den Mächtigsten. Darum folgt aus der Heiligen 109

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Schrift, dass wir frei sind und sein wollen, nicht aber, dass wir ohne alle Obrigkeit völlig frei sein wollen.) Unruhen entstanden zumeist im Kontext von militärischen Konflikten und ihren Folgen für die Zivilbevölkerung. Die zwangsweise Rekrutierung und Einquartierung von Soldaten, die von Truppen auf dem Marsch ange­ richteten Verwüstungen und Plünderungen sowie die Aktivitäten lokaler Opportunisten, die den Zusammenbruch der Ordnung für ihre Zwecke aus­ nutzten - das waren die Beschwerden, die in jenen Unruhen an die Ober­ fläche drangen, die in den 1 590er-Jahren die Bürgerkriege in Frankreich begleiteten (die Gautiers in der Normandie, die Croquants im Perigord und die Campanelle in der Region südlich von Toulouse). Unruhen schürte auch der mit der Reformation einhergehende politisch­ religiöse Wandel, zog er doch Rituale in Mitleidenschaft, die integraler Bestandteil lokaler Gemeinschaften waren, und ordnete das Eigentum an Grund und Boden neu. Angesichts dessen überrascht es nicht, dass sich viele Proteste gegen die Reformation richteten, so die "Pilgrimage of Grace" 1 536 oder die "Prayer-Book Rebellion" in England 1 549. Aber die Unruhen richte­ ten sich auch gegen andere Ziele wie etwa, was häufig vorkam, gegen den Zehnten, das kirchliche Äquivalent zu den grundherrliehen Abgaben. Über die passive Verweigerung der Abgabe hinaus, die bei Protestanten in Süd­ frankreich während der 1560er-Jahre und in den Niederlanden während der Frühzeit des Aufstands verbreitet war, spielte der ungeliebte Zehnte eine wichtige Rolle bei den Aufständen in Ungarn (1562, 1 569/70), Slowenien (1571-1 573) und Oberösterrreich (1 593 - 1 595, 1626/27). Unter den neuen Bedingungen des religiösen Pluralismus im 16. Jahrhundert konnten Mon­ arch, Stadtrat oder Magnat nicht über die religiöse Zugehörigkeit entschei­ den. Die individuelle Wahl ging quer durch Städte und Gemeinden und spal­ tete ganze Bevölkerungsgruppen samt ihren Anführern. Als diese Spaltungen in extreme Gewalt ausarteten, hielt man sie für eine Demonstration dessen, was humanistisch Gebildete bereits wussten: dass "das Volk" nichts anderes war als ein wüster, barbarischer und unberechen­ barer Mob. Ein Beispiel aus Südfrankreich: Nach Jahren religiöser und sozi­ aler Spannungen fassten die Einwohner der kleinen Stadt Romans 1 5 8 0 wäh­ rend des Karnevals, am Vorabend von Aschermittwoch (15. Februar 1 580), den Entschluss, sich dem Bauernaufstand anzuschließen, der sich im Umland ausgebreitet hatte ("Ligue des vilains" oder " Bund der Gemeinen"). Hand­ werker und Bauern tanzten in den Straßen, bedrohten die Reichen und rie­ fen: " Keine drei Tage, dann wird Christenfleisch für sechs Sous das Pfund verkauft ! " Ihr gewählter Anführer, Jehan Serve ("Capitain Paumier"), saß in 1 10

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ein Bärenfell gehüllt in der Bürgermeisterstube und aß Delikatessen, die als Christenfleisch ausgegeben wurden, während seine Anhänger sich als ehrist­ liehe Würdenträger verkleideten und riefen "Christenfleisch für sechs Sous! " Die Reichen von Romans waren ob dieser kannibalischen Aussichten vom Grauen gepackt und rüsteten sich zur Gegenwehr. Sie fielen über die Auf­ ständischen her und massakrierten sie. Die Schlächterei dauerte drei Tage. Anderswo ging es nicht gesitteter zu: In Neap el lynchte 1585 eine über den hohen Brotpreis aufgebrachte Menge Giovan Vincenzo Starace, den Vertre­ ter des Volkes im Parlament von Neapel, weil er die Preise nicht unter Kont­ rolle gebracht hatte. Seine Leiche wurde verstümmelt und sein Fleisch in Stücken feilgeboten, die Überreste dann durch die Straßen geschleift und sein Haus zerstört. Im Oberösterreichischen Aufstand von 1626/27 riss eine Frau einem der adligen Opfer die Augen heraus und trug sie im Taschentuch nach Hause. Eine andere schnitt dem Mann die Genitalien ab und verfüt­ terte sie an ihren Hund. Staat und politische Obrigkeit wurden in die Proteste hineingezogen, weil sie beide dadurch bedroht schienen. Der höhere Adel wollte die Unruhen zu seinem eigenen Vorteil nutzen und integrierte sie in seine Bemühungen, sich vor übermächtigen Fürsten zu schützen und den politischen Wandel zu beeinflussen. Nicht nur der französische Adel glaubte daran, ein " Recht auf Revolte" zu besitzen, womit die legitime Pflicht gemeint war, den Protest gegen einen tyrannischen Fürsten anzuführen, der die Freiheit (natürlich die des Adels) beeinträchtigte. Auch die irischen Clanchefs fühlten sich legiti­ miert, die septs (die Clans) gegen die Herrschaft der Engländer mit ihrem feindseligen Staat, ihrer fremden Religion und ihren kolonisatorischen Ten­ denzen zu mobilisieren. Aber der Adel betrieb ein gefährliches Spiel, nicht zuletzt deshalb, weil sich unter der Oberfläche vieler Revolten gegen den Adel gerichtete Ressentiments verbargen. "Tötet alle Vornehmen, und dann haben wir die Sechs Artikel und die Zeremonien wieder, wie sie zu König Heinrichs Zeiten waren", lautete der Slogan der englischen "Prayer-Book Rebellion". Während eines Aufstands in Narbonne (Südfrankreich) 1632 wurden Adlige als "Jean-fesses" (Arschhänse) tituliert. In einem Bauernlied aus dem Auf­ stand in Oberösterreich (1626/27) heißt es: "Jetzt wöllen wir's ganz Land aus­ ziehn, unsre eigen Herrn müssen fliehn." Regelmäßig wurde die Schweiz als Beispiel für ein Volk angeführt, das sich erfolgreich seines Adels entledigt hatte. Während des Aufstands der Cro­ quants 1 594/95 war es ein Gemeinplatz, dass die Bauern die Adelsprivilegien abschaffen und eine Demokratie nach Schweizer Muster errichten wollten. Gewitzte Fürsten wussten sich im Übrigen solcher Proteste zu bedienen, um 111

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gegen ihren rebellischen Adel vorzugehen. Ein bezeichnender Fall war der "Keulenkrieg", der gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Finnland stattfand. Herzog Karl - damals Regent, später König Karl IX. von Schweden - ermu­ tigte die Bauern zum Aufstand: "Wenn mit nichts anderem, dann mit Pfählen und Keulen." Es sollte gegen den finnischen Adel gehen, der immer noch treu zu dem abgesetzten schwedischen König Sigismund III. Wasa stand. Auch der Staat geriet ins Kreuzfeuer von Unruhen, vor allem natürlich, wenn es gerade die staatlichen Steuerforderungen waren, die zu Streit führ­ ten. Mit der Entwicklung des Fiskalstaats (siehe unten Kapitel 16) konzent­ rierte sich der Unmut immer stärker auf die Rolle des Staates als Steuerein­ treiber, auf die "Neuheit" seiner Forderungen und die Skrupellosigkeit seiner Agenten. In Südwestfrankreich war es die versuchte Einführung der gabelle (einer Salzsteuer), die einen Bauernaufstand auslöste, der 1548 seinen Höhe­ punkt erreichte. In Saintonge und Angoumois waren die Salzmarschen ein gewinnträchtiges Unternehmen. Die Gemeinden begannen damit, jene gabe­ leurs einzukerkern und abzuschlachten, die eingeschleust worden waren von den Syndizi privater Steuereintreiber, an die der Staat das Einkassieren gegen Gewinnbeteiligung verpachtet hatte. Solche Vorkommnisse häuften sich im Frankreich der 1630er- und 1640er-Jahre, als lokale Aufstände sich immer stärker gegen den Fiskalstaat und seine Agenten - Finanziers, Steuereintrei­ ber, Verwalter - richteten. Es lag in der Natur der "kleinen Tradition" ländlicher und städtischer Revolten, dass Protest als Unterstützung legitimer Autorität und Suche nach einem verlorenen Zeitalter der Gemeinsamkeit und Billigkeit dargestellt wurde. Beharrlich glaubte man daran, dass der König der Quell der Gerech­ tigkeit sei und dass, würden ihm nur endlich die Leiden seines Volks (die seine Minister und Favoriten ihm verschwiegen oder falsch darstellten) enthüllt, er Abhilfe schaffen würde. "Nieder mit den gabelles", lautete der Schlachtruf während der Revolte der Barfüßer (nu-pieds) 1639 in der Nor­ mandie. Doch im seihen Atemzug riefen die Aufständischen: "Lang lebe der König! " In ihrem anonym veröffentlichten Manifest forderten sie die Rück­ kehr zu der guten alten Zeit, als noch König Ludwig XII. regierte. "Tod der schlechten Regierung, und lang lebe die Gerechtigkeit! ", erklärten auch die Rebellen in Neapel 1585. In einer Variante dieses Themas stand im Zentrum aller Hoffnungen ein Erlöser, ein "verborgener König", der wundersamerweise zurückkehren und sein Volk von allen Plagen befreien würde. Hierin begegnet ein Echo der chiliastischen Prophezeiungen, die im städtischen Milieu vor und während der Reformation laut wurden. Der alte Kaiser Friedrich Barbarossa war jener 112

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gerechte Herrscher, in dessen Namen die Beschwerden des deutschen Volkes 1 520, am Beginn der reformatorischen Konflikte, ihren Ausdruck fanden. In Portugal hielt sich hartnäckig der Mythos, dass König Sebastian 1 578 in der Schlacht in Marokko nicht gefallen sei, sondern noch am Leben. Das wurde zum Gegenstand visionärer Schriften der 1630er-Jahre (zumeist von jüdi­ schen conversos verfasst), zum Omen in der realen Welt und zum Thema gelehrter Abhandlungen von Jesuiten der Universität Evora. Der russische Bolotnikow-Aufstand von 1606/7 ereignete sich im Gefolge des dynastischen Kampfes zwischen Zar Boris Godunow und einem Thronprätendenten, dem falschen Dimitri, einem jungen Mann, der der wahre Thronerbe zu sein behauptete und als Gegner Godunows die Wiederherstellung von Frieden und Gerechtigkeit versprach. Diese Versprechungen waren so attraktiv, dass der falsche Dimitri 1605, nach Godunows Tod, tatsächlich auf den Thron gelangte, was er einer loyalistischen, von Bojaren angeführten und von Polen und Kosaken unterstützten Rebellion verdankte. Bolotnikow gelangte mit seinem Heer im Oktober 1606 bis vor die Mauern von Moskau, musste sich aber zurückziehen, nachdem er gerade diejenigen Leute in der Hauptstadt verprellt hatte, die er auf seine Seite hatte bringen wollen. Wenn die Proteste "loyal" waren und das Ziel hatten, konservative Werte zu verteidigen, warum wurden sie dann als neuartige Provokation behandelt und so brutal unterdrückt? Denn mit wenigen Ausnahmen wurden die Pro­ teste gewaltsam niedergeschlagen. Die Städte, die sich, wie Gent (1 539), Bor­ deaux (1 548) oder Neapel (1585), gegen ihre Oberherren erhoben, bezahlten teuer für diese Widerständigkeit. Den Anführern wurde der Prozess gemacht, sie wurden gefoltert und öffentlich hingerichtet. Die betreffende Stadt verlor ihre Privilegien, die Mauern wurden geschleift und den Bürgern Strafgelder auferlegt. Nach dem Aufstand in Neapel 1585 wurden über 800 Personen vor Gericht gestellt, doch 12 000 flohen aus der Stadt aus Angst vor der drohen­ den Unterdrückung. Bauernheere wurden von den besser ausgebildeten und bewaffneten Armeen ihrer Gegner fast unweigerlich besiegt. Doch nach der Niederlage kam es durch systematisches Gemetzel erst recht zu großen Ver­ lusten an Menschenleben. In der Schlacht von Frankenhausen (15. Mai 1 525) verloren mehr als 5000 Bauern das Leben. Auf der Gegenseite hatten die Landsknechte nur sechs Mann Verluste zu beklagen, und zwei davon waren lediglich verwundet. Insgesamt ließen im deutschen Bauernkrieg binnen zwei Jahren wohl an die 100 000 Bauern ihr Leben. Beim ungarischen Aufstand vor der Schlacht von Mohacs (1 526) starben Zehntausende Bauern, und nach der " Pilgrimage of Grace" wurden bewaffnete Bauernrotten "wie Hunde" abgeschlachtet, berichtete einer ihrer Anführer, Hauptmann Cobbler, der im 113

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

Gefängnis von Lincoln auf sein Schicksal wartete. "Was für Hurensöhne waren wir doch, dass wir die Vornehmen nicht umgebracht haben, wusste ich doch immer, dass es Verräter sind", überlegte er. Über 5000 Bauern starben bei den diversen Gefechten, mit denen die "Prayer-Book Rebellion" im August 1 549 ihr Ende fand. Allein während der Schlacht von Clyst Heath wurden 900 gefesselten und geknebelten Gefangenen binnen zehn Minuten die Kehlen durchtrennt. Als er 1 573 den Aufstand kroatischer Bauern gewalt­ sam beendete, brüstete sich Kaiser Maximilian II. mit dem Tod von 4000 slo­ wenischen und kroatischen Bauern. Nach der Niederschlagung des Aufstands von 1626/27 in Oberösterreich sollen mehr als 12 000 Bauern umgebracht worden sein. In der Schlacht von Sauvetat bei Perigueux 1637 blieben 1000 Bauern tot auf dem Schlachtfeld liegen. Auf jeden Fall starben während der Aufstände Tausende Menschen mehr, als in den religiösen Konflikten des 16. und 17. Jahrhunderts als Märtyrer ihr Leben gaben oder gerichtlich wegen Hexerei zum Tode verurteilt wurden. Die Rädelsführer wurden besonders brutal bestraft, um andere abzuschre­ cken. Der Szekler György D6zsa, ein Söldnerführer, wurde zum Anführer des ungarischen Bauernaufstands. Nach der Niederlage von Temeswar 1514 nahm man ihn gefangen und verurteilte ihn dazu, auf einem glühenden Eisenthron mit einer erhitzten Eisenkrone auf dem Kopf und einem rot glühenden Zepter in der Hand zu schmoren, während seine Mitrebellen sein Fleisch mit rot glü­ henden Zangen herausreißen und hinunterschlingen mussten. In Oberöster­ reich begehrten bei Frankenburg am Hausruck lutherische Bauern gegen Graf Adam von Herberstorff auf, der versucht hatte, ihnen einen katholischen Priester aufzuzwingen. Trotz erlassener Amnestie ließ der Graf die Anführer des Aufstands verhaften und sie (wie damals beim Militär üblich) in zwei Gruppen teilen, die gegeneinander um ihr Leben würfeln mussten. 36 Män­ ner wurden gehängt, ein Ereignis, das den Oberösterreichischen Bauernauf­ stand von 1626 auslöste. Die harten Strafen für Rebellenanführer sollten nicht nur andere poten­ zielle Rebellen abschrecken, sondern auch die lokalen Notabeln einschüch­ tern. Dasselbe Ziel verfolgte der von den Fürsten (und Gott) so obsessiv gefor­ derte absolute Gehorsam. Er war das Leitmotiv in königlichen Erlassen und in der Ratgeberliteratur für Magistrate. Mit großer Beharrlichkeit wurde auf die gefährlichen Folgen von Rebellion hingewiesen, doch die meisten Aus­ führungen richteten sich mit ihrer Rhetorik gar nicht an die Bevölkerung selbst. "Wenn jeder regieren will, wer soll dann noch gehorchen? ", fragte ein Traktat, der im Gefolge der " Pilgrimage of Grace" entstand. "Nein, nein, nehmt den Reichtum an der Hand und gebt ihm den Abschied, sagt Adieu 1 14

3. Stadt und Land

Reichtum, wo die Lust geschätzt und das Recht verlacht, wo das Oben nach unten und das Unten nach oben verkehrt wird. Es muss eine Ordnung her, und es muss ein Weg gefunden werden, damit die regieren, die es am besten vermögen, und die regiert werden, denen es am ehesten zukommt." Ganz ähnlich spiegelt sich in den strengeren Formulierungen der Literatur über politischen Gehorsam der Versuch, die lokalen Führungsschichten, auf die der Staat angewiesen war, zu erziehen. Dahinter stand noch eine tiefere Sorge. Zum humanistischen Projekt gehörte, dass die Ausübung von Ämtern an die Verfolgung des Gemeinwohls gebunden sein sollte. So bestand immer die Gefahr, dass Magistrate, lokale Amtsträger und Angehörige des niederen Adels verkannten, wem gegenüber sie loyal zu sein hatten - dem Volk oder dem Staat. Und gerade den "geringeren Magistraten" (und fast jeden, der ein öffentliches Amt bekleidete, konnte man als solchen ansehen) war von ein­ flussreicher protestantischer Seite die Pflicht gegenüber Gott und dem Volk eingeschärft worden, einer höheren Obrigkeit den Gehorsam zu versagen, falls diese ihre Pflichten gegenüber Gott vernachlässigte. Die Regierenden waren daher in Sorge, sich der Loyalität jener wachsenden Gruppe von klei­ neren Amtsinhabern zu versichern, von denen gerade in schwierigen Zeiten ihre Autorität abhing. So konnte ungeachtet der harten Unterdrückungsmaßnahmen und der Ermahnungen zu absolutem Gehorsam der Protest oftmals etwas von seinen Forderungen durchsetzen. Der deutsche Bauernkrieg endete mit einer völli­ gen Niederlage der Aufständischen, doch der darauf folgende Reichstag zu Speyer (Juni bis August 1 526) stimmte Vorschlägen zur Entlastung der Bau­ ern zu. Nach dem Tiroler Aufstand räumte die Landesverordnung von 1 526 Besitzrechte am Land ein, beschränkte die Arbeitsdienste auf königlichem Grund und Boden und modifizierte die Gesetze, die das Jagen und Fischen regelten. Neu geplante Steuerbelastungen wurden gestrichen oder verscho­ ben, und nach sozialen Protesten wurde versprochen, geschehenes Unrecht wiedergutzumachen - nicht, weil das Volk gewonnen hatte, sondern weil die Herrschenden die Macht der lokalen Führungsschichten respektieren muss­ ten. Ihre Bemühungen, die Auswirkungen des wirtschaftlichen Wandels in Stadt und Land zu mildern - durch Preiskontrollen, Verordnungen gegen das Horten von Getreide, Unterstützung der Armen und den Ankauf von Nah­ rungsmittelvorräten zur Freigabe zu subventionierten Preisen -, machen begreiflich, warum es trotz bröckelnden sozialen Zusammenhalts in West­ europa nicht zu noch größeren Aufständen gekommen ist. Dennoch war ein neuer, aufrührerischer Ton leicht aus dem Protest heraus­ zuhören, was zum Teil daran lag, dass die Stimmen des Protests jetzt eine 115

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

weitere Öffentlichkeit erreichten und leichter manipuliert und missverstan­ den werden konnten. Auf der anderen Seite entwickelte sich im Gefolge der Reformation eine neue, nervöse Aufmerksamkeit für aufrührerische Reden, die nun sehr viel entschiedener untersucht und verfolgt wurden. Als der Zimmermann Bartholomew Steere aus Oxfordshire 1 596 äußerte, dass "die Gemeinen in Spanien schon vor langer Zeit sich erhoben und alle Vornehmen in Spanien umgebracht und seitdem dort glücklich gelebt haben", war er falsch informiert, was indes die englische Regierung nicht daran hinderte, ihn wegen aufrührerischer Reden hinzurichten. Die Fortschritte im öffentli­ chen Aufbegehren ließen sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts anhand der Mitteilungsblätter verfolgen, die das Augsburger Bankhaus der Fugger ver­ trieb. Flugschriften, die von den Protestlern oder in deren Namen veröffent­ licht wurden, machten ihre Beschwerden und Forderungen einem breiteren Publikum bekannt. Dass Revolten sich auf diese Weise ausbreiten könnten, drang vor allem in den 1640er-Jahren ins Bewusstsein der Herrschenden. Im September 1647 schrieb Battista Nani, der venezianische Botschafter in Paris, über den zwei Monate zurückliegenden Aufstand in Neapel: "Die gängigste Vorstellung, die sich hier in der Bevölkerung ausbreitet, ist, dass die Neapoli­ taner klug gehandelt haben und man, um Unterdrückung abzuschütteln, ihrem Beispiel folgen sollte. Allerdings ist klar, dass es zu großen Unannehm­ lichkeiten geführt hat, als den Leuten gestattet wurde, auf der Straße ihrer Begeisterung für den Aufstand von Neapel lauthals Ausdruck zu geben. Es wurden also Maßnahmen ergriffen, um die Gazetten an der weiteren Bericht­ erstattung über derlei Vorfälle zu hindern." Dieselben Kräfte, die den techno­ logischen Wandel verbreiteten, der das Christentum umgestaltete, streuten auch das Wissen über jene Proteste, die ihrerseits ein Zeichen für den schwin­ denden gesellschaftlichen Zusammenhalt waren.

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4 . Schätze und Geschäfte

eld und Christentum - das war eine heikle Beziehung. Ein monetäres Wirtschaftssystem legte Wert auf Edelmetalle, während die christliche Glaubensgemeinschaft auf Werten wie Rechtgläubigkeit, Abstammung, Erbe und Wissen beruhte. Allerdings blieb das Heikle der Beziehung zumeist im Hintergrund. Handel fand vielfach auch ohne Geld statt, das Wirtschaftssystem war also nur teilweise monetarisiert. Zudem hatte das Geld die Angewohnheit, sich in Reichtum unterschiedlicher A rt zu verwan­ deln - in adliges Vermögen, kirchliche Pfründe, königliche Ämter, b äuer­ liche Abgaben - und sich in diesem P rozess mit traditionellen Werten und etablierten M achtstrukturen zu arrangieren. D ie scholastischen Theologen boten Erklärungen dafür an, wie sich das Geld vernünftigerweise mit dem christlichen Glauben in Einklang bringen lasse. Doch fanden im 16. und 17. Jahrhundert gravierende Veränderungen statt: Silber stand in beispiello­ sen Mengen zur Verfügung. Die prominente Rolle des Geldes war der Nähr­ boden einer großen virtuellen Gemeinschaft, die mit Edelmetallen handelte und durch die B ande von Kredit und Vertrauen zusammengehalten wurde. Europas überseeische Kaufmannsimperien entstanden. Manche Leute wur­ den dadurch reich, andere verarmten. Silber verlieh Macht, und davon pro­ fitierten die europäischen Staaten. Es verschaffte ihnen Ressourcen und sti­ mulierte ihren Ehrgeiz, miteinander in einen destruktiven Wettbewerb zu treten. Geld war die Substanz, die das Christentum auflöste. Dennoch musste es mit den christlichen Werten in Einklang gebracht werden. So hieß es denn, Edelmetalle seien Teil von Gottes Fülle und durch den Einfluss von Planeten auf der Erde entstanden. Im Verständnis der Alchemisten waren Metalle bestimmten Wandelgestirnen zugeordnet - zum Beispiel Gold der Sonne, Silber dem Mond, Kupfer der Venus - und spiegelten deren charak­ teristische Eigenschaften wider. Gottes Güte habe sie den Menschen auf Erden zur Verfügung gestellt.

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Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

Unterirdische Schätze Lucas Gassei war ein flämischer Maler und ein Zeitgenosse Brueghels. 1 544 signierte er ein Bild, das unter dem Titel Landschaft mit Kupfermine bekannt wurde, obwohl es vermutlich die Herstellung von Roheisen im nahe gelege­ nen Lüttich zeigt. In hügeliger Landschaft breiten sich Industrieanlagen aus: Arbeitsstätten für die Metallproduktion, Schienen für Loren, Stollenein­ gänge und Flaschenzüge. Im Vordergrund werden Erzbrocken zusammen­ gekehrt und auf Schubkarren geladen. Ein Arbeiter schleppt einen Tiegel auf dem Rücken, während ein anderer ein Metallstück aus einer Gussform häm­ mert. Deutlich zu sehen ist der mit Wasserkraft betriebene Hochofen, der all das ermöglicht. In der Bildmitte zeigt ein Arzt auf eine Schüssel mit Erbro­ chenem, das von einem Arbeiter stammt, der giftigen Dämpfen ausgesetzt war. Eine rot gekleidete Frau trägt einen Krug mit Wein, wobei die Art ihres Auftretens andeutet, dass sie den Arbeitern mehr bringt als nur flüssige Erfrischung. In einer angrenzenden Hügellandschaft ist dagegen die länd­ liche Ordnung noch intakt. Gassei schildert eine manichäische Welt zwei­ deutiger Werte. Diese Ambivalenz war weit verbreitet. Der Gelehrte Georgius Agricola (Georg Bauer), ein äußerst kundiger Mann auf dem Gebiet der Metalle und des Montanwesens, zählte die Mineralvorkommen zu den göttlichen Segnungen. Im Vergleich zum Feldbau erschien ihm der Bergbau riskanter, aber auch pro­ duktiver. Das Risiko trugen natürlich die Bergleute, die ihr Leben vielfach aufs Spiel setzten, sei es etwa durch Bergstürze oder das Einatmen verderblicher Grubendünste. Gefährlich war der Bergbau aber auch für die Umwelt, weil beispielsweise das Waschen der Erze die Bäche und Flüsse vergiftete. Agricola war dies durchaus bewusst. Andere Argumente der Gegner ließ er nicht gel­ ten: "Da ferner die Bergleute meistenteils in Bergen graben, die gar keine Früchte tragen, sowie in Tälern, die von Finsternis umgeben sind, so verwüs­ ten sie Felder entweder gar nicht oder nur in geringem Maße." Entscheidend war für ihn, dass der Gewinn aus einem Bergwerk den des besten Feldes um ein Vielfaches übertreffen konnte. "Es gibt Land, das . . . wenn man dort schürft, viel mehr Leute ernährt, als wenn es Früchte trüge." Doch hatte der Überfluss seinen Preis. Je mehr es von einer Sache gab, desto stärker sank sie im Wert. Das stellte die Vorstellung von einem den Dingen innewohnenden natürlichen Wert ebenso infrage wie die von einem gerechten Warenpreis. Es war ein "Paradox", wie man damals Sichtweisen bezeichnete, die dem allgemeinen Verständnis zuwiderliefen. Wie der unorthodox den­ kende Emaillekünstler Bernard Palissy bemerkte: Die industrielle Fertigung 1 18

4. Schätze und Geschäfte

von Glasknöpfen oder billigen Holztafeldrucken mit religiösen Motiven erschwerte den Kunsthandwerkern das Geschäft, weil der Markt mit diesen Produkten überschwemmt wurde. Sollten Alchemisten es tatsächlich schaffen, einfaches Metall in Gold zu verwandeln, "gäbe es davon solche Mengen, dass die Menschen es mit Verachtung straften und nicht bereit wären, es gegen Brot oder Wein einzutauschen." Für Palissy stammte der Wert aus der Kunst, mit der ein Handwerk (wie das seine) betrieben wurde, nicht aus der Natur. Sein Zeitgenosse Blaise de Vigenere wiederholte scholastische Argumente gegen den Wucher, indem er erklärte, Metalle seien "unfruchtbar", weil sie aus sich selbst heraus "nichts produzierten". Moralisten betrachteten die unterirdischen Schätze ebenfalls höchst kritisch: Sie förderten die Habgier, die Sucht nach Neuern und die Anbetung der Mode. Agricola hielt diese Ansichten für verfehlt: "Denn wenn die Metalle nicht wären, so würden die Menschen das abscheulichste und elendeste Leben unter wilden Tieren führen; sie würden zu den Eicheln und dem Waldobst zurückkehren . . . " Die Gewinnung der für das Färben von Stoffen unverzichtbaren Alaune war ein weiterer erfolgreicher Zweig des Bergbaus. Alaun wurde aus Phokäa (auf einer Halbinsel am Golf von Smyrna) geliefert, bis die O smanen in den 1450er-Jahren den Handel unter­ banden. 1460 jedoch entdeckte man reiche Vorkommen bei Tolfa, nördlich von Rom, die im Tagebau gewonnen werden konnten. Der Papst begrüßte die Entdeckung als göttliche Vorsehung und erklärte, dass die Gewinne einem Kreuzzug zugutekommen sollten. Tatsächlich dienten sie zur Auffüllung der päpstlichen Schatzkammern und machten die Handelsbankiers reich (zunächst die Medici, dann, nach 1 520, Agostini Chigi), die das Monopol besaßen. Chigi beschäftigte 700 Arbeiter, ließ für sie ein Dorf errichten (Allumiere) und kaufte Siena einen Hafen ab, um Export treiben zu können. Er finanzierte auch die Wahlen von Papst Julius II. und Papst Leo X. und lieh ihnen Geld für ihre militärischen Unternehmungen. Handelskapitalisten brauchten keinen Nachhilfeunterricht in Sachen Reichtumsmehrung, Unter­ nehmensführung oder politische Lobbyarbeit, aber ihre Pläne waren oppor­ tunistisch und kurzfristig ausgerichtet. Zwischen 1500 und 1650 wuchs der Kohleabbau im Tal der Maas um das Vierfache. Schlackeberge traten in Konkurrenz zu Kirchtürmen. Um 1600 wurde Steinkohle (auf Englisch sea-coal) in erheblichen Mengen von New­ castle nach London und von dort weiter zu Häfen auf dem Kontinent trans­ portiert. Auch Kupfer, Zinn, Blei, Arsen, Schwefel und Quecksilber wurden in bis dato unvorstellbaren Mengen abgebaut und verschifft, wobei die Suche nach Rohstoffen durch die Nachfrage von weiter entfernten Märkten ange119

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

heizt wurde. Gold und Silber aber waren die entscheidenden und alles ver­ ändernden Schätze dieser Epoche.

Gold und Silber Die mystischen Eigenschaften, die man diesen beiden Substanzen zuschrieb, sind kaum zu überschätzen. Goldfäden wurden deshalb in Stoffe und Wand­ teppiche eingewebt, sodass sie schillerten, wenn Licht darauf fiel. Statuen und Gemälde wurden mit Gold zum Funkeln gebracht. Königliche Insignien, Geschmeide, Geschirr und Besteck aus Gold oder Silber kündeten von den eingeborenen Tugenden der Aristokratie. Die Suche nach Edelmetallen war der Motor für die europäische Expansion in den überseeischen Gebieten. Jac­ ques Cartier begab sich 1534, eine Generation nach Kolumbus, auf seine erste Expedition. Er verfolgte das Ziel, "gewisse Inseln und Länder aufzufinden, wo es eine große Menge Gold und andere Reichtümer zu entdecken geben soll". Auch Martin Frobishers Reise nach Neufundland (1576-1578) diente der Suche nach Edelmetallen. Sir Walter Raleigh mutmaßte zu Recht, dass das spanische Reich Philipps II. nicht "auf dem Handel mit Orangen aus Sevilla" beruhte. "Es war das Gold aus Westindien, mit dem er die europäischen Nati­ onen in Gefahr brachte und aufstörte." Gold und Silber dienten natürlich auch als Zahlungsmittel, wobei die lokal geprägten und im Handel verwendeten Münzen sehr unterschiedlich aus­ fielen. In Frankreich gab es 20 Münzstätten, in Kastilien wenigstens sechs. Fast jedes italienische Fürstentum und viele deutsche Städte prägten eigene Münzen. Das geschah in Handarbeit, mit einem Hammer und einem Präge­ stempel. Die so geschlagenen Münzen waren unregelmäßig geformt, Gewicht und Dicke variierten von einer Münzstätte zur anderen beträchtlich. Die Betrugsmöglichkeiten waren vielfältig, indem man zum Beispiel ein bisschen Metall wegschmolz oder die Ecken beschnitt. Selbst Geldwechsler hatten Schwierigkeiten, die feinen Unterschiede in Legierung und Gewicht aufzuspü­ ren. Die Pariser Münze experimentierte mit einer Walzanlage und einer Schneidpresse, um den Münzen eine Randprägung zu geben, doch produ­ zierte die Anlage viel Ausschuss und war kostspielig zu installieren. Wohl dis­ kutierte man ihre Vorteile bei der Verhinderung von Betrug, doch sollten vor 1650 in Europa keine Münzen mit Randprägung in Umlauf kommen. Die Herstellung von Geld aus mehr als einem Metall war kompliziert, wes­ halb man sich im 16. Jahrhundert auf Gold, Silber und Billon beschränkte. Der Münzwert wurde nicht nur vom Nennwert bestimmt, sondern auch von 120

4. Schätze und Geschäfte

Gewicht und Feingehalt. Billonmünzen hatten den geringsten Wert, weil sie aus einem geringen Anteil an Silber, legiert mit einem weniger wertvollen Metall (hauptsächlich Kupfer), bestanden, weshalb sie so gut wie keinen Materialwert besaßen. Goldmünzen dagegen waren am wertvollsten und des­ halb im täglichen Geldverkehr nur selten zu finden. Die meisten Europäer gaben in ihrem ganzen Leben niemals eine Goldmünze aus - mit einem vene­ zianischen Dukaten konnte man auf dem Markt von Antwerpen in den 1 520er-Jahren mehr als 50 Schock Eier oder 240 Heringe erwerben. Gold­ münzen ließen sich relativ leicht auf Gewicht und Feingehalt prüfen. Ihr Besitz und Gebrauch war zumeist auf Bankiers, Höflinge und reiche Leute beschränkt. Zudem waren sie Symbole der Macht. Im frühen 16. Jahrhundert zierten in Nachahmung klassischer Vorbilder Porträts der jeweiligen Herr­ scher die Goldmünzen von Mailand und Neapel, wodurch die Münzen ein zusätzliches politisches Gewicht erhielten. Der französische König Hein­ rich II. ließ sich mit dem Lorbeer eines siegreichen Imperators auf einem tes­ ton porträtieren, einer Silbermünze, deren Bezeichnung (italienisch testa heißt " Kopf') wiedergab, was neu an ihr war. Silbermünzen waren eine gängige Verkehrsmünze und trieben die Moneta­ risierung in Europa voran. In Münzsammlungen noch immer häufig vertreten sind die englischen testoons, half-crowns, angels und crowns sowie (nach der Münzreform von 1551) shillings, half-crowns und crowns, ferner spanische reales (die 3,19 Gramm Feinsilber enthalten) und holländische stuiver (mit 0,94 Gramm Feinsilber). Mehr Renommee besaßen die großen Silbermünzen, wie etwa die schwereren reales de a ocho ("Achterstück", achtmal so schwer wie ein real) oder der mitteleuropäische Guldiner, das Vorbild für den Joa­ chimstaler (28,7 Gramm Feinsilber) - und, viel später, für die Silberdollars der jungen amerikanischen Republik. Die Münzproduktion geschah auf Geheiß der Bankiers, Geldwechsler und Kaufleute, die das Metall lieferten. Die Münzstätten prägten das Geld und berechneten Produktionskosten und Seigniorage (die an den Münzherrn für die Erlaubnis zur Münzprägung zu entrichtenden Gebühren). Zwar wurde die Qualität der Münzen durch die Obrigkeit überwacht, doch entschied der Markt über Münzmenge und gewähltes Metall. Es war schwierig, ein adäqua­ tes Zahlungsmittel gerade für die kleinen Alltagsgeschäfte verfügbar zu hal­ ten. Billonmünzen wurden wegen ihres Silbergehalts vor allem in Zeiten von Inflation und instabilem Geldwert gern eingeschmolzen. Insbesondere "Klein­ geld" war für die Münzstätten in der Produktion nicht gewinnbringend und gelangte nicht in ausreichenden Mengen auf den Markt, zudem war es von dubioser Qualität. In Spanien waren massenhaft blancas - kastilische Kupfer121

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

münzen mit einem Silbergehalt von nur sieben Gramm - von zweifelhaftem Wert in Umlauf. In Norditalien wurden Alltagsgeschäfte mit mailändischen terline und sesine (in heutiger Währung etwa drei beziehungsweise sechs Cent) getätigt. In Frankreich gab es Kleinmünzen wie den liard, den denier und den douzain (circa zwölf Cent), mit denen man ein Brot kaufen oder eine Spende für die Armen leisten konnte. Aber diese Münzen waren wie mittelmäßiger Wein: Sie brachten es nicht weit. Noch die Münzen mit dem höchsten Fein­ gehalt an Silber wurden mit Kupfer legiert, um das Edelmetall zu härten. Eng­ lisches Sterlingsilber zum Beispiel hatte einen Anteil von 7,5 Prozent Kupfer, das französische Pendant argent-le-roy 4,17 Prozent. Fürsten, die an Geld­ knappheit litten, waren stets versucht, den Gewinn aus den Münzstätten durch Verschlechterung der Münzqualität (Senkung des Silbergehalts) zu steigern. Alternativ dazu gab es die Möglichkeit, das Gewicht der Münze zu senken und so mehr Münzen mit demselben Nennwert aus dem Pfund oder der Mark Feinsilber oder -gold zu prägen. Die staatlichen Behörden fanden eine Methode, um die Münzvielfalt in den Griff zu bekommen: Sie führten eine Zählwährung ein, die nun bei allen Arten von Geschäften zur Verrechnung genutzt wurde. Damit besaß man endlich einen stabilen Wertmaßstab, um verschiedene Münzsorten miteinan­ der zu vergleichen. In Italien beispielsweise wurden von nun an die Geschäfte und Berechnungen in Lire, soLdi und denari abgewickelt, wobei nur der denaro auch eine tatsächliche Münze bezeichnete. Lire und soLdi waren reine Rech­ nungseinheiten. 20 soLdi oder 240 denari entsprachen einer Lira (dem ange­ nommenen Münzgewicht von einem Pfund). Ähnliches Rechnungsgeld fand nun überall in Europa Verwendung - in Spanien der maravedi, in Frankreich der livre tournois, in Holland der Gulden und in England das Pfund Sterling. Wechselkurse gab es sowohl zwischen den verschiedenen geprägten Münzen wie auch zwischen den Rechnungswährungen, und sie fluktuierten in beiden Fällen. Die Behörden setzten die Wechselkurse fest, die dann von den Münz­ stätten den einliefernden Händlern gegenüber als Kaufpreis für ungemünztes Gold oder Silber und für Münzen angegeben wurden. Allerdings hatten die Händler insofern das letzte Wort, als sie, wenn der Kurs nicht realistisch war, es schlichtweg ablehnten, mit den Münzstätten Geschäfte zu tätigen, und stattdessen den Handel zu inoffiziellen Kursen abschlossen. Damals wie heute wussten nur wenige, wie die Geld- und Währungsmärkte funktionieren, und nur eine winzige Minderheit in den allmählich entstehenden europäischen Finanzzentren konnte daraus ihren Vorteil ziehen. Zweimal erfuhren Europas Vorräte an Edelmetallen eine substanzielle Veränderung. Da waren zunächst einmal die Portugiesen, die sich in den 122

4. Schätze und Geschäfte

1470er-Jahren an der Küste von Guinea in Westafrika niederließen. 1481 lan­ deten sie dort mit einer Flotte von elf Schiffen und erbauten binnen weniger Wochen die Festung Säo Jorge da Mina (heute Elmina in Ghana) . Von die­ sem Stützpunkt aus trieben sie Handel, um " sudanesisches" Gold zu erwer­ ben, das Westafrikaner aus den Flussläufen des Senegal, Niger und Volta wuschen und zur Küste brachten. 1 509 wurde zur Abwicklung der Geschäfte ein Handelsbüro eingerichtet, aus dessen Rechnungsbüchern sich das Volu­ men der Transaktionen ersehen lässt: Zwischen 1500 und 1 520, dem Höhe­ punkt, wurden j ährlich 0,77 Tonnen Goldes verschifft. D ann wurden neue Goldvorräte in den amerikanischen Kolonien aufgetan. In weniger als einer Generation hatte man aus dem Flusssand der Antillen alles Gold herausge­ waschen. Bis 1 550 waren in Sevilla 64,4 Tonnen Gold aus der Neuen Welt angelandet worden (das entspricht der damaligen Umrechnungsrate zufolge 708 , 5 Tonnen Silber). Allerdings war der Effekt dieser ungeheuren Transfusion auf Europas edelmetallhungrige Geldwirtschaft weniger stark, als es den Anschein haben mochte. Die Importe aus Westafrika haben vielleicht nur das Gold umgelei­ tet, das sonst mit Karawanen über die Sahara zu den Mittelmeerhäfen und von dort nach Europa gelangt wäre. Zudem steckten die Portugiesen einiges davon gleich wieder in ihren Handel mit Indien und Indonesien, für den Gold ein wesentliches Element war. Als zweiter wichtiger Faktor, der zu ebendieser Zeit die Versorgung Europas mit Edelmetallen beeinflusste, sind freilich die reichen Vorkommen an Silber und Kupfer in Mitteleuropa zu nennen. Ihr Abbau hatte in den 1460er-Jahren begonnen und erreichte sei­ nen Höhepunkt in den 1 540er-Jahren. In Thüringen, Böhmen, Ungarn und Tirol konnten Kupfer- und Silbervorkommen, deren Existenz seit Langem bekannt war, jetzt wirtschaftlich ertragreich abgebaut werden, weil man - in Reaktion auf den steigenden Marktwert von Silber - neue Technologien ent­ wickelt hatte. Eines dieser Verfahren bediente sich eines chemischen Prozesses: Bei der Schmelze des Erzes wurde Blei eingesetzt, um das Silber vom Kupfer zu tren­ nen. Ein zweites Verfahren verwendete mit Wasser- und Pferdekraft betrie­ bene Drainagepumpen, um tief liegende Minen trockenzulegen. Die Pro­ duktion erreichte ihren Höhepunkt in den 1530er-Jahren mit etwa 8 8 , 1 8 Tonnen Silber pro Jahr. Eisleben, Annaberg, Marienberg (in Sachsen), Joa­ chimsthal (Jächymov) und Kuttenberg (Kutmi Hora) waren Städte, die vom Silberrausch profitierten. Der Aufschwung brachte den Reichtum der Fugger in Augsburg hervor, und auch die Reformation wurde dort groß, wo das Silber am stärksten boomte. 123

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Silber, Handel und Krieg Der Silberabbau war kompliziert und kostspielig und der Transport durch das Gewicht erschwert. Diese Hindernisse erklären, warum es vor 1530 so gut wie keine Silberimporte aus der Neuen Welt gab. Danach war es eine andere Geschichte. Nachdem sich die Spanier 1521 in Südmexiko festgesetzt hatten, wagten sich Expeditionen ins nördliche Chichimeca vor. Bei einer davon über­ reichten Einheimische 1546 dem Expeditionsführer (Juan de Tolosa, einem baskischen Adligen) Stücke von lokalem Silbererz als Geschenk. Im seihen Jahr wurde in Zacatecas, 2700 Meter über dem Meer, eine kleine Bergbausied­ lung gegründet. Da die Schürfer die lokalen Bräuche nicht achteten, kam es 1550 zu einem Grenzkrieg mit den Zacatecos- und Guachichil-Indianern. Die Silbersucher fanden bei Guanajuato und Pachuca noch weitere Vorkommen. Da sich die Gewinnung des Silbers aus dem Erz schwierig gestaltete, brachte der spanische Kaufmann Bartolome de Medina 1554 neue Verfahren aus sei­ ner Heimat mit, die vermutlich in Deutschland entwickelt worden waren. Beim Amalgamverfahren breitete man das fein zerstoßene Erz auf einer ebe­ nen Fläche (patio) aus und vermischte es mit Quecksilber und einer Salzwas­ serlösung. Daraus entstand eine zähflüssige Mixtur, die man einige Wochen lang der Sonne aussetzte, bis das Silber sich mit dem Quecksilber legiert hatte. Der Abbau und die Gewinnung von Silber in Mexiko waren auf Materialien, Kenntnisse und Ausrüstung angewiesen, die aus Europa importiert werden mussten. Dazu gehörten Werkzeuge aus Eisen und Stahl, Lampen, Öl, Mahl­ werke und Pferde. Das Quecksilber kam in Ledersäcken aus dem südspani­ schen Almaden, wo die Fugger sich von 1563 bis 1645 vertraglich die Produk­ tion sichern konnten. Unterdessen hatte man im spanisch besiedelten oberen Peru (dem heutigen Bolivien), 650 Kilometer von der Pazifikküste entfernt, mit dem Abbau weite­ rer umfangreicher Vorkommen begonnen. 1546 war in den Anden am Cerro Rico ("Reicher Berg", wie er jetzt genannt wurde) oberhalb der Stadt Potosi in über 4000 Metern Höhe Silbererz entdeckt worden. Als die an der Oberfläche liegenden Vorkommen in den späten 1550er-Jahren erschöpft waren, wandten sich die Spanier den tiefer liegenden Erzen zu, nun ebenfalls unter Anwen­ dung des Amalgamverfahrens. 1572 wurde in den umliegenden Bergen das erste von später über 20 künstlichen Reservoirs erbaut, in denen Millionen Liter Wasser gespeichert wurden. Das Wasser diente dem Antrieb hydrauli­ scher Hämmer zur Zertrümmerung des Erzes. 1600 gab es um die 125 Werke für die Erzverarbeitung, und Potosi hatte mehr als 100 000 Einwohner. Kein anderer Berg brachte so märchenhaften Reichtum hervor. 1570 zählten Mexiko 124

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und Peru 15 000 Bergarbeiter, und die dreifache Anzahl war in anderen Funk­ tionen - etwa als Maultiertreiber, Fuhrleute, Salzhersteller - in den Produkti­ onsprozess eingebunden. Die Sterberate unter den Bergarbeitern und all jenen, die mit dem giftigen Quecksilber zu tun hatten, war hoch. Die Blütezeit der Silberproduktion in Mittel- und Südamerika währte von 1590 bis 1620; in die­ sem Zeitraum betrug die offizielle Jahresproduktion mindestens 220 Tonnen, doch greift die registrierte Menge vielleicht um bis zu zwei Drittel zu niedrig. Zeitgenössische holländische Nachrichtenblätter veröffentlichten jedenfalls Zahlen über die Silberimporte aus dem spanischen Amerika, die ganz anders aussahen als die offiziellen. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus möglich, dass auch das, was in der offiziellen Buchführung über die in Sevilla eintref­ fenden Lieferungen als Niedergang der Produktion nach etwa 1620 erscheint, in Wirklichkeit gar nicht mit einem Rückgang der Silberimporte gleichzuset­ zen ist (wie früher angenommen). Vielmehr dürfte um 1600 etwa ein Viertel der Produktion von Potosi seinen Weg über die Anden zum Rio de la Plata und von dort nach Brasilien, Lissabon und auf den europäischen Markt gefun­ den haben. Weitere umfängliche Lieferungen gelangten über den Pazifik nach Manila und von dort nach China. Eines der ersten Ergebnisse der europäi­ schen Expansion nach Übersee bestand somit darin, dass die Europäer zur Führungsmacht im globalen Silberhandel aufstiegen. Von diesem Handel profitierte die spanische Monarchie am meisten. Sie machte die Verträge für all das Quecksilber, das über den Atlantik verschifft wurde, und sie beanspruchte von jedem produzierten Silberbarren ihren Anteil (zehn Prozent in Mexiko, 20 Prozent in Peru) und schlug noch eine Bearbeitungsgebühr drauf. Hinzu kamen Zölle in den Kolonialhäfen, wenn das Silber transportiert wurde, weitere Gebühren für seine Registrierung im Kolonialamt von Sevilla, wenn es dort ankam, und wieder weitere, wenn es von dort in andere europäische Länder exportiert wurde. Die wachsenden Einnahmen ermöglichten es Karl V., seine militärischen Unternehmungen in Italien, Nordafrika und den Mittelmeergebieten, Deutschland und Flandern zu finanzieren. Sein Reich funktionierte auf der Grundlage von Verträgen (asientos) mit Lieferanten, die es mit allem versorgten: von Quecksilber und Kreditverträgen (asientos de dineros) bis hin zu Proviant und sonstigem Bedarf der Streitkräfte. Die wesentliche Aufgabe des kastilischen Schatzamtes (hacienda) bestand darin, die Einnahmen mit den Ausgaben in Einklang zu bringen, besonders wenn Erstere unregelmäßig und Letztere dringlich waren. Tatsächlich behandelte die Krone das Silber wie eine Feldfrucht von einer Domäne - so als könne das Metall ganz nach Bedarf geerntet werden. In schwierigen Zeiten pflegte man Silber aus Privatbesitz bei der Ankunft in 125

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Sevilla zu beschlagnahmen und zwang die Besitzer, verzinsliche Obligationen (juros) anzunehmen. Die mögliche Gewinnmarge des Silberhandels wurde bei der Umwandlung in juros berücksichtigt, und da zudem die Zinssätze attrak­ tiv waren (fünf bis sieben Prozent), ließen sich viele bereitwillig darauf ein. Wenn das Königshaus die asientos nicht mehr erfüllen konnte, wurden auch sie in längerfristig laufende juros umgewandelt. Je größer der Zufluss von Edelmetallen, desto kreditwürdiger wurde das Schatzamt. Die Schatzmeister der spanischen Habsburger konnten sich nicht nur auf die spanischen Bank­ kaufleute, sondern auch auf weitere Bankiers in Karls V. europäischem Reich verlassen: auf die Weiser und Fugger in Augsburg, die Schetz in Antwerpen und andere. Und als das Königshaus mit den Zinszahlungen in Verzug geriet und die bisherigen Partner im Bankenwesen Verluste realisierten, traten Häu­ ser aus Genua und Cremona in Norditalien, das unter dem Einfluss der spani­ schen Krone stand, an deren Stelle (darunter die Familien der Spinola, Grillo, Doria und Affaitadi). In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gerieten die so kunstvoll betrie­ benen Kreditgeschäfte unter Philipp II. ins Schlingern. Die militärischen Kos­ ten, vor allem der Unternehmungen im westlichen Mittelmeerraum und in Flandern, stiegen, und der Verkauf von Regierungsobligationen nahm solche Ausmaße an, dass die Liquidität des Staats in Gefahr geriet. Obwohl Philipp dreimal (1557, 1575 und 1596) den Staatsbankrott verkündete, stellte er sicher, dass die Zinszahlungen für die Inhaber von juros weiterliefen, ein Verspre­ chen, das nur gehalten werden konnte, solange die Gewinne aus Silberproduk­ tion und -handel so sprudelten wie bisher. Doch selbst als es unter Philipp IV. (162 1-1665) zu wiederholten Finanzkrisen und rückläufigen Silbereinkünften kam, blieb das Silber aus der Neuen Welt das Mittel, welches den spanischen Habsburgern die Teilnahme am Dreißigjährigen Krieg ermöglichte. Seine Bedeutung nahm sogar noch zu, als andere Einnahmen wegbrachen. Madrid ordnete öffentliche Feierlichkeiten an, wenn die Nachricht vom Eintreffen der Flotte den Hof erreichte. Zusätzliche Obligationen im Wert von fünf Millionen ducadas wurden zwischen 1621 und 1640 ausgegeben, um - als die Silber­ transporte ausblieben - die Vermögensanlagen der Kaufleute von Sevilla beschlagnahmen und in juros umwandeln zu können. Das Silber aus Amerika wirkte auf die europäische Politik wie ein Adre­ nalinstoß und förderte das Kriegsverlangen. Edelmetalle finanzierten nicht nur die ehrgeizigen Bestrebungen der Habsburger, sondern auch die ihrer Feinde. Gewinnung und Transport der Metalle wurden allerdings von Kauf­ leuten betrieben, nicht vom Staat. Die Schiffseigner, Kapitäne und Kaufleute von Sevilla bildeten den Kern eines mächtigen Konsulats für den Handel mit 126

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Amerika (bekannt als consulado). Sevillas Kaufleute fungierten als Steuerein­ treiber für die auf das Silber erhobenen Abgaben. Sie schlossen die Verträge für die Bevorratung der Silberflotte und die Heuer der Mannschaften. Sie machten sich unentbehrlich für den Warenverkehr nach Sevilla hinein und auch wieder hinaus nach Amerika, wussten sie doch einzuschätzen, was sich in den Kolonien gewinnbringend verkaufen ließ. Dann wurden die Waren auf Kredit von ausländischen Kaufleuten über deren Kommissionäre in Sevilla erworben. Die Schulden wurden mit den Einkünften aus dem Silber beglichen, das die Schiffskonvois anlieferten. Das amerikanische Silber strömte nach Sevilla, um die Stadt sofort wieder zu verlassen, damit die französischen, eng­ lischen und flämischen Kaufleute das Getreide und Salz, die Stoffe und Fer­ tigwaren lieferten, die dann ihren Weg in die Neue Welt fanden. Anfang des 17. Jahrhunderts agierten die Kaufleute von Sevilla als Front- oder Strohmän­ ner (prestanombres) für ihre Kollegen aus Nordeuropa. Abgesehen davon glichen die Handelswege für Silber und andere Güter all­ mählich einer überalterten Wasserleitung: Es gab viele Lecks, und mit der Höhe des Drucks stiegen auch die Verluste. Holländische und englische Schmuggler (interlopers oder "Schwarzhändler") richteten Stützpunkte ein, von denen aus sie direkt mit den spanischen Kolonien in der Neuen Welt Han­ del treiben und die Schiffskonvois stören konnten. Silbertransporte sickerten auf Überlandwegen von Peru in das Gebiet des heutigen Argentinien durch und gelangten von dort auf den europäischen Markt. Die Schmuggelei wurde fast zu einer Institution und trug dazu bei, das aufgeweichte spanische Mono­ pol für die amerikanischen Kolonien erträglicher zu machen. Diesen Trend verstärkte noch der Transfer an Edelmetall, der sich aus dem Unterhalt der habsburgischen Streitkräfte in Flandern ergab. Die Söldner aus Spanien, Ita­ lien, Deutschland und den Niederlanden erhielten Waffen, Kleidung und Nah­ rung durch Verträge mit Lieferanten, die allesamt mit spanisch-amerikani­ schem Silber (oder Gold, das mit dem Silber gekauft wurde) bezahlt wurden. So gelangte das Silber nach Nordwesteuropa und beschleunigte dort die Monetarisierung, wodurch sich die wirtschaftlich entwickelte Achse zwischen Norditalien und dem Rheinland weiter nach Norden verschob. Auf diese Weise gelangten Spaniens Feinde an das Geld, das sie brauchten, um Spanien in die Knie zu zwingen, was sie am Ende des Dreißigjährigen Krieges auch geschafft hatten. Die Edelmetalle aus der Neuen Welt heizten die militärischen Konflikte in Europa an, und sie hatten das Potenzial, sozialen Wandel herbeizuführen, indem sie die Kaufleute mit größerer Macht ausstatteten. In einigen Ländern, wie der im Entstehen begriffenen Republik der Vereinigten Niederlande, ist 127

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Derartiges zu beobachten. Doch in größerem Umfang blieb solcher Wandel aus, weil die europäischen Staaten so viel von ihrem Geld in Konflikte steck­ ten. Auch dieses Investment führte zu einem sozio-monetären Transfer, der das Geld allerdings anderswohin fließen ließ: in militärische Tapferkeit, adlige Familien, staatstragende Eliten und den Schutz der religiösen Orthodoxie. Das Silber landete in den Taschen der spanisch-habsburgischen Generäle und der Truppenkontingente, es finanzierte den Lebensstil der kaiserlichen Amtsträ­ ger und ihrer Familien, der Diplomaten und Informanten. Die spanische Oberschicht - ihre Adligen und Patrizier, ihre kirchlichen und karitativen Ins­ titutionen - investierte kräftig in Regierungsobligationen, sodass die Anleihe­ gläubiger ein wichtiges Element politischer Loyalität in schwierigen Zeiten darstellten. Ähnliche sozio-monetäre Transferprozesse vollzogen sich auch bei den Feinden Spaniens. In der staatsähnlichen Struktur der Republik der Ver­ einigten Niederlande entstand eine patrizische Elite, die das Geld, in dem sie schwamm, nicht protzig zur Schau stellen wollte, weil sie einem anderen, kon­ servativen Wertekanon verpflichtet war. In Frankreich wurde der heranrei­ fende absolutistische Staat zu einem machtvollen Instrument des sozio-mone­ tären Transfers insofern, als nun beträchtliche Gelder in mit Ämtern verbundene Privilegien und den Militärdienst flossen. Die Bourbonen-Mon­ archie ließ es billigend zu, dass der alte und neue Adel seinen Reichtum in Bauwerken, Kleidung und aristokratischem Auftreten zur Schau stellte.

Infrastrukturen in Handel und Kreditwesen Einige der größten Transformationen dieser Epoche vollzogen sich, ohne dass die Öffentlichkeit viel davon mitbekam. In Teilen von Mittel- und Westeuropa wurden die Finanzgeschäfte immer vielfältiger und komplexer. Die Haltung zu Krediten entspannte sich, Schulden spielten im privaten und öffentlichen Leben eine größere Rolle. Vor allem fielen die Transaktionskosten des Han­ dels. Es wurde leichter, Güter zu befördern, einfacher, Geld zu leihen, und preiswerter, damit Geschäfte zu machen. Man konnte ein Schiff und seine Ladung in großen Häfen versichern (in Antwerpen kostete das pro Monat ein Prozent des Werts von Schiff und Ladung), wobei die Kosten in Friedenszeiten fielen. Risiken verminderten sich auch durch die Verbreitung von zuverlässi­ geren und öffentlich zugänglichen Informationen. Um 1600 konnte sich ein Kaufmann über die Warenpreise und Wechselkurse in vielen europäischen Handelszentren informieren. Bei den Zinssätzen fand eine "stille Revolution" statt. Sie fielen dort, wo der Markt von der Stabilität der politischen Verhält128

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nisse profitierte. Neue Finanzinstrumente ermöglichten es den Leuten, über­ schüssigen Reichtum breiter gestreut anzulegen. Die Handelsaktivitäten wur­ den vielschichtiger und stärker diversifiziert. Auch der Einzelhandel, insbesondere der für Luxusgüter, spezialisierte sich. Begünstigt durch das Aufkommen von Einzelhandelsgeschäften nahm der Konsum in den europä­ ischen Großstädten zu. Die Belieferung der Märkte mit Waren und deren Ver­ fügbarkeit gewannen folglich ebenso an Bedeutung wie die dazu passenden Kreditverhältnisse. Doch bei all dem generierten die mit Krieg und politischer I nstabilität verbundenen Unwägbarkeiten weiterhin die hauptsächlichen Transaktionskosten. Dass sich die Einstellung der Menschen gegenüber dem Geldverleih in die­ ser Zeit veränderte, ist schwer zu belegen. Fast jeder benötigte irgendwann in seinem Leben einen Kredit. Selbst in Regionen, wo die Wirtschaft nicht voll monetarisiert war, musste man mit jeder Menge Schulden umgehen. Auf dem Land konnte die Mitgift ebenso zu Verschuldung führen wie etwa eine Miss­ ernte. Eine Rezession im Handel machte Handwerker arbeitslos und belastete die lokalen Mechanismen für das Schuldenmanagement Unvorhergesehene Risiken führten zu geschäftlichen Schulden unterschiedlicher Art. 1582 saßen in Rom sechs Prozent der Bevölkerung wegen Schulden im Gefängnis. Im Jahrhundert nach 1550 häuften sich vor Londoner Gerichten die Streitfälle in Schuldsachen. Die venezianische Gerichtsbehörde für geringfügige Forde­ rungen (die justicia vecchia) verhandelte gleichfalls viele Fälle von Schuldstrei­ tigkeiten gewöhnlicher Leute. Fast 40 Prozent klagten, weil sie für ihre Arbeit nicht bezahlt worden waren. In etwas mehr als 20 Prozent der Fälle ging es um Kaufschulden. Hier waren vor allem Weinhändler und Apotheker betroffen, die ihren Kunden Kredit einräumten. Weitere 20 Prozent hatten Dienstleis­ tungen der einen oder anderen Art zum Gegenstand. "Wann aber", fragt Pan­ tagruel den Panurg in Rabelais' Roman Gargantua und Pantagruel, "werdet ihr ausser Schulden seyn? - Im griech'schen Neumond, antwort Panurg, wann alle Welt vergnügt seyn wird, und jeder sein eigner Leibeserbe." Je höher jemand auf der sozialen Stufenleiter stand, desto tiefer war er wahrscheinlich in Schulden verstrickt. Im elisabethanischen England ver­ pfändeten der Herzog von Norfolk, die Grafen von Shrewsbury und Essex und andere Aristokraten regelmäßig ihr Tafelsilber, den Schmuck und gelegentli­ che Einkünfte, um ihren Lebensstil halten zu können. Das Einkommen des englischen Hochadels dürfte sich 1642 auf etwa 730 000 Pfund belaufen haben, seine Schulden waren doppelt so hoch. Die Paläste der europäischen Ober­ schichten waren Stein gewordene Zeugnisse einerseits von einem aufwendigen Lebenswandel, der zum Erhalt des sozialen Staus zwingend nötig war, und 129

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andererseits von einem durchaus erfolgreichen Schuldenmanagement Und Europas Fürsten, die weitaus höher verschuldet waren als ihre Vorgänger, taten dabei ganz an der Spitze mit. Schulden und Kredit spielten im Leben der Menschen auch deshalb eine sol­ che Rolle, weil sie moralisch konnotiert waren. Bankrott wurde weitgehend als Folge von Betrug angesehen, und der Umfang der dazu erlassenen Gesetze scheint für häufiges Vorkommen zu sprechen. Durch Zinsen erhielt der Kredit eine Dimension moralischer Bedenklichkeit, galt er doch nun als Wucher. Man war sich darin einig, dass Wucher eine Sünde sei, und die meisten Leute betrachteten ihn auch als Verbrechen. Keine Einigkeit herrschte indes darüber, wann genau von Wucher gesprochen werden konnte. Im kanonischen und weltlichen Recht war Wucher definiert als Geldverleih gegen eine garantierte Rückzahlung über die verliehene Summe hinaus und ohne Risiko für den Ver­ leiher. Humanisten und Theologen machten sich nun daran, diese Definition aus biblischen wie logischen Gründen in Zweifel zu ziehen. Sollten die Vor­ schriften des Alten Testaments auch für Christen gelten? Wenn ja, dann wurde eine Sünde nur begangen, wenn der Handlung auch die Absicht, Wucherzins zu erheben, zugrunde lag. Im Fall eines Annuitätendarlehens - einer Art von Hypothek - auf einen Besitz konnte man behaupten, das Geld kaufe die Rechte an den Früchten, die von dem geborgten Geld produziert wurden. Das Darle­ hen sah vielleicht aus wie ein Kreditgeschäft, doch war sie der Verkauf eines Rechts, eingekleidet in Land oder sonstige reale Vermögenswerte. Typischerweise wurden diese Themen im Spiegel der Religion diskutiert, in dem die ganze reale Welt betrachtet, beurteilt und gelebt wurde. Die Debatte ging quer durch die religiösen Spaltungen hindurch; die protestanti­ schen Theologen waren ebenso uneinig wie ihre katholischen Gegner. Luther neigte zu konservativen Auffassungen und misstraute Argumenten, die für den Zins sprachen. Nicht nur bei diesem Thema kreuzte er mit seinem katho­ lischen Opponenten, dem Prediger und Polemiker Johannes Eck, die Klingen. Doch akzeptierte er, dass es Umstände gab, in denen es legitim war, Zinsen zu nehmen (zum Beispiel bei Krediten für Studenten). Jean Calvin war von dem klugen französischen Juristen Charles Dumoulin beeinflusst, der die Erhebung von Zinsen abhängig machte von den Umständen, unter denen das Geld verliehen wurde. Die zentrale Frage war, ob die Höhe des geforderten Zinssatzes vernünftig war. Es sei nichts grundsätzlich Falsches daran, meinte er, wenn Geld gegen Zinsen an Personen verliehen werde, die das Geld pro­ duktiv verwendeten. Calvin übernahm diese Sichtweise, brachte sie aber nur in einem Privatbrief 1545 zum Ausdruck, in dem er den Empfänger bat, die Sache für sich zu behalten. 130

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Martin Bucer, der Reformator aus Straßburg, trat ebenfalls für den Geldver­ leih gegen Zinsen ein. Seine Ansichten wurden in einer Flugschrift verspottet, die 1550 in England unter dem Titel The Market, or Fayre of Usurers (Der Markt, oder die Wucherermesse) erschien. Die Schrift gibt einen erfundenen Dialog zwischen Pasquil (was in etwa "Spötter" bedeutet) und Usurer ("Wuche­ rer") wieder, wobei Letzterer (Bucer selbst) zu beweisen sucht, dass Wucher nicht notwendigerweise eine Sünde ist: "Ich spreche nicht, wie du denkst, von besonders hohen Zinsen, sondern nur von einem vernünftigen und anständi­ gen Gewinn." In Pasquils Antwort begegnen uns die traditionellen Auffassun­ gen jener Zeit über Wucher. Es gibt demnach nur zwei Arten von Geldverleih: den aus christlicher Nächstenliebe und den aus Gier. Wer Zins nimmt, begeht Diebstahl. Sollten aber schließlich doch Zinssätze gesetzlich festgelegt werden, musste die Welt, so wie sie nun einmal war, Berücksichtigung finden. Als das englische Parlament 1545 in dieser Sache tätig wurde, gestattete es jedenfalls Zinssätze bis zu zehn Prozent. In der Republik der Vereinigten Niederlande ging der Staat nur gegen unsozialen Wucher vor. Doch die dortige reformierte Kirche verfügte 1581, dass Geldverleiher mitsamt ihren Familien und Haus­ bediensteten nur dann am Abendmahlsgottesdienst teilnehmen durften, wenn sie öffentlich ihre Abneigung gegen den Bankiersberuf kundgetan hatten. Obschon der Geldmarkt noch nicht voll entwickelt war, wurde er komple­ xer und raffinierter. Die Kreditlinien konnten durch Rentenpapiere erweitert werden, und aus Landbesitz ließ sich Geld herausschlagen, indem man eine Erbrente aufnahm. Noch attraktiver waren Annuitäten auf öffentliche Ein­ nahmen. Dabei versah ein Kreditgeber eine Stadt- oder Staatsregierung mit einer großen Summe Geldes und erhielt im Gegenzug eine immerwährende oder lebenslange jährliche Zahlung. Diese Renten waren sehr beliebt und für beide Parteien von Nutzen. 1520 erklärte der Papst sie für rechtens; sie fielen also nicht unter die Gesetzgebung gegen den Wucher. Bald machten sich viele Regierungen und auch das Papsttum selbst die dadurch eröffneten Möglich­ keiten zunutze. Am Ende der ersten Dekade des 17. Jahrhunderts hatte das Papsttum zehn Millionen scudi Außenstände in Form von Annuitätendar­ lehen (monte), wobei die jährlichen Zinszahlungen etwa die Hälfte der regulä­ ren Einkünfte auffraßen. Der Stadtstaat Genua verzeichnete im Jahr 1600 den Gegenwert von 391,65 Tonnen Silber an ausstehenden Zinszahlungen für Ren­ ten, eine gewaltige Last angesichts seiner bescheidenen Ressourcen. In den Niederlanden begann mit der Ausgabe von Rentenpapieren eine finanzielle Revolution, durch die zuerst die holländischen Städte - Amster­ dam, Dordrecht, Gouda, Haarlern und Leiden - und dann sogar die Provinzen zum Bürgen für die Schulden der Habsburger Oberherren wurden. Diese 131

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Revolution definierte die Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrsch­ ten in den Niederlanden neu und öffnete den Provinzen die Tür zur finanzi­ ellen Unabhängigkeit, dank derer sie sich im folgenden Freiheitskampfbehaup­ ten konnten. Einer Schätzung zufolge mussten die ordentlichen Einkünfte Kastiliens (530 Millionen maravedis im Jahr 1559) zur Zeit des Bankrotts von Philipp II. im Juni 1557 für jährlich 542,7 Millionen maravedis an Zinszahlun­ gen auf juros aufkommen. Jeder Bankrott führte zu immer noch mehr juros, weil kurzfristig rückzahlbare Schulden im Zuge von Übereinkünften mit den Kreditgebern in langfristige Renten umgewandelt wurden. Da also die jähr­ lichen Einkünfte des Königshauses von den Zinszahlungen auf die juros auf­ gefressen wurden, blieben nur noch die Reichtümer von den Westindischen Inseln, gelegentliche kirchliche Subsidien und die alle drei Jahre fälligen Abga­ ben von den kastilischen Landgütern. Ab 1522 gab auch die französische Monarchie Rentenpapiere aus, die offizi­ ell über die angeblich unabhängige Stadtverwaltung von Paris liefen (rentes sur l 'h6tel de ville de Paris). Bedient wurden die Renten mit Zinszahlungen aus besonderen Einkünften. Während der Regierungszeit Heinrichs II. (15471559) wurden Rentenpapiere im Umfang von etwa 6,8 Millionen livres ver­ kauft. Gegen 1600 beliefen sie sich auf insgesamt 297 Millionen livres, unge­ fähr das 15fache der jährlichen Kroneinkünfte. Je mehr rentes die französische Monarchie verkaufte, desto häufiger geschah dies mit einem Abschlag, desto höher wurden die Zinsforderungen auf Einkünfte der Krone und desto größer folglich die Schulden (de facto ein verschleierter Staatsbankrott) . Nach den Kriegen mit der Heiligen Liga sichtete Sully, Finanzminister Heinrichs IV., die aufgelaufenen Schulden und schrieb all jene rentes, die mit Abschlag oder zu Zeiten der Heiligen Liga ausgegeben worden waren, einseitig ab. So diskutierte ganz Frankreich nach 1600 darüber, wie - wenn denn überhaupt - man einen souveränen König dazu verpflichten könne, das zurückzuzahlen, was er sei­ nen Untertanen schuldete. Wer in der Stadt lebte und einen Kredit brauchte, konnte sich an eine Viel­ zahl von mehr oder weniger professionellen Pfandleihern und Geldverleihern wenden. Das Konsumwachstum vergrößerte die Anzahl und Vielfalt der Waren, die als Pfand hinterlegt werden konnten. An vielen Orten waren auch Goldschmiede, Silberschmiede und Juweliere als Verleiher tätig, Sie wurden außerhalb Italiens als "Lombarden" bekannt (was sich in manchem Straßen­ namen niederschlug). Besonders in Deutschland und Osteuropa boten jüdi­ sche Kaufleute ein breites Spektrum an Finanzdienstleistungen an. Dagegen wurden vor allem in Südeuropa zunehmend karitative Einrichtungen mit der Aufgabe betraut, die Armen vor Wucherern zu schützen. In Italien nahmen 132

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diese frommen Institutionen (monti di pieta), ein Nebenzweig der religiösen Reformbewegungen, im Laufe des Jahrhunderts an Zahl und Umfang immer weiter zu. Die meisten bezogen ihr Kapital aus karitativen Stiftungen, die bis­ weilen als Gründungsziel festlegten, dass die Einrichtung lediglich dem einen Zweck dienen solle, den Armen Geld gegen geringe Zinsen zu leihen. Die grö­ ßeren monti verfügten über beeindruckende Mengen an Kapital (in Rom, Verona oder Turin über mehr als eine halbe Million Dukaten) und boten auch Einlagengeschäfte an. Aus nicht ganz ersichtlichen Gründen war dieses Modell nördlich der Alpen nur wenig erfolgreich, was sicher nicht an man­ gelndem Interesse lag. 1571 beschäftigte sich das englische Parlament mit ent­ sprechenden Vorschlägen, und der flämische Chronist und Unternehmer Pie­ ter van Oudegherste unterbreitete 1576 Philipp II. einen Plan, der Banken und Pfandhäuser im ganzen spanischen Reich vorsah, aber nie verwirklicht wurde. Allerdings gab es einige solcher Pfandleihen in holländischen Städten - das berühmteste war das 1614 gegründete Leihhaus (huis van lening) in Amster­ dam - und einige mehr in den Spanischen Niederlanden nach 1600. In den großen Städten gab es auch private Depositenbanken, die zumeist von Handelsbankiers oder ihren Kommissionären betrieben wurden. Erst all­ mählich kamen, zunächst in den 1570er-Jahren in Italien, übertragbare Schecks (polizze) in Umlauf. Das war Teil einer - wenngleich begrenzten Entwicklung von Girobanken, die Depotüberträge (girata) gestatteten. Im All­ gemeinen betrieben diese Privatbanken den Geldverleih auf der Grundlage eines Mindestreservesystems, was für ihre Stabilität hätte sorgen sollen. Tat­ sächlich aber gingen viele von ihnen bankrott, und die Leute verloren ihr deponiertes Sparguthaben. Das verstärkte die Auffassung, Banken seien nur dazu da, leichtgläubige Menschen um ihr Geld zu bringen. Sehr viel mehr Bedeutung unter den Kaufmannseliten hatte der Wechsel­ brief. Er war längst ein gängiges Instrument, um Zahlungen über Distanzen hinweg zu gewährleisten. Als er größere Rechtsverbindlichkeit und Glaubwür­ digkeit am Markt gewonnen hatte, wurde er auch das Mittel der Wahl, um Gelder von einer Währung in eine andere übertragen, Schulden im Ausland begleichen und Handel treiben zu können. "Ohne Wechsel läuft kein Handel", erklärte ein Kaufmann aus Antwerpen, "so wie ohne Wasser kein Segelschiff fährt." Gewitzte Kaufleute konnten daraus Profit schlagen, denn vom Ausstel­ len des Wechsels bis zu seiner Einlösung verging Zeit. Und wenn sich wäh­ renddessen der Wechselkurs änderte, erzielte einer der Beteiligten einen völlig legitimen Gewinn. Gerichte akzeptierten - zunächst im englischen Common Law, dann bald europaweit -, dass Wechselbriefe übertragen und zwischen verschiedenen Parteien gehandelt werden konnten. Damit hatten Kaufleute die Möglichkeit, sich selbst längerfristige Kredite durch Rück- oder Weiter133

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gabe (Indossament) oder durch Diskontierung zu sichern. Mitte des 17. Jahr­ hunderts war der Wechsel zu einem wesentlichen Bestandteil eines ausge­ klügelten multilateralen Zahlungssystems für den Handel geworden. Handel und Finanzen brauchten Nachrichten, um zu florieren; die neuesten Tipps aus anderen Handelszentren waren entscheidend für die eigenen Geschäftsentscheidungen. Die Archive der europäischen Kaufmannseliten quellen über von Rundschreiben, Mitteilungsblättern und Briefwechseln, in denen sich Familienklatsch neben Warenpreisen findet. Die 16 000 Mittei­ lungsblätter aus den Jahren 1568 bis 1605 in den Archiven der Augsburger Fugger erlauben uns, ein Auge darauf zu werfen, wie eine Familie, die den Fin­ ger am Puls des Geschehens hatte, sich ihre Nachrichten besorgte. Ihre Kom­ missionäre saßen in den großen Handelszentren - Antwerpen, Köln, Venedig und Rom - und schrieben von Hand Mitteilungsblätter, die eine Vielzahl von Nachrichten aus Europa, der Neuen Welt, Indien und dem Mittleren Osten enthielten. Man las darin detaillierte Berichte über alle möglichen Ereignisse, von Königskrönungen bis zu gewöhnlichen Straßenverbrechen. Eine Ausgabe enthält die Geschichte eines Schuldners, der in einem Festspiel den Christus mimte und von seinem Gläubiger in der Rolle des Judas festgenommen wurde. 1582 beschäftigte sich eine ganze Folge dieser Blätter mit Beschreibungen des 51 Tage währenden Festes in Konstantinopel anlässlich der Beschneidung des 15-jährigen Mehmed, Sohn des regierenden Sultans Murad. Allerdings wur­ den auch Warenpreise und Wechselkurse regelmäßig veröffentlicht; die frü­ hesten bekannten Exemplare solcher Nachrichtenblätter lassen schlaglichtar­ tig erkennen, welche Orte Europas führende Handelszentren um 1600 waren. Derzeit verfügten die meisten großen Handelsstädte bereits über eine Börse, also ein Gebäude, in dem Kaufleute das ganze Jahr über Handel trei­ ben konnten und das zusätzlich mit Ladengeschäften ausgestattet war. In Neapel befand sich die von den Kaufleuten genutzte Loggia an der Piazza del Mercato, in Venedig spielte sich der Handel am Campo di Rialto ab, dem Her­ zen des Kaufmannsviertels. In Harnburg eröffnete die Börse 1 558; man orien­ tierte sich dabei an der Antwerpener Börse, die 1531 ihre Pforten geöffnet hatte. Die Londoner Börse wurde 1 569 erbaut und hatte im Obergeschoss Läden (einige davon wurden von Frauen geführt). Ladengeschäfte führten eine friedliche Koexistenz mit Märkten und Messen als Teil der wachsenden Komplexität des Einzelhandels in Europa. Londons Cheapside war im 16. Jahrhundert die längste und breiteste Durchgangsstraße der Stadt und zugleich das Zentrum des Marktviertels. Auf der einen Straßenseite breitete sich ein Lebensmittelmarkt aus, während die andere von Verlegern und Buchhändlern eingenommen wurde. Im Erdgeschoss der Gebäude entlang 134

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der Straße konnten Läden gemietet werden. Thomas Platter, ein Medizinstu­ dent aus Basel, betrachtete 1 599 fasziniert die Auslagen und staunte über die großen Schätze und Geldmengen, die er in "The Naked B oy", "The Frying Pan" oder "The Grasshopper" (so die Namen von einigen Läden in Cheap ­ side) zu Gesicht bekam. Warenhäuser boten eine Art Bühne für den Einzel­ handel. In Venedig entstand auf dem Rialto gegenüber dem Canal Grande 1 5 5 0 - 1 554 mit den Fabbriche Nuove ein brandneuer Gebäudekomplex für Speicher und Büros. Kleinstädte in Norditalien - Imola, Pomponesco, Carpi und Gazzuolo - zeigen immer noch das Muster von Hauptstraßen und Plätzen, die damals neu gestaltet und mit Läden gesäumt wurden. Der Buch­ vertrieb sei hier als charakteristisches Beispiel für allgemeinere Trends ange­ führt. Um 1600 hatten Verlagsdruckereien Großhandelstechniken entwickelt, um ihre Produkte auf den Markt zu bringen. Dazu gehörten Anzeigen, Kata­ loge, die auf den internationalen Messen verteilt wurden, Agenten und Fach­ händler. Zunehmend aber gab es daneben auch Buchhändler, die Läden betrieben und den lokalen Markt am besten kannten. Zu dieser Zeit bedeutete "Kapital" den konsolidierten Reichtum eines Kauf­ manns oder einer Institution, wobei andere Begriffe, die dasselbe meinten, gebräuchlicher waren. Europas Kapitalismus war in dieser Zeit noch nicht auf das Wachstum von Finanzstrukturen (wie Banken oder Kreditbriefe), von Industrieproduktion und Lohnarbeit fokussiert. Kredit, Handel und sonstige Transaktionen beruhten stets auf persönlichen Beziehungen, und die europä­ ischen Kaufleute waren mehr daran interessiert, in Ländereien, Eigentums­ rechte, Ämter oder karitative Unternehmen zu investieren als in die industri­ elle Produktion. Insofern ließen sich ihre Investitionen auch nicht einfach in flüssiges Vermögen umwandeln. Persönliche Bindungen, wie etwa die Ein­ schätzung der Kreditwürdigkeit einer Person auf individueller Basis, waren wesentlich. Europas große Kaufmannshäuser waren Netzwerke von Familien, häufig mit ethnischen oder religiösen Verbindungen untereinander. Diese Familienunternehmen sorgten für ein gewisses Maß an Stabilität in den Han­ delsbeziehungen, obwohl die meisten opportunistisch agierten, keine Profitge­ legenheit ausließen und selten mehr als drei Generationen Bestand hatten. Europas Finanzsystem gedieh aufgrund einer Vielzahl von Gegebenheiten. Es benötigte keine repräsentativen Institutionen, allerdings waren stabile Staatswesen eine Hilfe. Mit Regierungen, die ihre Schulden nicht zurückzahl­ ten, wusste es notfalls zu leben; verheerende Auswirkungen konnte es jedoch haben, wenn Regierungen durch Wertminderung an der Währungsschraube drehten. Es war bei Krediten nicht besonders preisempfindlich, und es bot Agenten, Kommissionären und Zwischenhändlern reichlich Gelegenheit, ihre 135

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

Dienste anzubieten. Um 1650 waren Finanzmakler allerorten so wichtig wie nie zuvor. Bei so vielen Finanziers und ihren Agenten und so viel Verschwie­ genheit nahmen die Geschäfte immer mehr Tempo auf, doch sah das System stabiler aus, als es tatsächlich war.

Inflation und Münzentwertung Die Inflation gehörte im 16. und frühen 17. Jahrhundert zum Leben. Der Durchschnittspreis für ein setier (einen Sack Getreide mit einem Inhalt von zwölf Scheffeln, was circa 436 Litern entspricht) Weizen von bester Qualität kostete im Jahr 1500 auf dem Pariser Markt etwas mehr als ein livre. Von da an stieg der Preis beständig: 1550 waren es 4,15 livres, 1600 dann 8,65, und 1650 lag der Preis bei 18 livres. Aufs Jahr gerechnet war der Anstieg moderat. Insgesamt gesehen war es die bis dahin längste Inflationsperiode überhaupt ein Phänomen, das die christlichen Vorstellungen von Wohlstand und gerech­ tem Lohn infrage stellte. Im 16. Jahrhundert fand eine lebhafte Diskussion über die Ursachen der Teuerung statt. Manche Kommentatoren machten die wachsenden Geld­ bestände für die Preiserhöhungen verantwortlich, konnten sich aber die Bezie­ hung zwischen Geldmenge und -wert nicht recht erklären. Der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus beschäftigte sich ausführlich mit den Auswir­ kungen der Münzentwertung im Land und stellte in einem Gutachten über die preußische Münze fest: "Es kann ouch die Müncze in vorachtunge kom­ menn aus derselbige unmesigen fylheit." Francisco L6pez de G6mara mut­ maßte in seiner Historia general de las Indias (Geschichte der Westindischen Inseln, 1552), die steigenden Preise in Amerika seien dadurch zu erklären, dass "der Reichtum der Inkas in spanische Hände geriet". Martin de Azpilcueta (mit dem Beinamen "Navarrus", weil er aus Navarra in den Westpyrenäen stammte), ein berühmter Professor und Vertreter der Scholastik an der Uni­ versität Salamanca, verallgemeinerte G6maras Sichtweise in seiner Abhand­ lung über Wechsel- und Wuchergeschäfte (Comentario resolutorio de cambios, 1556): "Ceteris paribus sind in Ländern, wo große Geldknappheit herrscht, alle anderen verkäuflichen Güter und sogar die menschlichen Arbeitskräfte für sehr viel weniger Geld erhältlich als dort, wo es im Überfluss vorhanden ist." Das Problem, wie er und seine Kollegen, die an der Universität Naturrecht und Moraltheologie lehrten, es sahen, bestand darin, diese Marktkräfte mit den Imperativen sozialer Gerechtigkeit, fairer Preise und dem Schutz der Interessen der Armen in Einklang zu bringen. 136

4. Schätze und Geschäfte

Wurde die Inflation durch die Silberimporte aus der Neuen Welt verur­ sacht? Die Verbindung zwischen Preiserhöhungen und Importen ist nicht so eng wie vormals angenommen. Die Inflation begann im 16. Jahrhundert bereits, bevor die Importe überhaupt einsetzten, und die lückenhaften Quel­ lenbelege nach 1600 lassen die Verbindung später als instabil erscheinen. Das widerlegt allerdings nicht die allgemeinere, von soliden ökonomischen Theo­ rien gestützte Annahme, dass die Inflation sehr viel mit den Veränderungen in der Geldmenge zu tun hatte. Die entscheidende Frage lautet nun: Warum führten diese Veränderungen zu einer allmählichen und nicht etwa zu einer galoppierenden Inflation? Wir können hier nur feststellen, dass es glückliche Umstände gab, dank derer ein bedeutender Anteil der Edelmetallgewinne abgezweigt wurde, um den Handel mit Russland und dem Fernen Osten anzu­ heizen. Ohne diese Sicherheitsventile wäre es mit Europas "silbernem Zeital­ ter" schnell zu Ende gegangen. Dass die europäischen Herrscher diese Mechanismen nicht verstanden, ist anhand der diversen Münzentwertungen zu erkennen, die sie selbst vornah­ men, auch um die Geldmenge zu beeinflussen. Eine solche Maßnahme zielte darauf ab, das Gewicht einer Münze oder ihren Gehalt an Edelmetall zu ver­ ringern, um so die Anzahl der Münzen mit einem bestimmten Nennwert, die aus einer gegebenen Menge Edelmetall hergestellt werden konnten, zu ver­ mehren. Die Operation war so verlockend, dass sie in regelmäßigen Abstän­ den durchgeführt wurde. Die habsburgische Verwaltung in Burgund ver­ schlechterte die Silbermünzen in puncto Feingehalt und Gewicht zwischen 1521 und 1644 zwölfmaL Die englischen Münzen verloren zwischen circa 1520 und 1650 mehr als 35 Prozent ihres Silbergehalts; am meisten in einem Jahr­ zehnt wirtschaftlichen Wahnsinns, das zum Ende der Regierungszeit Hein­ richs VIII. begann und als "Great Debasement" (1544-1 553) bekannt wurde. In Frankreich führten wiederholte Verschlechterungen dazu, dass die vorherr­ schende Silbermünze (der ecu blanc) um 1650 weniger als die Hälfte des Sil­ bergehalts besaß als ihr Vorgänger 1488. In den deutschen Territorien nutzten die Münzbetreiber ihre Konzession, um das Geld zu verschlechtern, was zur sogenannten Kipper- und Wipperzeit führte. In der Bevölkerung machte sich Hass auf die "Fälscher" und "Betrüger" breit, die ihrer Meinung nach hinter der Verschlechterung steckten. Die ganze Periode wurde allgemein als Omen für das nahende Zeitenende verstanden. Selbst die spanische Krone, die im 16. Jahrhundert von Verschlechterung noch Abstand nahm, führte 1607 bei geringwertigen Münzen eine besonders katastrophale Operation durch. Der Münzentwertung war eine eigene Fachdebatte gewidmet. Der englische Autor Sir Thomas Smith sah in seiner Schrift De republica Anglorum (Über 137

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den Staat der Engländer; veröffentlicht 1583, geschrieben aber früher) die Ver­ schlechterung als Betrug seitens der Fürsten. Auf der anderen Seite des Kanals vertrat Jean Cherruyer (oder Cherruyl), Seigneur de Malestroit, ein Geldspezi­ alist der französischen Krone, 1566 die Auffassung, dass die Inflation wegen der wiederholten Münzentwertung eher imaginär als real sei. Es sei ein "Para­ dox", dass die Waren sich verteuert hätten. Vielmehr könne mit derselben Menge Silber, dank der Wirkung der Münzentwertung, weiterhin dieselbe Menge an Getreide erworben werden. Zwei Jahre später fand er seinen Meister in dem aufstrebenden Juristen Jean Bodin. Seine Antwort auf Malestroits "Paradox" berief sich auf empirische Beweise, um gegen Malestroit zu zeigen, dass es tatsächlich eine umfassende Inflation gegeben habe. Zumindest in der zweiten Auflage seines Buches neigte Bodin zu der Ansicht, dass dies das Ergebnis der Silberimporte aus Amerika gewesen sei. In jedem Fall hielt er es für ein Zeichen von Tyrannei, wenn Fürsten auf Kosten des Gemeinwohls Währungen manipulierten. Besser wäre es, wenn die Münzen jeweils das an Edelmetallgehalt enthielten, was die Prägung besagte. Bodin erkannte, dass es zwischen Münze und guter Regierung einen fundamentalen Zusammenhang gab, auch wenn schon zu seinen Lebzeiten die Werte eines Gemeinwesens der härteren und stärker autoritären Tonart des Gehorsams gegenüber dem abso­ luten Willen eines Fürsten weichen mussten. Im 17. Jahrhundert wurde Reichtum an Edelmetallen als so etwas wie ein Giftkelch betrachtet. "Kolumbus hat einem von euren Königen Gold angebo­ ten", schrieb der englische politische Denker James Harrington, "doch weil dieser glücklicherweise skeptisch war, trank ein anderer Fürst das Gift, selbst zum Verderben seines eigenen Volks." Es war Gott selbst, meinte der berühmte spanische Diplomat Diego de Saavedra Fajardo in seinen Empresas politicas (Politische Sinnsprüche, 1640), der die Edelmetalle tief im Erdboden versteckt hatte, damit nie mehr davon verwendet würde, als man zu Handelszwecken benötigte. Unbegrenzter Reichtum wie der aus den Minen von Mexiko und Peru war im Grunde nichts anderes als Katzengold (Eisenkies), aber "Wer hätte nun nicht meinen sollen", spielte er auf eine berühmte Bemerkung von Justus Lipsius an, "daß das Gold der neuen Welt nicht auch noch mehrers sollte erlanget werden? " In einer tieferen Schicht beinhaltete die D ebatte um den Wert des Geldes noch eine andere D iskussion, die von Humanisten unter Berufung auf die antiken D enker geführt wurde. D abei ging es um das richtige Verhältnis zwischen Geschäft (negotium) und einem Leben in Muße (otium). A ristote­ les hatte gelehrt, dass der Erwerb von Reichtum zur guten H aushaltsfüh­ rung gehöre, solange er zur Beschaffung von Lebensnotwendigem verwen138

4. Schätze und Geschäfte

det werde. Ansonsten verderbe Reichtum diej enigen, die ihn anhäuften. Andere, wie etwa der holländische Gelehrte Dirck Volckertszoon Coorn­ hert, hielten dagegen, ein Kaufmann könne durchaus ein guter Christ sein, wenn er nämlich Reichtum erwerbe, um ihn für gute Zwecke zu verwenden. Im 17. Jahrhundert erhielt die D iskussion neue Akzente. In den 1630er- und 1640er-Jahren argumentierten französische Intellektuelle, amour p ropre (Eigenliebe) sei der eigentliche Antrieb für moralisches Verhalten: Freund­ schaft könne auf der Verfolgung gemeinsamer und doch eigennütziger Inte­ ressen beruhen, und die Jagd nach Reichtum um seiner selbst willen führe nicht in die Korruption, sondern liege im allgemeinen Interesse. Der hollän­ dische Jurist Hugo Grotius behauptete, das grundlegendste Gesetz der Natur sei das Recht auf Selbsterhaltung, und demzufolge sei das natürlichste Menschenrecht das Eigeninteresse. Es ist also, folgerte er, nicht notwen­ digerweise schlecht, das eigene Interesse, worunter auch der Erwerb persön­ lichen Reichtums falle, zu verfolgen. Solche Ideen gehörten zwar nicht zum Mainstream, zeigten aber, wie weit man sich in Europa um 1650 schon von jenem moralischen Konsens entfernt hatte, der am Vorabend der Reforma­ tion im Christentum geherrscht hatte. Thomas Hobbes, der einige Zeit in Gesellschaft französischer Intellektu­ eller verbracht hatte, veröffentlichte seinen Leviathan 165 1 . Der Titel bezog sich auf jenes in der Bibel erwähnte Meerungeheuer, das man sich als schre­ ckenerregenden Wächter am Höllentor vorstellte. Bei Hobbes ist der "Levia­ than" ein moralisch neutraler Souverän, der über die menschlichen Indivi­ duen herrscht, die ihrerseits von ihren jeweiligen eigensüchtigen Wünschen und Begierden beherrscht werden. Diese aber sind, sagt Hobbes, an und für sich weder gut noch böse, "denn diese Worte . . . werden stets mit Beziehung auf die Person benutzt, die sie gebraucht; nichts ist nämlich einfach und absolut so". Im Naturzustand hat jeder Mensch ein Recht auf alles, " sogar auf den Körper eines anderen", was im Ergebnis einen Krieg aller gegen alle bedeute, in dem das Leben der Menschen "einsam, armselig, widerwärtig, vertiert und kurz" sei. Für Hobbes ist es die kluge Vereinigung aller Eigen­ interessen, welche die Macht des souveränen Herrschers schafft: Die Men­ schen kommen darin überein, einige ihrer Konkurrenztriebe aufzugeben, damit sich unter der Herrschaft von Recht und Gesetz eine zivile Gesell­ schaft bilden kann. Freilich behauptet Hobbes nirgendwo, dass das Streben nach Reichtum und Gewinn jenseits dessen, wozu der souveräne Herrscher es erklärte, an sich gut oder schlecht sei, weshalb die Zeitgenossen im Levia­ than den Aufriss eines politischen Universums sahen, in dem der Fürst bestimmte, was moralisches Verhalten in der Gesellschaft war. 139

5 . Adli ge Beschäfti g un gen

Ritter ohne Fortune

E Hand zu verteidigen. Die von der Kirche zu diesem Zweck gegründete

s war der Seinsgrund des Adels, das Christentum mit der Waffe in der

Institution war das Rittertum. Im Zentrum stand das Ritual des Ritter­ schlags, womit der Ritter eine Weihe erhielt, die ihn zur Ausübung seiner Christenpflichten befähigte. Der aristokratisch-ritterliche Verhaltenskodex für K rieger, der durch Rituale und Etikette der Ritterorden vermittelt wor­ den war, wurde im späteren M ittelalter - auch durch den Einfluss von Benimmbüchern und eine aufblühende, in der Umgangssprache verfasste Romanliteratur - in ein allgemeineres Ethos überführt. Schon um 1 500 war die Klage verbreitet, das Rittertum sei in Verfall begriffen. Doch waren frühe gedruckte Ritterromane nach Art des Amadis de Gaule (ein französi­ scher Abenteuerroman, der auf einer spanischen Geschichte beruhte) in Versen und Prosa immer noch sehr beliebt. Sie waren die Lieblingslektüre des jungen Philipps II., und als 1 548 in Binehe zu seinen Ehren die A rtus­ geschichte inszeniert wurde, stellte das die Verwirklichung seiner Träume von Ritterlichkeit dar. Auch weiterhin wurden Rituale wie Ritterschlag oder Turnier an den Fürstenhöfen gepflegt (eine Sitte, die erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts allmählich abklang). Das Fortleben solcher Bräuche ist ein Indiz dafür, dass das Rittertum für die adligen Eliten die Möglichkeit bot, sich von der zunehmend brutaler werdenden Welt des Kriegs in eine von so höfischen wie höflichen Rittern bevölkerte Scheinwelt zurückzuziehen, in der es weder lästige Geistliche noch protestierende Bauern gab. Das Rittertum starb also nicht einfach dahin, sondern nahm eine andere Rolle an, bis es, wie das Christentum, ins Reich der Fantasie verbannt wurde. Es geriet zu einem höfischen Verhaltenskodex für den Adelsstand, in dem sich das Wesen der heranreifenden politischen Obrigkeit ebenso niederschlug wie Gehorsam und Dienstbereitschaft, die nun von den weltlichen Eliten 140

5. Adlige Beschäftigungen

erwartet wurden. Als militärisches Ethos hatte sich das Rittertum in Konflik­ ten verflüchtigt, in denen es nicht länger darum ging, das Christentum gegen seine Feinde zu verteidigen, sondern eine seiner Versionen über die andere triumphieren zu lassen und gleichzeitig die dynastischen Ziele von Fürsten­ häusern durchzusetzen. Auch der Adel veränderte sich in dieser Zeit grund­ legend. Er bezeichnete nunmehr einen vererbbaren sozialen Status, der von militärischem Können abgekoppelt war. Im 16. und 17. Jahrhundert bean­ spruchten die Adligen zwar die Würde der Ritterschaft, doch nahm die Mehrheit von ihnen nie an einer Schlacht teil. Man trug ein Schwert, war Mit­ glied in einem Ritterorden und bediente sich der Symbole und Umgangsfor­ men des Rittertums, um seine Adelswürde zu demonstrieren. Beispielhaft dafür steht Giovanni della Casas Galateo, ein - wie der Unter­ titel sagt - Traktat über die guten Sitten. Torquato Tasso inszeniert, inmitten persönlicher und gegenreformatorischer Wirren, in seinem Versepos La Gerusalemme liberata (Das befreite Jerusalem, 1580) den Ersten Kreuzzug. In einer Welt moralischen Verfalls wurden Liebe, Heldentum und Selbstaufop­ ferung zu Zeichen wahren Adels. Eine Szene aus dem Epos inspirierte Clau­ dio Monteverdi zu seinem bahnbrechenden Duett im Madrigal Il combatti­ mento di Tancredi e Clorinda (Der Kampf zwischen Tancredi und Clorinda, 1624). Luis de Camöes' Os Lusiadas (Die Lusiaden, 1 572) benutzte Motive des Ritterromans, um die portugiesische Entdeckung der Meeresroute nach Indien zu feiern, während Edmund Spensers The Faerie Queene (Die Feen­ königin, 1 590 und 1 596) das Rittertum in eine Welt des magischen Realismus versetzte, worin die Zeitgenossen eine Verklärung der elisabethanischen Expeditionen nach Irland und den Niederlanden erblicken konnten. Ritterromane waren beliebt, weil sie die Kluft zwischen Illusion und Reali­ tät der Adelswelt überbrückten. Allerdings zeigte ein Werk die Kluft in ihrer ganzen Breite und Tiefe. Miguel de Cervantes Saavedra erlebte selbst die Zer­ rissenheit eines Adligen, der ein Christentum verteidigen wollte, das es so nicht mehr gab. Darüber schrieb er später den Roman El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha (Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, 1605/ 1615). Der Autor entstammte einer verarmten Adelsfamilie; sein Groß­ vater väterlicherseits war Kaufmann in C6rdoba gewesen, sein Vater Schatz­ verwalter der Inquisition und (dank aristokratischer Patronage) Richter an einem Berufungsgericht. Fragte man Zeitgenossen, ob die Cervantes von adli­ gem Stand seien oder nicht, erhielt man zur Antwort, dass sie augenscheinlich niemals Steuern zahlten, dass sie sich in Seide kleideten und dass die Söhne "oftmals auf guten und starken Pferden beim Turnier anzutreffen" seien. Als die Familie verarmte, versuchten die Söhne den Anschein aufrechtzuerhalten 141

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und zugleich in der Welt voranzukommen. Nach einer Zeit in Sevilla fasste Miguel den Plan, zu den spanischen Kolonien in Amerika aufzubrechen, wurde aber zurückgewiesen. Auf der Flucht vor der spanischen Justiz - Ende 1568 hatte er sich am spanischen Hof in Madrid duelliert - trat er in auslän­ dische Dienste, zuerst bei einem Kardinal in Rom, dann in Neapel. Wie viele seiner Zeitgenossen sah sich Cervantes vor die Alternative gestellt, ein Mann der Feder oder des Schwerts zu werden: "Denn wenn auch die Gelehrsamkeit mehr Familienmajorate hat als das Waffenwerk, so haben doch die durch den Wehrstand gegründeten vor denen, die der Gelehrten­ stand gegründet, ein gewisses Etwas voraus, dazu eine A rt Glanz, der ihnen den Vorzug vor allen verleiht." So nahm er denn das Schwert und ging mit seinem Bruder Rodrigo an Bord einer Galeone, um an der Schlacht von Lepanto (1 571) teilzunehmen. Dabei wurde er an der Brust getroffen und seine linke Hand zerschmettert. Auf der Rückfahrt nach Spanien nahmen ihn 1 575 Freibeuter gefangen, und er musste fünf Jahre in einem Gefängnis in Algier verbringen. Die Freibeuter verlangten von der Familie 5000 escu­ dos Lösegeld. Seine Angehörigen verkauften ihre Habe, um das Geld bezah­ len zu können. Sie baten auch den königlichen Rat um H ilfe, aber vergebens. Derweil unternahm M iguel mehrere vergebliche Ausbruchsversuche, hatte aber endlich Glück, als drei Brüder des Mercedarierordens in Algier anka­ men. Sie waren von Valencia ausgesandt worden, um christliche Sklaven zu befreien, und konnten M iguel aus den Fängen eines für seine Grausamkeit bekannten griechischen Freibeuters loskaufen. Durch seine Verletzung war Cervantes nunmehr gezwungen, von der Feder zu leben. Er arbeitete zunächst - 1 587/88 - als Munitionsmeister für die A rmada, was zu einer Inhaftierung wegen Korruptionsverdachts führte. Sein Bruder blieb Soldat und war, bei schlechter Bezahlung, in Flandern tätig. Im Gefängnis schrieb Miguel die ersten Kapitel dessen, was später der Roman über die Abenteuer von Alonso Quijano wurde, einem Landadligen aus einem Dorf in der Mancha: Die ausgiebige Lektüre von Ritterromanen hat die Fantasie des Helden so stark angeregt, dass er nicht mehr isst noch schläft. "Und so, vom wenigen Schlafen und vom vielen Lesen, trocknete ihm das Hirn so aus, dass er zuletzt den Verstand verlor." Er entschließt sich, ein fahrender Ritter zu werden. Alonso legt eine Rüstung an, nennt sich " Don Quij ote" und zieht auf einem mageren Pferd mit Namen " Rosinante" und in Gesellschaft eines Kleinbauern namens Sancho Pansa als seinem Knappen auf und davon. Er nimmt als fahrender Ritter, der er zu sein glaubt, den Kampf gegen jedermann auf - und scheitert ein ums andere Mal. In einer berühmt gewordenen Szene erblickt er am Horizont ein paar Windmühlen, 142

5. Adlige Beschäftigungen

die zur Landschaft der Extremadura gehörten, aber auch symbolisch für die Rebellen in den Spanischen Niederlanden standen. "Jetzt leitet das Glück unsere Angelegenheiten besser, als wir es nur immer zu wünschen vermöch­ ten", sagt Don Quij ote, "denn dort siehst du, Freund Pansa, wie dreißig Rie­ sen oder noch etliche mehr zum Vorschein kommen; mit denen denke ich einen Kampf zu fechten . . . denn das ist ein redlicher Krieg, und es geschieht Gott ein großer Dienst damit, so böses Gezücht vom Angesicht der Erde weg­ zufegen." Als der praktisch veranlagte Sancho Pansa zu bedenken gibt, dass da gar keine Riesen seien, antwortet Don Quijote mit dem Optimismus des­ sen, der in seinen Illusionen gefangen ist: "Wohl ist' ersichtlich, daß du in Sachen der Abenteuer nicht kundig bist." Sancho Pansas Replik erfolgt später im Buch: " . . . ich habe sagen hören, was man in der Welt Fortuna nennt, das sei ein betrunkenes und launisches und obendrein blindes Weib." Das Glück, zur damaligen Zeit dem Adel anzugehören, beruhte jedenfalls mehr auf Frau Fortuna als auf der Verteidigung des Christentums.

Merkmale sozialer Distinktion Europas stratifizierte Gesellschaften standen vor der schwierigen Aufgabe, Gefühle wie Hass o der Groll im Zaum zu halten. Familienfehden und Sozi­ alneid wirkten sich zerstörerisch aus, wenn in einer Gesellschaft der Reich­ tum begrenzt, allseits begehrt und nur auf Kosten anderer zu erwerben war. Der p otenzielle Schaden wurde durch den religiösen Konflikt zwischen Pro­ testanten und Katholiken noch verschärft. Ein Umgang damit waren ritu­ elle Gesten und sonstige kulturelle Ausdrucksformen, die der sozialen Dis­ tinktion dienten. In einer ständisch gegliederten Gesellschaft waren solche Unterscheidungsmerkmale die tägliche Manifestation dessen, was das Christentum zusammenhielt. 1580 begab sich der polnische Magnat Stanislaw Siedenski von Masuren in das südostpolnische Grenzgebiet um Przemysl, eine Stadt, die inmitten von Adelslatifundien an der Straße durch die Karpaten nach Ungarn lag. Dort errichtete er einen Palast um einen Innenhof. Dessen vier Flügel standen für die vier Weltgegenden, und die Ecktürme erhielten ihre Namen nach den tragenden Säulen der Ständegesellschaft der "Göttliche", der "Päpstliche", der "Königliche" und der "Adlige". Vor dem Palast lag ein See, über den eine Brücke zum Eingangstor führte, das ein viereckiger Glockenturm zierte. Hier wurde 1608 das polnische Königspaar begrüßt: Sigismund III. und Constanze von Österreich. Begrüßungs- und Abschiedszeremonien waren wichtige 143

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Rituale einer Ständegesellschaft, und nirgendwo waren sie ausgefeilter als in dem "Paradies" des polnisch-litauischen Edelmanns. Zur Begrüßung waren diverse Arten des Verbeugens, Händeschüttelns, Küssens und Knicksens vor­ gesehen. Der Turm über dem Tor diente dem Zweck, dass Bedienstete die Straße beobachten und hochwohlgeborenen Besuch rechtzeitig melden konn­ ten, um ihn am Tor standesgemäß zu begrüßen. Hüte spielten bei der Zere­ monie eine wichtige Rolle: Sie wurden im Moment der Verbeugung so tief gezogen, dass sie den Boden streiften. Bei offiziellen Feierlichkeiten in Polen wurden sie bei jeder Erwähnung von König oder Papst gelüftet. Die körper­ liche Umarmung, die man zunächst als eher plebejischen Brauch betrachtet hatte, wurde zum unverzichtbaren Element in den Zeremonien der Adligen. Bauern waren verpflichtet, ihren Herren die Hände zu küssen, und der nie­ dere Adel sollte dasselbe bei höhergestellten Magnaten tun, die je nach dem Rang des betreffenden Individuums die Handschuhe auszogen oder nicht. Wie man ging, sich kleidete, sprach und ritt - all das zeigte an, wer man war. B enimmbücher unterwiesen darin, wie man die Körpersprache ein­ setzte, um die eigenen Emotionen zu zügeln und den Raum um sich herum zu beherrschen. Einige Gesten oder Haltungen wurden nicht gebilligt, so etwa das männlich-adlige Imponiergehabe, das wir auf vielen Bildern aus dieser Zeit sehen. D iese Körperhaltung - der Porträtierte steht da, in der einen Hand einen Kommandostab, eine Peitsche o der Lederhandschuhe, die andere Hand auf der Hüfte und das Gewicht auf dem Standbein konnte staatsmännische Zurückhaltung o der auch Pfaueneitelkeit signali­ sieren. Jedenfalls wirkte es auf anmaßende Weise raumgreifend, in morali­ scher wie politischer Hinsicht. Frans Hals' Lachender Kavalier (1624) lacht uns nicht an, sondern stößt uns den Ellbogen ins Gesicht. Wie sich Adlige zu benehmen und verhalten hatten, wurde ihnen von Tutoren eingeimpft - und ab 1600 zunehmend von Akademien, die sich auf die Vermittlung der Reit- und Fechtkünste spezialisiert hatten. Der Tanz war dabei ein wichtiges Element: Der polnische Adel lernte die " Polonaise", von der Reisende gern berichteten. Für die Angehörigen der Oberschicht wurde es zunehmend schwieriger, die Grenzen der sozialen Konvention zu überschrei­ ten; König Sigismund III. wurde vom polnischen Landadel verspottet, weil er eine Schwäche für das Fußballspiel hatte. Familienbücher des polnischen Adels verzeichnen die gewundenen Höflichkeitsformeln, derer man sich bediente, wenn man einen Nachbarn zur Jagd einladen, ihm zu einem Trau­ erfall kondolieren oder zu einer sicheren Heimreise gratulieren wollte. Die stille Revolution, die sich im europäischen Kommunikationsdurst ereignete, sorgte auch für ein größeres Bewusstsein der feinen sozialen Unterschiede 144

5. Adlige Beschäftigungen

und der diversen Möglichkeiten, für Distanz zwischen sozialen Gruppen zu sorgen. Wie die vier Türme des Palastes von Krasiczyn bei Przemysl andeu­ ten, hatten Königshof und katholische Kirche viel mit der Verfeinerung von Ritualen zur sozialen Distinktion zu tun, ebenso jedoch der Ehrgeiz, ein got­ tesfürchtiges Gemeinwesen zu schaffen, in dem die Menschen wussten, wo sie hingehörten, und dementsprechend handelten. Damit beschäftigten sich die Schriften von Szymon Starowolski, der selbst aus einer verarmten litauischen Adelsfamilie stammte und sein Leben damit verbrachte, die Söhne von Mag­ naten zu unterrichten. In seiner Schrift Reformacja obyczaj6w polskich (Reform der polnischen Sitten) stellte er eine idealisierte Welt dar, in der sozi­ ale Abstufungen durch je verschiedene Pflichten bestimmt sind. Träume von gesellschaftlicher Harmonie auf der Grundlage sozialer Dis­ tinktion waren in Polen nicht neu. Mikolaj Rej, Autodidakt, Protestant und Adliger von bescheidenen Mitteln, schaffte es aus eigener Kraft, zum Mag­ naten aufzusteigen, dem mehrere Dörfer und eine neue Stadt namens Rejo­ wiec gehörten. Zu seinen Schriften zählt ein in Versen geschriebener Dialog mit dem Titel Kr6tka rozprawa mifdzy trzema osobami: panem, w6jtem i ple­ banem (Kurze Unterhaltung zwischen einem Edelmann, einem Schulzen und einem Pfarrer, 1 5 43), worin er die gesellschaftlichen Übel der damaligen Zeit - unwissende Geistliche, gierige Anwälte, korrupte Politiker - einer näheren Betrachtung unterzieht. Für Rej wurde die Welt zunehmend kom­ plizierter. Immer schwieriger war es, den Idealen von Tugend und sozialer Harmonie entsprechend zu leben. Gern hätte er geglaubt, dass jene Harmo­ nie im Haushalt des Adligen zu finden sei, wo Rechtschaffenheit durch Treue seitens der Dienerschaft belohnt wurde. Doch in seinem Versdrama Kupiec (Der Kaufmann, 1 549) stellte er die konventionelle Moral auf den Kopf. Der Kaufmann ist ein Sozialschmarotzer, der seine erste Frau ("Gewissen") ver­ lässt und mit seiner zweiten ("Fortuna") einen Sohn ("Gewinn") zeugt. Am Tag des Jüngsten Gerichts aber, mit dem das Stück endet (die Parodie eines p olnischen Adelsgerichts), berufen sich die Fürsten, der Bischof und der Schulze vergeblich auf ihre Tugenden, während der Kaufmann durch seinen Glauben an Christi Gnade gerettet wird. Kurz gesagt ist nichts einfach, wenn das Ideal mit der Wirklichkeit in Einklang gebracht werden soll. D ennoch versuchten die europäischen Oberschichten genau das. Sie bemühten sich um Aufwandsgesetze, die ein breites Spektrum sozialer Ver­ haltensweisen von Kleidervorschriften bis zu Tischsitten, vom Weinen bei B eerdigungen bis zu unangemessenem Verhalten bei Hochzeiten abdeck­ ten. D iese gegen den Luxus gerichteten Gesetze wurden geradezu zu einer H auptbeschäftigung der europäischen Gesetzgeber; doch war ihre Zunahme 145

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vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass sie sich der Tatsache bewusst waren, eine verlorene Schlacht zu schlagen. Nun waren zwar die Verordnungen keine Scheingefechte, das Problem bestand jedoch darin, dass die Gesetz­ gebung nicht der richtige Weg war, um die Übertretung sozialer Grenzen zu verhindern. Der Luxus kannte kein Gesetz, und wachsende Ängste vor schwindendem sozialen Zusammenhalt schlugen sich in neu verabschiede­ ten Aufwandsgesetzen n ieder. D ie Gesetzgeber standen vor einem D ilemma, denn schließlich demonstrierte der Luxus auch die Macht der herrschen­ den Elite. Eines der Paradoxe der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zeigte sich darin, dass einerseits die komplexeren Umgangsformen der Ständege­ sellschaft in den oberen Rängen zunehmend Fuß fassten, während anderer­ seits die B emühungen, ihnen durch Gesetze Schlagkraft zu verschaffen, nachließen. Einige Länder (wie etwa England 1604) setzten die Luxus­ gesetze außer Kraft, andere (die Mehrzahl) ließ sie stillschweigend in der Versenkung verschwinden. Die ständisch geordnete Gesellschaft brauchte den sozialen Wetteifer. Doch genau das führte zu einem weiteren Dilemma, denn dadurch wurde die Überschreitung von Grenzen ebenso wahrscheinlich wie ihre Verhärtung. Ein Gentleman zu sein, hieß, und so hatte es auch die Familie Cervantes ver­ standen, sich wie ein Gentleman zu benehmen und zu kleiden. Francesco Sansovino etwa idealisierte die venezianische Gesellschaft, der er angehörte, als eine Welt gesellschaftlicher Harmonie, in der die Patrizier in der Öffent­ lichkeit lange schwarze Gewänder trugen - als Zeichen für das geordnete Leben in der Republik. Dennoch registrierte er auch die ostentative Zur­ schaustellung von Kleidung als Merkmal aufwendiger Lebenshaltung. Schließlich war Venedig eine Stadt, in der ein einfacher Ruderhersteller 1633 neben seinem sonstigen Besitz sechs Truhen mit 43 Hemden hinterließ; eine Stadt, in der Stoffe aller Art zu haben waren und in der es einen Markt für Kleidung aus zweiter Hand gab. Die Venezianer warfen sich nicht nur zur Karnevalszeit in Schale. In dem Gemälde Der Schneider von Giovanni Bat­ tista Moroni (entstanden etwa 1 565) trägt der abgebildete Handwerker ein schönes Seidenwams und eine üppige rote Pluderhose, während er sich gerade daranmacht, mit der Schere in den Samt für eine Patriziertoga zu schneiden. Wer ist da der Gentleman? Überall in Europa wurden die Distinktionsmerk­ male, die vornehme Herkunft definierten, immer ausgefeilter. Es ist ein ver­ ständliches Paradox, dass den Ieitmotivischen Idealen der Ständegesellschaft gerade in dem Moment immer stärker Ausdruck verliehen wurde, als der ris­ siger werdende soziale Kitt die Bemühungen, diesen Idealen zu gesetzlicher Geltung zu verhelfen, zunichte machte. 146

5. Adlige Beschäftigungen

Adlige Stammbäume Der europäische Adel war eine stark binnendifferenzierte, gut etablierte und resiliente Gruppe. Um sich Reichtum, Macht und Status zu sichern, bedurfte es der ständigen und bisweilen rücksichtslosen Anpassung. In einigen Teilen Europas stellte Landbesitz die grundlegende Ressource des Adels dar, anderswo streute er seine Investitionen und Aktivitäten breiter. Es ging dabei um nichts anderes als das " Survival of the fittest", denn in der europäischen Gesellschaft gab es keine potenziell gewalttätigere Kraft als den Adel. Die schwächsten Mitglieder - arme Adlige, die vielleicht über eine lange Ahnen­ reihe, aber wenig Ressourcen verfügten - blieben auf der Strecke und konn­ ten kein ihrem Status entsprechendes Leben mehr führen. Sie wurden durch frisches blaues Blut ersetzt, das aus zwei Quellen sprudelte: Zum einen konn­ ten Familien als Lohn für die ihrem König oder dem Staat geleisteten Dienste in den Adelsstand erhoben werden, zum anderen bestand die Möglichkeit der Hypogamie, der Heirat "nach unten", die den europäischen Adel lange vor dem Aussterben bewahrte. Hinter der Ideologie, die den adligen Stand und seine Privilegien rechtfertigte, stand nicht der adlige Dienst am Chris­ tentum, sondern sein Stammbaum. Weil die Bibel Christi Abstammung auf die Patriarchen des Alten Testa­ ments zurückführte, hatte die Genealogie eine starke religiöse Legitimation. Sie war patrilinear, weil schon in der Bibel die Abfolge von Vater und Sohn im Vordergrund stand. Abstammung war im Übrigen nicht auf den Adel, ja, nicht einmal auf die Menschheit beschränkt. Sie war individuell und kollektiv zugleich, Bestandteil einer langen Kette des Seins, die bis ins Tierreich führte. Die Genealogie hatte unmittelbare und praktische Bedeutung (wer erbte, wer war Rechtsnachfolger?), doch sie war auch auf allgemeinere Weise der Schlüssel zu Patrimonium und Legitimität. Im Gewohnheitsrecht aller europäischen Länder ging es stets um die Kontinuität der Abstammung, wie auch immer diese im Einzelnen gesichert werden mochte. Anspruch auf Legitimität ließ sich am besten durch Abstammung erheben. Die Verehrung der Vorfahren war ein Mittel, den Status quo zu rechtfertigen, und zugleich Ansporn, sich ihrer als würdig zu erweisen. Eine in eher bescheidenem Wohlstand lebende Familie des Landadels in Devon mit dem unglücklichen Namen "Suckbitches" war sich ihres Standes gerade deshalb bewusst, weil es, wie ein Familienmitglied im spä­ teren 16. Jahrhundert sagte, "Gott gefallen hatte, einem Namen [nämlich dem der Familie] unter tausend anderen solche Dauer zu verleihen, dass er so viele Menschenalter an einem Ort erhalten blieb." Somit konnten die Suckbitches auf ihre reicheren Adelsnachbarn, die Courtneys, mit Fug und Recht herabblicken. 147

Vom "silbernen Zeitalter" zum "eisernen Jahrhundert"

Es war wichtig, über einen Familienstammbaum zu verfügen. George Owen Harry, ein walisischer Altertumsforscher aus dem frühen 17. Jahrhun­ dert, riet jedem Waliser Gentleman "von gemeinerer Art", sich einen Famili­ enstammbaum anfertigen zu lassen. Wenn der Gentleman nicht dazu in der Lage sei, sich an die Namen seiner vier Urgroßväter und deren Ehefrauen zu erinnern, sei er wohl "mit sich selbst nicht im Reinen". Christoph von Zim­ mern, ein Adliger aus Schwaben, sparte jedenfalls keine Mühe bei der Zusammenstellung seiner Familienchronik mitsamt kolorierten Wappen. Die Abstammung hatte reale Bedeutung, da es in Streitigkeiten um Eigen­ tum und Privilegien häufig darum ging, das eigene Erbrecht nachzuweisen. Zudem konnte man dank der Geburt Anspruch auf einen Platz im Gefolge eines Adligen, eine Kirchenbank, ein Familiengrab, ein College oder eine Universität erheben. Die Humanisten verkündeten zwar, echter Adel beruhe auf Tugend und Bildung, doch wusste jeder, dass in der Realität ein Stamm­ baum wichtiger war, weshalb große Anstrengungen unternommen wurden, um einen solchen zu Papier zu bringen und stichhaltig zu belegen. So wurde Abstammung zur Schau gestellt, farbig gestaltet, mit Emblemen versehen und dokumentiert. Als der französische König Pranz I. 1 5 1 5 mit allem Prunk und Pomp in Lyon einzog, wurde ihm ein Gemälde in der Art der Wurzel-Jesse-Darstellungen, das die Valois-Dynastie abbildete, präsen­ tiert. Als Erzherzogin Isabella 1 6 1 5 in Brüssel einzog, begleitete sie ein Wagen mit einem schmiedeeisernen Gitter, auf dem ihre Vorfahren zu sehen waren. Kirchenschiffe und -chöre, Kamine und karitative Institutio­ nen boten Gelegenheit zur genealogischen Selbstdarstellung. Wappen und heraldische Motive überzogen Europas B auten und materielle Besitztümer. Durch Totenschilde und Denkmäler, farbige Glasfenster und Keramik, Sil­ bergeschirr und Möbel prägte der Adel seine Zeichen der Umwelt auf. Es war die Aufwertung der Vergangenheit zugunsten der Gegenwart. Was da so zirkulierte, war kreativ, wenn nicht gar erfunden; neues Adels­ blut in alten Familienschläuchen, falsche Ansprüche, die genauer zu unter­ suchen die aggressive Vorherrschaft von Familien wie Russell, Howard, Cecil, Sidney oder HoHes (um nur englische Beispiele zu nennen) den Zeit­ genossen verbot. Einige Ansprüche beruhten lediglich auf mündlichem Zeugnis. Der aus Yorkshire gebürtige Sir Thomas Wentworth, bei König Karl I. in hoher Gunst, sah seine altehrwürdige Vorrangstellung dadurch bestätigt, dass sein Vater erklärt hatte, er habe "gehört, dass unser Name und unsere Nachkommenschaft schon lange vor der Eroberung verehrt worden sei und sich eines guten Rufs erfreut habe." Vage erinnerte er sich daran, dass es "bis zum heutigen Tag in irgendeiner Stadt in den Niederlanden darüber 148

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Aufzeichnungen gibt". Doch musste der Adel sich auf die zunehmende Bedeutung schriftlicher Aufzeichnungen einstellen. Die Herrscher wollten in Wappenrollen registriert wissen, wer tatsächlich zum Adel gehörte. In England war das die Aufgabe der Herolde, die 1 555 in das königliche Wap ­ penamt (College of Arms) aufgenommen wurden. Thomas Benolt führte als Erster von ihnen in seinem Zuständigkeitsgebiet eine Visitationsreise durch, um vor Ort die Ansprüche all derer zu prüfen, die Wappen im Schilde führ­ ten. Ausgenommen blieb der Hochadel (Peerage), während der gewöhnliche Landadel (Gentry) mit entsprechenden Dokumenten vor dem Herold zu erscheinen hatte. Den Herrschenden ging es dabei weniger darum, die Zahl möglicher Neu-Adliger zu beschränken, als vielmehr darum, die Adelsprivi­ legien zu regulieren und von ihnen zu profitieren. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals, wo der Anspruch auf einen Adels­ titel mit Steuerbefreiung einherging, begegnete man Parvenüs mit Ableh­ nung. Untersuchungen durch spezielle Beauftragte wurden anberaumt, in denen die adligen Familien ihren Titel über drei Generationen zurück nach­ weisen mussten. Der Adel der Basse-Normandie wurde zwischen 1500 und 1650 achtmal einer solchen Untersuchung unterzogen, und die Ergebnisse standen keinesfalls von vornherein fest. Die 1634/35 in der Region von Caen durchgeführten Nachforschungen ergaben, dass von den 994 Familien 1 14 keine Nachweise über ihren Titel erbringen konnten. In anderen Gegenden von Europa wurden solche Untersuchungen etwas summarischer durchge­ führt. 1626 entzog König Gustav Adolf von Schweden drei Vierteln derer, die den Adelsrang beanspruchten, den Titel, sodass von 400 Familien nur 126 übrig blieben. Er begründete diese Maßnahme damit, dass die betreffenden Familien zu arm seien, um adligen Rang beanspruchen zu können. Das Aufheben um die Stammbäume führte dazu, dass Altertumsforscher damit beauftragt wurden, Abstammungslinien zu erforschen und zu veröf­ fentlichen. John Lambert von Kirkby Malham, Großvater des gleichnami­ gen Generals unter Cromwell und Amateur-Genealoge, entdeckte einen Mitstreiter von Wilhelm dem Eroberer namens Ranulph de Lambert, von dem abzustammen er behauptete. Er veröffentlichte entsprechende Urkun­ den, die er wahrscheinlich selbst gefälscht hatte. William Cecil, Staatssekre­ tär unter Elisabeth 1., finanzierte Nachforschungen, um zu beweisen, dass er von walisischen Fürsten abstamme, die Gefährten von König Harald gewe­ sen waren. Sein Sohn Robert fand das allerdings langweilig und sprach von seines Vaters "unsinnigen Spielereien" und "Absurditäten". Anfang des 17. Jahrhunderts gab es dennoch keine Zweifel mehr an der Herkunft eines Cecil. 1650 war der Adel vollends auf dem Weg zu einer klar klassifizierten 149

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und definierten Elite, die von ihrer Abstammung das Recht auf Besitz und Herrschaft ableitete. Genealogien wurden auf unterschiedliche Weisen dargestellt, doch die Schwierigkeit lag stets darin, sowohl Abstammung als auch Blutsverwandt­ schaft abzubilden. Das war nicht zuletzt deshalb wichtig, um Heiraten zwi­ schen nahen Verwandten zu verhindern. Im römischen Recht bewanderte Juristen fanden einen Weg, doch trat die Abstammungslinie zugunsten der Verwandtschaften mit anderen Familien in den Hintergrund. Indem die Darstellungen den Akzent auf die Verheiratung von Individuen legten, lie­ ßen sie außerdem erkennen, dass Abstammung nicht notwendigerweise patrilinear zu sein hatte. In deutschen Stammbäumen wurde die familiäre Linie bisweilen als aus dem Bauch der Frau kommend dargestellt. In Eng­ land war es üblich, Heiraten als H ändedruck zwischen zwei Wappenschil­ den zu kennzeichnen, wobei die Nachkommen den vereinten Händen ent­ sprangen. Wie dem auch sei, die Heirat stand im Brennpunkt. Wie aber schaffte man es, eine gute Partie zu arrangieren? Es war eine ebenso heikle Angelegenheit wie Bridge mit einem unzuverlässigen Partner. Viele Punkte waren zu bedenken: das Alter der potenziellen Gattin, ihre Fähigkeit, einen Erben zu gebären, ihre Verwandten und Verbindungen, inwiefern ihr Besitz den eigenen ergänzen konnte, wie es um ihre Aussichten als potenzielle Erbin stand. Unter solchen Umständen war gegenseitige Zuneigung in der Regel nicht die Grundlage für Heirat und Ehe (obwohl sie aus der Eheschließung resultieren konnte). Häufig fiel die Wahl auch auf das Zölibat, was die Fortsetzung der Abstammungslinie gefährdete. In manchen Gegenden von Norditalien (etwa in der venezianischen terra firma und im Herzogtum Mailand) war es üblich, die Heirat auf einen männlichen Vertre­ ter pro Generation zu beschränken, um die Entstehung von Seitenlinien zu vermeiden. Bei Heiratsabsichten konnte der Adel sich an den Fürstenhöfen als ergiebigen Heiratsmärkten umtun und sich dabei auf die Mittlerdienste der Diplomaten, Beamten und Finanzräte am Hofe verlassen, die allesamt erfah­ rene Eheanbahner waren. Allerdings konnten die Fürsten ihr Veto einlegen. Die französischen Könige intervenierten regelmäßig, indem sie Verbindun­ gen verhinderten oder unwilligen Familien eine Heirat aufzwangen. In Eng­ land nutzte eine extra zu diesem Zweck eingerichtete Behörde (der 1 540 eta­ blierte und nach dem Ende des Bürgerkriegs 1646 zusammen mit allen anderen feudalen Institutionen abgeschaffte "Court of Wards and Liveries") intensiv das Prärogativrecht der Monarchie, für die verwaisten Erben der Aristokratie zu sorgen, was Gelegenheit bot, ihren Besitz auszuplündern und auf ihre Heiratsverbindungen Einfluss zu nehmen. Immerhin konnten die 150

5. Adlige Beschäftigungen

vornehmsten Familien erwarten, auf dem Heiratsmarkt den Preis davonzu­ tragen, was indes nicht für die mittleren und unteren Ränge des Adels galt, von denen das Schicksal der Klasse als Ganzer abhing. Die stark steigenden Mitgiftkosten machten es ihnen noch schwerer (obwohl deren Anstieg sich in allen adligen Schichten bemerkbar machte), den Anschluss nicht zu verlieren.

Adlige Lebensart D ie Adelsprivilegien waren wesentlicher Bestandteil der Ständegesellschaft und der adligen Lebensart. Je nach Region fielen sie freilich höchst unter­ schiedlich aus und überschnitten sich zum Teil mit den Rechten der Nicht­ adligen. Vor allem in den stärker ausgebildeten Staatswesen Westeuropas erodierten sie zunehmend. O ftmals waren sie Gegenstand von emotionalen Debatten, die implizit oder explizit den Adel selbst hinterfragten. Nahezu universell war das Privileg, Waffen zu tragen, üblicherweise ein Schwert. Nichts kann der Herausforderung, welcher das Christentum sich gegenübersah, besser Ausdruck verleihen als die Verbreitung des schmalen, langen Stahlrapiers. Es war ein Leichtgewicht, wurde seitlich am Gürtel befes­ tigt und war eher für den Hof als für das Schlachtfeld gedacht. Man brauchte Können und Übung, um es im Kampf mit einem ebenso bewaffneten Gegner einzusetzen. Spezielle Handbücher enthielten Unterweisung in der Handha­ bung und ab den 1570er-Jahren auch Stiche, die den Zweikampf in eine Wis­ senschaft verwandelten. Girard Thibaults Academie de l 'espee (Die Schwert­ akademie) von 1626 war ein prachtvoll aufgemachter Folioband, der 46 Stiche enthielt, die Zweikämpfer in Aktion zeigten. Dennoch war ein guter Fecht­ lehrer unentbehrlich, und es gab von ihnen eine ganze Menge. Die besten, hieß es, seien die Italiener, die zumeist bei europäischen Fürstenhäusern in Diensten standen. In einigen Teilen Europas wurde das Duell zum Ausdruck adligen Selbstbe­ wusstseins. Bislang war der gerichtliche Zweikampf ein legitimes Mittel gewe­ sen, um Händel zwischen Adligen beizulegen, wobei die Entscheidung über den Ausgang des Kampfes Gott anheimgestellt wurde. Einer der letzten Zwei­ kämpfe alter Art war das stark beachtete Treffen zwischen Fran�ois de Vivonne, Seigneur de La Chätaigneraie, und Guy Chabot, Graf von Jarnac, gewesen, das am 10. Juli 1547 in Paris stattgefunden hatte. Dagegen nahm das private Duell mancherorts geradezu epidemische Ausmaße an. Es breitete sich von Italien nordwärts nach Frankreich und von dort nach England aus, trotz aller Verbote von höchster Stelle. Das Konzil von Trient verbot es, und der 151

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französische König Heinrich III. erklärte es 1576 zu einem Kapitalverbrechen. Auch Jakob VI. von Schottland (Jakob I.) erklärten es für gesetzwidrig. Ein Pariser Tagebuchschreiber, der Jurist Pierre de l'Estoile, schätzte 1609, dass in den vorangegangenen 20 Jahren 7000 bis 8000 französische Adlige ihr Leben im Duell verloren hatten. Die Zahl mag übertrieben sein, doch schrieb er über ein Frankreich, das eben 40 Jahre immer wieder ausbrechenden Bürgerkriegs erlebt hatte - was den Adel zu Fehde und Streit nur ermuntert hatte. De facto zeigte sich an der Verbreitung des Duells, wie ausgefeilt der adlige Ehrenkodex geworden war und welch tiefe Wurzeln er geschlagen hatte. Für seine Anhänger war es die öffentliche Verteidigung der Ehre, und da diese, wie die Jesuiten in Verteidigung des Duells argumentierten, so wertvoll ist wie das Eigentum, sollte man dazu befugt sein, sie zu verteidigen. Entsprechende Abhandlungen wurden in rauen Mengen publiziert. Die meisten waren unles­ bar, wie die von Touchstone in William Shakespeares Komödie As You Like It (Wie es euch gefällt) spotteten. Tatsächlich ging es bei den meisten italieni­ schen Duellen nicht darum, jemanden zu töten, sondern kunstvoll einen Kampf auszutragen, während die Tür zu einer ehrenhaften Versöhnung offen blieb. In einer Abhandlung von 1585 zum Thema vertrat Annibale Romei bereits die Auffassung, Duelle seien zu ächten und nicht mehr auszutragen. Darum enthält der Text auch Abschnitte über die Beilegung von Streitigkeiten sowie Formulierungshilfen, um einen Disput gesichtswahrend beizulegen. Traditionellerweise gehörte es zu den Privilegien des Adels, keine Steuern zahlen zu müssen, doch war das kein AlleinstellungsmerkmaL Viele Nichtad­ lige waren ebenfalls davon befreit. Als zum Beispiel das schwedische Königs­ haus die Bauernschaft von Finnland oder die Bauern der pommerschen Ost­ seeküste dazu motivieren wollte, im Dreißigjährigen Krieg in der schwedischen Kavallerie zu dienen, gewährte es ihnen die vererbbare Steuerbefreiung auf ihren Landbesitz. Auf der anderen Seite waren durchaus nicht alle Adligen von der Steuer befreit. In der Toskana, in Venedig, in O stpreußen und auf den Britischen Inseln zahlten sie in die Staatskasse ein, ohne dass das ihrem Adel Abbruch tat. Wo es Steuerbefreiung gab, bestand seitens der Obrigkeit ver­ ständlicherweise die Neigung, sie zu verwässern oder zu minimieren. Wenn die staatlichen Organe indirekte Steuern in Anschlag brachten, hatte auch der Adel seinen Teil zu entrichten. In Sachsen mussten die Adligen 1 529, 1541/42 und 1 557 auf ihren Landbesitz Steuern zahlen; 1622 waren es dann "freiwil­ lige Gaben", die sie an den Fiskus zu entrichten hatten. Adlige mussten Steu­ ern zahlen, wenn sie nicht zum Dienst in der Kavallerie antraten, oder sie hatten als Kronvasallen Feudalgebühren zu entrichten. Weit verbreitet war das Phänomen, dass die Befreiung sich auf einen bestimmten adligen Besitz, 152

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nicht aber auf die Person bezog. Angesichts eines blühenden Grundstücks­ markts und der Einflüsse von Generationen adliger Erbfolge kam es immer häufiger vor, dass Status und Steuerbefreiung nicht konform gingen. Mancherorts waren die Adligen von der Steuer befreit, weil sie dem Fürsten im Militär oder in der Verwaltung dienten, was wiederum bedeutete, dass sie Zugang zu den juristischen und medizinischen Berufen erhielten. In Spanien mussten die Laienmitglieder der Inquisition keine Steuern zahlen. In Frank­ reich wurde Beamten in königlichen Diensten Steuerimmunität gewährt, und in dem Maß, wie Bedeutung und Umfang des Staatswesens zunahmen, wuchs auch die Zahl der Verwaltungsbeamten. Ein Amt ließ sich käuflich erwerben, und damit zugleich die Befreiung von der direkten Steuer. Ein Hauptvorteil dieser Ämter bestand darin, dass sie von den Grundbesitz betreffenden Gewohnheitsrechten nicht berührt, sondern als "bewegliche Güter" behandelt wurden. Ein Amt konnte also Teil einer Mitgift werden, als Kreditgarantie oder zur Schuldenrückzahlung dienen, oder einem jüngeren Sohn nützlich sein, der sonst vom Erbe ausgeschlossen geblieben wäre. Zudem war die Befreiung von der direkten Steuer vererbbar, wenn man nachweisen konnte, dass die eigene Familie drei Generationen lang adlig und steuerbefreit gewesen war. Es entwickelte sich eine neue gesellschaftliche Gruppe, die im frühen 17. Jahrhundert bisweilen auch als noblesse de robe (Amtsadel) bezeichnet wurde - nach den langen Gewändern, die Richter und hohe Beamte trugen. Ähnliche Entwicklungen vollzogen sich auch in anderen Ländern Europas, denn die Staaten mussten sich mit den veränderten Anforderungen, die an sie gestellt wurden, auseinandersetzen. Ab dem frühen 16. Jahrhundert wurden die Ratskollegien und Gerichte in Spanien mit Fachjuristen (letrados) besetzt. Dort wie in England wuchs mit der Zahl der Beamten auch die besondere Wertschätzung derer, die Macht und Einfluss am nächsten standen. Viele von Spaniens höherrangigen letrados wurden mit Adelstiteln belohnt: "Waren einstmals", schrieb Don Diego Ramirez de Prado 1641 an einen seiner Brüder, "die Granden bedeutender als die letrados, so sind jetzt diese zu Granden geworden." Er wusste, wovon er sprach, denn ein weiterer Bruder, Don Alonso, ein Mitglied des Ratskollegiums von Kastilien, hatte die Erhebung in den Adelsstand und die Vorteile des Amtes genießen dürfen, bevor er 1607 wegen Unterschlagung verhaftet wurde. Der Aufstieg der Beamtenfamilien stellte das traditionelle Bild vom Adelsstand infrage. Diese Familien sahen sich als einen Adel, der statt auf Tapferkeit auf Tugend setzte. Einen Adel, der die durch humanistische Bildung vermittelte Übung in Selbstdisziplin höher schätzte als die Selbstverteidigung mittels Rapier. Und diese Bildung stand allen offen, die Talent besaßen. Adliger Abstammung sein mussten sie nicht. 153

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Adel nach Zahlen Es ist nicht einfach, den europäischen Adel vor 1650 zahlenmäßig zu erfassen, zumal regionale Unterschiede so beträchtlich wie unerklärlich sind. In der Gegend um Alen

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