Das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung im Strafprozeß [1 ed.] 9783428506859, 9783428106851

Das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung wird im Strafprozeß als ein Grundsatz angesehen, dessen Beachtung für di

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Das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung im Strafprozeß [1 ed.]
 9783428506859, 9783428106851

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JOHANNA SCHULENBURG

Das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung im Strafprozeß

Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (t) em. ord. Prof. der Rechte an der Univen;ität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Prof. der Rechte an der Univen;ität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrem der deutschen Universitäten

Band 146

Das Verbot dervonNeggenonunenen Beweiswürdigung im Strafprozeß

Von

Johanna Schulenburg

Duncker & Humblot . Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Gerhard Fezer, Harnburg Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schulenburg, Johanna: Das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung im Strafprozeß / Johanna Schulenburg. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 146) Zugl.: Harnburg, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10685-7

Alle Rechte vorbehalten

© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-10685-7 Gedruckt auf aIterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Für meinen Vater Thilo Schulenburg

2.5.1930-12.8.2001

Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2000/2001 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten bis einschließlich November 2000 berücksichtigt werden. Aufrichtig danken möchte ich an erster Stelle meinem verehrten Lehrer Herrn Professor Dr. Gerhard Fezer, der mit engagierter Betreuung, ständiger Gesprächsbereitschaft, zahlreichen Hinweisen und nicht zuletzt verständnisvoller Geduld das Gelingen dieser Arbeit entscheidend gefördert hat. Danken möchte ich auch Herrn Professor Dr. Michael Köhler, der in kurzer Zeit das Zweitgutachten erstellt hat, sowie Herrn Professor Dr. Eberhard Schmidhäuser und Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Friedrich-Christian Schroeder für die Aufnahme der Arbeit in die vorliegende Schriftenreihe. Von Herzen dankbar bin ich meinem guten Freund und Kollegen Dr. Gerhard Seher, der mir unermüdlich in vielen Diskussionen über kleinere und größere Klippen hinweggeholfen hat. Meiner Freundin und "Mitstreiterin" Frau Dr. Natascha Seyfi, die ebenfalls ständig als kritische Diskussionspartnerin zur Verfügung stand, danke ich vor allem für die unvergleichlich harmonische Bürogemeinschaft während unserer gemeinsamen Zeit als Mitarbeiterinnen am Seminar für Strafrecht und Kriminologie. Vor allem aber danke ich meinen Eltern. Ihre volle und uneingeschränkte Unterstützung gaben mir jenen Rückhalt, der das Entstehen und die Vollendung dieser Arbeit überhaupt erst ermöglicht hat. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die großzügige Übernahme der Druckkosten. Dresden, im November 2001

Johanna Schulenburg

Inhaltsverzeichnis

Einleitung .............................................................................

21

1. Teil

Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots im Gefüge der Beweisrechtsprinzipien

24

1. Kapitel

Zur Problematik und zum Gang der Untersuchung

24

§ 1 Das Beweisantragsrecht in der neueren Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

A. Tätigkeit des Gesetzgebers ....... .. ...........................................

24

B. Meinungsstand in Wissenschaft und Rechtsprechung ..........................

26

I. Ansichten der Wissenschaft ... . . . . .. . . . .. . . .. . .. . . .. . . .. .. .. .. . .. . .. . . ..

27

11. Auffassungen der Rechtsprechung ... .. .... .. ....... .. ..................

29

C. Auswirkungen der Gesetzesänderungen auf das Strafverfahren, insbesondere die Rechtsstellung des Beschuldigten ..........................................

30

D. Rechtfertigung der Maßnahmen aus Sicht des Gesetzgebers ...................

34

§ 2 Das Beweisantizipationsverbot als einheitliches Institut - Zum Gegenstand der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

A. Vorüberlegungen zum Untersuchungsgang im allgemeinen ....................

37

B. Die Analyse des Beweisantizipationsverbots im besonderen ...................

40

I. Funktion, Inhalt, Umfang sowie Reichweite des Beweisantizipations-

verbots .................................................................

40

10

Inhaltsverzeichnis 11. Begriffliche Klarstellungen .............................................

41

III. Umsetzung des Beweisantizipationsverbots durch das Beweisantragsrecht ....................................................................

43

2. Kapitel Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

44

§ 1 Einführung .......................................................................

44

A. Wahrheitserforschung als oberster Grundsatz ..................................

44

B. Berücksichtigung verfahrensökonomischer Interessen ..................... . ...

46

§ 2 Vorüberlegungen zu Funktion, Inhalt und Umfang sowie Reichweite des Beweisantizipationsverbots ..............................................................

48

A. Zur Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung .........

48

B. Auswirkungen der Funktionsbestimmung auf Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots ...........................................................

51

C. Auswirkungen der Funktionsbestimmung auf die Reichweite des Beweisantizipationsverbots .................................................................

51

D. Ansatzpunkte zur eigenständigen Erarbeitung der Funktion des Beweisantizipationsverbots ................................................................

52

§ 3 Funktionsbestimmung mit Blick auf die Vorgaben der Verfahrensordnung .........

53

A. Verhältnis der Beweisrechtsprinzipien .........................................

53

I. Wahrheitserforschung von Amts wegen als Ziel des Strafprozesses ......

53

11. Absicherung der Wahrheitserforschung durch das Beweisantragsrecht . . .

54

III. Defizite der gesetzlichen Regelungen bezüglich des Verhältnisses von Amtsaufklärungspflicht und Beweiswürdigungsfreiheit .................

55

1. Mangelnde Bestimmung der Grenzen der Amtsaufklärungspflicht ..

56

2. Personenidentität von Tatsachenerrnittler und -beurteiler ............

58

IV. Trennbarkeit von Beweiserhebung und Beweiswürdigung ...............

59

1. Zum Meinungsstand ................................................

59

Inhaltsverzeichnis

11

2. Einleitende Klarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

a) Prognosebildung als Grundlage ermittelnder Tätigkeit ..........

60

b) Differenzierung zwischen vorläufiger und endgültiger Vorwegnahme der Beweiswürdigung ...................................

61

c) Präzisierung der Ausgangsfrage ................................

62

3. Wahmehmungspsychologische Abläufe bei der richterlichen Überzeugungsbildung ...................................................

62

a) Persönlichkeitsbezogene Einflüsse auf die Überzeugungsbildung ... ...... ........ ...... ... ........ .................. .......

62

b) Begünstigung wahmehrnungsbedingter Fehlbewertungen durch die Struktur der Hauptverhandlung .............................

63

4. Konsequenzen für das Verhältnis von Amtsaufklärungspflicht und Beweiswürdigungsfreiheit ..........................................

64

5. Kontrollmöglichkeiten zur Einhaltung der Trennung von Beweiserhebungsvorgang und Beweiswürdigungsvorgang - Möglichkeiten eines Verzichts auf eine strenge Trennung ..........................

66

V. Normative Grenzen der Wahrheitserforschungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

1. Die Struktur der Tatsachenfeststellung ..............................

68

2. Unvollständigkeit der Sachverhaltsermittlungen als Grundlage strafprozessualer Wahrheitserforschung .................................

70

3. Parallelen zu den Anforderungen an die abschließende Gesamtbeweiswürdigung .....................................................

73

VI. Entbehrlichkeit einer strikten Trennung zwischen Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsvorgang .............................................

74

I. Grenzen der Aufklärungspflicht als Grenzen des Beweisantizipationsverbots ........................................................

74

2. Anforderungen an die Kriterien zulässiger Beweisantizipation ......

76

VII. Notwendigkeit einer grundsätzlichen Trennung von Beweiserhebungsund Beweiswürdigungsvorgang außerhalb des Beweisantragsrechts .....

79

VIII. Zusammenfassung - Die Funktion des Beweisantizipationsverbots ......

80

IX. Konsequenzen für die Bestimmung von Inhalt, Umfang und Reichweite des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

B. Beriicksichtigung verfahrensökonomischer Zielsetzungen innerhalb der Verfahrensordnung ...................................................................

82

12

Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel

Der Begriff der Beweisanüzipaüon

85

§ I Die Bedeutung des Beweisantizipationsbegriffs für die Bestimmung von Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots ......................................

85

§ 2 Zur Strukturierung des Beweisantizipationsbegriffs ...............................

87

A. Weite des Begriffs der Beweisantizipation .....................................

88

I. Einbeziehung der Prognose der Erheblichkeit in den Beweisantizipationsbegriff .............................................................

88

I. Beweistatsache und Beweisbehauptung als Beurteilungsgegenstand .

90

a) Die Beurteilung der Beweistatsache - Feststellung der Erheblichkeit von Tatsachenbehauptungen ............................

91

b) Die Beurteilung der Beweisbehauptung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

2. Strukturunterschiede und ihre Bedeutung für den Begriff der Beweisantizipation .................................................

95

H. Einbeziehung der positiven Unterstellung des Beweisgelingens in den Begriff der Beweisantizipation ..........................................

98

B. Inhaltliche Ausgestaltung des Begriffs der Beweisantizipation .................

99

1. Differenzierung nach Ergebnis und Gegenstand der Beweisantizipation .

99

H. Mögliche Anknüpfungspunkte für die Begründung einer Beweisantizipation .................................................................. 100 III. Mögliche Konsequenzen für Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots ............................................................ 103 IV. Der Begriff der Beweisantizipation ..................................... 105 C. Beweisantizipationsvarianten im Überblick .................................... 105 1. Graphische Übersicht der möglichen Beweisantizipationsvarianten ... . . 106

H. Antizipierende Beurteilung des Sachzusammenhangs ................... 107 III. Antizipierende Beurteilung der rechtlichen Erheblichkeit einer Tatsache

107

1. Beurteilung des Subsumtionsverhältnisses .......................... 107

2. Beurteilung der konkreten Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache............................................................... 108

Inhaltsverzeichnis IV. Antizipierende Beurteilung der mittelbaren Erheblichkeit einer Tatsache

13 108

1. Positive Beurteilung mittelbarer Erheblichkeit einer Tatsache ....... 108 2. Negative Beurteilung der mittelbaren Beweiserheblichkeit einer Tatsache............................................................... 109 V. Antizipierende Beurteilung der Erfolgsaussichten des Nachweises der behaupteten Tatsache ................................................... 110

1. Positive Beurteilung des erfolgreichen Nachweises der behaupteten Tatsache ............................................................ II 0 2. Negative Beurteilung des erfolgreichen Nachweises der behaupteten Tatsache ............................................................

III

2. Teil

Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots

112

4. Kapitel

Zulässigkeitsbestimmende Faktoren

114

§ 1 Allgemeine Vorgaben für die Zulässigkeit von Beweisantizipationen .............. 114

§ 2 "Zweispurigkeit" der die Zulässigkeit einer Beweisantizipation bestimmenden

Faktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 A. Bedeutung der konkreten Antizipationsvariante ................................ 118

B. Bedeutung der tatsächlichen Beweissituation .................................. 119

5. Kapitel

Die Antizipationsvariante als zulässigkeitsbestimmender Faktor

121

§ 1 Unzulässigkeit der Beweisantizipation im engeren Sinne (= Berufung auf die

Überzeugung vorn Gegenteil) ..................................................... 122

§ 2 Beurteilung der Zulässigkeit der Beweisantizipationen im weiteren Sinne......... 124

A. Prognose des Sachzusarnrnenhangs ............................................ 125

14

Inhaltsverzeichnis B. Prognose der rechtlichen Erheblichkeit einer Tatsache

128

I. Antizipierende Beurteilung des Subsumtionsverhältnisses ............... 128 II. Antizipierende Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit ............. 129 C. Prognose der mittelbaren Erheblichkeit einer Tatsache ......................... 132 I. Antizipierende Beurteilung der potentiellen Erheblichkeit einer Tatsache

134

II. Antizipierende Beurteilung der tatsächlichen Erheblichkeit einer Tatsache................................................................... 136 D. Antizipation des erfolgreichen Nachweises einer Beweisbehauptung ........... 142 I. Antizipation des Beweisergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 142

1. Prospektive Antizipation des Beweisergebnisses, insbesondere unter dem Aspekt der "Offenkundigkeit" ................................. 144 2. Retrospektive Antizipation des Beweisergebnisses, insbesondere unter dem Aspekt des "Erwiesenseins" ............................. 148 II. Antizipation des Beweiswertes .......................................... 150 1. Antizipation der Beweismitteleignung ............... . .............. 151 2. Antizipation der Beweiskraft eines Beweises ....................... 156 3. Resümee ........................................................... 158 § 3 Die Zulässigkeit der Beweisantizipationsvarianten im Überblick - Beweisantizipationsverbot im engeren und weiteren Sinne ....................................... 159

6. Kapitel

Die tatsächliche Beweissituation als zulässigkeitsbestimmender Faktor

162

§ I Strukturunterschiede der einzelnen Beweishinweise und Erkennbarkeit von Beweismöglichkeiten ................................................................ 164 A. Beweistatsache und Beweismittel sind bestimmt............................... 165

B. Ein bestimmtes Beweismittel läßt sich nur einem Beweisthema zuordnen...... 167 C. Ein bestimmtes Beweismittel läßt sich keinem Beweisgegenstand zuordnen ... 168 D. Einer bestimmten Beweistatsache läßt sich nur ein unbestimmt bezeichnetes Beweismittel zuordnen........................................................ 169

Inhaltsverzeichnis

15

E. Übrige Fälle ................................................................... 169 F. Abgrenzungsmaßstäbe ........................................................ 170 § 2 Auswirkungen der tatsächliche Beweissituation auf die Zulässigkeit von Antizipa-

tionen und die Reichweite des Beweisantizipationsverbots ........................ 172 A. Zu einer Beweistatsache oder -thematik existieren noch keine eindeutigen Fest-

stellungen ..................................................................... 172 I. Unmittelbare rechtliche Auswirkungen des Fehlens von Feststellungen auf die Zulässigkeit der Antizipation des Beweisergebnisses ............ 172

11. Mittelbare faktische Auswirkungen des Fehlens von Feststellungen auf die Bedeutung der sonstigen Antizipationsvarianten für die Begrenzung des Umfangs der Beweisaufnahme...................................... 174 III. Einfluß der inhaltlichen Bestimmtheit des Beweishinweises auf die Zulässigkeit von Beweisantizipationen .................................... 176 IV. Auswirkungen auf die Reichweite des Beweisantizipationsverbots ...... 178 B. Feststellungen zu einer Beweistatsache oder -thematik liegen vor.............. 180 I. Einfluß des Bestimmtheitsgrades eines Beweishinweises ................ 180 I. Bei Übereinstimmung von angedeutetem und vorläufig festgestelltem Beweisergebnis ................................................ 182 2. Bei Andeutung eines offenen Beweisergebnisses .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 3. Bei Abweichungen zwischen angedeutetem Beweisergebnis und Ergebnis der bisherigen Feststellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 4. Bei widersprechenden Beweishinweisen auf ein und dasselbe Beweismittel ....................................................... 185 5. Zwischenergebnis .................................................. 186 11. Besonderheiten des Beweisantrags ...................................... 187 1. Vorbringen eines Antrags........................................... 188

2. Vorbringen einer Beweisbehauptung ................................ 188 a) Inhalt einer Beweisbehauptung ................................. 188 b) Exklusive Wirkung von Beweisanträgen aufgrund der indiziellen Wirkung der Beweisbehauptung ............................ 190 c) Resümee..................................... . ................. 193 III. Ausschluß der indiziellen Wirkung einer Beweisbehauptung ............ 194

16

Inhaltsverzeichnis

1. Verschleppungsabsicht.............................................. 195 a) Wesentliche Verfahrensverzögerung ............................ 197 b) Keine Sachdienlichkeit der Beweiserhebung nach Auffassung des Gerichts .................................................... 197 c) Verfahrensverzögerungsabsicht ................................. 200 aa) Inhaltliche Anforderungen der Verzögerungsabsicht ....... 200 bb) Feststellung der Verzögerungsabsicht ...................... 201 d) Resümee ....................................................... 205 2. Kriterium des Scheinbeweisantrags ................................. 206 3. Herabstufung zum Beweisermittlungsantrag ........................ 206 a) Aus der Luft gegriffene Tatsachenbehauptungen - "Vermutungsrechtsprechung" ................................................ 207 b) Erweiterung der Substantiierungspflichten des Antragstellers... 208 c) Das Kriterium der Konnexität .................................. 208 aa) Inhalt und Bedeutung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 208 bb) Entwicklungsgeschichte................................... 210 4. Weiterführende Überlegungen...................................... 212 a) Defizite der bisherigen Begrenzungsversuche ................ '"

212

b) Bedürfnis nach einer Begrenzung der indiziellen Wirkungen eines Beweisantrags ............................................ 213 c) Inhaltliche Präzisierungen eines Ausschlußtatbestandes ......... 214 aa) Tatbestandliche Voraussetzungen.......................... 215 bb) Begriindungslast des Gerichts und Obliegenheit des Antragstellers ................................................ 217 d) Systematische Einordnung des Antrags......................... 218 IV. Umfang der indiziellen Wirkung einer Beweisbehauptung .............. 219

1. Hinsichtlich der Antizipation des Beweisergebnisses ................ 219 2. Hinsichtlich der Reichweite des Beweisantizipationsverbots ........ 219 § 3 Der Einfluß der tatsächlichen Beweissituation auf die Zulässigkeit von Antizipationen und die Reichweite des Beweisantizipationsverbots im Überblick .......... 220

A. Auswirkungen auf die Antizipation des Beweisergebnisses .................... 220 B. Auswirkungen auf die übrigen Beweisantizipationsvarianten .................. 221 C. Auswirkungen auf die Reichweite des Beweisantizipationsverbots ............. 222

Inhaltsverzeichnis

17

7. Kapitel

Gesamtüberblick über Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots sowie seine Reichweite innerhalb des Beweisantragsrechts und der Amtsautldärunspflicht

223

§ 1 Graphische Übersicht über Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots .... 224 § 2 Reichweite des Beweisantizipationsverbots innerhalb von Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht ........................................................... 224

8. Kapitel

Beweisantizipationsverbot und "zusammengesetzte" Ablehnungsgründe

227

§ 1 Antizipation der Unerreichbarkeit eines Beweismittels ............................ 228

A. Die "Abwägungslehre" der herrschenden Meinung ............................ 230 B. Zur Vereinbarkeit der Abwägungslehre mit dem Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung ......................................................... 232 I. Die einzelnen Abwägungskriterien .. .. . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . . .. . . . . . .. . .. 232 1. Die Bedeutung der Aussage ........................................ 232

2. Der Beweiswert und das Sonderproblem der kommissarischen Vernehmung ........................................................... 235 3. Die bisherigen Beibringungsbemühungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 238 4. Die Bedeutung der Sache ........................................... 239 5. Der Beschleunigungsgrundsatz ..................................... 240 H. Der zulässige Rahmen einer Abwägung innerhalb der Unerreichbarkeitsbeurteilung ............................................................. 242 § 2 Antizipation unter dem Aspekt der "Wahrunterstellung" .......................... 243

A. Probleme der Wahrunterstellung ............................................... 243 B. Vorgaben des Beweisantizipationsverbots an die Voraussetzungen der Wahrunterstellung ..................................................................... 246 I. Notwendigkeit der Antizipation der Unwiderlegbarkeit ................. 247 2 Schulenburg

18

Inhaltsverzeichnis II. Gleichwertigkeit von Unwiderleglichkeit und Behandlung als wahr ..... 248 III. Resümee ............................................................... 249 C. Umsetzung des Beweisantizipationsverbots in die Voraussetzungen der Wahrunterstellung .................................................................. 249 1. Antizipation der Unwiderleglichkeit einer entlastenden Tatsache ........ 249 1. Unwiderlegbarkeit einer Tatsache - non liquet ...................... 249 2. Prognose der Unwiderlegbarkeit einer Tatsache.. . . ... . . . . . .. . . . . . .. 250 a) Allgemeine Voraussetzungen ................................... 250 b) Erfordernis der retrospektiven Prognose der Unwiderlegbarkeit. 251 c) Kein vorzeitiger Ausschluß von Beweiswürdigungsmöglichkeiten 252 aa) In dubio pro reo bei unmittelbar erheblichen Tatsachen .... 252 bb) In dubio pro reo bei mittelbar erheblichen Tatsachen . . . . . .. 253 (1) Zwingende Indizien................................... 254 (2) Sonstige entlastende Indizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 255 cc) Resümee .................................................. 256 11. Erfordernis der normativen Gleichwertigkeit von Wahrunterstellung und Unwiderleglichkeit ..................................................... 257 III. Erheblichkeitsprognose als weitere Voraussetzung der Wahrunterste1lung .................................................................... 258

1. Ausschluß unerheblicher Tatsachen aus dem Anwendungsbereich der Wahrunterstellung .............................................. 259 2. Reduzierung auf das Erfordernis potentieller Erheblichkeit ......... 259 D. Fazit .......................................................................... 260 § 3 Antizipationsmöglichkeiten beim Sachverständigen- und Augenscheinsbeweis .... 261 A. Der Sachverständigenbeweis .................................................. 261 I. Besonderheiten des Sachverständigenbeweises .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 262 II. Auswirkungen auf die Geltung des Beweisantizipationsverbots ......... 263 B. Der Augenscheinsbeweis ...................................................... 265 I. Interpretation des Ablehnungsgrundes durch die vorherrschende Meinung .................................................................... 265

Inhaltsverzeichnis

19

11. Begründungsdefizite hinsichtlich des heute anerkannten Umfangs des Beweisantizipationsverbots bei Augenscheinsbeweisanträgen ........... 267 111. Notwendigkeit einer uneingeschränkten Geltung des Beweisantizipationsverbots auch beim Augenscheinsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 268 § 4 Antizipationsmöglichkeiten beim Beweis durch sogenannte Auslandszeugen .... .. 270

9. Kapitel

Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots de lege lata und de lege ferenda

274

§ I Gesamtergebnis................................................................... 274 § 2 Kontrolle der Einhaltung des Beweisantizipationsverbots durch die Revisions-

gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 277

§ 3 Nutzen und Risiken der (geplanten) Einschränkung des Beweisantragsrechts ...... 279

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 281 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 289

2*

Einleitung Bis in die jüngste Vergangenheit wurde das Verbot der vorweggenommenen Beweis würdigung als ein Grundsatz angesehen, dessen Beachtung für die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung unbedingt erforderlich ist. Dieses Beweisantizipationsverbot besagt nach allgemeiner Auffassung, daß das Ergebnis und der Wert eines beantragten Beweises nicht zum Nachteil des Antragstellers vorweggenommen und daß dem schon erhobenen Beweis gegenüber neuen Beweisanträgen unter Rückgriff auf das bisherige Beweisergebnis kein Vorrang eingeräumt werden darf. l Mit zunehmender Belastung der Rechtspflege im allgemeinen und innerhalb der Strafjustiz im besonderen konnten sich jedoch die Befürworter einer Beschränkung dieses Grundsatzes zunehmend Gehör verschaffen. Für diese Überlastung werden vor allem finanzielle und damit personelle Ressourcenknappheit2 , ein Anstieg des Geschäftsanfalls 3 sowie der durchschnittlichen Verfahrensdauer4 , aber auch mißbräuchliches Verteidigerverhalten 5 als die Hauptursachen benannt. Wahrend die Rechtspraxis eigene Wege geht, dem Druck standzuhalten 6 , konzentriert sich der Gesetzgeber darauf, den Ablauf des Verfahrens generell zu beschleunigen; genannt seien hier nur die Einführung einer Annahmeberufung 7 , die Erweiterung des Sanktionsrahmens beim Stratbefehlsverfahren8 und die Erweiterung der Anwendbarkeit der Einstellungsmöglichkeiten nach den §§ 153 f. StP09 So u. a. definiert von Alsberg/Nüse/Meyer, 411 ff.; Wesseis JuS 1969,2. BT-Dr. 1211217 S. 18. 3 52. Justizminister und -senatorenkonferenz StV 1982,325; siehe dazu aber Gössel, Gutachten C, 9 ff., wonach zwischen 1982 und 1990 der Geschäftsanfall bei den Amtsgerichten rückläufig und bei den Landgerichten eher gleichbleibend war. Zu der Entwicklung seit 1990 siehe Meyer-Goßner DRiZ 1996, 180. 4 Vgl. Bertram NJW 1994,2186; Wassermann NJW 1994, 1106; dagegen bezweifelt von Bemsmann ZRP 1994,330. 5 Gössel, Gutachten C, 19; Wassermann NJW 1994, 1106 f.; 2196. 6 Erwähnt sei nur die inzwischen üblich gewordene verfahrenserledigende Absprachenpraxis (siehe hierzu Schünemann, Gutachten B, 17 ff.; Eisenberg, Rn. 42 ff. sowie die Grundsatzentscheidung BGHSt 43, 195) und die Praxis der Strafrichter, auf eine vollständige Beweisaufnalime zu verzichten, wenn der Angeklagte ein glaubhaftes Geständnis ablegt oder dies von der Verteidigung angeboten wird (vgl. Rönnau, 246 f. m. w. N.; Schünemann, Gutachten B, 23). Zur Verfalirenswirklichkeit siehe auch die Darstellung bei Fezer StV 1995, 1

2

264f. 7

8

Durch Art. 2 Nr. 5 RpflEG vom 11. 1. 1993 (BGBl. I S. 50). Durch Art. 2 Nr. 10 RpflEG.

Einleitung

22

durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz lO • Im Zuge dieser Beschleunigungsbemü•• 11 hungen hat der Gesetzgeber auch das seit der letzten Anderung im Jahr 1979 unverändert gebliebene Beweisantragsrecht als Ursache für Verfahrensverzögerungen lokalisiert. 12 Er hat dementsprechend mehrfach Beschränkungen des in den §§ 244 III bis V und 245 11 normierten Beweisantragsrechts zugunsten der Amtsaufklärungspflicht gern. § 244 11 vorgenommen. Diese sollen nach weit verbreiteter Auffassung zu einer Einschränkung der Geltung des Beweisantizipationsverbots und damit zu einer Erweiterung der Möglichkeiten des Gerichts führen, im Wege vorweggenommener Beweiswürdigung auf eine beantragte Beweiserhebung zu verzichten. Eine nähere Beschäftigung mit den Gesetzesmaterialien zeigt jedoch, daß der Gesetzgeber die Änderungen im Beweisantragsrecht vorgenommen hat, ohne sich über die Auswirkungen hinsichtlich des Beweisantizipationsverbots wirklich im klaren zu sein. Dies kann sicherlich mit darauf zurückgeführt werden, daß auch in Wissenschaft und Rechtsprechung Unklarheit über Inhalt, Umfang und Reichweite des Verbotes herrscht. Diesem Themenkomplex gilt das zentrale Interesse der vorliegenden Arbeit. Die Bestimmung der inhaltlichen Struktur und der Grenzen des Beweisantizipationsverbots sowie seiner Reichweite innerhalb von Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht soll die Beantwortung der Frage ermöglichen, ob der Gesetzgeber zu Recht die Vorstellung hegt, daß mit einer Beschränkung des Beweisantragsrechts zugunsten der Amtsaufklärungspflicht zugleich auch eine Erweiterung von Beweisantizipationsmöglichkeiten einhergeht und dadurch eine Verkürzung der Beweisaufnahme eintritt. Die wesentlichen Ziele und der Ablauf der Untersuchung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Der 1. Teil der Arbeit (1. bis 3. Kapitel) dient zunächst dazu, die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots im Gefüge der Beweisrechtsprinzipien herauszuarbeiten. Dementsprechend soll im 1. Kapitel zunächst anhand eines Überblicks über die gesetzgeberische Tätigkeit der letzten 25 Jahre sowie des gegenwärtigen Diskussionsstandes in Wissenschaft und Rechtsprechung die Bandbreite der Problematik aufgezeigt werden. Anknüpfend an diese Bestandsaufnahme soll im 2. Kapitel die Funktion des Beweisantizipationsverbots bei der Entscheidung über den Umfang der Beweisaufnahme genau festgelegt werden. Spielräume für mögliche Beweisantizipationen innerhalb von Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht können nämlich nur Durch Art. 2 Nr. 2 und 3 RpflEG. Im folgenden beziehen sich Angaben ohne Nennung des Gesetzes auf die StPO. 11 Durch Art. 1 Nr. 20 StVÄG vom 5. 10. 1978 (BGBI. I S. 1645). 12 Ebenso in der Lit.: Brause NJW 1992,2869; Rudolph DRiZ 1992, 10; Schrader NStZ 1991,224 ff. 9

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Einleitung

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aufgedeckt werden, wenn über diese Funktion Klarheit herrscht. Ihre Ermittlung muß also am Anfang der Untersuchung stehen. Zu diesem Zweck sollen - in Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Meinungsstand zur Funktion des Beweisantizipationsverbots - die normativen Vorgaben der Verfahrensordnung für den tatrichterlichen Erkenntnisprozeß den auftretenden Schwierigkeiten bei der tatsächlichen Umsetzung gegenübergestellt werden. Damit sollte es möglich werden, jene Gefahren der Verfahrensordnung für die Zuverlässigkeit der Sachverhaltserforschung zu lokalisieren, deren Begrenzung und Kontrolle das Beweisantizipationsverbot dienen kann, so daß eine Bestimmung der Funktion des Verbotes möglich wird. Anschließend kann dann - ebenfalls mit Blick auf den aktuellen Diskussionsstand - im 3. Kapitel der Begriff der Beweisantizipation näher untersucht werden. Eine derartige Analyse ist notwendig, um die Bandbreite möglicher Antizipationen aufzuzeigen. Solange Unklarheit über die verschiedenen Erscheinungsformen einer Beweisantizipation herrscht, kann auch der mögliche Geltungsbereich des Beweisantizipationsverbotes nicht sicher abgesteckt werden. Auf dieser Basis wendet sich dann diese Arbeit im 2. Teil den zentralen Fragen nach Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbotes zu (4. bis 8. Kapitel). Hierfür wird die Zulässigkeit sämtlicher dem Beweisantizipationsbegriff unterfallenden Antizipationen mit Blick auf die erarbeitete Funktion des Beweisantizipationsverbotes untersucht werden müssen. Ferner soll ein Vergleich mit den Ablehnungsgründen des Beweisantragsrechts die Prüfung ermöglichen, ob diese den Anforderungen des Beweisantizipationsverbotes gerecht werden, dahinter zuriickbleiben oder sogar eine über das Beweisantizipationsverbot hinausgehende Beweiserhebungspflicht statuieren. Schließlich sind auch die Konsequenzen der gefundenen Ergebnisse für die Reichweite des Beweisantizipationsverbotes im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht aufzuzeigen. Im 9. Kapitel soll dann kurz der Frage nachgegangen werden, welche Folgerungen aus den gewonnenen Erkenntnissen für die revisionsrechtliche Kontrolle eines Verstoßes gegen das Beweisantizipationsverbot zu ziehen sind, bevor dann abschließend die Bedeutung der Abschaffung bzw. der Beschränkung des Beweisantragsrechts für den Beweiserhebungsumfang im Bereich der Amtsaufklärungspflicht beschrieben wird - und damit auch die Zweckmäßigkeit weiterer Einschränkungen des Beweisantragsrechts de lege ferenda.

1. Teil

Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots im Gefüge der Beweisrechtsprinzipien 1. Kapitel

Zur Problematik und zum Gang der Untersuchung § 1 Das Beweisantragsrecht in der neueren Gesetzgebung A. Tätigkeit des Gesetzgebers

Bis vor wenigen Jahren galten für alle Verhandlungen, in denen es um die Feststellung von Tatsachen geht, die die Voraussetzungen der Strafbarkeit begründen, neben der in § 244 11 normierten Amtsaufklärungspflicht die Regelungen des sog. Strengbeweisverfahrens der §§ 244 III bis V, 245 11 1• Nach diesen Vorschriften ist das Gericht zur Beweisaufnahme verpflichtet, wenn einer der Verfahrensbeteiligten2 in der Hauptverhandlung einen Beweisantrag stellt, es sei denn, es liegt einer der dort genannten Ab1ehnungsgründe vor. Lediglich § 384 III stellte für das Privatklageverfahren die Entscheidung über die Beweisaufnahme in das durch die Amtsaufklärungspflicht gebundene Ermessen des Gerichts. 1993 jedoch fügte der Gesetzgeber durch das RpflEG § 244 V S. 23 in das allgemeine Beweisantragsrecht ein, wonach ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, unter denselben Voraussetzungen abgelehnt werden kann wie die Einnahme des Augenscheins nach § 244 V S. 1, d. h. wenn die Vernehmung nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Der Gesetzgeber erhoffte sich hierdurch Verfahrensvereinfachungen zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Justiz4 , indem übermäßiger Verfahrensdauer entgegengewirkt5 und damit das Gericht entlastet werde6 . Zum Begriff vgl. Ditzen, 5. Neben Staatsanwaltschaft, Angeklagtem und Verteidigung sind dies: Privat- und Nebenkläger (§§ 385 I, 397 I), sowie gegebenenfalls der Erziehungsberechtigte I gesetzl. Vertreter des minderjährigen Angeklagten (§ 67 JGG). 3 § 244 V S. 2 = Art. 2 Nr. 4 des RpflEG (BGBl. I S. 50). 4 BT-Dr. 12/1217 S. 18 f. I

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1. Kap.: Zur Problematik und zum Gang der Untersuchung

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Ebenso war im Jahr 1994 die Hoffnung, durch eine Verkürzung der Beweisaufnahme die Hauptverhandlung zu beschleunigen7, auslösendes Moment für die Einführung der §§ 420 IV und 411 11 S. 28 durch das sog. "Verbrechensbekämpfungsgesetz,,9. Für das beschleunigte Verfahren sieht der mit § 384 III wortgleiche § 420 IV vor, daß "im Verfahren vor dem Strafrichter ... dieser unbeschadet des § 244 11 den Umfang der Beweisaufnahme [bestimmt]". Durch Verweisung in § 411 11 S. 2 gilt diese Regelung auch für alle Hauptverhandlungen, die nach Einspruch gegen einen Strafbefehl vor dem Strafrichter durchgeführt werden. 10 Vergleicht man nun diese Vorschriften mit dem differenzierten Ablehnungskatalog des allgemeinen Beweisantragsrechts der §§ 244 III bis V, 245 11, drängt sich schnell die Frage auf, in welchen tatsächlichen Situationen sie die Ablehnung eines Beweisantrags rechtfertigen, die nicht schon aufgrund eines der Ablehnungsgründe erfolgen könnte, denn die Verpflichtung zur Wahrheitserforschung von Amts wegen bleibt durch die ausdrückliche Bezugnahme auf § 244 11 bzw. das "pflichtgemäße Ermessen" nach wie vor bestehen. Nur dann also, wenn das Gericht im Rahmen der §§ 384 III, 244 V S. 2, 420 IV und 411 11 S. 2 von Amts wegen in größerem Umfang von einer beantragten Beweiserhebung absehen kann als bei einer Entscheidung nach den §§ 244 III bis V, 245 11, haben die neu eingefügten Vorschriften einen eigenen Anwendungsbereich. Sucht man diesbezüglich nach einer Antwort in den Gesetzesmaterialien, erhält man nur wenig aufschlußreiche Informationen: In der Entwurfsbegründung zum RpflEG wird davon gesprochen, daß das Gericht im Bereich des pflichtgemäßen Ermessens "etwas freier" gestellt sei, auch wenn es nur "ein äußerst schmaler Bereich" sein könne, in dem die Beweiserhebungspflicht gern. § 244 III nicht zugleich durch den Amtsaufklärungsgrundsatz mit abgedeckt sei. 11 Entscheidend sei letztlich, welchen Umfang die Revisionsgerichte der Amtsaufklärungspflicht geben,12 wobei es allerdings der Entwicklung der neueren Rechtsprechung entspreche, wenn davon ausgegangen werde, daß im Falle eines Beweisantrags an die Ermittlungsbemühungen strengere Anforderungen zu stellen seien, als wenn der Richter nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden könne. 13

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zes.

BT-Dr. 12/1217 S. 35. BT-Dr. 12/1217 S. 36. Vgl. BT-Dr. 12/6853 S. 34. § 411 II S. 2 = Art. 4 Nr. 9; § 420 IV = Art. 4 Nr. 10 des Verbrechensbekämpfungsgeset-

Vom 28.10.1994 (BGBl.I S. 3186). Zur Entstehungsgeschichte beider Vorschriften siehe Schatz, 156 ff.; zu weiteren Vorschlägen, das Beweisantragsrecht zu beschneiden oder gar abzuschaffen siehe ebenfalls dort, 131 ff. 11 BT-Dr. 12/1217 S. 35 f. 12 BT-Dr. 12/1217 S. 35. 9

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Deutlicher fonnuliert der Gesetzgeber dagegen im Hinblick auf § 420 IV: Diese Vorschrift entspreche inhaltlich der Regelung des § 384 III. Der Richter sei nicht an die Ablehnungsgriinde der §§ 244 III und 245 gebunden, habe damit einen größeren Ennessensraum als in anderen Verfahren. Demzufolge dürfe er einen Beweisantrag auch dann ablehnen, wenn er den Sachverhalt für genügend geklärt hält und der Auffassung ist, daß die Vernehmung eines Zeugen an der bereits vorliegenden Überzeugung des Gerichts nichts ändern würde. 14 Da aber auch in dieser Situation immer noch die Amtsaufklärungspflicht zu beachten ist, die ja im wesentlichen deckungsgleich mit der Beweiserhebungspflicht der §§ 244 III bis V, 245 11 sein soll, fragt sich auch hier, in welchen tatsächlichen Situationen die Einschränkung des Beweisantragsrechts zu Verkürzungen der Beweisaufnahme führen kann.

B. Meinungsstand in Wissenschaft und Rechtsprechung Angesichts der Tatsache, daß der Gesetzgeber selbst keine konkreten Vorstellungen von dem Entlastungseffekt hat, der durch die Einschränkung des Beweisantragsrechts herbeigeführt werden könnte, fragt es sich, weswegen er überhaupt eine derartige Entlastungswirkung vennutet. Betont wird ja nicht der fonnale Aspekt, daß Begründungs- und Bescheidungspflichten entfallen, sondern die materielle, also inhaltliche Erweiterung der Möglichkeiten, einen Beweisantrag abzulehnen. Da er seine Ansicht auf die in der Rechtswissenschaft vorherrschende Meinung und die Interpretation des § 384 III durch die Rechtsprechung stiitzt,15 liegt es nahe, hier nach Konkretisierungen des Anwendungsbereiches der §§ 384 III, 244 V S. 2, 420 IV und 411 11 S. 2 zu suchen. Beschäftigt man sich jedoch aus diesem Grunde näher mit dem gegenwärtigen Meinungsstand zu dem Verhältnis von Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht und der Reichweite des Beweiserhebungsanspruches der Verfahrensbeteiligten l6 , wird deutlich, daß auch hier wesentliche Fragen noch unbeantwortet geblieben sind.

13 BT-Dr. 12/1217 S. 36; kritisch zu dieser Begründung u. a. Fezer StV 1995, 266 mit umfangreichen Literaturnachweisen, sowie Schulz StV 1991, 356 f. und Werle JZ 1991, 793. 14 BT-Dr. 12/6853 S. 36; gegen diese Vorschrift: Dahs NJW 1995,556 f.; Neumann StV 1994,276; Scheffler NJW 1994,2193 f. 15 Vgl.BT-Dr.I211217S.35f. 16 Daß ein solcher Anspruch auf Erhebung all derjenigen Beweise besteht, die für die Entscheidung eine weitere Sachaufklärung erwarten lassen, ist unbestritten; siehe dazu nur Alsberg/Nüse/Meyer, 21,23; Herdegen, Meyer-GS, 192; Wessels JuS 1969,2.

1. Kap.: Zur Problematik und zum Gang der Untersuchung

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I. Ansichten der Wissenschaft

In der Wissenschaft hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß das Beweisantragsrecht das Gericht zu Beweiserhebungen verpflichtet, die es im Rahmen der Aufklärungspflicht, bzw. nach seinem pflichtgemäßen, nur durch die Aufklärungspflicht gebundenen Ermessen 17 nicht vornehmen müßte 18 , weil es von ihrer Nutzlosigkeit überzeugt sein darf19. Der Grund wird in dem durch das Beweisantragsrecht konkretisierten Beweisantizipationsverbot gesehen, das im Bereich der gerichtlichen Aufklärungspflicht nur mit eingeschränkter Reichweite gelte, so daß an den Umfang der gerichtlichen Beweiserhebungsbemühungen im Bereich der Amtsaufklärungspflicht geringere Anforderungen gestellt werden könnten als im Bereich des Beweisantragsrechts. 2o Sei das Gericht nur an die Aufklärungspflicht gebunden, gehe das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung auch nur so weit, vernünftige Zweifel am bisher festgestellten Sachverhalt durchgreifen zu lassen. 21 Die gegen diese Ansicht schon seit langem vertretene sog. Identitätslehre, nach der die Beweiserhebungspflicht des Gerichts im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht und des Beweisantragsrechts dieselbe ist,22 konnte sich dagegen nicht durchsetzen. 23 17 So für § 384 ill: AlsberglNüselMeyer, 833; KK-Senge, § 384 Rn. 3 und KMR-Stöckel, § 384 Rn. 6; Woesner NJW 1959, 706 f.; für § 244 11: LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 119; AlsberglNüselMeyer, 87. 18 AK-Schöch, § 244 Rn. 28; AlsberglNüselMeyer, 31; Erklärung des 15. Strafverteidigertages StV 1991,280; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 244 Rn. 12; LiemersdorfStV 1987, 176; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 59, 93; Roxin, § 43 Rn. 4; Schmidt-Hieber JuS 1985,292; SKSchlüchter, § 244 Rn. 52; Werle JZ 1991,792. Umgekehrt wird auch betont, trotz Vorliegens eines Ablehnungsgrundes könne § 244 11 ausnahmsweise zu einer Beweiserhebung verpflichten, so AlsberglNüselMeyer, 32; AK-Schöch, § 244 Rn. 28; KMR-Paulus, § 244 Rn. 234; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 59. Schlüchter, Weniger ist mehr, 43 spricht in diesem Zusammenhang von zwei sich überschneidenden Kreisen. 19 So AlsberglNüselMeyer, 31; Eisenberg, Rn. 5. 20 AlsberglNüselMeyer, 412, 842 ff.; Eisenberg, Rn. 140; Julius NStZ 1986, 63, siehe aber Julius, 104 f., wo er eher der Identiilitslehre nahesteht; Kintzi DRiZ 1994, 328; LRGollwitzer, § 244 Rn. 59; LR-Wendisch, § 384 Rn. 4; SarstedtlHamm, Rn. 531 f.; Werle JZ 1991,792; zu weiteren Nachweisen siehe bei Rose, 354 Fn. 219 und 397 Fn. 448. KK-Senge, § 384 Rn. 3; Kleinknechtl Meyer-Goßner, § 384 Rn. 14; Kintzi DRiZ 1994, 328 und Woesner NJW 1959, 707 gehen sogar davon aus, daß das Beweisantizipationsverbot innerhalb der Amtsaufklärungspflicht überhaupt nicht gilt, so daß aus ihrer Sicht eine Ablehnung auch in denjenigen tatsächlichen Situationen erfolgen kann, in denen kein Ablehnungsgrund vorläge. 21 AlsberglNüselMeyer, 843; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 52; Werle JZ 1991,792. 22 Bergmann 135 f. und 151; ders. MDR 1976,891; Engels, 162; ders. GA 1981, 32; so noch Fezer, Studienkurs, 12/98 f.; ders. StV 1995,268, jedoch aufgegeben in BGH-FG, 858 Fn. 63; Gössel, Gutachten C, 66; ders. ZStW 106,838; ders. JR 1995,365; Grünwald, Gutachten C, 71; Gutmann JuS 1962,375; Herdegen, Boujong-FS, 785 f.; ders., Meyer-GS, 197 anders noch in NStZ 1984,98; Wenner, 157; Wenskat, 274 ff.; Wesseis JuS 1969,3 f.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Sucht man aber nach einer Antwort auf die allgemeine Frage, in welchen tatsächlichen Situationen die Amtsaufklärungspflicht Beweisantizipationen zuläßt, die im Beweisantragsrecht nicht möglich sind, fällt auf, daß von Vertretern der h. M. zwar (vor allem zur Widerlegung der Identitätslehre) immer wieder betont wird, daß auch im Bereich des Beweisantragsrechts Beweisantizipationen nicht völlig ausgeschlossen seien, somit also auch im Bereich der Amtsaufklärungspflicht zulässig sein müßten. 24 Oder es wird argumentiert, daß das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung auch im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht nicht uneingeschränkt gelten könne, weil die Frage, ob sich dem Gericht noch eine weitere Aufklärungsmöglichkeit aufdränge, nur unter Würdigung des bis dahin erreichten Aufklärungsstandes beantwortet werden könne. 25 Ob und wie diese Antizipationen sich aber von denen innerhalb des Beweisantragsrechts unterscheiden, wird meistens nicht dargelegt. Regelmäßig unbegründet bleibt auch, wie mit dieser Argumentation erklärt werden kann, daß im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung im größeren Umfang möglich ist als bei Geltung des Beweisantragsrechts 26 . Schatz27 meint, die bestehenden Unterschiede resultierten daraus, daß im Rahmen der Aufklärungspflicht die verständige Würdigung des Tatsachengerichts vom prospektiven Erfolg einer Beweiserhebung maßgeblich sei, während im Beweisantragsrecht der Antragsteller die Prognosekompetenz habe. Er könne das Gericht zu Beweiserhebungen zwingen, deren Gelingen es selbst für unwahrscheinlich halte. 28 LetzIich handelt es sich hierbei aber nur um eine Behauptung, nicht eine Begründung. Dies erstaunt um so mehr, als sich die Situation in der Hauptverhandlung, in der ein Beweisantrag bei Geltung des Beweisantragsrechts gestellt wird, in tatsächlicher Hinsicht nicht von der Situation unterscheidet, in der formal nur die Amtsaufklärungspflicht gilt. Allenfalls wird davon gesprochen, daß ohne Bindung an das förmliche Beweisantragsrecht Beweisantizipationen "innerhalb gewisser Grenzen" zulässig seien,29 und wird versucht, dies anhand von Beispielen zu "beweisen".30 Erst in jüngster 23 Zum Streitstand siehe zusammenfassend Schatz, 211 ff. sowie ausführlich auf die Argumentation eingehend Rose, 394 ff. 24 AlsberglNüselMeyer, 29 f.; Schmidt-Hieber JuS 1985, 294; so auch noch Herdegen NStZ 1984,98. 25 SarstedtlHamm, Rn. 531. 26 So Kleinknechtl Meyer-Goßner, § 244 Rn. 12; Schmidt-Hieber JuS 1985,294. 27 Schatz, 230 ff.; 242. 28 Diese Verschiebung des Beurteilungsmaßstabes von der "verständigen Würdigung" innerhalb der Amtsaufklärungspflicht zum "strengen" Beweisantizipationsverbot innerhalb des Beweisantragsrechts bewertet ähnlich auch Frister ZStW 105,351 f.; 354 f. als Kompetenzregelung. 29 So noch LR24 -Gollwitzer, § 244 Rn. 59; nach Fezer, BGH-FG, 858 bedeutet die Beurteilung von Inhalt und Zulässigkeit einer an sich noch möglichen Beweiserhebung vor dem Hintergrund bisheriger Beweisergebnisse die Befugnis zur Bewertung eines Beweises, ohne daß er erhoben werden muß.

1. Kap.: Zur Problematik und zum Gang der Untersuchung

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Zeit wird dies von Gollwitzer31 dahingehend präzisiert, daß im Rahmen der Aufklärungspflicht eine Vorwegwürdigung der Tragweite und des Beweiswertes eines noch nicht ausgeschöpften Beweismittels zulässig sei. Nur sie könne ergeben, ob im Hinblick auf das bisherige Beweisergebnis die reale Möglichkeit eines zusätzlichen entscheidungsrelevanten Aufklärungsgewinns zu verneinen sei oder ob sie bestehe, weil das bisherige Ergebnis wieder in Frage gestellt werde oder gesichert werden könne. 32 Allgemeingültige Regeln werden jedoch im allgemeinen nicht aufgestellt. 11. Auffassungen der Rechtsprechung

Auch die Rechtsprechung gibt nur wenig Aufschluß. Entscheidungen zu § 384 III, für die sinngemäß die Ausführungen zu § 77 I OWiG a. F. 33 herangezogen werden können,34 der textgleich mit § 384 III war und für das Verfahren nach zulässigem Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid galt, bieten nur wenig Erhellendes dazu, was unter der "freieren Stellung" des Gerichts zu verstehen ist. In diesem Bereich hat sich die Rechtsprechung auf die Formulierung zuriickgezogen, daß das Gericht unter Beachtung des Amtsaufklärungsgrundsatzes einen Beweisantrag auch dann ablehnen könne, wenn der Sachverhalt aufgrund verläßlicher Beweismittel so eindeutig geklärt sees bzw. das Gericht ihn für so eindeutig geklärt halte 36 , daß die beantragte Erhebung des Beweises an der Überzeugung des Gerichts vom Gegenteil der Beweisbehauptung nichts ändern würde37 , wenn also keinerlei Zweifel an der Aussichtslosigkeit der Beweiserhebung beständen38 . In diesem engen Rahmen komme die Ablehnung eines Beweisantrags aufgrund vorweggenommener Beweiswürdigung ausnahmsweise in Betracht. 39 Entscheidend 30 So z. B. Alsberg/Nüse/Meyer, 30 f.; LiemersdorfStV 1987,176; Rose, 413 f.; Roxin § 43 Rn. 4; Scheffler NJW 1994,219. 31 In LR, § 244 Rn. 59; lediglich Herdegen hat ein detailliertes System herausgearbeitet, auf das später noch ausführlich im 3. Kapitel eingegangen werden wird. 32 In LR24 , § 244 Rn. 59 beruft sich Gollwitzer für diese Ansicht auf Frister ZStW 105, 340 ff. Dieser gestattet aber im Rahmen der Aufklärungspflicht gerade nicht - wie es die Ausführungen Gollwitzers vermuten lassen - die Antizipation des Beweiswertes sondern nur des Beweisergebnisses. Auch Schulz StV 1991, 357 geht davon aus, daß im Rahmen des § 244 11 die Beurteilung des Beweiswertes gestattet sei. 33 In der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Jan. 1975 (BGBL I S. 80/520).

Vgl.Alsberg/Nüse/Meyer, 834. BayObLG VRS 57, 28, 31; OLG Hanun VRS 45, 311. 36 BGH bei Rüth DAR 1983, 256; BayObLG VRS 59, 211, 212; KG VRS 65, 212. 37 BayObLG VRS 59, 211, 212; KG VRS 65, 212; OLG Stuttgart VRS 62, 459. 38 BayObLG bei Rüth DAR 1983,256; KG VRS 65, 212. 39 OLG Stuttgart VRS 62, 459; nach OLG Hanun MDR 1971,599,600; MDR 1972,628, 629; VRS 43, 54, 55; VRS 44, 114, 116; OLG Karlsruhe VRS 48, 375, 376 und OLG Frankfurt VRS 46, 461 sollen Beweisantizipationen nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zuläs34

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

komme es dabei auf das Gewicht an, das den bisherigen Ergebnissen der Beweisaufnahme im Verhältnis zu dem zusätzlich beantragten Beweis nach der gesamten Beweislage zukommt. 40 Auch Entscheidungen zu § 24411 tragen wenig zur Klärung bei. 41 Bisher schien die Rechtsprechung davon auszugehen, daß das Beweisantizipationsverbot auch im Rahmen des § 244 11 gilt, jedoch gegenüber dem Beweisantragsrecht mit eingeschränkter Reichweite. 42 Ungeklärt blieb bis heute jedoch, welche Beweisantizipationen möglich sind, die einerseits innerhalb des Beweisantragsrechts noch nicht erlaubt sind, andererseits aber auch nicht gegen das (eingeschränkt) zu beachtende Beweisantizipationsverbot innerhalb der Amtsaufklärungspflicht verstoßen. Zusätzlich wird durch die aufgezeigte Interpretation der Amtsaufklärungspflicht durch die Rechtsprechung die weitere Frage aufgeworfen, ob sich die "eindeutige Klärung" des Sachverhalts anhand objektiver Kriterien beurteilt oder aus der subjektiven Sicht des Tatrichters. Möglicherweise haben sich für die Rechtsprechung diese Fragen jedoch ohnehin erledigt, nachdem der Bundesgerichtshof neuerdings die These vertritt, daß das Gericht im Rahmen des § 244 11 vom Beweisantizipationsverbot befreit sei. 43 Dies ist ein Novum, dessen Berechtigung es im Rahmen dieser Arbeit zu untersuchen gilt.

c. Auswirkungen der Gesetzesänderungen auf das Strafverfahren, insbesondere die Rechtsstellung des Beschuldigten Es bleibt somit festzustellen, daß sowohl der Gesetzgeber als auch Wissenschaft und Rechtsprechung bisher nicht näher konkretisiert haben, in welchen tatsächlichen Situationen das Beweisantragsrecht zu Beweiserhebungen verpflichtet, die nicht auch durch die Amtsaufklärungspflicht geboten wären. Damit korrespondiert die Frage nach einem eventuell gegenüber dem Beweisantragsrecht erweiterten Bereich für Beweisantizipationen und den Grenzen, die das Beweisantizipationsverbot der richterlichen Entscheidung über den Umfang der Beweisaufnahme sig sein. Nach BGHSt 10, 116, 118 f.; 23, 176, 187 f. soll die Amtsaufldärungspflicht in extrem gelagerten Fällen (es ging jeweils um einen Sachverständigenbeweis) trotz Vorliegens eines Ablehnungsgrundes zur Beweiserhebung verpflichten. 40 BayObLG VRS 59, 211, 213. 41 In welchem Umfang das Tatgericht im Bereich der Amtsaufldärungspflicht an das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung gebunden ist, wird z. B. ausdriicklich offen gelassen in BGH NStZ 1994, 247, 248. 42 Vgl. BGHSt 8,177,181; 13,326,327; BGH StV 1994,411,412; vage dagegen BGHSt 36, 159, 165: ,,rechtlich zulässige Antizipation des mutmaßlichen Ertrages". 43 BGH IR 2000,32,33 = NStZ 1999,312.

1. Kap.: Zur Problematik und zum Gang der Untersuchung

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innerhalb der Amtsaufklärungspflicht setzt. Daß eine Einschränkung des Beweisantragsrechts den Umfang der Beweisaufnahme unmittelbar beeinflussen kann, wird lediglich vermutet. Daß diese Frage nicht nur von theoretischem Interesse ist, verdeutlichen folgende Überlegungen: I. Zum einen führt eine Einschränkung des Beweisantragsrechts u. U. schon während der Hauptverhandlung insofern zu einer mittelbaren Beeinträchtigung der Rechtsposition der Verfahrensbeteiligten, insbesondere des Angeklagten, als sie dessen Möglichkeiten, die Einhaltung der gerichtlichen Aufklärungspflicht zu kontrollieren, beschränkt. Die Stellung eines Beweisantrags unter Geltung des Beweisantragsrechts ermöglicht nämlich nicht nur, das Gericht auf bisher unbekanntes Beweismaterial hinzuweisen und damit die Wahrheitsermittlung zu sichern44 , sondern löst auch formelle Bescheidungs-45 und Protokollierungspflichten46 aus, so daß der Angeklagte an der BeschIußbegriindung sein weiteres Verteidigungsverhalten ausrichten kann. 47 Der Gesetzgeber geht zwar davon aus, daß auch im beschleunigten Verfahren und im Strafbefehlsverfahren die Ablehnung eines Beweisantrags durch begriindeten Beschluß zu erfolgen hat,48 und für § 244 V S. 2 gilt ohnehin § 244 VI,49 aber in der Judikatur und im Schrifttum ist nicht eindeutig geklärt, welche formellen und vor allem welche inhaltlichen Anforderungen an den Ablehnungsbeschluß im Geltungsbereich der Amtsaufklärungspflicht zu stellen sind: 5o

Während formell allgemein ein begriindeter Beschluß gern. den §§ 244 VI, 34 gefordert wird,51 gehen hinsichtlich der Anforderungen, die an den Begriindungsinhalt zu stellen sind, die Auffassungen weit auseinander: Gössel, Gutachten C, 66; Wenner, 149; vgl. auch Gutmann JuS 1962,377. Siehe §§ 244 VI, 34. 46 Siehe § 273. 47 Über diese Bedeutung des Beweisantragsrechts besteht Einigkeit, vgl. nur Bemsmann ZRP 1994, 331; Engels GA 1981, 34; Fezer StV 1995, 268; Gutmann JuS 1962, 377; Herdegen NStZ 1984,99; Wenner, 150; Werle JZ 1991,793. 48 BT-Dr. 12/6853 S. 36. 49 Siehe auch BGHSt 40, 60, 63. 50 Mit § 295 I des Diskussionsentwurfs für ein Gesetz über Rechtsmittel in Strafsachen von 1975, der wortgleich mit dem § 420 IV ist, wollte man die Beweisaufnahme auch dahingehend vereinfachen, daß sogar die Möglichkeit entfallen sollte, förmliche Beweisanträge zu stellen und damit die Notwendigkeit, diese fönnlich zu bescheiden (siehe dazu die Begründung zum DE S. 62). Ebenso verfolgte auch die große Strafrechtskornrnission mit diesem Wortlaut das Ziel, den Richter von seiner Begründungspflicht aus § 244 VI zu entlasten (bei Kintzi DRiZ 1994, 328). 51 BayObLG bei Rüth DAR 1983, 256; VRS 59, 211, 213; Alsberg/Nüse/Meyer, 835; KK-Senge, § 348 Rn. 3; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 384 Rn. 15, § 420 Rn. 11; KMRStöckel, § 384 Rn. 8; KMR-Metzger, § 420 Rn. 16 f.; LR-Wendisch, § 384 Rn. 6; SKPaeffgen, § 420 Rn. 28; Schom, 115; Woesner NJW 1959,706. 44 45

1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

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Teils wird verlangt, daß der Beschluß die maßgeblichen rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen und Gesichtspunkte erkennen lassen müsse,52 insbesondere warum durch die beantragte Beweiserhebung die Überzeugung des Gerichts nicht mehr erschüttert werden könne;53 teils wird der Hinweis für ausreichend gehalten, dass Gericht halte den Sachverhalt für genügend geklärt oder das Gegenteil der Beweistatsache sei bereits erwiesen. 54 In der älteren Rechtsprechung hielt man eine Begründung sogar für ganz überflüssig. 55 Ist also zumindest mittelbar schon in der Hauptverhandlung mit einer Verschlechterung der Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten zu rechnen, so ist es umso wichtiger, daß die neu eingefügten Vorschriften einen eigenen Anwendungsbereich haben und unmittelbar den Umfang der Beweisaufnahme verändern, denn sonst ist das ausdrücklich in den Vordergrund gestellte Hauptargument des Gesetzgebers für eine Einschränkung des Beweisantragsrechts - die Beschleunigung des Verfahrens durch Verkürzung der Beweisaufnahme56 - widerlegt, und die Existenz dieser Vorschriften nicht zu rechtfertigen. 11. Zum anderen verändert eine Einschränkung des Beweisantragsrechts in der bisher vom Gesetzgeber gewählten Form auch die Möglichkeiten, die fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags erfolgreich mit der Revision zu rügen: 57 Die Rüge kann sich nur auf die Geltendmachung einer Verletzung der Amtsaufklärungspflicht stützen. Zwar ist insoweit das Vorbringen statthaft, die Ablehnung eines Beweisantrags verstoße gegen das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung,58 hinsichtlich der revisionsrechtlichen Überprüfung eines solchen Verstoßes ergeben sich aber gegenüber der Rüge einer Verletzung des § 244 III möglicherweise erhebliche Einschränkungen, je nach dem, ob eine Verletzung unmittelbar des § 244 11 einerseits oder der §§ 384 III, 420 IV, 411 11 S. 2 andererseits gerügt wird: Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs prüft das Gericht die Verletzung des § 244 11 "aus seiner Sicht der Dinge,,59, weil er § 244 11 als objektiven 52

115.

KK-Senge, § 384 Rn. 3; KMR-Stöckel, § 384 Rn. 8; LR-Wendisch, § 384 Rn. 6; Schom,

BayObLG bei Rüth DAR 1983, 256; VRS 59, 211, 213; Woesner NJW 1959,707. OLG Hamrn VRS 52, 205; OLG Stuttgart VRS 62, 459; Alsberg/Nüse/Meyer, 836 f.; Kleinknechtl Meyer-Goßner, § 384 Rn. 15, § 420 Rn. 11; so wohl auch KG VRS 65, 212. 55 OLG Düsseldorf GA 75,275,276; OLG Dresden HRR 1929 Nr. 1078; OLG Hamburg HRR 1928 Nr. 1677; Stern JW 1928, 1884; so auch Dürwanger/Dempewolf, 416. 56 Nicht lediglich eine Lockerung der inhaltlichen Anforderungen an den Ablehnungsbeschluß. 57 Wobei es im Regelfall um die Revision der Urteile der Berufungsinstanz geht, denn der Beschuldigte kann zwar gegen ein Urteil des Amtsgerichts auch unmittelbar Revision einlegen (§ 335), diese Möglichkeit wird aber praktisch nur sehr selten genutzt, dazu Perron, Beweisantragsrecht, 159. 58 Vgl. KG VRS 65, 211, 212. 53

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1. Kap.: Zur Problematik und zum Gang der Untersuchung

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Prüfungsmaßstab begreift und nicht (mehr) als Ermessensvorschrift. 6o Ein tatrichterlicher Ermessensspielraum wird nicht mehr anerkannt. 61 Demgegenüber billigt der Bundesgerichtshof im Bereich des Beweisantragsrechts für die Mehrzahl der Ablehnungsgründe dem Tatrichter einen Ermessensspielraum ZU,62 so daß die auf die Verletzung des Beweisantragsrechts gestützte Revision auch nur zur Überprüfung einer ,,Ermessensentscheidung" führt. Das bedeutet folgendes: Während das Revisionsgericht bei prozessual erheblichen Tatsachen, die von Amts wegen zu prüfen oder Gegenstand einer Verfahrensrüge sind, grundsätzlich (im Wege des Freibeweises) zu eigenen Feststellungen und zu eigenen Wertungen befugt ist, ohne an die Feststellungen und die Beweiswürdigung des Tatgerichts gebunden zu sein,63 sind dagegen die tatsächlichen Voraussetzungen prozessualer Entscheidungen, welche der Tatrichter nach "freiem" oder "pflichtgemäßem Ermessen" zu treffen hat, der Nachprüfung durch das Revisionsgericht entzogen. 64 Eine Überprüfung ist nur daraufhin vorzunehmen, ob der Tatrichter sich der Möglichkeit zu einer Ermessensentscheidung bewußt gewesen ist und ob er die anzuwendenden Rechtsbegriffe verkannt65 , er sich also mit seiner Entscheidung nicht in den Grenzen des Ermessens gehalten hat. Entsprechend nimmt das Revisionsgericht im Beweisantragsrecht also keine eigene Beurteilung des Sachverhaltes vor. 66

BGH NStZ 1985, 325; NStZ-RR 1996,299; StV 1996,581,582; NStZ 1998,209,210. Zum Wandel des Verständnisses des § 244 II von einer Ermessensnorm zu einem objektiven normativen Maßstab siehe Fezer, BGH-FG, 1 ff., insbesondere 12 und Herdegen, Boujong-FS, 784 f.; ders. NStZ 1998,445. 61 Dazu Fezer, BGH-FG, 12 ff.; anders noch SarstedtlHamm5 , Rn. 257 und Alsbergl NüselMeyer, 87; siehe auch den Hinweis Herdegens, Boujong-FS, 784 f., daß § 244 II häufig noch als "Ermessensvorschrift" mißverstanden wird; vgl. z. B. LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 119. 62 Siehe die Nachweise unten im 9. Kapitel Fn. 8 sowie AlsberglNüselMeyer, 900 f. für Ungeeignetheit und Unerreichbarkeit; Perron, Beweisantragsrecht, 225 ff., jeweils bei den einzelnen Ablehnungsgründen. 63 BGHSt 16, 164, 167; 30,214,217 f.; Herdegen, Abhandlungen, 69. 64 Vgl. u. a. BGHSt 4,255; 368, 369, 372 f.; 9, 71, 72; 22, 266, 267; 28, 384, 387; 31, 140, 143; 29, 1,3; weitere Nachweise bei Herdegen, Abhandlungen, 70. 65 AlsberglNüselMeyer, 159. 66 Dieser Unterschied wird vor allem dann praktisch relevant, wenn sich der schon mehrfach geäußerte Vorschlag durchsetzen sollte, das Beweisantragsrecht für alle amtsgerichtlichen Verfahren zu streichen, so u. a. vorgebracht auf der 52. Konferenz der lustizminister und -senatoren StV 1982, 325 und im Entwurf des Bundesrates zum RpflEG, BR-Dr. 314/ 91 S. 52; auch von der großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes, die Ende 1993 vom Bundesjustizministerium mit der Erstellung eines Gutachtens zu Möglichkeiten der Beschleunigung des Strafverfahrens betraut wurde, wurde der Vorschlag gemacht, in allen Verfahren vor dem Strafrichter das Beweisantragsrecht abzuschaffen. 59

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3 Schulenburg

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Eine Beschränkung des Beweisantragsrechts zugunsten der Amtsaufklärungspflicht scheint also auf den ersten Blick sogar zu einer verschärfteren revisionsrechtlichen Kontrolle zu führen, inhaltlich allerdings ohne die Bindung an die Ablehnungsgründe des Beweisantragsrechts. Tätsächlich ist dies jedoch im Bereich der §§ 384 III, 420 IV nicht zu beobachten. Vielmehr werden diese Vorschriften trotz Verweises auf § 244 11 auch heute immer noch als Ermessensvorschriften verstanden,67 mit der Folge, daß die Revision in diesem Bereich auch nur zu einer Überprüfung auf Ermessensfehler hin führen kann. So erklärt sich auch, warum die Rechtsprechung zu § 384 III für einen Verzicht auf eine beantragte Beweiserhebung immer noch die Begründung genügen läßt, der Sachverhalt sei eindeutig geklärt. 68 In diesem Bereich gelten also für die Entscheidung über eine Beweiserhebung weder die Vorgaben des Beweisantragsrechts noch nimmt das Revisionsgericht eine Prüfung des Sachverhalts aus seiner Sicht vor. Damit wird der Verweis auf § 244 11 nicht ernst genommen. 69 Um so mehr hängt der Erfolg einer Revision, die sich gerade auf eine Verletzung des Beweisantizipationsverbots stützt, davon ab, daß die Grenzen, die es dem vermeintlich bestehenden Ermessen des Tatrichters setzt, genau umschrieben sind.

D. Rechtfertigung der Maßnahmen aus Sicht des Gesetzgebers Angesichts dieser Rechtsunklarheit und vor allem wegen des anerkannt hohen Stellenwertes des Beweisantragsrechts innerhalb der StP070 sollte man erwarten können, daß sich der Gesetzgeber nicht leichtfertig vom Beweisantragsrecht als einer hart erkämpften Errungenschaft des reformierten Strafprozesses getrennt und die Einführung dieser Einschränkungen im beschleunigten und Strafbefehlsverfahren sowie hinsichtlich der Vernehmung eines Auslandszeugen sorgfältig überdacht und begründet hat; dies nicht zuletzt auch deshalb, weil im Schrifttum jeglicher Einschränkung des Beweisantragsrechts zum Teil vehement als "Angriff auf das wichtigste, beinahe einzige Verteidigungsmittel des Angeklagten,,71 entgegengetreten wurde.

67 Für § 384 ITI: Woesner NJW 1959,706; Alsberg/Nüse/Meyer. 833; KK-Senge, § 384 Rn. 3; KMR-Stöckel, § 384 Rn. 6; hierauf weist auch SK-Paeffgen, § 420 Rn. 19 hin, der selbst von einem durch § 244 11 begrenzten Ermessensspielraum ausgeht (Rn. 20); für § 420: ausdrücklich der Gesetzgeber, BT-Dr. 12/6853 S. 36. 68 Siehe oben § 1 B. 11. 69 Ebenso SK-Paeffgen, § 420 Rn. 19. 70 Siehe nur Alsberg/Nüse/Meyer. 371; Schulz StV 1991,362; Schmidt-Hieber JuS 1985, 292; Werle JZ 1991,792. 71 So ausdrücklich Schejjler NJW 1994, 2193; siehe auch Bemsmann ZRP 1994, 331; Schulz StV 1991,355 ff. und Wächtler StV 1994, 160.

1. Kap.: Zur Problematik und zum Gang der Untersuchung

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Untersucht man diesbezüglich die Gesetzesmaterialien, die sich generell mit der Einschränkung des Beweisantragsrechts befassen, wird diese Erwartung zunächst auch bestätigt: Als man 1979 die Beweiserhebungspflicht des Gerichts hinsichtlich präsenter Beweismittel an die Stellung eines Beweisantrags knüpfte und den Kreis der Ablehnungsgründe erweiterte, war man sich des generellen Stellenwertes des Beweisantragsrechts als einer rechtsstaatlichen Errungenschaft nocht bewußt. Eine Einschränkung der §§ 244 III bis V wurde ausdrücklich abgelehnt, selbst wenn damit der mißbräuchlichen Benutzung zur Herbeiführung von Verfahrensverzögerungen hätte entgegengewirkt werden können 72 , und in den neuen § 245 wurden nur solche Ablehnungsgründe übernommen, "bei denen auch eine entfernte Möglichkeit der Beweisantizipation" ausgeschlossen sei73 . Um dies zu gewährleisten, setzte sich der Gesetzgeber ausführlich mit der Interpretation dieser Ablehnungsgründe in Rechtsprechung und Wissenschaft auseinander. 74 1984 formulierte der Gesetzgeber sogar, der Spielraum für rechtsstaats wahrende Gesetzesänderungen sei ausgeschöpft und weitere Änderungen würden das "fein austarierte Gleichgewicht des deutschen Strafverfahrens beeinträchtigen,,75. Umso erstaunlicher ist es daher, daß beim Entwurf des RpflEG Beschränkungen des Beweisantragsrechts diskutiert wurden, ohne auch nur ein Wort über den hohen Stellenwert dieses Rechts zu verlieren. 76 Eine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen wurde jedenfalls nicht befürchtet?7 Unkritisch berief man sich auf die h. M., und obwohl man sich bewußt war, daß "Beschränkungen des Beweisantragsrechts . .. nur in verhältnismäßig wenigen Fällen zur Folge haben, daß eine beantragte Beweiserhebung unterbleiben" und der Umfang des Entlastungseffekts nicht "quantifiziert" werden kann, so erachtete man sie doch nicht "als ganz ohne Bedeutung". 78 So verwundert es auch nicht, wenn gegen den Entwurf geäußerte Bedenken der Bundesregierung weitgehend unbeachtet blieben. 79 Hinsichtlich der Beratungen zu § 420 IV erscheint es dann auch nur noch als folgerichtig, daß eine nähere Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Beweisantragsrechts und des Beweisantizipationsverbots nicht mehr erfolgte und die nöti-

BT-Dr. 8/976 S. 23 f. BT-Dr. 8/976 S. 51. 74 Vgl. BT-Dr. 8/976 S. 53 f. 75 BT-Dr. 10/1313 S. 11; ähnlich forderte 1987 der damalige Bundesjustizminister Enge1hard anstelle von Einzeländerungen eine grundlegende Reform des Strafprozesses, zit. bei Bandisch StV 1994, 155; vgl. auch Scheffler NJW 1994, 2193. 76 Vgl. BT-Dr. 12/1217 S. 35 f. 77 Vgl. BT-Dr. 12/1217 S. 35 am Anfang. 78 BT-Dr. 12/1217 S. 35. 79 Vgl. BT-Dr. 12/1217 S. 67 i. V. m. BT-Dr 12/3832 S. 41. 72 73

3*

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

ge Beschleunigung der Hauptverhandlung als ausreichende Begründung für eine Einschränkung des Beweisantragsrechts angesehen wurde 8o . Der Gesetzgeber hat sich also letztendlich ohne sachliche Rechtfertigung über die Bedeutung des Beweisantragsrechts hinweggesetzt. Das Ziel der Verfahrensverkürzung kann aber nur Anlaß für eine Änderung prozeßrechtlicher Vorschriften sein. Die innere Rechtfertigung für diese Änderungen muß sich aus den allgemeinen Verfahrens grundsätzen und Zusammenhängen der StPO ergeben, andernfalls heiligt der Zweck die Mittel. Bezogen auf Einschränkungen des Beweisantragsrechts bedeutet dies, daß sie mit der Funktion des Beweisantizipationsverbots im Einklang stehen und sich in dessen innere Struktur einfügen müssen.

§ 2 Das Beweisantizipationsverbot als einheitliches Institut Zum Gegenstand der Untersuchung Betrachtet man das Verhalten des Gesetzgebers, der weder den durch die neu eingefügten Vorschriften eröffneten Bereich möglicher Erweiterungen der Ablehnungsmöglichkeiten näher konkretisiert, noch diese Erweiterungen intrasystematisch rechtfertigt, drängt sich der Verdacht auf, daß eine Auseinandersetzung mit Bedeutung und Struktur des Beweisantragsrechts und insbesondere des Beweisantizipationsverbots bewußt vermieden wird, weil sich herausstellen könnte, daß die Grenzen zulässiger Erweiterungen der Ablehnungsmöglichkeiten im Hinblick auf das Beweisantizipationsverbot schon erreicht (und vielleicht sogar schon überschritten) sind und somit von vornherein jegliche Möglichkeit weiterer Einschränkungen ausgeschlossen wäre. 81 Dabei soll eines noch einmal deutlich klargestellt werden: Es wird nicht das Anliegen des Gesetzgebers in Frage gestellt, die Rechtspflege zu entlasten und sämtliche Möglichkeiten zu einer prozeßökonomischen Bewältigung des steigenden Geschäftsanfalls auszuschöpfen. Angezweifelt wird jedoch, daß der eingeschlagene Weg einer Beschneidung des Beweisantragsrechts hier zu bemerkbaren Erleichterungen führen kann. Letzteres soll mit der vorliegenden Abhandlung geklärt werden. Eine Analyse der Funktion sowie der inhaltlichen Struktur des Beweisantizipationsverbots soll Aufschluß über dessen Umfang und Reichweite geben, um so eiVgl. BT-Dr. 12/6853 S. 34ff. Siehe auch Fezer StV 1995, 267 ff., der ausdrücklich eine Diskrepanz zwischen der "nach außen zur Schau gestellten Argumentation des Gesetzgebers und den eigentlichen Hintergriinden" feststellt. Auch Schulz StV 1991, 356 f., 362 weist auf die Widerspriichlichkeit innerhalb der Begründung zum Entwurf des RpfiEG hin, die selbst bei wohlwollender Interpretation auf unausgesprochene Zwecke des Gesetzesentwurfes schließen lasse, z. B. daß ein Entlastungseffekt gerade in besonders schwierigen Verfahren erwartet werde, obwohl gerade in besonders schwierigen Verfahren Beweisanträge zur Klärung des Sachverhalts beitragen könnten. 80 81

1. Kap.: Zur Problematik und zum Gang der Untersuchung

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nen Überblick über die effektive Entlastungswirkung zu erhalten, die durch Beschränkungen des Geltungsbereiches des Beweisantragsrechts überhaupt erzielt werden kann. Welche Überlegungen dabei dem Vorhaben zugrunde liegen, soll im folgenden erläutert werden. A. Vorüberlegungen zum Untersuchungsgang im allgemeinen I. Bei Durchsicht der einschlägigen Literatur fällt auf, daß die Analyse des Beweisantizipationsverbots des öfteren nur beschränkt auf das Beweisantragsrecht vorgenommen wird, weil es durch die Ablehnungsgründe konkretisiert werde und dementsprechend dort seine maßgebliche Bedeutung entfalte. Aus diesem Grunde könne auf eine Untersuchung des Beweisantizipationsverbots innerhalb der Amtsaufklärungspflicht verzichtet werden. 82 Anschließend werden dann die gewonnenen Untersuchungsergebnisse auf die Amtsaufklärungspflicht übertragen und so Aussagen über die dort geltende Reichweite des Beweisantizipationsverbots gemacht.

Diese Argumentation ist aber schon im Ansatz problematisch: Erstens klammert man auf diese Weise einen Bereich aus der Untersuchung aus, und zweitens überträgt man die aus der eingeschränkten Untersuchung gewonnen Ergebnisse auf den Bereich, den man hätte mituntersuchen müssen. 83 Unabhängig von der Frage, ob das Beweisantizipationsverbot auch im Bereich der Amtsaufklärungspflicht (zumindest eingeschränkt) zu beachten ist, muß es auch in seiner Gesamtheit, als einheitliches Institut, untersucht werden, andernfalls entsteht ein verzerrtes Bild. 84 11. Desweiteren fällt auf, daß generell davon ausgegangen wird, daß eine Einschränkung des Beweisantragsrechts zwangsläufig zur Folge hat, daß das Beweisantizipationsverbot auch an Reichweite verliert. 85 Auf diese These stützt 82 So ausdrücklich ter Veen, 63; auch Alsberg/Nüse/Meyer, 29 f.; Schmidt-Hieber JuS 1985, 294; auch Engels GA 1981,22 ff.; Gössel, Gutachten C, 66 schließen vom Beweisantragsrecht auf die Geltung des Beweisantizipationsverbots innerhalb der Amtsaufklärungspflicht; dagegen nimmt Frister ZStW 105, 341 ff. eine das Beweisantragsrecht und die Amtsaufklärungspflicht umfassende Untersuchung der Struktur des Beweisantizipationsverbots vor, mit dem Ergebnis, daß das Verbot zwei unterschiedliche Beweisrechtsprinzipien vereine. 83 Siehe demgegenüber Köhler, 41 ff. und ihm folgend Anders, 116 ff., die von einer kategorialen Einheit von Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht ausgehen. 84 Mit dieser Überlegung läßt es sich entgegen Herdegen, Boujong-FS, 789 f. auch rechtfertigen, doch zu fragen, wie die einzelnen Ablehnungsgriinde der §§ 244 III bis V und 245 zu interpretieren sind und ob sie sich im Einklang mit den Grundsätzen des Beweisantizipationsverbots befinden. Auch wenn die Ablehnungsgriinde Anerkennung und Ausformung durch den Gesetzgeber gefunden haben und damit der Gesetzgeber die Entscheidung über Zulässigkeit von Beweisantizipationen getroffen hat, so kann eine Untersuchung der Ablehnungsgriinde doch Aufschluß geben in bezug auf das "unverfälscht" geltende Beweisantizipationsverbot im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

sich ja auch die Bestrebung des Gesetzgebers, das Beweisantragsrecht einzuschränken. Diese Annahme selbst gründet sich auf die nahezu einhellig angewandte Methode, die Frage nach Geltung und Reichweite des Beweisantizipationsverbotes aus der Entstehungsgeschichte des Beweisantragsrechts 86 heraus zu beantworten87 • Oie Ursprungsfassung der Reichsstrafprozeßordnung von 187788 beinhaltete nämlich weder eine Regelung des Aufklärungsgrundsatzes noch der Ablehnung von Beweisanträgen. Die Pflicht des Gerichts zur Ermittlung der Wahrheit von Amts wegen wurde zwar vom Gesetzgeber vorausgesetzt, jedoch nicht normiert. 89 Der Umfang dieser Aufklärungstätigkeit selbst wurde wiederum sowohl vom Gesetzgeber als auch dem Reichsgericht als durch den Grundsatz der freien Beweiswürdigung begrenzt verstanden. Aus der Befugnis, über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach Ermessen zu entscheiden folge auch die Freiheit, über den Umfang der Beweisaufnahme nach freiem Ermessen zu befinden. 90 Die Beweiswürdigung als subjektive Ermessensausübung war damit jeglicher revisionsrechtlicher Kontrolle anhand objektiver Maßstäbe entzogen. 91 Ebenso stand auch die Entscheidung über die Ablehnung von Beweisanträgen im Ermessen des Gerichts. 92 Für diesen Bereich hat das Reichsgericht dann aber schon früh 93 begonnen, ein dem heutigen § 244 III nahezu entsprechendes System von Ablehnungsgründen zu entwickeln, und zwar unter grundsätzlicher Anerkennung des Beweisantizipationsverbotes 94 • Hierin ist der Grund zu sehen, daß das Beweisantizipationsverbot auch heute noch mit der Entstehung und Entwicklung des Beweisantragsrechts in Verbindung gebracht wird. Dieser herkömmlicherweise beschrittene Weg erweist sich allerdings als wenig fruchtbar: Die aufgezeigte Entwicklung kann nämlich einerseits von der h. M. als Argument dafür herangezogen werden, daß das Beweisantragsrecht als Begrenzung des gerichtlichen Instruktionsermessens dienen sollte und durch seine Einschränkung gleichzeitig die Reichweite des Beweisantizipationsverbots begrenzt wird95 . Sie kann aber auch von der Identitätslehre als Beleg dafür angeführt werSiehe hierzu die Kritik von Herdegen. Meyer-GS, 197. Zu dieser siehe Alsberg/Nüse/Meyer, 1 ff.;Engels. 29 ff.; Rose. 386ff. 87 Alsberg/Nüse/Meyer, 1 ff. i. V. m. 29; Engels. 21 ff.; ders. GA 1981,24 ff.; Gössel. Gutachten C, 66; Schmidt-Hieber JuS 1985, 292; hiergegen kritisch Schulz StV 1991, 359; Schlüchter, Weniger ist mehr, 35 ff. trennt dagegen zwischen der Entwicklung des Beweisantragsrechts und der des Beweisantizipationsverbots. 88 Zur Entstehungsgeschichte siehe Schatz. 25 ff. 89 Dazu W!ßgott, 54 f. m. w. N. 90 Schatz. 84 m. w. N. 91 Fezer, BGH-FG, 848. 92 Außer bei präsenten Beweismitteln, dazu Wißgott, 57 ff. und Schatz, 65 m. w. N. 93 Zuerst in RGSt 1, 189, 190. 94 Hierzu Alsberg / Nüse / Meyer, 5 und Schatz. 84 ff. 85

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den, daß das Beweisantragsrecht aus dem übergeordneten Gesichtspunkt der Wahrheitserforschungspflicht entwickelt wurde 96 und als Konkretisierung des Beweisantizipationsverbots Ausdruck derjenigen Kriterien ist, die auch für die Amtsaufklärungspflicht gelten 97 . Indem aber beide Auffassungen auf der Prämisse beruhen, daß sich das Beweisantragsrecht und das Beweisantizipationsverbot parallel entwickelt haben und entwickeln müssen, wird auch hier wieder der problematische Ansatz erkennbar, das Beweisantizipationsverbot nicht als selbständiges Institut zu untersuchen, sondern es nur vom Beweisantragsrecht her zu definieren. Denkbar ist nämlich entgegen der h. M. auch, daß das Beweisantizipationsverbot zwar durch das Beweisantragsrecht näher umgesetzt wird, aber dennoch unabhängig davon Geltung beanspruchen und seine Gültigkeit nicht durch eine Veränderung des Beweisantragsrechts verlieren kann. 98 Hiervon müßte eigentlich auch die in der Wissenschaft überwiegende Meinung ausgehen, wenn sie behauptet, daß auch im Bereich der Amtsaufklärungspflicht das Beweisantizipationsverbot nicht völlig unbeachtet bleiben darf. Denkbar ist aber auch umgekehrt entgegen der Identitätslehre, daß die gesetzliche Fixierung der Ablehnungsgriinde einen Beweiserhebungszwang geschaffen hat, der über die Anforderungen, die das Beweisantizipationsverbot an die Beweiserhebung stellt, hinausgeht. 99 Dies wäre dann auch ein Indiz dafür, daß im Bereich der Amtsaufklärungspflicht zusätzlich Beweisantizipationen möglich sind, die durch die gesetzliche Fixierung des Beweisantragsrechts ausgeschlossen sind. So zeigen auch Untersuchungen aus jüngster Zeit zur historischen Entwicklung des Beweisantragsrechts und der Amtsaufklärungspflicht, daß zwar zunächst wegen der rein subjektivierten Interpretation der Amtsaufklärungspflicht das Beweisantizipationsverbot in diesem Bereich überhaupt keine Geltung hatte (was gegen die Identitätslehre spricht), jedoch in der weiteren Entwicklung wegen eines zunehmend objektivierten Verständnisses auch nach Abschaffung des Beweisantragsrechts 1939 das Beweisantizipationsverbot zumindest mittelbar noch Geltung im Bereich der Amtsaufklärunspflicht beanspruchte. lOo Da letztlich jedoch die 95 Vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, 29; LiemersdorfStV 1987, 175; Schmidt-Hieber JuS 1985, 292; Schulz StV 1991,359 f.; Werle JZ 1991,792 f. 96 Bergmann, 136; Engels GA 1981,24 ff.; Gutmann JuS 1962, 378; Wenner, 157, 171; Wesseis JuS 1969,3. 97 Engels GA 1981, 22; Fezer, Studienkurs, 12/99; Gössel, Strafverfahrensrecht, 248; ders., Gutachten C, 66; Wenner, 157; Wesseis JuS 1969,3 f. 98 Ähnlich Herdegen, Meyer-GS, 196 f. 99 Diese These vertritt ausdrücklich Schlüchter, Weniger ist mehr, 37 ff.; siehe dazu auch unten 2. Kapitel § 1 B. 100 Dazu Schatz, 117 ff.; Wißgott, 214 ff.; Fezer, BGH-FG, 851 f.

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Funktion des Beweisantizipationsverbots und ihre Bedeutung für die Sachverhaltserforschung mit den gegenwärtigen Kenntnissen zum tatrichterlichen Erkenntnisprozeß in Einklang stehen müssen, soll der inzwischen umfassend aufgearbeiteten historischen Entwicklung von Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht lO1 in dieser Arbeit nicht weiter nachgegangen werden. B. Die Analyse des Beweisantizipationsverbots im besonderen Bevor in den folgenden Kapiteln den Fragen nach Struktur und Grenzen des Beweisantizipationsverbots im einzelnen nachgegangen wird, soll vorher zum besseren Verständnis der innere Aufbau der Analyse skizziert werden, der durch die Wahl dieses Untersuchungsgegenstandes vorgegeben ist. I. Funktion, Inhalt, Umfang sowie Reichweite des Beweisantizipationsverbots

Am Anfang der Untersuchung muß eine Analyse der Funktion des Beweisantizipationsverbots stehen, also der Frage, welchen Zweck das Verbot im Rahmen der strafprozessualen Vorschriften zur Wahrheitserforschung erfüllt und welche Bedeutung es damit für die tatrichterliche Sachverhaltserforschung hat; denn nur wenn dies genau feststeht, kann zur Konkretisierung des Verbotsinhaltes geprüft werden, ob die Ablehnung einer Beweiserhebung aufgrund vorweggenommener Beweiswürdigung dem Verbot zuwider läuft, mit ihm in Einklang steht bzw. aufgrund bestimmter Umstände ausnahmsweise zuzulassen ist. Nur wenn die Regel bekannt ist, kann die Zulässigkeit einer Ausnahme beurteilt werden. Diesbezüglich ist vor allem zu klären, in welchem Verhältnis das Beweisantizipationsverbot zur Amtsaufklärungspflicht und zur Freiheit der Beweiswürdigung steht. Hinsichtlich des Inhalts, also der Struktur des Verbots, und des dadurch bestimmten Umfangs ist dann im einzelnen zu untersuchen, welche Varianten einer Vorwegnahme der Beweiswürdigung überhaupt denkbar sind und unter welchen Voraussetzungen der Verzicht auf eine Beweiserhebung in Form der Beweisantizipation mit der Funktion des Verbots vereinbar ist. Unvereinbare Antizipationen müßten dann unzulässig sein und den Inhalt des Verbots ausmachen. Vereinbare Antizipationen brächten dagegen zum Ausdruck, wo das Verbot der vorweggenommen Beweiswürdigung seine Grenzen findet oder wo möglicherweise Ausnahmen anzusiedeln sind. In diesem Zusammenhang ist u. a. auch zu fragen, wie die Stellung eines Beweisantrags oder das Vorliegen sonstiger Beweisanregungen i. w. S. die richter101

Vgl. dazu Schatz, 55 ff.; Wißgott, 33 ff.; Fezer, BGH-FG, 847 ff.

1. Kap.: Zur Problematik und zum Gang der Untersuchung

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liehe Überzeugungsbildung beeinflussen und ob es von Bedeutung für die Zulässigkeit von Beweisantizipationen sein kann, zu welchem Zeitpunkt ein Beweisantrag gestellt wird. Wenn nämlich darauf abgestellt wird, daß der Sachverhalt genügend geklärt sein müsse, damit Beweisantizipationen zulässig sind, kann dies so verstanden werden, daß vor diesem Zeitpunkt Beweisantizipationen nicht, danach aber möglicherweise zulässig sein sollen. 102 Dann muß aber auch danach gefragt werden, wonach sich entscheidet, ob dieser Zeitpunkt eingetreten ist, ob also objektive Kriterien maßgeblich sind, oder, wie es die Formulierungen der Rechtsprechung anklingen lassen, die subjektive Einschätzung des Tatrichters 103. Im übrigen muß auch der Frage nachgegangen werden, ob und wie gerade die Auswirkungen der Stellung eines Beweisantrags auf den tatrichterlichen Erkenntnisprozeß auch für die Reichweite des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung Bedeutung erlangen, da dies dann für den Bereich der Amtsaufklärungspflicht gleichermaßen wie für den des Beweisantragsrechts gelten müßte.

11. Begrimiche Klarstellungen

Mit dieser Frage nach der Funktion des Beweisantizipationsverbotes untrennbar verbunden ist die begriffliche Klärung dessen, was unter Beweisantizipation, Verbot der antizipierten Beweiswürdigung, Grenzen dieses Verbotes, Ausnahmen und Durchbrechungen zu verstehen ist. Bisher wurde nur allgemein von Beweisantizipation bzw. vorweggenommener Beweiswürdigung gesprochen, ohne auf die Vielzahl unterschiedlicher, teils alternativ, teils kumulativ verwendeter Begriffsbestimmungen einzugehen: Bei einer Beweisantizipation soll es sich z. B. um die negative lO4 oder auch die positive Unterstellung 105 des Ergebnisses einer Beweisaufnahme handeln, oder um die Vorwegwürdigung des Beweiswertes eines Beweismiuels lO6 , wobei aber nie ganz deutlich wird, ob es sich nur dann um Beweisantizipation handelt, wenn diese Vorwegunterstellung bzw. -würdigung gerade unter Rückgriff auf, d. h. unter Einbeziehung des bisherigen Ergebnisses der Beweisaufnahme erfolgt 107. 102 Schlüchter, Weniger ist mehr, 45 sagt ausdrücklich, daß mit zunehmender Dauer der Beweisaufnahme Beweisantizipationen "mehr und mehr zulässig" würden. 103 Siehe oben B. 11. 104 Alsberg/Nüse/Meyer, 413 ff.; Engels GA 1981, 31, 36; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 82. 105 Alsberg/Nüse/Meyer, 597; Gutmann JuS 1962, 375 spricht allgemein von Vorwegnahme des Beweisergebnisses. 106 Alsberg/Nüse/Meyer, 413; Herdegen. Meyer-GS, 188; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 59; Schmidt-Hieber JuS 1985,296; Engels GA 1981,21 und Wessels JuS 1969,2 sprechen nur generell von der Vorwegwürdigung des noch nicht erhobenen Beweises. 107 Nicht eindeutig sind insofern die Ausführungen bei Alsberg/Nüse/Meyer, 411 ff.; Engels GA 1981,21 ff.; Herdegen NStZ 1984,98 und Meyer-GS, 188; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 59; Schmidt-Hieber JuS 1985,293,296; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 82; eindeutig dagegen

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Dementsprechend trifft man - wie schon angesprochen - auch bei der Behandlung der Frage, welche Form der Beweisantizipation im Bereich der Amtsaufklärungspflicht erlaubt ist, auf unterschiedliche Ansichten: sie reichen von der lediglich zulässigen (isolierten) VorwegwÜfdigung des Beweiswertes des Beweismittels l08 über die Prognose, daß die Beweiserhebung nichts Wesentliches für die Sachentscheidung erbringen könne, weil unter uneingeschränkter Berücksichtigung des bisherigen Beweisergebnisses bereits das Gegenteil der Beweistatsache erwiesen sei lO9 , neuerdings sogar zu der Auffassung, daß das Beweisantizipationsverbot überhaupt nicht gelte l1O • Indem aber diese verschiedenen Begriffe häufig unreflektiert benutzt werden,111 bleibt zugleich die Möglichkeit ungenutzt, den Geltungsbereich des Beweisantizipationsverbots dadurch näher zu umschreiben, daß diese Begriffe in eine Beziehung zueinander gesetzt werden. Voraussetzung hierfür ist eine eingehende Auseinandersetzung mit den in der Wissenschaft und Judikatur vertretenen Auffassungen. Die Beseitigung terminologischer Ungenauigkeiten ist auch deshalb erforderlich, weil für die These, daß im Bereich der Amtsaufklärungspflicht Ausnahmen vom Beweisantizipationsverbot zulässig sein müßten, häufig das Argument herangezogen wird, auch innerhalb des Beweisantragsrechts seien Ausnahmen vom Beweisantizipationsverbot anerkannt 112. Damit wird aber verschleiert, daß jede Ausnahme gesondert auf ihre Vereinbarkeit mit Sinn und Zweck des Beweisantizipationsverbotes überprüft werden muß und daß nicht jede Ausnahmesituation mit einer anderen vergleichbar ist. Die Existenz von eventuell zulässigen Ausnahmen zum Beweisantizipationsverbot kann nur die Möglichkeit von Ausnahmen beweisen, nicht auch die Berechtigung weiterer Ausnahmen.

auf die Einbeziehung des bisherigen Ergebnisses abstellend: Julius NStZ 1986, 63; Wesseis JuS 1969,2; nach SK-Schlüchter; § 244 Rn. 96 liegt eine Beweisantizipation auch dann vor, wenn das bisherige Beweisergebnis bei der Prognose "berücksichtigt" werde, was nicht identisch sei mit einer Berufung auf das bereits erwiesene Gegenteil der Beweistatsache. 108 Göhler DAR 1981,340; LR-Gollwitzer; § 244 Rn. 59. 109 Vgl. BayObLG VRS 59, 211, 213; OLG Stuttgart VRS 62, 459; Alsberg/Nüse/Meyer; 836; Herdegen NStZ 1984, 98 f.; Kintzi NStZ 1994,448; Kleinknechtl Meyer-Goßner; § 384 Rn. 14; Schlüchter; Strafverfahren, Rn. 823; Schmidt-Hieber JuS 1985,461; Werle JZ 1991, 792. HO BGH JR 2000,32,33 =NStZ 1999,312. HI Rose, 398 begreift die Frage, ob im Rahmen des § 244 Il die Zulässigkeit einer Beweisantizipation nur "ausnahmsweise" oder "grundsätzlich" gegeben sei, gar als eine Frage der Terminologie! 112 Alsberg/Nüse/Meyer; 29 f.; Herdegen NStZ 1984,98; Schmidt-Hieber JuS 1985,294.

1. Kap.: Zur Problematik und zum Gang der Untersuchung

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Irr. Umsetzung des Beweisantizipationsverbots durch das Beweisantragsrecht

Erst wenn diese begrifflichen Klarstellungen geleistet sind, kann untersucht werden, ob und in welcher Form die Ablehnungsgriinde des Beweisantragsrechts nach Wortlaut und der Auslegung, die sie durch Rechtsprechung und Schrifttum erfahren haben, den Anforderungen entsprechen, die das Beweisantizipationsverbot an den Umfang der Beweisaufnahme stellt. Dann kann auch geklärt werden, ob der Bereich zulässiger Beweisantizipationen mit der Formulierung der Ablehungsgriinde nicht nur ausgeschöpft, sondern vielleicht sogar eingeschränkt wurde. Dementsprechend gilt es zu klären, welche Beweisantizipationen im gegenwärtig geltenden Beweisantragsrecht überhaupt möglich sind, d. h. ob sie mit den Mindestanforderungen des Verbots in Einklang oder dazu im Widerspruch stehen, ob sie also zulässig sind. Ist so die Umsetzung der Anforderungen des Beweisantizipationsverbots an die Sachverhaltsermittlungen durch die Ablehnungsgriinde des Beweisantragsrechts bzw. ihre Interpretation ermittelt, läßt sich auch feststellen, ob die Normierung dieser Ablehnungsgriinde einen über das Verbot hinausgehenden Beweiserhebungszwang festlegt oder nur seine Mindestanforderungen kodifiziert. Ebenso läßt sich dann ableiten, ob im Bereich der Amtsaufklärungspflicht über die zulässigen Möglichkeiten innerhalb des Beweisantragsrechts hinaus auf die Erhebung eines Beweises unter Vorwegnahme der Beweiswürdigung in zulässiger Weise verzichtet werden kann. Dies setzt nicht nur die Möglichkeit hierzu voraus, sondern auch, daß es sich systemkonform rechtfertigen läßt, was unmittelbar Auswirkung auf die Reichweite des Beweisantizipationsverbots innerhalb der Amtsaufklärungspflicht hat. In diesem Zusammenhang wird auch zu fragen sein, ob Bedeutung und Schwere des Delikts und das Verhältnis der erforderlichen Bemühungen, die im Rahmen der Beweisaufnahme erfolgen müßten, zur Rechtfertigung einer vorweggenommenen Beweiswürdigung herangezogen werden können. 113 Sollte es innerhalb der Amtsaufklärungspflicht diesen Bereich zulässiger Beweisantizipationen geben, die durch das Beweisantragsrecht nicht gestattet werden, könnte durch eine Beschränkung des Beweisantragsrechts der Umfang der Beweisaufnahme tatsächlich unmittelbar eingeschränkt werden.

113 Diese Kriterien werden zum einen als Rechtfertigung für eine gegenüber dem Nonnalverfahren andere Durchführung der Beweisaufnahme bei Privatklagedelikten und Ordnungs· widrigkeiten angeführt, vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, 833; Göhler DAR 1981, 340, 345; Woesner NJW 1959,706; zum anderen werden sie bei der Beurteilung der Unerreichbarkeit eines Beweismittels herangezogen, vgl. unten 8. Kapitel § 1 B. I. 3. und 4.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

2. Kapitel

Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung § 1 Einführung Die Darstellungen in der Literatur l zur Funktion, also zur Aufgabe des Beweisantizipationsverbots im Gefüge der die strafprozessuale Sachverhaltserforschung regelnden Vorschriften, vermitteln den Eindruck, daß sie so selbstverständlich sei, daß sie kaum einer ausdrücklichen Erwähnung bedürfe, geschweigedenn einer gesonderten Betrachtung. Erst bei eingehenderer Untersuchung wird deutlich, daß grundsätzlich zwei unterschiedliche Ansatzpunkte zur Funktionsbestimmung gewählt werden: Wahrend ganz überwiegend die Funktion des Beweisantizipationsverbots allein mit Blick auf die Wahrheitserforschungspflicht des Gerichts bestimmt wird, wird in jüngster Zeit versucht, daß Beweisantizipationsverbot außerdem mit dem Bedürfnis nach Prozeßbeschleunigung in Einklang zu bringen, welches im Widerstreit zu einer umfassenden Wahrheitserforschung steht. A. Wahrheitserforschung als oberster Grundsatz Die Bestimmung der Funktion des Beweisantizipationsverbots durch die vorherrschende Meinung läßt sich folgendennaßen zusammenfassen: Das Verbot folge unmittelbar aus der Pflicht des Gerichts zur Wahrheitserforschung. 2 Es beruhe zum einen auf der Erkenntnis, daß die Frage nach dem Umfang der Beweisaufnahme von der Beweiswürdigung grundsätzlich zu trennen sei, denn die Befugnis zur freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 261 setze die vollständige Erfüllung der Pflicht, die materielle Wahrheit zu erforschen, voraus. 3 1 Auf eine gesonderte Untersuchung der Auffassung der Rechtsprechung wird an dieser Stelle verzichtet, da sie im wesentlichen der herrschenden Literaturansicht entspricht. Gegebenenfalls werden zur Ergänzung Fundstellen aus der Rechtsprechung zitiert. 2 Bergmann, 143; Engels GA 1981, 33; Wenner, 130; so auch Alsberg/Nüse/Meyer, 412; Kreuzer, 32; LR24-Gollwitzer, § 244 Rn. 183; Schmitt, 181; so schon Bruns DR 1940, 2048; ähnlich KMR-Paulus, § 244 Rn. 141, der in einer Beweisantizipation grundsätzlich einen Verstoß gegen § 244 11 sieht; auch Schlüchter, Weniger ist mehr, 45 verankert das Beweisantizipationsverbot in § 244 11. Nach Alsberg, 65 und Widmaier NStZ 1994, 415 ist Grundlage des Verbots der sich aus dem Beweisantragsrecht ergebende Beweiserhebungsanspruch; Gutmann JuS 1962, 374 sieht die Grundlage sowohl in der Freiheit der Beweiswürdigung (§ 261) als auch in § 244 11. Es wird sich zeigen, daß sich die Notwendigkeit eines Beweisantizipationsverbots gerade aus dem Zusammentreffen von Amtsaufklärungspflicht und Beweiswürdigungsfreiheit in der Tätigkeit des Richters ergibt (dazu unten § 3 IV).

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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Zum anderen habe es seine Grundlage in dem Erfahrungssatz, daß sich ein sicheres Urteil darüber, welches Ergebnis eine Beweisaufnahme und welchen Wert ein Beweismittel hat, erst nach Durchführung der Beweiserhebung abgeben lasse. 4 Der Gebrauch eines nicht offensichtlich untauglichen Beweismittels könne nämlich das bisherige Beweisergebnis auch dann entgegen aller Erwartung erschüttern, wenn das Gericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufgrund der bisher durchgeführten Beweisaufnahme hinreichend sicher festgestellt zu haben glaubt. 5 Gerade die Ablehnung eines Beweisantrags unter Vorwegnahme der Beweiswürdigung sei eine Gefahrenquelle für falsche Tatsachenfeststellungen aufgrund richterlicher Voreingenommenheit, ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß naturgemäß einem hypothetisch zugrundegelegten Beweisergebnis weniger Beweiswert zugemessen werde als einem Beweisergebnis, von dessen Existenz sich ein Gericht in der Hauptverhandlung selbst überzeugt. 6 Das durch die Ablehnungsgründe des Beweisantragsrechts konkretisierte Verbot7 diene somit der Sicherung der Zuverlässigkeit der Sachverhaitsfeststellung 8 , legitimiere das Prinzip der freien Beweiswürdigung, indem es den Richter bei der Auswahl des Beweismaterials an Regeln binde9 , und richte sich auf diese Weise gegen richterliche Willkür, Oberflächlichkeit und Voreingenommenheit lO • Während insoweit noch Einigkeit zu bestehen scheint, gehen allerdings - wie schon oben dargelegt" - hinsichtlich der Reichweite des Beweisantizipationsverbots innerhalb des Beweisantragsrechts und der Amtsaufklärungspflicht die Ansichten auseinander: 3 Alsberg/Nüse/Meyer, 22 f.; Engels GA 1981,32 i. V. m. 25; Herdegen, Meyer-GS, 188; LR-Gollwitzer; § 244 Rn. 45; siehe auch Gutmann JuS 1962,375. 4 Vgl. Engels GA 1981, 32 i. V. m. 25 f., der keine Ausnahmen von diesem Erfahrungssatz zuläßt, und Herdegen, Meyer-GS, 188, der Ausnahmen für möglich hält; anerkannt wird dieser Erfahrungssatz u. a. auch von Hellwig JW 1932,2674; Köhler, 51; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 182; aus der Rspr. siehe BGHSt 23,176,188. 5 Alsberg/Nüse/Meyer, 412; Bruns DR 1940, 2043; Gutmann JuS 1962,374; Julius NStZ 1986, 63; Kreuzer, 36; LR20-Niethammer, Einleitung S. 53; Wenner, 131; zu Dohna, Kohlrausch-FS, 335. 6 Vgl. Frister ZStW 105, 353 f. und Perron, Beweisantragsrecht, 79; diese Überlegung steht im übrigen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit (im materiellem Sinne), der u. a. auch der Überlegung Rechnung trägt, daß ein unmittelbares Beweismittel (="Originalbeweis") grundsätzlich zuverlässiger und wertvoller ist als ein mittelbares Beweismittel (="Surrogat"), vgl. Fezer, Studienkurs, 14/16 und Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 472. 7 Zur Konkretisierung: AK-Schöch, § 244 Rn. 29; Alsberg/Nüse/Meyer, 29 f., 412 f.; Engels, 40; ders. GA 1981,24; Gutmann JuS 1962,375; Kreuzer, 36; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 182; Schmidt-Hieber JuS 1985, 294; Wenner, 157 i. V. m. 130; Wesseis JuS 1969, 1 f. 8 Frister ZStW 105, 352 f. 9 Frister StV 1994,449. 10 Vgl. Frister StV 1994,449; Gutmann JuS 1962,374 f. 11 4. Kapitel § 1 B.

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l. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Während die Vertreter der Identitätslehre davon ausgehen, daß das Verbot in beiden Pflichtenkreisen mit gleicher Reichweite gelte 12, u. a. begründet mit der These, Beweisantizipation bedeute, daß nicht alles getan werde, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist 13 , macht das Verbot dagegen nach der überwiegenden Ansicht im Anwendungsbereich des § 244 III und IV Beweisaufnahmen erforderlich, zu denen das Gericht aufgrund seiner Aufklärungspflicht keine Veranlassung hätte l4 • Es ermögliche also den Prozeßbeteiligten, den Richter zu Beweiserhebungen zu zwingen, die er für aussichtslos hält und schütze so die prozessualen Einwirkungs- und Aufklärungsbefugnisse der Verfahrensbeteiligten. 15 Zusammengefaßt soll nach beiden Auffassungen das Beweisantizipationsverbot also in j.edem Fall eine umfassende Wahrheitsermittlung ermöglichen, indem es die Trennung von Beweiserhebung und Beweiswürdigung gewährleistet und die Möglichkeit ausschließt, einen Beweis vor durchgeführter Beweisaufnahme als unergiebig abzulehnen. Außerdem soll es richterlicher Voreingenommenheit und Willkür entgegenwirken. Ob dies allerdings im Bereich des § 244 11 mit gleicher Reichweite geschehen soll wie im Beweisantragsrecht, ist bisher ungeklärt. B. Berücksichtigung verfahrensökonomischer Interessen

Einen von der herkömmlichen Auffassung jeweils etwas abweichenden Standpunkt vertreten dagegen Schlüchter und ter Veen: Aufgrund einer ausführlichen Untersuchung der geschichtlichen Entwicklung des Beweisantragsrechts und des Beweisantizipationsverbots kommt Schlüchter zu dem Schluß, daß sich das Beweisantizipationsverbot aus der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht entwickelt habe. 16 Außerdem solle es das dem rechtlichen Gehör sowie dem Zweifelssatz und vor allem der Amtsaufklärungspflicht entspringende Gebot an das Gericht sichern, für Informationen offen zu bleiben und sich 12 Engels, 39 f.; ders. GA 1981, 32 f.; Gutmann JuS 1962,374 f.; Wenner, 157 i. V. m. 130 f.; Wenskat, 277 f.; Wesseis JuS 1969,3 f. 13 Engels GA 1981,33 mit Verweis auf Eb. Schmidt ZStW 61, 454 Fn. 39. 14 AK-Schöch, § 244 Rn. 29; Alsberg/Nüse/Meyer, 31,412; Julius, 106 ff.; Kintzi DRiZ 1994, 328; Liemersdorf StV 1987, 176; Schmidt-Hieber JuS 1985, 293 f.; Werle JZ 1991, 792; Widmaier NStZ 1994,416; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 59; so anfangs auch Herdegen NStZ 1984, 98 f.; siehe jedoch später Herdegen, Meyer-GS, 190 ff.; die Ausführungen von Herdegen, Boujong-FS, 783 ff. zeigen, daß er inzwischen von einer identischen Reichweite des Beweisantizipationsverbotes ausgeht; zu den Nachweisen aus der Rspr. siehe oben l. Kapitel § I B. 11. sowie BGHSt 21, 118, 124; 32, 68, 73; vgl. auch die These von Frister, daß das Beweisantizipationsverbot zwei unterschiedliche Beweisrechtsprinzipien miteinander vereine (ZStW 105, 360); dem zustimmend Grünwald, Beweisrecht, 106 f., Hirsch, 40; SKPaeffgen, § 420 Rn. 16 f.; dazu ausführlicher unten 3. Kapitel § 2 B. III.; zum Begriff der Verfahrensbeteiligten siehe oben I. Kapitel Fn. 2. 15 Vgl. Bemsmann ZRP 1994,331; Schutz StV 1991,358 ff.; Werle JZ 1991, 792. 16 Schlüchter, Weniger ist mehr, 38.

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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nicht vorschnell auf ein Beweisergebnis festzulegen. Überschießende bzw. überflüssige l7 Ermittlungen sollten dagegen nicht durch das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung geschützt werden,18 sondern würden stattdessen durch die Ablehnungsgründe des Beweisantragsrechts garantiert. 19 Schlüchter läßt jedoch offen, in welchen Situationen von überschießenden Ermittlungen ausgegangen werden kann. Auch stellt sie nicht ausdrücklich fest, welche Reichweite dem Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung zukommt. 20 Ihrer Ansicht nach geht jedenfalls der Beweiserhebungsanspruch des Beweisantragsrechts schon über die Anforderungen des Beweisantizipationsverbots hinaus und deshalb auch über den, der durch die Amtsaufklärungspflicht statuiert werde. 21 Nach ter Veen soll das Beweisantizipationsverbot die grundsätzliche Trennung zwischen den Phasen der Beweiserhebung und der Beweiswürdigung sichern und damit eine Annäherung an objektive Wahrheit sowie eine unverkürzte Einflußmöglichkeit der Verfahrensbeteiligten auf die Rekonstruktion des Sachverhalts garantieren. Außerdem bestimme es die Grenzen zwischen Verfahrensökonomie und umfassender Wahrheitserforschung, d. h. wo dem Interesse an der beschleunigten Beendigung des Beweisverfahrens der Vorrang gegenüber der weiteren Sachaufklärung zukommen solle. 22 In Fortführung dieses Gedankens schließt sich ter Veen der h. M. an und geht von einem unterschiedlichen Geltungsbereich des Beweisantizipationsverbots innerhalb des Beweisantragsrechts und der Amtsaufklärungspflicht aus: es erscheine gerechtfertigt, wenn im Bereich der Amtsaufklärungspflicht die Spannungen zwischen den Maximen umfassender Wahrheitsermittlung und Verfahrensbeschleunigung vom Gericht unter Berücksichtigung des bisherigen Ergebnisses des Beweisverfahrens gelöst würden. 23 Den Auffassungen Schlüchters und ter Veens ist gemeinsam, daß sie schon bei der Bestimmung der Funktion des Beweisantizipationsverbots die Berücksichtigung prozeßökonomischer Anliegen ermöglichen. Wahrend dies bei Schlüchter aber eher ein Resultat ihres Verständnisses der Funktion des Beweisantizipationsverbots ist, daß dieses nämlich primär der Wahrheitsermittlung diene und lediglich auf Beweisermittlungen verzichtet werden soll, die die Wahrheitsfindung sowieso nicht fördern (ob eine derartige Differenzierung möglich ist, sei vorerst dahingeSchlüchter, Weniger ist mehr, 45 setzt diese Begriffe gleich. Schlüchter, Weniger ist mehr, 39 f.; vgl. auch Julius NStZ 1986,63, der betont, daß im Bereich der Amtsaufklärungspflicht Beweisantizipationen ihre Legitimität aus der Erkenntnis heraus erhalten, daß grenzenlose Beweisermittlungen nicht automatisch eine optimale Wahrheitsfindung nach sich ziehen. 19 Schlüchter, Weniger ist mehr, 45. 20 Dies hängt damit zusammen, daß auch Schlüchter unter Verzicht auf eine klare Grenzziehung die Sachaufklärungspflicht davon abhängig macht, ob sich dem Richter "vernünftige" Zweifel aufdrängen, vgl. dies., Weniger ist mehr, 44; siehe dazu unten § 3 A. III. 1. 21 Schlüchter, Weniger ist mehr, 45. 22 Ter Veen, 52, 57 f. 23 Ter Veen, 65 f. 17 18

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

stellt), ist kennzeichnend für die Auffassung ter Veens, daß er schon für die Funktionsbestimmung selbst prozeßökonomische Erwägungen heranzieht. Er befürwortet schon dann eine Einschränkung der Wahrheitsermittlung, wenn sie - um es deutlich zu sagen - zu lange dauert?4

§ 2 Vorüberlegungen zu Funktion, Inhalt und Umfang sowie Reichweite des Beweisantizipationsverbots Da die Bestimmung der Funktion des Beweisantizipationsverbots Auswirkungen sowohl auf die Festlegung seines Inhalts und Umfangs, d. h. seiner inneren Struktur und seiner Grenzen hat sowie auf die Bestimmung seiner Reichweite innerhalb des Beweisantragsrechts und der Amtsaufklärungspflicht, muß sie auch mit Blick auf diese Bereiche vorgenommen werden. Im Interesse einer übersichtlichen Untersuchung werden aber die Fragen nach Umfang und Reichweite des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung vorerst nur soweit in die Betrachtung miteinbezogen, als dies für die Funktionsbestimmung des Beweisantizipationsverbots unbedingt erforderlich ist, während die Einzelheiten dem 2. Teil der Arbeit vorbehalten bleiben. Die weiteren Ausführungen beschränken sich daher zunächst darauf, Fragen aufzuwerfen und eventuelle Widersprüche aufzudecken, die im weiteren Verlauf der Untersuchung einer Klärung zugeführt und bei einer eigenständigen Funktionsbestimmung berücksichtigt werden müssen. A. Zur Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung Die Behauptung, daß das Beweisantizipationsverbot im Interesse der Wahrheitserforschung dazu dient, erstens Beweiserhebung und Beweiswürdigung zu trennen und zweitens dem schon erwähnten und hier nicht in Frage gestellten Erfahrungssatz Rechnung zu tragen, daß das Ergebnis und der Wert eines Beweises vor durchgeführter Beweisaufnahme nicht mit Sicherheit richtig prognostiziert werden können, erscheint auf den ersten Blick plausibel. Indem aber diese Erkenntnissätze quasi als nebeneinanderstehend aufgefaßt werden und das Beweisantizipationsverbot - wie schon dargelegt 25 - automatisch 24 Daß diese Interpretationsansätze gerade erst in jüngerer Zeit vorgebracht werden, hängt offensichtlich damit zusammen, daß auch erst in den letzten Jahren die Forderung nach umfangreicherer Prozeßbeschleunigung verstärkt erhoben wurde. So betont beispielsweise auch Perron. Beweisantragsrecht, 279, daß die Ausdehnung vieler Beweisantragsablehnungsgründe einem unabweisbaren prozeßökonomischen Bedürfnis entspreche und nahezu unumgänglich sei.

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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mit dem Beweisantragsrecht gleichgesetzt wird, das seinerseits als "Beweiserzwingungsrecht" verstanden wird, wird es ebenfalls zu einem "starren" Institut, das grundsätzlich "mehr" an Beweiserhebung verlangt, als zur Wahrheitserforschung eigentlich notwendig ist. Dadurch wird der Blick darauf verstellt, daß diese beiden Erkenntnissätze dergestalt in Beziehung zueinander gesetzt werden können, daß Beweiserhebung und Beweiswürdigung nur solange getrennt, d. h. nacheinander vollzogen werden müssen, wie ein Verstoß gegen den erwähnten Erfahrungssatz durch eine Verschränkung von Beweiserhebung und Beweiswürdigung in Form einer vorgezogenen Beweiswürdigung auch Gefahren für die Wahrheitsermittlung mit sich bringt. 26 Eine unter strenger Beachtung der Trennung von Beweisermittlung und Beweiswürdigung vorgenommene Beweiserhebung erscheint nämlich dann nicht sinnvoll, wenn sie für eine zuverlässige Sachverhaltsermittlung gar nicht dienlich ist. Indem die vorherrschende Meinung das Beweisantizipationsverbot an das Beweisantragsrecht koppelt, wird die Trennung von Beweiserhebung und Beweiswürdigung zum Selbstzweck, anstatt sie nur als Instrument zur Gewährleistung des eigentlichen Ziels einzusetzen, nämlich einer vollständig abgeschlossenen Sachverhaltsermittlung. 27 Diese These beruht auf der Vermutung, daß in bestimmten Situationen aufgrund sachlicher Kriterien ohne Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen die Prognose möglich ist, daß eine Beweiserhebung der Wahrheitserforschung nicht dienen kann. Sollte sich diese Vermutung bestätigen lassen, würde eine dennoch durchgeführte Beweiserhebung unter Einhaltung der Trennung von Beweiserhebung und Beweiswürdigung nichts zur Wahrheitsfindung beitragen, sondern im Gegenteil nur zu einer überflüssigen, die Verfahrensbeendigung hinauszögernden Ausdehnung der Beweisaufnahme führen. Eine Gleichsetzung dieser vermuteten sachlichen Kriterien mit "objektiven" Kriterien wird hier jedoch bewußt vermieden, da ein wirklich objektives Beweismaß nicht erreichbar ist. 28 Ein derartig objektiver Maßstab ist allenfalls dort denkSiehe 1. Kapitel § 1 B. I. und § 2 A. H. Es geht ja nicht lediglich darum, daß die abschließende Beweiswürdigung erst nach vollständig abgeschlossener Sachverhaltsermittlung vorgenommen wird, sondern darum, die Wahrheitserforschung nicht vorzeitig durch eine vorgezogene Beweiswürdigung unvollständig zu lassen oder abzubrechen; hierzu auch Fezer, BGH-FG, 856 f. 27 Ähnlich auch Schmitt, 394, der die innere Berechtigung des Beweisantizipationsverbots nicht in der formalen Erkenntnis sieht, daß Beweiserhebung und Beweiswürdigung streng zu trennen sind, sondern daß der Richter sich seine Überzeugung nicht schon dann endgültig gebildet haben darf, wenn nach dem konkreten Prozeßstand naheliegende Beweismittel noch ungenutzt blieben oder erkennbar für die Entscheidung relevanten Umständen nicht nachgegangen wurde. 28 So auch Perron, Beweisantragsrecht, 79, der allerdings nur feststellt, daß ein solcher Maßstab "häufig" nicht zur Verfügung stehe, im übrigen aber selbst die Bezeichnung "objektive" Kriterien verwendet, so S. 127 und 181; Herdegen, Abhandlungen, 146 sieht sich dazu gezwungen, zu "unterstellen", daß es ein objektives Beweismaß geben muß, weil die Justiz Urteile hervorbringen müsse, in denen für wahr gehalten wird, was nach diesem Beweismaß 25

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4 Schulenburg

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

bar, wo sich die Beurteilung eines Beweises an naturwissenschaftlich gesicherten Gegebenheiten orientieren kann?9 Ob zur Gewährleistung einer vollständigen Sachverhaltsennittlung die Zulässigkeit von Beweisantizipationen auf diesen engen Bereich zu begrenzen ist, soll erst später geklärt werden. 3o An dieser Stelle soll nur klargestellt werden, daß häufig die Beurteilung eines noch nicht erhobenen Beweises nicht anhand wirklich objektiver Kriterien erfolgen kann. 31 Bei Festlegung dieser "sachlichen Kriterien" kann es nämlich nur darum gehen, sich auf bestimmte Anhaltspunkte zu einigen, bei deren Vorliegen der Richter davon soll ausgehen dürfen, daß der Verzicht auf eine Beweiserhebung die Vollständigkeit der Sachverhaltsennittlung nicht gefährdet. Es handelt sich sozusagen also nur um "objektiv gedachte" Kriterien. 32 Ebenso wie die mit dem Strafprozeß zu ennittelnde Wahrheit nicht im Sinne einer Übereinstimmung von in der Vergangenheit liegendem tatsächlichen und rekonstruiertem Geschehen verstanden werden kann33 , sondern nur als höchstmögliche Annäherung an die Wirklichkeit34, so kann auch die Feststellung, daß Anhaltspunkte vorliegen, die einen Verzicht auf eine zukünftige Beweiserhebung als vertretbar erscheinen lassen, nur als Ausdruck der allgemeinen subjektiven Vermutung verstanden werden, daß bei Vorliegen bestimmter Mindestvoraussetzungen die Ennittlung dieser Wahrheit nicht gefährdet ist. Die Bestimmung dieser sachlichen Kriterien hat also normativen Charakter. Im konkreten Einzelfall muß sich dann das Vorliegen dieser Voraussetzungen intersubjektiv nachvollziehbar, d. h. stets begründbar und für jedermann vennittelbar und kritisch diskutierbar, sowie einer rationalen Argumentation zugänglich 35 , darlegen lassen. Im weiteren Verlauf der Untersuchung gilt es also, die hier aufgestellte These zu bestätigen, daß bezüglich der Funktion des Beweisantizipationsverbots der Schwerpunkt weniger in der Trennung von Beweiserhebung und Beweiswürdigung selbst zu suchen ist, als vielmehr darin, daß es anhand sachlicher (noch näher zu präzisierender) Kriterien sicherstellen soll, daß der Sachverhalt vollständig festgestellt ist, bevor der Richter mit der endgültigen Beweiswürdigung beginnt. Diese Formulierung ist enger als die allgemein vorherrschende, daß das Verbot die Trennung von Beweiserhebung und Beweiswürdigung sichern soll. Letztere verbietet für wahr gehalten werden darf. Grünwald, Beweisrecht, 89 spricht von einer "Diskrepanz zwischen subjektiver Gewißheit und ... objektiver Unsicherheit". 29 Z. B. im Falle eines Blinden, der objektiv nichts über Farben aussagen kann. 30 Siehe unten § 3 V. bis VII. 31 Auch Herdegen, Abhandlungen, 148 spricht nur von einer "Verobjektivierung". 32 Vgl. die von A. Schmidt, 121 in bezug auf Beweistheorien entsprechend vorgebrachte Kritik, daß es sich bei der als Grundlage einer fehlerfreien Beweiswürdigung geforderten objektiven Tatsachenfeststellung nur um eine gedachte Objektivität handelt. 33 Schon das RG (St 66, 163, 164) stellte fest, daß objektive Wahrheit nur gedanklich vorstellbar sei. 34 Siehe unten § 3 A. I. 35 Zum Begriff siehe Rieß GA 1978, 265 und Herdegen, Abhandlungen, 156 f.

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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auch solche Beweisantizipationen, die die Wahrheitsermittlung nicht beeinträchtigen würden, weil die Vollständigkeit der Sachverhaltsfeststellungen mit der Orientierung an sachlichen Kriterien gesichert ist und somit eine Trennung dieser Bereiche gar nicht nötig ist. B. Auswirkungen der Funktionsbestimmung auf Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots Die Frage, ob es Fallgestaltungen gibt, bei denen eine Beweisantizipation nicht zugleich auch eine Beeinträchtigung der Wahrheitserforschung bedeutet, hat unmittelbar Bedeutung für die Festlegung von Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots. Solche Beweisantizipationen könnten dann generell oder wenigstens ausnahmsweise aus dem inhaltlichen Regelungsbereich des Beweisantizipationsverbots ausgenommen werden, dessen Umfang ließe sich also beschränken. In diesen Zusammenhang ist die schon angesprochene, von Schlüchter und ter Veen aufgeworfene Frage einzuordnen, inwieweit auf eine Trennung von Beweiserhebung und Beweiswürdigung verzichtet werden kann; sei es, weil es einen Bereich gibt, in dem eine Beweiserhebung - wie Schlüchter es formuliert - überflüssig wäre, weil sie zwar der Forderung nach einer derartigen Trennung entspricht, aber die Wahrheitsermittlung nicht fördert; sei es daß das Interesse an einer umfassenden Wahrheitsermittlung hinter das Bedürfnis nach Verfahrensbeschleunigung zuriicktritt, so daß das Beweisantizipationsverbot einen Ausgleich zwischen diesen Interessenlagen schaffen muß (so ter Veen).

c. Auswirkungen der Funktionsbestimmung auf die Reichweite des Beweisantizipationsverbots Deutlich ins Auge fallen die unterschiedlichen Aussagen zur Reichweite des Beweisantizipationsverbots, obwohl sie Uedenfalls bzgl. der vorherrschenden Auffassung) trotz weitgehend gleicher Prämissen zustandekommen. Nach dem bisher Gesagten scheint die überwiegende Auffassung dahin zu gehen, daß im Bereich des Beweisantragsrechts die Wahrheitserforschung im Vordergrund steht, während im Bereich der Amtsaufklärungspflicht dem Interesse an Prozeßbeschleunigung mehr Gewicht zukommen soll. Eigentlich müßte aber der Gedanke immer Geltung haben, daß die Nichtvornahme einer notwendigen Beweisaufnahme aufgrund vorweggenommener Beweiswürdigung im Interesse einer umfassenden Wahrheitsermittlung grundsätzlich verhindert werden sollte 36, was dafür spricht, daß das Beweisantizipationsverbot im Bereich der Amtsaufklärungspflicht im gleichen Umfang gelten muß wie im Be36 4*

Das sieht auch ter Veen, 66.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

weisantragsrecht. Sollte dies nicht der Fall sein, müßte schon in der Funktionsbeschreibung des Verbots der Grund für eine unterschiedliche Reichweite enthalten sein. Als einen solchen führt ter Veen an, daß das Beweisantizipationsverbot einen Ausgleich zwischen Verfahrensökonomie und umfassender Wahrheitsermittlung schaffen soll.37 Er bleibt jedoch die Begründung schuldig, warum dieser Ausgleich in der Amtsaufklärungspflicht anders stattfinden soll als im Beweisantragsrecht. 38 Schlüchter lenkt dagegen mit ihrer Argumentation den Blick auf die Möglichkeit, daß das Beweisantragsrecht über die Anforderungen, die das Beweisantizipationsverbot an den Beweiserhebungsvorgang stellt, hinausgeht, mit dem Verbot also gar nicht deckungsgleich ist. Auch das wäre aber noch kein Grund für eine unterschiedliche Geltung des Verbots innerhalb des Beweisantragsrechts und der Amtsaufklärungspflicht. Allerdings würde der von der Identitätslehre vorgebrachten und eingangs erwähnten These, daß der Beweiserhebungsanspruch des Beweisantragsrechts mit dem der Amtsaufklärungspflicht identisch ist39 , insoweit die Grundlage entzogen, als es nicht nur genügt, daß das Beweisantizipationsverbot im Bereich des Beweisantragsrechts im gleichen Umfang gilt wie innerhalb der Amtsaufklärungspflicht; vielmehr müßte der Beweiserhebungsanspruch des Beweisantragsrechts mit dem des Beweisantizipationsverbots identisch sein. Letzteres bestreitet Schlüchter jedoch ausdrücklich. D. Ansatzpunkte zur eigenständigen Erarbeitung der Funktion des Beweisantizipationsverbots

Schon diese oberflächliche Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Diskussionsstand zeigt, daß die Argumentation Ungenauigkeiten aufweist und noch nicht ausgereift ist. Jedenfalls aber scheint die Funktion des Beweisantizipationsverbots maßgeblich davon abzuhängen, in welcher Beziehung die in den §§ 261, 244 11, 244 III bis V, 245 festgelegten Beweisrechtsprinzipien zueinander stehen, und welcher Stellenwert dem Interesse an einer Prozeßbeschleunigung gegenüber der Wahrheitserforschung innerhalb der Verfahrensordnung zukommt.

Ter Veen, 58. Ter Veen, 66 macht übrigens selbst die unterschiedliche Reichweite des Verbots davon abhängig, daß nicht durch konkrete Beweisverlangen durch die Verfahrens beteiligten Anhaltspunkte für die Notwendigkeit weiterer Beweiserhebung begründet werden. Dies könnte so verstanden werden, daß auch nach ter Veens Verständnis zumindest dann, wenn ein Beweisantrag gestellt wurde oder gestellt werden könnte, auch im Bereich der Amtsaufklärungspflicht das Beweisantizipationsverbot volle Geltung haben soll. 39 Siehe oben 1. Kapitel § I B. 1. 37

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2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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Es gilt daher zunächst, die Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, die dem Umfang der Beweisaufnahme durch die Strafprozeßordnung vorgegeben sind. Dabei soll erstens genau ermittelt werden, ob und wo sich aus ihnen Gefahren für eine optimale Wahrheitserforschung ergeben und ob diese Gefahren durch Beachtung des Beweisantizipationsverbots vermindert werden können. Zweitens soll dann versucht werden, die Bestimmung der Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung unter Vermeidung der oben herausgestellten Widersprüche bruchlos in das Beweisrechtssystem der StPO einzufügen. Diesen Fragen ist der folgende Abschnitt gewidmet.

§ 3 Funktionsbestimmung mit Blick auf die Vorgaben

der Verfahrensordnung

A. Verhältnis der Beweisrechtsprinzipien I. Wahrheitserforschung von Amts wegen als Ziel des Strafprozesses

Ziel des Strafprozesses ist es, ein der Wahrheit entsprechendes tatsächliches Geschehen zu rekonstruieren, um ein der Sach- und Rechtslage gerecht werdendes Urteil fallen zu können. 4o Dabei gibt § 261 dem Gericht vor, dieses Urteil nur aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung in freier Beweiswürdigung zu ermitteln, d. h. bei der Urteilsfindung darf nur das in der Hauptverhandlung vorgebrachte Beweismaterial berücksichtigt werden, welches das Gericht dann ohne Bindung an formale Beweisregeln auf ein strafbares Verhalten hin würdigen kann. Dieser Beweiswürdigung geht die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung voraus. Diesbezüglich statuiert § 244 11 zum einen eine umfassende Wahrheitserforschungspflicht 41 (Amtsermittlungsgrundsatz bzw. Instruktionsmaxime),42 und zum anderen weist er die Entscheidungsbefugnis über die Beweiserhebung dem Gericht zu. Idealerweise vollzieht sich der Ablauf der Wahrheitsfindung also so, daß der Richter einzelne Beweistatsachen ermittelt, sich von ihrer Richtigkeit überzeugt, 40 Siehe hierzu und zu den Grenzen der Wahrheitserforschung, die sich aus rechtsstaatlichen Grundsätzen, insbesondere dem Prinzip der Menschenwürde ergeben Gössel, Gutachten C, 24 f.; KK-Pfeiffer, Einleitung Rn. 7; Peters, Strafprozeß, 82 f.; aus der Rspr.: BVerfGE 57, 250, 275; BGHSt 14,358, 364 f. 41 Das Gericht muß von Amts wegen alle für den Schuldspruch und den Strafausspruch erforderlichen Tatsachen ermitteln - allerdings begrenzt auf die in der Anklage bezeichnete Tat (vgl. §§ 158, 264); vgl. AK-Schöch § 244 Rn. 25, 30; Gutmann JuS 1962, 371; KKHerdegen, § 244 Rn. 19; Wesseis JuS 1969,2. 42 Auch Inquisitionsmaxime oder Untersuchungs- bzw. Ermittlungsgrundsatz genannt; siehe statt vieler nur Alsberg/Nüse/Meyer, 19; Gössel, Gutachten C, 32; KK-Herdegen, § 244 Rn. 18; ter Veen, 38 und Roxin, § 15 A Rn. 3.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

aus ihnen das historische Geschehen mit all seinen Merkmalen rekonstruiert43 und dieses von ihm selbst rekonstruierte Geschehen dann abschließend würdigt44 • Allerdings geht es bei der Ermittlung der Wahrheit nicht darum, die absolute Wahrheit i. S. einer völligen Übereinstimmung von tatsächlichem Geschehen und rekonstruiertem Sachverhalt zu ermitteln, da der menschlichen Erkenntnis Schranken gesetzt sind, die der Erlangung eines absolut sicheren Wissens dieser Wahrheit entgegenstehen45 . Ziel kann es nur sein, durch eine umfassende Beweisaufnahme eine größtmögliche Annäherung der Tatsachenfeststellungen an die Wirklichkeit zu erreichen,46 wobei auch dies wiederum dahingehend eingeschränkt werden muß, daß nach Wahrheit nur in dem sehr begrenzten Rahmen einer Entscheidung über die Tatschuld des Angeklagten gefragt ist und ein "mehr" i. S. eines umfassenden tatsächlichen Erkennens eines vergangenen Geschehens nicht ermittelt werden soll.47

ll. Absicherung der Wahrheitserforschung durch das Beweisantragsrecht

Eine einseitig vom Erfahrungshorizont des Gerichts bestimmte Entscheidung des Gerichts über die Beweiserhebung wird durch das Beweisantragsrecht der §§ 244 III bis V und 245 verhindert. Danach kann eine Beweiserhebung, wenn sie beantragt wurde, grundsätzlich nur dann unterbleiben, wenn einer der dort aufgeführten Ablehnungsgriinde vorliegt. 48 Das Beweisantragsrecht sichert auf diese Weise die Einflußnahme der Verfahrensbeteiligten 49 und somit auch eine umfasSiehe dazu Fezer StV 1995,98. Vgl. Herdegen, Meyer-GS, 189. 4S Vgl. RGSt 61,202,206; 66,163,164; BGHSt 10, 208, 209; BGH NJW 1951,83; BGH GA 1954, 152; Gössel, Gutachten C, 25; Herdegen, Abhandlungen, 120. 46 Sog. Prinzip der materiellen Wahrheit, Krauß. Schaffstein-FS, 411 ff.; eine eingehende Auseinandersetzung mit der seit jeher umstrittenen Frage, was Wahrheit ist, kann hier nicht erfolgen (vgl. dazu die ausführlichen Abhandlungen u. a. von Hetzer, 33 ff. und Käßer, 3 ff. sowie Albrecht NStZ 1983,486 f.; Herdegen, Abhandlungen, 114 ff. und 146 ff.; Spendei JuS 1964,465 ff.); siehe außerdem zu der Erkenntnis, daß prozessuale Wahrheitsfindung notwendig mit Reduktion von komplexen Lebenssachverhalten verbunden ist, um sie der Lebenssachverhalte vertypenden Dogmatik des Strafrechts zuordnen zu können: Krauß, SchaffsteinFS, 411 ff., 417 f.; Perron. Beweisantragsrecht, 43; letztlich kommt es für die Bestimmung der Funktion des Beweisantizipationsverbots aber auch nur darauf an, daß jede Wahrheitsfindung eine optimale Sachverhaltsermittlung voraussetzt, die im Rahmen der Beweisaufnahme angestrebt werden muß. 47 Vgl. Krauß, Schaffstein-FS, 427. 48 Darüber besteht Einigkeit: siehe nur KK-Herdegen, § 244 Rn. 42; KMR-Paulus, § 244 Rn. 416 ff.; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 179; Spielraum entsteht erst durch die Interpretation der einzelnen Ablehnungsgriinde (dazu siehe unten im 2. Teil). 49 Diese Ausgleichsfunktion wird auch in der Lit. wiederholt hervorgehoben, allerdings unterschiedlich gewichtet, je nachdem, ob es sich um Vertreter der Identitätslehre handelt, 43

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2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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sende Wahrheitsermittlung - gerade auch für die Fälle, in denen dem Gericht eine Beweismöglichkeit noch nicht bekannt war50 oder es eine beantragte Beweisaufnahme nicht für notwendig hält -, obgleich auch hier die Entscheidung über den Antrag, d. h. darüber, ob einer der Ablehnungsgründe vorliegt, beim Gericht liegt. Eine wahrheitsgetreue Sachverhaltsrekonstruktion scheint also durch das Zusammenspiel von Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht einerseits und das programmatische Nacheinander von Beweiserhebung und Beweiswürdigung andererseits weitestgehend gewährleistet. Zudem ist es auch durchaus sinnvoll, die Verantwortung für die Wahrheitserforschung auf das Gericht zu übertragen, weil dadurch verhindert wird, daß Nachlässigkeit der Verfahrensbeteiligten 51 der Gewinnung eines Urteils entgegensteht, das so weitgehend wie möglich der Wahrheit und der Gerechtigkeit entsprechen soll.52

111. DerlZite der gesetzlichen Regelungen bezüglich des Verhältnisses von Amtsautldärungspflicht und Beweiswürdigungsfreiheit

In der praktischen Umsetzung der gesetzlichen Regelungen zur Beweiserhebung auf den konkreten Fall werden Schwierigkeiten aber erstens dadurch hervorgerufen, daß der Umfang der Sachaufklärungspflicht selbst keinen eindeutigen Ausdruck im Gesetz gefunden hat und außerdem offen bleibt, woran der Richter erkennen kann, daß er die Sachverhaltsermittlung insgesamt oder in bezug auf einzelne Tatsachen als abgeschlossen betrachten und demzufolge mit der endgültigen Beweiswürdigung beginnen kann. Und zweitens wird dieser generelle Unsicherheitsfaktor für die Wahrheitserforschung durch die für das deutsche Strafprozeßrecht kennzeichnende Konstellation verstärkt, daß derselbe Richter, der den erhobenen Beweis zwecks Urteilsfindung würdigen soll, zuvor auch über die Beweiserhebung entscheidet (und zwar sowohl im Bereich der Amtsaufklärungspflicht als auch des Beweisantragsrechts).53 die das Beweisantragsrecht eher als Ergänzung der Amtsaufklärungspflicht begreifen (Gössel, Gutachten C, 66; Wenner, 149), oder um Anhänger der h. M., die das Beweisantragsrecht als "Gegengewicht zur Instruktionsmaxime" verstehen (Hoffmann, 92; Schuh StV 1991,360; Werle JZ 1991,792; dem zustimmend auch Fezer StV 1995,268, obwohl er noch von einem identischen Beweiserhebungsanspruch im Bereich des Beweisantragsrechts und der Amtsaufklärungspflicht ausging; jetzt aber aufgegeben in BGH-FG, 858 Fn. 63); siehe auch Bemsmann ZRP 1994, 331, der dem Beweisantragsrecht diese Bedeutung auch unabhängig von der erwähnten Streitfrage zumessen will und Köhler, 26. KK-Herdegen, § 244 Rn. 23; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 36 und SarstedtlHamm, Rn. 528 sprechen von einer Aktualisierung der Aufklärungspflicht durch das Beweisantragsrecht. 50 Zu dieser Gefahr siehe Wenskat, 272; WesseIs JuS 1969,4; A. Schmidt, 170. 51 Die beim Beschuldigten gerade auch durch die psychisch belastende Situation des Strafverfahrens hervorgerufen werden kann, vgl. Perron, Beweisantragsrecht, 42. 52 Vgl. WesseIs JuS 1969, 8; siehe auch Maul, Peters-FG, 48; siehe zum verfahrensgeschichtlichen Hintergrund des reformierten Strafprozesses Schatz, 35 ff.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

1. Mangelnde Bestimmung der Grenzen der Amtsaufklärungspflicht § 244 11 fordert zwar, daß die Wahrheitserforschung von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken ist, die für die Entscheidung von Bedeutung sind,54 im übrigen bleibt es aber Rechtsprechung und Wissenschaft vorbehalten, die Anforderungen, die § 244 11 an den Richter stellt, näher zu präzisieren.

Diesbezüglich hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß die richterliche Sachaufklärungspflicht solange besteht, wie dem Gericht bekannte oder erkennbare Umstände "bei verständiger Würdigung der Sachlage" begründete Zweifel an der Richtigkeit der erlangten Überzeugung wecken müssen55 bzw. der dem Richter bekannte Sachverhalt zur Benutzung weiterer Beweismittel "drängt" oder dies zumindest "nahelegt,,56. Dies sei häufig dann der Fall, wenn auch nur die "entfernte Möglichkeit" bestehe, durch eine Beweiserhebung eine Änderung der durch die bisherige Beweisaufnahme entstandenen Vorstellungen von dem zu beurteilenden Sachverhalt zu begründen. 57 Grenzen sollen sich allerdings zum einen aus den Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten ergeben58 , und zum anderen ist man sich einig, daß auch im Bereich der Amtsaufklärungspflicht die Ablehnungsgründe des Beweisantragsrechts entsprechend herangezogen werden dürfen, so daß sie nicht verletzt wird, wenn die Nichterhebung eines Beweises mit dem Vorliegen 53 Eine derartig dominante Stellung des Richters ist im Strafverfahrensrecht des Auslands nicht üblich: Entweder hat er die Sachverhaltsermittlung nur nachträglich zu kontrollieren (so in Frankreich und den Niederlanden) oder er greift nur ergänzend in die Beweisaufnahme ein, die im wesentlichen der Anklage und der Verteidigung obliegt (so in Portugal) oder er ist sogar überhaupt nicht für die Sachverhaltsaufklärung verantwortlich (so in Italien, Schweden, England), vgl. dazu ausführlich Perron, Beweisaufnahme, 607. 54 Sogar unabhängig vom Willen der Verfahrensbeteiligten, vgl. nur KK-Herdegen, § 244 Rn. 20; Kleinknechtl Meyer-Goßner, § 244 Rn. 11; LR-Gollwitzer, § 244 Rn 48, 93; SKSchlüchter, § 244 Rn. 30 jeweils mit Rechtsprechungsnachweisen. 55 BGH NJW 1951, 283; NStZ 1985, 325 Nr. 22; NStZ 1994, 247, 248; NStZ-RR 1996, 299; NStZ 1998, 50. 56 BGHSt 3,169,174 f.; 10, 116, 119; vgl. auch BGHSt 29,390,391. 57 So in Fällen einer erfolgreichen Aufklärungsrüge: BGHSt 3,169,175; 23,176,188; 30, 131, 143; BGH bei Spiegel DAR 1980,207; bei Holtz MDR 1981,455; NJW 1978, 113, 114; NStZ 1983,376,377; NStZ 1985,324,325; bei Miebach NStZ 1988,447 Nr. 7; NStZ 1990, 384; NStZ 1991,399; StV 1981, 164, 165; Alsberg/Nüse/Meyer, 20 f.; Gutmann JuS 1962, 374; diese Formel kann indes nicht verallgemeinert werden, da ihre konkrete Ausgestaltung immer davon abhängt, ob es sich um eine erfolgreiche oder erfolglose Aufklärungsrüge handelt und ob eine Verurteilung oder ein Freispruch mit der Revision gerügt wird, dazu Fezer, BGH-FG, 855; kritische Beurteilungen dieser Maßstäbe finden sich u. a. bei Herdegen, Meyer-GS, 192 ff.; ders. in KK, § 244 Rn. 21; KMR-Paulus, § 244 Rn. 223; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 37; Wesseis JuS 1969,7. Eine kurze Übersicht über die Handhabung der Amtsaufklärungspflicht durch die Rspr. bis in die 80er Jahre findet sich bei Maul, Peters-FG, 49, ebenso eine kurze Darstellung bei Schmitt, 178 f. 58 Köhler, 67; LR-Gössel, Einleitung, Abschnitt K; Peters, Strafprozeß, 296; Schmitt, 190 f.; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 32; zu den Begriffen siehe A. Schmidt, 70; Wesseis JuS 1969,3.

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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eines Ablehnungsgrundes begründet wird. 59 Im übrigen soll der Tatrichter nicht zu "ausufernder Aufklärung" verpflichtet sein. 6O Unabhängig von der Frage, ob das Kriterium der "verständigen Würdigung" Ausdruck eines dem Tatgericht durch § 244 11 eingeräumten Ermessensspielraums ist61 - formal nur durch die Gesetze der Logik und inhaltlich nur durch Erkenntnisse der Erfahrung begrenzt62 - wird jedenfalls faktisch durch Bestimmung des Umfangs der gerichtlichen Aufklärungspflicht unter Bezugnahme auf die Überzeugungsbildung63 die richterliche Überzeugung zur Grenze der Wahrheitserforschungspflicht gemacht. 64 Diese Verknüpfung ist zwar von § 244 11 selbst nicht ausdrücklich vorgegeben, ist aber - wie noch zu zeigen sein wird - in der Natur des Erkenntnisgewinnungsvorgangs selbst angelegt und führt zu Spannungen mit der Erkenntnis, daß die freie Beweiswürdigung die vollständige Erfüllung der Wahrheitserforschungspflicht voraussetzt65 . Dieses Spannungsverhältnis wird auch nicht durch die Erkenntnis aufgelöst, daß die "verständige Würdigung" dem Tatrichter in engen Grenzen eine Beweisantizipation gestattet und sie unumgänglich macht66, denn in welchem Umfang und unter welchen konkreten Voraussetzungen diese Antizipation möglich ist, wird nicht deutlich. Auch bleibt offen, warum die Interpretation der Ablehnungsgründe des Beweisantragsrechts durch das Beweisantizipationsverbot begrenzt sein soll, die Amtsaufklärungspflicht dagegen durch die "verständige Würdigung,,67. Mangels ausdrücklicher Regelungen könnte man allerdings aus der Befugnis, über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden (§ 261), für das Gericht auch die Ermächtigung herleiten, die Beweisaufnahme dann beenden zu können, wenn es der Auffassung ist, daß die Beweiserhebung selbst im Falle des Gelingens nichts an der bereits gewonnenen Überzeugung von Schuld oder Unschuld ändern würde. Das aber würde gerade voraussetzen, daß diese Überzeugung schon auf einer objektiv richtigen und vollständigen Tatsachenbasis beruht. 68 59 Engels GA 1981, 22; Fezer, Studienkurs, 12/96; Herdegen, Meyer-GS, 194; SKSchlüchter, § 244 Rn. 52; Wesseis JuS 1969,4 f. 60 BGRR StPO § 244 Abs. 2 Sachverständiger 16; vgl. auch BGR NStZ 1994, 247, 248. 61 Von einem Ennessensspielraum gehen noch Sarstedtl Hamm5 , Rn. 262 aus; a. A. Fezer, BGR-FG, 857; Herdegen NStZ 1998,445; ders., KK, Vorb. 11 zu § 244. 62 Vgl. zu diesen sog. "Denkgesetzen" und "Erfahrungssätzen" ausführlich Schmitt, 217 ff., 229-314; zusammenfassend Fezer StV 1995,97. 63 So zutreffend herausgestellt von ter Veen, 40 f. 64 Auch ter Veen, 49 ff. sieht die Grenze der Aufklärungspflicht grundsätzlich in der verfestigten Überzeugung des Richters, schränkt diese Auffassung allerdings ein. 65 Siehe oben § 1 A. 66 Fezer, BGR-FG, 858; Herdegen NStZ 1984,98; ter Veen, 61 ff.; vgl. auch Sarstedtl Hamm, Rn. 531 und LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 46a. 67 Siehe dazu oben 1. Kapitel § 1 B. I. 68 Auf diesen Konflikt weist auch Perron, Beweisantragsrecht, 78 f. hin.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Wenn also die Auswahl der zu erhebenden Beweise den Tatsachenstoff bestimmt, der später den Gegenstand der tatrichterlichen Überzeugungsbildung darstellt69 , ein fehlerfreies Urteil also maßgeblich von korrekt festgestellten Tatsachen abhängt, scheint die "verständige Würdigung" als Maßstab für diese Auswahl im Bereich der Amtsaufklärungspflicht nur dann akzeptabel, wenn eine Verkürzung der Beweisaufnahme mittels Beweisantizipationen durch falsche richterliche Anwendung dieses Maßstabes ausgeschlossen werden kann. Das aber setzt wiederum voraus, daß es dem Richter generell möglich ist, den Vorgang der Beweiswürdigung von dem der Beweiserhebung zu trennen. 2. Personenidentität von Tatsachenermittier und -beurteiler

Gerade aber die Identität von beweiserhebender und beweiswürdigender Person läßt für die Sachverhaltserrnittlung die Gefahr befürchten, daß der Richter sich innerlich schon sehr früh auf einzelne Sachverhaltsversionen festlegt und für die Einschätzung weiterer Beweise nicht mehr unbefangen genug ist. 7o Denn die Vermutung liegt nahe, daß er bewußt oder unbewußt aufgrund einer (obwohl nicht mit Sicherheit möglichen) Zwischenbeweiswürdigung, d. h. Vorwegbewertung des (vermuteten) Ergebnisses oder Wertes einzelner Beweise, ihm bekannte oder erkennbare Beweise nicht erhebt oder eine weitere Beweiserhebung sogar vollständig unterläßt, weil er sich schon von dem Geschehen eine Überzeugung gebildet hat. 71 Die erstrebte Trennung zwischen Beweiserhebungsvorgang und Beweiswürdigungsvorgang scheint also mangels genauerer Angaben zum Umfang der Aufklärungspflicht gerade durch diese der Personalunion entspringende faktische Möglichkeit zur vorgezogenen Beweiswürdigung gefährdet. Die Untersuchung hat sich also zunächst der Frage zu widmen, ob eine Trennung zwischen den Vorgängen der Beweiserhebung und Beweiswürdigung trotz der Personenidentität überhaupt theoretisch und praktisch durchführbar ist; desweiteren auch der Frage, ob und woran der Richter (und später das Revisionsgericht) erkennen kann, daß er die Ebene der Beweiserhebung verlassen und mit der Be69 Vgl. Schmitt, 391; siehe auch Kunert GA 1979,401, wonach die Qualität der Wertung des Objekts von der Qualität des Objekts der Wertung abhänge. 70 Perron ZStW 108, 136. 71 Schon Schneidewin, 331 fragte, wie für das Gericht noch Anlaß bestehen können solle, den Sachverhalt weiter aufzuklären, wenn es bereits die volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten erlangt habe; siehe auch ter Veen, 49; von einem SpannungsverhäItnis (so KK-Herdegen, § 244 Rn. 26; Maul, Peters-FG, 49; Wesseis JuS 1969,6) oder einem Widerstreit der Vorschriften zueinander (SarstedtlHamm5 Rn. 247) kann man jedoch nur sprechen, wenn man von einer Dominanz des § 261 gegenüber § 244 11 in der Form ausgeht, daß dem Richter bei der Auswahl eines Beweises ein Ermessensspielraum zusteht, nicht jedoch dann, wenn man mit der in dieser Arbeit vertretenen Auffassung diesen Ermessensspielraum ablehnt (dazu unten § 3 A. IV. 4.).

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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weiswürdigung beginnen darf, wie also eine kontrollierte Entscheidung möglich ist72 • IV. Trennbarkeit von Beweiserhebung und Beweiswürdigung

Bevor die praktischen Schwierigkeiten bei der tatrichterlichen Entscheidungsfindung aufgezeigt werden (unten 3.), sollen zuvor die theoretischen Überlegungen im wissenschaftlichen Schrifttum kurz aufgezeigt werden (sogleich unter 1.) und in bezug auf den Untersuchungsgegenstand näher präzisiert werden (unten 2.). 1. Zum Meinungsstand

Ganz allgemein ist die Auffassung herrschend, daß ein trennscharfes Nacheinander von Beweiserhebung und Beweiswürdigung schon theoretisch nicht möglich ist, sondern vielmehr Beweiserhebung und -würdigung in einer gegenseitigen Wechselbeziehung stehen, quasi ineinander verschränkt sind73 ; Kein Beweis beginne bei Null, sondern setze gewisse Basisdaten als vorhanden voraus. 74 Auch sei es schwierig, bei der schon vorhandenen Kenntnis der Anklageschrift und der Akten eine voreilige Überzeugungsbildung zu venneiden. 75 Schon in den Überlegungen, die der Gestaltung des Prozeßablaufs vorausgingen (z. B. der Ladung eines Zeugen oder Sachverständigen), seien oft gedankliche Elemente enthalten, die eine Art vorweggenommene Beweiswürdigung darstellen. 76 Die Auswahl und Reihenfolge der zu vernehmenden Zeugen werde mit Blick auf das Ergebnis der Ermittlungen, wie es sich aus der Aktenlage ergebe, bestimmt.77 Schon die Qualifikation einer Person als Beweismittel enthalte die Antizipation einer von dieser Person erwarteten Aussage. 78 Im verstärkten Maße setze die Bewertung von Beweisen ein, sobald die Beweisaufnahme selbst ihren Anfang nimmt, 72 Die Frage der Kontrollierbarkeit stellt sich in jedem Fall: Selbst wenn sich Beweiserhebung und -würdigung nicht scharf trennen lassen, so kommt es gerade darauf an, daß die Entscheidung über die Beweiserhebung nicht im Ermessen des Gerichts steht, sondern anhand sachlicher nachpriifbarer Kriterien vorgenommen wird. 73 So Döhring, 17; Fezer StV 1995,97; ders., BGH-FG, 856; Herdegen, Meyer-GS, 188 f.; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 46a; dagegen wird die Trennbarkeit nicht bezweifelt von Engels GA 1981,21 ff. und Niemöller StV 1984,431. 74 Dencker ZStW 102, 71; ähnlich auch Käßer, 75; siehe hierzu auch den Hinweis von Schünemann GA 1978, 169 m. w. N., daß es keine reinen Beobachtungen gibt, sondern sämtliche Wahrnehmungen von Theorien durchsetzt und von Problemen und Theorien geleitet sind. 75 Zur Unmöglichkeit, das Aktenwissen "auszublenden", siehe Arzt, Peters-FS, 223 f. 76 Döhring, 16; Schmitt, 393. 77 Schmitt, 393. 78 Frister ZStW 105, 350; ihm folgend Rose, 405.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

bei der Wahrnehmungen sogleich instinktiv umgesetzt würden. 79 Ohne Beweisantizipation i. S. der Überlegung, zu welchem Ergebnis die beantragte Beweiserhebung führen und welche Bedeutung dies für die Entscheidung haben könnte, ließe sich eine sachliche Begrenzung der Beweisaufnahme überhaupt nicht durchführen 80, sie sei also notwendig, um die Ermittlungen zweckentsprechend lenken zu können 8l . Nur eine sofortige Beweiswürdigung ermögliche eine Entschließung darüber, ob hinreichender Beweis erbracht ist, oder die Beweisanstrengungen fortgesetzt werden müßten. So setze jede einzelne (sinnvolle) Frage die Verknüpfung von (schon) Wahrgenommenem mit Erfahrungsregeln zu (hypothetischen) Schlüssen voraus. 82 Da aber gerade in den Anfangsstadien der Beweiserhebung mit dem Hinzukommen neuer Gesichtspunkte gerechnet werden müsse, müsse die Beweislage imm~r wieder neu durchdacht und die vorläufige Beweiswürdigung ständig wiederholt und gegebenenfalls korrigiert werden, allein auch deshalb, weil es dem Richter nur so möglich sei, sich über den gegenwärtigen Stand des Prozesses Kenntnis zu verschaffen und die weitere Prozeßleitung danach auszurichten. 83 Die nur durch Antizipation der Beweisergebnisse mögliche Auswahl der Beweismittel sei also zugleich notwendige aber auch gefährliche Bedingung jeglicher Sachverhaltsfeststellung. 84 Um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, seien vorweg einige klarstellende Bemerkungen gestattet, bevor auf die praktischen Probleme bei der Trennung von Beweiserhebungsvorgang und Beweiswürdigungsvorgang eingegangen wird. 2. Einleitende Klarstellungen

Auch wenn jeglicher Sachverhaltserforschung notwendig eine Prognosebildung immanent ist, so muß doch zwischen der Notwendigkeit zu einer vorläufigen Prognose und der Befugnis zur endgültigen Vorwegnahme der Beweiswürdigung unterschieden werden. a) Prognosebildung als Grundlage ermittelnder Tätigkeit Grundlage jeglicher ermittelnder Tätigkeit ist es, hypothetisch als erheblich eingestufte Sachverhalte mittels geeignet erscheinender Beweismittel aufzuklären. 85 Döhring, 17. Perron, Beweisantragsrecht, 217. 81 Döhring, 18; Frister ZStW 105,351; ähnlich Dedes, 29. 82 Dencker ZStW 102, 70. 83 Döhring, 18 f.; auch Schmitt, 394; zum Vorstehenden siehe auch Schlüchter, Weniger ist mehr, 45. 84 Frister ZStW 105,351. 79

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2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswiirdigung

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Diese Erheblichkeitsprognose basiert notwendig auf bereits aus den Akten oder der Hauptverhandlung bekannten Tatsachen 86 und ist ohne Aufstellung von vorläufigen Hypothesen über den Sachverhalt nicht sinnvoll möglich87 . Allerdings muß diese Prognose nicht auch schon zwangsläufig in der Form einer Vorwegbewertung von Ergebnis und / oder Wert eines Beweises vorgenommen werden, sondern sie ist auch in der Weise möglich, daß sie sich u. U. nur ganz allgemein auf die Sachverhaltsdienlichkeit an sich bezieht, d. h. ob überhaupt eine Beziehung des Beweismittels zum festzustellenden Sachverhalt besteht. Insofern ist also die Aussage, daß die Qualifikation einer Person als Beweismittel die Antizipation einer von dieser Person enthaltenen Aussage enthalte, nicht korrekt, weil sich diese Qualifikation gegebenenfalls auch nur auf der allgemeineren Prognose gründet, daß die Person sachverhaltsrelevante Umstände wahrgenommen hat, ohne auch schon den Inhalt der Aussage zu antizipieren. b) Differenzierung zwischen vorläufiger und endgültiger Vorwegnahme der Beweiswürdigung Sämtliche oben unter § 3 A. IV. 1. widergegebenen Überlegungen beziehen sich auf eine Verknüpfung von Beweiserhebung und Beweiswürdigung, die eine vorläufige Vorwegbewertung des Beweises darstellt 88 , d. h. eine solche, bei der der Richter zwar zunächst auf die Erhebung eines Beweises verzichtet, jedoch zugleich die Möglichkeit im Auge behält, daß sich im weiteren Verlauf der Beweisaufnahme die Notwendigkeit ergeben könnte, dem sich anbietenden Beweis doch noch nachzugehen. 89 Im Hinblick auf die Vollständigkeit der Sachverhaltsermittlung ist eine derartige Vorwegbewertung des Beweises nicht gefährlich, muß daher als solche auch nicht im Interesse der Wahrheitserforschung verhindert werden. Erst wenn die vorläufige Bewertung zu einer endgültigen Vorwegnahme der Beweiswürdigung dergestalt wird, daß der Richter vollständig von der Beweiserhebung Abstand nimmt, indem er einen möglichen Beweis auch zukünftig bei der weiteren Beweisaufnahme völlig unberücksichtigt lassen will (sofern ein Beweisantrag gestellt wurde, manifestiert sich diese Entscheidung im Ablehnungsbeschluß), besteht die Gefahr, daß nicht sämtliche Beweismöglichkeiten ausgeschöpft werden und deshalb der Sachverhalt unvollständig ermittelt wird. 90 Ledig-

85

86 87 88

Vgl. Köhler; 25 f.; ter Veen. 39 und 44. Hamm, Peters-FG, 170; ter Veen. 49. Vgl. Schünemann GA 1978, 168. So ausdrücklich Dencker ZStW 102, 71; siehe auch Döhring, 18 f.

89 Diese Vorläufigkeit der richterlichen Beurteilungen entspricht der tatsächlichen Situation der Hauptverhandlung, die nur eine Prognose aufgrund eines vorläufigen Verhandlungszwischenstandes erlaubt und nicht aufgrund eines umfassenden abschließenden Verhandlungsergebnisses, vgl. Köhler; 28.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

lieh letztere Variante einer Vorwegbewertung eines Beweises ist also für die Bestimmung der Funktion des Beweisantizipationsverbots relevant. c) Präzisierung der Ausgangsfrage Dementsprechend ist die Frage, ob eine Trennung zwischen Beweiserhebungsvorgang und Beweiswürdigungsvorgang möglich ist, also dahingehend zu präzisieren, ob der Richter in Anbetracht der Notwendigkeit und Dynamik der Prognosebildung tatsächlich ausschließen kann, daß er mittels einer endgültigen Vorwegnahme der Beweiswürdigung eine notwendige Beweiserhebung nicht durchführt. 3. Wahmehmungspsychologische Abläufe bei der richterlichen Überzeugungsbildung

Eine Vermeidung endgültiger Vorwegbewertungen eines Beweises durch den Richter würde voraussetzen, daß es ihm möglich ist, die Vornahme endgültiger vorweggenommener Beweisbewertungen rational zu steuern. Wahrend dies dem Bild eines neutralen, ausschließlich nach rational logischen und objektiven Kriterien urteilenden Richters entspricht, zeigen psychologische Erkenntnisse der Gegenwart, daß der richterliche Überzeugungsbildungsprozeß nach bestimmten psychischen Mechanismen abläuft, die sowohl in der Persönlichkeit des Richters selbst begründet sind als auch durch die Struktur der Hauptverhandlung begünstigt werden91 und die nichts mit rational steuerbaren Abläufen gemein haben: 92 a) Persönlichkeitsbezogene Einflüsse auf die Überzeugungsbildung Allgemein wird der Wahrnehmungsprozeß, der auch die Auswahl des Tatsachenmaterials mitbestimmt, durch persönliche und gesellschaftliche Einflüsse aus 90 Zu dieser Gefahr der verfrühten Festlegung auf einen Sachverhalt siehe Peters, Fehlerquellen, 227 f.; Dedes, 30, weist darauf hin, daß die vorläufigen Teilwürdigungen am Ende des Beweisverfahrens oder sogar während dessen Verlauf noch einmal vorzunehmen und kritischer zu überprüfen seien. 91 Diese Unterscheidung nach Richterpersönlichkeit und Hauptverhandlungsstruktur lehnt sich an Schmitt, 428 ff. an. 92 Eine umfassende Analyse des tatrichterlichen Erkenntnisprozesses kann angesichts der komplexen Problematik an dieser Stelle nicht erfolgen. Insoweit beschränkt sich die weitere Untersuchung darauf, anband von Sekundärliteratur die grundlegenden Erkenntnisse der Arbeiten, die sich mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben, wiederzugeben. Auf diese Weise soll deutlich werden, inwieweit sie die Unmöglichkeit einer scharfen Trennung von Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsvorgang bestätigen. Eine ausführliche Darstellung der Problematik des richterlichen Entscheidungsfindungsprozesses mit umfangreichen Nachweisen findet sich u. a. bei Käßer, 67 ff.

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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dem sozialen Umfeld des Richters beeinflußt. 93 Außerdem wird nur ein begrenzter Teil der Informationen überhaupt wahrgenommen und verarbeitet, persönlichkeitsgeprägt durch Denkart, Erfahrung, Sorgfalt und Differenzierungsvermögen sowie Einstellungen und Erwartungen des Richters 94 , so daß die Gefahr besteht, daß wichtige Fakten übergangen werden95 . Auch können Sinnestäuschungen und emotionale Einflüsse nicht völlig ausgeschlossen werden. 96 Insbesondere hinsichtlich der Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen haben Untersuchungen ergeben, daß der Mensch von der Fülle der auf ihn einwirkenden Informationen nur einen relativ geringen Teil bewußt verarbeiten und speichern kann, während der Rest unberiicksichtigt bleibt, die Wahrnehmung also selektiv erfolgt. 97 Diese Reduktion von Informationen findet außerdem insoweit einseitig statt, als von zwei Nachrichten mit dem gleichen Informationsgehalt diejenige schneller verarbeitet und besser erinnert wird, die für den Wahrnehmenden subjektiv leichter verständlich ist als die schwerer verstehbare, weil informationsreichere Nachricht. 98 Bestätigt werden diese Ergebnisse durch sozialpsychologische Erkenntnisse, wonach Menschen in Entscheidungssituationen Vorentscheidungen treffen, die die anschließende Informationswahrnehmung und -verarbeitung auf eine Weise beeinflussen, daß solche Informationen, die die eigene Hypothese bestätigen, überschätzt werden, während Informationen, die zu ihr im Widerspruch stehen, abgewertet werden. Es kommt also insgesamt zu einer verzerrten Bewertung des Wahrgenommenen;99 es werden dementsprechend falsche Schlüsse gezogen. b) Begünstigung wahrnehmungsbedingter Fehlbewertungen durch die Struktur der Hauptverhandlung Übertragen auf den Strafprozeß, bei dem der Richter in Form des Eröffnungsbeschlusses sogar ausdriicklich eine derartige Vorentscheidung aufgrund der überwiegend belastenden Ermittlungsakten trifft '00, führt dies zu der Vermutung, daß er

Schmitt, 429. Vgl. Herdegen, Boujong-FS, 778; ders., Abhandlungen, 100 und 118 f.; Peters, Fehlerquellen, 236 f.; ähnlich Köhler, 29. 95 Perron, Beweisantragsrecht, 49; Schmitt, 429. 96 Schmitt, 431. 93

94

Zu diesem "Selektionsprinzip" siehe Schünemann GA 1978, 170 f. m. w. N. Sog. Redundanzprinzip, dazu Schünemann GA 1978, 171 m. w. N. 99 Sog. "inertia"-Effekt, der aus der sog. "Theorie der kognitiven Dissonanz" abgeleitet wird, vgl. Bandilla/Hassemer StV 1989,552 f.; siehe auch Peters, Fehlerquellen, 234 zur "Beweisanpassung". 100 Bestätigt durch die von Schünemann geleiteten Untersuchungen, Experimentelle Untersuchungen, 1118; siehe auch Schmitt, 43. 97

98

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

(durch die Aktenkenntnis auf die "Wahrscheinlichkeit der Verurteilung" des Angeklagten "fixiert") erstens ebenfalls unbewußt im weiteren Verlauf der Beweisaufnahme aufgrund derartiger Wahrnehmungsverzerrungen Fehlbewertungen vornimmt 101 und zweitens dies um so mehr, je später sich ein den Angeklagten entlastender Beweis anbietet 102 . Bezieht man außerdem in die Überlegungen mit ein, daß die Prognosen nur aufgrund eines vorläufigen Verhandlungszwischenstandes ergehen und nur abstrakt vorgenommen werden können 103, dann kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Richter sich bei Einschätzung eines Beweises nicht mehr von dem während des Aktenstudiums gefaßten Vorurteil lösen kann und einen Beweis unzutreffender Weise endgültig als aussichtslos aus der Beweisaufnahme ausscheidet 104 . 4. Konsequenzen für das Verhältnis von Amtsaujklärungspjlicht und Beweiswürdigungsfreiheit

Festzuhalten bleibt also, daß selbst ein um Objektivität und Neutralität bemühter TatsachenermittIer aufgrund wahrnehmungspsychologischer Abläufe aus eigenem Bemühen heraus nicht verhindern kann, daß es zu Beweisantizipationen mit endgültiger Wirkung im oben angesprochenen Sinne kommt. Dieses in der Natur des Erkenntnisgewinnungsvorgangs selbst angelegte Problem verstärkt sich für den deutschen Strafprozeß gerade durch die "Personalunion" von Tatsachenerrnittler und -bewerter, weil dadurch die unvermeidlichen Fehlbewertungen Einfluß auf die Einschätzung noch zu erhebender Beweise erlangen, anstatt daß ein vorher an der Beweiserhebung unbeteiligter und daher noch unvoreingenommener Richter die getroffenen Feststellungen noch einmal auf ihre Vollständigkeit hin überprüft. Insoweit führt die Personalunion also tatsächlich entgegengesetzt zum Anspruch, mit der Beweiswürdigung erst nach vollständig abgeschlossener Beweiserhebung zu beginnen, dazu, daß Beweiserhebung und Beweiswürdigung auf der subjektiven Ebene der Richterpersönlichkeit ineinander verzahnt sind und sich daraus Gefahren für die Vollständigkeit und Richtigkeit der Sachverhaltsermittlung ergeben. Daraus läßt sich dann aber auch die Antwort auf die anfangs gestellte Frage ableiten, ob das Abstellen auf die "verständige Würdigung der Sachlage" geeignetes Kriterium zur Bestimmung der Grenzen der Amtsaufklärungspflicht sein kann:

101 Bandillal Hassemer; StV 1989, 553 f.; Schünemann, Experimentelle Untersuchungen, 1145; ders. GA 1978, 171. 102 Experimentelle Untersuchungen haben zumindest ergeben, daß sogar präsentierte entlastende Beweise in ihrer Bedeutung unterschätzt wurden, je später sie vorgebracht wurden; hierzu BandillalHassemer StV 1989,553 f.; kritisch zu diesen Experimenten Schünemann GA 1978, Fn. 94a. 103 Vgl. Köhler; 28 f.; siehe auch Hamm, Peters-FG, 170. 104 Vgl. Perron, Beweisantragsrecht, 127; Schünemann GA 1978, 175.

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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Angesichts der aufgezeigten Risiken ist sie nicht geeignet, die grundsätzlich notwendige Trennung zwischen Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsvorgang praktisch zu ennöglichen, ist also zur Begrenzung der Amtsaufklärungspflicht nicht tauglich. 105 Daß insoweit noch wenig Problembewußtsein herrscht, ist nur vor dem Hintergrund der damit in unmittelbarem Zusammenhang stehenden, sich auf die abschließende Gesamtwürdigung beziehenden und schon seit Inkrafttreten der StPO umstrittenen Frage zu verstehen, in weIchem Verhältnis die § 261 und § 244 zueinander stehen: 106 Wahrend in Rechtsprechung und Literatur derzeit wohl noch überwiegend die Auffassung vertreten wird, daß "Überzeugung" i.S. des § 261 lediglich die an Denk- und Erfahrungssätze 107 sowie wissenschaftliche Erkenntnisse gebundene subjektive Gewißheit des Tatrichters meint und der Strafrichter bei der Überzeugungsbildung weitgehend von Eingriffen der Revision frei sei 108, fordert eine in der Literatur und auch in der Rechtsprechung vordringende Ansicht, daß sich persönliche Gewißheit oder Zweifel auf eine intersubjektiv nachvollziehbare, also für jedennann mit Sachverstand kritisch diskutierbare, rationaler Argumentation zugängliche und damit revisionsrechtIich erweitert überprüfbare Tatsachenbasis stützen können müssen lO9 • Die bisherige Darstellung hat aber gezeigt, daß jedenfalls hinsichtlich der Bestimmung des Umfangs der Aufklärungspflicht ein Ennessensspielraum nicht anzuerkennen ist, sondern die Frage vielmehr dahingehend gestellt werden muß, 105 Siehe hierzu schon die Reichstagskomrnission, bei Hahn, 1880: "Eine freie Beweiswürdigung ist kaum denkbar, wenn man sich darauf einlassen will, dem Gerichte nachzulassen, daß es den Umfang der Beweise bestimme." Im Ergebnis auch Herdegen, Meyer-GS, 190; siehe auch ders., Abhandlungen, 148: je größer der richterliche Spielraum bei der Bewertung der Beweiskraft eines Beweises sei, desto dringlicher sei es, die Kriterien festzulegen, anhand derer überprüfbar sei, ob die subjektiven Vorstellungen die methodisch erreichbare Verobjektivierung erfahren haben; kritisch auch Perron, Beweisantragsrecht, 220 f. und 279. 106 Zu dieser Problematik der Verrnengung der Prinzipien der richterlichen Bestimmung des Umfangs der Beweisaufnahme und der freien Beweiswürdigung siehe auch die Ausführungen von Anders, 158 ff. 107 Zu den Begriffen siehe A. Schmidt, 68. 108 BGHSt 10, 208, 209 f.; 17,382,385; 29,18,20; BGH GA 1954, 152; KK-Engelhardt, § 261 Rn. 5, 51; Maul, Peters-FG, 49 f.; ter Veen, 46 Fn. 71 m. w. N.; eine ausführliche Darstellung der Entwicklung des Begriffs der Freiheit der Überzeugungsbildung in Rspr. und Lit. findet sich bei A. Schmidt, 79 ff. 109 U. a. BGH NJW 1988, 3273; NJW 1992, 921, 923; NStZ 1990,402; NStZ 1992,48; StV 1993,510,511; Albrecht NStZ 1983,488; Fezer StV 1995,99 f.; Kleinknechtl MeyerGoßner, § 261 Rn. 2; ähnlich Köhler, 49 ff.; Küper, Peters-FG, 46; Peters, Strafprozeß, 298 ff.; ders., Kaufmann-GS, 925; Rieß GA 1978,272,277; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15 eIl 1 a; Schmitt, 392 f. und 3. Teil 1. Abschnitt III 1-3; weitere Rechtsprechungsnachweise bei A. Schmidt, 92 ff.; ausführlich Herdegen, Abhandlungen, 60 ff. und 97 ff.; 126 ff.; ders., Meyer-GS, 195 ff.; ders., Boujong-FS, 782 f.

5 Schulenburg

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I. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

wann der Richter mit den Ermittlungen aufhören darj:llo Nur so läßt sich den Gefahren entgegenwirken, die sich aus der "Doppelrolle" des Richters ergeben. Da die Überzeugungsbildung rechtlich fehlerhaft ist, wenn sie sich auf eine unzulängliche Beweisaufnahme stützt, bedarf diese Überzeugung einer verläßlichen Grundlage. 111 Die Beurteilung, ob diese Grundlage besteht, darf aber nicht frei aus der Sicht des Gerichts erfolgen - wie es die Formel von der "verständigen Würdigung" nahelegt - sondern muß anhand sachlicher intersubjektiv nachvollziebarer Kriterien vorgenommen werden. 112 Auf die genannte Formel sollte daher verzichtet werden, da sie nur zu Mißverständnissen führt. 5. Kontrollmöglichkeiten zur Einhaltung der Trennung von Beweiserhebungsvorgang und Beweiswürdigungsvorgang Möglichkeiten eines Verzichts auf eine strenge Trennung

Aus diesen Überlegungen kann man nun die Konsequenz ziehen, auf sachlich nachvollziehbarer Ebene eine strikte Trennung von Beweiserhebungs- und würdigungsvorgang dadurch zu erzwingen, daß der Richter verpflichtet wird, jedem erkennbaren Beweis nachzugehen,1I3 also ein umfassendes Beweisantizipationsverbot aufzustellen. Dies würde theoretisch zu einer uferlosen, wenn nicht sogar endlosen Beweisaufnahme führen, aber auch nahezu jegliches Risiko ausschließen, daß ein Beweis zu unrecht vorweg aus der Beweisaufnahme ausgeschlossen wirdY4 Oder man kann nach - schon oben näher präzisierten 115 - sachlichen, intersubjektiv nachvollziehbaren und damit sowohl durch den Richter als auch durch BO Siehe auch Herdegen, Meyer-GS, 192, der darauf hinweist, daß die von Schneidewin, 331 gestellte Frage niemals lauten konnte und kann, wie für das Gericht noch Anlaß bestehen könne, den Sachverhalt weiter aufzuklären, wenn es bereits die volle Überzeugung von der Schuld des Angeklagten erlangt habe, sondern es sei zu fragen, ob der Richter noch nicht überzeugt sein durfte, weil noch Aufklärungsmöglichkeiten vorhanden waren, deren Benutzung noch den Schuldvorwurf beeinflussen konnten; Schneidewins Frage fußt allerdings noch auf dem Verständnis, daß nach dem Wesen der Aufklärungspflicht diese dazu diene, Zweifel des Gerichts an der Schuld des Angeklagten zu überwinden. Die Aufklärungspflicht bestehe regelmäßig nur zu dessen Lasten (S. 331 f.); gegen Herdegen ausdriicklich ter Veen, 50 Fn. 97 mit der unsachlichen Begriindung, diese Auffassung entspreche nicht der tatrichterlichen Praxis. BI Vgl. Niemöller StV 1984,333 und Wesseis JuS 1969,6 f. 112 Für eine Orientierung an objektiven Gegebenheiten ebenfalls LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 46. 113 Eine Einschränkung dahingehend, nicht jede Beweismöglichkeit als sich anbietenden Beweis anzusehen, stellte ja automatisch schon eine Beweisantizipation dar und wäre daher unzulässig. 114 Davon zu trennen ist das immer bestehende "Risiko", daß der festgestellte Sachverhalt nicht mit dem wirklichen Geschehen übereinstimmt. Ebenso kann dadurch nicht verhindert werden, daß der Richter die Beweise nach vorgenommener Beweiserhebung in ihrer Bedeutung falsch einschätzt. B5 Siehe oben § 2 A.

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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die Revisionsgerichte kontrollierbaren Kriterien suchen, die zur Begrenzung des Umfangs der Beweisaufnahme einen Verzicht auf diese Trennung vertretbar erscheinen lassen, weil und sofern sie mit größtmöglicher Sicherheit gewährleisten, daß die Prognose, eine Beweiserhebung könne die Wahrheitserforschung nicht fördern, richtig ist. Fraglich ist indes, welcher dieser Wege einzuschlagen ist. Eine Orientierung an sachlichen Kriterien wäre zulässig - einmal unterstellt, sie lassen sich adäquat formulieren -, wenn es mit dem Ziel umfassender Wahrheitsermittlung in Einklang steht, ein gewisses ,,Minimal"- bzw. "Restrisiko" der Unvollständigkeit der Sachverhaltsfeststellung in Kauf zu nehmen. Denn das Beweisantizipationsverbot braucht nicht eine die Anforderungen der Wahrheitserforschungspflicht "übersteigende" Sachverhaltserforschung zu erzwingen, sondern es genügt, wenn es die Einhaltung dieser Anforderungen durchsetzt. 116 Die Zuverlässigkeit der Wahrheitserforschung würde dann durch das Unterlassen einer Beweiserhebung aufgrund einer antizipierenden Einschätzung des Beweises als nicht wahrheitsfördernd nicht beeinträchtigt, sofern die Antizipation sich im Rahmen dieses tolerierten Risikos hält. 117 Dies würde im übrigen auch der eingangs aufgestellten These entsprechen, daß das Beweisantizipationsverbot nicht die Trennung von Beweiserhebung und Beweiswürdigung an sich bezweckt, sondern diese nur als Instrument zur Ermittlung eines vollständigen Sachverhaltes einsetzt. Demgegenüber müßte eine strikte Trennung von Beweiserhebung und Beweiswürdigung durchgesetzt werden, wenn im Rahmen der Wahrheitserforschung jegliches Risiko von Fehleinschätzungen ausgeschlossen werden muß. Bevor also überhaupt Überlegungen zu Grenzen und Ausnahmen des Verbotes angestellt werden können, ist in jedem Fall der Frage nachzugehen, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß die Gefahr von Fehleinschätzungen, die auch bei einer Orientierung an sachlichen Kriterien nie ganz ausgeschlossen werden kann, mit dem Ziel vollständiger und zuverlässiger Wahrheitserforschung vereinbar ist. Dies soll im folgenden Abschnitt geschehen. Es läßt sich aber schon hier feststellen, daß ein objektiviertes Verständnis von der Amtsaufklärungspflicht, wie es auch dieser Arbeit zugrundeliegt, zu der Erkenntnis führen muß, daß das Beweisantizipationsverbot in noch näher zu bestimmenden Umfang auch in der Amtsaufklärungspflicht gelten muß.

v. Normative Grenzen der Wabrheitserforschungspflicht Die Antwort auf die Frage, ob das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung jegliches Risiko von Fehleinschätzungen ausschließen soll, so daß das Gericht aufgrund eines umfassenden Beweisantizipationsverbots jedem erkennbaren 116 117

5*

So auch Schlüchter, siehe oben § 1 B. Vgl. hierzu auch Herdegen, Boujong-FS, 783 ff., insb. 785 f.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Beweis nachgehen müßte, oder ob es einen Bereich gibt, in dem auf eine Beweiserhebung verzichtet werden kann, weil sie die Sachverhaltserforschung nicht fördern könnte, muß in dem Prozeß der Wahrheitsfindung, insbesondere dem der Tatsachenfeststellung gesucht werden. Denn § 244 11 selbst enthält, wie gesagt, keine genaue Aussage zum Umfang der Sachaufklärungspflicht,118 sondern beschränkt sie mit der Anweisung, die Beweisaufnahme auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind, lediglich gegenständlich auf die relevanten Tatsachen. § 244 11 trifft damit aber keine Aussage, in welchem Ausmaß sich die Beweisaufnahme auf diese Tatsachen zu erstrecken hat, ob also die Wahrheitserforschungspflicht quantitativ beschränkt werden kann. Dies ist wiederum davon abhängig, was im Rahmen strafprozessualer Wahrheitsfindung überhaupt geleistet werden kann. Eine solche Beschränkung scheint zwar auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem Ziel vollständiger und zuverlässiger Sachverhaltsfeststellung zu stehen, ein Blick auf den Vorgang der Tatsachenfeststellung zeigt aber, daß sich dahinter eine von der Struktur her zwar einfache, aber in der Umsetzung auf den Einzelfall komplexe Methode der Verknüpfung von Wahrnehmungen mit Erfahrungsregeln zu theoretischen Schlüssen verbirgt, die zwangsläufig zu Begrenzungen der Aufklärungsbemühungen führt. Wertvolle Hinweise zu dieser Methode enthalten jene Arbeiten, die sich mit Struktur, Voraussetzungen und Würdigung des Indizienbeweises auseinandersetzen 119, wobei hier im vorliegenden Zusammenhang nur die Aussagen, die sich auf den Umfang der Amtsaufklärungspflicht beziehen, von Interesse sind. 1. Die Struktur der TatsachenJeststellung

In der Hauptverhandlung ist der Richter aufgefordert, ein in der Vergangenheit liegendes Geschehen durch Zusammentragen unmittelbar und mittelbar erheblicher Tatsachen zu rekonstruieren. Da es sich hierbei nicht um seine eigenen Wahrnehmungen handelt, muß er sich den Sachverhalt durch Anwendung von Erfahrungsregeln erschließen. Daher weist selbst die Feststellung unmittelbar erheblicher Tatsachen die logische Struktur eines Indizienbeweises in der Form der Verknüpfung von Wahrnehmungen mit Erfahrungsregeln zu theoretischen Schlüssen auf. 120 Wenn beispielsweise ein Zeuge bekundet, er habe beobachtet, wie der Angeklagte eine Schaufensterscheibe zertrümmert und Ware entwendet habe, so ist nur die Aussage des Zeugen unmittelbar wahrnehmbare Tatsache für das Gericht. Diese Tatsache läßt dann den möglichen Schluß zu, daß der Zeuge sich an ein solches Geschehen erinnert, was wiederum den Schluß ermöglicht, daß er den Vor118

119 120

Siehe oben § 3 A. III. 1. Dencker ZStW 102, 69 ff.; Freund, 14 ff.; Kühl, 179 ff. Dencker ZStW 102, 69 und Fn. 59; Engisch, 60 ff.

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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gang so wahrgenommen hat und dieses, daß das Geschehen sich so zugetragen hat. 121 Die Feststellung der unmittelbar erheblichen Tatsachen wird also über Schlußfolgerungen vermittelt. Diese allgemeine Struktur der Tatsachenfeststellung unterscheidet sich insoweit von dem eigentlichen Indizienbeweis, bei dem aus festgestellten mittelbar erheblichen Tatsachen auf eine unmittelbar erhebliche Tatsache geschlossen wird, als bei letzterem die Erfahrungssätze, die verwendet werden, für sich allein häufig nicht schon zweifelsfrei den Schluß auf eine unmittelbar erhebliche Tatsache zulassen, sondern dies erst in ihrer Kombination mit anderen Indizien ermöglichen. 122 Auch steigt die Zahl der verwendeten Erfahrungssätze und Schlußfolgerungen, so daß gegenüber dem sogenannten unmittelbaren Beweis ein quantitativer Unterschied besteht. 123 Die im konkreten Einzelfall verwendeten Erfahrungssätze können entweder allgemeingültig sein oder ohne Allgemeingültigkeit Wahrscheinlichkeitsregeln darstellen. Allgemeingültig sind jene Erfahrungsregeln, die aufgrund der Lebenserfahrung oder wissenschaftlicher Erkenntnisses feststehende Urteile von allgemeiner Bedeutung widergeben und solange ausnahmslos gelten, bis sie durch neues (wissenschaftliches) Erfahrungswissen modifiziert werden. An diese Erfahrungssätze ist der Richter gebunden. 124 Erfahrungssätze ohne Allgemeingültigkeit sind solche, die Ausnahmen zulassen, weil sie nur den aus den Erfahrungen des täglichen Lebens gewonnenen regelmäßigen Ablauf der Dinge beschreiben. Sie haben den Wert von Indizien. 125 Für alle Erfahrungssätze, insbesondere die der allgemeinen Lebenserfahrung, gilt, daß sie mit gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar und intersubjektiv nachprüfbar sein müssen,126 andernfalls können sie keine Gültigkeit beanspruchen. Auch wird der Beweis vom Vorliegen einer Tatsache in der Vergangenheit über die Verwendung von Erfahrungssätzen nur dann zu einem "empirisch [ ... ] haltbaren Nachweis im Einzelfall,,127, wenn die Voraussetzungen, unter denen ein ausnahmslos oder regelmäßig geltender Erfahrungssatz Gültigkeit hat, tatsächlich auch vorliegen. Dies ist wiederum erst dann der Fall, wenn sämtliche denkbaren möglichen Ausnahmen, also Alternativen zu einer möglichen Schlußfolgerung unter Zugrundelegung gesicherter Erkenntnisse intersubjektiv nachvollziehbar ausge121

122 123 124 125 126 127

Beispiel nach Grünwald. Honig-FS, 60. Volk GA 1973, 170. Grünwald. Honig-FS, 60; Schlüchter, Wahrunterstellung, 24. Alsberg/Nüse/Meyer, 553 und Fn. 176; LR-Hanack. § 337 Rn. 171. Alsberg/Nüse/Meyer, 553 und Fn. 176; LR-Hanack. § 337 Rn. 174. Freund. 14 ff. Freund. 23.

1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

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schlossen werden können, so daß die Aussage möglich ist, daß ein Erfahrungssatz nicht nur generell, sondern auch im konkreten Fall zutrifft. 128 Denn in vielen denkbaren Alternativen kann ein Indiz auch den Schluß auf Handlungszusarnmenhänge und Geschehensabläufe zulassen, die nichts mit dem strafrechtlich relevanten Tatvorwurf zu tun haben. 129 Die Abhängigkeit der Beweiskraft eines Indizes vom Ausschluß aller anderen denkbar möglichen Deutungsalternativen verleiht dem Vorgang der Tatsachenfeststellung also die Struktur eines ständig notwendigen Ausschlusses von Alternativen, der Falsifikation von Alternativen zum Verdacht. 130 Dies scheint eine Beweiserhebung über das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen der Alternativen notwendig zu erfordern. Weitere Überlegungen zeigen jedoch, daß dies nicht ausnahmslos möglich ist. 2. Unvollständigkeit der Sachverhaltsermittlungen als Grundlage strafprozessualer Wahrheitseiforschung

Je nach Fallgestaltung werden bestimmte Ausnahmen eines Erfahrungssatzes direkt ausgeschlossen werden können, so daß es nur noch darum geht, die Voraussetzungen jener Ausnahmen zu konkretisieren, die noch in Betracht kommen; 13l oder mehrere voneinander unabhängige Erfahrungssätze lassen in ihrer Kombination nur den Schluß auf eine bestimmte unmittelbar erhebliche Tatsache zu. 132 Andererseits aber müssen theoretisch auch die Ausnahmen vom Ausschluß der Ausnahmen ausgeschlossen werden können,133 was unweigerlich zu dem Problem führt, daß es mit Hilfe einer phantasievollen Vorstellungskraft möglich ist, unzählig viele Ausnahmen zu bilden, bei deren Vorliegen ein Indiz trotz des i. d. R. geltenden Erfahrungssatzes gerade keinen Schluß auf ein strafrechtlich relevantes Verhalten zuläßt und die das Gericht nicht berüchsichtigt hat. Da diese möglichen Alternativen theoretisch allesamt ausgeschlossen werden müßten, damit davon ausgegangen werden darf, daß ein Indiz seine Beweiskraft behält, müßte damit die Pflicht zur Überprüfung von Alternativen zum Regelfall quasi ins Unendliche ausgedehnt werden,134 und die Tatsachenermittlung könnte in der Mehrzahl aller Fälle nicht beendet werden.

Freund, 17 f., 22 f., 24. Kühl, 180,205. 130 Siehe hierzu Dencker ZStW 102,71; Freund, 23; Kühl, 150 f., 179, 183. 131 Freund, 22. 132 Freund, 24. 133 Siehe hierzu die anschauliche Darstellung bei Engisch, 73 ff.; Freund, 23; ähnlich auch Dencker ZStW 102,71. 134 Dencker ZStW 102, 71; Kühl, 202. 128

129

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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Entsprechendes gilt übrigens auch für den mit Hilfe eines Sachverständigen zu führenden Nachweis der generellen Gültigkeit eines Erfahrungssatzes. Auch diese könnte nur durch Anwendung anderer Erfahrungssätze bewiesen werden,135 deren Gültigkeit wiederum Prämisse des Nachweises wäre - damit würde der Versuch der Beweisführung ebenfalls in einen unendlichen Regreß führen. Es ist offensichtlich, daß hier normativ eine Grenze der Wahrheiterforschungspflicht gezogen werden muß, die erkenntnistheoretisch nicht gezogen werden kann, indem die Voraussetzungen eines Erfahrungssatzes ohne Beweiserhebung als gegeben unterstellt werden. 136 Kühl beschreibt dies dahingehend, daß das Gericht in der Praxis so verfcihrt, "als ob" es alle Alternativen zum Tatverdacht falsifiziert hätte, ohne daß dies durch eine tatsächliche Beweisführung positiv bestätigt würde. Nur so könne beriicksichtigt werden, daß ein Indiz in unzählig vielen Geschehenszusammenhängen seine Indizwirkung verlieren würde. 137 Dencker bezeichnet diese Vorgehensweise des Gerichts anschaulich als Arbeit mit Normalfallannahmen, weil es ohne diese seiner Pflicht zur Amtsaufklärung gar nicht nachkommen könneYs Eine praktizierbare Tatsachenfeststellung ist demnach gezwungen, Erfahrungssätze von bestimmten besonderen Einzelfällen bzw. Unterausnahmen zu abstrahieren. 139 Letztlich steht damit also nicht außer Frage, daß bestimmte Wahrheitsbedingungen außer Betracht bleiben dürfen und müssen, sondern nur, welche dies sein können l40 , so daß sich die Sachverhaltsermittlung nicht auch auf diese erstrecken muß. Die Ermittlungspflicht soll sich nach VOlk 141 nur auf jene abweichenden Geschehensmöglichkeiten erstrecken, auf die tatsächliche konkrete Anhaltspunkte hinweisen und nicht auch auf solche, die überhaupt denkbar sind. Nur dann seien sie auch geeignet, konkrete Zweifel hervorzurufen. Anders sei es nur bei jenen Alternativen, die genauso nahe liegen, wie die zunächst angenommene Deutungsmöglichkeit. Diesen müsse das Gericht auch ohne Anhaltspunkte nachgehen. 142 Auch Kühl geht davon aus, daß die Aufklärungspflicht nur bedeuten könne, Anhaltspunkten nachzugehen, die eine Änderung der schon erworbenen Deutung Z. B. mit dem Erfahrungssatz, daß Sachverständige sich in der Regel auskennen. Siehe auch den Hinweis in KK3 -Herdegen, § 244 Rn. 21, wonach es sich bei den von der h. M. verwendeten Begriffen der "verständigen Würdigung" und der "begründeten Zweifel" um normative Kriterien handelt (dazu oben § 3 A. III. 1.). 137 Kühl, 202. 138 Dencker ZStW 102, 70 ff. 139 V gl. Freund, 22. 140 V gl. auch Freund, 26. 141 Volk GA 1973, 173; in gleichem Sinne noch Herdegen NStZ 1984,98; siehe jetzt ders. in KK, § 244 Rn. 21, wonach es auf Gründe ankommt, die in hohem Maße plausibel sind für die Prognose, daß eine Beweiserhebung zu keinem relevanten Beweisstoff führen werde; SKSchlüchter; § 244 Rn. 36 f. 142 Volk GA 1973, 174. 135

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

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der Beweisaufnahme erwarten lassen. 143 Wobei hier noch einmal angemerkt sei, daß es sich nach dem bisher Gesagten nur um eine vorläufige Deutung handeln kann. 144 Die Rechtsprechung formuliert diesen Gedanken dahingehend, daß die Aufklärungspflicht das Gericht nicht zwinge, Beweismittel zuzuziehen, bei denen zwar die Möglichkeit gedanklich abstrakt nicht völlig ausgeschlossen ist, daß es zu einer Änderung des Beweisergebnisses kommt, bei denen aber weder nach der Lebenserfahrung noch aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, daß sie das bisher gewonnene Beweisergebnis in Frage stellen könnten. 145 Dencker nennt diese Anhaltspunkte Gegenindizien und beschreibt den Umfang der Aufklärungspflicht dahingehend, daß § 244 11 dem Gericht zwar vorschreibe, Normalfallannahmen VOn sich aus kritisch zu handhaben und bei Indizien diese zu überpriifen, aber eben nur diese. Da die Voraussetzung einer Menge von Normalfallannahmen unabdingbar sei, bedeute die Aufklärungspflicht des Gerichts immer nur, Anhaltspunkten nachzugehen, die der Gültigkeit solcher Annahmen im Einzelfall entgegenstehen könnten. Gebe es solche nicht, könne das Gericht VOn den Annahmen ausgehen, weil es zur Erfüllung seiner Pflicht von ihnen ausgehen müsse. 146 Diese zuletzt gezogene Schlußfolgerung darf nicht mißverstanden werden: Unter Umständen stellt schon die Tatsache, daß ein Indiz den Schluß auf mehrere gleich naheliegende Geschehensabläufe zuläßt, ohne daß für das Vorliegen dieser Geschehensabläufe selbst ein konkreter Anhaltspunkt gegeben ist, ein solches Gegenindiz dar, so daß das Indiz selbst seine Beweiskraft verliert. Nur weil keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer naheliegenden alternativen Geschehensmöglichkeit gegeben sind, darf diese Alternative nicht auch zugleich als positiv ausgeschlossen behandelt werden und der vermutete Erfahrungssatz auch im konkreten Einzelfall als anwendbar angesehen werden. Letztendlich sind dies aber Fragen der Beweiswürdigung, insbesondere des Indizienbeweises, und ob es auch im Strafprozeß eine Art "Beweis- oder zumindest Behauptungslast" des Angeklagten gibt l47 und wie zu entscheiden ist, wenn bestimmte Umstände nicht aufgeklärt werden können - Fragen, die hier nicht weiterverfolgt werden müssen. Wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang allein, daß das Risiko der unvollständigen Sachverhaltsermittlung dem Wahrheitsfindungsprozeß immanent ist, weil es strukturell keine Grenze der Sachverhaltserforschungspflicht gibt. Der Umfang der Aufklärungspflicht findet nur normativ seine Grenzen, indem die VorausKühl, 199 f. So ist wohl auch der Nachsatz Kühls, 199 f. zu verstehen, daß die Deutung der Beweisaufnahme noch unter einem Vorbehalt stehe; siehe dazu schon oben § 3 A. IV. 2. 145 BGHSt 30,131,141; im Anschluß an diese Rechtsprechung auch LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 46a. 146 Dencker ZStW 102,71 ff. 147 Dazu ausführlich Dencker ZStW 102, 72 ff.; Volk GA 1973, 161 ff.; Kühl, 179 ff. 143

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2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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setzungen eines Erfahrungssatzes im konkreten Einzelfall solange als gegeben angesehen werden, wie keine konkreten Anhaltspunkte erkennbar sind, die auf das Gegenteil hindeuten. Erst dann wird die Voraussetzung einer Erfahrungsregel selbst zum Gegenstand der Beweiserhebung. Bleiben Umstände danach noch ungeklärt, hat sich die Beweiswürdigung am Grundsatz "in dubio pro reo" zu orientieren. 148 Damit wird deutlich, daß sich die Pflicht des Gerichts zur Amtsaufklärung darauf erstreckt aber auch zugleich beschränkt, solchen konkreten Anhaltspunkten nachzugehen, die auf Alternativen, d. h. Ergänzungen und Änderungen zu den bisherigen vorläufigen Feststellungen hinweisen, wobei ein solcher Anhaltspunkt auch die bloße Tatsache sein kann, daß eine mögliche Deutungsalternative genauso nahe liegt, wie die vermutete. 149 Enthält eine Beweismöglichkeit lediglich Hinweise darauf, daß bestimmte Feststellungen bestätigt werden könnten, muß das Gericht diesen nicht nachgehen, es sei denn in der Bestätigung liegt gleichzeitig der Ausschluß von alternativen Geschehensmöglichkeiten. Überflüssige Beweiserhebungen können so vermieden werden, ohne daß die Möglichkeit des Gegenbeweises abgeschnitten wird. Die Unmöglichkeit, vergangenes Geschehen mit letzter Sicherheit umfassend zu ermitteln, zwingt also zu einer selektiven Beweisaufnahme. 3. Parallelen zu den Anforderungen an die abschließende Gesamtbeweiswürdigung

Ein Vergleich mit den gestellten Anforderungen an die abschließende Gesamtbeweiswürdigung, die ja strukturell der Entscheidungsfindung über die Durchführung einer Beweisaufnahme entspricht l50 , zeigt, daß die bisherigen Überlegungen im Einklang mit diesen Anforderungen stehen: Aufgrund der Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, die die Erlangung eines absolut sicheren Wissens und die Feststellung der objektiven Wahrheit ausschließt, muß ein Restrisiko insofern akzeptiert werden, als der Richter bei seiner Überzeugungsbildung die abstrakt immer bestehende Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs, die im Sachverhalt selbst keinen Anhaltspunkt findet, nicht zu berücksichtigen braucht. Der abstrakt-theoretische ZweiSo auch Kühl, 196, 199. Vgl. demgegenüber die unbestimmter gehaltene und subjektiv geprägte Formulierung der h. M., daß der dem Richter bekannte Sachverhalt zur Benutzung weiterer Beweise "drängen" müsse, was häufig dann der Fall sei, wenn auch nur die "entfernte" Möglichkeit bestehe, durch eine Beweiserhebung eine Änderung der durch die bisherige Beweisaufnahme entstandene Vorstellung von dem zu beurteilenden Sachverhalt zu begründen, siehe oben § 3 A. III. 1. 150 So ausdrücklich Dencker ZStW 102, 70; Fezer, BGH-FG, 856 und Herdegen, Boujong-FS, 783 f. 148 149

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

fel 151 an der Wahrheit des Geschehensablaufs kann im Gegensatz zum konkret bestehenden "vernünftigen" Zweifel die Überzeugungsbildung nicht beeinflussen. Insoweit besteht Einigkeit, ohne diese Einschränkung wäre sonst eine Verurteilung nie möglich, da die theoretische Möglichkeit, daß sich das Geschehen anders zugetragen hat, immer besteht. Dieses Risiko muß daher in Kauf genommen werden. 152 Im einzelnen streitig ist dagegen, nach welchem Beurteilungsmaßstab sich die Abgrenzung zu richten hat, ob nach der persönlichen Überzeugung des Tatrichters oder der Betrachtungsweise eines besonnenen, gewissenhaften und lebenserfahrenen Beurteilers oder danach, ob intersubjektiv nachvollziehbare und vermittelbare Gründe einen vernünftigen Zweifel begründen. 153 Ebenso sind die im einzelnen zu stellenden Anforderungen an die Konkretheit des Zweifels unklar. 154 Dies braucht im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht vertieft zu werden, denn hinsichtlich der Anforderungen, die an die Sachverhaltsermittlung gestellt werden müssen, wurde schon ausführlich dargelegt, daß sich das Vorliegen und Fehlen konkreter Anhaltspunkte anhand sachlicher, intersubjektiv nachvollziehbarer Kriterien begründen lassen muß. Außerdem ist die abschließende Beweiswürdigung nicht Gegenstand der Untersuchung. VI. Entbehrlichkeit einer strikten Trennung zwischen Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsvorgang

Für die Ausgangsfrage 155 , ob das Beweisantizipationsverbot jegliches Risiko von Fehleinschätzungen ausschließen soll und damit die Einhaltung einer strikten Trennung zwischen Beweiserhebung und Beweiswürdigung durchgesetzt werden muß, ergeben sich aus den bisherigen Überlegungen folgende Ergebnisse. 1. Grenzen der Aufklärungspflicht als Grenzen des Beweisantizipationsverbots

Das abstrakte Risiko, daß sich das Geschehen anders abgespielt haben könnte, als es sich nach Erfüllung der normativ begrenzten Aufklärungspflicht darstellt, ist dem Prozeß der Sachverhaltsfeststellung immanent. Dementsprechend konzentriert sich die Aufklärungspflicht des Gerichts darauf, sachverhaltsergänzenden und -än151 Im Umflauf sind verschiedene Formulierungen: die Rede ist vom "unvernünftigen", ,,rein theoretischen", "abstrakten", "abstrakt-theoretischen", "bloß gedanklichen" Zweifel, vgl. BGH NJW 1951, 83; 122; NJW 1995, 2930, 2932; BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 22. 152 Eine nähere Beschäftigung mit der Frage der Legitimation einer Verurteilung trotz des Risikos eines Fehlurteils kann hier nicht erfolgen, siehe dazu Freund, 12 f. 153 Zum Streitstand in Rechtsprechung und Literatur vgl. A. Schmidt, 91 ff. und 94 ff. 154 Zum Streitstand siehe ebenfalls bei A. Schmidt, 130. 155 Siehe oben § 3 A. IV. 5.

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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dernden, also sachverhaltsmodifizierenden, nicht aber in jedem Fall sachverhaltsbestätigenden konkreten Anhaltspunkten nachzugehen. Nur jene können auch konkrete Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der bisherigen Feststellungen begründen, und ein Verzicht auf eine Beweiserhebung kann hier eine konkrete Gefahr für die Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellung bedeuten. Dies bedeutet aber zugleich auch, daß ein Gericht nicht ausnahmslos jedem erkennbaren Beweis nachgehen muß und daß eine Beweisantizipation zumindest dann mit der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen und damit der Funktion des Beweisantizipationsverbots vereinbar ist, wenn sie anhand sachlicher Kriterien die Aussage erlaubt, daß eine Beweiserhebung die Sachverhaltsermittlung nicht fördern könnte, sei es daß dies gar nicht möglich ist, sei es daß sie nur bestätigend wirken würde. Die Grenzen des Beweisantizipationsverbots decken sich auf diese Weise mit denen der Amtsaufklärungspflicht, so daß unter diesen Voraussetzungen die Beachtung des Verbots auch keine über die Amtsaufklärungspflicht hinausgehenden Ermittlungen bewirkt. Um gewährleisten zu können, daß keine Beweiserhebung unterlassen wird, deren Bedeutung der Richter falschlicher Weise nicht erkennt, ist diese Antizipation aber auch nur auf der Basis dieser negativ-ausschließenden Fragestellung zulässig. D. h. eine Beweisantizipation ist nicht schon dann zulässig, wenn lediglich nicht festgestellt werden kann, daß eine erkennbare Beweismöglichkeit konkrete sachverhaltsmodifizierende Anhaltspunkte aufweist, sondern sie ist erst dann mit der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsdarstellung vereinbar, wenn anband sachlicher Kriterien mit größtmöglicher Sicherheit positiv ausgeschlossen werden kann, daß eine Beweismöglichkeit die Wahrheitsermittlung fördern könnte. Nur dann besteht allenfalls die abstrakte Gefahr, daß auf eine Beweiserhebung verzichtet wird, die noch zu Sachverhaltsmodifikationen führen könnte. Die Frage lautet also nicht: ,,Enthält eine Beweismöglichkeit Anhaltspunkte für Sachverhaltsmodifikationen?" sondern: "Kann anband sachlicher Kriterien mit größtmöglicher Sicherheit ausgeschlossen werden, daß eine Beweismöglichkeit Anhaltspunkte für sachverhaltsmodifizierende Ergebnisse enthält, entweder weil es gar nicht möglich ist oder weil nur bestätigende Ergebnisse zu erwarten sind?".156 Diese Einschränkung hängt unmittelbar mit dem Erfordernis zusammen, den Verzicht auf eine Beweiserhebung anband intersubjektiv nachvollziehbarer sachlicher Kriterien zu begründen. In diesem Sinne läßt sich nämlich nur begründen, daß sachverhaltsmodifizierende Anhaltspunkte nicht vorliegen können, nicht, daß sie sich nicht feststellen lassen. Diese Akzentverschiebung findet allerdings in der Literatur nicht immer angemessenen Ausdruck. So formuliert beispielsweise Schlüchter157 , die für die Beurteilung der weiteren Sachaufklärungspflicht erforderliche Prognose, ob weitere erkennbare Beweismittel zur Überzeugungsbildung beizutragen geeignet sind bzw. eine bereits gebildete Überzeugung zu erschüttern vermögen, zeige, daß Beweisan156 157

Vgl. für § 77 OWiG (a. E) BayObLG VRS 57, 28, 31; Alsberg/Nüse/Meyer, 843. In SK-Schlüchter, § 244 Rn 37.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

tizipation im Rahmen der Aufklärungspflicht "nicht ausnahmslos unzulässig" sei. Wenig später zieht sie daraus die Konsequenz, daß im Gegensatz zu der "in gewissen Grenzen möglichen Beweisprognose im Rahmen der Aufklärungspflicht" ein Beweisantrag grundsätzlich nicht aufgrund einer Beweisantizipation zurückgewiesen werden dürfe. 158 Unauffällig wird durch eine solche Formulierung aus der "nicht ausnahmslosen Unzulässigkeit" einer Antizipation im Bereich der Amtsaufklärungspflicht die "Zulässigkeit der Antizipation in gewissen Grenzen" geschaffen und damit vermeintlich ein über das Beweisantragsrecht hinausgehender Spielraum für Beweisantizipationen im Bereich der Amtsaufklärungspflicht eröffnet. Allenfalls aber kann aus der Unmöglichkeit umfassender Sachverhaltserforschung und der daraus resultierenden prinzipiellen Notwendigkeit der antizipierenden Beurteilung von Beweisen nur gefolgert werden, daß Beweisantizipationen zulässig sein müssen. In welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen dies zulässig ist, insbesondere ob unter von dem Beweisantragsrecht abweichenden Voraussetzungen, muß gerade erst noch gesondert ermittelt werden und zwar unter Beachtung der soeben genannten Grundsätze. 159

2. Anforderungen an die Kriterien zulässiger Beweisantizipation

Kriterien, die der Umsetzung der genannten Voraussetzungen dienen, müssen dem strukturell bedingten Problem Rechnung tragen, daß die Entscheidung hinsichtlich einer weiteren Beweiserhebung nur auf der Grundlage eines vorläufigen Verhandlungszwischenstandes ergehen kann und der Richter subjektiv nicht frei von Fehlbewertungen ist l60 . Es können daher nur solche Kriterien als Begründung herangezogen werden, mit denen schon im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beweisaufnahme die Prognose möglich ist, daß das Ergebnis einer möglichen Beweisaufnahme nicht nur zu diesem Zeitpunkt, sondern gerade auch später bei der abschließenden Gesamtbeweiswürdigung keinen Einfluß haben kann. Unter diesen Voraussetzungen birgt der Verzicht auf eine Beweiserhebung nur die abstrakt immer bestehende Gefahr, daß sich das Geschehen anders abgespielt haben könnte, als es sich nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme darstellt, und eine Beweisantizipation stellt keine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen dar.

SK-Schlüchter; § 244 Rn. 82. Vorsichtig formuliert daher auch Maul. Peters-FG, 50, daß die Pflicht zur Wahrheitsermittlung nicht jede Beweisantizipation ausschließe, jedoch Zurückhaltung geboten sei, wenn Beweisstoff vorhanden sei, der die Stellung eines Beweisantrags erlauben würde. Dann dürfe von einer Beweiserhebung nur bei Vorliegen eines der Gründe des § 244 Abs. 3, 4 abgesehen werden. Diese Formulierung läßt kaum denkbaren Raum für Antizipationen, die im Bereich der Amtsaufklärungspflicht zulässig sind, aber nicht im Bereich des Beweisantragsrechts. 160 Siehe oben § 3 A. IV. 3. 158

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2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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An dieser Stelle sei klarstellend darauf hingewiesen, daß hier nicht der Versuch unternommen wird, die Zulässigkeit von Beweisantizipationen vom Grad der den Beweis begründenden richterlichen Überzeugung abhängig zu machen: Eine graduelle Unterteilung der Überzeugung ist nämlich nicht möglich. 161 So wie der Richter für eine Verurteilung stets im vollen Umfang von der Schuld des Angeklagten überzeugt sein muß, so ist auch eine Differenzierung zwischen einer zur Beweisantizipation berechtigenden eindeutigen Überzeugung im Gegensatz zur weniger eindeutigen Überzeugung des Gerichts nicht möglich 162 . Dementsprechend ist das von der Rechtsprechung angeführte "Abgrenzungskrierium" des "eindeutig geklärten Sachverhaltes" auch unbrauchbar. 163 Entscheidend für die Beurteilung der Zulässigkeit von Beweisantizipationen ist aber auch nicht die Überzeugung des Richters, sondern der Grad der Gefahr, der von einer vorläufigen Überzeugungsbildung für den Beweisgewinnungsvorgang ausgeht. Nicht die Überzeugungsbildung wird einer Kontrolle unterworfen, sondern der vorangehende Beweisgewinnungsprozeß. Die hierfür notwendige Entscheidungsfindung über eine Beweiserhebung gleicht zwar strukturell der abschließenden Überzeugunsbildung, erstere ist aber aufgrund des prognostizierenden Elements nicht nur der Gefahr der fehlerhaften Bewertung eines Beweises ausgesetzt, sondern zusätzlich auch dem Risiko, das aufgrund der Vorwegnahme der Bewertung besteht. Dieser Gefahr gilt es entgegenzuwirken, weil und soweit sie eine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen darstellt. Indem geprüft wird, ob anhand intersubjektiv nachvollziehbarere sachlicher Kriterien mit größtmöglicher Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß eine Beweiserhebung die Sachverhaltserforschung fördern könnte, werden dem Richter nur solche Beweisantizipationen gestattet, bei denen allenfalls die abstrakte Gefahr besteht, daß auf eine solche Beweiserhebung verzichtet wird, die zu Sachverhaltsmodifikationen führen könnte. Allerdings bedeutet das Abstellen auf den Ausschluß konkreter auf Sachverhaltsmodifikationen hindeutender Anhaltspunkte lediglich eine Verschiebung der Frage, wo die Grenzen der Tatsachenfeststellungspflicht sind, dahingehend, wann solche Anhaltspunkte vorliegen oder gerade nicht vorliegen. Es sei noch einmal daran erinnert, daß die Bestimmung der Kriterien, die mit größtmöglicher Sicherheit die Aussage erlauben, daß solche modifizierenden Anhaltspunkte nicht vorliegen, normativen Charakter hat. 164 Ebenso wie man sich darauf verständigen muß, daß unter gewissen, hier nicht näher zu erörternden Voraussetzungen bei der abschließenden Gesamtbeweiswürdigung ein rein theoretisch-abstrakter Zweifel bei Vgl. A. Schmidt, 129. Vgl. Frister ZStW 105,345: SK-Paeffgen, § 420 Rn. 19; gegen Frister ausdrücklich Rose, 405, allerdings mit dem nicht überzeugenden Argument, es handele sich lediglich um eine terminologische Unterscheidung. 163 Vgl. Frister ZStW 105,345, insbesondere Fn. 13. 164 Vgl. oben zur "gedachten Objektivität" § 2 A. 161

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

der Überzeugungsbildung unberücksichtigt bleiben soll, kann man sich auch nur auf möglichst bestimmte Voraussetzungen einigen, bei deren Vorliegen der Richter davon soll ausgehen düljen, daß ein Beweishinweis nur theoretisch die Möglichkeit enthält, die Wahrheitsermittlung beeinflussen zu können, weil als Folge dieser Antizipation nur ein geringes Risiko für die Wahrheitsermittlung vermutet wird. Eine objektive Sicherheit kann nicht bestehen, da es sich nur um eine Prognose handelt, bei der immer das Risiko besteht, daß es auch anders sein könnte. 165 Andererseits aber müssen sich die Grenzen des Beweisantizipationsverbots auch nur mit den Grenzen der Aufklärungspflicht decken. 166 Würde verlangt, jegliches abstrakte Risiko einer fehlerhaften Ausscheidung eines Beweises auszuschließen, würde das Beweisantizipationsverbot Anforderungen aufstellen, die über die aus normativen Gründen zu ziehenden Grenzen der Aufklärungspflicht und die Anforderungen, die an die abschließende Gesamtbeweiswürdigung gestellt werden, hinausgehen würden. Das Beweisantizipationsverbot verlangt also keine strikte Trennung der Beweiserhebung von der Beweiswürdigung, sondern es gestattet solche Beweisantizipationen, die Ausdruck des abstrakt immer bestehenden Risikos sind, daß eine unterlassene Beweiserhebung theoretisch zu Modifikationen des bisher festgestellten Sachverhalts führen könnte. Damit verlagert sich die Beantwortung der Frage, wie den sich aus der Personalunion von Beweiserheber und -würdiger ergebenden Gefahren entgegengewirkt werden kann, von der Gewährleistung der strikten Trennung von Beweisermittlung und Beweiswürdigung auf die Erarbeitung von intersubjektiv nachvollziehbaren Kriterien, die Beweisantizipationen und damit eine Überschneidung beider Bereiche dort gestatten, wo sie die Sachverhaltsermittlung nicht oder allenfalls abstrakt gefährden. Es geht also nicht darum, ob diese zulässig sind, sondern unter welchen Voraussetzungen und in welcher Fonn. 167 Mit dieser Feststellung ist aber noch keine Aussage darüber getroffen, ob insoweit innerhalb von Beweisantragsrecht und Amtsaufklärungspflicht ein einheitlicher Maßstab zu gelten hat oder ob im Rahmen der Aufklärunspflicht in größerem Umfang Beweisantizipationen zugelassen werden können als im Bereich des Beweisantragsrechts. Dem gilt es im folgenden nachzugehen.

165 Zu dem entsprechenden Problem, daß ein vergangenes Geschehen ebenfalls nicht mit Sicherheit rekonstruiert werden kann, siehe schon oben § 3 A. V. 166 Siehe oben § 3 A. VI. 1. 167 Ähnlich Perron, Beweisantragsrecht, 217, der die "Formel von der Beweisantizipation" für zu ungenau hält und stattdessen danach fragen will, in welchem Ausmaß eine Beweisantizipation tolerabel erscheint. Dies hänge maßgeblich davon ab, das Interesse an öffentlicher Strafverfolgung und das des Beschuldigten in angemessenen Ausgleich zu bringen. Dies beinhaltet allerdings eine starke Ausrichtung an prozeßökonomischen Erwägungen. Zur Frage, inwieweit diese anzuerkennen sind, siehe unten § 3 B.

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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VII. Notwendigkeit einer grundsätzlichen Trennung von Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsvorgang außerhalb des Beweisantragsrechts

Geht man zunächst einmal davon aus, daß die Ausgestaltung des Beweisantragsrechts grundsätzlich dem Gedanken entspricht, daß nur solche Beweisantizipationen unterbunden werden müssen, die eine konkrete Gefahr für die Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellung bedeuten,168 so läßt sich die schon oben 169 aufgestellte These, daß das Beweisantragsrecht die Durchführung einer umfassenden Wahrheitsermittlung sichert, folgendermaßen präzisieren: Gerade weil das Gericht u. U. gegen seine Überzeugung gezwungen ist, eine beantragte Beweiserhebung vorzunehmen, mildert das Beweisantragsrecht die durch die Personenidentität von Beweiserheber und -würdiger erzeugte Strukturschwäche im Verhältnis Amtsaufklärungspflicht - Beweiswürdigungsfreiheit 17o. Auch eine fehlerhafte Voraussage des Beweisergebnisses durch das Gericht ist somit letztlich unschädlich, da der Beweis ja dennoch zu erheben iSt. 171 Die Gefahr für die Sachverhaltsfeststellung, die aus der nur dem Gericht zustehenden Befugnis zur Auswahl der Beweise entsteht, wird auf diese Weise durch die Berücksichtigung abweichender Beurteilungen der Prozeßbeteiligten kompensiert. 172 Dieser Ausgleich der Gefahren für die Tatsachenfeststellung besteht aber gerade in den Verfahren nicht, in denen die Wahrheitsermittlung ausdrücklich nur von Amts wegen erfolgen soll (vgl. §§ 384 III, 420 IV; 411 11,244 V 2)173 oder wo eine Beweismöglichkeit nicht in Gestalt eines Beweisantrags aufgezeigt wird. Hier kommt also das allgemein bestehende Risiko richterlicher Fehleinschätzung durch Wahrnehmungs- und Verarbeitungsdefizite, verstärkt durch die Unmöglichkeit einer sicheren Beurteilung des noch zu erhebenden Beweises voll zum Tragen. 174 Unabhängig von der Frage, welcher Art die Verfahren sind, in denen nur die Amtsaufklärungspflicht gilt, kann nach dem bisher Gesagten dem Richter der Übergang zur Beweiswürdigung nur gestattet werden, wenn gewährleistet ist, daß zuvor bei 168 Diese Vermutung enthält noch kein Präjudiz in bezug auf die Frage, ob die Ablehnungsgründe sämtlich Situationen kennzeichnen, in denen eine Beweisantizipation mit Funktion und Inhalt des Beweisantizipationsverbots vereinbar ist. 169 § 3 A. 11. 170 Vgl. Schulz StV 1991,360 f. 171 Die Gefahr, daß bei der Feststellung der Voraussetzungen eines Ablehnungsgrundes Fehler gemacht werden, ist allerdings immer vorhanden. 172 Vgl. Alsberg/Nüse/Meyer; 371; Frister ZStW 105, 352; Gutmann JuS 1962,375; Herdegen NStZ 1984, 99; Kintzi DRiZ 1994, 328; KMR-Paulus, § 244 Rn. 368; Köhler; 26; Schulz StV 1991,362, Werle JZ 1991,792. 173 Vor allem dann nicht, wenn man diese Vorschriften als Ausdruck eines tatrichterlichen Ermessensspielraums begreift, siehe oben 1. Kapitel § I C. 11. 174 Vgl. hierzu die treffende Feststellung von Herdegen in KK, Vorb. III zu § 244: die Pflicht des Gerichts zur Ermittlung des relevanten Beweisstoffes sei nicht auch die Gewähr für dessen Erfassung.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

der Beweisaufnahme der zu würdigende Sachverhalt vollständig festgestellt wurde. Die Entscheidung über die Beweiserhebung und damit die Befugnis zur Beweisantizipation allein der subjektiven Einschätzung des Richters zu überlassen, hieße, den festgestellten Defiziten vollen Einfluß auf die Beweisaufnahme zu ennöglichen. Es muß also auch und gerade in diesen Verfahrensarten ein Kontrollmechanismus - in Gestalt eines grundsätzlichen Beweisantizipationsverbots, dessen Grenzen und Struktur anhand sachlicher Kriterien bestimmbar sein müssen - existieren, der zugunsten optimaler Wahrheitsermittlungen die Einflußmöglichkeit richterlicher Fehleinschätzungen auf den Beweiserhebungsvorgang auf ein Minimum reduziert und im Interesse der Begrenzung des Umfangs der Beweisaufnahme Beweisantizipationen nur da erlaubt, wo sie die Wahrheitsermittlung allenfalls abstrakt gefährden. VIII. Zusammenfassung - Die Funktion des Beweisantizipationsverbots

Die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Trennung von Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungsvorgang und damit eines grundsätzlichen Verbots der Vorwegnahme der Beweiswürdigung ergibt sich aus den in der gesetzlichen Ausgestaltung der Beweisaufnahme angelegten Gefahren für eine vollständige Sachverhaltsfeststellung. Eigentlich sieht die Verfahrensordnung eine Trennung im Sinne eines Nacheinanders von Beweisermittlung und Beweiswürdigung vor, abgesichert durch das Beweisantragsrecht, und trägt damit dem Erfahrungssatz Rechnung, daß das Ergebnis und der Wert eines Beweises vor dessen Erhebung nie mit Sicherheit richtig prognostiziert werden können. Gleichzeitig aber führt die ebenso vorgesehene "Personalunion" von BeweisermittIer und Beweiswürdiger unvenneidlich zu einer Verschränkung von Beweiserhebung und Beweiswürdigung in der Person des Richters. Eine scharfe Trennung zwischen Beweiserhebung und Beweiswürdigung kann dieser aufgrund psychologischer Abläufe bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Infonnationen selbst nicht zuverlässig leisten, und es kommt zu unvenneidlichen Zwischenbeweiswürdigungen. Sofern diese nur vorläufigen Charakter haben und ständig neu überdacht werden, sind sie nicht gefahrlich, sondern zur sachgerechten Prozeßleitung sogar erforderlich. Erst wenn es sich um die endgültige Vorwegnahme der Beweiswürdigung handelt mit der Folge, daß einem Beweis gar nicht mehr nachgegangen werden soll, entstehen daraus Gefahren für die Zuverlässigkeit der Sachverhaltsermittlungen und zwar gerade im Bereich der Amtsaufklärungspflicht, wo sich die Risiken der Personenidentität voll verwirklichen können. Die Entscheidungen des Richters müssen daher anhand sachlicher Kriterien, die eine Trennung der beiden Bereiche gewährleisten, nachvollziehbar und überpriifbar sein. 175 175 Deshalb ist das Beweisantizipationsverbot auch nicht lediglich eine Besonderheit des Beweisantragsrechts, so Hamm, Einleitung zu Herdegen, 16 f. Er verkennt den Unterschied

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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Eine strikte Trennung von Tatsachenennittlung und -bewertung zur Venneidung dieser Gefahren ist zwar theoretisch denkbar und wäre durch das absolute Verbot, Beweiserhebungen endgültig mittels Vorwegnahme der Beweiswürdigung aus der Beweisaufnahme auszuscheiden, auch durchsetzbar, würde aber über die Anforderungen, die die Wahrheitserforschungspflicht an den Umfang der Beweisaufnahme stellt, hinausgehen, da diese nur verlangt, solchen Beweismöglichkeiten nachzugehen, die konkrete Anhaltspunkte auf sachverhaltsmodifizierende Ergebnisse darstellen. Dementsprechend sind mit der Wahrheitserforschungspflicht und damit der Funktion des Beweisantizipationsverbots solche Beweisantizipationen als Begründung für den Verzicht auf eine Beweiserhebung vereinbar, die anhand sachlicher Kriterien mit Blick auf die abschließende Gesamtbeweiswürdigung mit größtmöglicher Sicherheit das Urteil erlauben, daß eine Förderung der Wahrheitsfindung durch eine Beweiserhebung ausgeschlossen ist, weil eine Beeinflussung der abschließenden Überzeugungsbildung gar nicht möglich ist oder nur bestätigende Ergebnisse zu erwarten sind. Das Unterlassen einer Beweiserhebung aufgrund einer derartigen Antizipation bedeutet dann keine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen, weil sie nur das abstrakt immer bestehende Risiko zum Ausdruck bringt, daß sich das Geschehen anders als festgestellt abgespielt haben könnte. Andererseits ist gerade aber außerhalb des Beweisantragsrechts ein grundsätzliches Verbot einer vorgezogenen Beweiswürdigung notwendig. Soll eine Beweisantizipation zulässig sein, muß sich dies anhand nachvollziehbarer und kontrollierbarer Kriterien begründen lassen, da angesichts der Gefahren, die sich aus der Personenidentität von BeweisennittIer und -würdiger ergeben, eine rein subjektive Entscheidung des Richters über die Vornahme einer Beweiserhebung nicht akzeptabel ist. 176 Diese Frage nach einer Möglichkeit, in bestimmten Stationen des Beweisermittlungsvorgangs von der strikten Trennung abzusehen, ist identisch mit der Frage danach, wann der Richter die Sachverhaltsennittlungen in Teilbereichen oder insgesamt beenden, bzw. wann er von der Richtigkeit der bisherigen Feststellungen überzeugt sein darf und woran er dies erkennen kann. Die Funktion des Beweisantizipationsverbots läßt sich also dahingehend beschreiben, daß es als Reaktion auf die sich aus der "Personalunion" ergebenden Gefahren sicherstellen soll, daß der Sachverhalt vollständig und mit größtmöglicher Sicherheit der Wahrheit entsprechend festgestellt ist, bevor der Richter mit der endgültigen Beweiswürdigung beginnt. Als Mittel hierfür setzt es die grundsätzliche Trennung von Beweisennittlungsvorgang und Beweiswürdigungsvorgang durch, die aber nur dort erforderlich und sinnvoll ist, wo eine Beweisantizipation eine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellung bedeuten zwischen der vorläufigen Vorwegnahme der Beweiswürdigung und der endgültigen Vorwegnahme abschließender Beweiswürdigung. 176 Siehe auch Herdegen, Meyer-GS, 198, für den sich dieses Begründungserfordemis unmittelbar aus dem Beweisantizipationsverbot und dem in der Amtsaufklärungspflicht enthaltenen Beweiserhebungsanspruch ergibt. 6 Schulenburg

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

würde. Insoweit wird auch deutlich, daß die Grundlage des Beweisantizipationsverbots nicht allein die Wahrheitserforschungspflicht ist, sondern daß sich seine Notwendigkeit gerade auch aus dem Zusammentreffen von Beweiserhebungsanspruch und Beweiswürdigungsfreiheit in der Person des Richters ergibt. IX. Konsequenzen für die Bestimmung von Inhalt, Umfang und Reichweite des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

Die Frage, wann eine Beweisantizipation keine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen bedeutet, betrifft die innere Struktur und die Grenzen, also Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots. Dieser Frage gilt der 2. Teil der Arbeit. Hinsichtlich der Reichweite des Verbots im Bereich der Amtsaufklärungspflicht lassen sich aus den bisherigen Überlegungen keine Gründe herleiten, warum es innerhalb der Amtsaufklärungspflicht eingeschränkter gelten sollte als innerhalb des Beweisantragsrechts. Im Gegenteil zeigt die Erkenntnis, daß es im Bereich der Amtsaufklärungspflicht die einzige Möglichkeit darstellt, die aus der Personenidentität von Beweiserheber und Beweiswürdiger resultierenden Gefahren zu reduzieren, daß Einschränkungen nicht akzeptabel sind. Diese könnten sich allenfalls dann ergeben, wenn - was im folgenden zu klären ist - die Funktion des Beweisantizipationsverbots auch durch (besonders von ter Veen betonte!77) verfahrensökonomische Erwägungen mitbestimmt wird. Diese könnten innerhalb der Amtsaufklärungspflicht stärker ins Gewicht fallen als innerhalb des Beweisantragsrechts. Sofern man aber wie hier ein richterliches Ermessen ablehnt, muß das Beweisantizipationsverbot innerhalb der Amtsaufklärungspflicht eigentlich im gleichen (noch näher zu bestimmenden) Ausmaß gelten wie innerhalb des Beweisantragsrechts. B. Berücksichtigung verfahrensökonomischer Zielsetzungen innerhalb der Verfahrensordnung Ter Veen spricht von einem durch das Beweisantizipationsverbot erreichten Ausgleich zwischen der Maxime der umfassenden Wahrheitserforschung und der inzwischen anerkannten!78 "Maxime" der Verfahrensbeschleunigung bzw. Prozeßökonomie. Mit letzterer meint er die Einschränkung der Wahrheitsfindung unter den Rahmenbedingungen begrenzter, nicht beliebig vermehrbarer Ressourcen für die Durchführung des Strafprozesses. Ihr Ziel sei es, durch Ressourceneinsparung eine Effektivierung und Entlastung der Strafrechtspflege allgemein zu erreichen.!79 177 178 179

Siehe oben § 1 B. Ter Veen, 16 unter Berufung auf W. Gollwitzer; Kleinknecht-FS, 147 ff. Ter Veen, 13 f.

2. Kap.: Die Funktion des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung

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Diese Formulierung erweckt den Eindruck, als seien mit der Maxime der Verfahrensbeschleunigung der im Verfahrensrecht geltende Beschleunigungsgrundsatz und die Konzentrationsmaxime gemeint, zumal ter Veen feststellt, daß in diesen Grundsätzen verfahrensökonomische Aspekte zum Ausdruck kämen 180. Tatsächlich aber handelt es sich jeweils um verschiedene Zielsetzungen, wobei sich das Gebot der Verfahrensbeschleunigung und die Konzentrationsmaxime mit den Erfordernissen der Prozeßwirtschaftlichkeit decken, 181 diese aber nicht um ihrer selbst willen bezwecken. Der Grundsatz der Beschleunigung, der in der StPO nicht ausdrücklich gesetzlich normiert ist, aber in mehreren Einzelvorschriften zum Ausdruck kommt, 182 besagt, daß die gegen den Angeklagten erhobenen Beschuldigungen in einer den Schwierigkeiten der Beweisführung angemessenen Zeit geklärt werden müssen. Dieser Grundsatz dient in erster Linie dem Schutz des Beschuldigten,183 um ihn nicht länger als unvermeidbar in der Drucksituation des Strafverfahrens zu belassen,184 und er erhält zugleich wahrheitssichernd die Qualität der Beweismittel (insbesondere die Erinnerungsfähigkeit der Zeugen) 185, zumal i. d. R. am Anfang noch alle Beweismittel präsent sind l86. Daneben trägt er aber auch dem öffentlichen Interesse an einer raschen Strafrechtspflege Rechnung 187, weil er das Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der Justiz schützt l88 . Für die Hauptverhandlung konkretisiert diesen Grundsatz die dort geltende Konzentrationsmaxime 189 insofern, als die Hauptverhandlung möglichst ununterbrochen in einem Stück durchgeführt werden soll, damit der lebendige Eindruck der mündlichen Verhandlung und die Zuverlässigkeit der Erinnerung gewährleistet bleiben und die Richter ihr Wissen noch aus der Erinnerung und nicht aus den Protokollen der friiheren Verhandlung sChöpfen. l90 180

Ter Veen, 5.

Vgl. W. Gollwitzer; Kleinknecht-FS, 157. 182 U. a. in Art. 5 III 2 und 6 11 MRK und in den §§ 115, 128 f.; 121; 122; 161a, 163a III und 163 11 S. 1. Im Gesetzesentwurf der Bundesregierung zum 1. Strafverfahrensreformgesetz, BT-Dr. 7/551 S. 36 f. wurde ausdrücklich davon abgesehen, die Aufnahme einer allgemeinen gesetzlichen Regelung des Beschleunigungsgebotes in die StPO vorzuschlagen, weil man sich nicht in der Lage sah, zugleich auch Sanktionen für den Fall seiner Verletzung vorzuschlagen. 183 BT-Dr. 7/551 S. 37; BGHSt 26, 228, 232; Pfeiffer; Baumann-FS, 332; ders. in KK, Einleitung Rn. 11. 184 BT-Dr. 7/551 S. 37; Pfeiffer; Baumann-FS, 332. 185 Roxin, § 16 Rn. 3; Pfeiffer; Baumann-FS, 332; vgl. auch BVerfGE 57, 250, 279. 186 Pfeiffer; Baumann-FS, 332. 187 BGHSt 26, 228, 232; Pfeiffer; Baumann-FS, 333 f. 188 Pfeiffer; Baumann-FS, 333 f. 189 Diese Maxime findet ihren Ausdruck in den §§ 229 und 268 III 2, 3. 181

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Indem diese Maximen befolgt werden, wird auch der Verfahrensökonomie gedient, diese wird jedoch - entgegen der Behauptung ter Veens - nicht von ihnen bezweckt. 191 Auch ist die von ihm so genannte Maxime der Verfahrensökonomie keineswegs anerkannt. Im Gegenteil: Welcher Stellenwert verfahrensökonomischen Belangen innerhalb des Strafprozesses zukommen soll, ist weitgehend ungeklärt. 192 Nicht zu bestreiten ist zwar, daß in der Rechtswirklichkeit inzwischen eigenständige Entlastungs- und Beschleunigungsstrategien entwickelt wurden,193 so daß davon gesprochen werden kann, daß prozeßökonomische Interessen die Prozeßführung faktisch mitbestimmen, als eigenständiges Verfahrensziel ist prozeßwirtschaftliche Prozeßführung jedoch nicht in der gegenwärtig geltenden StPO verankert. Dies kann auch nicht aus der Existenz der in den letzten Jahren in die StPO eingefügten Beschränkungen des Beweisantragsrechts gefolgert werden, denn deren Berechtigung wird ja gerade bezweifelt. 194 Dann kann aber auch die Bestimmung der Funktion des Beweisantizipationsverbots nicht an einer Maxime der Prozeßökonomie ausgerichtet werden, sondern allenfalls kann untersucht werden, inwieweit das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung auch prozeßwirtschaftliche Interessen berücksichtigen kann. Nach dem bisher Gesagten kann dies nur dort möglich sein, wo eine Beweisantizipation nicht der Wahrheitsermittlung entgegensteht. Das Beweisantizipationsverbot steht also nicht im Spannungsverhältnis von Wahrheitsermittlung und Verfahrensökonomie, sondern es steht selbst im Spannungsverhältnis zur Verfahrensökonomie. Primärziel des Strafprozesses muß es nach der gegenwärtig geltenden StPO sein, die Wahrheit zu ermitteln, und nur da, wo eine Beweiserhebung nicht der Wahrheitsfindung dienen kann, d. h. dieses Primärziel nicht gefährdet ist (was anhand sachlicher Kriterien feststellbar sein muß), können verfahrensökonomische Belange Berücksichtigung finden. 195 Dementsprechend können auch innerhalb des 190 Vgl. BGHSt 23,224,226; Kleinknechtl Meyer-Goßner, § 229 Rn. 1; Roxin, § 16 Rn. 5 und § 42 Rn. 6; zusammenfassend Julius, 89 ff. 191 Ter Veen, Fn. 574, gesteht im übrigen selbst die Auffälligkeit ein, daß der Beschleunigungsgrundsatz in Verkennung seines Inhalts mit dem Gedanken der Effizienz der Strafrechtspflege gleichgesetzt wird. 192 W. Gollwitzer, Kleinknecht-FS, 152 f. 193 Siehe dazu die Darstellung bei ter Veen, 7 ff. 194 Vgl. in diesem Zusammenhang die pointierte Bemerkung Fristers in StV 1994, 446, daß es an Zynismus grenze, dem Beschuldigten, der einen auf Entlastung gerichteten Beweisantrag stellt, entgegenzuhalten, daß diesem Antrag leider nicht mehr stattgegeben werden könne, weil er einen grundrechtlich garantierten Anspruch darauf habe, in angemessener Frist verurteilt zu werden. 195 Ähnlich Perron, Beweisantragsrecht, 76 f., der zwar im Interesse der öffentlichen Strafverfolgung bei geringer Erfolgsaussicht und I oder Entscheidungsre1evanz Kriterien der Wirtschaftlichkeit und Beschleunigung des Verfahrens hinsichtlich der Erhebung eines Beweises mitberiicksichtigen will, allerdings lediglich als sekundäre (Hervorhebung von Verfasserin) Abwägungsfaktoren und nur, sofern sichergestellt sei, daß die Beurteilung der

3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

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Beweisantizipationsverbots verfahrensökonomische Belange nur dort Berücksichtigung finden, wo auf eine Trennung zwischen Beweiserhebung und Beweiswürdigung verzichtet werden kann. Selbständige Berücksichtigung bei der Bestimmung von Inhalt und Umfang sowie der Reichweite des Beweisantizipationsverbots können sie dagegen nicht finden. 3. Kapitel

Der Begriff der Beweisantizipation § 1 Die Bedeutung des Beweisantizipationsbegriffs für die Bestimmung von Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots Eingangs der Arbeit wurde dargelegt, daß zwar die allgemeine Auffassung besteht, daß das Beweisantizipationsverbot verbietet, die Beurteilung von Ergebnis und Wert eines beantragten Beweises zum Nachteil des Antragstellers vorwegzunehmen und dem schon erhobenen Beweis gegenüber neuen Beweisanträgen unter Rückgriff auf das bisherige Beweisergebnis den Vorrang einzuräumen. Andererseits aber konnte auch schon festgestellt werden, daß hinsichtlich des genauen Inhalts und Umfangs des Beweisantizipationsverbots Unklarheiten bestehen und daß gerade für den Bereich der Amtsaufklärungspflicht Uneinigkeit herrscht, in welchen Varianten Beweisantizipationen möglich sind, welche Reichweite das Beweisantizipationsverbot hier also hat. 1 Da mit dieser Arbeit das Ziel angestrebt wird, Inhalt und Umfang sowie Reichweite des Beweisantizipationsverbots zu präzisieren, erscheint es sinnvoll, sich nunmehr einen Überblick über den gegenwärtig bestehenden Meinungsstand zum Beweisantizipationsbegriff zu verschaffen, um daraus sich möglicherweise ergebende Erkenntnisse zu Inhalt und Umfang des Verbots in die eigenen Überlegungen einbeziehen zu können. Bisher war dies nicht angebracht, weil sich der inhaltliche Gehalt der einzelnen Ansichten erst dadurch erschließt, daß er in Bezug zur Funktion des Beweisantizipationsverbots gesetzt wird, die ja zunächst herauszuarbeiten war. Bei einer Gesamtbetrachtung der einschlägigen Literatur zum Beweisantizipationsverbot trifft man häufig nur auf allgemein gehaltene Formulierungen wie etwa, unzulässige Beweisantizipation bedeute die Einbeziehung des bisherigen BeVoraussetzungen einer Einschränkung des Beweisantragsrechts anhand objektiver Kriterien erfolge und nicht der subj. Überzeugung des Richters überlassen bleibe. 1 Siehe oben 1. Kapitel § I B.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

weisergebnisses in die Entscheidung über die Notwendigkeit und den Umfang noch zu erhebender Beweise bzw. die negative Bewertung eines noch nicht erhobenen Beweises anband bereits erhobener Beweise;2 oder die auf das bisherige Beweisergebnis gestützte Vorwegwürdigung des noch nicht erhobenen Beweises zum Nachteil des Antragstellers;3 oder die Berufung darauf, das Gegenteil der Beweistatsache sei bereits erwiesen bzw. die Verneinung des Beweiswerts eines Beweismittels unter Berufung auf das bisherige Beweisergebnis4 bzw. die bereits gewonnene Überzeugung 5 . Es ist unschwer zu erkennen, daß hier nicht lediglich jeweils mit unterschiedlichen Begriffen derselbe Inhalt umschrieben wird, sondern daß auch Unterschiede in der Sache zum Ausdruck kommen. Die "Einbeziehung des Beweisergebnisses in die Entscheidung" über die Notwendigkeit einer Beweiserhebung bedeutet nicht zwangsläufig eine "Berufung auf die bereits gewonnene Überzeugung". Tatsächlich ergibt denn auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Problematik, daß nicht erst die Beurteilung der Zulässigkeit einer Beweisantizipation Schwierigkeiten bereitet, sondern daß vielmehr schon bezüglich des Begriffs der "Beweisantizipation" bzw. der "vorweggenommenen Beweiswürdigung" Unklarheiten bestehen, die sich entsprechend bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Beweisantizipation fortsetzen. Zum einen bestehen hinsichtlich der Weite des Beweisantizipationsbegriffs Differenzen darüber, ob die Beurteilung der Relevanz einer unter Beweis gestellten Tatsache für die Entscheidung unter den Begriff der Beweisantizipation fallen son6 , und ob der Begriff nur die negative Antizipation der Erfolgsaussichten eines Beweises7 oder auch die positive Unterstellung des Beweisgelingens erfaßt. Wie im einzelnen noch ausführlich zu erläutern sein wird, 8 kann zum anderen in bezug auf die inhaltliche Ausgestaltung des Begriffs der Beweisantizipation differenziert werden zwischen Ergebnis und Gegenstand der Antizipation sowie dem Anknüpfungspunkt für ihre Begründung - Unterscheidungen, deren Bedeutung vor allem bei der Untersuchung der Zulässigkeit von Beweisantizipationen nachgegangen werden muß. Häufig jedoch werden diese begrifflichen Differenzierungsmöglichkeiten in ihren Einzelheiten von den Autoren gar nicht zur Kenntnis genommen. Daher manJulius NStZ 1986,63. Wesseis JuS 1969,2 Anrn. 9. 4 Schmidt-Hieber JuS 1985,296. 5 LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 45. 6 Verneinend: Engels GA 1981, 27; Frister ZStW 105, 347 Fn. 18; bejahend: Köhler, 29 ff., 52.; Kühl, 68 f.; Herdegen, Boujong-FS, 778 f.; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 96; wohl auch Alsberg/Nüse/Meyer, 589. 7 So Engels GA 1981,23; Frister ZStW 105,347 f.; Köhler, 39; siehe auch oben 1. Kapitel § 2 B. 11. g Siehe dazu unten § 2 B. 2

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3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

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gelt es nicht nur an einer Auseinandersetzung mit den Gedanken und Vorstellungen anderer Autoren und erarbeitet jeder nur bruchstückhafte eigene Interpretationsansätze, sondern es werden auch die daraus resultierenden Konsequenzen für die Zulässigkeit von Beweisantizipationen nicht in die Betrachtungen einbezogen. Bevor daher überhaupt im einzelnen auf die Frage der Zulässigkeit von Antizipationen eingegangen werden kann, muß der Tatsache Rechnung getragen werden, daß sich Weite und inhaltliche Ausgestaltung des Begriffs der Beweisantizipation einerseits sowie Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots andererseits insoweit wechselseitig bedingen, als es für den Grad inhaltlicher Differenziertheit des Beweisantizipationsverbots maßgebend ist, welche unterschiedlichen Varianten vorweggenommener Beweiswürdigung es gibt. Nur diese können in den Regelungsbereich des Verbots fallen und müssen möglicherweise verboten werden. Dies ist abhängig von der Weite und der inhaltlichen Ausgestaltung des Beweisantizipationbegriffs. Auch sind bzgl. des Umfangs des Verbots umso differenziertere Überlegungen zu seinen Grenzen und Ausnahmen möglich, je präziser vorher diese Varianten herausgearbeitet wurden, die als Begriindung für den Verzicht auf eine Beweiserhebung möglicherweise eine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der SachverhaltsfeststeIlung darstellen. Die Arbeit wird sich daher in diesem Kapitel vornehmlich der Untersuchung des Begriffs der Beweisantizipation zuwenden - und des dazu bestehenden Meinungsstandes - und die Frage der Zulässigkeit von Beweisantizipationen nur in ihren Grundzügen in die Darstellung einbeziehen, sofern dies einem besseren Verständnis dient. Auf die Einzelheiten der Zulässigkeit von Beweisantizipationen wird dagegen erst in den anschließenden Kapiteln zuriickzukommen sein.

§ 2 Zur Strukturierung des Beweisantizipationsbegriffs In der Regel beschränken sich die Auseinandersetzungen mit der Thematik darauf, innerhalb der Erörterung der einzelnen Ablehnungsgriinde des Beweisantragsrechts auf die Möglichkeit zur Beweisantizipation einzugehen. Versuche einer strukturierten Darstellung finden sich in der Literatur dagegen nur wenige. Da vermutlich nur diese weiterführende Erkenntnisse zu Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots erwarten lassen, sollen sie im Vordergrund der weiteren Analyse stehen, während hinsichtlich der weiteren Literatur Verweise genügen müssen. Dabei soll der Versuch unternommen werden, die verschiedenen Meinungen zu systematisieren und auf diese Weise die Struktur des Beweisantizipationsbegriffs herauszuarbeiten. Da die Diskussion außerdem durch eine Vielzahl unterschiedlich verwendeter Begriffe erschwert wird,9 sollen in die Erörterungen begriffliche Klarstellungen eingebunden werden, um eventuellen Mißverständnissen vorzubeugen. 9

Siehe oben 1. Kapitel § 2 B. 11.

1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

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Abschließend sollte es dann möglich sein, eine Übersicht über die Varianten möglicher Beweisantizipationen zu erstellen. A. Weite des Begriffs der Beweisantizipation Wie erwähnt, wird der Fragestellung, was im einzelnen unter dem Begriff "Beweisantizipation" zu verstehen ist, kaum Beachtung geschenkt. Vielmehr beschränken sich Überlegungen zum Beweisantizipationsverbot in der Regel auf die Beschreibung der Zu- bzw. Unzulässigkeit einer vorweggenommenen Beweiswürdigung. lO Demgegenüber deuten sowohl die Ausführungen von Herdegen zum Beweisantizipationsverbot als auch die Auseinandersetzung Köhlers mit dieser Thematik im Rahmen seiner Monographie ll zu Sinn und Zweck des § 245 a. F. l2 darauf hin, daß der Begriff der Beweisantizipation einer unterschiedlich weiten Interpretation zugänglich ist: Herdegen will diesen Begriff "in seinem weitesten Sinne" verstanden wissen 13, während Köhler von "Beweisantizipation im engeren Sinne" bzw. "echter Beweisantizipation" 14 spricht.

I. Einbeziehung der Prognose der Erheblichkeit in den Beweisantizipationsbegriff

Vor allem in seinem Beitrag zum Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung 15 hat Herdegen einen umfassenden Begriff der Beweisantizipation erarbeitet, der sich aus anderen Begriffsumschreibungen vor allem durch seine differenzierte Aufteilung in Fallgruppen hervorhebt. Für die Reichweite des Begriffs der Beweisantizipation ist es zunächst von Bedeutung, daß Herdegen nicht nur (1) die Antizipation eines negativen Beweisergebnisses bzw. der prognostizier-

ten Nichtbestätigung der Beweisthematik (erste Fallgruppe) und

V g!. nur Alsberg / Nüse / Meyer, 411 ff. Köhler. 12 In der Fassung des Art. 3 Nr. 112 des Vereinheitlichungsgesetzes vom 12. 9. 1950 (BGB!. I 455). 13 Herdegen. Boujong-FS, 778. 14 Köhler, 35 f. 15 Herdegen, Boujong-FS, 777 ff. Mit Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots hat sich Herdegen in mehreren Beiträgen auseinandergesetzt. An dieser Stelle sollen im wesentlichen die detaillierten Ergebnisse seines Festschriftenbeitrags zusammengefaßt dargestellt werden, während auf die übrigen Beiträge nur dann zuriickgegriffen werden wird, wenn sich daraus Abweichungen oder Ergänzungen ergeben. 10

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3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

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(2) die Vorwegnahme des Beweiswerts (zweite Fallgruppe) als Beweisantizipation verstanden wissen will, sondern ausdrücklich auch (3) die Prognose der Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache (dritte Fallgrup-

pe)

in den Begriff der Beweisantizipation einbezieht und sich Gedanken über ihre Vereinbarkeit mit dem Beweisantizipationsverbot macht. 16 Ebenso faßt auch Köhler die Beurteilung der rechtlichen und tatsächlichen Erheblichkeit einer Beweistatsache 17 neben der vorweggenommenen Beurteilung der Beweismitteleignung unter den Begriff der Beweisantizipation, da sie - im Sinne seiner Definition der Beweisantizipation - ein abstrakt-vorwegnehmendes, einseitig ausschließendes Vor-urteil über die Schlüssigkeit von Beweistatsachen und Beweismitteln zum Inhalt habe. 18 Abstrakt-vorwegnehmend bedeute, daß die Beurteilung nur aufgrund eines vorläufigen Verhandlungszwischenstandes bzgl. noch nicht erhobener und damit nur abstrakt gesetzter Beweise erfolge. Einseitig-ausschließend sei sie insofern, als sie nur durch den Erkenntnishorizont des Gerichts bestimmt sei. 19 Köhler konkretisert diesen Begriff der Beweisantizipation anschließend dahingehend, daß er als echte Beweisantizipation bzw. Beweisantizipation im engeren Sinne die abstrakt vorwegnehmende negative Beurteilung der Eignung eines nicht genutzten Beweismittels im Zusammenhang mit der sonstigen Beweisaufnahme zu der in Frage stehenden Tatsache20 bezeichnet - wobei er diese Beurteilung nicht nur in dem Ablehnungsgrund der "völligen Ungeeignetheit" eines Beweismittels verkörpert sieht, sondern auch in anderen Ablehungsgriinden des Beweisantragsrechts. 21 In konsequenter Fortführung dieser Terminologie müßte der Begriff der Beweisantizipation im weiteren Sinne auch die Verneinung der rechtlichen und tatsächlichen Erheblichkeit des Beweisthemas erfassen. Köhler verwendet diesen Begriff selbst zwar nicht ausdrücklich. Daß er aber seinem Verständnis vom Begriff

Herdegen, Boujong-FS, 778 f. Nicht erfaßt werden soll jedoch anscheinend die Beurteilung des Sachzusammenhangs, denn diese biete dem gerichtlichen Instruktionsermessen keinen Raum, Köhler, 29,31,52. 18 Köhler, 40 und passim. 19 Köhler, 28 f. 20 Köhler, 35 f., 39. 21 Köhler, 35 ff. Für Köhler erschließt sich die Reichweite des gerichtlichen Instruktionsermessens aus der Erkenntnis, daß auch andere in § 244 aufgeführte Ablehnungsgründe Eignungsurteile über Beweismittel und damit echte Beweisantizipationen enthalten. Eine Ablehnung wegen der (auf alle Beweismittelarten anwendbaren) Offenkundigkeit des Gegenteils der Beweistatsache, einer Wahrunterstellung "in dubio pro reo" oder aufgrund des Erwiesenseins des Gegenteils der Beweistatsache nach § 244 IV und V habe stets den gemeinsamen Grundinhalt, das Beweismittel sei ungeeignet, eine bereits anderweitig begründete gegenteilige Überzeugung des Gerichts vom Sachverhalt zu erschüttern. 16

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

der Beweisantizipation entspricht, läßt sich der Gegenüberstellung von "Erheblichkeitsprüfung" und "Beweisantizipation im engeren Sinne" entnehmen. 22 Diese von Herdegen und Köhler ausdrücklich vorgenommene Einordung der Prognose der Bedeutungslosigkeit einer Tatsache als Beweisantizipation 23 ist nicht selbstverständlich24 : Engels beispielsweise bewertet die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit der Tatsache für die Entscheidung nicht als eine Beweisantizipation, weil nicht unterstellt werde, daß die behauptete Tatsache nicht bewiesen werde,25 sondern nur festgestellt werde, daß sie - auch für den Fall des Beweisgelingens - unerheblich sei. 26 Auch nach Frister fällt die Beurteilung der Erheblichkeit der unter Beweis gestellten Tatsache nicht unter den Begriff der Beweisantizipation, weil ein Strukturunterschied zwischen rechtlicher Beurteilung und tatsächlicher Überzeugungsbildung bestehe. 27 Mit dieser Argumentation ist aber allenfalls behauptet, daß strukturelle Unterschiede bestehen, die sich auf die Bestimmung des Beweisantizipationsbegriffs auswirken; eine Begründung liefert sie dagegen nicht. Diese kann sich nur aus der Beantwortung der Frage ergeben, was überhaupt Gegenstand der vorweggenommenen Beurteilung eines Beweises sein kann und ob sich hieraus tatsächlich strukturelle Verschiedenheiten ergeben, denen die von Engels und Frister behauptete Bedeutung für den Begriff der Beweisantizipation beigemessen werden muß. Dem soll im folgenden nachgegangen werden. 1. Beweistatsache und Beweisbehauptung als Beurteilungsgegenstand

Die Beurteilung eines Beweises bezieht sich auf zwei Fragestellungen: 1. darauf, ob überhaupt eine möglicherweise beweisbare Tatsache bzw. Tatsachenbehauptung - also dasjenige Sachverhaltsmoment, das auf seine unmittelbare oder (bei der Indiztatsache) mittelbare Relevanz hin beurteilt wird und dessen Feststellung gegebenenfalls die weitere Beweisaufnahme dient - in den abschließenKöhler, 35. Ebenso Kühl, 68 f.; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 96; wohl auch Alsberg/Nüse/Meyer, 589. 24 Herdegen selbst formuliert in Abhandlungen, 53 noch vorsichtig, daß diese Form der Ablehnung eines Beweisantrags zwar ein Akt vorgezogener argumentativer Beweiswürdigung sei, aber nicht als Antizipation angesehen werde. 25 Weil es sich also nicht um eine negative Antizipation handelt, siehe dazu unten 11. 26 GA 1981, 27; allerdings gesteht er wenig später selbst zu, daß die Fallgruppe der Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen so verstanden werden könne, daß sie Beweisantizipationen erfaßt, siehe S. 35 Fn. 68. 27 Frister ZStW 105, 347 Fn. 18. Allerdings wird nicht ganz deutlich, ob er sich damit sowohl auf die Prognose des Sachzusarnmenhangs als auch der rechtlichen und tatsächlichen Erheblichkeit bezieht oder nur auf letztere. 22

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3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

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den Überzeugungsbildungsvorgang einfließen, d. h. für die Entscheidung von Bedeutung bzw. relevant sein kann; 2. darauf, ob auch die Beweisbehauptung, d. h. die Aufstellung der These, daß die Tatsache auch bewiesen werden wird, plausibel ist. Dabei ist die Frage der Erheblichkeit einer unter Beweis gestellten Tatsache der Frage nach dem erfolgreichen Nachweis dieser Tatsache vorgelagert, da es auf die Beurteilung des Beweisgelingens nicht mehr ankommt, wenn die Tatsache nicht für die Entscheidungsfindung relevant werden kann. 28 a) Die Beurteilung der Beweistatsache Feststellung der Erheblichkeit von Tatsachenbehauptungen Anerkanntermaßen mangelt es einer Beweisthematik an Bedeutung, wenn entweder gar kein Zusammenhang zwischen der behaupteten Tatsache und dem Gegenstand der Urteilsfindung besteht oder, trotz eines solchen Zusammenhangs, die Tatsache weder unmittelbar noch mittelbar erheblich ist. 29 Ausgehend von der Überlegung, daß für die Beurteilung des Bestehens des Sachzusammenhangs eine möglicherweise beweisbare Tatsache in Beziehung zu

der durch Anklage und Eröffnungsbeschluß in tatsächlicher Hinsicht gekennzeichnete Tat gesetzt werden muß 30, besteht ein Sachzusammenhang dann nicht, wenn sich die Tatsache unter keinem denkbaren Gesichtspunkt inhaltlich auf den Tatvorwurf bezieht. 31 Dies läßt sich beispielsweise im Falle eines Kaufhausdiebstahls sagen, bei dem Zeugen bekunden sollen, daß der Schah von Persien am Tattag eine goldene Brille trug. 32

28 Vgl. schon zu Dohna DIZ 1911, 307: die Beweiserheblichkeit einer Tatsache sei logische Voraussetzung der richterlichen Beweiserhebungspflicht. 29 Vgl. zu dieser Unterteilung SK-Schlüchter, § 244 Rn. 95 ff.; AK-Schöch, § 244 Rn. 85 sowie Köhler, 29 ff.; im Umlauf ist auch eine Unterteilung nach Bedeutungslosigkeit aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen, bei der unter letztere Fallgruppe auch die fehlende Sachzugehörigkeit neben der fehlenden mittelbaren Erheblichkeit eingeordnet wird, so bei Alsberg/Nüse/Meyer, 587; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 222; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 56. Diese Einteilung hat im Rahmen dieser Arbeit jedoch den Nachteil, daß sie die strukturellen Unterschiede der Beurteilung des Sachzusarnmenhangs und der mittelbaren Erheblichkeit nicht genügend hervorhebt (siehe dazu unten § 2 A. I. 2.), die sich gerade auch bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Antizipation der Bedeutungslosigkeit auswirken (siehe dazu unten 5. Kapitel § 2 A. bis C.). 30 Vgl. zu diesem Maßstab BGHSt 17,28,30; 337, 343. 31 Zu den Schwierigkeiten, den Begriff des fehlenden Sachzusarnmenhangs begrifflich zu fassen, siehe die Ausführungen bei Marx NJW 1981, 1417 ff.; Schroeder IR 1974, 342 und Alsberg/Nüse/Meyer, 588. Auf eine Erörterung der Einzelheiten soll hier verzichtet werden, da es für die weitere Darlegung nur auf die grundlegenden Strukturen ankommt. 32 Fallbeispiel in Anlehnung an Marx NJW 1981, 1420.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Unmittelbar erheblich bzw. aus rechtlichen Gründen von Bedeutung sind sog. Haupttatsachen 33 , die allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen die Merkmale der in Rede stehenden Rechtssätze erfüllen oder verneinen. 34 Sie stehen in einem Subsumtionsverhältnis zum möglicherweise anzuwendenden Rechtssatz;35 so ist z. B. die Tatsache, daß der Täter eine Körperverletzung mittels einer Waffe begangen hat, für die Anwendbarkeit des § 224 Abs. I Nr. 2 StGB relevant. Auch wenn dies nicht immer deutlich hervorgehoben wird, so läßt sich die rechtliche Erheblichkeit einer Tatsache in zweifacher Weise verneinen 36 : Zum einen ist eine Tatsache rechtlich ohne Bedeutung, wenn sie nicht zu den Tatumständen und anderen Fakten gehört, die für die rechtliche Würdigung oder die Bestimmung der Rechtsfolgen mitbestimmend sind. 37 Die Tatsache steht dann schon gar nicht in dem oben genannten Subsumtionsverhältnis zum Tatvorwurf. Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Beweisantrag darauf gerichtet ist, festzustellen, daß durch den Angeklagten keine konkrete Gefahr herbeigeführt worden sei, obwohl die Verwirklichung des in Frage stehenden Tatbestandes gar keine Gefahr voraussetzt. 38 Zum anderen ist eine Tatsache aber auch dann rechtlich bedeutungslos, wenn sie zwar in einem Subsumtionsverhältnis zum möglicherweise einschlägigen Rechtssatz steht, gleichwohl aber kein Bedeutung mehr gewinnen kann, weil eine Verurteilung bzw. ein Freispruch schon aus anderen Gründen rechtlich nicht möglich ist. 39 Die Tatsache kann dann nicht mehr entscheidungserheblich sein. Rechtlich bedeutungslos wäre es in diesem Sinne beispielsweise, daß der Täter in Notwehr gehandelt hat, wenn schon der Tatbestand nicht erfüllt ist. 4o Mittelbar erheblich bzw. aus tatsächlichen Gründen von Bedeutung können die sog. Indiztatsachen sein, wenn sie auf das Vorliegen unmittelbar erheblicher Tatsachen, um deren Feststellung es geht, hindeuten, indem sie nach den Regeln der Erfahrung - sogleich oder über Zwischenglieder41 - einen zwingenden oder auch nur Vgl. KK-Herdegen, § 244 Rn. 4; Eisenberg, Rn. 8. Hierzu zählen auch Merkmale straferhöhender und strafmindemder, strafaufhebender oder -ausschließender Vorschriften sowie Strafzumessungstatsachen, LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 219; Alsberg/Nüse/Meyer, 577. 35 KK-Herdegen, § 244 Rn. 74. 36 Häufig wird jeweils nur eine Variante der rechtlichen Bedeutungslosigkeit aufgeführt. Auf beide Begründungsansätze weist lediglich LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 220 hin: Die Tatsache berühre weder die dem Angeklagten zur Last gelegten Tatbestandsmerkmale oder sonstige, rechtlich erhebliche Umstände oder Rechtsgründe machten eine Beweiserhebung über ihr Vorliegen entbehrlich. Auch Alsberg/Nüse/Meyer, 580 erwähnt beide Varianten der rechtlichen Bedeutungslosigkeit, allerdings nicht in zusammenhängendem Kontext, sondern unter zwei verschiedenen Überschriften. 37 Vgl. KK-Herdegen, § 244 Rn. 74. 38 Vgl. BGHSt 15, 161, 163. 39 Alsberg/Nüse/Meyer, 580 f.; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 97. 40 Siehe hierzu und zu weiteren Beispielen Alsberg / Nüse / Meyer, 581 ff. 33

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3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

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wahrscheinlichen oder naheliegenden Schluß auf unmittelbar erhebliche Tatsachen zulassen. 42 Hierbei handelt es sich nicht um einen logischen Schluß, da der Zusammenhang zwischen den beiden Tatsachen nur durch Erfahrungssätze vermittelt wird und ein Indiz nur im Ausnahmefall zum Schluß auf eine andere Tatsache zwingt43 . Die mittelbare Erheblichkeit einer Tatsache kann dann - wie Kühl zutreffend herausstellt44 - daran scheitern, daß ein dem Indizienbeweis vermeintlich zugrundeliegender Erfahrungssatz nicht gilt - der Tatsache fehlt dann schon die potentielle mittelbare Erheblichkeit45 , weil sie bei der abschließenden Gesamtbeweiswürdigung gar keinen Einfluß haben kann - oder daran, daß im konkreten Einzelfall die aus der Beweistatsache mögliche Schlußfolgerung nicht gezogen wird der Tatsache fehlt dann die tatsächliche Erheblichkeit, weil sie bei der Entscheidungsfindung selbst keine Berücksichtigung finden soll. Die potentielle Erheblichkeit fehlt beispielsweise, wenn geklärt werden soll, daß sich der Angeklagte am Tag nach der Tat nicht in der Nähe des Tatortes aufgehalten hat, denn daraus kann nichts ftir den Aufenthaltsort des Angeklagten zur Tatzeit abgeleitet werden. Ist sein Aufenthaltsort am Tag nach der Tat allerdings vom Tatort aus nur nach einer Reise von mindestens zwei Tagen zu erreichen, ist die Tatsache, daß der Angeklagte sich so weit entfernt aufgehalten hat, durchaus potentiell erheblich, da der Angeklagte dann zum Tatzeitpunkt nicht am Tatort gewesen sein kann. 46 Die tatsächliche Erheblichkeit der Tatsache, daß ein Autofahrer beim Überholen eines Radfahrers den erforderlichen Seitenabstand nicht eingehalten hat, wird z. B. verneint, wenn das Gericht zwar den generellen Erfahrungssatz anerkennt, daß es i. d. R. auf der mangelnden Einhaltung des Seitenabstandes beruht, wenn ein Radfahrer beim Überholen angefahren wird, diesen Schluß aber im konkreten Fall nicht ziehen will und damit den Fahrlässigkeitsvorwurf verneint. Eine Untergruppe der Indiztatsachen stellen die sog. Hilfstatsachen dar47 , d. h. Tatsachen, von denen auf den Wert eines Beweismittels, z. B. die Glaubwürdigkeit eines Zeugen, geschlossen werden kann. Vgl. KK-Herdegen. § 244 Rn. 73. V gl. Alsberg / Nüse / Meyer, 577 f. 43 Vgl. Grünwald. Beweisrecht, 86; Standardbeispiel ist der Alibibeweis; eine kurze Übersicht über mögliche und zwingende Schlüsse findet sich bei SK-Schlüchter, § 244 Rn. 96 f. 44 Kühl, 63 f. 45 V gl. zum Begriff der potentiellen Erheblichkeit Alsberg / Nüse / Meyer, 658; LRGollwitzer, § 244 Rn. 219 und 241; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 125 sowie KK-Herdegen. § 244 Rn. 92; gegen den Begriff der potentiellen Erheblichkeit Tenckhoff 132, der allerdings für den Begriff der Erheblichkeit darauf abstellt, daß sich aus dem Gegenteil der Beweisbehauptung möglicherweise für den Angeklagten ungünstige Schlußfolgerungen ergeben könnten. 46 Ebenso verhält es sich, wenn sich der Angeklagte eine Stunde vor der Tatzeit an einem weit entfernten Ort aufgehalten hat, so daß er aufgrund der räumlichen Entfernung die Tat kaum begangen haben kann. 41

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Die im Rahmen des Indizienbeweises herangezogenen ErJahrungssätze unterscheiden sich von Tatsachen als konkreten Geschehnissen oder Zuständen insoweit, als sie keine Aussagen über sinnlich Wahrnehmbares, sondern ein aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung oder wissenschaftlicher Erfahrungen feststehendes allgemeines Urteil oder allgemeine Regeln enthalten, die für alle vergleichbaren Fälle Gültigkeit beanspruchen, und deren Anwendung erst die Erschließung bestimmter Tatsachen ermöglichen soll.48 Auch Erfahrungssätze können aber insoweit Gegenstand einer Beweiserhebung z. B. durch Sachverständigenbeweis werden, als ihre generelle Gültigkeit zweifelhaft ist. Die Gültigkeit des Erfahrungssatzes ist dann die zu klärende Beweistatsache. Die Beurteilung der Bedeutungslosigkeit einer Tatsache läßt sich also - in Anlehnung an Herdegen49 - in folgende drei Untergruppen unterteilen: (a) die Verneinung des Zusammenhangs zwischen dem Sachverhaltsmoment und dem Gegenstand der Urteilsfindung50 - sog. fehlender Sachzusammenhang; (b) die Verneinung der direkten Relevanz dieses (an sich anerkannten) Zusammenhangs für die rechtliche Würdigung und die Bestimmung der Rechtsfolgen sog. Bedeutungslosigkeit aus rechtlichen Gründen;51 (c) die Verneinung der Eignung dieses Zusammenhangs als Prämisse für die vom Antragsteller erstrebten oder für die als möglich in Erwägung gezogenen entlastenden Schlußfolgerungen - sog. Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen,52 sei es daß der dem Indizienbeweis vermeintlich zugrundeliegende Erfahrungssatz nicht gilt, sei es daß die Schlußfolgerung nicht gezogen wird. b) Die Beurteilung der Beweisbehauptung Von dieser Beurteilung der Erheblichkeit einer Tatsache ist, wie gesagt, die Beurteilung der Beweisbehauptung zu trennen, d. h. die Frage, ob der Beweis der Tatsache überhaupt erbracht werden kann. Hierunter fallen die Fallgruppen der Antizipation des Beweisergebnisses und der vorweggenommenen Beurteilung des Wertes eines Beweises. 53

GTÜnwald, Beweisrecht, 86. Alsberg/Nüse/Meyer, 52. 49 Herdegen, Boujong-FS, 779. 50 Herdegen, Boujong-FS, 779 zieht übrigens zur Begründung § 245 II Satz 2 heran; hier liegt aber offensichtlich ein Fehlzitat vor, denn der Ablehnungsgrund des fehlenden Zusammenhangs findet sich in § 245 II Satz 3, 2. Fallgruppe. 51 Vgl. KK-Herdegen, § 244 Rn. 74. 52 Vgl. KK-Herdegen, § 244 Rn. 74. 53 Siehe oben § 2 A. I. 47 48

3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

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Die Vorwegnahme des Beweisergebnisses beurteilt im Vorwege, ob die Beweiserhebung den behaupteten Beweisinhalt erbringen bzw. bestätigen werde; der behauptete Beweisinhalt wird also als plausibel oder nicht plausibel bewertet, z. B. mit der Begründung, der Zeuge werde nicht das aussagen, was im Antrag behauptet wird. 54 Davon zu unterscheiden ist die antizipierende Feststellung des Wertes eines Beweises, d. h. gegebenenfalls die Annahme, daß auch die Bestätigung der relevanten Beweisthematik aufgrund fehlenden oder unzulänglichen Beweiswertes des benannten oder in Frage kommenden Beweismittels nichts für den Angeklagten ergeben werde. 55 Der Wert eines Beweises setzt sich dabei aus folgenden zwei Komponenten zusammen56 : Er beurteilt sich zum einen nach der generellen Eignung eines Beweismittels, die behauptete Tatsache zu erweisen. Daran fehlt es entweder, weil die Beweistatsache selbst unbeweisbar ist - wie zum Beispiel die Existenz einer Gottheit - oder weil eine Tatsache mit dem konkret ins Auge gefaßten Beweismittel nicht bewiesen werden kann57 - ein blinder Zeuge ist z. B. generell ungeeignet, über Farben zu berichten; ebenso ist es unmöglich, mit einem unauffindbaren Beweismittel Beweis zu führen. Zum anderen beurteilt sich der Wert eines Beweises aber auch nach seiner Beweiskraft im konkreten Einzelfall,58 sei es im allgemeinen - beispielsweise hinsichtlich der Glaubwürdigkeit eines Zeugen - und relativ zu anderen Beweisen, d. h. welches Gewicht dem Beweisergebnis innerhalb der abschließenden Gesamtbeweiswürdigung zukommt - z. B. des Urkundenbeweises im Vergleich zum Zeugenbeweis oder des mittelbaren Beweises gegenüber dem unmittelbaren. 2. Strukturunterschiede und ihre Bedeutung für den Begriff der Beweisantizipation

Strukturunterschiede bestehen sowohl hinsichtlich der Beurteilung von Beweisergebnis und -wert (also der ersten und zweiten Fallgruppe59) einerseits und ErhebV gl. Herdegen, Boujong-FS, 778 sowie Frister ZStW 105, 347 und Kühl, 63. Vgl. Herdegen, Boujong-FS, 779. 56 U. a. zu erkennen bei Engels GA 1981,27 f.; KK-Herdegen, § 244 Rn. 77 f.; Alsbergl Nüse I Meyer; 603 ff. 57 Vgl. zu dieser Differenzierung Köhler; 35 m. w. N. 58 Auch Köhler; 35 f. unterscheidet deutlich zwischen der Prognose der völligen Ungeeignetheit aufgrund einer Behauptung von Denkunmöglichem oder Unerfahrbarem oder mangelnden Beweiswertes im konkreten Einzelfall. Der Beweiswert ist damit ein Unterfall der Beweismitteleignung, während im Rahmen dieser Arbeit der Beweiswert als Oberbegriff für die Untergruppen der Beweismitteleignung und Beweismittelkraft verwendet wird. Dies sind jedoch nur sprachliche Unterschiede ohne Auswirkungen in der Sache. Frister ZStW 105, 347 setzt dagegen die Prognose des Wertes eines Beweises allein mit der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage gleich. 54 55

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

lichkeitsprognose (dritte Fallgruppe6o ) andererseits sowie ferner zwischen den Untergruppen innerhalb der Erheblichkeitsbeurteilung: Ein struktureller Unterschied zwischen der vorweggenomenen Beurteilung des Beweisergebnisses oder -wertes und der vorweggenommenen Beurteilung der Erheblicheit einer Beweistatsache ergibt sich daraus, daß bei der Antizipation des Beweisergebnisses oder -wertes entweder die Beweisbarkeit der Beweisbehauptung oder die materielle Beweiskraft des Beweismittels und damit allein der Eifolg der Beweiserhebung beurteilt wird. Es wird also im vorhinein gefragt, ob die Beweisbehauptung vollumfänglich durch eine Beweiserhebung erwiesen werden wird. Bei negativem Urteil wird demgemäß die Beweisbehauptung selbst aus dem Erkenntnisgang ausgeschlossen. Dagegen wird bei der Beurteilung der Relevanz einer Beweistatsache der Nachweis der Beweisthematik gerade als gelungen unterstellt, die Beweisbehauptung selbst also nicht in Frage gestellt, das Gericht zieht allerdings nicht den aus dem Beweisergebnis folgerbaren Schluß auf eine unmittelbar erhebliche Tatsache. 61 Ferner bestehen auch innerhalb der (dritten) Fallgruppe der Beurteilung der Erheblichkeit strukturelle Unterschiede: Während bei der Feststellung der mittelbaren Erheblichkeit von Tatsachen gefragt wird, ob sie hypothetisch einen Schluß auf eine unmittelbar erhebliche Tatsache ermöglichen, ausschließen oder sogar zwingend fordern, geht es bei der Beurteilung des Bestehens des Sachzusanunenhangs und der unmittelbaren Erheblichkeit einer Tatsachenbehauptung jeweils um die Prüfung, ob sich diese Tatsache unter den in der Anklage enthaltenen Tatvorwurf fassen läßt. Dabei handelt es sich bei der Beurteilung der Sachzugehörigkeit um eine Zuordnung auf tatsächlicher Ebene und bei der Beurteilung der unmittelbaren Erheblichkeit um eine Zuordnung auf rechtlicher Ebene. Trotz dieses Unterschieds liegt zwischen der Beurteilung des Vorliegens eines Sachzusanunenhanges und der rechtlichen Erheblichkeit insoweit eine strukturelle Vergleichbarkeit vor,62 als eine Tatsache, die in keiner Beziehung zu dem in der Anklage geschilderten Geschehen steht, natürlich auch rechtlich nicht erheblich sein kann. Umgekehrt ist es allerdings durchaus möglich, daß eine Tatsache, die nicht sachfremd ist, dennoch rechtlich unerheblich ist, wie z. B. der Umstand in dem schon erwähnten Fall, daß der Angeklagte keine konkrete Gefahr verursacht Siehe oben § 2 A. 1. Siehe oben § 2 A. 1. 61 Vgl. Herdegen, Boujong-FS, 779. Denkbar ist allerdings, daß das Gericht zusätzlich auch den Erfolg der Beweiserhebung negativ antizipiert. 62 Siehe auch zum Verhältnis von Sachfremdheit und rechtlicher Unerheblichkeit einerseits Alsberg/Nüse/Meyer. 827, der völlige Sachfremdheit bei solchen Tatsachen ausscheidet, die nur aus Rechtsgründen unerheblich sind, und KMR-Paulus, § 244 Rn. 12 andererseits, der die Auffassung vertritt, fehlender Sachzusarnmenhang könne nur bei rechtlicher, nicht bei tatsächlicher Irrelevanz der unter Beweis gestellten Tatsache angenommen werden. 59

60

3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

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hat, wenn der in Rede stehende gesetzliche Tatbestand gar keine Gefahr voraussetzt. Allerdings weist die Beurteilung der rechtlichen Erheblichkeit - soweit es um die Subsumierbarkeit selbst geht - die Besonderheit auf, daß die Prognose nicht mittels einer tatsächlichen Überzeugungsbildung vorgenommen wird, sondern im Wege rein rechtlicher Erwägungen das Subsumtionsverhältnis der Tatsachenbehauptung zur Schuld- und Straffrage klärt. Zum Beispiel ist es für die Frage, ob das Fehlen einer konkreten Gefahr die Verwirklichung eines Gefährdungstatbestandes ausschließt, grundsätzlich allein maßgeblich, ob es sich um ein konkretes oder ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt. Ist letzteres der Fall, ist es rechtlich ohne Bedeutung, daß auch tatsächlich keine konkrete Gefahr vorgelegen hat (es sei denn, sie ist für die Strafzumessung von Bedeutung). Die Entscheidung ist von den tatsächlichen Gegebenheiten des Verfahrenszwischenstandes unabhängig und wird nur anhand rechtlicher Auslegungsgrundsätze getroffen. Wird demgegenüber beurteilt, ob eine an sich rechtlich erhebliche Tatsache lediglich im konkreten Fall keine Bedeutung, d. h. Entscheidungserheblichkeit mehr erlangen kann, weil eine bestimmte Entscheidung schon aus anderen bereits feststehenden Rechtsgründen zu erfolgen hat, setzt dies eine Überzeugungsbildung hinsichtlich eben dieser Rechtsgründe voraus. Die rechtliche Beurteilung erfolgt also auf der Basis einer tatsächlichen Überzeugung. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn festgestellt wird, daß es auf die Tatsache, daß der Täter die Tat mittels eines Messers begangen hat, nicht mehr ankommt, weil er ohnehin durch Notwehr gerechtfertigt ist und insoweit das Messer völlig irrelevant ist. Die Feststellung, daß die Voraussetzungen der Notwehr gegeben sind, setzt eine dahingehende Überzeugungsbildung voraus. Diese Strukturunterschiede jedoch als Begründung dafür heranzuziehen, die vor Durchführung der Beweisaunahme erfolgende Relevanzbeurteilung insgesamt63 oder zumindest hinsichtlich der mittelbaren Erheblichkeit64 nicht unter den Begriff der Beweisantizipation zu fassen, mit der Folge, daß sie auch nicht an den Maßstäben des Beweisantizipationsverbots gemessen werden muß, erscheint wenig plausibel. Schließlich handelt es sich in allen Fällen um eine vorweggenommene, nur auf dem vorläufigen Verhandlungszwischenstand basierende Prüfung, ob ein Beweishinweis generell und auch im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Verfahrenssituation die Möglichkeit aufweist, die Sachverhaltsaufklärung zu fördern, sei es daß gefragt wird, ob eine nachgewiesene Tatsache als relevant berücksichtigt werden müßte, sei es daß gefragt wird, ob ihr Nachweis überhaupt möglich ist - in jedem Fall wird der Beweis antizipierend beurteilt. 65 So Engels GA 1981,27. So wohl Frister ZStW 105, 347 Fn. 18. 65 Aus diesem Grund ist auch die vom Gesetzgeber hinsichtlich § 245 vertretene Auffassung, daß "bei der ... Fallgruppe des fehlenden Sachzusammenhangs ... rein objektive und damit auch revisionsrechtlich überprüfbare Merkmale zur Abgrenzung verwendet [werden], 63

64

7 Schulenburg

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Will man den aufgezeigten strukturellen Unterschieden ihre dogmatisch richtige Bedeutung zukommen lassen, dann muß dies im Rahmen der Erörterung der Zulässigkeit von Antizipationen geschehen. Als Zwischenergebnis läßt sich also festhalten, daß der Begriff der Beweisantizipation auch die Beurteilung des Bestehens eines Sachzusammenhangs sowie der unmittelbaren und mittelbaren Erheblichkeit einer Tatsache urnfaßt. 11. Einbeziehung der positiven Unterstellung des Beweisgelingens in den Begriff der Beweisantizipation

Nur am Rande wird der Frage Beachtung geschenkt, ob der Begriff der Beweisantizipation nur die negative Antizipation der Erfolgsaussichten eines Beweises oder auch die positive Unterstellung des Beweisgelinges erfaßt. Es scheint nahezu selbstverständlich zu sein, unter Beweisantizipation nur die negative Antizipation zu verstehen. 66 So bezieht sich Herdegens Begriffsbestimmung eindeutig nur auf die Antizipation eines negativen Ergebnisses, eines fehlenden Beweiswertes oder der Unerheblichkeit der Beweistatsache. 67 Ebenso definiert Köhler den Begriff der Beweisantizipation im engeren Sinne als vorwegnehmende negative Eignungsbeurteilung eines Beweismittels. 68 Auch Kühl spricht nur von der Verneinung der Aussagekraft eines Beweismittels oder der Zuriickweisung des behaupteten Aussageinhaltes als unplausibel. 69 Engels definiert sogar ausdriicklich den Begriff der Beweisantizipation als negative Unterstellung des Beweisergebnisses und die Vorwegnahme der Beweiswürdigung. 70 Zugleich zeigt er aber auch die Konsequenz dieser Einschränkung auf: Eine Ablehnung eines Beweisantrags wegen "Erwiesenseins" der Tatsache stelle keine Beweisantizipation dar, denn das Beweisergebnis werde nicht negativ unterstellt, sondern die Beweisaufnahme werde lediglich als nicht weiter förderlich für bei denen für eine vorläufige Beweiswürdigung kein Raum ist" (BT-Drs. 8/976 S. 53; zustimmend Rudolphi JuS 1978, 866) fehlerhaft. Auch wenn nur "objektive" Merkmale entscheidend sein sollten, so handelt es sich bei der Prüfung, ob objektiv die Sachbezogenheit fehlt, dennoch um eine vorweggenommene Beurteilung des angebotenen Beweises, die auch unter Würdigung eines sich bereits abzeichnenden Verfahrensergebnisses vorgenommen werden kann, etwa mit der Begründung, die bisherigen Feststellungen ließen nicht erkennen, daß zwischen der behaupteten Tatsache und dem Gegenstand der Urteilsfindung ein Zusammenhang bestehen könne. Für antizipatorische Erwägungen ist also durchaus Raum; kritisch auch Köhler NJW 1979, 351. 66 Ähnlich beobachtet auch Frister ZStW 105, 347, daß unter Beweisantizipation die negative Beurteilung der Erfolgsaussichten eines noch nicht erhobenen Beweises verstanden werde. 67 So in Herdegen, Boujong-FS, 778 f. 68 Köhler, 39. 69 Kühl,64. 70 Engels GA 1981,23.

3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

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die Sachverhaltsaufklärung qualifiziert, weil das Beweisziel bereits erreicht sei.71 Auch die vorweggenommene Beurteilung einer Beweistatsache als offenkundig kann dann nicht als Beweisantizipation begriffen werden, da das Beweisergebnis ja nicht negativ unterstellt wird, sondern als schon allgemein- bzw. gerichtsbekannt. 72 Lediglich Meyer bezeichnet - ausdriicklich unter Ablehnung der Ansicht von Engels - auch die positive Antizipation des Beweisergebnisses als Beweisantizipation. 73 Ursächlich für die überwiegend auf die negative Antizipation ausgerichtete Begriffsauslegung scheint zu sein, daß als unzulässige Beweisantizipation nur eine solche zum Nachteil des Antragstellers angesehen wird74 • Entscheidend für die Begriffsbestimmung kann aber nicht die Qualifizierung der Ergebniserwartung als positiv oder negativ oder die mögliche Beschwer für den Antragsteller sein, sondern maßgebend muß sein, daß ebenso wie bei einer negativen Unterstellung auch bei positiver Unterstellung des Beweisgelingens der Beweis vorweggenommen ohne Durchführung der Beweisaufnahme beurteilt wird Dadurch wird die Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen geschaffen. 75 Die Differenzierung zwischen positiver und negativer Prognose kann daher allenfalls bei der Frage der Zulässigkeit der Beweisantizipation Bedeutung erlangen. Beweisantizipation im weiteren Sinne läßt sich demnach zunächst allgemein definieren als jegliche auf einem vorläufigen Verhandlunszwischenstand beruhende gedankliche Vorwegbeurteilung eines Beweises auf die Möglichkeit hin, sachverhaltsfördernde Umstände zu erweisen.

B. Inhaltliche Ausgestaltung des Begriffs der Beweisantizipation Aus den bisherigen Überlegungen lassen sich folgende Erkenntnisse für die inhaltliche Ausgestaltung des Begriffs der Beweisantizipation gewinnen: I. DitTerenzierung nach Ergebnis und Gegenstand der Beweisantizipation

Für das Ergebnis der Prognose folgt aus dem weiten Verständnis des Begriffs der Beweisantizipation die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Unterstellung des Beweisgelingens. 71 72

73 74 75

7*

Engels GA 1981,26 und Fn. 28. Bemerkenswerterweise trifft Engels diese Feststellung nicht. Alsberg / Nüse / Meyer, 597, insbesondere Fn. 13. Siehe oben Einleitung. Siehe dazu auch unten 5. Kapitel § 2 D. I.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Da sich die Beurteilung eines Beweises entweder auf die Erheblichkeit der zu beweisenden Tatsache oder den erfolgreichen Nachweis der aufgestellten Beweisbehauptung bezieht, kann auch der Gegenstand einer antizipierenden Beurteilung eines Beweises variieren. Bezieht sich die Prognose auf die Beweistatsache als Beurteilungsgegenstand, können der Sachzusammenhang, die rechtliche Erheblichkeit - hinsichtlich Subsumtionsverhältnis oder konkreter Entscheidungserheblichkeit - oder die mittelbare Erheblichkeit einer Tatsache in Frage stehen, wobei bei letzterer noch danach unterschieden werden kann, ob die generelle Gültigkeit des anzuwendenden Erfahrungssatzes beurteilt wird oder die im konkreten Fall zu ziehende Schlußfolgerung. Wird die Möglichkeit der erfolgreichen Bestätigung der Beweisbehauptung prognostiziert, kann sich das Urteil auf das Beweisergebnis oder den Beweiswert beziehen, welcher wiederum von der generellen Beweismitteleignung und Beweismittelkraft abhängig ist. 11. Mögliche Anknüpfungspunkte für die Begründung einer Beweisantizipation

Ein vollständiges Bild von der Vielfalt möglicher Antizipationsvarianten erschließt sich jedoch erst, wenn in die Betrachtung auch die Unterscheidung einbezogen wird, daß die bisher herausgearbeiteten Formen antizipierender Beurteilung eines Beweises ohne Rekurs auf die bisherige Beweisaufnahme (erste Variante) oder mit Bezug auf das Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme (zweite Variante) oder sogar unter Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil, bzw. daß ein erheblich anderer Sachverhalt als der thematisierte bewiesen seC6 (dritte Variante) vorgenommen werden können, der Anknüpfungspunkt für die Begründung der Antizipation also je ein anderer sein kann. Um eine Antizipation ohne Rekurs auf die bisherige Beweisaufnahme - Kühl bezeichnet sie als prospektive Beweiswürdigung77 - handelt es sich zum Beispiel, wenn es das Gericht von vornherein für unmöglich hält, daß ein Passant zum Hergang eines Verkehrsunfalles etwas sagen kann, mit dem Argument, daß Passanten erfahrungsgemäß immer erst dann hinschauten, wenn es bereits "geknallt" habe. 78

76 77 78

Vgl. KK-Herdegen, § 244 Rn. 65. Kühl,63. Dieses Beispiel findet sich bei Frister ZStW 105, 348.

3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

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Entscheidend ist, daß diese prospektive Form der Beweiswürdigung nicht auf Informationen aus der bisherigen Beweisaufnahme79 angewiesen ist. 80 Wandelt man dieses Beispiel dagegen dahingehend ab, daß das Gericht eine bestimmte Aussage des Passanten zum Unfallhergang deshalb für unmöglich hält, weil es dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme widerspreche, erfolgt die Beweisantizipation mit Bezug auf das Beweisergebnis - von Kühl als retrospektive Beweiswürdigung bezeichnet81 . Die zu beurteilende Tatsache oder Behauptung des erfolgreichen Nachweises dieser Tatsache wird dann in Relation zu dem Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme gesetzt. 82 Denkbar ist im übrigen auch eine Kombination beider Begründungsansätze, wenn sich das Gericht bespielsweise in der Vemeinung der Beweismitteleignung aufgrund prospektiver Erwägungen dadurch bestärkt sieht, daß dies auch in Einklang mit dem bisherigen Beweisergebnis steht. 83 Während diese Unterscheidung zwischen den beiden ersten Varianten von Kühl und Frister ausdrücklich hervorgehoben wird84, wird der Unterscheidung zwischen der zweiten und dritten Variante, also der Berufung auf das Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme und der Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil, soweit ersichtlich, kaum Beachtung geschenkt. Sie klingt an, wenn bei der Interpretation des Ablehnungsgrundes der Bedeutungslosigkeit in § 244 III S. 2 2. Fall betont wird, daß das Gericht die mittelbare Beweiserheblichkeit einer Tatsache zwar auf der Grundlage des bisherigen Beweisergebnisses beurteile, was aber nicht bedeute, daß eine Beweiserhebung mit der Begründung für unerheblich erklärt werden dürfe, das Gericht halte aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme das Gegenteil der Beweistatsache für erwiesen85 . Häufig sogar scheinen die Begriffe inhaltlich als synonym verstanden zu werden 86 - so verwendet beispielsweise auch Frister beide Z. B. daß es keine Vorgeräusche gab. VgJ. Kühl, 63 f. 81 Kühl, 63; nicht ganz deutlich wird allerdings, ob Kühl auch hier, wie bei der prospektiven Beweiswürdigung, zwischen der Vemeinung des Beweisergebnisses und der Beweismitteleignung differenzieren will. 82 V gJ. Kühl, 63 f. 83 Kühl,63. 84 Frister ZStW 105,347 f.; Kühl, 63 f. 85 Alsberg/Nüse/Meyer, 589; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 222; Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 244 Rn. 56; deutlich differenzierend SK-Schlüchter, § 244 Rn. 82; ebenso weist ter Veen, 100 insbesondere Fn. 174 ff. auf die Unterscheidung hin. Falsch ist im übrigen seine Einordnung dieses Satzes in den Kontext der Beurteilung unmittelbar beweiserheblicher Tatsachen, siehe S. 98. Die von ihm zitierten Entscheidungen beziehen sich sämtlich auf die Beurteilung der mittelbaren Erheblichkeit von Tatsachen. 86 Bei Alsberg / Nüse / Meyer, 411 findet sich zum einen die Formulierung, daß bei der Prognose in der Regel die Ergebnisse der bisherigen Beweisaufnahme nicht berücksichtigt werden dürften; zum anderen findet sich an anderer Stelle die Behauptung, gemeinsamer Grund der Ablehnungsgründe völlige Ungeeignetheit, Unerreichbarkeit, Prozeßverschleppungsabsicht, Erwiesensein des Gegenteils der behaupteten Tatsache (§ 244 IV und V) sei, daß das 79

80

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

Ausdrucksweisen nebeneinander87 - sachlich besteht jedoch ein erheblicher Unterschied88 , der eine strikte Trennung beider Formulierungen erforderlich macht: Schon oben im 2. Kapitel wurde zwischen der gewonnenen Überzeugung und der Grundlage dieser Überzeugung differenziert. Wenn sich der Richter für den Verzicht auf eine Beweiserhebung auf seine Überzeugung vorn Gegenteil beruft (die durchaus unter prospektiven oder retrospektiven Erwägungen gewonnen sein kann), so hat er sich schon vorzeitig festgelegt und begründet seine Entscheidung ausschließlich mit subjektiven Erwägungen. Ein Rekurs auf das bisherige Ergebnis der Beweisaufnahme bezieht sich dagegen auf die schon getroffenen Feststellungen und damit die Grundlagen dieser Überzeugungsbildung, es bleibt aber gerade noch offen, ob sie später auch als erwiesen angesehen werden können. Im Gegensatz zur bloßen Berufung auf die Überzeugung vorn Gegenteil wird aber wenigstens eine Begründung gegeben. Es ist offensichtlich, daß die Abgrenzung zwischen einer vorweggenommenen retrospektiven Beweiswürdigung und der Berufung auf die Überzeugung vorn Gegenteil Schwierigkeiten bereiten muß, da es häufig nur eine leichte Verschiebung in der Argumentation bedeutet, sich auf "schon getroffene Feststellungen" oder auf die "aus schon getroffenen Feststellungen gewonnene Überzeugung" vorn Gegenteil oder einern jedenfalls erheblich abweichenden Sachverhalt zu berufen. 89 Um so wichtiger ist es, sich des Problems in der Sache bewußt zu sein. benannte Beweismittel ungeeignet sei, eine bereits durch andere Beweismittel begründete gegenteilige Überzeugung des Gerichts zu erschüttern, vgl. Alsberg/Nüse/Meyer; 419. Völlig verwirrend sind die Fonnulierungen bei LR-Gollwitzer; § 244 Rn. 222: Dort führt er aus, das Gericht habe die Frage, ob aus einer Tatsache die vom Beweisführer intendierte Folgerung zu ziehen sei, unter Berücksichtigung des bisherigen Beweisergebnisses zu entscheiden. Die Bedeutungslosigkeit dürfe aber nicht lediglich aus dem bisherigen Beweisergebnis hergeleitet werden. Vor allem dürfe ein Antrag nicht deshalb als bedeutungslos zurückgewiesen werden, weil das Gericht das Gegenteil der unter Beweis gestellten Tatsache für erwiesen erachte. Auch die Rechtsprechung zum Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit geht bei der Beurteilung der mittelbaren Erheblichkeit mit ihren Fonnulierungen recht sorglos um, wenn sie postuliert, die Unerheblichkeit dürfe nicht lediglich aus dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme abgeleitet werden, somit sei eine Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil nicht erlaubt, vgl. BGH GA 1956,384, 385; StV 1982,58; besonders häufig wird in diesem Zusammenhang BGH MDR 1970,778 zitiert, wobei gerade bei diesem Urteil der BGH die Bedeutungslosigkeit des Beweismittels mit der Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache verwechselt hat. 87 Vgl. nur die Fonnulierungen im ersten und dritten Absatz bei Frister ZStW 105, 348: Im ersten Absatz bezeichnet er als Verstoß gegen das Beweisantizipationsverbot, "wenn die Erhebung eines Beweises unter Berufung auf die bereits erfolgte Beweisaufnahme abgelehnt werde"; im dritten Absatz bezeichnet er als Verstoß die Ablehnung .. unter Berufung auf eine bereits gewonnene Überzeugung des Gerichts" (Hervorhebung von Verfasserin). Sprachlich kein Unterschied ist außerdem zu erkennen bei Alsberg / Nüse / Meyer; 411, 419. 88 Deutlich von Schlüchter hervorgehoben in SK, § 244 Rn. 82. 89 AK-Schöch, § 244 Rn. 87 weist auf die Gefahr hin, daß dann, wenn nicht beachtet wird, daß zur Beurteilung der mittelbaren Erheblichkeit die zu beurteilende Tatsache hypothetisch als erwiesen angesehen werden muß, ihre Bedeutungslosigkeit faktisch damit verneint wird, das Gegenteil sei bereits erwiesen.

3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

103

Angesichts dieser wichtigen Differenzierung ist auch die Verwendung des Begriffs der vorweggenommenen Beweiswürdigung problematisch, da Würdigung die Festlegung auf eine Überzeugung impliziert, ohne Raum für die angesprochene Abgrenzungen zu bieten. Es müßte daher - neutraler formuliert - von einer antizipierenden Beweisbeurteilung oder -einschätzung gesprochen werden. Um in der Diskussion jedoch nicht unnötig Verwirrung zu schaffen, soll auch weiterhin von antizipierender Beweiswürdigung die Rede sein. Um jedoch jegliche Mißverständnisse auszuschließen, soll im folgenden für die Antizipation mit Rekurs auf das Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme der von Kühl geprägte Begriff der retrospektiven Beweiswürdigung für die eigenen Erörterungen übernommen werden. Entsprechend soll unter prospektiver Beweiswürdigung eine Beurteilung des Beweises ohne Rückgriff auf die bisherige Beweisaufnahme verstanden werden. Hiervon streng abzugrenzen ist die Begründung einer Antizipation mit der Überzeugung vom Gegenteil. In. Mögliche Konsequenzen für Inhalt und Umfang des Beweisantizipationsverbots

Die mögliche Tragweite und damit Notwendigkeit dieser begrifflichen Differenzierungen vor allem hinsichtlich des möglichen Anknüpfungspunktes einer Beweisantizipation wird deutlich, wenn man sich - im Vorgriff auf die Überlegungen des 5. Kapitels - in Grundzügen die nach Ansicht von Frister und Kühl aus der Unterscheidung von prospektiver und retrospektiver Beweiswürdigung resultierenden Konsequenzen für die Zulässigkeit von Beweisantizipationen vor Augen führt, zumal Frister ausgehend von dieser Unterscheidung eine Konzeption des Beweisantizipationsverbots entwickelt, die sich deutlich von dem allgemeinen Verständnis des Verbots unterscheidet. 90 Frister betont zunächst, eine antizipierende Beurteilung der Erfolgsaussichten eines Beweises erfolge zwar typischerweise unter Berufung auf die bereits durchgeführte Beweisaufnahme, setze diese aber nicht notwendig voraus. 91 Dementsprechend sei es eine allgemeine Fehlvorstellung, einen Verstoß gegen das Beweisantizipationsverbot allein dann anzunehmen, wenn die Erhebung eines Beweises unter Berufung auf die bereits erfolgte Beweisaufnahme abgelehnt werde bzw. dem erhobenen Beweis Vorrang vor dem noch nicht erhobenen eingeräumt werde. 92 Vielmehr werde der Inhalt des Verbots nur durch jene Formulierung richtig wiedergegeben, wonach das Gericht verpflichtet sei, weder das Beweisergebnis noch dessen Wert für die Überzeugungsbildung des Gerichts negativ zu antizipieren. Anders 90 Soweit ersichtlich, haben sich bisher nur Grünwald, Beweisrecht, 106 ff., Hirsch, 40 und SK-Paeffgen, § 420 Rn. 16 f. der Auffassung Fristers angeschlossen. 91 Frister ZStW 105, 348. 92 Frister ZStW 105,349.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

werde das dem § 244 III zugrundeliegende Prinzip nicht richtig beschrieben, weil nach dem Wortlaut der Ablehnungsgriinde eine Antizipation auch dann unzulässig sei, wenn sie ohne Berufung auf das bisherige Beweisergebnis erfolge. 93 Wesentlich für das Verständnis des Beweisantizipationsverbots sei daher nur die Unterscheidung zwischen dem Verbot der negativen Antizipation des Beweisergebnisses, also der Unterstellung, der benannte Zeuge werde die Beweistatsache nicht bestätigen, und dem Verbot der antizipierten Würdigung dieses Ergebnisses, d. h. der Unterstellung, das Gericht werde sich von der Aussage des Zeugen ohnehin nicht überzeugen lassen. Das Beweisantizipationsverbot vereine insoweit zwei Beweisrechtsprinzipien. 94 Wahrend im Rahmen des Beweisantragsrechts beide Komponenten der Beweisantizipation ausnahmslos verboten seien,95 könne im Bereich der Amtsaufklärungspflicht das Verbot der Antizipation eines negativen Beweisergebnisses jedoch nicht eingreifen, selbst dann nicht, wenn ein Beweisantrag gestellt worden sei. Eine Auswahl der Beweise durch das Gericht sei nämlich ohne einen Vorgriff auf das im Verfahren zu erwartende Ergebnis nicht möglich, insbesondere dann, wenn es an dem Beweisbegehren eines Prozeßbeteiligten fehle. Die Befugnis hierzu liege im Geltungsbereich der Amtsaufklärungspflicht beim Gericht, während sie im Rahmen des Beweisantragsrechts dem Antragsteller zustehe. 96 Es sei dementsprechend dem Gericht im Rahmen der Amtsaufklärungspflicht nicht nur erlaubt, das voraussichtliche Beweisergebnis thematisch vorwegzunehmen, d. h. zu prognostizieren, daß gar keine Aussage zu erwarten ist, sondern es sei sogar gestattet, daß Beweisergebnis inhaltlich zu antizipieren durch die Prognose, daß nur eine die bisherige Überzueugung des Gerichts bestätigende Aussage zu erwarten sei. 97 Hierbei könne auch das Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme beriicksichtigt werden. 98 Das Verbot der antizipierenden Würdigung des Beweisergebnisses gelte dagegen auch im Bereich der Amtsaufklärungspflicht in gleicher Weise wie im Beweisantragsrecht. 99 Wahrend Prister also der begrifflichen Differenzierung von prospektiver und retrospektiver Beweiswürdigung keine eigenständige Bedeutung für die Zulässigkeit von Antizipationen beimißt, sie aber als Ausgangsbasis für seine Konzeption des Verbotes als Kompetenzzuweisung heranzieht, zieht Kühl aus dieser Unterscheidung unmittelbar Schlußfolgerungen für die Zulässigkeit von Beweisantizipationen. Die retrospektive Beweisantizipation sei grundsätzlich unzulässig,100 und die 93 94

95 96 97

98 99

Frister ZStW Frister ZStW Frister ZStW Frister ZStW Frister ZStW Frister ZStW Frister ZStW

105, 347 ff. 105, 349 ff. 105, 350 ff. 105,357 und Fn. 47. 105,357. 105,357 f.; insbesondere 362 Fn. 57. 105,359.

3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

105

Ablehnung einer Beweisaufnahme aufgrund prospektiver BeweiswÜfdigung dürfe nur dann erfolgen, wenn das Beweismittel als "völlig ungeeignet" eingeschätzt werde. 101 Eine Begründung bleibt Kühl allerdings schuldig. Ohne an dieser Stelle die Problematik weiter vertiefen zu müssen, wird deutlich, daß es sich bei den aufgezeigten begrifflichen Differenzierungen nicht lediglich um terminologische Klarstellungen handelt, sondern ihnen bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Antizipationen maßgebliche Bedeutung zukommen kann, die schon bei der Fassung des Begriffs der Beweisantizipation Berücksichtigung finden muß, der nun abschließend formuliert werden kann. IV. Der Begriff der Beweisantizipation

Beweisantizipation bedeutet jegliche vorweggenommene positive oder negative Beurteilung eines Beweises mit oder ohne Bezugnahme auf das bisherige Beweisergebnis oder unter Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil 102 sowohl hinsichtlich der Beweiserheblichkeit der behaupteten Tatsache 103 als auch hinsichtlich der Möglichkeit eines erfolgreichen Nachweises einer Tatsache mit Blick auf das mögliche Beweisergebnis und den Beweiswert, welcher abhängig ist von Beweismitteleignung und Beweiskraft. Soweit die Antizipation unter Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil erfolgt, läßt sich dies als Beweisantizipation im engeren Sinne beschreiben. Alle übrigen Beweisantizipationen sind dementsprechend Beweisantizipationen im weiteren Sinne. C. Beweisantizipationsvarianten im Überblick Ausgehend von dieser Begriffsbestimmung lassen sich nun die denkbaren Kombinationen von Ergebnis, Gegenstand und Anknüpfungspunkt einer antizipierenden Beurteilung eines Beweises zusammenstellen, so daß sich - noch ohne jegliches Präjudiz für ihre Zulässigkeit! - abschließend folgender Überblick über mögliche Beweisantizipationsvarianten geben läßt, dem zur besseren Verständlichkeit eine graphische Übersicht vorangestellt sei:

100 Eine Ausnahme ergebe sich u. U. nur beim Sachverständigenbeweis nach Maßgabe des § 244 IV S. 2. IO! Kühl, 63 f. 102 Bzw. daß ein erheblich anderer Sachverhalt als der thematisierte bewiesen sei. 103 Es sei noch einmal daran erinnert, daß als Beweistatsache auch die generelle Gültigkeit eines Erfahrungssatzes in Betracht kommt.

106

I. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots I. Graphische Übersicht der möglichen Beweisantizipationsvarianten Eine vorweggenommene Beweiswürdigung kann sich beziehen auf: Sacbzusanunenbang negativ

positiv - prospektiv - retrospektiv

- prospektiv - retrospektiv - unter Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil (= i. e. S.)

Rechtliche Erheblichkeit Subsumtionsverhältnis positiv

Entscheidungserheblichkeit

negativ

I

negativ positiv ,!;nter Bezugnahme auf eine schon gebildete Uberzeugung

Mittelbare Erheblichkeit potentielle Erheblicbkeit positiv

negativ

- prospektiv - retrospekti v

- prospektiv - retrospektiv - un~~r Berufung auf die Uberzeugung vom Gegenteil (= i. e. S.)

tatsächliche Erheblichkeit positiv

negativ

- prospektiv - retrospektiv

- prospektiv - retrospektiv - un~r Berufung auf die Uberzeugung vom Gegenteil (= i. e. S.)

Erfolgreicher Nachweis der Beweisbehauptung Beweisergebnis

Beweiswert Beweismitteleignung

positiv

negativ

positiv

negativ

Beweiskraft positiv

negativ

- prospektiv - prospektiv - prospektiv - prospektiv - prospektiv - prospektiv - retrospektiv - retrospektiv - retrospektiv - retrospekti v - retrospektiv - retrospektiv - unter Beru- unter Beru- unter Beru~ng auf die ~ng auf die ~!Ing auf die Uberzeugung Uberzeugung Uberzeugung vom Gegenvom Gegenvom Gegenteil (= i. e. S.) teil (= i. e. S.) teil (= i. e. S.)

3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

107

11. Antizipierende Beurteilung des Sachzusammenhangs

Die am Anfang der Beurteilung eines Beweises stehende Überlegung, ob die behauptete Tatsache 104 überhaupt in einem Zusammenhang mit dem Gegenstand der Urteilsfindung steht, kann sowohl mittels prospektiver als auch retrospektiver Beweiswürdigung zu einem positiven oder negativen Ergebnis führen. Wenn es - um das schon bekannte Beispiel noch einmal zu bemühen - zur Klärung des DiebstaiIlsvorwurfes nur auf die Identifizierung des Angeklagten durch einen Zeugen ankommt, jedoch beantragt wird, Zeugen darüber zu vernehmen, daß der Schah von Persien am Tattag eine goldene Brille trug, kann die Erhebung des Beweises mit der prospektiven Begründung abgelehnt werden, daß diese Tatsache sich nicht auf den Tatvorwurf bezieht oder (zusätzlich) mit der retrospektiven Begründung versehen werden, die bisherigen Feststellungen ließen nicht erkennen, daß ein Zusammenhang zwischen der behaupteten Tatsache und dem Gegenstand der Urteilsfindung bestehe.

Unter Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil kann die Beantwortung der Frage, ob ein Sachzusammenhang gegeben ist, dagegen logisch nur zu einem negativen Ergebnis führen. Dies wäre z. B. der Fall, wenn das Gericht auf eine Beweiserhebung verzichtet, weil es sich schon von einem Geschehensablauf überzeugt habe, zu dem die Tatsache in keinem Zusammenhang stehen könne. 111. Antizipierende Beurteilung der rechtlichen Erheblichkeit einer Tatsache

1. Beurteilung des Subsumtionsverhältnisses

Sofern das Gericht die Subsumierbarkeit einer Tatsache unter den möglicherweise anzuwendenden Rechtssatz positiv oder negativ prognostiziert, beruht die vorweggenommene Beurteilung der unmittelbaren rechtlichen Erheblichkeit einer Tatsache auf rein rechtlichen Erwägungen unabhängig von dem jeweiligen Verhandlungsstand und unbeeinflußt von irgendwelchen anderen tatsächlichen Faktoren. Erinnert sei an das Beispiel, daß es auf den tatsächlichen Verfahrenszwischenstand nicht ankommt, wenn beurteilt werden muß, ob ein gesetzlicher Tatbestand das Vorliegen einer konkreten Gefahr verlangt oder eine abstrakte Gefährdung ausreichen läßt. \05

Eine Unterscheidung nach pro- und retrospektiver Antizipation sowie einer Beurteilung unter Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil scheidet hier schon begrifflich aus, da dies eine Bezugnahme auf tatsächliche Umstände voraussetzen würde. 104 Siehe dazu oben § 2 A. I. 1.: gemeint ist die unmittelbar unter Beweis gestellte Tatsache, die erwiesen werden soll, nicht das Beweisziel, auf das aus der Tatsache geschlossen werden soll, nämlich das ein Tatbestandsmerkmal (nicht) vorliegt. 105 Siehe oben § 2 A. I. 2.

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1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

2. Beurteilung der konkreten Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache

Aber auch bei der vorweggenommenen Beurteilung der konkreten Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache bietet sich eine Unterscheidung nach einer Antizipation mit oder ohne Rekurs auf das Ergebnis der bisherigen Beweisaufnahme sowie unter Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil nicht an, obwohl es sich um eine vorwegnehmende rechtliche Beurteilung auf der Basis tatsächlicher Feststellungen handelt. Diese Form der Prognose beinhaltet zwar eine Bezugnahme auf schon vorhandene und sogar als erwiesen zu betrachtende Feststellungen - was durchaus retrospektiven Charakter hat - dariiberhinaus müssen aber hinsichtlich einer bestimmten Rechtsfrage alle Fakten schon abschließend und vollständig aufgeklärt sein. Die Prognose setzt also notwendig eine abschließend vorwegnehmende Überzeugungsbildung hinsichtlich dieser Rechtsfrage voraus. Dies aber mit der Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil gleichzusetzen, würde nicht beriicksichtigen, daß die behauptete Tatsache nicht als gegensätzlich oder zumindest abweichend zu den bisherigen Feststellungen beurteilt wird, sondern lediglich als nicht "tragend" für die zu ergehende Entscheidung. Aus diesem Grunde scheidet eine Differenzierung hinsichtlich der Anknüpfungspunkte der antizipierenden Beurteilung aus. Das Gericht kann dementsprechend die konkrete Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache positiv bejahen das Gericht kommt beispielsweise nach dem bisherigen Verhandlungszwischenstand zu dem Ergebnis einer vorsätzlich begangenen Körperverletzung, so daß es für die Frage der Rechtfertigung die Tatsache für entscheidungserheblich hält, ob der Tater neben den objektiven Voraussetzungen der Notwehr auch mit VerteidigungswiIIen handelte;

oder antizipierend verneinen z. B. wenn es die Verwirklichung der äußeren Merkmale einer Straftat im Amt nach den §§ 331 ff. StGB für bedeutungslos hält, weil der Angeklagte kein Amtsträger i. S. d. § 11 11 StGB ist.

IV. Antizipierende Beurteilung der mittelbaren Erheblichkeit einer Tatsache

1. Positive Beurteilung mittelbarer Erheblichkeit einer Tatsache

a) Vorausgesetzt, daß das Gericht vom Sachzusammenhang und der rechtlichen Erheblichkeit der (mit-)behaupteten unmittelbaren Tatsache ausgeht, kann die mittelbare Erheblichkeit der unmittelbar unter Beweis gestellten Indiz- oder Hilfstatsache vorweggenommen positiv unterstellt werden, indem das Gericht mittels prospektiver Beweiswürdigung den mitbehaupteten Erfahrungssatz als generell

3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

109

gültig anerkennt und außerdem den mitbehaupteten Schluß auch im konkreten Fall ziehen will. Auf diese Weise wird in einem ersten Schritt die potentielle Erheblichkeit der Indiztatsache anerkannt und in einem zweiten Schritt auch die tatsächliche Erheblichkeit der Indiztatsache bestätigt. So liegt es, wenn das Gericht für den Fall, daß ein Autofahrer beim Überholen eines Radfahrers gerade mit einem Mobiltelefon telefoniert, nicht nur den generellen Erfahrungssatz anerkennt, daß es i. d. R. auf diesem Fehlverhalten beruht, wenn der Radfahrer beim Überholen angefahren wird, sondern diesen Schluß auch im konkreten Fall zieht, weil es ihn für wahrscheinlich hält, und damit zur Bestätigung des Fahrlässigkeitsvorwurfs gelangt. b) Die unter a) genannte positive Prognose kann das Gericht auch mittels retrospektiver Beweiswürdigung treffen. Etwa wenn das Gericht im soeben genannten Beispiel seine Ansicht damit begriindet, die Annahme der mittelbaren Erheblichkeit "passe" zu den bisher gemachten Zeugenaussagen, daß der Fahrradfahrer selbst korrekt am Straßenrand gefahren sei.

Eine Prognose, die zur Bejahung der Ausgangsfrage führt, ob eine tatsächliche Erheblichkeit gegeben ist, ist allerdings logisch nicht mit der Überzeugung vom Gegenteil begründbar.

2. Negative Beurteilung der mittelbaren Beweiserheblichkeit einer Tatsache

a) Auch wenn das Gericht von einem Zusammenhang zwischen behaupteter Tatsache und Verfahrens gegenstand ausgeht sowie von der rechtlichen Erheblichkeit der mittels Indizien zu erweisenden Tatsache, kann die mittelbare Beweiserheblichkeit selbst negativ antizipiert werden mittels prospektiver Beweiswürdigung, indem das Gericht selbst bei unterstelltem Nachweis der behaupteten mittelbaren Tatsache aa) den intendierten Schluß auf die unmittelbar rechtlich erhebliche Tatsache nicht ziehen will, weil es den mitbehaupteten Erfahrungssatz nicht als gültig anerkennt, die potentielle Beweiserheblichkeit also verneint dies wäre z. B. der Fall, wenn das Gericht - unterstellt es stiinde fest, daß beim Überholen der Fahrer mit dem Handy telefonierte - den Erfahrungssatz nicht anerkennen will, daß es i. d. R. auf diesem Verhalten beruht, wenn ein Radfahrer beim Überholen vom Autofahrer angefahren wird;

bb) oder sogar trotz genereller Anerkennung des Erfahrungssatzes in der konkret zu entscheidenden Beweissituation den möglichen (aber nicht zwingenden) Schluß nicht ziehen will und damit die tatsächliche Beweiserheblichkeit also letztendlich nicht anerkennt -

110

1. Teil: Die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots

das Gericht will im soeben genannten Beispiel im konkreten Einzelfall trotz Anerkennung des allgemeinen Erfahrungssatzes nicht den Schluß ziehen, daß der Unfall aufgrund der Ablenkung durch das Telefonat eingetreten ist, weil es diesen Schluß nicht für wahrscheinlich hält.

In der Praxis ist diese Konstellation allerdings kaum denkbar, da es bedeuten würde, von einer anerkannten Regel ohne Auseinandersetzung mit dem konkreten Einzelfall und damit faktisch ohne Begründung abzuweichen. b) Die unter aa) und bb) genannten Prognosen kann das Gericht auch mittels retrospektiver Beweiswürdigung z. B. mit der Begründung, bisherige Zeugenaussagen hätten ergeben, daß der Radfahrer plötzlich und grundlos so ausgeschert sei, daß der Unfall auch bei aufmerksamer Fahrweise unvermeidbar gewesen wäre, was wieder einmal aa) zeige, daß der Erfahrungssatz nicht verallgemeinerungsfähig sei, oder was bb) zeige, daß der Erfahrungssatz im konkreten Fall nicht gelte;

oder unter Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil treffen weil das Gericht aa) aufgrund der bisherigen Feststellungen überzeugt sei, daß sich ein solcher Erfahrungssatz nicht aufstellen lasse oder weil es bb) aufgrund der bisherigen Feststellungen überzeugt sei, daß der Autofahrer nicht fahrlässig gehandelt habe.

V. Antizipierende Beurteilung der Erfolgsaussichten des Nachweises der behaupteten Tatsache

1. Positive Beurteilung des erfolgreichen Nachweises der behaupteten Tatsache

a) Sofern das Gericht von der Erheblichkeit der behaupteten Tatsache ausgeht, kann es mittels prospektiver Beweiswürdigung das Gelingen des Nachweises unterstellen, indem es davon ausgeht, daß die Beweiserhebung sowohl das behauptete Ergebnis haben wird, als auch den Wert des Beweises hinsichtlich Beweismitteleignung und Beweiskraft im Rahmen der abschließenden Gesarntwürdigung positiv unterstellt. Beispielsweise geht das Gericht davon aus, daß ein Zeuge tatsächlich, wie im Beweisantrag behauptet, Tatsachen bekunden wird, die dem Angeklagten ein Alibi verschaffen, und daß er glaubwürdig ist.

b) Diese Prognosen kann es auch aufgrund retrospektiver Beweiswürdigung treffen, z. B. mit der Begründung, die bisherigen Feststellungen würden ebenfalls gegen eine Täterschaft des Angeklagten sprechen,

nicht jedoch unter Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil.

3. Kap.: Der Begriff der Beweisantizipation

111

2. Negative Beurteilung des erfolgreichen Nachweises der behaupteten Tatsache

Auch wenn das Gericht von der Beweiserheblichkeit der behaupteten Tatsache ausgeht, so kann es doch den erfolgreichen Nachweis dieser Tatsache vorweg verneinen, indem es a) mittels prospektiver Beweiswürdigung aa) unterstellt, daß das Beweisergebnis negativ ausfallt z. B. der Zeuge werde nicht die Aussage machen, daß er gesehen habe, wie ein anderer als der Angeklagte die Tat begangen habe;

bb) die Eignung des Beweismittels verneint, die behauptete Tatsache zu bestätigen z. B. sei der Zeuge ohne Brille fast blind und habe daher das 100 m weit entfernte Tatgeschehen, insbesondere welcher der Tatbeteiligten Gewalt angewendet habe, nicht verfolgen können, weil er seine Brille nicht getragen habe;

cc) oder selbst bei unterstellter Bestätigung des Beweisinhalts den Wert des Beweismittels verneint z. B. weil der Zeuge nicht glaubwürdig sei.

b) Die unter aa), bb) und cc) genannten Variationen sind auch mittels retrospektiver Beweiswürdigung weil aa) die bisherigen Feststellungen das Ergebnis erbracht hätten, daß der Angeklagte und nicht ein anderer Tatbeteiligter Gewalt angewendet habe; weil bb) es angesichts der bisherigen Feststellungen nicht möglich sei, daß durch irgendeinen Zeugen ein gegenteiliges Beweisergebnis erbracht werden könne; weil cc) der Zeuge im Vergleich zu den übrigen Zeugen weniger glaubwürdig sei;

oder unter Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil denkbar weil aa) das Gericht bereits überzeugt sei, daß der Angeklagte und nicht ein anderer Tatbeteiligter Gewalt angewendet habe; weil bb) das Gericht von der Richtigkeit der bisherigen Feststellungen ausgehe und der Zeuge daher nicht geeignet sei, diese Übezeugung zu erschüttern; weil cc) das Gericht aufgrund seiner Überzeugung vom Gegenteil der Beweisbehauptung den Zeugen nicht für glaubwürdig halte.

2. Teil

Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots Im 2. Kapitel konnte festgestellt werden, daß eine Beweisantizipation dann mit der Wahrheitserforschungspflicht vereinbar ist, wenn anhand intersubjektiv nachvollziehbarer sachlicher Kriterien mit größtmöglicher Sicherheit die Prognose möglich ist, daß eine Beweiserhebung die Wahrheitserforschung nicht fördern könnte. Ergebnis des vorangegangenen Kapitels ist ein Überblick über die überhaupt denkbaren möglichen Beweisantizipationsvarianten. Nunmehr können sich die Darlegungen denjenigen zwei Fragen zuwenden, denen das zentrale Interesse dieser Arbeit gilt und deren Beantwortung abschließend Aufschluß darüber geben soll, welche Reichweite das Beweisantizipationsverbot innerhalb des Beweisantragsrechts und der Amtsaufklärungspflicht hat, also ob es Beweisantizipationen gibt, die innerhalb der Amtsaufklärungspflich möglich und zulässig sind, die nicht auch schon durch das Beweisantragsrecht gestattet werden. Die erste Frage hat zum Inhalt, welche der im 3. Kapitel herausgearbeiteten Antizipationsvarianten unter welchen Bedingungen dem Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung unterfallen müssen und welche stattdessen als zulässig angesehen werden können. Es gilt also, zum einen jene sachlichen Kriterien zu erarbeiten, die dem Richter im konkreten Einzelfall mit größtmöglicher Sicherheit die Prognose ermöglichen, daß eine Beweiserhebung die Sachverhaltserforschung nicht fördern kann, so daß durch diese Prognose nicht zugleich die Zuverlässigkeit dieser Sachverhaltserforschung beeinträchtigt wird. Ferner muß eine Abgrenzung zu solchen Kriterien gefunden werden, die gerade eine unzulässige Beweisantizipation charakterisieren. Die zweite Frage zielt darauf ab, ob und wie die hinsichtlich der ersten Frage erarbeiteten Ergebnisse mit der tatsächlich praktizierten Auslegung der Ablehnungsgründe des gegenwärtig geltenden Beweisantragsrechts übereinstimmen. Es geht also um einen Vergleich der hier erarbeiteten Anforderungen an die Zulässigkeit einer Antizipation mit der derzeitig überwiegend gebräuchlichen Auslegung der Ablehnungsgründe. Um dem Leser das Verständnis zu erleichtern, seien vorweg einige Bemerkungen zum weiteren Aufbau des 2. Teils dieser Untersuchung gestattet: Zunächst gilt es festzustellen, welche generellen Aussagen sich bzgl. des Inhalts und des Umfangs des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung aus der

2. Teil: Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots

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Vorgabe ableiten lassen, daß eine Antizipation nur dann keine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellung bedeutet, wenn mit größtmöglicher Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß eine Beweiserhebung die Wahrheitsfindung fördern könnte. Es müssen also zunächst abstrakt der Inhalt des Verbots sowie seine Grenzen, Ausnahmen und Durchbrechungen näher definiert, sowie die Faktoren, die die Zulässigkeit von Beweisantizipationen generell bestimmen, beschrieben werden (unten im 4. Kapitel). Anschließend ist - jeweils unter Bezugnahme auf die Interpretation der Ablehnungsgründe - zu untersuchen, von welchen konkreten Faktoren es bei den einzelnen Antizipationsvarianten abhängt, ob sie eine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellung darstellen oder stattdessen eine für die Zulässigkeit einer Antizipation genügende "größtmögliche Sicherheit" der Prognose gewährleisten (unten 5. bis 8. Kapitel). Im 9. Kapitel kann dann die Bedeutung des Beweisantizipationsverbots de lege lata und de lege ferenda abschließend bewertet werden. Dem Gesamtvorhaben werden allerdings in zweierlei Hinsicht Grenzen gesetzt: Erstens werden die genauen Anforderungen, die an die Begründung für eine zulässige Antizipation zu stellen sind, immer auch vom konkreten Einzelfall und den dabei anzuwendenden Erfahrungssätzen abhängen, so daß die hier vorzunehmenden Überlegungen notwendig abstrakt bleiben müssen, um der Fülle an Einzelfällen gerecht werden zu können. Zweitens hat die Zahl der Veröffentlichungen und insbesondere der Entscheidungen der obersten Gerichte zu den Ablehnungsgründen des Beweisantragsrechts ein Ausmaß angenommen, das es im Rahmen dieser Arbeit unmöglich macht, sie bis ins letzte Detail zu analysieren. 1 Dies wird daher auch gar nicht bezweckt. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist allein, die von Rechtsprechung und Schrifttum allgemein als richtig anerkannten Interpretationen der Ablehnungsgründe, auf die sich auch der Gesetzgeber beruft, auf ihre Übereinstimmung mit den Anforderungen des Beweisantizipationsverbots hin zu vergleichen. Dies sollte Feststellungen ermöglichen, wo überhaupt noch "Raum" für Antizipationen ist, die nicht schon gegenwärtig von der herrschenden Meinung im Rahmen des Beweisantragsrechts als zulässig angesehen werden und eventuell auch im Bereich der Amtsaufklärungspflicht gestattet werden können. So kann dann auch beantwortet werden, ob die im 1. Kapitel aufgeführten gesetzgeberischen Aktivitäten tatsächlich zu einer Begrenzung des Umfangs der Beweisaufnahme geführt haben.

1 Hingewiesen sei daher auf die umfangreiche Arbeit ter Veens "Beweisumfang und Verfahrensökonomie im Strafprozeß ", insbesondere die dort im 4. Kapitel dargestellten Beobachtungen zur "Konkretisierung des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung bei der Auslegung im Ablehnungssystem des Beweisantragsrechts (§ 244 Abs. 3 StPO)", die ihrerseits auf einer umfassenden Analyse von Schrifttum und Rechtsprechung beruhen.

8 Schulenburg

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2. Teil: Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots

Von der herrschenden Meinung abweichende Ansichten werden selbstverständlich dann in die Diskussion miteinbezogen werden, wenn sie gewichtige Argumente für oder gegen die Zulässigkeit von Antizipationen beinhalten. 4. Kapitel

Zulässigkeitsbestimmende Faktoren § 1 Allgemeine Vorgaben für die Zulässigkeit von Beweisantizipationen Die im 2. Kapitel ausgeführten Überlegungen haben gezeigt, daß die Funktion des Beweisantizipationsverbotes an den normativen Grenzen der Wahrheitserforschungspflicht auszurichten ist, die den Umfang der durch das Gericht anzustellenden Ermittlungen dahin beschränken, nur solchen konkreten Anhaltspunkten nachzugehen, die auf Sachverhaltsmodifikationen hinweisen. Dementsprechend sind mit der Zuverlässigkeit der Sachverhaltserforschung solche Beweisantizipationen als Begründung für den Verzicht auf eine Beweiserhebung vereinbar, bei denen mit Blick auf den möglichen Einfluß bei der abschließenden Gesamtbeweiswürdigung anhand intersubjektiv nachvollziehbarer sachlicher Kriterien mit größtmöglicher Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß eine Beweiserhebung die Wahrheitsermittlung fördern könnte. Dies ist der Fall, wenn eine Beeinflussung der abschließenden Überzeugungsbildung durch eine Beweiserhebung gar nicht möglich ist oder nUr bestätigende Ergebnisse zu erwarten sind. Eine solche Antizipation birgt dann nur das abstrakte Risiko in sich, daß sich das Geschehen anders abgespielt haben könnte, als es sich nach den bisherigen Feststellungen darstellt, und bedeutet daher keine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen. Dementsprechend lassen sich für die Bestimmung von Inhalt und Umfang des Verbotes folgende allgemeine Aussagen treffen: Inhalt des Verbots. - All jene Antizipationsvarianten müssen als unzulässig angesehen werden, die nicht mit größtmöglicher Sicherheit die Prognose erlauben, entweder daß eine Beeinflussung der abschließenden Überzeugungsbildung durch das Ergebnis einer Beweiserhebung gar nicht möglich ist oder aber daß nur die bisherigen Feststellungen bestätigende Ergebnisse zu erwarten sind. Sie stellen eine konkrete Gefahr für die Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellung dar.

Ihre Untersagung bildet den Inhalt des Beweisantizipationsverbots. Werden sie dennoch als Begründung für den Verzicht auf eine Beweiserhebung eingesetzt, bedeutet dies einen Verstoß gegen das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung. Grenzen des Verbots. - Dagegen sind Antizipationvarianten, die eine größtmöglich sichere Prognose ermöglichen, daß ein erhobener Beweis die Wahrheitsfin-

4. Kap.: Zulässigkeitsbestimmende Faktoren

115

dung nicht fördern kann, mit der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsermittlungen vereinbar und können daher zugelassen werden. Sie gefährden die Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen allenfalls abstrakt. Inhaltlich unterfallen sie gerade nicht dem Verbot, sondern markieren vielmehr seine Grenzen. Ausnahmen des Verbots. - Sie sind dort anzusiedeln, wo eine vorweggenommene Beurteilung einer Beweismöglichkeit grundsätzlich eine Gefährdung der Wahrheitsermittlungen bedeuten würde, es sich im Einzelfall aber aufgrund besonderer hinzutretender tatsächlicher Umstände rechtfertigen läßt, dennoch davon auszugehen, daß eine Beweiserhebung die Wahrheitsermittlung nicht fördern kann; eine konkrete Gefahr kann dann für die Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen ausgeschlossen werden. Angesichts der möglichen nachteiligen Folgen von Fehleinschätzungen für die Sachverhaltserforschung können solche Antizipationen nur restriktiv zugelassen werden. Wenn sie aber zugelassen werden, begrenzen sie ebenfalls das Beweisantizipationsverbot, es wird jedoch auf eine Fixierung dieser Grenzen verzichtet. Der Umfang des Beweisantizipationsverbots ist hier quasi veränderlich. Durchbrechungen des Verbots. - Als solche werden im weiteren Verlauf der Arbeit diejenigen Antizipationen verstanden, die nicht als Grenzen oder (begrenzende) Ausnahmen im oben genannten Sinne angesehen werden können, also unzulässig sind, und dennoch von Rechtsprechung und Literatur im Rahmen der Interpretation der Ablehnungsgründe aufgrund sachfremder, d. h. nicht an der Problematik der Wahrheitsfindung orientierter Erwägungen als zulässig angesehen werden, ohne daß dies durch andere, mit der Wahrheitserforschungspflicht konkurrierende anerkannte Prozeßmaximen gerechtfertigt werden könnte. Diese Antizipationen lediglich als unzulässigen Verstoß gegen das Beweisantizipationsverbot zu bezeichnen und sie damit sonstigen Fehlern bei der vorweggenommenen Beurteilung eines Beweises gleichzustellen, würde nicht genügend die Sachfremdheit der herangezogenen Rechtfertigungsüberlegungen herausstellen.

Als eine derart sachfremde Rechtfertigung von Beweisantizipationen mit der Folge von systemwidrigen Verkürzungen der Beweisaufnahme wurde schon die Berücksichtigung verfahrensökonomischer Gesichtspunkte bei der Beurteilung der Zulässgkeit von Antizipationen bewertet. 2 Probleme der Tatsachenermittlung werden dabei ignoriert, und eine anerkannte Maxime der Prozeßwirtschaftlichkeit ist in der gegenwärtig geltenden Strafprozeßordnung nicht verankert. Diese hier vorgenommene Kategorisierung findet ihren Ursprung im wesentlichen in einem Systematisierungsansatz, der von Herdegen in den frühen 90er Jahren in bezug auf das Verhältnis der Ablehnungsgründe zum Beweisantizipationsverbot erarbeitet wurde, den er inzwischen aber - wie noch zu erläutern ist - zu Unrecht vollständig wieder aufgegeben hat. 2 Siehe oben 2. Kapitel § 3 B.; vgl. hierzu auch LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 185, wonach ein Beweisantrag nicht aus sachfremden Gründen abgelehnt werden dürfe. Unzulässig sei daher eine Ablehnung mit der Begründung, er sei höchst "unökonomisch".

g*

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2. Teil: Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots

Ausgehend von der Prämisse, daß das Verbot der Vorwegnahme des Ergebnisses von Beweisen3 "Kernstück des Beweisantragsrechts" ist, sah er nur solche Ablehnungsgründe als im Einklang mit dem Beweisantizipationsverbot stehend, "die dem Verbot nicht widersprechen oder die es aus normativen Erwägungen begrenzen", d. h. mit dem Verbot zwar nicht völlig zu vereinbaren sind, aber aus Gründen eines geordneten Verfahrensablaufs hinzunehmen sind. 4 Diesen Ansatz hatte Herdegen dahingehend ausgearbeitet, daß er die Ablehnungsgründe in solche unterteilte, die im Falle einer Ablehnung eines Beweisantrags das Beweisantizipationsverbot nicht betreffen oder es möglicherweise tangieren und trotzdem eine Ablehnung gestatten. 5 Verglichen mit der hier vorgenommenen Unterteilung stellen diejenigen Ablehnungsgründe und die darin enthaltenen Antizipationen, die das Beweisantizipationsverbot nicht betreffen bzw. ihm nicht widersprechen, die oben angesprochenen Grenzen dar. Ebenso entsprechen diejenigen Ablehnungsgründe mit den ihnen immanenten Antizipationen, die das Verbot tangieren, aber aus normativen Erwägungen begrenzen, den Ausnahmen des Verbots. Zwar dürfen diese normativen Erwägungen nicht an sachfremden prozeßökonomischen Zielen ausgerichtet werden - wie es die Ausrichtung Herdegens an "einem geordneten Verfahrensablauf' anzudeuten scheint. Jedenfalls aber kann die Frage, ob eine Antizipation ausnahmsweise hingenommen werden kann, obwohl sie generell eine Gefährdung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen bedeutet, nur durch normative Überlegungen beantwortet werden. 6 Inzwischen hält es Herdegen nicht mehr für sinnvoll, die Interpretation der Ablehnungsgründe an dem Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung zu messen, weil die gesetzgeberische Ausgestaltung und Ausformung des Verbots 3 Herdegen meint ausdrücklich nicht ein Verbot der Vorwegbeurteilung der Relevanz eines Beweises, vgl. KK3 , § 244 Rn. 65; siehe auch Rn. 74. 4 KK 3 -Herdegen, § 244 Rn. 65; ders., Meyer-GS, 189 f. 5 Herdegen, Abhandlungen, 53; das Verbot werde nicht tangiert durch die Ablehnungsgründe des Erwiesenseins, der Wahrunterstellung und der Offenkundigkeit (auch des Gegenteils). Antizipatorische Erwägungen ließen dagegen die Ablehnungsgründe der völligen Ungeeignetheit, der Unerreichbarkeit und der Prozeßverschleppung zu, sowie die Ablehnungsgründe der eigenen Sachkunde des Gerichts und des durch ein Gutachten schon bewiesenen Gegenteils; vgl. demgegenüber die Terminologie von Engels GA 1981,26, wonach sämtliche Ablehnungsgründe ihre Legitimation darin finden, daß sie nicht mit dem Beweisantizipationsverbot kollidieren. 6 Siehe hierzu auch Alsberg/Nüse/Meyer, 418 f., wonach Ausnahmen vom Beweisantizipationsverbot dort zulässig sein sollen, wo andere Erfahrungssätze (d. h. im Gegensatz zu dem, das Ergebnis und Wert eines Beweises nicht mit Sicherheit antizipiert werden können) vermitteln, daß ein bestimmter Beweis mit einem bestimmten Beweismittel nicht zu führen ist. Engels GA 1981, 24, 26 scheint dagegen Ausnahmen für undenkbar zu halten, da nach seiner Auffassung § 244 III den Kreis der Ablehnungsgründe, die nicht mit dem Beweisantizipationsverbot kollidieren, erschöpfend umschreibe. Daneben seien keine weiteren Griinde denkbar, die ein Unterlassen der Beweiserhebung rechtfertigen könnten, ohne dem Verbot zu widersprechen.

4. Kap.: Zulässigkeitsbestirnmende Faktoren

117

durch die Ablehnungsgriinde zu akzeptieren sei. Entscheidend für die Zulässigkeit einer Antizipation sei lediglich, daß diese Antizipation dem Beweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit entspreche, also das Ergebnis einer intersubjektiv akzeptablen, in hohem Maß plausiblen, rationalen Argumentation seC. Da Herdegens Standpunkt auch die Berechtigung des hier verfolgten Lösungsweges anzuzweifeln scheint, seien kurz einige Bemerkungen gestattet: Angesichts der Tatsache, daß Herdegen gleichzeitig davon ausgeht, daß das Beweisantizipationsverbot und damit das Beweismaß der hohen Wahrscheinlichkeit auch im Bereich der Amtsaufklärungspflicht gilt8 , weil es nicht zu rechtfertigen sei, hier die Begriindungsanforderungen an eine Antizipation zu senken, vermag diese Abkehr von einer Strukturierung wenig zu überzeugen. Selbst wenn man der Auffassung sein sollte, daß der Gesetzgeber im Bereich des Beweisantragsrechts die Entscheidung über die Zulässigkeit von Beweisantizipationen getroffen hat und damit eine Strukturierung der Ablehnungsgründe überflüssig ist, so bedeutet dies nicht, daß zugleich hinsichtlich der Beurteilung der Zulässigkeit von Antizipationen auf eine Systematisierung verzichtet werden muß. Schließlich hat das Verbot ja gerade im Bereich der Amtsaufklärungspflicht keine Ausgestaltung durch gesetzgeberische Vorgaben erfahren. Dementsprechend kann die Zulässigkeit von Antizipationen in diesem Bereich gar nicht anders beurteilt werden als an den Vorgaben des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung, da andernfalls überhaupt nicht festgelegt werden kann, wann bestimmte sachliche Kriterien zum Ausdruck bringen, daß eine Antizipation keine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen bedeutet. Im übrigen ist nicht nachvollziehbar, warum sich die Auslegung der Ablehnungsgriinde des Beweisantragsrechts nicht um eine möglichst große Beriicksichtigung der Zielsetzung des Beweisantizipationsverbots bemühen sollte, so daß die Ablehnungsgriinde hierfür doch im oben genannten Sinne am Beweisantizipationsverbot gemessen werden können.

§ 2 "Zweispurigkeit" der die Zulässigkeit einer Beweisantizipation bestimmenden Faktoren Die weiteren Darlegungen sollen zeigen, daß die Zulässigkeit einer Beweisantizipation maßgeblich von zwei Faktoren bestimmt wird, die zwar jeder eigenständige Bedeutung haben, letztlich aber erst in ihrer Kombination die abschließende Beurteilung gestatten, ob eine Beweisantizipation die Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen beeinträchtigt. Als Folge dieser "Zweispurigkeit" der zulässigkeitsbestimmenden Faktoren ergibt sich für die Reichweite des Beweisantizipa7 Herdegen, Boujong-FS, 789 f. i. V. m. 782; ausführlich zu diesem Beweismaß und den sich daraus ergebenden Begründungsanforderungen siehe auch Herdegen, Abhandlungen, 62 f. und 122 ff. sowie 156 f. 8 Herdegen, Boujong-FS, 783 f.

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2. Teil: Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots

tionsverbots, daß es zwar tatsächlich entsprechend der Vermutung der h. M. von Bedeutung ist, ob das Beweisantragsrecht oder nur die Amtsaufklärungspflicht gilt, andererseits aber auch entscheidend sein kann, ob ein Beweisantrag gestellt wurde oder nicht. Der erste Faktor wird durch das einer konkreten Antizipationsvariante anhaftende "Unsicherheitspotential" für die Zuverlässigkeit der Sachverhaltserforschung bestimmt. Als zweiter Faktor entscheidet die tatsächliche Beweissituation, die sich aus dem Zusammentreffen von tatsächlicher Beweislage und der Qualität eines Hinweises auf eine Beweismöglichkeit, einem Beweishinweis9 , ergibt, in welchem Umfang der Richter bei seiner Prognose an die Grundsätze des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung gebunden ist.

A. Bedeutung der konkreten Antizipationsvariante In der allgemein geführten Diskussion und der speziell um die Bedeutung der Unterscheidung von prospektiver und retrospektiver Beweiswürdigung erfolgten Auseinandersetzung \0 deutet sich an, daß vor allem der konkreten Antizipationsvariante, also der Art und Weise, wie der Richter zu der Feststellung gelangt, daß ein erkennbarer Beweis keine konkreten Anhaltspunkte für Sachverhaltsmodifikationen aufweist, für die Zulässigkeit einer Antizipation ein erheblicher Stellenwert zukommt. Daher soll im weiteren Verlauf der Arbeit (unten 5. Kapitel) aufgezeigt werden, daß mit der im 3. Kapitel ausgearbeiteten Unterscheidung von Ergebnis, Gegenstand und Anknüpfungspunkt einer Beweisantizipation und der daraus resultierenden Kombinationsmöglichkeiten eine Vorentscheidung für die Zulässigkeit einer Antizipation getroffen wird. Es gibt Antizipationsvarianten, die für sich genommen schon nicht geeignet sind, eine sichere Prognose zu ermöglichen, daß eine erkennbare Beweismöglichkeit keine konkreten Anhaltspunkte für Sachverhaltsmodifikationen enthält. Entsprechend dieser These orientiert sich auch der Aufbau innerhalb des folgenden 5. Kapitels an der Systematik der Antizipationsvarianten, wie sie im 3. Kapitel herausgearbeitet wurde, und nicht an der Reihenfolge der Ablehnungsgründe des Beweisantragsrechts. Denn die Interpretation der Ablehnungsgründe soll an den im 3. Kapitel dargelegten Anforderungen des Beweisantizipationsverbots gemessen werden, nicht umgekehrt. Zudem ermöglicht es dieser Aufbau, den Besonderheiten einzelner Ablehnungsgründe Rechnung zu tragen. Einige Ablehnungsgründe vereinen nämlich - wie später noch ausführlich darzulegen sein wird - mehrere 9 Mangels Alternative soll im folgenden der Begriff des Beweishinweises anstatt der umständlichen Formulierung "Hinweis auf eine Möglichkeit zur weiteren Sachaufklärung" benutzt werden. 10 Siehe oben 3. Kapitel § 2 B. III.

4. Kap.: Zulässigkeitsbestimmende Faktoren

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Antizipationsvarianten (Ablehnungsgründe der Wahrunterstellung und der Unerreichbarkeit). Eine abschließende Aussage darüber, welche Anforderungen sich aus dem Beweisantizipationsverbot für die Interpretation dieser Ablehnungsgründe ableiten lassen, läßt sich also erst dann treffen, wenn die Zulässigkeit der einzelnen Antizipationsvarianten untersucht worden ist. Gleiches gilt für die Regelungen des Beweisantragsrechts zum Sachverständigen- und Augenscheinsbeweis, die insoweit eine Sonderstellung unter den Ablehnungsgründen einnehmen, als diesen Beweismitteln nach verbreiteter Auffassung eine besondere Natur zukommen SOlllI. Schließlich richtet sich die Ablehnung der Vernehmung eines Auslandszeugen wie beim Augenscheinsbeweis nach der Aufklärungspflicht, so daß zunächst feststehen muß, wie diese durch das Beweisantizipationsverbot begrenzt wird. Der Frage der Vereinbarkeit der Ablehnungsgründe der Unerreichbarkeit und Wahrunterstellung, sowie der Ablehnungsmöglichkeiten beim Augenscheins- und Sachverständigenbeweis und dem Auslandzeugen bleibt daher ein eigenes Kapitel - das 8. Kapitel vorbehalten. Im folgenden Kapitel soll daher zunächst die Zulässigkeit der einzelnen Antizipationsvarianten geklärt werden, beginnend mit der Beweisantizipation im engeren Sinne, also jener Antizipation, bei der sich das Gericht auf seine Überzeugung vom Gegenteil beruft. Anschließend gilt es dann, die Zulässigkeit der Beweisantizipationen im weiteren Sinne zu untersuchen, angefangen mit der Antizipation des Sachzusammenhangs, gefolgt von der Antizipation der rechtlichen und mittelbaren Erheblichkeit bishin zur Antizipation des erfolgreichen Nachweises der Beweisbehauptung, jeweils hinsichtlich sämtlicher möglicher Untergruppen. B. Bedeutung der tatsächlichen Beweissituation

Letztlich kann die Zulässigkeit einer Antizipation abschließend jedoch erst dann beurteilt werden, wenn auch die tatsächliche Beweissituation, wie sie sich im Moment der antizipierenden Würdigung eines Beweises darstellt, in die Überlegungen mit einbezogen wird. Es geht also um die Frage, welchen Einfluß die tatsächliche Beweislage und die Qualität eines Beweishinweises auf die Zulässigkeit einer Antizipation haben. Ansatzweise kommt diese Überlegung auch in der wissenschaftlichen Diskussion zum Ausdruck, ohne daß ihr jedoch bisher eingehend nachgegangen worden wäre. So wird von der h. M. häufiger die Überlegung vorgebracht, daß die Suche nach Wahrheit dort anzusetzen habe, wo zur Aufklärung einer Tatsache noch nichts unternommen worden sei und der Richter noch keine Überzeugung entwickelt habe, und daß ein weiteres Beweisverfahren dort sinnlos erscheine, wo sich schon eine persönliche Gewißheit herausgebildet habe. 12 Dahinter steht der Gedanke, daß Engels GA 1981,33 und FristerZStW 105,346; auch Alsberg/Nüse/Meyer, 739. Vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, 22; ter Veen, 49; siehe auch oben 1. Kapitel § 1 A. a. E.; B. I. und 11. II

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2. Teil: Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots

Aufklärung vor allem da nötig ist, wo noch keine Feststellungen getroffen wurden, während für den Richter diese Notwendigkeit weniger ersichtlich ist, wenn schon umfangreiche Feststellungen getroffen wurden und aus seiner Sicht der Sachverhalt genügend aufgeklärt ist. Schlüchter macht die Zulässigkeit von Antizipationen sogar ausdrücklich vom Zeitpunkt abhängig, in dem ein Beweisantrag gestellt wird. Je länger die Beweisaufnahme andauere und je später ein Beweisantrag gestellt werde, desto zulässiger werde eine Beweisantizipation, und sie sei schließlich erlaubt, wenn jeder vernünftige Zweifel am bisher festgestellten Sachverhalt schweige. 13 Der Umfang der Aufklärungspflicht und damit auch des Beweisantizipationsverbots wird also von der tatsächlichen Beweislage abhängig gemacht. Zum anderen wird die Zulässigkeit einer Antizipation immer auch daran geknüpft, ob das Beweisantragsrecht gilt (so die h. M.) oder wenigstens ein Beweisantrag gestellt wurde (so die Identitätslehre).14 Schließlich diskutieren vor allem Vertreter der Identitätslehre, ob das Beweisantizipationsverbot nur bei der Entscheidung über einen Beweisantrag zu beachten ist oder auch bei sonstigen Beweis anregungen. 15 Dies gibt Grund zu der Annahme, daß auch die unterschiedliche Qualität eines Beweishinweises 16 verschieden starken Einfluß auf den richterlichen Erkenntnisprozeß hat und damit ein unterschiedlich gewichtiges Indiz dafür sein kann, ob ein Beweis Auswirkungen auf die abschließende Überzeugungsbildung haben kann. Diese Vermutung findet ihre Stütze außerdem in der Überlegung, daß sich die Möglichkeit einer Sachverhaltsbeeinflussung durch eine Beweisaufnahme um so konkreter darstellt, je bestimmter ein Beweishinweis ist. Im 6. Kapitel wird sich die Arbeit diesem Themenkomplex zuwenden. Es soll gezeigt werden, daß die Zulässigkeit einer Antizipation tatsächlich dadurch mitbestimmt wird, welche Situation der Richter bei der Entscheidung über eine Beweisaufnahme jeweils vorfindet und seinen Erkenntnisprozeß beeinflußt. So hat es durchaus unterschiedliche Bedeutung, ob ein Beweishinweis nur vage oder ganz konkrete Hinweise enthält und ob in einem Fall zu einer Tatsache bzw. einem Tatsachenkomplex schon Feststellungen getroffen wurden oder noch nicht oder die bisherigen Feststellungen bisher nur eine unsichere Grundlage für die richterliche Überzeugungsbildung bieten. Soweit letzteres allerdings als Begründung dafür herangezogen wird, daß das Beweisantizipationsverbot im Bereich der Amtsaufklärungspflicht weniger weit Schlüchter, Weniger ist mehr, 45. Vgl. oben 1. Kapitel § 1 B. I. 15 Siehe dazu Bergmann, 142 ff.; Engels, 58 ff.; Wesseis JuS 1969,5. 16 Diese Qualität variiert hinsichtlich Bestimmtheit und Form des Beweishinweises. So kann ein Beweisantrag vorliegen oder aber sich ein möglicherweise ermittelbares Beweismittel aus den Akten ergeben. 13

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5. Kap.: Die Antizipationsvariante als zulässigkeitsbestirnmender Faktor

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reichen soll als im Rahmen des Beweisantragsrechts, wurde schon oben 17 festgestellt, daß dies mit der Funktion des Beweisantizipationsverbots nicht vereinbar sein kann. Denkbar ist nur, daß der Umfang des Beweisantizipationsverbots generell, also sowohl innerhalb des Beweisantragsrechts als auch der Amtsaufklärungspflicht davon abhängt, ob schon Feststellungen getroffen wurden oder noch nicht. Die Anknüpfung an das jeweilige Stadium der Beweisaufnahme kann also nicht als eventuelle Begründung für eine unterschiedliche Reichweite des Verbots der vorweggenommenen Beweiswürdigung dienen, sondern nur für eine Begrenzung des Umfangs der Wahrheitserforschungspflicht und damit des Beweisantizipationsverbots allgemein. Weiter soll auch der Bedeutung der Qualität des Beweishinweises für den Umfang des Antizipationsverbotes nachgegangen werden, wobei vor allem die wechselseitigen Abhängigkeit der beiden Komponenten - tatsächliche Beweislage und Beweismittelqualität - aufgezeigt werden soll. Es ist nämlich schon jetzt erkennbar, daß sich diese beiden Faktoren in ihrer Bedeutung für den tatrichterlichen Erkenntnisprozeß offensichtlich wechselseitig beeinflussen müssen: In einer Situation, in der noch keine Feststellungen getroffen wurden, müßte schon ein lediglich vage vorgebrachter oder erkennbarer Beweishinweis genügen, um ein gewichtiges Indiz dafür zu sein, daß eine Beweiserhebung die abschließende Gesamtbeweiswürdigung beeinflussen kann. Es könnte dann nicht ohne weiteres eine Förderung der Wahrheitsermittlung durch die Beweiserhebung ausgeschlossen werden. Umgekehrt erscheint dann, wenn schon umfangreiche Tatsachenfeststellungen vorliegen, nur ein sehr konkreter Beweishinweis noch geeignet, konkrete Zweifel an der Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen zu wecken. 5. Kapitel

Die Antizipationsvariante als zulässigkeitsbestimmender Faktor Der Überblick am Ende des dritten Kapitels 1 zeigt die ganze Bandbreite möglicher Antizipationskonstellationen auf. Für den Aufbau der weiteren Analyse ergibt sich daher folgende Sysematisierung: Zunächst soll die Zulässigkeit der Beweisantizipationen im engeren Sinne geklärt werden, also jener, die sich auf die Überzeugung vom Gegenteil stützen. Anschließend wird die Zulässigkeit sämtlicher Varianten der Beweisantizipation im weiteren Sinne untersucht, wobei innerhalb der Varianten jeweils nach prospektiver und retrospektiver Antizipation unterschieden werden wird. In diese Überle17 I

Siehe oben 2. Kapitel § 3 A. VI. 2. 3. Kapitel § 2 C.

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2. Teil: Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots

gungen zur Zulässigkeit einer Antizipationsvariante wird auch die in Wissenschaft und Rechtsprechung befürwortete Auslegung des jeweils diese Variante "verkörpernden" Ablehnungsgrundes einbezogen werden.

§ 1 Unzulässigkeit der Beweisantizipation im engeren Sinne (= Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil) Es wurde schon darauf hingewiesen2 , daß sich die Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil als Beweisantizipation im engeren Sinne von dem pro- und retrospektiven Begründungsansatz wesentlich dadurch unterscheidet, daß sie auf rein subjektive Erwägungen abstellt. Dies genügt aber nicht den Anforderungen des Beweisantizipationsverbots. Wenn es mit der Zuverlässigkeit der Sachverhaltserforschung nicht in Einklang zu bringen ist, daß die Entscheidung über die Beweiserhebung allein der subjektiven Entscheidung des Gerichts unterliegt, weil dadurch Raum für Fehleinschätzungen des Gerichts geschaffen wird, und deshalb die Entscheidung stattdessen anhand intersubjektiv nachvollziehbarer sachlicher Kriterien zu treffen ist,3 kann auch die allein subjektive Kriterien zum Ausdruck bringende Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil nicht als suffiziente Begründung für die vorweggenommene Abweisung einer Beweismöglichkeit anerkannt werden. In Wahrheit wird dadurch nur der Schein einer Begründung gesetzt, die die Antizipation inhaltlich aber nicht rechtfertigen kann. Eine Beweisantizipation mit dieser Pseudo-Begründung steht im absoluten Gegensatz zu den Zielsetzungen des Beweisantizipationsverbots. Somit bedeutet eine mit dieser "Begründung" versehene Verneinung sowohl des Sachzusammenhanges als auch der mittelbaren Erheblichkeit sowie des erfolgreichen Nachweises einer Tatsache immer eine Beeinträchtigung der Wahrheitsermittlung und muß daher immer und ausnahmslos unzulässig sein. Dies sei anband der bereits bekannten Beispiele noch einmal verdeutlicht: Auch wenn es noch so fernliegend erscheint, einem Beweisantrag nachzugehen, demgemäß ein Zeuge im Falle eines Kaufhausdiebstahls bekunden soll, daß der Schah von Persien am Tattag eine goldene Brille trug, obwohl es zur Klärung des strafrechtlich relevanten Sachverhaltes nur auf die Identifizierung des Täters ankommt; so ist es dennoch kein an sachlichen Kriterien orientiertes Argument, den Sachzusammenhang deshalb zu verneinen, weil die behauptete Tatsache nicht im Zusammenhang mit dem Geschehen stehe, von dem das Gericht schon überzeugt sei. Entsprechendes gilt bei einem aufzuklärenden Verkehrsunfall, bei dem es konkret möglich ist, daß ein Autofahrer beim Überholen eines Radfahrers gerade mit2

3

Siehe oben 3. Kapitel § 2 B. 11. Siehe schon oben 2. Kapitel § 3 A. IV. 4.

5. Kap.: Die Antizipationsvariante als zulässigkeitsbestimmender Faktor

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tels seines Handys telefoniert hat. Das Gericht darf weder die Geltung des Erfahrungssatzes, daß ein solches Fehlverhalten des Autofahrers in der Regel den Grund für den Unfall bedeutet, noch diese Schlußfolgerung im konkreten Fall mit der Begründung verneinen, es sei schon von dem Gegenteil, nämlich daß der Autofahrer sorgfaltsgemäß gefahren sei, überzeugt. Ebenso ist es unzulässig, wenn das Gericht auf die Vernehmung eines Zeugen verzichtet, der möglicherweise bekunden könnte, daß der Angeklagte zur Tatzeit ein Alibi hatte, weil es bereits davon überzeugt sei, daß der Angeklagte der Täter war, und deshalb es nicht für möglich hält, daß der Zeuge eine entsprechende Aussage machen wird oder daß sie glaubhaft wäre, das Beweismittel also für ungeeignet hält, die gegenteilige Überzeugung zu erschüttern. Dementsprechend darf diese Begründung auch nicht bei der Auslegung der Ablehnungsgründe des Beweisantragsrechts herangezogen werden, worüber in Rechtsprechung4 und Literatur5 auch Einigkeit herrscht. Genauso ist es aber auch im Bereich der Amtsaufklärungspflicht nicht vertretbar, die Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil als Rechtfertigung für den Verzicht auf eine Beweiserhebung heranzuziehen, 6 denn es ist nicht ersichtlich, daß in diesem Bereich geringere Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen zu stellen sind als im Bereich des Beweisantragsrechts. Demzufolge verstößt auch das Unterlassen einer Beweiserhebung im Bereich der Aufklärungspflicht mit der Begründung "der Sachverhalt sei eindeutig geklärt" oder es bestiinde ,,kein vernünftiger Zweifel" tatsächlich gegen das Beweisantizipationsverbot, 7 da diese Begründungen nichts anderes zum Ausdruck bringen, als daß der Richter sich schon eine Überzeugung vom Geschehensablauf gebildet hat, insoweit aber nur das Ergebnis der Überlegungen zum Ausdruck bringt, nicht aber nachvollziehbare Gründe. Das Verbot, den Verzicht auf eine Beweiserhebung mit der Überzeugung vom Gegenteil zu begründen, kann dementsprechend als Kern des Beweisantizipationsverbots ausgemacht werden und läßt sich schon jetzt als Beweisantizipationsverbot im engeren Sinne beschreiben.

4 Vgl. nur BGHR StPo § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 6 und § 244 Abs. 6 Beweisantrag 9; BGH StV 1993,621; StV 1994,62; StV 1997,567,568; OLG Hamburg StV 1999,81,82; weitere Nachweise bei LR-Gollwitzer, § 244 Fn. 632. 5 Vgl. nur LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 183; KK-Herdegen, § 244 Rn. 65; Kleinknechtl Meyer-Goßner, § 244 Rn. 46; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 82; Alsberg INüsel Meyer, 414. 6 So aber BayObLG VRS 59, 211, 213; OLG Stuttgart VRS 62, 459; AlsberglNüsel Meyer, 836; KleinknechtIMeyer-Goßner, § 384 Rn. 14; grundsätzlich auch Schlüchter, Strafverfahren, Rn. 823; Schmidt-Hieber JuS 1985,461. Siehe auch oben 1. Kapitel Fn. 109. 7 Siehe dazu oben 1. Kapitel § 1 B. ß. Im Ergebnis auch Engels GA 1981,24 Fn. 13, der in diesem Zusammenhang allerdings von einer unzulässigen Durchbrechung des Beweisantizipationsverbotes spricht.

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2. Teil: Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots

§ 2 Beurteilung der Zulässigkeit der Beweisantizipationen im weiteren Sinne Eine derartig verallgemeinerungsfähige Aussage läßt sich dagegen für die Zulässigkeit der übrigen im 3. Kapitel zusammengestellten Antizipationsvarianten nicht ohne weiteres machen, etwa dergestalt, daß eine retrospektive Antizipation unter Einbeziehung des bisherigen Beweisergebnisses stets unzulässig ist, während eine prospektive Antizipation ohne Bezugnahme auf die bisherigen Feststellungen immer mit dem Beweisantizipationsverbot im Einklang steht. Allerdings spricht die Tatsache, daß die Entscheidung über eine Beweiserhebung nur auf der Grundlage eines vorläufigen Verhandlungszwischenstandes getroffen werden kann, dafür, daß eine retrospektive Zwischenbeweiswürdigung, die ja gerade auf diesen Verhandlungszwischenstand Bezug nimmt, mit größeren Unsicherheiten für die Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellung verbunden sein müßte als eine prospektive. Denn der vorläufige Verhandlungszwischenstand variiert ständig mit Fortschreiten der Beweisaufnahme, während eine prospektive Würdigung hiervon gerade unabhängig ist. Letztlich entscheidend ist aber die Kontrollüberlegung, ob mit der jeweiligen Antizipationsvariante im Zeitpunkt der Entscheidung über die Beweiserhebung mit größtmöglicher Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß eine Beweismöglichkeit sachverhaltsmodifizierende Ergebnisse erbringen wird, so daß demzufolge die Erhebung des Beweises keinen Einfluß auf die abschließende Gesamtbeweiswürdigung haben kann. Nicht entscheidend kann dagegen sein, ob sich die Antizipation zugunsten eines Antragstellers auswirken kann, 8 denn diese Auswirkung kann, muß aber nicht mit der Gefahr für die Zuverlässigkeit der Sachverhaltserforschung identisch sein. Mit anderen Worten: Eine Antizipation kann nicht schon deshalb zulässig sein, weil sie sich positiv für einen Antragsteller auswirken kann, denn maßgeblich ist allein, ob diese Antizipation der Ermittlung der Wahrheit schadet oder nicht. Umgekehrt kann die Frage, ob eine Antizipation auf jeden Fall verboten werden muß, wenn sie sich zu Lasten des Antragstellers auswirkt, abschließend erst dann beurteilt werden, wenn auch der Einfluß der tatsächlichen Beweissituation, insbesondere der Qualität eines Beweishinweises auf die Zulässigkeitsbeurteilung untersucht wurde (unten 6. Kapitel). Zunächst aber sollen die Risiken geklärt werden, die in der antizipierenden Beurteilung des Sachzusammenhangs, der rechtlichen und mittelbaren Erheblichkeit sowie der Erfolgsaussichten des Nachweises einer Beweisbehauptung selbst angelegt sind.

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So aber Alsberg/Nüse/Meyer, 597; siehe auch schon oben 3. Kapitel § 2 A. 11.

5. Kap.: Die Antizipationsvariante als zulässigkeitsbestirnmender Faktor

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A. Prognose des Sachzusammenhangs

Bei der Beurteilung des Sachzusammenhanges einer Tatsache mit dem abzuurteilenden Geschehen geht es um die Feststellung, ob sich diese Tatsache unter den in der Anklage enthaltenen Tatvorwurf fassen läßt. Im 3. Kapitel wurde zunächst festgehalten, daß ein Sachzusammenhang dann nicht besteht, wenn sich die Tatsache unter keinem denkbaren Gesichtspunkt inhaltlich auf diesen Tatvorwurf bezieht. 9 Nachdem außerdem festgestellt werden konnte, daß sich die Aufklärungspflicht nur auf konkrete sachverhaltsmodifizierende Anhaltspunkte bezieht, kann diese Begriffsbestimmung dahingehend präzisiert werden, daß nicht schon ein rein abstrakter, d. h. nur bei Annahme einer außergewöhnlichen Verkettung von Umständen bestehender Zusammenhang eine Beweiserhebungspflicht auslöst, da das Gericht nach den allgemeinen Regeln menschlicher Erfahrung insoweit von dem "Nonnalfall" ausgehen muß, daß diese ungewöhnlichen Geschehensalternativen ausgeschlossen werden können, sofern keine Anhaltspunkte darauf hindeuten 10. Es handelt sich insoweit um eine Beurteilung, die unabhängig von Eignung und Wert eines möglicherweise benutzbaren Beweismittels und insbesondere losgelöst vom bisherigen Verhandlungszwischenstand, d. h. dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme, abstrakt erfolgt. Für die Frage, ob das Bestehen des Sachzusammenhangs vorweggenommen, d. h. ohne Durchführung einer Beweiserhebung beurteilt werden darf, läßt sich daraus ableiten, daß die Antizipation grundsätzlich zulässig ist, sofern sie ohne Bezug auf das bisherige Beweisergebnis, also prospektiv, vorgenommen wird. Das zuvor Gesagte läßt sich folgendennaßen begriinden: Die Abstraktheit der Prognose gewährleistet, daß eine Beurteilung des Sachzusammenhangs auch schon vor Durchführung der Beweisaufnahme vorgenommen werden kann, ohne daß dadurch eine Beeinträchtigung der Wahrheitsermittlung zu befürchten ist, sofern die Antizipation ihrerseits in der Argumentation fehlerfrei ist und nicht gegen Denkund Erfahrungssätze der Wissenschaft und Logik verstößt und sofern die Begriindung selbst auch erkennen läßt, aus welchen Griinden die Tatsache (nicht) in einer Beziehung zum Tatvorwurf steht. Sofern sich diese Griinde fonnulieren lassen, ist es mit der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen nicht nur vereinbar, den Sachzusammenhang positiv zu antizipieren (hier wird ja gerade angenommen, daß ein Beweis Anhaltspunkte für Sachverhaltsmodifikationen enthält), sondern es läßt sich dann - umgekehrt - auch mit größtmöglicher Sicherheit prognostizieren, daß eine Beweiserhebung zu dieser Tatsache die Wahrheitserforschung nicht fördern kann. Denn eine sachfremde Tatsache kann keinen Einfluß auf die abschließende Gesarntbeweiswürdigung finden. 11 Siehe oben 3. Kapitel § 2. Vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, 587 m. w. N. 11 Zu der umstrittenen Frage, ob die Beweiserhebung bei fehlendem Sachzusarnmenhang "unzulässig" ist oder aber "bedeutungslos", siehe nur LR-Gollwitzer, § 245 Rn. 30 m. w. N. und unten Fn. 15. Der Begriff der Unzulässigkeit der Beweiserhebung sollte für den Verstoß 9

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2. Teil: Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots

Der Zulässigkeit dieser Antizipation steht auch nicht der Einwand entgegen, daß durch die Nichterhebung eines Beweises u. U. ein Beweismittel verloren gehen könnte, das relevante Ergebnisse erbringen könnte. 12 Sofern ein Beweismittel erkennbar ist, ist immer umfassend zu priifen, ob es in die Beweisaufnahme einzubeziehen ist, weil es im Hinblick auf andere relevante Tatsachen die Möglichkeit weiterer Sachaufklärung aufweist. Dies hängt dann aber wiederum von der Relevanz dieser Tatsache ab und von der Möglichkeit ihres erfolgreichen Nachweises in Abhängigkeit von Beweismitteleignung und Beweismitte1wert. Sind aber keine konkreten Anhaltspunkte für sachverhaltsmodifizierende Ergebnisse erkennbar, so verwirklicht sich im Unterlassen der Beweiserhebung nur das abstrakte Risiko, daß sich das Geschehen anders abgespielt haben könnte, als es sich nach den bisherigen Feststellungen darstellt, oder daß überhaupt Feststellungen zu einer relevanten Beweisthematik getroffen werden können. Daß dieses Risiko dem Wahrheitserforschungsprozeß aber immenent ist, wurde schon ausführlich begriindet. 13 Die Sachzugehörigkeit darf also grundsätzlich antizipierend beurteilt werden. Andererseits aber muß die Antizipation des Bestehens des Sachzusarnmenhangs gerade wegen ihres abstrakten Charakters losgelöst vom bisherigen Verhandlungszwischenstand vorgenommen werden, damit die Argumentation logisch fehlerfrei ist. Wenn die Beurteilung der Sachzugehörigkeit ihrem Wesen nach nämlich ein abstraktes Urteil darstellt, kann sie nicht mit Feststellungen des konkreten Einzelfalles belegt werden. Das Gericht muß für alle denkrnöglichen Sachzusarnmenhänge offen bleiben, andernfalls würde das Urteil durch die Bezugnahme auf das bisherige Beweisergebnis verzerrt. 14 Es kann also nur eine prospektive, ohne Rekurs auf das Ergebnis der bisherigen Feststellungen durchgeführte Beurteilung der Tatsache auf ihre Sachzugehörigkeit eine zulässige Antizipation darstellen, während eine retrospektive Antizipation als Begriindung für den Verzicht auf eine Beweiserhebung nicht mit der Zuverlässigkeit der Wahrheitserforschung in Einklang gebracht werden kann. Dementsprechend ist es also zum Beispiel unzulässig, wenn das Gericht im Fall der Beweisaufnahme zu einem Kaufhausdiebstahl die Erhebung eines Beweises zum Thema, ob der Schah von Persien eine goldene Brille trug, mit der Begriingegen Beweiserhebungsverbote vorbehalten bleiben. Mit Marx NJW 1979, 1418 ff. läßt sich sagen, daß eine Beweiserhebung trotz fehlenden Sachzusammenhangs allenfalls überflüssig ist, nicht aber unzulässig. 12 Eigentlich wird dieses Bedenken nur im Zusammenhang mit der Befugnis zur Beurteilung der tatsächlichen Erheblichkeit vorgebracht, kann im vorliegenden Zusammenhang aber genauso vorgebracht werden, vgl. Anders, 147; Kühl, 72. 13 Siehe dazu oben 2. Kapitel § 3 A. V. 2. In diesem Sinne weist auch Alsberg/Nüse/ Meyer, 587 m. w. N. darauf hin, daß ein nur abstrakt bestehender Zusammenhang nicht genügt, um die Notwendigkeit der Beweiserhebung zu begründen. 14 So auch LR-Gollwitzer, § 245 Rn. 73; siehe auch Köhler NJW 1979, 351 mit dem Hinweis, daß auch Themen, die aus "gegensätzlich-parteilicher Sicht" in einer möglichen Schlußbeziehung zu konkreten Schuld- und Straffragen stehen, sachzugehörig sind.

5. Kap.: Die Antizipationsvariante als zulässigkeitsbestimmender Faktor

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dung verneint, diese Tatsache stehe in keinem Sachzusammenhang zum Ergebnis der bisherigen Feststellungen. Entscheidend ist allein, daß diese Tatsache keine Beziehung zum TatvoIWuif aufweist. Das Verbot des Rückgriffs auf das bisherige Beweisergebnis gilt im übrigen auch dann, wenn die Prognose positiv ausfällt, also der Sachzusammenhang bejaht wird; sie ist dann in jedem Fall logisch fehlerhaft begriindet. Sie stellt dann aus diesem Grunde eine unzulässige Antizipation dar, ist aber gegenüber einer negativen Beurteilung insoweit unschädlich, als sie allenfalls zu einem ,,zuviel" an Beweiserhebung führt, jedoch insoweit zu einer Fehlerquelle werden kann, als sich diese Fehleinschätzung auch in der abschließenden Beweiswürdigung niederschlagen kann. Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß die antizipierende Beurteilung des Sachzusammenhangs sowohl mit positivem als auch negativem Ergebnis zulässig ist, wenn sie ohne Bezugnahme auf das Ergebnis der bisherige Beweisaufnahme begriinden kann, daß eine Tatsache in keiner Beziehung zum Tatvorwurf steht. Diese Antizipationen stellen keine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Tatsachenfeststellungen dar und begrenzen damit das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung. Dagegen ist die negative wie die positive Antizipation mit retrospektivem Anknüpfungspunkt unzulässig und fällt unter das Verbot. Im gegenwärtig geltenden Beweisantragsrecht wird die Möglichkeit zur positiven wie negativen prospektiven Antizipation der fehlenden Sachzugehörigkeit sowohl durch den Ablehnungsgrund der "Bedeutungslosigkeit" (§ 244 III S. 2 2. Fall) als auch den Ablehnungsgrund des "fehlenden Sachzusammenhangs" (§ 245 11 S. 3 3. Fall) bei präsenten Beweismittel eröffnet. 15 Im Zusammenhang mit der Auslegung gerade des zuletzt genannten Ablehnungsgrundes wird in der Literatur regelmäßig darauf hingewiesen, daß die fehlende Sachzugehörigkeit nur aus dem objektiv fehlenden Sachzusammenhang zwischen der unter Beweis gestellten Tatsache und dem Gegenstand der Urteilsfindung hergeleitet werden dürfe,16 was zumindest erahnen läßt, daß eine Bezugnahme auf den Verhandlungszwischenstand für unzulässig gehalten wird. 17 Diesen Anforderungen wird demgegenüber die Rechtsprechung nicht gerecht, wenn sie die Floskel verwendet, eine Beweiserhebung könne "zur Wahrheitsfindung nichts beitragen,,18. Erstens bringt sie so - wie bei der Berufung auf die Überzeugung vom Gegenteil - nur das Ergebnis 15 Zur umstrittenen Frage, ob gegebenenfalls sogar ein Fall der "Unzulässigkeit" der Beweiserhebung vorliegt, siehe den Aufsatz von Marx NIW 1981, 1415 ff. sowie Alsberg/ Nüse/Meyer; 575,826 f.; LR-Gollwitzer; § 245 Rn. 71; differenzierend KK-Herdegen, § 245 Rn. 15 i. V. m. § 244 Rn. 67, 67a. 16 LR-Gollwitzer; § 245 Rn. 71; Marx NIW 1981, 1420; Rieß NIW 1978,2270; Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 8/976 S. 53; ausführlich dazu Anders, 94 ff. 17 LR-Gollwitzer; § 244 Rn. 73 stellt sogar ausdrücklich heraus, daß die Prognose nicht aus der Sicht eines sich bereits abzeichnenden Verfahrensergebnisses geschehen dürfe. lS BGHSt 17, 28, 29; 337, 343.

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2. Teil: Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots

der Überlegungen zum Ausdruck, nicht aber Gründe, läßt also eine rationale Argumentation vermissen,19 und zweitens könnte eine derartige Begründung auch unter Bezugnahme auf das bisherige Ergebnis entstanden sein.

B. Prognose der rechtlichen Erheblichkeit einer Tatsache Aus rechtlichen Gründen unmittelbar erheblich sind nur solche Tatsachen, die zu Tatumständen oder anderen Fakten gehören, die sich unmittelbar unter die Rechtssätze subsumieren lassen, die für die rechtliche Würdigung oder für die Bestimmung der Rechtsfolgen direkt relevant sind. Da sich die rechtliche Bedeutungslosigkeit einer Tatsache sowohl aus dem Fehlen des Subsumtionsverhältnisses der Tatsache zur Schuld- und Straffrage selbst als auch daraus ergeben kann, daß der subsumtionsfähigen Tatsache im konkreten Fall keine Entscheidungserheblichkeit mehr zukommen kann,2o muß die Zulässigkeit der ohne Durchführung der Beweisaufnahme erfolgenden vorweggenommenen Beurteilung der rechtlichen Erheblichkeit entsprechend dieser Differenzierung beurteilt werden.

I. Antizipierende Beurteilung des Subsumtionsverhältnisses

Ebenso wie die Beurteilung der Sachzugehörigkeit weist die Antizipation des Subsumtionsverhältnisses einen abstrakten Charakter auf. Schon oben im 3. Kapitel 21 wurde jedoch auf die strukturelle Besonderheit hingewiesen, daß letztere Variante der Antizipation gegenüber allen anderen Antizipationen die Sonderstellung einnimmt, daß sie nicht mittels einer tatsächlichen Überzeugungsbildung vorgenommen wird, sondern mittels rein rechtlicher Erwägungen. So kann z. B. ohne Rückgriff auf tatsächliche Gegebenheiten beurteilt werden, daß es für die Verwirklichung des Tatbestandes einer Unterschlagung gern. § 246 StGB nicht darauf ankommt, daß der Tater Gewahrsam an der unterschlagenen Sache begründet hat. Daraus folgt, daß diese Form der Re1evanzkontrolle nicht die mit einer vorweggenommenen tatsächlichen Überzeugungsbildung verbundenen Gefahren verfrühter Festlegung auf eine Sachverhaltsfeststellung beinhaltet und daher zu jeder Zeit des Verfahrens getroffen werden, also auch antizipiert werden kann. Daß ein Bezug auf tatsächliche Umstände zur Begründung der rechtlichen (Un-)Erheblichkeit fehlerhaft und damit unzulässig wäre, ist selbstverständlich. Soweit sich die Antizipation jedoch auf zutreffende rechtliche Erwägungen stützt, stellt sowohl die positive als auch die negative Antizipation der rechtlichen Erheblichkeit einer Tatsache keine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sach19

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Kritisch auch Köhler NJW 1979,351. Siehe oben 3. Kapitel § 2 A. I. 1. a). 3. Kapitel § 2 A. I. 2.

5. Kap.: Die Antizipationsvariante als zulässigkeitsbestimmender Faktor

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verhaltserforschung dar, weil mit größtmöglicher Sicherheit ausgeschlossen werden kann, daß eine Beweiserhebung die abschließende Gesamtbeweiswürdigung überhaupt beeinflussen könnte. Diese Antizipationen begrenzen somit den Geltungsbereich des Beweisantizipationsverbotes. Diese Grundsätze werden, soweit ersichtlich, auch bei der Auslegung des Ablehnungsgrundes der "Bedeutungslosigkeit" (§ 244 III S. 2 2. Fall) berücksichtigt. 22 Als problematisch erweist sich indes die Beurteilung der Zulässigkeit der Antizipation der konkreten Entscheidungserheblichkeit einer Tatsache. 11. Antizipierende Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit

Die Problematik dieser Antizipation ergibt sich daraus, daß sie nicht erfolgen kann, ohne daß sich das Gericht hinsichtlich des Vorliegens oder Nichtvorliegens anderer rechtlich relevanter Tatsachen schon abschließend eine Überzeugung gebildet hat. Denn diese Form der Antizipation setzt eine Bezugnahme gerade auf diese gewonnene Überzeugung voraus. So kann beispielsweise eine Tatsache, die die Schuldunfahigkeit des Angeklagten belegen soll, nur dann mit dem Verweis auf das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes als unerheblich behandelt werden, wenn das Gericht schon die Überzeugung gewonnen hat, daß die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes vorliegen. Angesichts der Tatsache, daß die Antizipation insgesamt nur auf der Grundlage eines grundsätzlich unvollständigen, da vorläufigen Verhandlungszwischenstandes erfolgt, erscheint eine Beeinträchtigung der Zuverlässigkeit der Sachverhaltsfeststellungen durch eine solche Antizipation allenfalls dann mit größtmöglicher Sicherheit ausgeschlossen, wenn hinsichtlich der rechtlichen Tatsache, aus deren Existenz bzw. Fehlen die Bedeutungslosigkeit der unter Beweis gestellten Tatsache abgeleitet wird, der Sachverhalt schon erschöpfend aufgeklärt worden ist und zukünftige Sachverhaltsmodifikationen infolge einer weiteren Beweisaufnahme ausgeschlossen werden können. Dies ist wiederum nur dann möglich, wenn es innerhalb der Gesamtheit der einen gesetzlichen Tatbestand bildenden Elemente Merkmale gibt, deren Vorliegen oder Fehlen unabhängig von der Existenz anderer den Tatbestand bildender Merkmale abschließend und umfassend festgestellt werden kann, so daß aus ihrem Vorliegen oder Fehlen auf die Bedeutungslosigkeit anderer Tatsachen geschlossen werden kann. Dies sei anhand zweier Beispielsfalle verdeutlicht: Die rechtliche Bedeutungslosigkeit einer Tatsache kann z. B. unproblematisch auf das Fehlen einer Prozeßvoraussetzung bzw. das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses gestützt werden. 23 De22 Siehe hierzu nur die Rechtsprechungsanalyse zur Bedeutungslosigkeit aus rechtlichen Gründen bei Alsberg / Nüse / Meyer, 580 ff. 23 Vgl. Alsberg/Nüse/Meyer, 581; LR-Gollwitzer, § 244 Rn. 221; SK-Schlüchter, § 244 Rn. 97.

9 Schulenburg

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2. Teil: Inhalt, Umfang und Reichweite des Beweisantizipationsverbots

ren Vorliegen bzw. Fehlen wird im Wege des Freibeweises ermittelt und kann abschließend aufgeklärt werden, ohne daß es auf Feststellungen in der Sache ankommt. Dies gilt auch für die sog. "doppelrelevanten Tatsachen". Die Doppelrelevanz einer Tatsache schließt nicht aus, daß zunächst Freibeweis zur Klärung der prozessualen Frage erhoben wird?4 Wenn auf diese Weise ein Verfahrenshindernis festgestellt wird, muß über die Tatsache, wenn sie auch noch für die Schuld- und Rechtsfolgenfrage Bedeutung erlangt hätte, nicht mehr der (Streng-)Beweis erhoben werden. Dementsprechend kann bei Fehlen einer Prozeßvoraussetzung bzw. Vorliegen eines Verfahrenshindernisses, beispielsweise dauernder Verhandlungsunfähigkeit oder Verjährung, auf eine (weitere) Ermittlung bzgl. Tatsachen, die sich auf den Sachverhalt als solchen beziehen, verzichtet werden. Sie sind dann rechtlich bedeutungslos. 25 Dagegen kann über die innere Willensrichtung des T