Das Recht der Tiere in der Zivilisation. Einführung in Naturwissenschaft, Philosophie und Einzelfragen des Vegetarismus 3921288185, 9783921288184

Brockhaus, Wilhelm et al. (Hrg.): Das Recht der Tiere in der Zivilisation. Einführung in Naturwissenschaft, Philosophie

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German Pages 309 [293] Year 1975

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Das Recht der Tiere in der Zivilisation. Einführung in Naturwissenschaft, Philosophie und Einzelfragen des Vegetarismus
 3921288185, 9783921288184

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Das Recht der Tiere in der Zivilisation Einführung in Naturwissenschaft, Philosophie und Einzelfragen des Vegetarismus

Herausgegeben von Prof. Wilhelm Brockhaus mit Beiträgen von 20 Mitarbeitern

Das Recht der Tiere in der Zivilisation Einführung in Naturwissenschaft, Philosophie und Einzelfragen des Vegetarismus

Herausgegeben von

WILHELM

BROCKHAUS

unter Mitarbeit von

ELISABETH BEGOIHN (Stuttgart) RALPH BIRCHER (Zürich) K E N N E T H DALZIEL O'BRIEN (Reading, U. K.) GERARDINA L. VAN DALFSEN (Hilversum) RUDOLF DAUR (Stuttgart) WILHELMINA EIKEBOOM-BROEKMAN (Amsterdam) VERA GOTTKE (Berlin) BRIAN G U N N - K I N G (Antrim, U. K.) JACK W. LUCAS (Manchester) GEORG MAGG (Walchensee) SHRI JAYANTILAL N. MANKAR (Bombay) PHILIP LEON PICK (London) UDO RENZENBRINK (Bad Liebenzell) OTTO ROBINSOHN (Haifa) HERBERT R O H N E R (Oberhausen) SWARAN S I N G H SANEHI (Jullundur, Indien) KÄTHE SCHÜDER (Lübeck-Travemünde) CARL ANDERS SKRIVER (Lübeck-Travemünde) GÜNTHER STOLZENBERG (Hildesheim) und OTTO WELKER (Mühlacker)

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

11

Einleitung: Vorläufige Definition des Vegetarismus Die Verflechtung des menschlichen Lebens mit den Tieren

13 14

I. Naturwissenschaftliche Gründe für den Vegetarismus

17

A. Fragen der Ernährung 1. Biologische Gegebenheiten Phylogenetische Gesichtspunkte Morphologische und anatomische Gesichtspunkte Physiologische Gesichtspunkte Das Verhalten des Menschen hinsichtlich der Ernährung 2. Historische Gegebenheiten Naturvölker und Kulturvölker (RALPH BIRCHER) Gesundheit und fleischfreie Kost in der Hochzivilisation (R. BIRCHER) . Sportliche Leistungen von Vegetariern ( G Ü N T H E R STOLZENBERG) . Zum Vergleich der Kostformen (JACK LUCAS, K Ä T H E SCHÜDER) . . Eine neue Ernährungslehre tut not!

19 19 19 22 30 41 59 59 69 74 81 82

B. Versorgungsprobleme 1. Der alltägliche Bedarf 2. Die Landwirtschaft der Vegetarier Grundsätzliches Die veganische für Vegetarier annehmbare Gartenbaumethode ( K E N N E T H DALZIEL O'BRIEN) 3. Das ökonomische Argument

84 84 86 86

II. Sittliche Gründe für den Vegetarismus

88 93

101

A. Einleitung

103

B. Die ethische Begründung des Vegetarismus Blick auf das Tierreich Die ethisch relevanten Eigenschaften der Tiere Die ethisch bedeutsamsten Gesichtspunkte zur Charakteristik der Tiere . . . Die Ehrfurcht vor dem Leben Das Recht der Tiere Das Recht der Tiere in der Philosophie L. NELSONs Umgang mit Pflanzen Vom Recht der Sentimentalität Konsequenzen zum Vegetarismus

105 105 108 115 119 125 136 147 149 152

C. Die Natur in der Sicht des Vegetarismus

156

III. Vegetarische Polemik Jagd und Tierfang Tierversuche Gefangenhaltung, Tierzucht Tierkämpfe, Pferderennen

IV. Religionen und Weltanschauungen zum Vegetarismus Vegetarismus in jüdischer Sicht ( P H I L I P L E O N PICK) Vegetarismus im Fundament des Christentums (CARL ANDERS SKRIVER) . Vegetarismus in der Sicht des katholischen Vegetariers (GEORG MAGG) . . Evangelisches Christentum und Vegetarismus (RUDOLF DAUR) Vegetarismus in der Sicht der Siebenten-Tags-Adventisten, Ref.-Bew. ( O T T O WELKER) Hinduismus und Ernährungsweise (JAYANTILAL N. MANKAR) Vegetarismus im Sikhismus (SWARAN S I N G H SANEHI) Buddhismus und Vegetarismus Lehrte BUDDHA die Gewalt? (SWARAN S I N G H SANEHI) Mazdaznan und Vegetarismus (ELISABETH B E G O I H N ) Vegetarismus in anthroposophischer Sicht ( U D O R E N Z E N B R I N K )

V. Die Zukunft

VI. Einzelprobleme im Zusammenhang mit dem Vegetarismus

169 171 189 202 207

211 213 218 231 234 239 242 247 251 252 254 256

259

263

Erziehung zum Vegetarismus? (WILHELMINA EIKEBOOM-BROEKMAN) . Vegetarismus in Erziehung und Unterricht Zur Psychologie des Vegetarismus, des Fleischessens und der Vegetarier ( G E R A R D I N A L. V A N DALFSEN) Vegetarier-Siedlungen Oranienburg-Eden Amirim ( O T T O R O B I N S O H N ) Die Internationale Vegetarier-Union (IVU) (BRIAN G U N N - K I N G ) . . . . Umweltverschmutzung und vegetarische Lebensweise (JACK LUCAS) . . . . Die Pockenimpfung und ihre Diskussion (VERA GOTTKE)

265 268

Liste der Mitarbeiter

307

Die nicht mit Verfassernamen versehenen Abschnitte stammen vom Herausgeber.

272 279 280 284 286 288 296

Bei allem was heilig ist in unseren Hoffnungen für das Menschengeschlecht beschwöre ich diejenigen, welche die Wohlfahrt der Menschheit wünschen und die Wahrheit lieben, die vegetarischen Lehren unbefangen zu prüfen. SHELLEY: Vorrede zu »Queen Mab«.

Ein Grund für den Vegetarismus sollte mehr, als gewöhnlich geschieht, herangezogen werden. Ich meine den Appell an das sittliche Bewußtsein, daß wir nicht durch Stellvertreter tun lassen dürfen, was wir nicht selbst tun würden. Ich habe kein sittliches Bedenken dagegen, meine Stiefel zu reinigen, meinen Tisch abzustauben oder auch mein Büro auszufegen. Mein Gefühl würde nicht verletzt werden durch Verrichtung dieser und hundert anderer Handarbeiten. Aber ich könnte keinen Ochsen niederschlagen, kein Schaf, besonders kein Lamm schlachten, keinem Geflügel den Hals umdrehen. Wenn ich das nicht tun kann, ohne meine besten Gefühle zu verletzen, so lehne ich es ab, eine andere Person es für mich tun zu lassen mit Verletzung ihrer Gefühle. Wenn kein anderer Grund zugunsten unserer Vereinigung spräche, so würde dieser eine genügen, um mich zur Annahme der fleischlosen Diät zu bestimmen. SIR ISAAC PITMAN 1875 an die Vegetarian Society Manchester.

Das Motto von PITMAN nach: Ethische Rundschau Bd. III (1914). 1./2. H e f t S. 21. PITMAN ist der Erfinder der englischen Stenographie.

VORWORT

In einer Zeit, in der Hunderttausende hungern und an Unterernährung sterben, in der die Menschen der reichen Länder das geschehen lassen — auf der Welternährungskonferenz 1974 in Bukarest nannte ein Referent diese »Kannibalen, die unsere Kinder fressen«! —, mag man sich fragen, ob es noch angebracht ist, für das Recht der Tiere zu plädieren . . . Ja, das ist notwendig! Das Verhalten der Menschen untereinander und gegen die Tiere hat einen Wurzelgrund, aus dem sich eigentlich nichts isolieren läßt. Die praktischen Fragen dieses Buches hätten wohl immer aktuell sein müssen; sie sind von den Denkern oft gesehen, aber meist nur unangemessen beantwortet worden. Die »Dialektik der Interessen«, von der K A N T sprach, war hier sicher mit wirksam. Wir leben nicht alle in derselben Wirklichkeit! Das erklärt, aber rechtfertigt nicht. Es kann sich niemand darauf berufen, eine andere Natur zu haben . . . Die jeweilige Alltagswelt mit ihrem Angebot an Bedingungen, Einflüssen, vor allem auch geistiger Art, prägt, legt fest, engt den Denkhorizont ein und läßt unter Umständen ganze Bereiche praktisch aus dem Sichtwinkel geraten . . . Nicht Logik, nicht unbefangenes Erkennen, sondern der zufällige Erfahrungsbereich, die wirksam gewordene Prägung — fast alle diese Faktoren sind uns unbewußt, bestenfalls später z. T. bewußt gemacht —, bestimmen unser Erkennenwollen und -können. Nicht erkannte und schwer zu erkennende Vorprogrammierung! Ob in dieser Schrift Fortschritt in der Gesamtsicht der Fragen, in der Lösung der theoretischen wie den Andeutungen für die Beantwortung der praktischen Probleme erreicht wurde, das zu beurteilen muß ich den Lesern überlassen. Ich mache mir auch über die Wirkung dieser Schrift keine Illusionen. Aber: ist nicht angesichts der völlig ungenügenden Behandlung dieser Fragen schon einiges erreicht, wenn man mit SCHOPENHAUER 1 sagen kann: »Der Kopf wird aufgehellt; das Herz bleibt ungebessert«? Die Sache ist wenigstens ins Gespräch gebracht. Mein Wunsch wäre, daß sich die Anhänger des entschiedenen Tierschutzes aufgrund der hier vorgetragenen Gedanken auf ein Gespräch einlassen würden. Dann bestünde die Aussicht, gemeinsam auf die Lösung der einen oder anderen praktischen Frage loszusteuern. Im Konkret-Praktischen ist man eher einig als in der Theorie. 11

An diesem Buch haben mehrere Vegetarier mitgewirkt. Alle eint das Ziel; die Wege dahin sind nicht immer die gleichen. So mag die Unterschiedlichkeit der Meinungen dazu anregen, die eigene Stellungnahme zu prüfen. Es gibt nur eine Wahrheit; in der Prüfung aller Angebote mag sie, stückweise, gefunden werden. Man sollte auf jeden Fall eine wichtige didaktische Regel beherzigen und auch im wahren oder scheinbaren Irrtum des Gegners noch die Wahrheit suchen. Es gibt kaum etwas, das ganz falsch ist. Die höchste Kunst aber wäre es, die eine Wahrheit zu finden, zu formulieren und auch noch den (teilweisen oder ganzen) Irrtum des Partners zu verstehen. Toleranz bedeutet nicht Verzicht auf die eine Wahrheit, sondern nur eine gewisse Zurückhaltung durch Einkalkulation auch der eigenen Gebrechlichkeit. An dieser Stelle sei noch ein Gedanke ausgesprochen, der mich oft bewegt hat: Heute muß alles wissenschaftlich sein! Kann man nur durch Wissenschaft zur Erkenntnis kommen? Das wäre traurig! Wissenschaft kann hier nur bedeuten: nüchtern, jedermann nachvollziehbar denken, beobachten und das Ergebnis geordnet darstellen. Atomphysik und Molekularbiologie brauchen nicht bemüht zu werden. Die hier verwendeten Argumente aus der Verhaltensforschung verdeutlichen, verschärfen eigentlich nur das Geahnte, Gefühlte zu Wissen. Hier gibt es keine prinzipiellen Zumutungen! Diese Schrift macht keinen Anspruch darauf, neue Gedanken zu bringen. Das geht auch aus den Quellenhinweisen hervor. Aus meinen früheren Veröffentlichungen habe ich viele Abschnitte übernommen. Mir kam es nicht auf Originalität an, sondern darauf, den Vegetarismus als ethisches Gesamtkonzept darzustellen, gemeinsam mit den Bearbeitern etlicher Spezialfragen. In der Gegenwart vernachlässigte Gedanken sind zuweilen ausführlicher behandelt, was für die Erarbeitung einer Gesamtsicht wesentlich erschien; die Ungleichmäßigkeit der Gesamtdarstellung liegt bei solcher Absicht auf der Hand. Die von anderen Autoren verfaßten und zu vertretenden Beiträge sind mit deren Namen gekennzeichnet. Im Text sind Zitate oft aus Gründen der Lesbarkeit nicht mit dem Namen des Autors versehen. Die Quellen finden sich in den Anmerkungen im Anschluß an die Abschnitte. Für kritische Hinweise, Ergänzungen und das Angebot neuer Beiträge für eine mögliche zweite Auflage bin ich dankbar. Bei der Bearbeitung des Manuskriptes unterstützte midi meine Frau, bei der Durchsicht ferner Frau INGEBORG SULKOWSKY, Sipplingen, sowie mein Bruder Dr. ERNST BROCKHAUS, Siegburg; ihnen sowie allen Mitarbeitern danke ich recht herzlich. WILHELM BROCKHAUS

Anmerkung: 1 Über das Fundament der Moral (1840). § 20.

12

EINLEITUNG

Vorläufige Definition des Vegetarismus Diese Schrift gilt den Tieren und ihrer Stellung und Bedeutung in der menschlichen Gesellschaft. Tiere, insbesondere die hochorganisierten Säuger, sind aus der menschlichen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Daß sie heute noch — im Zeitalter der sich entfaltenden Verhaltensforschung — weithin als Sachen, also ohne eigene Persönlichkeit und ohne Rechte angesehen werden, ist eine Seite unserer Zivilisation. Die andere besagt, daß seit altersher in wohl allen Kulturen Gedanken geäußert, kodifiziert und mindestens teilweise realisiert wurden bis auf den heutigen Tag, Gedanken, die faktisch das Tier aus dem niederen Niveau der Sachen, über die man beliebig verfügen kann, mehr oder weniger herausheben. Gewohnheitsmäßig fixierte bürgerliche Übung, staatliche Gesetze und besonders religiöse Vorschriften gebieten der Willkür im Umgang mit Tieren Schranken. In etlichen Ländern der Erde ist ein ständiger, wenn auch viel zu langsamer Fortschritt zu verzeichnen, der international über unverbindliche Deklarationen hinaus nicht viel Gemeinsames in dieser Hinsicht erbringt. In dieser Schrift wird der Tierschutz in seiner entschiedensten Form vertreten; wir nennen sie Vegetarismus. Vegetarismus im Sinne fast aller Mitarbeiter an dieser Schrift verlangt die größtmögliche Rücksicht auf die Tiere; er geht also weit über die konventionellen Forderungen des bürgerlichen Tierschutzes hinaus und schließt den Verzicht auf Gebrauchsgegenstände ein, die nur durch Tötung oder Quälen von Tieren gewonnen werden können, wie auch den Verzicht auf die Nutzung von Tieren zu sportlichen oder Unterhaltungszwecken, wenn sie das Leben dieser Tiere wesentlich beeinträchtigt. Vegetarismus verlangt, daß möglichst wenig tierisches Leben für die menschliche Existenz gequält und geopfert werden soll. Diese Erklärungen mögen zunächst genügen, um die Absicht dieser Schrift zu zeigen und die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Ziele zu prüfen. 13

Verflechtung des menschlichen Lebens mit den Tieren Was verbirgt sich hinter der vegetarischen Forderung, der man wohl leicht zustimmen mag, wenn man sie so abstrakt hört? Andeutungsweise soll nun veranschaulicht werden, was geprüft werden muß. Es geht zunächst darum, die heute immer noch weitgehende Verflechtung des menschlichen Lebens mit den Tieren deutlich zu machen.

1. Zur Ernährung werden viele Tiere verwendet: Rinder, Schweine, Schafe, Wale, Fische, Vögel, Krebse, Schnecken usw. Manche Tiere werden überwiegend nur ausgenutzt wie z. B. die Bienen. 2. Zur Herstellung unserer Kleidung und sonstiger Gegenstände unseres täglichen Bedarfs opfern oder nutzen wir Tiere. Wir opfern Tiere für elegante Pelzkleidung, das Leder unserer Schuhe, Gürtel, Jacken, Mappen und Treibriemen. Wolle liefern uns die Schafe. Andere Tierhaare verwendet man für Filz, Pinsel usw. Die Mode, sich mit Federn, die lebendigen Vögeln geraubt wurden, zu schmücken, ist zurückgegangen, aber leider noch nicht ausgestorben. 3. Ein unübersehbares Heer von Tieren vernichten wir als sogenannte Schädlinge, um den Ertrag unserer Äcker, Gärten und Forsten nicht zu gefährden und für die Erhaltung mancher Gegenstände. 4. Tiere dienen uns als Arbeitskräfte. Pferde, Zugrinder, Esel, Maultiere, Kamele, Elefanten, Blindenführerhunde usw. 5. Tiere werden dressiert und im Kriege verwendet zu militärischen Zwecken (als Nachrichtenübermittler, Munitions- und Waffenträger, Träger von Sprengsätzen, zur Erprobung und Abwehr von Kampfstoffen, als Sanitätshunde usw.). 6. Die Wissenschaft läßt in ihrem Namen zu mancherlei Zwecken jährlich Millionen von Tieren"" quälen und töten: a) zu bloß systematischem Kennenlernen von Art, Bau und Lebensweise. Der zoologische Forscher sammelt »Belegexemplare«, er macht »physiologische Versuche« mit Tieren. b) Zu medizinischen Zwecken verwendet der Forscher Frösche, weiße Mäuse, Meerschweinchen, Hunde, Affen und viele andere Arten, um aus ihrem Stoffwechsel medizinische Präparate zu gewinnen, um aus ihrem Verhalten unter dem Einfluß gewisser Medikamente Schlüsse zur Beurteilung der Medikamente für den Menschen zu ziehen, um an ihnen chirurgische Eingriffe zu lernen und zu üben. 7. Manche kosmetischen Präparate werden aus tierischen Substanzen hergestellt. 14

8. An letzter Stelle meiner unvollständigen Aufzählung erwähne ich, daß der Mensch zu bloßen Vergnügungen Tiere quält und opfert. Die Jagd darf vielleicht zu einem Teil als notwendige Schädlingsbekämpfung aufgefaßt werden. Die große Masse aber der organisierten und nichtorganisierten Jäger fühlt sich als besondere Sorte Mensch mit dem als edel angesehenen Vorzug, die Jagd als Ehre, als sportliches Vergnügen genießen zu dürfen. Stier- und Hahnenkämpfe gehören hierher, in gewissem Sinne auch der Brieftaubensport, die Pferderennen und alles das, was mit der Dressur der Zirkustiere zusammenhängt. Im Zoo dienen die Tiere zu unserer Unterhaltung und Bildung. Diese kurzen Bemerkungen sollen nur den Umfang der Probleme andeuten, andeuten, wie weitgehend menschliches Leben in der Zivilisation von heute verflochten ist mit den Tieren, ohne daß wir uns dieser Tatsache bewußt sind. Bedenkt man dazu noch das Quantum dieser Tiere, tritt ihre Bedeutung für die gegenwärtige Zivilisation noch stärker hervor. Ich verstehe Menschen, die angesichts der Fülle und Schwierigkeiten der Aufgabe resignieren und gleich die Flinte ins Korn werfen; aber ihr Standpunkt, daß wir nichts ändern können, ist ein Trugschluß. Leicht ist die Aufgabe des Vegetarismus nicht, sie kann uns aber auf keine Weise genommen werden. In dieser Schrift kann nur ein Teil dieser Probleme diskutiert werden.

Anmerkung: 1 Milliarde Tiere werden jährlich getötet, um uns mit Fleisdi zu versorgen, 140 Millionen werden jährlich als Versuchstiere geopfert, davon 25—30 Millionen allein in Westeuropa. So schätzt T O N Y C A R D I N G (Zürich), der Direktor des Welttierschutzbundes, im »Animalia« (Zürich) 1,4 vom Okt./Dez. 1974. Die Schätzung wird sich wohl nur auf Wirbeltiere beziehen. Die USA »verbrauchen« jährlich 5 Millionen Affen für Experimente (FAZ v. 3. 8. 1966). Zur Gewinnung von einigen mg Häutungshormonen brauchte der Nobelpreisträger B U T E N A N D T 20 Ztr. Seidenspinner.

Naturwissenschaftliche Argumente für den Vegetarismus

FRAGEN DER E R N Ä H R U N G

DIE

BIOLOGISCHEN

WILHELM

BROCKHAUS:

GEGEBENHEITEN

Phylogenetische

Gesichtspunkte

Im Laufe der Jahrmillionen haben sich Erbgut und Umwelt unserer Vorfahren geändert; in welchem Maße ist unbekannt. Änderung des Erbgutes bedeutet nicht, daß jedes Gen sich wandelte. Die Genetiker vertreten zumeist die Ansicht, daß sich seit der Menschwerdung das Erbgut nur wenig verändert hat, sicher aber kaum seit der Steinzeit. Erbgut und Umwelt mußten im großen und ganzen aufeinander eingestellt sein, Angepaßtheit der Organismen an die Umwelt ist die wesentliche Bedingung des Uberlebens. Die Umwelt mit ihren Bedingungen ist im Laufe der Zeiten als variabler als das Erbgut anzusehen, es ist konservativ. Der "Wandel des Erbgutes kann kaum allen Schwankungen in der Umwelt sofort folgen. Optimales Leben darf nur erwartet werden, wo die Bedingungen der Umwelt voll dem Genbestand, dem Genotypus, und den durch ihn bestimmten Eigenschaften, dem Phänotypus, entsprechen. Von hier aus läßt sich nach der Anregung von WERNER KOLLATH 1 bestimmen, was natürlich ist, nämlich »die Zuordnung zum Wirken der Gene, der bleibenden Dauereigenschaft«. Dem im Phänotypus, im Erscheinungsbild des Menschen wirklich entfalteten Genotypus, entspricht eine Nahrung, die natürlich genannt zu werden verdient. Das ist allerdings leichter gesagt als bewiesen. Es ist also unsere Aufgabe, nach Indizien zu forschen, die unsere erbliche Anpassung aufweisen. 2 Unabhängig von diesem Ansatz läßt sich sagen, eine Nahrung, die uns gesund und leistungsfähig erhält, ist wahrscheinlich die natürliche. Der Mensch ist, wie alle Organismen, ein historisches Wesen; er ist im Laufe der Stammesgeschichte des Lebens geworden. So mag auch seine Phylogenie kurz in den Blick genommen werden, um nach Zeichen für seine Ernährungsnatur zu suchen. 19

KOLLATH 3 überschätzt wohl die Entwicklung des Menschen in der Nacheiszeit, wenn er meint, »es könnte . .. sein, daß diese unzweifelhafte Tendenz von dem Fleisch der Jagdtiere über das Getreide zu den Gartenkulturen einer zwar sehr langsamen, aber scheinbar 4 naturgegebenen, vom Menschen geförderten Bevorzugung der Pflanzenkost entspricht, derart, daß die vegetarische Kost zur Hauptnahrung bestimmt i s t . . . Der zukünftige Mensch wäre Vegetarier in erster Linie«. Wenn diese Tendenz vorhanden und außerdem naturgegeben, d. h. erbbedingte phylogenetische Entwicklungstendenz ist, möchte ich sie so interpretieren, daß das konservative Erbgut hinsichtlich unserer angepaßten Ernährung sich wieder durchsetzt: unsere erblich festgelegte Fruchtessernatur kommt auch im Phänotypus wieder auf diese Art zurück. In dieser Wandlung braucht also noch keine genetisch tiefe Änderung zu sein.5

Der Übergang vom Alfen zum Menschen ist nicht so einfach zu erkennen und zu datieren; es ist erstaunlich: gelegentlich werten die Paläontologen das Auftreten von Kannibalismus als Zeichen, daß es sich bei gewissen Funden um Menschen gehandelt haben muß. Die Urmenschen (Australopithecus-Arten) konnten also Artgenossen töten, im Kriege oder aus magischen Motiven. Und »auch die vorausgegangenen Formen waren, ihrem Gebiß nach zu urteilen, zum Teil durchaus keine Vegetarier, sondern Raubtiere«, meint ILLIES. 6 In der Beurteilung von Gebissen, auch von fossilen Kieferteilen, haben sich die Forscher aber oft geirrt; hier von Raubtieren zu sprechen, ist wohl kaum angebracht. Aber: nehmen wir den schlimmsten Fall an, daß im Mensch-Tier-Übergangsfeld oder noch beim Urmenschen Raubtiertendenzen vorhanden waren. Dann bleibt uns nur der Rückzug auf unsere heutige Existenz. Wir sind heute so wie wir sind. Und das ohne oder mit Blick auf die Genese dieses Soseins, ob wir nun von »Mörderaffen« abstammen oder von harmloseren Verwandten. Unsere Erkenntnis ist so, wie sie ist, jedenfalls Erkenntnis; sie trägt keine für uns individuell erkennbaren Merkmale ihrer Geschichte mit sich. Was jetzt in unserer ethischen Erkenntnis liegt, ist entscheidend; die Argumentation für heute brutales Verhalten aus raubtierischer Herkunft kann nichts begründen. Da ist nun, um mit ILLIES 7 zu reden, nur Gelassenheit angebracht: »aus der Möglichkeit, uns von unseren Vorläufern zu unterscheiden, wird durch eine solche Einsicht allerdings eine zwingende Notwendigkeit«! Gegen Ende des Tertiärs, vor einigen Millionen Jahren, entwickelten sich aus affenartigen Wesen Menschenaffen und auch die Vormenschen. Die vergleichende Anatomie zeigt, daß Gorilla und Schimpanse dem Menschen am nächsten stehen. WEINERT 8 faßt sie zusammen als Summoprimaten. In dieser Gruppe stehen sich Schimpansen und Menschen am nächsten. Die Primaten wiesen wahrscheinlich gleich an ihrem Ursprung eine große Vielfalt auf, die Entwicklung zum Menschen erfolgte wohl kaum in gerader Linie. Hier interessiert nur die Lebensweise. Die Summoprimaten stimmen in ihren Ernährungsorganen weitgehend überein. Die Gebisse von Schimpanse und Mensch haben einen gemeinsamen Bauplan, nur ist das Schimpansengebiß kräftiger ausgebildet. Die kräftigen kegelförmigen Eckzähne ragen aus der Reihe der übrigen Zähne heraus; bei der Ernährung spielen sie kaum eine Rolle, sie dienen als Verteidigungswaffe. 20

Gorilla und Schimpanse gelten als Fruchtesser. Durch eine neuere Arbeit sind wir über die Ernährungsgewohnheiten des Schweinfurth-Schimpansen (Pan satyrus schweinfurthi) genauer informiert. JANE GOODALL 0 beobachtete die Tiere im Schimpansen-Reservat am Tanganyika-See. Ergebnis: 90% der Nahrung wird auf Bäumen gesucht, 61 verschiedene Nahrungsmittel wurden festgestellt, davon 33 Arten von Früchten, 17 Sorten von Blättern oder Blattknospen, 4 Sorten Samen, 4 Arten Blüten, 2 Sorten Stengel und zwei Sorten Rinde und Harz, wenn es aus den Bäumen quillt. Diese Schimpansen waren nicht abgeneigt, nichtpflanzliche Nahrung zu sich zu nehmen: »zu gewissen Zeiten des Jahres« froscheigroße Blattgallen, Termiten, Baum- und auch Bodenameisen, die sie mit einem Halm als Werkzeug aufnehmen; in 15 Monaten Feldbeobachtung wurden drei Fälle von ausgesprochenem Fleischessen, und in einem Fall wurde ein Teil eines Affenfußes in Schimpansenkot gefunden. In den drei Fällen handelt es sich um ein junges Buschschwein, einen kleinen Buschbock und um einen nichtidentifizierten kleinen Säuger; die Tiere waren ohne Kopf und ausgeweidet. Die Schimpansen hatten beim Verzehren der Beute ihre Schneidezähne benutzt. »Zwischen jedem Bissen Fleisch wurde ein Mund voll Blätter genossen!« Es muß also doch wohl ein Rest von geschmacklichem Widerstehen übertüncht werden! J. GOODALL beobachtete, daß etliche Mitglieder der Gruppe das eine Tier mit der Beute umlagerten und auffällig um ein Stück Fleisch bettelten, und schließt, daß »die Neigung zum Fleisch nicht bloß die Abnormität eines Individuums ist, sondern allen Mitgliedern der Gruppe zukommt.« Von gefangenen Schimpansen war schon länger bekannt, daß sie omnivore oder gar karnivore Tendenzen entwickeln können; in der Gefangenschaft entarten die Tiere.10 Hier scheint sich anzudeuten, daß der werkzeugbenutzende menschenverwandte Summoprimat im Freiland auch schon partiell Wahlfreiheit des Handelns besitzt,11 vielleicht aus Neugier oder Spieltrieb auf Fleischnahrung kommt und sie zur zeitweisen Gewohnheit werden kann. Allerdings erfordert der ganze Fragenkomplex weitere Forschungen. Audi ist zu fragen, wie weit das Reservat schon Einflüssen der menschlichen Zivilisation unterliegt, die dann das Abgehen vom Instinkt, wie im Zoo, begünstigen. An der eigentlichen und überwiegenden Fruchtessernatur unserer Verwandten braucht nicht gezweifelt zu werden; »Aus-der-Art-schlagen« ist biologisch überall möglich, vom Menschen bis zum Virus. Entartetes Leben ist wohl noch Leben, aber biologisch kein optimales. Und bevor die Auslese wirksam werden könnte, müßten nichtoptimale, nicht ausreichend angepaßte Organismen aufgetreten sein; außerdem braucht die Auslese auch Zeit. Aus diesen Gründen sagen die Beobachtungen von J. GOODALL und anderen für unsere Frage nicht allzuviel. MORRIS, 12 der sehr leichtfertig Verhaltensregeln beim „nackten Affen« findet und deutet, hat hier mal recht: »Töten gehört in der Tat nicht zu den Grundanforderungen im Leben der Primaten.« 21

Anmerkungen: 1 Die Ordnung unserer Nahrung. Stuttgart 1960. S. 28. 2 Für unseren Zweck kommt es mehr auf den Genotypus des Menschen an, KOLLATH sah mehr auf den Genotypus der uns zugeordneten Nahrungspflanzen. 3 a.a.O. S. 21. 4 Gemeint: anscheinend! 5 K. FRANKE (in: F. HEISS und K. F R A N K E : Der vorzeitig verbrauchte Mensch. Stuttgart 1964. S. 244) äußert sich zur gegenwärtigen Situation so: Der »omnivore Urmensch kann aber nicht so ohne weiteres als Empfehlung für einen noch weiter zu vermehrenden Fleischverzehr bei uns angeführt werden.« 6 J O A C H I M ILLIES: Zoologie des Menschen. München 1971. S. 65. 7 a.a.O. S. 65. 8 H A N S W E I N E R T : Die heutigen Rassen der Menschheit. Handbuch der Biologie Bd. IX (Konstanz 1965). S. 127. 9 Feeding Behaviour of Wild Chimpanzees. Symp. of the Zool. Soc. of London. 1963. N r . 10. S. 39 f. 10 Ähnliche Beobachtungen von Kannibalismus bei wilden Schimpansen in Ostafrika machte auch der britische Verhaltensforscher J. D. BYGOTT (Nature. 18. VIII. 72 nach DIE ZEIT v. 1. IX. 72). BYGOTT vermutete, daß diese starke Abweichung vom ererbten »normalen« Verhalten eben erworben wurde und die Zeit zur Selektion noch nicht ausreichte. 11 Schimpansen lösten im Laborversuch Probleme, die erheblich komplizierter waren als die, die sie im natürlichen Biotop vorfinden. Die also zu über-natürlichen zerebralen Leistungen fähigen Tiere können, so möchte ich folgern, diese auch dazu verwenden, Instinktleistungen zu ergänzen, zu überformen oder gar sie ganz auszuschalten, wie es unter den Bedingungen der Domestikation in der Gefangenschaft feststellbar ist! Für den Vormenschen werden solche Möglichkeiten noch stärker anzunehmen sein (Selbstdomestikation), gerade im Hinblick auf die Ernährung. 12 DESMOND MORRIS: Der nackte Affe. München/Zürich 1970 (Knaur-Taschenbuchausgabe 224). S. 27.

WILHELM BROCKHAUS:

Morphologische und anatomische Gesichtspunkte

Der Mensch scheint zur Nahrung von Früchten, Wurzeln, und anderen saftigen Pflanzentheilen gebaut zu seyn. Seine Hände gewähren ihm die Leichtigkeit sie zu pflücken; aber seine kurzen und mäßig starken Kinnladen einerseits, die den übrigen Zähnen gleichen Eckzähne und die höckerigen Backenzähne anderseits, würden ihm nicht wohl erlauben, Kräuter oder rohes Fleisch zu verzehren, wenn er diese Stoffe nicht einer Kochung unterwürfe; allein seitdem er das Feuer kennen gelernt, und die Kunst ihn gelehrt hat, alle Thiere von fern zu tödten oder zu fangen, haben ihm auch alle lebenden Wesen zur Nahrung dienen müssen, was ihm denn auch die Mittel verschafft hat, seine Gattung ins Unendliche zu vervielfältigen. GEORGES V O N CUVIER (1769—1832)

Der Mensch ist von Haus aus kein Raubtier! Wäre er das, müßte er die wesentlichen Eigenschaften eines Raubtieres mitbekommen haben in seiner Naturausstattung. Daß er in seiner Zivilisation allerlei Fähigkeiten erworben hat, psychische und instrumentale, die alles andere als menschlich sind — »raubtie22

risch« darf man nicht sagen, das wäre falsch —, steht auf einem anderen Blatt. Die Raubtiereigenschaften, nach Rauborganen, nach Gebiß und Stoffwechsel, müßten wir stammesgeschichtlich mitbekommen haben aus der Vormenschenzeit, wohl schon von den Vorfahren des Summoprimatenstammes her, spätestens aus dem »Mensch-Tier-Übergangsfeld«. Der Räuber muß die Beute auch überwältigen können. Der Mensch hat mindestens keine oder keine optimal ausgebildeten Organe und Möglichkeiten, die ihn zum Fang oder zur Verarbeitung von Tieren der Arten, die ihm heute vorwiegend als Fleischnahrung dienen, sehr befähigten. N a t ü r l i c h wäre eine Nahrung zu nennen, die er ohne technische Hilfsmittel aufnehmen kann. Zunächst muß die Nahrung e r g r i f f e n werden; dazu sind unsere Hände besonders geeignet. Aber: wie die Raubsäuger eine Beute zu schlagen oder zu reißen, dazu ist die menschliche Hand ohne Werkzeug nicht in der Lage, höchstens bei kleinen Säugern, Fischen, Vögeln, Vogeleiern, Schnecken, Muscheln, Insekten usw. Die in unserer Zivilisationskost verwendeten Schlachttiere wie Rinder, Schweine u. ä. sind vom Menschen mit ausschließlich natürlichen angeborenen Mitteln nicht zu bewältigen; uns fehlen einfach die muskelstrotzenden und mit scharfen Klauen bewehrten, zum Schlagen und Reißen geeigneten Pranken der Raubtiere und das weit zum Festhalten der Beute zu öffnende Maul. Unsere Fingernägel sind ja alles andere als Krallen. Der unbewaffnete Mensch kann die großen Säuger weder gut jagen, überwältigen noch töten. Vom »Jagdtrieb« wird später (S. 403 ff.) die Rede sein. Auch die Bearbeitung der Beute ist ihm ohne Werkzeuge, allein mit seiner biologischen Ausrüstung, kaum gut möglich, etwa das Enthäuten, das Zerkleinern und das Teilen des Opfers. Allein seine Schneidezähne sind hier notdürftig verwendbar. »Am Körper gewachsene Waffen«, 1 Rauborgane müßten wir haben. Unsere Hände sind Greiforgane, die Sammlern angemessen sind, im Urzustände zur Ernte geeignet. Raubtiere haben eine weitere Mundspalte als die Pflanzenfresser 2 ; der menschliche Mund und der der Schimpansen erscheint geradezu bescheiden. Wenn wir oben sagten »von Haus aus«, soll das heißen: ohne unser eigenes Zutun, ohne Hilfe der Zivilisation. Vielleicht dürfen wir noch etwas weiter gehen und sagen: unsere natürliche Struktur, d. h. der biologische Anteil unserer jetzigen komplexen, ist etwa die, die der letzte Vormensch hatte, das Wesen, dessen Leben und vor allem dessen Nahrungswahl noch in der Hauptsache instinktbestimmt war. Menschwerdung war in einem wesentlichen Zug gegeben als Instinktverlust, was, positiv formuliert, bedeutet: Wahlfreiheit des Handelns. Und diese schließt selbstverständlich ein: die Möglichkeit des Irrtums, also in unserem Falle auch die Möglichkeit, gegen seine eigentlichen und erblich festgelegten physiologischen Bedürfnisse zu leben. 23

Menschen sind also in ihrer Grundstruktur angelegt nicht auf absolute Sicherheit und auf Ubereinstimmung von biologischer Anpassung und Lebensführung; und vielleicht beginnt diese Lösung vom naturgesetzlich eindeutig festgelegten Verhalten schon bei unseren menschenäffischen Vorfahren. Optimale, biologisch optimale Lebensführung ist Sache unserer Persönlichkeit geworden. Wo biologische und geistige Erfordernisse harmonisch miteinander und im Höchstmaß realisierbar sind, da möchte ich von einem Zug eigentlicher Kultur sprechen. Wenn man die Form unserer Zähne, unserer Hände und unserer Finger betrachtet, so muß man ganz bestimmt wahrnehmen, daß wir die nächsten Verwandten der Affen sind und daß diese gleichsam die wilden Menschen der Wälder genannt werden können. Wenn die Affen Früchte-Esser sind, so sind wir es auch. CARL V O N LINNÉ (1707—1778)

Unser Gebiß ist in der Diskussion oft bemüht worden. Sind die oft so kurz und bündig formulierten und immer so sicher wiederholten Aussagen über die omnivore Natur unseres Gebisses wirklich begründet? Viererlei Sorten von Zähnen kennzeichnen unser Gebiß: Schneide-, Eck-, Lükken- und Backenzähne. Schneidezähne sind meißelartig, dienen zum Abschneiden von Stücken naturgegebener Nahrung. Die Eckzähne, die bei den Raubtieren meist um ein Vielfaches größer und mächtiger sind als die Nachbarzähne, dienen den Raubtieren zum Ergreifen und Festhalten der Beute, sind also »Fangzähne«, außerdem dienen sie als Verteidigungswaffe. Das omnivore Wildschwein kann mit seinen schräggestellten Hauern auch Knollen und Wurzeln aus dem Boden wühlen. 3 Die Lücken- und Backenzähne (Prämolaren und Molaren) lassen deutlich die Anpassung an die naturbestimmte Nahrung erkennen. Raubtiere haben Zähne, die dolch- oder kegelförmig sind, scharfsdhneidend und mehr oder weniger flach-dreieckig und zwei- und dreispitzig sein können. Durch Zusammenwirken der Backenzähne von Ober- und Unterkiefer kommt eine scherenartige Wirkung zustande. Mit ihrem Gebiß schneiden oder reißen sie schluckgerechte Stücke aus der Beute und verschlingen sie, sie kauen nicht!, sie sind »Schlinger«, keine »Kauer«, die ihre Nahrung zu Brei zermahlen. Pflanzenfressende Tiere haben anders geartete Backenzähne; diese haben eine mehr oder weniger flache Krone, die auf der Kaufläche höckerig ausgebildet ist. Im Zusammenwirken entsprechender Zähne in Ober- und Unterkiefer sind sie hervorragend geeignet zum Zermahlen und Zerquetschen pflanzlicher Nahrung. Die Kauapparate der Lebewesen sind in aller Regel auf die härtesten Bestandteile ihrer naturgemäßen Nahrung eingestellt.4 Der Mensch hat weder ein Zertrümmerungs-, noch ein Brechscherengebiß, wie die fleischfressenden Raubtiere; unser Gebiß ist ein Mahlgebiß, das auch etwas vom QweticAgebiß hat. Unsere Schneidezähne ermöglichen den Scherenbiß. 24

Das Raubtiergebiß ist »vornehmlich auf ein Ergreifen und Festhalten der Beute, weniger auf sorgfältige Zerkleinerung eingestellt«, unser Gebiß ist dagegen auf Pflanzennahrung eingestellt, was »ein kräftiges, langandauerndes Kauen (bedingt)«. Das Raubtiergebiß sorgt durch Zerreißen und Abschneiden nur für angemessene Stücke, für die das Verschlingen genügt.5

GEBISSTYPEN

(Unterkiefer)

1. Haushund: Raubtier

3. Hausrind: Gras- und Kräuterfresser

2. Hausschwein: Allesfresser

4. Mensch: Fruchtesser

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Der menschliche Unterkiefer hat eine große, freie Beweglichkeit nach allen Seiten, er kann sich auf und ab, vor und zurück und auch seitlich bewegen und so fast kreisend mahlen, während bei vielen Raubtieren ein spezialisiertes Scharniergebiß vorliegt.8 Pflanzenverzehrer haben je nach ihrer Anpassung innerhalb des angedeuteten Rahmens noch sehr verschieden spezialisierte Gebisse. Die Nager haben dauernd nachwachsende Schneidezähne, bei den Wiederkäuern fehlen die oberen Schneidezähne oder sind vermindert. Nicht wiederkäuende Säuger, Pferde z. B., haben 6 obere und 6 untere Schneidezähne, die Fruchtesser je 4 Schneidezähne in Ober- und Unterkiefer. Man sieht, hier ist ebenso wie bei den Raubtieren weite Spezialisierung gegeben. Der Zoologe HERBERT FRITSCHE 7 hat die Meinung vertreten, wohl aus einem mehr ideologischen Grunde heraus, daß »wir Menschen in keiner Weise ein spezialisiertes Gebiß besitzen«. Das ist nun nicht so, wie in einer Replik einer der besten vergleichenden Zahnforscher, RICHARD LEHNE, 8 dargetan hat. »An der eindeutigen Spezialisierung des menschlichen Gebisses ist nicht zu zweifeln!« Am Anfang der Gebißentwicklung steht die Reihe gleichförmiger, kegelförmiger (homodonter) Hautzähne der Haie. Im Laufe der Entwicklung entstehen im Zusammenhang mit der Umbildung der Kiefer Zahnformen mit Höckerkronen. Aus dem Gebiß gleichförmiger Zähne wird das Gebiß mit Zähnen unterschiedlicher Form, bis es schließlich u. a. auch beim Menschen zu dem »heterodonten Gebiß mit verschieden geformten Schneide-, Eck-, kleinen Backen- und großen Mahlzähnen kommt«. Immer entspricht einer Gebißform auch eine spezialisierte Ernährungsweise. So auch beim Menschen. Die erbliche Anpassung ist das Ergebnis einer Entwicklung von 100 OOOen von Jahren, »zeitlich ein unfaßbarer Begriff. ..«." LEHNE 1 0 faßt sein Forschungsergebnis so zusammen: »Der Mensch ist kein Fleischesser, denn er hat keine großen dolchartigen Eckzähne, die ihre Nachbarzähne meist um das Vielfache ihrer Kronenhöhe überragen, er hat keine dreieckigen Prämolaren, ebenso fehlen ihm die zweispitzigen Brechzähne; kein einziger Zahn in seinem Gebiß weist auch nur andeutungsweise auf Fleischnahrung hin. Daß das Fleisch nicht die natürliche Nahrung des Menschen ist, geht auch schon daraus hervor, daß er versucht, es zu zerkauen. Das Zerkauen von Fleisch ist aber an sich schon eine unnatürliche Betätigung, denn nicht ein einziges freilebendes Tier kaut das Fleisch. Es wird in schluckgerechten Bissen verschlungen. Ebensowenig ist der Mensch ein Omnivor, denn es fehlt ihm der vordere karnivore Teil des Gebisses (wie etwa beim Schwein. W. B.). Auch ein Pflanzenesser ist der Mensch nicht. Seine Backenzähne haben nicht einmal annähernd die Form und Struktur eines Pferdemolaren; er ist auch kein Blätteresser, denn dann müßten seine Backenzähne spitze Höcker haben, wie die des Känguruhs; und des Brüllaffen.« Sie haben aber stumpfe Höcker. LEHNE 1 1 schließt: »Der zwingende Vergleich mit dem Gebiß der Menschenaffen weist ihn bei der ebenfalls vollkommenen Ubereinstimmung der Zahl 26

und der Stellung der einzelnen Zähne, trotz der ausnehmend stark entwickelten Eckzähne der Affen, ohne Einschränkung in die Reihe der Nuß- und Fruchtesser.« »Der Begriff der Früchtenahrung umschließt Nußnahrung und ist auf Wurzeln und dergleichen als Zusatznahrung auszudehnen.« Soweit LEHNE. Ich darf kurz so zusammenfassen: Folgende Merkmale sprechen für die Fruchtessernatur des menschlichen Gebisses: 1. Die Eckzähne sind nicht massig, erheben sich auch nicht über ihre Nachbarn, sie sind nur noch nominell vorhanden. 2. Es fehlen die flachen, dreieckig-scharfen Zähne der Fleischesser, die Scherenwirkung haben. 3. Die Zahnreihe steht in lückenloser, geschlossener Anordnung, durch welche die Mahlfunktion der Backenzähne noch verstärkt wird. »Von Haus aus«, »ursprünglich«, sind wir Fruchtesser, d. h. in ungestörten Verhältnissen, im Augenblick der Menschwerdung, vor Benutzung von Werkzeugen, Waffen und einfachen Küchentechniken, vor Benutzung des Feuers.12 Der Instinktverlust bescherte uns mit der Wahlfreiheit des Handelns allerdings auch die Gefahr, in der Nahrungswahl zu irren. Es begann das spielerische Probieren, wie bei den Affen im Zoo, es fehlte ein unmittelbar reagierendes Kontrollorgan. Folge war, daß der Stoffwechselhaushalt nicht immer optimal befriedigt wurde, was also Störungen oder Minderung der Gesundheit bedeuten konnte. Der ganze Organismus ist bei den Tieren auf seine Ernährungsweise eingestellt, wenn es auch im Ausnahmefalle möglich ist, daß ein Karnivore, etwa ein Raubsäuger, einmal Pflanzen frißt. Bei den Pflanzenfressern, das können Gras-, Kräuterfresser (Herbivoren) oder Fruchtesser (Frugivoren) sein, ist das Verlassen der Regelkost seltener. Die Omnivorie hat auch bestimmte Anpassungen zur Voraussetzung. FRITSCFIE 13 hat in seiner Polemik gegen unsere Betrachtungen gesagt: Die Gebißanatomie diktiert nicht. Biologisch läßt sich hier nur sagen, was schon vorgetragen wurde: »Sie (die Gebißanatomie. W. B.) diktiert zwar nicht«, heißt es bei LEHNE 14 , »aber sie erhebt ihren warnenden Finger und rächt sich an denen, die ihn nicht beachten.« Wahlfreiheit des Handelns hebt Naturbindungen nicht auf! »Weitab von den sich stetig ändernden, ewig unruhigen Forschungsergebnissen der physiologischen Ernährungswissenschaft weist die vergleichende Anatomie, gestützt auf Jahrmillionen alte Dokumente der Palaeozoologie nach, daß das menschliche Gebiß in seiner idealen Form einen rein frugivoren Charakter hat« (R. LEHNE 15 ). Das Verdauungssystem der Säuger weist verschiedene Baupläne auf. In extremer Weise ist der Wiederkäuermdgen in vier Abteilungen gegliedert. Die Menschenaffen, aber auch die Raubsäuger, haben einen morphologisch einfachen 27

Magen. Die Summoprimaten sind Früchteesser, allerdings greifen sie zuweilen Vogeleier, Jungvögel, Insekten und Insektenlarven. In der freien Natur dürfte der animalische Anteil wohl als Ausnahmekost anzusehen sein; Tiergartenbeobachtungen sind, wo es sich fast nur um gezähmte oder gar domestizierte Tiere handelt, nicht von Belang. Der Bau des Magens allein, ohne Kenntnis seiner physiologischen Ausstattung, erlaubt keine Schlüsse auf die Urkost. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei der Beurteilung des Darmes. Pflanzenköstler haben in der Regel einen langen Gesamtdarm, d. h. Dünndarm und Dickdarm, Fleischfresser einen kürzeren, so steht es in vielen Lehrbüchern. Es liegen Versuche vor an Fischen, die mit tierischer und pflanzlicher Nahrung gehalten wurden; die längsten Därme hatten die pflanzlich ernährten, die Darmlänge hatte sich also der Kost angepaßt.1® Umfangreiche Vergleiche vorliegender Untersuchungsergebnisse führten HALTENORTH 1 7 zu dem Schluß: »Jedenfalls ist die relative Darmlänge nicht allein durch die Ernährungsweise erklärbar.« Fütterungsversuche beim omnivoren Schwein ergaben sowohl bei der pflanzlich wie der karnivor ernährten Gruppe eine gewisse Verkürzung des Darmes, bei der vegetarisch ernährten stärker als bei der animalisch gezogenen. Ähnliche Versuche an Ratten zeigten keine Unterschiede.18 Es ist zu beachten, daß tierische Nahrung, auch Früchte, relativ ballastarm ist, leichter aufgeschlossen und vom Darm aufgenommen werden kann; schon von daher ergibt sich, daß der Darm auch nach der unterschiedlichen pflanzlichen Nahrung betrachtet werden muß. Raubtiere haben in der Regel einen relativ engen und glatten Darmkanal; beim Menschen ist er weiter und besitzt zellenartige Ausbuchtungen. Man sollte das anatomisch-morphologische Moment nicht überschätzen: es kommt nicht allein auf die äußerlich gut sichtbare Gestalt und ihre Dimensionen an, sondern auf den Innenbau (Volumen, Zotten, Schleimhäute) und besonders die physiologische (chemische) Leistungsfähigkeit (Enzymbildungsvermögen). Dazu kommt, daß es keine zuverlässige Methode gibt, die Länge des Darmes im lebendigen Organismus eindeutig festzustellen. Messungen mit in den Magen-Darm-Kanal eingeführten quecksilbergefüllten Schläuchen sollen vor Jahren zu überraschenden Ergebnissen geführt haben, die mit den bisherigen in Widerspruch stehen. »Nach Erkalten des frischtoten Körpers erschlafft die Darmmuskulatur, und ein dann dem Körper entnommener Darm verlängert sich sehr (z. B. beim Menschen von rd. 3,90 m auf rd. 8,50 m.« HALTENORTH 1 9 folgert: »Relative Darmlängen lassen sich also nur mit Vorbehalt miteinander vergleichen, und es ist keineswegs Gesetz, daß die Pflanzenfresser einen langen, die Fleischfresser einen kurzen Darm haben.« Trotz aller Anpassung des Verdauungskanals an eine bestimmte Nahrung besteht »doch noch das Vermögen..., auch ungemäßes Futter zu nutzen und mit ihm fertig zu werden .. . wenn sich nur alle wichtigen Grundstoffe . . . vorfinden«. 20 Vom Darm her eindeutig auf die optimale Urnahrung zu schlie28

ßen, scheint bei dem heutigen Stande der Wissenschaft nicht möglich. Mindestens kann sie von hierher den Vegetarismus nicht ablehnen. BÖKER 2 1 meint bei Beurteilung des Blinddarmes: »Wie bei den meisten Primaten neigte sich die Entwicklung des Verdauungsapparates beim primitiven Menschen mehr nach der vegetabilischen als nach der animalischen Seite hin, bevor die Domestikation extreme Grade erreichte.« Der animalische Anteil sei langsam zurückgedrängt worden und der vegetabile zur Hauptnahrung geworden. BÖKER 2 2 hält den Menschen für primär omnivor (Urnahrung: Wirbellose, kleine Wirbeltiere, Jungtiere, Eier und Früchte), durch zivilisatorische Techniken (Feuer) sei er zur sekundären Omnivorie gelangt: zur Urnahrung seien Muskelfleisch und härtere Pflanzenteile hinzugekommen, deren Verwendung aber erst durch künstliche Zubereitung möglich geworden sei.28

Will man sich absolut auf den Standpunkt stellen, der Mensch sei Omnivore, dann bleibt dem Vegetarier immer noch die Frage offen: Gibt diese Omnivorie nicht auch die Freiheit zu einer ausschließlich pflanzlichen Ernährung? Die dem Menschen gemäße Urnahrung ist diese: Früchte aller Art (Obst), Beeren, Samen, Getreide, Knospen, Wurzeln, Rüben, Knollen in überwiegender Menge. Von animalischer Kost kann das nicht ganz ausgeschlossen werden, was der Mensch ohne Hilfsmittel fangen, greifen konnte und kann, also: Vogeleier, kleine Vögel, Mäuse und andere kleine Säuger, Frösche, Eidechsen, Fische der Bäche, Schnecken, Muscheln, Insekten und ihre Larven. Unsere Betrachtungen haben für die rein pflanzliche Ernährungsweise eine gute Stütze ergeben, auch dann, wenn der frühe Mensch oder gar schon seine tierischen Vorfahren die absolut vegetabile Kost nicht mehr streng durchzuhalten pflegten. Über diese Situation wurde auf Seite 21 einiges gesagt. Manche Organe funktionieren durch Bewegungen, durch Verhaltensweisen. Biologisch ist der Bau eines Organs von seinem Funktionieren nicht zu trennen. Ein Gesichtspunkt ist hier hinsichtlich des Gebisses schon von LEHNE genannt worden: Fleischfresser schlingen, sie kauen nicht. Das Bewegungsmuster der Kiefer und der zugehörigen Organe und Muskeln gehört zum Gebiß, ist angeboren. Das Schlingen ist uns nicht angeboren, es ist uns fremd. Menschenaffen sind den größten Teil des Tages auf der Suche nach Nahrung, die sie sofort zu sich nehmen. Sie schmausen sehr oft; demgegenüber sind für Raubtiere Enthaltsamkeitszeiten aus verschiedenen Ursachen die Regel. Beim Menschen scheinen Essenspausen von Natur aus nicht so festgelegt zu sein. Zu unseren Strukturen gehört aber noch ein ganz anderes Verhalten, von dem S. 41 ff. die Rede sein soll. Und auch dieses Verhalten scheint ererbte Momente aufzuweisen. Anmerkungen: Motto: Baron GEORGES V O N CUVIER: Das Thierreich. Erster Band (Obers. V O I G T ) . Leipzig 1831. S. 47. CUVIER ist der Begründer der Paläozoologie. 1 K O N R A D L O R E N Z nach DIE ZEIT v. 23. III. 1973. 2 H A L T E N O R T H : wie Anm. 5. S. 1143.

F. S.

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3 G. J. BAERENTS: The Natural Foods of Man, Considering the Construction of his Teeth and his Body. In: Vitalstoffe/Zivilisationskrankheiten. N r . 2/70 und N r . 3/70. Ferner: Het verband tussen lichaamsbouw, leefwisze en voeding. In: Vegetarische bode. Amsterdam 1955 (Sonderdruck). 4 EVERS: Ernährungsreform auf Abwegen. Deutsche Zahnärztl. Wochenschr. 10. III. 1939. 5 Die Begriffe dieses Abschnittes z. T. nach T H . H A L T E N O R T H : Klasse Mammalia, Säugetiere. In: Handbuch der Biologie (BERTALANFFY/GESSNER. Frankfurt 1973). Bd. V 1/3. H. 64—66. S. 1249 ff., 1269. 6 H A L T E N O R T H : a.a.O. S. 1270. 7 Selbstzucht statt Instinkt. In: Der Wendepunkt. Juni 1944. 8 Vom Fruchtessergebiß des Menschen; Vergleichende Anatomie und Ernährung. In: Der Wendepunkt. März 1945. 9 R. L E H N E : Die menschlichen Zähne in ihrer morphologischen Beziehung zur Nahrung vom vergleichend-anatomischen Standpunkt. In: Vierteljahresschrift für Zahnheilkunde. 46. Jahrg. 1930. H. 1. S. 133. 10 Welche Nahrung ist dem Menschen nach dem anatomischen Bau seines Gebisses angemessen? In: Biol.-zahnärztl. Taschenbuch 1937. S. 216. 11 Wie Anm. 9. S. 214. 12 Zu den gleichen Ergebnissen wie LEHNE gelangt H A N S LÜTTSCHWAGER in seiner Arbeit »Von der Entwicklungsgeschichte des Menschen auf Grund seines Zahnbaues« in: Naturwissenschaftliche Rundschau (Stuttgart) 1950. S. 165—171. 13 Wie Anm. 7. 14 Wie Anm. 8. 15 Wie Anm. 9, S. 133. Hier sei noch eine andere Arbeit LEHNEs genannt: Beitrag zur alimentären Charakteristik der Zahnformen. In: Zahnärztl. Rundschau 51 (1942) N r . 1 u. 3. Unser Gebiß hat jedenfalls keine Zeit gehabt, eine Allesesser-Mutante auszubilden und zu behaupten. In der Eiszeit mußte der Mensch Jäger sein »trotz« seines Fruchtessergebisses, wie auch LÜTTSCHWAGER (Anm. 12 S. 171) meint. Ebenso ist auch in den angeborenen Verhaltensweisen Erhebliches erhalten geblieben, was auf die Urnatur des Menschen zurückdeutet. Sollten nicht schon die med.-therapeutischen Erfolge mit vegetarischen Kostformen auch entsprechend zu deuten sein? 16 Nach KOSMOS Bd. X X X I (1934) S. 321. Versuche von HYKES und MORAVEK. 17 H A L T E N O R T H : Klasse Mammalia, Säugetiere. In: Handb. der Biologie. Frankfurt 1971. Bd. VI/3. H e f t 56—59. Liefg. 231—234 S. 1185. 18 H A L T E N O R T H : a.a.O. S. 1190. 19 a.a.O. S. 1188 ff. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen auch E. M A N G O L D u. a. Vergl. Naturw. Rundschau 1960, S. 443. 20 H A L T E N O R T H : a.a.O. S. 1192. 21 Einführung in die vergleichende Anatomie der Wirbeltiere. Bd. II: Biolog. Anatomie der Ernährung. Jena 1937. S. 190. 22 BÖKER: a.a.O. S. 151 23 BÖKER: a.a.O. S. 151 f. — »Als Heilnahrung sollte Urnahrung allerdings den Vorzug genießen« (S. 152). — »Für den Urmenschen bedeutete das Zubereiten der Nahrung über dem Feuer den großen Schritt, der zur Domestikation führte; in gewisser Hinsicht war das allerdings der Beginn der biologischen Degeneration, ermöglichte andererseits aber den gewaltigen Aufschwung, der die tierische Art Mensch über alle anderen Lebewesen erhob« (S, 151).

WILHELM

BROCKHAUS:

Physiologische

Gesichtspunkte

Nach dem Blick auf den Bau unseres Organismus soll nun untersucht werden, ob pflanzliche Nahrung zu seiner Entfaltung und Erhaltung ausreicht. 30

Die Erhaltung unseres Lebens ist abhängig von hinreichender Zufuhr einer geeigneten Kombination und Menge von Nährstoffen, und zwar von Kohlehydraten, Fetten, Eiweiß-, Mineral- und Vitalstoffen, also Vitaminen, Fermenten, Hormonen u. ä. und Spurenelementen. Diese chemischen Stoffe brauchen wir in geeigneter Kombination; unsere frühen Vorfahren haben diesen Bedarf als Anpassung an die damaligen Verhältnisse spätestens um die Zeit der Menschwerdung am Ende des Tertiärs durch Mutation und Selektion erworben, also erblich festgehalten und weitergegeben bis in unsere Tage. Der Mensch ist also wie die Mitgeschöpfe auch im biologischen Sinne ein historisches "Wesen. Die stammesgeschichtliche Entwicklung hat nun nicht in chemischen Stoffgruppen »gedacht«. Nährstoffe standen in der vorindustriellen Zeit im wesentlichen nur in Form von Naturprodukten, d. h. im allgemeinen in Form von Naturganzen, zur Verfügung, in unserem Falle in Form von Früchten oder Pflanzenteilen oder ganzen Tieren. Chemisch gesehen können wir heute formulieren: diese Naturganzheiten, an die wir erblich angepaßt sind, stellen bestimmte Kombinationen chemischer Stoffe dar, also Gemische von Kohlehydraten, Eiweißen, Fetten, Mineralstoffen, Vitalstoffen usw. Die Versorgung mit bestimmten Mengen dieser Stoffe innerhalb eines gewissen Spiel- und Zeitraums ist notwendig für jeden Menschen. Der ganz frühe Mensch war noch weitgehend instinktmäßig auf die richtige Ernährung eingestellt. Die eigentliche Menschwerdung hängt aber stark mit dem Verlust von Instinkten zusammen: die Wahlfreiheit des Handelns war dem Menschen gegeben, damit allerdings auch die Möglichkeit des Irrtums, hier jetzt des Irrtums im biologischen Verhalten und zwar in wachsendem Maße mit Steigender Intelligenz. Es kann also der Fall eintreten, daß die Versorgung mit den nötigen chemischen Stoffen nicht ausreichend erfolgt. Wir kennen z. B. Vitaminmangelkrankheiten, beim Vegetarier pflegt man nach der Eiweißversorgung zu fragen. Ob pflanzliche Nahrung ausreicht, kann hier nur in den kritischen Aspekten betrachtet und beantwortet werden. Die Wissenschaft hat zum Eiweißproblem 1 wechselnde Beiträge geliefert. Die Frage nach dem notwendigen Eiweiß ist sicher nicht leicht zu lösen bei der heutigen Menschheit mit ihren stark durch Zivilisationseinflüsse aller Art gestörten und kranken Gliedern. Der Bedarf an Nährstoffen ist einwandfrei nicht leicht festzustellen, sind doch Lebensweise, also Ernährung und alles sonstige Verhalten wie Bewegung, Sauerstoffversorgung, Alkoholgenuß und Rauchen geeignet, den Stoffwechsel tief zu beeinflussen, ganz abgesehen von den stofflichen Unterschieden, die in der geernteten Nahrungspflanze hinsichtlich Reife, Düngung, Behandlung mit Schädlingsbekämpfungsmitteln, Lagerung und vor allem auch aller weiteren küchentechnischen Behandlung gegeben sind, wobei auch die Beigabe von Gewürzen nicht unwesentlich ist. Ein hoher Rohkostanteil in der Nahrung könnte auch einen günstigeren Eiweißwert bedingen als die bürgerliche Kochkost. 31

Dazu gibt es keine absolut sichere, direkte Methode, sondern nur Methoden, die annähernde Aussagen gestatten. Für den Physiologen ist es also eine schwierige Frage, woher er das gleichmäßige »Ausgangsmaterial« für seine Beobachtungen und Versuche bekommen soll. Und Tierversuche sagen wohl für die betreffenden Tiere etwas aus, nichts aber oder wenig für den Menschen. »Es muß betont werden, daß die biologische Wertigkeit der gleichen Nahrungsstoffe für Versuchstiere (Ratte, Hund) und Menschen nicht übereinstimmt.« 2 Hinzu kommt, daß es kaum ein Gebiet der Ernährungslehre gibt, in das die Interessen der Industrie, der Weltanschauung und die Gewöhnung so stark hineinspielen wie in der Eiweißforschung, abgesehen davon, daß sich oft auch Wissenschaftler nicht von überkommenen Lehrbuchmeinungen lösen können. Die Menge des notwendigen Eiweißes hat schon früh in der Wissenschaft eine Rolle gespielt. Zur Zeit lauten die Lehrbuchforderungen für Erwachsene: täglich 1 g Eiweiß je kg Körpergewicht, Kinder und ältere Leute brauchen mehr. Durchschnittswert: 70 g. Der für uns wesentliche Zusatz heißt: »Eiweiß sollte zu einem Drittel bis zur Hälfte tierischen Ursprungs sein, wozu auch die Milchprodukte gehören.«3 Also werden tierisches und pflanzliches Eiweiß unterschiedlich bewertet. Die analytische Wissenschaft hat in der Eiweißforschung schwankende Werte genannt; manche Unterschiede gehen sicher auf die oben erwähnten grundsätzlichen Schwierigkeiten zurück. K Ü H N AU (1961) überschreitet mit 200 g täglicher Eiweißzufuhr sogar die Richtwerte, die vor dem ersten Weltkrieg von RUBNER und VOIT aufgestellt wurden: 120 bis 160 g. Es hat aber stets Vertreter eines viel geringeren Bedarfes gegeben. Die Welt-Ernährungs-Organisation (F.A.O.) erachtet zur Zeit 35 g als Richtwert. In der sogenannten Schulwissenschaft scheint in manchen Bereichen aller Fortschritt nur durch Aussterben von Vertretern bestimmter Lehrmeinungen möglich zu sein. Seit etwa 60 Jahren gibt es in der Wissenschaft wichtige Hinweise zu unserem Problem, die auch heute noch beachtlich sind. Die Lebensreformer kennen den Namen MIKKEL HINDHEDE, 4 und wer die Auffassungen des Kreises um MAX BIRCHER-BENNER verfolgt hat, erinnert sich an den Namen McCOLLUM und andere. In der weiteren Öffentlichkeit der Wissenschaft unserer Zeit ist das Lehrbuch von WERNER S C H U P H A N : Zur Qualität der Nahrungspflanzen (München 1961) bekannt, das von der Tatsache der jahrhundertelang fast völlig pflanzlichen Ernährung der Chinesen und anderer Völker ausgeht und feststellt, daß »Verallgemeinerungen, z. B. nur tierisches Eiweiß sei hochwertig, wissenschaftlich unzulässig ist«.5 Das Kollagen der Knochen und Knorpel sei minderwertig, hochwertig dagegen das Eiweiß der Alge Scenedesmus obliquus, das Blattgrün vieler Gemüse, das Eiweiß der Sojabohne und der Kartoffelknolle. In Bilanzversuchen mit der Kartoffel als einziger Nahrung ist ihre Hochwertigkeit nachgewiesen. KOFRANYI 6 bestätigt das: »Eier-Eiweiß und Kartoffel-Eiweiß haben etwa die gleiche Wertigkeit«; 32

schon 1877 hatte RUBNER »in Ernährungsversuchen am Menschen eine günstige N-Bilanz bei Kartoffelkost ermittelt« 7 . Leider hat die Kartoffel einen Rohproteingehalt von nur 2%>. Wir kommen zur genaueren Erörterung der Frage nach der biologischen Wertigkeit der Eiweiße. Die Fachleute sprechen von hochwertigem Eiweiß dann, wenn dieses geeignet ist, das Eiweiß des Menschenkörpers zu ersetzen. Wenn also 100 g eines Nahrungseiweißes 100 g Menscheneiweiß bilden können, ist es höchstwertig. Solch ein Nahrungseiweiß bzw. eine entsprechende Kombination könnte es geben. Dem Lehrbuch von KOFRANYI 8 entnehmen wir folgende Werte:

Die Eiweißstoffe verschiedener Herkunft sind also biologisch nach dieser Skala unterschiedlich wertvoll für uns. Das erklärt sich so: Die Eiweißkörper setzen sich aus Bausteinen zusammen, den Aminosäuren, von denen etwa 20 in unserer Nahrung auftreten, von denen aber 8 für uns lebensnotwendig sind und nach bisherigen Untersuchungen nicht vom menschlichen Organismus selbst hergestellt werden können; diese lebensnotwendigen nennt man essentielle Aminosäuren. Es sind:

Eiweißkörper, die diese Aminosäuren enthalten, heißen vollständige, die übrigen unvollständige; man spricht auch von hochwertigen und minderwertigen. Lange Zeit bis auf unsere Tage galt und gilt das Eiweiß tierischer Herkunft, also das aus Fleisch, Blut und Milch als das höchstwertige, mindestens aber als hochwertig. Nach der noch vorherrschenden Lehrmeinung bestimmt sich der biologische Wert eines Eiweißes nach dem LIEBIGschen Minimumgesetz, d. h. der Wert richtet sich nach der Menge der in geringstem und dann »limitierendem« Quantum vorhandenen essentiellen Aminosäure, deren Mangel nicht durch andere Aminosäuren ausgeglichen werden kann. Diese Lehre hat lange die Eiweißfrage beherrscht. Experimentelle Untersuchungen aus neuerer Zeit zeigen, daß das LIEBIGsche Gesetz auf Eiweißkörper nicht ohne weiteres angewandt werden kann. F. WOKES 9 stellt fest: »Ein Mehl aus gelben Erbsen hat den biologischen Wert 43«; es fehlt in ihm Methionin. »Ein Maismehl hat den biologischen Wert 35; es fehlt ihm Lysin. Die Mischung beider Mehle im Verhältnis 1 : 2 ergab ein Gemenge vom biologischen Wert 70 (ORR and ADAIR 1967). »Der biologische Wert von Eiweiß33

gemischen kann erheblich höher als ihre essentiellen Aminosäure-Werte sein, weil beim Gemisch von verschiedenen Eiweißen im selben Mahl ein Protein den Nährwert des anderen ergänzen kann.«10 ERNST KOFRANYP 1 stellt 1969 fest: »Man könnte annehmen, daß bei einer Mischung von zwei Nahrungsstoffen von verschieden hoher biologischer Wertigkeit die neue Wertigkeit in der Mitte liegt. Das trifft aber in keinem Falle zu: Mischungen zweier Proteine haben immer eine höhere Wertigkeit als die beiden Komponenten«, d. h. der Bedarf des Organismus an solchem Eiweißgemenge sinkt außerordentlich. Die Ursachen für dieses Verhalten sind noch nicht bekannt. Audi SCHUPHAN 1 2 weist darauf hin, daß »durch geschickte Kombination verschiedener pflanzlicher Eiweißträger... auch durch gegenseitige Aufwertung ein hochwertiges Nahrungseiweiß erzielt werden (kann)«.13 Mischung eiweißhaltiger Nahrungsmittel ist also zweckmäßig. Diese Auffassung hat durch neuere Forschungsergebnisse eine starke Stütze erhalten, so daß RALPH BIRCHER 1969 und 1970 in seiner Zeitschrift »Der Wendepunkt« 14 von einer »Wendung« und von einem »Umsturz in der Ernährungslehre« reden kann. Das Erstaunliche liegt darin, daß die biologische Wertigkeit eines Gemisches zweier Eiweißstoffe von unterschiedlicher Wertigkeit sich nicht bei einem Mittelwert einstellt, sondern bei einem höheren! Die britischen Forscher D. S. MILLER und PAMELA MUMFORD 15 schreiben daher: »By eating a varied diet and protein from a wide ränge of sources vegans and vegetarians are able to make 2 + 2 = 5!« Drei Beispiele mögen den Sachverhalt veranschaulichen: 1. 500 g Kartoffeln und ein Ei halten bei 70 kg Körpergewicht den Eiweißhaushalt im Gleichgewicht! Das sind täglich 25,9 g Eiweiß.16 2. 75 °/o Weizen- und 25 °/o Milcheiweiß ergaben zusammen ein Gemisch mit der hohen Wertigkeit des Hühnereiweißes. 17 RAGNAR BERG18 hatte in den 20er Jahren schon gesagt, daß Vollkornbrot durch wenig Milch hinsichtlich des Eiweißes vollwertig werde. 3. Das dritte Beispiel19 für eine Kombination ist für unsere Betrachtungen das wichtigste. Mischt man Bohnen und 2/ 3 Mais, deren Eiweiße von verhältnismäßig geringer Wertigkeit sind, ergibt sich eine Eiweißgesamtqualität, die der des Hühnereiweißes oder der Kartoffel entspricht! Notwendig ist dazu, daß 44 % des Eiweißes vom Mais und 56 % von den Bohnen geliefert werden. Dieses Ergebnis bedeutet: Pflanzliches Eiweiß niederer Wertigkeit ist durch geeignete Kombination hochwertig geworden! RALPH BIRCHER 20 , ein Kenner der Eiweißfrage, kommentiert dieses Ergebnis: »Wir haben hier die Lösung der Eiweißfrage vor uns, die von den Indio-Bevölkerungen Lateinamerikas gefunden wurde, die bekanntlich Fleisch nur ausnahmsweise und Molkereiprodukte überhaupt nicht genossen, also normalerweise auf rein pflanzliche Ernährung angewiesen waren und trotzdem eine 34

blühende Gesundheit und Leistungsfähigkeit entwickelten«, wie von einem amerikanischen Forscher und mexikanischen Wissenschaftlern 1946 gefunden wurde. 21 Hier ist auch ein Wort über die Milch nötig, weil sie mit ihren Produkten für viele Menschen ein wichtiger Eiweißlieferant ist. Ein außerordentliches Phänomen: Der Mensch ist wohl der einzige Säuger, der als Erwachsener noch Milch, und zwar Milch anderer Arten, zu sich nimmt. Vor etwa 20 Jahren stellten Ärzte die sogenannte Laktose-Intoleranz fest; es handelt sich hier um die Unfähigkeit, das Kohlehydrat Milchzucker der Milch abzubauen, was mit krankhaften Erscheinungen verbunden war. Auch im Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe, die Milchpulver in Hungergebiete geliefert hatte, ergaben weltweite Untersuchungen, daß vorzugsweise Westeuropäer, Skandinavier und weiße Amerikaner auch als Erwachsene Milch noch gut vertragen, nicht aber im allgemeinen die Angehörigen farbiger Rassen. Über die Ursachen scheint noch nicht volle Klarheit zu herrschen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Rückgang der Milchzuckerverträglichkeit beim Erwachsenen der Normalfall ist. Seit der Steinzeit haben sich möglicherweise bei den viehzuchttreibenden Völkern die Erbtypen mit der Fähigkeit Milchzucker zu verdauen, durchgesetzt oder einfach durch fortgesetzte Gewöhnung an tierische Milch nach dem Abstillen diese Fähigkeit bewahrt. Diese Beobachtungen sprechen also nicht gerade für eine ursprüngliche Fähigkeit der Milchverdaulichkeit bei Erwachsenen. Im Rahmen des Eiweißproblems muß hier auch einer noch nicht so lange bekannten Beobachtung gedacht werden: Aufbau von hochwertigem Eiweiß aus Luftstickstoff durch Bakterien ist auch beim Menschen möglich.22 Bei der Bevölkerung im Inneren Neuguineas, in Dörfern des Hochlandes, hatten Ernährungsforscher gefunden, daß ihre Nahrung zu 80—90 % aus auf Steinen erhitzten Bataten (Süßkartoffeln), der Rest aus Zuckerrohr, Sprossen, Blättern, Palmenmark, Bananen, Nüssen und dergleichen besteht. Der geringe Gehalt von höchstens 1 % dazu noch geringwertigen Eiweißes der Bataten und der übrigen pflanzlichen Lebensmittel ermöglicht eine tägliche Gesamteiweißaufnahme von 9—24 g! Von dieser überraschend geringen Menge ist noch die Eiweißmenge abzuziehen, die durch den Stuhl abgeht: 8—14 g hochwertiges (!) Eiweiß. Um hier ein Stickstoffgleichgewicht verständlich zu machen, nahmen die Forscher Aminosäuresynthese durch Dickdarmbakterien aus Luft-Stickstoff an. 1970 wurden diese Bakterien dann tatsächlich bei der Bevölkerung nachgewiesen. Die stärke- und faserreiche Nahrung bietet dabei den Bakterien ein gutes Substrat. Damit ist wieder eine Position gewonnen, weiter zu forschen und auch bei anderen Menschengruppen nach solchen Bakterien zu suchen. Jedenfalls ist das Problem des Eiweißhaushaltes bei rein pflanzlicher Ernährung durch diese Entdeckung seiner Erklärung näher gebracht. 35

Von den Nährstoffgruppen Kohlehydrate, Eiweiß, Fette, Mineral- und Vitalstoffe usw. dienen bei ökonomischer, biologisch wünschenswerter Versorgung die Kohlehydrate und ein Teil der Fette dem Energiestoffwechsel, die Eiweiße in erster Linie dem Baustoffwechsel zum Aufbau des Organismus und dem Ersatz der Abnutzung (Zellen, Hormone, Fermente, Blut, Sekrete). Kohlehydrate und Fette können sich gegenseitig vertreten; hingegen: »Eiweiß läßt sich durch nichts ersetzen.«23 Experimentelle Forschungen haben ergeben, daß bei einer pflanzlichen Kostform leicht Gefahren drohen, wenn sie hinsichtlich der Kalorien ungenügend ist; in diesem Falle werden die knapp vorhandenen Nährstoffe, insbesondere Eiweiß, nicht zum Aufbau und Ersatz benutzt, sondern zur Energiegewinnung abgebaut. Ein solcher Stoffwechselverlauf ist unökonomisch und gefährdet die Baustoffversorgung. Diese Gefahr besteht kaum in den modernen Industriestaaten, wohl aber in den Entwicklungsländern. 24 Die beiden britischen Forscher und Ärzte ALI N. K U R T H A und FREY R. ELL IS24 haben Vegans aus Holland, Israel, dem Vereinigten Königreich und den USA untersucht und gefunden, daß der Eiweißhaushalt in Ordnung war. Die Vegans waren durchschnittlich kleiner und schlanker als ihre omnivoren Kontrollpersonen, immerhin lagen die gemessenen Werte noch innerhalb der normalen Grenzen. V e g a n s sind Vegetarier, die sich streng pflanzlich ernähren, also weder Milch noch Milchprodukte und Eier zu sich nehmen. Bei der Versorgung mit Kohlehydraten tritt bei Vegetariern kaum ein Mangel auf. Da Vegetarier auch meist reichlich Rohkost zu sich nehmen, ist ein Mangel an solchen Stoffen, die in frischen Pflanzen vorhanden sind, nicht zu befürchten; hier liegt ein Problem der Kochköstler. Die Versorgung mit Fetten durch pflanzliche ö l e und fettreiche Früchte und Samen kann sichergestellt werden. Von den Vitalstoffen ist unter Umständen Vitamin B12 nicht ausreichend vorhanden. Vitamin B12 wird mit Pflanzennahrung fast nicht aufgenommen; der Saft der Roten Beete, Petersilie und wahrscheinlich noch andere Pflanzen enthalten Vitamin B12, ebenso der Hefe-Extrakt Vitam-R 25 . In Nahrung tierischer Herkunft ist dieses Vitamin vorhanden, etwa in der Leber und anderem Fleisch, ferner in den Fäzes von Mensch und Tier. Die Bakterienflora des Dickdarmes ist zur Bi2-Synthese fähig, nur scheint aber die Darmwand das gebildete Vitamin nicht oder nicht immer aufzunehmen; in der Regel besorgt der letzte Teil des Dünndarms (Ileum) das. Bei einigen Vegans, die 14—17 Jahre von Nahrung ohne B12 gelebt hatten, fand man, daß der Serum Bi2-Spiegel normal aufrecht erhalten war. Deutung: entweder konnte der Dickdarm B12 absorbieren oder im Ileum hatten sich B12 produzierende Bakterien angesiedelt.26 Bei einigen Vegans in Großbritannien und Dänemark traten Mangelsymptome auf: wunde Zunge, Unregelmäßigkeit in der monatlichen Blutung, Nervenstrangdegeneration und megaloblastische Anaemie (vergrößerte Blut36

körperdien). 27 Die Ursachen konnten noch nicht geklärt, die Beschwerden aber durch Vitamin Bi2-Gaben geheilt werden. Die meisten Vegans zeigten keine Mangelerscheinungen. Die Störung der Vitamin Biä-Synthese durch Faktoren der Ernährung oder der Lebensführung (Rauchen) ist wahrscheinlich. Von Geburt an streng vegan lebende Kinder im Alter von 6 Monaten bis zu 20 Jahren waren gesund und zeigten keine Vitamin Bi2-Mangelerscheinungen.26 Sollte nicht auch unsere keimfreie Hygiene den Vitamin Bi2-Mangel verschulden und die nicht-keimfreie bei vegan lebenden Naturvölkern den Mangel ausschließen? Der sogenannte Blinddarmkot spielt bei manchen Hasen- und Nagetieren (Kaninchen, Ratten) eine besondere Rolle bei der Selbstversorgung mit Vitaminen: er wird wieder aufgenommen; hindert man das Auffressen des eigenen Blinddarmkotes, gehen die Tiere zugrunde. 28

Neuere Arbeiten (1970)29 zeigen, daß Vegans nicht mehr Krankheitssymptome aufweisen als omnivore Zeitgenossen. RALPH BIRCHER 3 0 weist auf SCHWEIGARTs Untersuchung hin, die zeigt, daß der Vitamin Bi2-Bedarf mit der Eiweißzufuhr schwankt, bei eiweißökonomischer Ernährung also gering ist, und daß Vollmehl B12 enthält. WOKES 31 berichtet, daß nach 10 Jahre genossener Vitamin Bia-freier Pflanzenkost keine Mangelerscheinungen auftraten, was auf Regeneration der entsprechenden Bakterienflora des Dünndarms hindeute. Mit diesen Forschungsergebnissen der experimentellen Wissenschaft ist für uns klargestellt: 1. Der Mensch kann sich rein pflanzlich ernähren ohne Schaden. Natürlich ist eine geeignete Nahrungswahl notwendig; die praktische Kostform verlangt wegen ungenügender Erfahrungen in den Ländern der westlichen Zivilisation besondere Aufmerksamkeit. 32 Die Vegankost hat damit eine wichtige wissenschaftliche Grundlegung für ihre Möglichkeit erfahren. 2. Es wird schon jetzt verständlich, daß Vegans mit geringen Tagesmengen an hochwertigem Eiweiß gesund und leistungsfähig sind und bleiben können. Weitere Forschungen sind erwünscht. 3. Für die laktovegetabil lebenden Vegetarier — das ist in den westlichen Ländern wohl die Mehrzahl — besteht nach den konventionellen Lehren der Humanphysiologie kein Problem. Durch Eier, Milch und Molkereiprodukte wird das geforderte hochwertige tierische Eiweiß geliefert. Diese Feststellung ist wichtig, weil der Laktovegetarismus als Übergangsform zum Veganismus angesehen werden kann. Eigentlich ist die Frage nach der hinreichenden Versorgung der Vegetarier schon längst durch handgreifliche Tatsachen beantwortet. Es gibt viele Vegetarier, Vegetarier von Geburt, die bei ihrer Kostform gesund und leistungsfähig sind, m i n d e s t e n s aber nicht kränker und weniger leistungsfähig sind als omnivor lebende Menschen. 37

Die vegetarische Lebensweise erhält und fördert erfahrungsgemäß die Gesundheit, sie verspricht aber niemandem absolute Gesundheit und hohes Lebensalter, da es vielerlei Krankheits- und Todesursachen gibt und die Ernährung nur ein Faktor der Lebensführung ist. Reine Frucht- und Pflanzenkost kann Heilung fördern. Diese Kostform bietet dem mit Schwierigkeiten ringenden Leib oft eine größere Möglichkeit heilsamer Ernährung als die übliche Mischkost. Was in der Not höchste Hilfe bringt, kann in gesunden Tagen nicht schlecht sein. Es kann nur als ein psychologisch zu deutendes geistesgeschichtliches Phänomen angesehen werden, daß all die Wissenschaftler solcher alleiniger Hochschätzung des tierischen Eiweißes nicht bemerkten, daß Millionen Menschen auf der Erde jahrhundertelang sich ohne Schaden rein pflanzlich, also mit »minderwertigen« und zu wenig Eiweißen ernährt haben. Und selbst die wenigen Vegetarier in unserem Zivilisationsbereich hätten die Forscher eigentlich aufhorchen lassen müssen.33 Mit diesen Ausführungen soll der spezielle Blick auf die Physiologie des Vegetariers abgeschlossen werden. Mit den naturwissenschaftlich-biologischen Feststellungen öffnet sich die Sicht auch auf ein anderes, hier anzusprechendes Problem: Prähistoriker, Historiker, Völkerkundler und auch Verhaltensforscher sprechen von frühen Menschen hauptsächlich als von Jägern, kaum einmal von Sammlern! Der Mensch in seiner urtümlichen Lebensweise, wenn er als Vegetarier vorgestellt wird, kann natürlich nur Sammler gewesen sein. Das Sammlertum der Vorzeit ist schlecht feststellbar, weil es keine beständigen Zeugnisse hinterlassen konnte. Jagd und Tierzucht waren sicher nicht immer notwendig, die Eiszeiten werden für die Eisrandmenschen die Jagd zur Sicherstellung des Nahrungsbedarfes nötig gemacht haben. Für uns ist aber entscheidend: Seit den Zeiten der Menschwerdung im Ende des Tertiärs, also vor einigen wenigen Millionen Jahren, ist der Mensch in seiner erblichen Grundstruktur, soweit sie die Ernährungsweise betrifft, nur wenig oder nicht anders geworden. Mit den Summoprimaten Gorilla und Schimpanse, seinen nächsten Artverwandten, hatte der letzte, noch nicht menschliche Menschenvorfahr sicher die frugivore Lebensweise gemein. In jener Zeit spätestens ist diese Anpassung erblich fixiert worden, sie hat sich im Grunde bis heute erhalten, wie wir aus den naturwissenschaftlichen Betrachtungen schließen dürfen. So fest war diese Grundstruktur, daß die harten Bedingungen der Eiszeiten nicht vermochten, sie umzugestalten, vor allem nicht das Gebiß. O. BUCHINGER 3 4 meinte, »der berühmte >Neandertaler< ist ein in den Schrecken der Eiszeit verwilderter Mensch«. In den Eiszeiten bewährte sich für die am Eisrande lebenden Menschen ein wesentliches Menschenmerkmal, der teilweise Instinktverlust, der wahlfreies Handeln ermöglichte, auch auf dem Gebiet der Ernährung. Starre instinktgebundene Ernährung würde den Untergang dieser Menschen bedeutet haben; denn 38

eine Umstellung auf tierfleischreiche Kost wäre ihm dann kaum möglich gewesen. Die Eiszeiten erlaubten sein Überleben durch Übergang zur Omnivorie. Es ist aber anzunehmen, daß der >Sündenfall< wohl schon vorher, noch vor Beginn der Not, der Vegetationsdürftigkeit arktischer und subarktischer Regionen eintrat und Spieltrieb und Kausaltrieb, das Neugierverhalten, den Menschen Bekanntschaft mit anderer Kost vermittelten. Mengenmäßig wird die Abweichung weithin unbedeutend gewesen sein. Mit dieser Möglichkeit ist aber nicht gesagt, daß die erlernte Omnivorie noch in dem Bereich optimaler Anpassung lag. Omnivorie ist uns heute noch möglich und war in den Eiszeiten wohl Notwendigkeit und Notkostform. Wir wissen nicht genau, mit welchen Schädigungen und gesundheitlichen Belastungen dieses Überleben erkauft werden mußte. An den prähistorischen Knochenfunden sind teilweise starke Entartungen festgestellt worden.35 Wahrscheinlich lassen die Beobachtungen an ostgrönländischen Eskimos (1936), die HÖYGAARD 3 6 1941 veröffentlichte, etwa ahnen, welche Leistung für den Eiszeit- und Eisrandmenschen möglich war. HÖYGAARD fand, daß die Männer früh unter degenerativen Arterienveränderungen litten, wachsende Merk- und Gedächtnisstörungen aufwiesen, ihre Energie verloren und auch die Eignung zur Jagd vor dem 35. Lebensjahr. Hinzu kommt hier noch, daß die >ganz andere Qualität der eiweiß- und fettreichen Nahrungsmittel, die mit der des Fleisches unserer Tierzüchter nicht vergleichbar ist, manche Mängel im Nahrungshaushalt kompensierten. Das Fleisch der Eskimobeutetiere war toxisch wenig belastet, stammte von natürlich lebenden Tieren, die ihre Nahrung nicht aus künstlichen Monokulturen holten und nicht auf Quantität gezüchtet waren, das schonend zubereitet war usw. Man muß also wohl sagen: Das Überleben des Eisrandmenschen wie die Existenz der gegenwärtigen Menschen am Rande der Ökumene, zeigt, daß Omnivorie biologisch möglich ist, es zeigt aber nicht, daß diese Möglichkeit die optimale ist. Nicht auszuschließen ist, daß vielleicht auch durch Selektion extremer Varianten bis zu einem gewissen Grade Anpassung erfolgte.37

Anmerkungen 1 Zur Bearbeitung des Eiweißproblems waren mir sehr nützlich die Arbeiten der Zeitschrift »Plant Food For Human Nutrition« (abgekürzt P F H N ) (Pergamon Press Oxford, London . . . ) und Berichte der Zeitschrift »Der Wendepunkt« (Erlenbach/ZH, Schweiz) und die Arbeit des Herausgebers R A L P H B I R C H E R : »Zur Eiweiß-Frage« in »Diaita« 1972/11. 2 E R N S T K O F R A N Y I : Die biologische Wertigkeit von Eiweiß. In: Ernährungslehre und -praxis. Beilage zur Ernährungs-Umschau N r . 9/Sept. 1969. S. 33. 3 K. FRANKE: Ernährung und Leistungssteigerung. In: F. HEISS und K. FRANKE: Der vorzeitig verbrauchte Mensch. Stuttgart 1964. S. 263. 4 M. H I N D H E D E , Arzt und Ernährungsforscher und zur Zeit des 1. Weltkrieges Minister in Dänemark. 5 S C H U P H A N a.a.O. S. 27. 6 K O F R A N Y I : a.a.O. S. 34.

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7 S C H U P H A N , M Ü H L E N D Y C K und OVERBECK: Wertgebende Inhaltsstoffe der Kartoffel in Abhängigkeit von verschiedenen haushaltsmäßigen Zubereitungen. In: Qualitas Plantarum et Materiae Vegetabiles. Vol. XVII. No. 3. S. 171. 8 K O F R A N Y I : Einführung in die Ernährungslehre. Frankfurt 1960. S. 51. 9 Proteins. In: P F H N Vol. 1. No. 1 May 1968. S. 36. 10 WOKES: a.a.O. S. 36. 11 K O F R A N Y I : wie Anm. 2. S. 33. — K O F R A N Y I und JEKAT: Nierendiät aus Erdapfel und Ei. Selecta X (Planegg). 28. 10. 1968. S. 2875 ff. Vergl. auch: R. KLUTHE (Hrsg.): Fortschritte in der Diätetik bei Nierenkrankheiten. Stuttgart 1968.Darin:E.KOFRANYI: Biologische Wertigkeit und Minimalbedarf von Eiweiß bei Gesunden. 12 S C H U P H A N : wie Anm. 5. 13 Bei der Berechnung der Biologischen Wertigkeit der Eiweiße benutzt man den sog. EASIndex, der auf Volleiprotein bezogen wird. Die hohe biol. Wertigkeit pflanzlicher Nahrungsmittel nach dem EAS-Index für 8 Aminosäuren zeigt sich bei Bezug auf Muttermilchprotein : Muttermilchprotein Volleiprotein Trockenerbsen Spinat Kopfsalat Kartoffel Kohlrübe Vollei

77 85 82 89 68 98

61 65 63 72 52 100

(Nach: Jahresbericht 1966 der Bundesanstalt für Qualitätsforschung, I, S. 24.) 14 1969 H e f t 4 und 1970 H e f t 4. 15 The nutritive value of western vegan and vegetarian diets. P F H N Vol. 2. No. 3/4. March 1972. S. 209. 16 S C H U P H A N und andere: Die Kartoffel. Ihr Wert für die Ernährung in verschiedener Zubereitung. In: Ernährungs-Umschau 15/10. Okt. 1968. S. 336. 17 K O F R A N Y I : wie Anm. 2. S. 34. 18 R. BERG und M. VOGEL: Die Grundlagen einer richtigen Ernährung. Dresden 1929. 19 K O F R A N Y I : wie Anm. 2. S. 34. 20 Der Umsturz in der Ernährungslehre. In: Der Wendepunkt. 1970. H e f t 4. S. 148. 21 Eine genauere Information über die quantitativen Aminosäuren-Verhältnisse in der Kost der Lactovegetarier und Vegans bietet das Vitalstoff-Tabellarium mit seinen Tabellen »Biologische Eiweißwerte« in »Vitalstoffe/Zivilisationskrankheiten« bis Okt. 1961. 22 Die folgenden Ausführungen nach dem Bericht von R A L P H BIRCHER in »Der Wendepunkt« 1973 H e f t 3 S. 102 ff. Hier auch die Originalquellen. 23 K O F R A N Y I in KLUTHE wie Anm. 11. S. 5. 24 ALI N. K U R T H A and FREY R. ELLIS: The nutritional, clinical and economic aspects of vegan diets. In: P F H N Vol. 2. No. 1. June 1970. S. 13 ff. Ferner: wie Anm. 15. S. 213. 25 Auskunft der Biotta AG, CH-8274 Tägervilen TG, vom 6. Mai 1974 aufgrund eines Gutachtens des Schweizerischen Vitamininstitutes Basel von 1973. — »Vitam Hefe-Extrakt wissenschaftlich begutachtet«, Schrift der Vitam GmbH., Hameln. 26 Wie Anm. 24. S. 18 f. Ferner: FREY R. ELLIS and J O H N W. ELLIS: Vitamin B 12 with particular reference to children. (Sonderdruck der Vegan Society, U. K.) 27 Wie Anm. 24. S. 13 ff. 28 T H . H A L T E N O R T H : Klasse Mammalia, Säugetiere. In: Handbuch d. Biologie. Bd. V I / 3 (1971). S. 1178. 29 Wie Anm. 22. S. 18. Alle anderen Arbeiten über die gesundheitliche Beurteilung der Vegans in P F H N sind wichtig. 30 Wie Anm. 1: Zur Eiweißfrage. 31 F. WOKES in einem Literaturreferat in P F H N Vol. 1 No. 3. Juni 1969. S. 193.

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32 Ein gutes Vegan-Kochbücblein: K Ä T H E SCHÜDER: Vegan-Ernährung. Bad Homburg vor der Höhe 1962. Zu beziehen von der Verfasserin: D-2407 Lübeck-Travemünde, Lembkestraße 7. 2. Aufl. 1975. 33 Auf dem Vitalstoffkonvent 1972 in Berlin erlaubte sich ein Universitätsphysiologe (BRD), in einem Vortrag zu verkünden: »Von Bananen kann man nicht leben, Vegetarismus ist nicht möglich!« — Eine Studie »Laktovegetarismus-Endstation?« (naturw. und ethische Aspekte) veröffentlichte K. A. Höppl in »Der Vegetarier« 1975. 34 Das Heilfasten. Stuttgart 1936. S. 103. 35 Auf die pathologischen Veränderungen der Kiefer eiszeitlicher Menschen weist R. L E H N E hin in seiner Arbeit »Über die ursprüngliche Lebensweise des Menschen« in: Deutsche zahnärztliche Wochenschrift, 43 (1940). Nr. 42 S. 685 ff. 36 Nach R. BIRCHER: Nutrition and health of the Eskimoes. Referat in P F H N Vol. 1. No. 3 Juni 1969. S. 199 f. 37 R. BIRCHER: Eskimo oder Bantu? — Um die Zukunft unserer Ernährung. In: Vitalstoffe/Zivilisationskrankheiten Bd. VII. H. 3 (29). Juni 1962 S. 93 ff.

WILHELM BROCKHAUS: Das Verhalten des Menschen hinsichtlich der Ernährung So sicher es ist, daß die rationale, verantwortliche Moral des Menschen den wesentlichen Beitrag zur Lösung seiner drängenden Gegenwartsprobleme leisten muß, so sicher ist es auch, daß eine solche Lösung ohne Appell an seine gefühlsmäßigen, nichtrationalen Tötungshemmungen nicht möglich sein wird. WOLFGANG D E N N E R T

In der Argumentation für den Vegetarismus haben viele Gründe eine Rolle gespielt. Wenn wir dieser Lehre eine wissenschaftliche Basis geben wollen, müssen sich ihre Begründungen auch den Normen der Wissenschaft gewachsen zeigen. Unter Wissenschaft verstehe ich hier ein Verfahren zur Gewinnung von Erkenntnissen und Formulierungen, das von jedem normalen Menschen nachvollzogen werden kann, wenn er sich darum bemüht. Wissenschaft ist kein privates Vermögen einzelner erleuchteter Geister, sondern ein Erkenntnisverfahren, das nach Weg und Ergebnis jedem Erkenntniswilligen zumutbar ist. Unter den Begründungen für den Vegetarismus, die jedermann zumutbar sein wollen, kann man zwei große Gruppen unterscheiden: die Gruppe der ethischen und die Gruppe der biologischen Gründe. Die biologischen Gründe sind als naturwissenschaftliche Argumente so klar darstellbar, daß man sie verhältnismäßig leicht auffassen, annehmen und einsehen kann; sie sind in den vorhergehenden Abschnitten enthalten und werden in anderen Beiträgen weitergeführt. Von den ethischen Gründen sagt man heute in der angloamerikanischen Welt und weithin auch im deutschen Sprachbereich, daß sie außerwissenschaftlich sind, daß sie mit gängigen Methoden, den naturwissenschaftlichen und ähnlichen weder zwingend abgeleitet noch formuliert werden können. Die Frage, ob Ethik als Wissenschaft möglich ist, sei hier aber offen gelassen. 41

In die praktisdie Diskussion um die Ethik hat sich in den letzten 30 Jahren verstärkt eine Betrachtungsweise eingemischt, die man weder zur Ethik rechnen kann, noch voll zur Biologie im landläufigen Sinne, das ist die Verhaltenskunde, die Ethologie. Man fragt in dieser Wissenschaft nach dem Verhalten der Tiere oder der Menschen, und zwar ohne Rücksicht auf die Motivation. Diese Betrachtungsweise ist empirisch, ihre Ergebnisse werden aus Beobachtungen von Bewegungen gewonnen. Das Resultat hat gesetzlichen Charakter, ist also naturwissenschaftlich. Nach dieser kurzen Charakterisierung kann man das so untersuchte Verhalten eindeutig zur Naturwissenschaft rechnen. Bei Tieren empfindet man dabei kaum Hemmungen, das zu tun; beim Menschen fällt das schon schwerer. Es geht ein wenig verloren vom Nimbus des »freien« Wesens. In unserem alltäglichen Verhalten ist viel mehr an gesetzlich, aber ungewollt und unmotiviert ablaufenden Bewegungen als wir gewöhnlich ahnen. In unserer Untersuchung wollen wir bei der scharfen Trennung bleiben, bei der Unterscheidung 1. des beobachteten Verhaltens und 2. des Handelns im eigentlichen Sinne, also des bewußten Sichbewegens auf Grund von Zweckmäßigkeitserwägungen oder ethischen Entschlüssen. Uns soll jetzt das bloße Verhalten interessieren, wie es auch verursacht oder motiviert sei. Den Forscher interessiert dabei die Regelhaftigkeit des Verhaltens, die Gesetzmäßigkeit. Hat man Regelhaftigkeit festgestellt, fragt sich, ob sie auf bloße Gewöhnung zurückgeht oder ob sie angeboren, also ererbt ist. In der Anthropologie ist weithin unbeachtet geblieben, daß auch beim Homo sapiens ein nicht unwesentlicher Teil seines Verhaltens nicht angewöhnt wurde, sondern auf Grund ererbter Anlagen erfolgte. Die moderne Verhaltensforschung hat für die Tiere beachtliche Erkenntnisse zutage gefördert; auch vom Menschen wurde Erstaunliches bekannt. Die Vegetarier haben von der Verhaltensforschung sehr wenig Notiz genommen. Wer die Tiere richtig behandeln will und auch, wer sich selbst recht erkennen will, kann auf die Ergebnisse der Verhaltensforschung nicht verzichten. Ich nenne hier einige bedeutsame Werke, die zugänglich sind: N. TINBERGEN: Instinktlehre. Berlin 1953. N. TINBERGEN: Tiere untereinander. Berlin 1955. K O N R A D LORENZ: Das sogenannte Böse. Wien 1963. K O N R A D LORENZ: Uber tierisches und menschliches Verhalten. Gesammelte Abhandlungen. Bd. I und II. München 1965. K O N R A D LORENZ: Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen. Taschenbuch dtv Nr. 173. 42

KONRAD LORENZ und PAUL LEYHAUSEN: Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens. Gesammelte Abhandlungen. München 1968. K O N R A D LORENZ: Die Rückseite des Spiegels. München 1973. E R I C H VON HOLST: Zur Verhaltensphysiologie bei Tieren und Menschen. München 1969. IRENAUS V O N EIBEL-EIBESFELDT: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. München 1967. IRENAUS V O N EIBEL-EIBESFELDT: Der vorprogrammierte Mensch. Wien 1973. Was hat nun der Vegetarismus mit der Verhaltensforschung zu tun? Sehr viel! Wenn nämlich die vegetarische Lebensweise eine natürliche, biologisch ursprüngliche Lebensweise des Menschen ist, dann ist damit zu rechnen, daß sie auch angeborene, ererbte Elemente aufweist. Ererbte anatomisch-physiologische Elemente, aber auch solche des Verhaltens! Mechanisch-anatomische und physiologisch-chemische Einrichtungen und Werkzeuge und sozusagen die Bedienungsanweisungen dazu! Solche Elemente müßten sidi, wenngleich verborgen, erhalten haben, zumal LORENZ einmal feststellte: »Instinktmäßige Verhaltensweisen sind noch konservativer als morphologische Merkmale.« Schon das Erlangen der Beute ist für den nicht mit künstlichen Hilfsmitteln versehenen Naturmenschen biologisch, d. h. nach Bau, Organen und Verhaltensweisen, schwierig; alle Fleischesser sind stark an die Aufgabe des Beutemachens angepaßt. Aber: »Uns Menschen hat die Natur kaum Vernichtungswaffen mitgegeben!«1 Die Steinzeitmenschen haben Tiere gejagt mit Knüppeln, Steinen, Fallgruben und, wahrscheinlich mit dem geringsten Kraftaufwand (Treiben durch Lärm), nach der Weise, wie sie von Solutre (Burgund)2 bekannt ist. Uber die anatomisch-physiologischen Elemente ist immer viel gesprochen und geschrieben worden; die Elemente des angeborenen Verhaltens sind nicht selten in der Argumentation mit verwertet worden, allerdings meist in unklarer Weise und mit ethischen Gründen verwechselt oder vermengt. Hier Klarheit zu schaffen, möchte ich versuchen, aber auch zeigen, daß hier ein Gebiet brach liegen gelassen wurde, ein Gebiet, das für die Begründung des Vegetarismus noch herangezogen werden muß. Ebenso hat die Heilkunde diesen Tatbestand wenig beachtet und genutzt. Den »Ablehnungsinstinkt gegen die Ernährungsform des Fleischfressers« hat kein Geringerer als der bedeutende biologische Arzt aus Baden-Baden, HANS MALTEN, 3 in das Niveau sachlich-wissenschaftlicher Betrachtung zu heben versucht. Von seiner Instinktlehre sind die wesentlichen Positionen auch heute noch tragbar. Tiere werden durch erblich fixierte Triebe, Instinkte, zu biologisch zweckmäßigem Verhalten genötigt, ohne daß Einsicht eine Rolle spielt; die Instinkte »treten immer fertig auf, sie bedürfen keinerlei Übung und Er43

fahrung«! Diese These wird die exakte Verhaltensforschung heute etwas differenzierter formulieren. Instinkte aber können unterdrückt und abgewöhnt werden. Instinkte ermöglichen Reaktionen nur auf naturbestimmte Sachlagen, sie leiten die »Einordnung (des Individuums. W. B.) in die naturbestimmte Umwelt«, an die Lebenssituation der Zivilisation sind sie nicht angepaßt. Diese Grundgedanken sind im wesentlichen heute in der Verhaltensforschung Allgemeingut geworden. »Tatsächlich haben wir einen kräftigen, triebhaften Appetit nadi Braten und ähnlichen >guten< Dingen«, lesen wir bei MALTEN, 4 der dann darauf hinweist, »daß Instinkte ihren Träger nur in naturbestimmten Situationen richtig leiten . .. Auch seine Fleischkost sieht (der Mensch) nur als Kunstprodukt: Das saubere, mehr oder minder verarbeitete Fleischstück im porzellan- und chromglänzenden Metzgerladen und noch mehr die gekochte oder gebratene Zubereitung ist eine neutrale >Speise< ohne Hinweis auf die Tötung, als künstliche Situation ohne >Schlüsselreiz< für den Ablehnungsinstinkt. In solchen instinktfreien Bereichen entwickeln sich dann zuweilen lebensschädliche Genußtriebe, die Süchte: Der Hang des Menschen zur Fleischkost ist eine solche Sucht.« Der Ablehnungsinstinkt gegen Fleisch wird nur ausgelöst durch eine naturbestimmte Sachlage, er spricht also nur an auf rohes, ungekochtes und unzubereitetes Fleisch, »gegenüber der gekochten Kulturkost besitzt der Mensdi keinerlei Instinkte zur biologischen Bewertung«.5 Das entspricht der Situation des frühen Naturmenschen. Uns leitet heute bei der Nahrungsbewertung hauptsächlich der Geschmack, wenn auch Anblick, Form, Konsistenz, Geruch, Temperatur und Farbe unser Urteil mitbestimmen. Ich behaupte, daß der Mensch 1. eine angeborene, ererbte Tötungshemmung mindestens den hochentwickelten Wirbeltieren gegenüber besitzt, 2. daß er einen mit dem ersten eng zusammenhängenden Ablehnungsinstinkt gegen das Fleischessen besitzt. Sollte sich für diese Behauptungen einiges sagen lassen, ist lediglich ein Natursachverhalt aufgewiesen, keinesfalls aber eine ethische Forderung damit erhoben. »Bezeichnend.. . für negative Instinkte (ist) der Ekel, der vor naturbestimmten Schädlichkeiten schützt«6; er ist wohl das unter Umständen physiologisch stark wirksame Gefühl, das die Ablehnungsreaktion begleiten kann, und zwar in sehr unterschiedlicher Intensität. Der Ekel in diesem Sinne ist nicht Ausdruck eines sittlichen Urteils. Instinkte, wie auch die beiden hier zu besprechenden, die Tötungshemmung und der Ablehnungsinstinkt, sind keine absolut wirkenden Faktoren. Instinkte können überspielt, unterdrückt und >abgewöhnt< werden. Der Mensch hat die Eiszeiten wohl nur überleben können durch Rückgriff auf eine Notkost, indem 44

er Tiere fing, jagte und die Beute in seine pflanzliche Kost einfügte. Wenn nun trotz der Härte der Eiszeit und ihres Jahrhunderttausende langen Währens beim Menschen der Gegenwart dieser Ablehnungsinstinkt noch aufweisbar ist, spricht das für seine biologische Bedeutung. Die durch Fleisch ergänzte Naturkost war unter den Bedingungen der Eiszeit biologisch möglich; aber: das Beharren der anatomisch-physiologischen Strukturen des Gebisses und des Darmes im Zusammenhang mit dem Nochvorhandensein der Tötungshemmung wie des Ablehnungsinstinktes auch nach den scharfen Ausleseverhältnissen der Eiszeiten berechtigt zu dem Schluß, daß auch diese Fakten heute noch für eine pflanzliche Kost als optimale Ernährungsweise sprechen. Welche Zeugnisse sprechen nun für eine Existenz der Tötungshemmung und, zuweilen in Zusammenhang mit ihr, des Ablehnungsinstinktes? Die direkte Feststellung und sachliche Beurteilung jener Verhaltensweisen ist wohl nur selten möglich; es stehen uns fast nur gelegentliche Äußerungen und Beobachtungen zur Verfügung zu einer indirekten Deutung. Diese Schwierigkeit liegt in der Natur der Sache. Zehn unterschiedliche Zeugnisse und Hinweise seien hier mitgeteilt: 1. Eine sehr große Zahl unserer Zeitgenossen empfindet äußerste Hemmungen, die als Nahrung verwendeten Tiere selbst zu schlachten. Das bezieht sich besonders auf Pferd, Rind, Schwein, Ziege, Schaf, Kanin, ja auch noch auf Geflügel und Fisch. Diese Hemmung wird verstärkt bei eigener Aufzucht der Schlachttiere. Auch der berufsmäßige Schlächter ist nicht frei von solchen Tötungshemmungen, insbesondere nicht in der Jugend, im Beginn des beruflichen Tötens. Das haben mir ohne Scheu viele Schlachter bestätigt; es wurde meist ohne besondere Aufforderung berichtet von Versuchen, von diesem Beruf loszukommen, und von den ausgestandenen Qualen, bis man sich in die Ausweglosigkeit fand und langsam abstumpfte — nicht völlig zwar. 2. In zwei ländlichen, benachbarten, nicht sentimentalen Familien, die jede eine Ziege aufgezogen hatten, erlebte ich: keiner wollte die selbstaufgezogene Ziege schlachten und noch weniger deren Fleisch essen! Am Schlachttage tauschten die Familien ihre Ziegen aus! So war die Welt wieder einigermaßen >in OrdnungSo wenig Leid wie möglich !< als einzigen, gut tragbaren Ausweg erscheinen. Das Leid ist zwar nicht genau bestimmbar; immerhin geben uns Schmerz und Leid in der eigenen Erfahrung Anhaltspunkte für die Abschätzung der Lage bei den höheren Tieren, hier und da auch eine Ahnung für die niederen Tiere. Es ist einzusehen, daß mit unserer Begrifflichkeit, die schon in sich Grenzen der Anwendbarkeit hat, die Extreme verhältnismäßig leicht zu fassen sind, daß es aber einen Ubergangsbereich gibt, in dem der Grad des Tierpersonseins unscharf oder ungewiß ist und daher keine eindeutige sittliche Forderung zuläßt. Hier fragt es sich, wo der »Schnitt« anzusetzen ist, bei dem diesseits der Personcharakter überwiegt. Das Gewissen des Einzelnen muß hier entscheiden, wobei zu sagen ist, daß man stets nach dem Recht fragen, aber nicht immer nach ihm handeln m u ß . Ich kann und darf unter Umständen auf das eigene Recht verzichten. Barmherzigkeit, Liebe und Ehrfurcht stehen zweifellos hoch, in vielen Fällen — vielleicht nicht immer — höher, bieten jedenfalls andere Kriterien, die uns in Zweifels- und Übergangsfällen zu würdigen Entscheidungen verhelfen. Das Recht der Tiere zu achten ist schwer, ist aber viel weniger als FRANZ V O N ASSISI von sich forderte, als er sagte: »Ich liebe die Tiere wie meine Brüder!«

Motto: Die Rechte der Tiere. Berlin 1907. S. 19 f. 1 J. U D E : Du sollst nicht töten! Dornbirn 1949. 2 C. A. SKRIVER: Die Regel der Nazoräer im 20. Jahrhundert. Berlin-Dahlem 1960. Der Verrat der Kirchen an den Tieren. München 1967. Die Lebensweise Jesu und der ersten Christen. Lübeck-Travemünde 1973. Motto: Anthropologie des Tieres. München 1973. S. 201 f. 3 L. N E L S O N : Die kritische Ethik bei KANT, SCHILLER, FRIES. Göttingen 1914. S. 523. 4 L. N E L S O N : System der philosophischen Ethik und Pädagogik. Göttingen 1932. § 44. Ferner: System der philosophischen Rechtslehre und Politik. Göttingen 1924. § 15. 5 L. N E L S O N : System der phil. Ethik. § 46. 6 R I C H A R D DE GEORGE: Duties and ideals in L. NELSONs ethics. In: KANT-Studien Bd. 51. 1959/60. S. 266 f. 7 8 9 10

System der phil. Ethik. § 67. a.a.O. S. 11. SALT: a.a.O. S. 7. N E L S O N (System der phil. Ethik § 44) definiert Würde anders: »Einem Gegenstand, der durch das Gesetz unserem Belieben entzogen ist, schreibt man Würde zu. Die Würde der Person ist daher die Bedingung, auf die das Sittengesetz unser Handeln einschränkt.« 11 MAGNUS S C H W A N T J E : Tierverachtung und Christentum. Ethische Rundschau (Berlin 1912). H. 8/9. S. 154. Noch 1949 erklärt Bischof Dr. J. M A C H E N S (Hildesheim) in seinem Kirchenblatt (nach: Tierfreund 1949 Nr. 9): » . . . Tiere haben keine geistige Seele und kennen kein Fortleben nach dem Tode. Darum haben sie aber auch keinerlei Würde, auf die sie Rechte bauen könnten. Und in der Tat, Tiere haben keine Rechte. Sie haben keinen Anspruch auf Dasein und Gesundheit, auf Eigentum und guten Ruf!« — Der kath. Philosoph und Priester ALOYS MULLER sagt in seinem Buche »Welt und Mensch« (Bonn 1947 S. 194): »Weil die Tiere keine Personen sind, gibt es ihnen gegenüber keine Handlungen der Barmherzigkeit oder Unbarmherzigkeit, der Gerechtigkeit oder der Ungerechtigkeit.« — In solchen wohlüberlegten Äußerungen zeigt sich klar: »Die Menschheit verteidigt ihre Selbsteinschätzung mit allen Mitteln.« ( K O N R A D L O R E N Z : Das sog. Böse S. 338). 12 Damit in dieser Sache nicht nur die positiven Stimmen der Naturwissenschaftler (Verhaltensforscher) zu Worte kommen, sei hier noch der Greifswalder G Ü N T H E R JACOBY (Beitrag zur Frage nach dem Übergange von dem tier. Bewußtsein zu dem menschl., von der Tiersprache zu der Menschensprache. In: Worte und Werke (BRUNO MARKWARDT zum 60. Geb.-Tag. Berlin 1961 S. 142 ff.)) zitiert: Nach ihm sind Vernunft und Sprache das Unterscheidende zwischen Mensch und Tier, »obwohl das weder biologisch noch logisch durchführbar ist«. Bewußtsein und Denken sind nach J. keine Neuerwerbungen des Menschen. »Ob die Biene, wenn sie einen neuen Futterplatz gefunden hat und ihn aufgeregt meldet, bewußtseinslos ist, nichts erlebt, das müßte man sie erst einmal fragen.« Tiere haben kein Ich? »Subjektiv haben wir alle kein Ich, auch wenn wir von ihm reden. Denn unser Ich . .. erlebt zwar, wird aber selber nicht erlebt.« »Objektiv aber ist an der Existenz dessen, der alles erlebt .. . und den wir >Ich< nennen, kein Zweifel.« Tiere verständigen sich, d. h. sie »bekunden ihre seelische Haltung und .. . durch sie auch sachliche Mitteilungen«. »Tiersprache ist . . . Ichsprache . . . unsere Wortsprache vorwiegend Nichtichsprache . . . « Schimpansen fehlt zwar das Sprechvermögen, »doch offenbar nicht das Sprachvermögen«. Ein amerik. Forscher, DAVID PREMACK (nach: n + m Nr. 35 (Mannheim 1970 S. 51 f.) konnte einer Schimpansin 120 Zeichen beibringen und diese Symbole untereinander in Beziehung setzen lassen.

13 Zitate und Tatsachen dieses Abschnittes na-ch E U G E N SEIFERLE: Tiermedizin und Tierpsychologie. In: Information. Deutsche Tierfreunde E.V. (Hamburg) 9. J. Nr. 25. Juni 1969 S. 5. 14 Die Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben leistet zur Frage der Tierperson nichts. Das geht auch aus einem Gedankengang R O M A N O GUARDINIS (Frankfurter Hefte II, 9. 1947 S. 930 f.) hervor: »Nicht deshalb ist der Mensch unantastbar, weil er lebt und daher ein >Recht auf Leben< hat; ein solches Recht hätte auch das Tier, denn es lebt ebenfalls, — wenn man ein schönes Tier der freien Natur mit einem kranken und vom Schicksal zerdrückten Menschen vergleicht, sogar noch viel mehr.« Das bedeutet: Wenn dem Leben Ehrfurcht (mit realen Konsequenzen) zu zollen ist, dann hat all das Leben in vielerlei Gestalt den gleichen Anspruch. 15 Metaphysik (Jena 1857). Halle a. S. 1910. S. 665 f. 16 Die Regel der Nazoräer im 20. Jahrhundert. S. 335. 17 Nach SKRIVER: Der Verrat der Kirchen an den Tieren. München 1967. S. 142. 18 Das sogenannte Böse. Wien 1963. S. 206. 19 S. u. R. G O D L O V I T C H : Animals, Men and Morals. London 1971. 20 »Das Leben des Menschen darf nicht angetastet werden, weil er Person ist«, heißt es bei R. G U A R D I N I (Die soziale Indikation. Frankf. Hefte II (1947). 9. S. 930 f.). »Die geistige Personalität macht ihn zum Subjekt, gibt ihm Würde und Verantwortung. Töten aber ist die äußerste Form, wie ich etwas als Objekt behandle, als Sache, die wohl Bestand, aber nicht Eigenständigkeit, .. . wohl Wert, aber nicht Würde hat. Ich behandle etwas als Sache, indem ich es besitze, gebrauche, verändere; im letzten, indem ich es zerstöre, das heißt aber — beim Lebendigen — es töte.« Der Embryo, der Säugling und das Kleinkind können nach R. G. nicht als Privateigentum angesehen werden; sie sind der Mutter »ihrer innersten Bestimmtheit nach entzogen«. Wie tiefdringend die Verhältnisse beim Menschen durchdacht werden! Stehen die höheren Tiere unserem Fühlen so fern, erhebt uns die »Würde« ohne unser Zutun so über die Tierheit, daß Tiere zu Sachen werden? 21 in LORENZ-LEYHAUSEN: Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens. Ges. Abh. München 1968. S. 118. 22 a.a.O. S. 46. 23 Im Grunde läßt sich auch A. SCHWEITZERS Ansicht (Kultur und Ethik. 2. Teil. a.a.O. S. 240 f.), daß seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben zwar wegen ihrer Allgemeinheit kalt anmute, aber doch »die einzige vollständige« sei, interpretieren im Sinne der Auffassung, daß die Tiere zunächst um ihrer selbst willen da sind mit allen Konsequenzen. »Mitleid ist zu eng, um als Inbegriff des Ethischen zu gelten«, es bezeichne »ja nur die Teilnahme mit dem leidenden Willen zum Leben«, zur Ethik gehörten aber alle Aspekte des Lebens. Der Mensch »fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig.« 24 a.a.O. S. 37. 25 a.a.O. S. 12. 26 Mensch und Tier haben nicht gleiche Rechte; das sagt auch M. S C H W A N T JE: H a t der Mensch das Recht, Fleisch zu essen? (2. Aufl. 1923, S. 23): »Daß der Mensch mehr Rechte hat als das Tier, folgt daraus, daß er leidensfähiger ist als dieses und zu seinem Wohlsein die Befriedigung auch solcher leiblicher, seelischer und geistiger Bedürfnisse, die dem Tiere fehlen, erforderlich ist.« 27 K. L O R E N Z : Das sogenannte Böse. S. 317.

WILHELM BROCKHAUS: Das Recht der Tiere in der Philosophie LEONHARD NELSONs Vernunft ist notwendig die Sprache des sittlichen, politischen und wissenschaftlichen Arguments: nicht, weil die Vernunft heilig ist oder auf erhöhter Ebene steht, sondern weil sie es nicht ist; weil sie allen Menschen zugänglich ist. BRIGID B R O P H Y

Person und Werk Die Verfechter des Tierschutzes und insbesondere des Vegetarismus haben allen Grund, sich mit dem Werk LEONARD NELSONs zu befassen. Hier können in aller Kürze nur einige Grundsätze seiner Lehre angedeutet werden. Diese kurze Darstellung möge auch zur weiteren Vertiefung des bisher Ausgeführten dienen und zur Beschäftigung mit den Schriften dieses bedeutenden Mannes anregen, dessen Werk in der herrschenden Philosophie weithin unterschlagen wird. Dr. LEONARD NELSON war außerordentlicher Professor der Philosophie an der Universität Göttingen. Er starb 1927 im Alter von 45 Jahren. Sein wissenschaftliches Werk war die Weiterbildung der kritischen Philosophie KANTs im Sinne der Schule von JAKOB FRIEDRICH FRIES (1773—1843). Hauptwerke Die kritische Ethik bei KANT, SCHILLER und FRIES. Eine Revision ihrer Prinzipien. In: Abhandlungen der FRIES'schen Schule (abgekürzt: AFS). IV. Bd. 3. H. Göttingen 1914. Im folgenden Text zitiert als »K«. Auch in Bd. VIII (1971) der »Gesammelten Schriften« (Felix Meiner, Hamburg). Die Theorie des wahren Interesses und ihre rechtliche und politische Bedeutung. AFS IV. Bd. 2. H. Göttingen 1913. Ges. Sehr. Bd. VIII. Sittliche und religiöse Weltansicht. AFS VI. Bd. 1. H. Berlin 1933. Bd. VIII der Ges. Sehr. Die sokratische Methode. AFS V. Bd. 1. H. Göttingen 1929. Bd. I der Ges. Sehr. (1970). Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik: Bd. I: Kritik der praktischen Vernunft. Göttingen 1917. Bd. IV (1970) der Ges. Sehr. Bd. II: System der philosophischen Ethik und Pädagogik. Göttingen 1932. Zitiert als »E«. Bd. V (1970) der Ges. Sehr. Bd. III: System der philosophischen Rechtslehre und Politik. Göttingen 1924. Zitiert als »R«. Bd. VI (1964) der Ges. Sehr. Fortschritte und Rückschritte der Philosophie. Von HUME und KANT bis HEGEL und FRIES. Frankfurt (Main) 1962. Bd. VII (1962) der Ges. Sehr. Der Verlag öffentliches Leben, Frankfurt (Main), Goethestr. 29, vertreibt die noch lieferbaren Schriften NELSONs, im Verlage Felix Meiner, Hamburg, 136

erscheinen die »Gesammelten Schriften« in 9 Bänden, von denen die meisten schon lieferbar sind. Die für unsere Zwecke wichtigen Gedanken finden sich in Bd. II. und III der Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik. Eine gute Einführung in das Werk NELSONs bietet das Buch von EKKEH A R D HIERONIMUS: THEODOR LESSING, OTTO MEYERHOF, LEONARD NELSON. Herausgeber: Niedersächsische Landeszentrale für Politische Bildung. 1964. NELSONs Geist war an der Mathematik und den Naturwissenschaften geschult. Den Geist der Klarheit dieser Disziplinen atmen auch seine Veröffentlichungen. Suche nach der Wahrheit, Bemühung um die Begründung und Sicherung vor allem unserer ethischen Erkenntnisse, die der Reformation der Gesellschaft dienen, waren seine Ziele. NELSON war nicht nur Theoretiker; er war auch ein Mensch der Tat. Was er in der Theorie als wahr erkannte, das setzte er nach Möglichkeit in die Praxis um. Ein solcher Geist mußte den Zeitgenossen unbequem sein. Seine Rechtsauffassungen führten ihn zu sozialistischer Parteiarbeit, seine Ansichten über das Recht der Tiere zum Vegetarismus! Im folgenden sollen die Grundzüge der NELSONschen Lehre von den Rechten der Tiere kurz dargestellt werden. Dabei soll der Autor dieser Lehre, soweit möglich, nach seinen Schriften zu Wort kommen. Das Recht der Tiere »Die Art der Behandlung, die dieses Problem (der unmittelbaren Pflichten gegen Tiere. W. B.) in der Ethik erfahren hat, würde ein vernichtendes Zeugnis für die Kräfte des menschlichen Verstandes abgeben, wenn nicht von vornherein klar wäre, daß hier weniger der Irrtum als ein Interesse im Spiele ist.« So sah NELSON 1 die Situation. Er hielt das Problem der Tierrechte für so dringend, daß er die sehr abstrakte Gedankenführung in seinem Hauptwerk unterbrach, bewußt die Grenzen der Philosophie überschritt und sich der Widerlegung der empirischen Argumente gegen die Tierrechte zuwandte. So darf man sicher annehmen: Nicht die Schwierigkeiten der wissenschaftlichen Begründung und Eingliederung der Tier rechte in das System der Ethik allein haben die Philosophen die Tiere >vergessen< lassen, sondern auch die Furcht vor den Konsequenzen im persönlichen und gesellschaftlichen Leben. Die KANTische Lehre und ihre Kritik In der Ethik geht es um Pflichten und Rechte. Was für uns Pflicht gegen andere ist, ist deren Rechtsanspruch an uns. K A N T hatte den Bereich der Pflichten auf Menschen beschränkt gedacht. NELSON 2 geht hier weiter. Wir haben Pflichten nicht nur gegenüber Wesen, die Vernunft besitzen, die selbst auch 137

Pflichten haben können, sondern gegenüber allen "Wesen, die Interessen haben. Wir haben also auch Pflichten gegen Tiere, die ja selber keine Pflichten gegen andere haben. Nach K A N T gibt es gegen Tiere nur mittelbare Pflichten. Tierquälerei sei verwerflich, weil sie die Gefühle abstumpfe und so die Erfüllung der Pflichten gegen Mitmenschen gefährde. 3 NELSON 4 nennt diese Begründung künstlich. Denn das Verbot der Tierquälerei würde nicht bestehen, wenn diese an und für sich zufälligen Folgen nicht eintreten würden. »Für den, der nur zugibt, daß Tierquälerei überhaupt möglich ist, folgt das Verbot der Tierquälerei unmittelbar aus dem Sittengesetz. Wer nämlich das Quälen eines Tieres für möglich hält, setzt voraus, daß die Tiere Interessen haben. Er braucht sich daher nach dem Sittengesetz nur die Frage vorzulegen, wie er selbst in einer der Lage des Tieres analogen Situation behandelt zu werden wünschen würde. Offenbar wird er nicht einwilligen, von einem anderen Wesen, dessen Willkür er wehrlos ausgesetzt ist, gequält zu werden. Daraus folgt, daß es ungerecht ist, wenn er in umgekehrter Lage von seiner Überlegenheit Gebrauch macht und die Tiere wie bloße Sachen als Mittel zu seinen Zwecken behandelt.« 5 Nach dem Inhalt des Sittengesetzes haben Rechte alle Wesen, die Interessen haben. Pflichten haben alle Wesen, »die darüber hinaus der Einsicht in die Anforderungen der Pflicht fähig sind. Diese Einsicht ist nur für vernünftige Wesen möglich.«6 NELSON 7 behauptet, »daß es ein Recht der Tiere gibt, nicht von den Menschen zu beliebigen Zwedien mißbraucht zu werden. Dies ist etwas sehr anderes als ein Recht der Menschen, nicht durch das Ärgernis der Tierquälerei verletzt zu werden. Wem dies nicht einleuchtet, oder wem die damit erhobene Forderung zu weitgehend erscheint, der braucht sich nur die Frage vorzulegen, ob er für sich selbst damit einverstanden sein würde, von einem ihm an Macht überlegenen Wesen nach dessen Belieben mißbraucht zu werden.« Diese Forderung ist für NELSON kein »Ausfluß bloßer Sentimentalität«, sondern »nur die Erfüllung einer Pflicht, nicht aber mutet sie uns einen Akt des Wohlwollens zu«. Dem Recht des Behandelten entspricht stets eine Pflicht des Handelnden. Deshalb kann NELSON in seiner Ethik ein Kapitel »Pflichten gegen Tiere« entwerfen. Hier sind nun einige begriffliche Unterscheidungen wichtig: Pflichtsubjekt und Rechtssubjekt, Objekt von Rechten und Objekt von Pflichten. Objekte von Pflichten sind Wesen, denen gegenüber wir Pflichten haben. Manche Wesen haben Pflichten (Subjekte von Pflichten), andere Wesen sind Objekte dieser Pflichten, haben also Rechte gegen den Verpflichteten. Bei den Tieren ist es nun so, daß sie keine Pflichten haben, aber doch Träger von Rechten (Objekt von Rechten) sind. Die Pflichten des Menschen können sich also auf vernünftige und unvernünftige Wesen beziehen. Tiere sind Wesen, die »ihrer Natur nach nicht zur vernünftigen Selbstbestimmung gelangen« können, also keine Pflichten haben, aber dennoch Rechtsobjekt sein können. NELSON behauptet »hier138

mit, daß es Pflichten gegen Tiere gibt, und daß diese Pflichten unmittelbare Pflichten sind, daß sie sich also nicht etwa ableiten aus Pflichten gegen Menschen, d. h. gegenüber vernünftigen Wesen«.8 Die Unmittelbarkeit der Pflichten gegen die Tiere ist der Kernpunkt der NELSONschen Lehre, die in der Ethik oft abgelehnt wurde. »Die meisten der Argumente sind so fadenscheinig und sophistisch, daß man sich wundert, wie sie von Menschen, die auf Wissenschaftlichkeit Anspruch erheben, eingewandt werden konnten.« 9 An dieser Stelle überschreitet nun NELSON die Grenzen der Philosophie wegen der Dringlichkeit des Problems, um »damit den Weg zu objektiver Forschung überhaupt erst freizumachen« und die empirischen Argumente zu prüfen, einige mit beißender Schärfe.10 Von Tieren — die NELSON als nichtvernünftige Träger von Interessen definiert — könne man nicht wissen, ob sie wirklich Interessen besitzen, hört man oft. Diese außerphilosophische Tatsachenfrage, »ob nämlich ein Wesen in der Erfahrung vorkommt, das unter den Begriff des Menschen fällt, . . . läßt sich gewiß nicht leichter entscheiden, als daß es ein Wesen gibt, das Interessen besitzt; ja beim Menschen muß nicht weniger bewiesen werden als beim Tier, sondern noch mehr: es muß der Nachweis seiner Vernunft erbracht werden, ein Nachweis, der zuweilen auf große Schwierigkeiten führt.« 11 Auf Analogieschlüsse sind wir nicht nur beim Tier, sondern auch beim Menschen angewiesen, denn unmittelbar erfahren kann ich Interessen auch beim Menschen nicht. Wer den Analogieschluß ablehnt, müßte ihn konsequent bei Tier und Mensch ablehnen, und dann wären »Menschen . . . ebenso rechtlos wie die Tiere«.11 Auch der Hinweis, daß es einen Bereich gibt, wo wir nicht mit Sicherheit bestimmen können, ob das betreffende Wesen ein Tier (mit Interessen) oder eine Pflanze (ohne erkennbare Interessen) ist, entkräftet nicht die Tatsache, daß es einen gewaltigen Bereich gibt, in dem die Unsicherheit nicht besteht und die Pflichtfrage sicher entscheidbar ist. Daß Menschenaffen, Rinder, Schafe, Hunde, Schweine, Delphine, Fische in diesem Sinne Interessen haben, ist wohl kaum zu bezweifeln. Mögliche Pflichten betreffen —- theoretisdi — höchstens noch die Wesen, deren Zugehörigkeit zum Pflanzen- oder Tierreich unsicher ist, nicht aber Pflanzen.12 NELSON 13 untersucht noch weitere empirische Argumente und beschließt die Diskussion mit folgenden Worten: »Halten wir uns an das Kriterium der Pflicht, so brauchen wir uns zur Entscheidung darüber, ob es ein Recht der Tiere gibt, nur die einfache Frage vorzulegen, ob, bei Abstraktion vom numerischen Unterschied, wir in die fraglichen Handlungen einwilligen können, mit anderen Worten: ob wir einwilligen würden, als bloßes Mittel für die Zwecke eines anderen gebraucht zu werden, der uns an Kraft und Intelligenz weit überlegen ist. Diese Frage beantwortet sich selber. Es ist rein zufällig, daß der Mensch in der Lage ist, die seiner Willkür ausgesetzten Wesen als Mittel zu seinen Zwecken benutzen zu können.« 139

Hier zeigt sich, daß von der philosophischen Rechtslehre NELSONs her eine wichtige Korrektur der bei den Gesetzgebern heute noch herrschenden Auffassung, die Tiere als Sachen ansieht und nicht als Rechtswesen (Rechtspersonen), gefordert und begründet wird. Solange Tiere als bloße Sachen angesehen werden, kann von einem eigentlichen Recht der Tiere im Verhalten der Menschen wie in der Gesetzgebung keine Rede sein. Tiere sollen also um ihrer selbst willen respektiert werden. Natürlich sollten wir die Ausbeutung, das Quälen oder Töten von Tieren auch schon aus den von K A N T vertretenen Gründen so weit wie möglich vermeiden. Die systematische Stellung der Tiere in NELSONs Lehre In NELSONs 14 rechtsphilosophischem System gehört das Recht der Tiere zum Vormundschaftsrecht, das solche Personen betrifft, die ihre rechtlichen Verhältnisse nicht selbst ordnen können, also unmündig sind. »Unmündig ist ein Wesen, das entweder keiner vernünftigen Einsicht fähig«, nicht bildungsfähig ist, »oder sich doch nicht durch sie zum Handeln bestimmen lassen kann.« Auch solche Wesen haben Interessen, sind also nicht Sachen, und haben Anspruch auf Achtung dieser Interessen nach dem Sittengesetz. Unmündig sind Kinder, Geisteskranke und Tiere; alle sind Subjekte von Rechten, die durch Gesetze gegen Unrecht geschützt werden sollten. Das Sittengesetz Zum genaueren Überdenken des bisher Gesagten und des Folgenden sei die NELSONsche Formulierung des Sittengesetzes, des Kategorischen Imperativs — NELSON spricht vom »Gebot der gerechten Abwägung« —, hier angeführt: »Handle nie so, daß Du nicht auch in Deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch Deine eigenen wären.« 15 Erläuterung: »Das Kriterium der gerechten Abwägung liegt also in der Vereinigung der Interessen in einer und derselben Person.«16 Wir brauchen also nur unsere Interessen und die kollidierenden Interessen unserer Partner in uns vereinigt zu denken, sie gegeneinander abzuwägen, um so zum konkreten Gebot zu gelangen, welche Interessen vorzuziehen sind, was also zu tun ist. Die Interessen der Tiere Die »Interessen der Tiere« nehmen in der Argumentation NELSONs für die Rechte der Tiere eine entscheidende Stelle ein. Das Sittengesetz in der Formulierung NELSONs verlangt Berücksichtigung aller durch eine beabsichtigte Handlung berührten Interessen. Wenn die Tiere auch unter ein und dasselbe 140

Sittengesetz fallen wie wir und unsere Mitmenschen, dann müssen sie als Träger von Interessen angesehen werden können. Diese Frage ist eine Tatsachenfrage, die nicht rein philosophisch, sondern nur empirisch beantwortet werden kann. Die höheren Tiere, insbesondere die Säuger, können weithin körperlichen Schmerz empfinden, wie nach dem Verhalten und dem Bau ihres Nervensystems vermutet werden muß. Weiter muß angenommen werden, daß viele der höheren Tiere Qualen haben, also psychisch leiden können, ohne daß damit (primär) körperliche Schmerzen verbunden sind. Wo Tiere in der Betätigung ihrer angeborenen Selbsterhaltungstriebe behindert werden, wo sie Hunger leiden, wo ihre Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt wird, wo sie in ihren natürlichen Fluchtreaktionen behindert werden, erleiden sie psychische Qualen. Das Auftreten von Magengeschwüren bei wilden Kaninchen in mit Frettchen (gezähmten Iltissen) bejagten Gegenden kann nur gedeutet werden als Wirkung der ständigen Angst, auch bei Flucht in den Bau nicht mehr sicher zu sein. Bei Tieren müssen also Interessen angenommen werden. Interessen sind psychische Grundphänomene mit dem Merkmal der Wertung; sie können auch ohne Nachdenken zum Bewußtsein kommen. Wenn Tiere Quälereien und offensichtlichen Gefahren, die Schmerz verursachen, ausweichen, liegt es nahe, anzunehmen, daß sie ein (intuitives, nicht reflektiertes) Interesse haben, den Schmerz zu vermeiden. Hier liegt natürlich kein direkter Nachweis eines Interesses vor, sondern ein Analogieschluß. »Wir schließen aus den körperlichen Äußerungen auf innere Vorgänge, wie wir sie bei uns selber in Verbindung mit solchen Äußerungen vorfinden.« 17 Wer diesen Analogieschluß ablehnt, muß sich von NELSON 17 entgegenhalten lassen, »daß beim Menschen . . . der zuweilen schwierige Nachweis seiner Vernunft erbracht werden muß«. Beim Menschen hilft auch die Sprache nicht aus dieser Verlegenheit, denn sie kann sowohl der aufrichtigen Mitteilung über unser Inneres dienen wie auch dem Verbergen. Tiere äußern ihre Interessen für uns mehr oder weniger deutlich erkennbar; sie sind aber weder in der Lage, ihr wahres Interesse selbst zu erkennen, noch auch stets entsprechend zu handeln. Die faktisch geäußerten Interessen brauchen aber nicht immer mit dem wahren Interesse übereinzustimmen. Die mangelnde intellektuelle Entwicklung ermöglicht ihnen nicht, ihre wahren Interessen stets selbst zu erkennen,18 vor allem nicht in der Welt der Zivilisation. Die Abwägung der Interessen NELSON verficht keinen Altruismus zugunsten der Tiere. »Es handelt sich allein um das Gebot der Gerechtigkeit.«19 Gerechtigkeit verlangt aber nach dem Sittengesetz Abwägung aller Interessen, die in einem Konflikt kollidieren, gegeneinanderstehen. Im Falle der Kollision 141

muß in gerechter Abwägung entschieden werden, welche Interessen vorzugswürdig sind. Es » g i b t . . . kein allgemeines, philosophisch begründbares Gebot, unser Interesse unter allen Umständen dem der Tiere hintanzusetzen . . . So kann es sehr wohl erlaubt sein, das Interesse eines Tieres zu verletzen, wenn sonst ein überwiegendes Interesse unsererseits verletzt würde. Interessenverletzung kann überhaupt nur ethisch erörtert werden, wenn wirklich Kollision vorliegt. Dann muß das nach Stärke und Wert überwiegende Interesse festgestellt werden.«19 »Keinesfalls ist es zulässig, das Interesse eines Tieres ohne weiteres als minderwertig anzusehen und es daraufhin zu verletzen. Das gilt folgerichtig auch für den Fall, daß es nicht möglich ist, das Interesse am eigenen Leben oder an der Erhaltung der eigenen geistigen oder körperlichen Kräfte anders zu wahren als durch die Vernichtung eines Tierlebens.«19 Wenn die Interessen eines Menschen und eines Tieres kollidieren, muß in jedem Einzelfalle stets erneut eine Abwägung stattfinden, welches Interesse vorzugswürdig ist. Ein wichtiges Interesse bei der Abwägung ist das Interesse am Leben bei Mensch und Tier. Der Mensch stuft sein eigenes meist sehr hoch ein als vermeintliche (direkte) »Pflicht gegen sich selbst«, das der Tiere wird einfach übersehen. Ist »allemal das Interesse am Leben des Menschen vorzugswürdig« und also stets »das Interesse des Tieres hintanzusetzen«?19 Hier könnte nur der wesentliche Unterschied von Tier und Mensch, nämlich der Besitz der Vernunft, von Belang sein. Läßt sich auf diese Eigenschaft der Anspruch gründen, »daß im Kollisionsfall unter allen Umständen das Leben des Mensdien dem des Tieres vorgezogen werden darf«? 20 Die wahren Interessen des Menschen haben natürlich hier Anspruch auf Berücksichtigung bei der Abwägung. Sinnliche Interessen sind Mensch und Tier gemeinsam, der Mensch allein kann über diese hinaus höhere Interessen haben, d. h. er kann ein durch die Vernunft bestimmtes Leben führen, ein Leben, in dem nicht nur Klugheit, der bloße Nutzen, sondern auch Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Liebe zum Schönen die entscheidende Rolle spielen. In einem vernünftigen persönlichen Leben wird also Ernst gemacht mit der Realisierung der Vernunft, mit der Bevorzugung der vernünftigen vor den sinnlichen Interessen. Wo nur sinnliche Interessen zur Abwägung stehen, ist kein Vorzug des menschlichen Interesses am Leben gegeben. »Für den Menschen haben die sinnlichen Interessen, sofern er jedenfalls zum Bewußtsein um sein wahres Interesse erwacht ist, im Ganzen seines Lebens eine geringere Bedeutung als für das Tier. Je stärker sich in einem Menschen die vernünftigen Interessen melden, desto mehr tritt sein Streben nach bloßem Sinnengenuß zurück. Damit ändert sich zugleich seine Bewertung des eigenen unmittelbaren Interesses am Leben; denn auch dieses gehört nur den sinnlichen Interessen an, die Menschen und Tieren gemeinsam sind. Der Mensch kann sein Leben um seiner höheren Interessen willen hergeben. Dies ist den 142

Tieren unmöglich, und das fällt hier zu ihren Gunsten in die Waagschale!«21 Menschen verlieren den Anspruch auf Achtung ihrer Interessen, in der Abwägung mit den wahren der nur sinnlichen Tiere, wenn ihr Leben sich nicht durch Vernunft auszeichnet. »Wieviele Menschen«, so fragt NELSON, 22 könnten diese Konsequenz ohne innere Unaufrichtigkeit auf sich nehmen?« »Wenn ein Mensch sich aber seiner Pflicht entzieht, steht er gewiß nicht höher als das Tier, das ja der Begehung eines Unrechtes gar nicht fähig ist. Wer dies ehrlich in Erwägung zieht, wird Bedenken haben, die Verletzung der Interessen eines Tieres allein durch die Berufung auf die Vernünftigkeit des eigenen Lebens zu rechtfertigen.«22

Zusammenfassung Wer Tiere wirklich kennt, sie beobachtet, kann sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß die Kreatur leben will (um mit ALBERT SCHWEITZER zu sprechen), daß sie Wohlbehagen, Schmerz und Leid empfindet und in der Regel das Letztere zu vermeiden bestrebt ist. In wissenschaftlicher Sprache ausgedrückt: Auf Grund eines Analogieschlusses sehen wir uns genötigt anzunehmen, daß Tiere »Interessen« haben. Tiere sind also personähnlich, die Menschen haben unmittelbare Pflichten gegen sie; Tiere haben also Rechte. Der uns innewohnende Kategorische Imperativ, das Sittengesetz, verlangt die gerechte Berücksichtigung dieser Interessen nach Wert und Stärke. Wer das Interesse von Tieren an ihrem Leben verletzen will, muß sich die Frage gefallen lassen, ob er sich in seinem Leben wirklich nach der Vernunft richtet und es daher so wertvoll ist, daß er es dem Tierleben bei gerechter Abwägung vorzuziehen wagen darf, wobei noch zu bedenken ist, daß das Tier nur sein Leben (mit den nur sinnlichen Interessen) hat und dieses daher als sein einziges Gut relativ hoch zu bewerten ist, dem Menschen aber »das Leben der Güter höchstes nicht« ist.

Kritische

Anmerkungen

Tiere als >Träger von Interessent als >Rechtspersonen< anzusehen, wird dem philosophierenden Zeitgenossen die meisten Schwierigkeiten bereiten. Dieses Kapitel der NELSONschen Ethik verdiente weitere, allerdings über das Rationale hinausgehende Bearbeitung. Es sei auch darauf hingewiesen, daß der Begriff >Tier< weiter erläutert werden muß. In NELSONs entsprechenden Erörterungen ist die Rede von »den« Tieren. NELSON 8 definiert kurzerhand das Tier als »ein Wesen, das zwar ein Subjekt von Rechten ist, aber seiner Natur nach nicht zur vernünftigen Selbstbestimmung gelangen kann«. Hier ist zu fragen, ob alle Tiere im Sinne der Zoologie unter diesen Begriff fallen. Sicher sind die Wirbeltiere, vor allem 143

die höheren Säuger, als Wesen mit Interessen anzusehen. Je weiter wir aber im Stammbaum der Tiere absteigen, um so schwieriger ist zu entscheiden, ob Interessen vorliegen. Für die vegetarische Praxis ist im allgemeinen diese Frage nicht so sehr bedeutungsvoll. Wir machen im täglichen Leben einen »Schnitt« durch den Bereich aller Tiere. Die Tiere im Stammbaum oberhalb dieses Schnittes behandeln wir behutsam. Die höheren Säuger wie Menschenaffen, Pferde, Hunde, Rinder usw. gehören zur oberen Gruppe. Praktisch maßgebend ist hier offenbar die biologische Organisationshöhe; man kann auch ohne einen allzu großen Fehler sagen: die mehr oder weniger große Ähnlichkeit dieser Wesen mit uns Menschen. Je unähnlicher Tiere uns Menschen sind, um so fragwürdiger wird der Analogieschluß. Wo liegt die Grenze? Die Stellung dieser Frage darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Ausbeutung, Quälen und Töten von Tieren um so bestimmter ethisch verwerflich ist, je höher organisiert sie sind. Aber trotzdem ist die Tierwelt unterhalb des Schnittes kein Freiwild für uns, jedenfalls nicht für den gebildeten Menschen. In keinem Falle sind niedere Tiere bloße Sachen, auch nicht, wenn sie in ihrer »Lebendigkeit« nicht mit den Säugetieren zu vergleichen sind. Auch hierzu müßte im System noch einiges gesagt werden. Schon aus Gründen des möglichen Schadens für uns hütet sich der verständige Mensch, etwas zu vernichten, dessen Bedeutung als Faktor im Gleichgewicht des Lebens auf der Erde er kennt, erst recht aber, wenn er die Bedeutung noch nicht kennt. Hoch über solchen Klugheitsgründen steht dem Gebildeten die Ehrfurcht vor dem Leben. Die persönlichen Konsequenzen NELSON war Sozialist. Er hat seine Schüler um sich gesammelt in einer Organisation, die für die Verwirklichung des Sozialismus kämpfte. Er verlangte von jedem einzelnen zu beginnen. »Denn die Welt wird sich nie nach dem richten, was in den Büchern steht, und wenn es tausendmal wissenschaftlich begründet ist. Nicht die Theorie bestimmt die Praxis, sondern die Macht der für oder gegen eine Sache sich einsetzenden Interessen.«23 In diesem Sinne forderte er von seinen Genossen, soweit möglich, »als Sozialisten zu leben«.24 »Wer gegen die Ausbeutung mit Erfolg kämpfen will, der darf nicht seine eigenen Ausbeuter unterstützen . . . Ein Arbeiter . . . kann das auch, indem er seine Frau und seine Kinder prügelt. Ja, er kann das in einer noch viel schlimmeren Weise. Er kann das, indem er dasselbe, was der Kapitalist mit ihm macht, mit denen tun, die sich gegen ihn noch viel weniger wehren können als er gegen die Kapitalisten, — die die Allerwehrlosesten sind, die sich nie durch Koalition zusammentun können, um allmählich ihre 144

Rechte in einem Klassenkampf zu erobern. Ein Arbeiter, der nicht nur ein verhinderter Kapitalist sein will, und dem es also Ernst ist mit dem Kampf gegen jede Ausbeutung, der beugt sich nicht der verächtlichen Gewohnheit, harmlose Tiere auszubeuten, der beteiligt sich nicht an dem täglichen millionenfachen Mord, der an Grausamkeit, Roheit und Feigheit alle Schrecknisse des Weltkrieges in den Schatten stellt, — das sind Angelegenheiten, Genossen, die entziehen sich der Abstimmung .. . Entweder man will gegen die Ausbeutung kämpfen, oder man läßt es bleiben. Aber wer als Sozialist über diese Forderungen lacht, der weiß nicht, was er tut. Der beweist, daß er nie im Ernst bedacht hat, was das Wort Sozialismus bedeutet.« Diese für die meisten Zeitgenossen harten Forderungen haben NELSONs Kreis für die weite Öffentlichkeit nicht anziehend gemacht. NELSON selbst hat wohl in erster Linie gedacht, der sozialistischen Bewegung Führer heranzubilden. Die harten persönlichen Bedingungen schufen eine Auslese. »Niemand, der in einen Posten aufrückt, soll durch das Aufrücken . . . irgend etwas verdienen können.«25 Natürlich glaubte man nicht, durch solche persönlichen Forderungen schon »den Neubau der Gesellschaft« zu vollziehen.26 NELSON sah scharf, was BRIGID BROPHY 27 so aussprach: »Die Reformbewegung ist, moralisch und psychologisch, eine und unteilbar«, und mit einem Wort von H E N R Y S. SALT bekräftigte: »Diese Frage der Rechte der Tiere ist ein integraler Teil der großen sozialen Fragederbarmt ihr halt gar soGeh, Henderl, sei nit si sentamental!mechanistischWissenschaft< spricht. Die Wissenschaft in diesem Sinne ist ein Ziel, das von Wissenschaftlern erstrebt wird, die allerdings auch nur Menschen sind. Diese Menschen in ihrer Gebrechlichkeit, mit ihrem Geltungsbedürfnis und ihren anderen individuellen Mängeln lassen sich gelegentlich verleiten, fehlende Ergebnisse durch allzu kühne Hypothesen zu ersetzen. Das ist noch legitim; denn Hypothesen regen die Forschung an. Gefährlich ist es aber, Vermutungen oder bloße Wünsche als Forschungsergebnisse auszugeben oder, der Wahrheit entgegen, nur solche Daten auszulesen, die einer Glaubensüberzeugung, einem Dogma entgegenkommen. Was noch weiter geht, etwa für Geld zu bestimmten, für den Geldgeber erwünschten Ergebnissen »zu gelangen«, hat mit Wissenschaft nichts, wohl aber mit Kriminalität zu tun. Was es heißt, wissenschaftlicher Forscher zu sein, ist leider der Öffentlichkeit zu wenig bekannt oder bewußt. »Weder seine unermüdliche Suche nach Ursadien, noch sein unerschütterlicher Glaube an die natürliche Erklärbarkeit schlechterdings aller Dinge, bedeutet ein Bekenntnis zu wertblindem Materialismus. Beides ist durchaus vereinbar mit dem Streben nach höchsten Zielen«, lesen wir bei K O N R A D LORENZ. 2 Der verantwortliche Mensch in der Natur Der Mensch hat einen Leib, der naturwissenschaftlich untersucht werden kann. Blutdruck, Ernährung, Herz- und Nierenfunktionen und vieles andere kann exakt untersucht werden. In weitem Bereich ist es ersichtlich, daß der Mensdi Naturgesetzen unterworfen ist. Praktisch können hier, rein naturwissenschaftlidi gesehen, keine Grenzen bei der Forschung am Leib angegeben werden. Doch hat der Mensch auch geistig-seelisches Leben, das zwar an eine bestimmt organisierte und gesetzlich arbeitende Materie gebunden ist, aber nicht wesentlich aus ihr ableitbar ist. Geistiges kann nicht aus Materiellem erklärt werden, trotz aller Abhängigkeiten. Wer diese Behauptung ablehnt, müßte schon mit einer Erklärung aufwarten. Mindestens aber muß gesagt werden: bisher war diese Ableitung nicht möglich. Die Methoden der naturwissenschaftlichen Forsdiung haben hier wahrscheinlich unüberschreitbare Grenzen. Geistig-Seelisches kann original nur an uns selbst, in uns selbst, erlebt, erkannt oder gedacht werden. Gesetzlichkeit herrscht audi in diesem Bereich, nur ist diese von anderer Art. Der Inhalt unseres Geistes wird von uns als mehr oder weniger unabhängig und frei von Naturgesetzen gedacht. Wahrheiten, Erkenntnisse, auch sittliche und philosophische, rechnen wir nicht zur Natur im bisher betrachteten Sinne, zur >äußeren Naturzwecklosals ob< sie sich Zwecke gesetzt hätte. Erweislich ist das in keinem Falle, Zwecke sind jedenfalls nicht erkennbar. Deshalb hat die Naturwissenschaft den Begriff >Zweck< aus ihrem Bereich verbannt. Sie begnügt sich damit festzustellen, wie eine bestimmte Einrichtung, etwa im Bau der Pflanzen, wirkt. In solcher Sicht erscheinen manche Vorgänge und Einrichtungen so, als ob sie einem gesetzten Zweck dienten. Die Natur ist einem stetigen Wandel unterworfen, >Alles fließtHarmonie< in der Natur nennen, ist nur das Ergebnis eines aufwendigen und furchtbaren Prozesses. Man darf nie vergessen zu fragen, wie die Harmonie zustandekam. »Wir müssen uns völlig von der Vorstellung frei machen, daß in der organischen Natur nur das verwirklicht ist, was >zweckmäßig< ist. Es gibt neben dem Zweckmäßigen auch alles, was nicht so unzweckmäßig ist, daß es zur Ausmerzung der betreffenden Lebensform führte. Keine >weise Planung< beherrscht den Artenwandel, sondern dieser vollzieht sich unter dem Druck der mitleidslosen Auslese.. .«4 »Jede heute lebende >Konstruktion< des Artenwandels ist eben hinreichend zweckmäßig, sonst lebte sie nicht mehr, wir sehen nur die erfolgreichen Experimente der nach Versuch und Irrtum verfahrenden Phylogenese.. ,«4 153

Ob es viel Sinn hat, einen Zustand oder einen Vorgang im Anorganischen >vollkommen< zu nennen, erscheint sehr fragwürdig. Im biologischen Felde gibt es uns vollkommen Erscheinendes neben Unvollkommenem. Die Arten, die man zu einem geologischen Zeitpunkt vollkommen nennen könnte, sind zu dieser Zeit wohl angepaßt an ihren Lebensraum. Dieser aber wandelt sich, geologisch, klimatisch usw., oft sogar rascher als die Arten in ihrer Anpassung folgen können. So sind manche Arten zum Untergang verurteilt, weil sie nicht >vollkommen< sind, d. h. hier, weil sie an die neuen Lebensbedingungen nicht angepaßt sind. Zuweilen schleppen die Arten noch ererbte Eigenschaften mit sich herum, die Anpassungen an den früheren Lebensraum entsprechen, aber nutzlos oder gar hinderlich wurden im Kampf ums Dasein. Der Mensdi ist auch nach Jahrtausenden der Zivilisation noch wesentlich angepaßt an Naturbedingungen, die das heutige Leben in der Großstadt ihm nicht bietet. Wenn ihm nicht ein hinreichendes Maß an Naturbedingungen geboten wird, können Störungen bis zur Lebensgefahr auftreten. Die Zivilisationskrankheiten liegen in diesem Bereich. Die ROUSSEAUsche Vollkommenheit der Natur, die nur unter den Händen des Menschen entarte, gibt es also im strengen Sinne nicht. Daß diese Unvollkommenheiten, auch die in Lebensbereichen des Menschen, jemals vollständig beseitigt werden können, dürfen wir nicht erwarten. So ist die Natur nicht in unserer Hand. Es wird deshalb auf Erden auch nie ein Paradies geben, auch dann nicht, wenn es keine Kriege mehr gäbe und auch alle Menschen Vegetarier wären. Wir müssen damit rechnen, daß mindestens ein Teil unserer Aggressionen zu unserer ererbten Natur gehört, daß also nicht alle erworben, d. h. durch Bedingungen der Umwelt, durch falsche Erziehung oder Prägung hervorgerufen sind. Durch Vervollkommnung der Einrichtungen unserer Gesellschaft sind nicht alle unsere Gebrechlichkeiten zu beheben. Die Naturwissenschaften werten — im eigentlichen Sinne des Wortes — das Leben nicht. Die Einsicht in die komplizierten und dennoch aufeinander zu einem Gefüge abgestimmten Lebensvorgänge ist an >niederen< wie an >höheren< Organismen zu gewinnen. Auch der bescheidenste Organismus ist ein >Wunderwerk< und bleibt es auch dann, vielleicht kann man auch sagen erst recht, wenn wir ihn kausalanalytisch untersuchen und vollständig verstehen könnten. Die Biologen haben es sidi abgewöhnt oder sollten es sich abgewöhnt haben, prinzipiell von schädlichen und nützlichen Tieren zu reden; erst recht kann nicht die Rede sein von >reinen< und >unreinen< Tieren wie in manchen Religionen und Ideologien. Die Begriffe mieden und >höher< bedeuten bei den Organismen lediglich Einstufung nach der ganz neutral-wertfrei zu sehenden morphologischanatomischen Organisationshöhe. Wenn wir bei der ethischen Abwägung doch Gebrauch machten von einer >Wertungnormalen< Bürger nicht erkennbar. Der Mensch ist aber nicht nur >neutraler< Naturbetrachter oder Naturwissenschaftler; er gehört als Organismus selbst in den Naturzusammenhang hinein. Er hat Sinne und Erkenntnisvermögen, die ihn Naturgesetze erkennen lassen; er hat aber auch Erkenntnisse und Gefühle, die ihn zu Wertungen führen, zu Urteilen, die nicht aus Naturgesetzen ableitbar sind. In dieser Welt fühlt sich das Individuum als Ganzes, das Kausalforschung und -betrachtung treibt, andererseits aber auch die menschlichen wie außermenschlichen Verhältnisse wertet. Viele Menschen früherer wie unserer Zeiten haben die Natur als vollkommen angesehen. Der Blick übersah die Unvollkommenheiten, er war mehr auf die Naturgesetze und die pauschale Harmonie im Ganzen als auf die Einzelphänomene gerichtet. Auch wurde — unbewußt — ideologisch auslesend in die Natur hineingesehen. Wollte man behaupten, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Fluten, Erdrutsche, Dürre wie starke Feuchtigkeits- oder Kälteperioden usw. seien >zweckmäßig< oder gar notwendig zur Vollkommenheit der Welt? Es ist durchaus nicht so, wie SCHILLER in der »Braut von Messina« in Formulierung ROUSSEAUscher Gedanken meinte: »Die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.« Die ganze außermenschliche Welt ist auch ohne menschliche Mitwirkung erfüllt von Unvollkommenheiten, Disharmonien, Schädigung, Vernichtung, von Schmerzen und Qualen der Lebewesen!

Schon beim Blick auf das >friedliche< Pflanzenreich entdecken wir: der ausgewachsene Buchenhochwald läßt unter seinem Kronendach den zahlreichen eigenen, aus Bucheckern gekeimten Nachwuchs verkümmern, aus Lichtmangel, den die >Eltern< verursachen. Die Würgerfeige im tropischen Regenwald, die so schöne, bizarr strukturierte Stämme bildet, erwürgt den Baum, auf dessen Ästen sie als epiphytischer Keimling begann. Pilze wirken überall, wo schwache Stellen der anderen Organismen ihnen Lebensmöglichkeit geben, und sorgen unter Umständen für das Absterben eines großen Baumes. Energische Konkurrenz beim Kampf ums Licht im dichten Buchenjungwuchs einer Lichtung läßt die weniger Kräftigen kümmern und absterben. Tiere sind direkt oder indirekt auf Pflanzennahrung angewiesen. Wir haben uns daran gewöhnt, dieses Faktum als >normal< anzusehen, zur Vollkommenheit der Natur kann man es nicht rechnen; die Vernichtung eines in sich anscheinend vollkommenen Lebewesens durch ein anderes, anscheinend ebenso vollkommenes, ist wohl kaum ideal. Die Verhältnisse im Tierreich sind für uns noch erregender. Hier kommen noch Schmerz und Qual, offenbar für uns mehr oder weniger erkennbar, hinzu. Löwen reißen Zebras oder andere >unschuldige Pflanzenfressen, und beim Mahl fressen erst die Alten bis zur Sättigung, dann dürfen die Jungen ihren Hunger stillen . . . (Bei den Hyänenhunden können erst die Jungen über die Beute herfallen.) Und wenn die kranken und weniger leistungsfähigen Tiere hier eher Beute werden als die gesunden und starken, mag das im Ganzen des Natursystems günstig sein; blickt man auf das Opfer, so muß man sagen: zu nicht selbstverschuldeter Krankheit und Leistungsbehinderung muß es jetzt auch noch dieses Schicksal haben! Greifvögel schlagen Singvögel, Tauben, Feldmäuse u. a. Welche verwickelten Verhältnisse bietet das Reich der Schmarotzer dar! Ich sah einmal am Ufer einer Talsperre viele noch lebende Frösche, die mit Maden angefüllt erschienen, die ihnen z. T. von innen schon die Augen ausgefressen hatten. Das Blut mancher Wirbeltiere, vieler Vögel z. B., ist >verseucht< mit Blutparasiten. Fieber und Schmerz sind gewiß Unvollkommenheiten, dem Leidenden subjektiv nutzt die biologische Beurteilung als Warnfunktionen nichts. »Der Elefant muß verhungern, wenn sein letzter Backenzahn verbraucht ist.«5 »In der Werkstatt des Leidens finden wir so raffinierte Einrichtungen, daß menschliche Phantasie daneben arm und stumpf erscheint. Was gibt es da nicht alles an Saugorganen, an Stechapparaten, an Spritzen und Giften! Was werden da nicht für Dauerpillen von Unheilskeimen fabriziert, damit die Ubertragung ja auch Zeit habe und der Keim auf günstige Gelegenheit warten könne! Das alles gibt ein Instrumentarium, für das wir wohl einen Moment gern das Wort >teuflisch< brauchen möchten!« (ADOLF PORTMANN). 6 DANTE hat den Stoff zu seiner Darstellung der Hölle aus dieser unserer wirklichen Welt genommen, worauf schon SCHOPENHAUER hinwies.

Dieses alles ist die >Naditseite der Schöpfunglebendige< und anschauliche Alternative läßt sich kaum ausmalen; die Welt würde total anders sein. Jedenfalls urteilen wir so! Und dieses Urteil kommt aus der Tiefe, wie selbst Rechtfertigungs- oder Aufklärungsversuche noch dartun. Die Bilanz der Naturwissenschaft, daß die Verhältnisse in der Natur von sich aus im Ganzen zu einer Harmonie tendieren, ist kaum zu bezweifeln. Nur ist hier zu sehen und zu fragen, wie dieser Ausgleich, den wir im Ergebnis >Harmonie< nennen, zustande kommt. Was den physischen Bedingungen der Umwelt oder der rücksichtslosen Konkurrenz der besser Angepaßten nicht widersteht, ist verloren. Es ist ein Gleichgewicht der Gewalt und, wohl nicht nur für uns Menschen, auch des Schreckens. Der junge Kuckuck stößt seine Stiefgeschwister aus dem Nest; sie kommen um. Einen Züchter, der einem brütenden Vogel die Eier oder gar die Jungtiere entzöge, um den Brutpflegetrieb der Elternvögel für ausländische Vögel, die er heranzüchten will, zu nutzen, würden wir scharf verurteilen. Aber: Kann man hier wirklich mit zweierlei Maß messen? »Wir müssen den Mut aufbringen, dasselbe Urteil auch über die Natur zu fällen, d. h. zu erklären, daß das Verhalten der Natur nicht in Ordnung ist.«9 Die biologischen Theorien erklären zu unserem Wertungsproblem nichts. Die Keimverschwendung, die, wie man leicht sagt, der Arterhaltung dient, gleicht nach F. A. LANGE 10 dem Verfahren eines Jägers, »der, um einen Hasen zu schießen, nach allen möglichen Richtungen zugleich hunderttausend Flinten auf dem Felde abfeuert«. Auch die Lehre von der Keimbahn von O. WEISMANN, die auf die Kontinuität des Keimplasmas durch die Folge der Gene-

rationen hinweist, ändert nichts an der Unvollkommenheit des Todes, der Vernichtung von Individuen. Da haben auch die Religionen ihre Schwierigkeiten. Gottes Pläne sind uns nicht bekannt; er führt uns und die Welt in seiner Weisheit schon recht, er will uns durch Übel erziehen. Es läßt sich durch keine Sophistik aus der Welt schaffen: Wenn die Schöpfung Gottes ist, ist es auch unsere Vernunft, die uns so fragen und werten läßt. Nie ist diese Vernunft überheblicher als dann, wenn sie sich selbst beschränken will und unangenehme Fragen aus >religiösen< Gründen ausschaltet. Mit BAVINK 11 kann man weiter sagen: Die theologische Deutung versagt bei Massenkatastrophen wie Krieg, Erdbeben usw.; auch Krankheit und Tod des Gatten o. ä. scheinen wenig geeignet zur göttlichen Erziehung. Außerdem kann der Mensch durch Glück wie durch Unglück und Leid besser, aber auch schlechter werden. Außerdem waren die Tiere, die doch nicht sündigen können, schon Millionen von Jahren vor den Menschen auf der Welt und hatten zu leiden. Unsere Welt war nie ein Paradies und wird es nie sein. Nach bisheriger naturwissenschaftlicher Erfahrung und Theorie wäre das, wenn überhaupt, nur möglich durch eine phylogenetische Entwicklung, die alle Wesen, die von der Schädigung oder Vernichtung anderer Wesen leben, erblich umwandelte (durch Mutation, Selektion, Isolation usw.) in Pflanzenfresser. Ferner müßten die Aggressionen verschwinden, die bei der gegenwärtigen Struktur der Lebewesen schon zur einfachen Selbstbehauptung notwendig sind. Und dann hätten wir noch keine vollkommene Welt! BAVINK 12 mahnt, bei der Beurteilung der Bilanz nicht die positiven Seiten in der Welt zu übersehen: Freude, Liebe, gegenseitige Hilfe usw. Das muß sicher gesagt werden; wenn er aber meint, daß sich die positiven und negativen Ereignisse und Zustände ungefähr die Waage hielten, ist das auch eine Aussage, die zur Lösung unseres Problems der Nachtseite der Schöpfung nichts beiträgt, abgesehen von der Fragwürdigkeit der Quantifizierung überhaupt. SCHOPENHAUERS Wort: »Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, so möchte ich nicht der Gott sein: ihr Jammer würde mir das Herz zerreißen.« Der katholische Kulturphilosoph ROMANO GUARDINI hat als alter Mann auf dem Krankenlager einem Freunde anvertraut: »Er werde sidi im letzten Gericht nicht nur fragen lassen, sondern auch selber fragen; er hoffe in Zuversicht, daß ihm dann der Engel die wahre Antwort nicht versagen werde auf die Frage, die ihm kein Buch, auch die Schrift selber nicht, die ihm kein Dogma und kein Lehramt, die ihm keine >Theodizee< und Theologie, auch die eigene nicht, habe beantworten können: warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen, die Schuld? . . . die Rechnungen gingen ihm nicht auf." 13 Das Opfer des niederen Lebens — im Notfalle — zugunsten des höheren sei als Praxis der gesamten Schöpfung, als Gottes Wille, vertretbar, meint BA-

VINK gegen SCHWEITZER. »Der Mensch hat nicht das Recht, es in dieser Hinsicht besser wissen und machen zu wollen als der Schöpfer selbst. Er hat nur darauf zu halten, daß nicht unnötig Leben zerstört werde.«14 Die angesprochene Gesetzlichkeit ist durchaus nicht so klar erkennbar, schon gar nicht als >Gottes Willeo Gewisse Bakterien und andere niedere Organismen töten höhere Tiere, Menschen und auch Pflanzen! Und weiter: Darf Naturgesetzlichkeit Maßstab für menschliche Ethik sein? Da ist wohl A. SCHWEITZER 18 beizupflichten: »Weder die Welt- und Lebensbejahung noch die Ethik ist aus dem, was unsere Erkenntnis über die Welt aussagen kann, zu begründen.« Dennoch: Wo es keine Alternative gibt, muß das nieder erscheinende Leben dem höher erscheinenden geopfert werden. Und das doch wohl in Übereinstimmung mit unserer besonnenen Abwägung, deren Ergebnis als Pflicht erkannt wird, nicht als »freie Entscheidung«, wie SCHWEITZER meint. SCHWEITZERS Handeln als Arzt mit Medikamenten und antiseptischen Maßnahmen gegen Krankheitserreger entspricht unserer Abwägung, kaum seiner Theorie. Der Lebensiw/Ze der Erreger, von deren eigentlichem Leben ich fast nichts weiß, ist mir nicht bewußt. Wer Naturgesetzlichkeit und Gott identifiziert, gerät in Teufels Küche . . . ! Wenn wir die Sachlage nüchtern und vorurteilslos überdenken, ist festzuhalten: Zunächst: Die verzwickten Verhältnisse dieser Seite der Natur liegen außerhalb unserer menschlichen Verantwortung. Diese Verhältnisse sind für uns einfach nicht auflösbar, weder praktisch noch theoretisch für den Entwurf eines denkmöglichen Paradieses. Raubtiere und Schmarotzer stehen wie alle Lebewesen in der von uns nicht zu vertretenden Naturordnung; für die Raubtiere und Schmarotzer besteht der Zwang, andere Tiere ausbeuten oder gar vernichten zu müssen, wenn sie leben wollen. Wenn wir diese Zwangsverhältnisse entflechten wollten, so wir es vermöchten, würden wir das nicht ohne Todesurteile für ganze Arten können. Also: Die Natur steht außerhalb unseres sittlichen Vermögens. Die Frage nach der Verantwortlichkeit stellt sich nur, soweit wir sie mit unserem Tun entschärfen können, soweit wir das Leid mindern, sinnvoll mindern können. Wir verstehen nicht, weshalb es in der Natur das Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens, das Gesetz des Dschungels, d. h. vom Erfolg des Stärkeren, das Gesetz von Wirt und Schmarotzer und andere geben muß. Wir begreifen nicht diese Naturordnung, die das Leiden und das Opfer Unschuldiger zuläßt. Zur Erklärung oder Rechtfertigung der Unvollkommenheiten des Daseins hört man immer wieder ein anscheinend gewichtiges Argument: Es könnte sein, daß im >Schöpfungsplan< den Unvollkommenheiten eine große, andersartige, uns nicht erkennbare ausgleichende oder andere wichtige Bedeutung zukomme. Es läßt sich nicht ausschließen, daß im Gesamtzusammenhang der Natur dem einen oder anderen Mangel oder Schicksalsschlag eine Wirkung zukommt, die

ihn vertretbar erscheinen läßt für einen, der die Übersicht hat, oder auch erst nachträglich. Was ist durch diese Überlegung gewonnen? Wir nehmen die betreffende Unvollkommenheit, den Mangel oder Schicksalsschlag wahr, d. h. wir erkennen oder erleiden ihn. Dieser Sachverhalt ist nicht aus der Welt zu schaffen, vor allem bleibt der Mangel, daß unser Erkenntnisvermögen in uns sehr nahe berührenden Dingen möglicherweise beschränkt ist und uns ein logisch denkbarer Sinn der Unvollkommenheiten verborgen bleibt. Die Gefährlichkeit jenes beschwichtigenden Argumentes liegt darin, daß sich so jede Unvollkommenheit entschuldigen oder sogar aufwerten läßt, natürlich auch die menschengemachten wie Krieg, Verbrechen, Krankheit (z. T.). Die Tendenz zum willigen Hinnehmen von menschlichem Fehlverhalten wird zu sehr gefördert. Schließlich trifft diese fragwürdige Argumentation aber auch das, was wir als sittlich gutes Verhalten ansehen. Wer weiß schon, was es im Gesamtgeschehen der Welt bedeutet? Könnte nicht auch eine sittlich gute Tat im >Schöpfungsplan< einen anderen als von uns vorhersehbaren oder überhaupt erkennbaren Effekt haben . . . ? Die Argumentation mit dem uns grundsätzlich Verschlossenen ist zu nichts Positivem nütze. »Was wir für die Erde bedeuten, wissen wir nicht. Wie viel weniger dürfen wir uns dann anmaßen, dem unendlichen Universum einen auf uns zielenden oder durch unsere Existenz erklärbaren Sinn beilegen zu wollen!«16 Unsere Aufgabe ist schwerer: nämlich auch ohne den »Sinn« des Lebens oder der Welt erkennen zu können, menschlich zu handeln! Der Biochemiker GÜNTHER WEITZEL 17 fordert von seiner Wissenschaft, sie möge ihre Anstrengungen auf die Synthese der Eiweißstoffe richten, die uns, seiner Ansicht nach, vom Pflanzenreich nicht ausreichend geliefert werden, um das Schlachten der Tiere überflüssig zu machen, »denn die erklärte Zielsetzung der Naturwissenschaft ist es gerade, die Welt leidloser zu gestalten.« Schade, daß man wohl kaum von einer so erklärten Zielsetzung der Naturwissenschaften sprechen kann, die ihrem Wesen und Selbstverständnis als empirische Disziplin widerspräche. Einige Forscher nur haben dieses Ziel. Manche Theologen sehen den Sinn des Leidens in dem Angebot von Prüfung und der Möglichkeit, an ihm zu reifen. WEITZEL sagt dazu mit Recht, deswegen leidende Menschen von der Heilung auszuschließen, sei unbarmherzig. Andererseits sollte ganz nüchtern der biologische Gesichtspunkt bedacht werden, der von K O N R A D LORENZ 18 hierzu hervorgehoben wird, nämlich, daß unser Gefühl sich an der Bewältigung von allerdings nicht absichtlich aufgebauten Hindernissen entfaltet. Ich folgere aus dieser Sachlage, man sollte sich energisch der Vorbeugung von Krankheiten zuwenden; die im Hinblick auf die Zivilisationskrankheiten z. B. erforderlichen Verhaltensweisen bieten hinreichend Gelegenheit, zu >reifen< und Überwindung zu üben. Der völlige Abbau von Erkrankungsursachen durch die Biochemie wäre wohl denkbar, ist

aber wohl fragwürdig, wenn er tatsächlich realisierbar wäre, da in das Gesamtgefüge des Organismus nicht umfassend einseitig biochemisch eingegriffen werden kann, ohne Harmonie und Anpassung zu gefährden. WEITZEL 19 hängt der nüchtern und klar ausgesprochenen optimistischen Vision an, die Naturverhältnisse der Welt wesentlich und grundsätzlich durch die Biochemie entschärfen zu können. Er meint, daß die Entwicklung seiner Wissenschaft dahin gehe, »alle Krankheiten heilbar zu machen und . . . die damit verbundene Hoffnung, auch Altersveränderungen therapeutisch zu beheben.« Es gebe keine Beweise für ein Naturgesetz des Sterbenmüssens. Eine Zukunft, die nicht auszudenken ist! Der Biologe kann hier nur Zweifel an der Realisierbarkeit und der Wünschbarkeit anmelden. Das in Jahrmillionen gewachsene, trotz allem feine Anpassungsgefüge würde durch das manipulierte Kunstprodukt >Mensch< zerstört. Das Bemühen um Entschärfung der Natur kann gewiß nicht a priori begrenzt werden; in jedem Falle wird der ethisch gebotene Kampf, soweit er sinnvoll ist, im Ganzen unendlich sein. Die Hoffnung auf prinzipielle Aufhellung der Nachtseite der Welt ist wohl illusorisch. Die Natur und das Natürliche sind uns nicht höchste Maßstäbe. Natur darf uns nur soweit Maßstab sein, als uns das Sittengesetz in uns nicht kategorisch anderes gebietet. Mit seinem ehrfürchtigen Denken ist der Mensch offenbar allein gelassen. Das hat FEUERBACH 20 uns scharf gesagt: »Die Natur antwortet nicht auf die Klagen und Fragen des Menschen; sie schleudert ihn unerbittlich auf sich selbst zurück.« Auf Fragen nach dem >Warum so?< wie auf Fragen nach Zukunftshoffnungen »gibt es keine Antwort«, heißt es auch bei ALBERT SCHWEITZER. 21 »Schmerzvolles Rätsel bleibt es für mich, mit Ehrfurcht vor dem Leben in einer Welt zu leben, in der Schöpferwille zugleich als Zerstörungswille und Zerstörungswille zugleich als Schöpferwille waltet«. Und es ist zu fragen, ob PASCALs22 geistreiche Antwort auf unsere Fragen wenigstens dem Gläubigen wirklich weiterhilft: »Die Natur hat Vollkommenheiten, um zu zeigen, daß sie das Bild Gottes ist; — und Fehler, um zu zeigen, daß sie eben nur das Bild Gottes ist.« Es muß uns genügen, daß es etwas gibt, das über uns, unsere Person, hinausweist; es ist das Kategorische der Pflicht in uns, das Drängende des Rechtes, besonders des Rechtes der anderen, der Schwächeren, und die Möglichkeit, sich in Liebe und Barmherzigkeit noch über diese hinaus zu erheben. Das ist Elementares, auffaßbar ohne tiefsinnige, geistreiche, künstliche Metaphysik, allein durch die Klarheit der menschlichen Vernunft. Wer noch weitere Sinngebung braucht und sucht, mag hier Kraft vertun. Mag sein, daß der angebliche Sinn der Welt, eine Täuschung, eine Selbsttäuschung, den einen oder anderen beflügelt. Unsere Aufgabe ist schwerer: Handeln ohne diese Sicherungen*.23

'Anmerkungen: 1 GRETE H E R M A N N : Die naturphilosophischen Grundlagen der Quantenmechanik. Abh. FRIESsdie Schule VI, 2 (Berlin 1935). 2 K O N R A D L O R E N Z : Die Hoffnung auf Einsicht in das Wirken der Natur. In: Die Hoffnungen unserer Zeit. München (Piper) 1963. S. 144. 3 K O N R A D L O R E N Z : a.a.O. S. 144. 4 K O N R A D L O R E N Z : Über das Töten von Artgenossen. In: D E N N E R T (Hrsg.): Die Natur, das Wunder Gottes. Bonn 1957. S. 264 f. S. 8: Motto: Johann Christoph. Motto: Kultur und Ethik. 2. Teil. München 1948. S. 242. 5 Handb. der Biologie. Lieferung 239/241. S. 1267. 6 Zitiert von Prof. Dr. G. SIEGMUND: Das Tier in der Ethik. Protokoll der Tagung vom 2 5 . - 2 9 . VII. 1959 in der Ev. Akademie Loccum. 7 J O A C H I M ILLIES: Anthropologie des Tieres. München 1973. S. 162. 8 OTTO U R B A C H : Plan, Ziel und Zweck. In: D E N N E R T : a.a.O. S. 301. 9 SIEGMUND: wie Anm. 6. S. 20. 10 B. BAVINK: Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. Zürich 1948. S. 718. 11 a.a.O. S. 721 f. 12 a.a.O. S. 719 f. 13 WALTER DIRKS: Ein angefochtener sehr treuer Christ. D I E ZEIT (Hamburg) vom 11. X. 1974 S. 23. 14 BAVINK: a.a. O. S. 683. 15 Kultur und Ethik. 2. Teil. S. X I I . 16 A. SCHWEITZER: a.a.O. S. 201. 17 Weltanschauliche Aspekte der Biochemie. Naturw. Rundschau 17. 6. 1964. S. 224. 18 Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. München 1973. S. 39 ff. 19 Der Mensch im Blickfeld der Biochemie. In: H. H A A G und F. P. MÖHRES (Hrsg.): Ursprung und Wesen des Menschen. Tübingen 1966/67. 20 U R B A C H : a.a.O. S. 302. 21 SCHWEITZER: a.a.O. S. 243. 22 U R B A C H : a.a.O. S. 303. 23 Die nicht unsympathischen und geistreichen Wiederverkörperungslehren verdanken wohl auch solchen Sicherungsbestrebungen ihren Ursprung. Sicherung durch Unangreifbares, Nichtwiderlegbares. Die positiven >Beweise< sind ohne Kraft.

Vegetarische Polemik

WILHELM BROCKHAUS:

Jagd

und

Tier fang

Die Jagd hat im Denken und Tun von Menschen aller Zonen und Zeiten einen besonderen Raum eingenommen, Jagd ist das Bemühen, der Tiere in der freien Wildbalm habhaft zu werden, in der Regel durch Tötung. Menschen jagen aus verschiedenen Gründen. In allen Breiten werden Tiere gejagt für die menschliche Ernährung. Erheblich ist aber auch die Jagd auf Tiere, deren Felle dem Pelzhandel zugeführt werden. Für die meisten Jäger aus den Ländern der Hochzivilisation ist die Jagd weder notwendig zur Fleischgewinnung, noch kommerzielle Beschäftigung; sie betreiben Jagd als Sport, also als Vergnügung. In vielen Revieren Europas und der Welt sieht sich der Jäger als Regulator der Natur an, der das vielberufene »Gleichgewicht« der Lebensgemeinschaften bewahren möchte. In vielen Gebieten hat die Jagd den Erfolg gehabt, manche Art endgültig auszurotten. Was ist in Mitteleuropa nicht alles abgeknallt worden! Wildkatze, Wisent, Uhu, Wanderfalk, Bär! Und was geschieht nicht immer noch in aller Welt mit ähnlicher Wirkung! Der Walfang beraubt sich selbst seiner Grundlage; die Fachleute haben längst das Aussterben einiger Arten in nächster Zeit vorausgesagt. Die Robbenschlächterei ist beängstigend. Durch industrielle Arbeitsmethoden kann heute die Natur nicht mehr als unerschöpflich gelten. Allerdings hat die Jagdleidenschaft der Herrschenden mindestens in Mitteleuropa nicht nur traurige Folgen gehabt. Um Jagdreviere zu erhalten, wurden Rodungen durch grundherrliche Dekrete (Wildbann) verhindert. Und »gerade dadurch hat die Jagd ihr bestes (für uns Heutige W. B.) bewirkt: sie hat damit der sonst unausbleiblichen Verniditung des deutschen Waldes vorgebeugt«.1 Es gibt eine umfangreiche Jagdliteratur aller Sparten, auch solche von Autoren, die sich anderweitig Ansehen erworben haben. Unsere Sprache ist seit altersher von zahlreichen Metaphern aus dem Bereiche der Jagd durchsetzt, es gibt eine Fülle von Jagdliedem. Es gibt Jagdgesetze, staatliche Jagdämter und Universitätsinstitute, die technische und biologische Fragen der Jagd bearbeiten. Zahlreiche Organisationen von Jägern und Jagdbeflissenen vertreten die Interessen der Mitglieder in der Öffentlichkeit, All das hat bei allen Bür171

gern ein solches Bewußtsein und Unterbewußtsein geschaffen, daß eine kritische Prüfung des Phänomens Jagd von vornherein sehr schwer ist. Dieser geistig wirksame Überbau hat noch eine sehr stark schützende Haut: das ist der Mythos der Jagd. Jagd wird angesehen primär nicht nur als rationale Tätigkeit, sondern als Befriedigung von angeborenen Trieben und Instinkten, die durch ein umfängliches, buntes Brauchtum ein bürgerlich oder gar gesellschaftlich aufhöhendes, fast weihevolles Ansehen verleiht. Alles das schüchtert ein: der bloße Umfang der mit der Jagd verbundenen gesellschaftlichen Tatsachen, das ehrwürdige Alter und die erlangte und erfolgreich verteidigte gesellschaftliche Stellung haben einen stabilen Überbau geschaffen.

Jagdtrieb Viele Schriftsteller nehmen die Existenz eines Jagdinstinktes an als rechtfertigende Grundlage. Selbst, wenn man unterstellt, daß das Überstehen der Eiszeiten dem diluvialen Menschen nur möglich war durch Jagd, braucht man nicht unbedingt einen Jagdinstinkt, einen Jagdtrieb, anzunehmen. Die Notlage könnte das kausale und schöpferische Denken, das sicher den damaligen Menschen mindestens in begrenztem Umfange eigen war, auf das Beutemachen gelenkt haben. Selbst wenn es heute noch Reste dieser Instinkte gäbe,2 wäre es für den Kulturmenschen unwürdig, unkritisch von deren Vorhandensein auf die Tunlichkeit ihrer Befriedigung zu schließen. Die Existenz eines Instinktes gibt für sich nodi kein Recht, ihn auszuleben. ORTEGA Y GASSET3 bietet ein Beispiel, welche phantastischen, fast dichterischen Konstruktionen zur Triebbeschreibung herhalten müssen. Der Jäger sehe das Wild »als Kreaturen, denen gegenüber das einzig richtige Verhalten ist, Jagd auf sie zu machen. Es handelt sich um eine Reflexbewegung, nicht um eine Überlegung . . . Nicht der Mensch erfindet es, . . . Wölfen die Rolle einer möglichen Beute zuzuteilen. Es ist das Tier, in diesem Fall die Wölfe, die fordern, daß man sie so betrachtet, so daß nicht mit Beuteabsicht zu reagieren, unnatürlich wäre . . . Aber das Jagen ist . . . eine Beziehung, die gewisse Tiere dem Menschen auferlegen, und zwar geht das so weit, daß unser Wille und unsere Überlegung mitwirken müssen, um nicht zu versuchen, sie zu jagen.« 4 »Wölfe . . . verwandeln . . . jeden normalen Menschen, auf den sie stoßen, automatisch in einen Jäger. Die einzige passende Antwort für ein Wesen, das ganz in der Besessenheit lebt, ein Erlegtwerden zu vermeiden, ist der Versuch, sich seiner zu bemächtigen.« 4 Wie mag ORTEGA sich wohl das »einzig passende« Verhalten für den Verfolger eines Menschen vorstellen, der seinem Angreifer entwischen möchte?

ORTEGAs Philosophie ist dodi reine Phantasie ohne jede reale Unter einer Fülle von geistreichen Formulierungen verbirgt sich — es auch mit dem frühen Menschen bestellt sei, heute gilt jedenfalls LORENZ' 5 Feststellung: »Kein Mensch würde auch nur auf die gehen, müßte er das Wild mit Zähnen und Fingernägeln töten.« 172

Grundlage. nichts. Wie KONRAD Hasenjagd

Erstaunlich, wie leicht es sich manche Autoren mit dem Jagdtrieb machen! Für DESMOND MORRIS, 6 dem Verfasser des vielgelesenen Buches »Der nackte Affe«, sind Männergesellschaften, Jugendlichenbanden, männlich betonte Clubs usw. Ausdruck »des alten, unserer Art angeborenen Dranges zur männlichen Jagdgemeinschaft«, ebenso der heutige Jagdsport, die Kinderspiele mit Jagen und Fangen, die Fotojagd, aber auch die Teilnahme am Glücksspiel, ja, sogar alle Arbeit ist als >Ersatzhandlung< für die Jagd anzusehen! 7 Nur ist schwer verständlich zu machen, wie zur rechten, sozusagen biologisch ererbten Jagd als Selektionsvorteil das auch von MORRIS als notwendig angesehene Angebot für das Wild, die »ehrliche Chance zu entkommen«, hinzukommen soll. Den Verlust des Haarkleides erklärt MORRIS durch den Selektionsvorteil, bei der Jagd Überhitzung zu vermeiden. Daß Raubkatzen dichte Felle tragen, scheint MORRIS entgangen zu sein.

Bei Kindern scheinen natürlicherweise solche Phasen aufzutreten, in denen sie Tiere gern fangen, mit ihnen spielen, sie quälen und auch töten. Ob dies auf einen rudimentären Jagdtrieb und nicht vielmehr auf den Spieltrieb zurückgeht, ist die Frage. Jagdgemeinschaft wird es wohl gegeben haben. Sollte nicht auch das Sammeln der Sammler gemeinschaftliche Sache gewesen sein, die auf »angeborenem Drang« beruhte? Vielleicht ist der >Jagdtrieb< eine phänotypische Neuerwerbung des Menschen der frühen Zivilisation. Aber auch ohne einen besonderen, erblichen Jagd trieb ist Jagd verständlich aus anderen Wurzeln: Aggressionen sind dem Menschen angeboren, sind mindestens Zeugen aus einer alten Zeit, in der sie notwendig waren zur Selbstbehauptung gegen Artgenossen und Tiere. Kommt dann noch, wie in den Eiszeiten, der Hunger hinzu, kann man verstehen, daß der frühe Mensch aus Not Jäger wurde. Es ist denkbar, daß Spieltrieb, Neugier und Sammeltrieb im Zusammenwirken mit nichtjagdspezifischer Aggression das Jagdverhalten auch in Zeiten motivierten, die nicht oder noch nicht von der Notwendigkeit tierischer Beute beherrscht waren. Es ist also nicht unbedingt die Annahme eines Jagdtriebes notwendig.

Sittliche Beurteilung Wo heute Fleisch zur Ernährung des Menschen als notwendig angesehen wird — in Steppen, in arktischen Regionen —, handelt es sidi durchweg um Bereiche der Anökumene, also um Räume, die ursprünglich und eigentlich nicht Lebensraum des Menschen sind. Im großen und ganzen handelt es sich hierbei wohl um Gebiete mit Verdrängungskulturen, d. h. ihre Besiedlung erfolgte mehr oder weniger unfreiwillig durch aus ihren Stammländern verdrängte Menschen. Im Zeitalter der durch die Vereinten Nationen kodifizierten Freizügigkeit kann man die heute in solchen Gebieten lebenden Menschen nur fragen, ob sie weiterhin dort dieses Leben wünschen auf der Grundlage von Jagd und Fischfang.8 Motive für den ständigen Aufenthalt dort von Menschen in unserer Zeit könnten sonst nur sein: Abbau von Bodenschätzen und Versorgung verkehrsgeographisch wichtiger Stützpunkte.

In den gemäßigten und tropischen Zonen ist Jagd zur Nahrungsgewinnung nicht nötig. Versorgung mit pflanzlichen Lebensmitteln ist ausreichend möglich. Wo Jagd auf Tiere gemacht wird, die ohne besondere Herausforderung Menschenleben unmittelbar oder mittelbar gefährden, wo Tiere angreifen, ist Jagd berechtigt, wenn es keinen besseren Weg als den der Tötung gibt. Auch Jagd im Sinne des ökologischen Gleichgewichtes ist vertretbar; sie soll uns näher beschäftigen. Jagdsport sollte abgeschafft werden. Die ethische und die biologische Beurteilung ein- und derselben Sache können vollkommen auseinanderfallen. Was biologisch möglich ist, kann ethisch entsdiieden verwerflich sein. Von der Ethik her muß man den »Jäger weit mehr ablehnen . . . als den Metzger«. Von der Ernährungsbiologie her gesehen »liefert die Beute des Jägers in gesundheitlicher Hinsicht das bessere Fleisch, liefert eine N a t u r k o s t . . . , während das umgebrachte Stallvieh eine kranke Zuchtkost liefert«.49 Uns ist geboten zu fragen, was menschenwürdig ist, und innerhalb des so gegebenen Spielraumes die biologisch besten Möglichkeiten zu verwirklichen. Notwendige Jagd in der Zivilisationslandschaft Wie steht es um die Jagd, die sich um das viel berufene und wünschenswerte Gleichgewicht von Wild mit den anderen Faktoren der Landschaft bemüht? Dieses ökologische Gleichgewicht gibt es. Es ist zwar dazu zu sagen, daß in einem bestimmten abgeschlossenen Lebensraum verschiedene Ausgleichszustände denkbar und möglich sind. Wenn Biologen von ökologischem Gleichgewicht sprechen, meinen sie für einen bestimmten Lebensraum den Zustand, der sich bei freier Entfaltung aller Tier- und Pflanzenarten einstellen würde ohne Eingriffe des Menschen, einen Zustand der optimalen Entwicklung allen Lebens, ein Zustand, der sich etwa selbst erhalten würde. Siedelt der Mensch sich in solcher Naturlandschaft an, ist die Bestimmung des Gleichgewichtes schwierig und nicht eindeutig; die Zurückdrängung und Störung der natürlichen Faktoren durch den Menschen muß hier Grenzen haben, will der Mensch sich nicht seine eigenen Lebensgrundlagen entziehen. In der Zivilisationslandschaft Europas wie in weiten Teilen der übrigen Welt sind alle Landschaftszellen, die Jagdreviere sind, eingefügt in ein Mosaik vom Menschen stark genutzter Landschaftsteile. Auch bei sehr naturnaher Bewirtschaftung der nahen Kulturlandschaften kann eine mehr oder weniger starke Beeinflussung der Jagdreviere wie auch umgekehrt eine Wirkung der Jagdreviere auf das Nachbarland nicht ausgeschlossen werden, und das um so stärker, je kleiner und zerstreuter die Reviere liegen. Das aber bedeutet, daß manche von Natur aus hier angesiedelten Tierarten keinen geeigneten Lebensraum mehr haben, andere zahlenmäßig Überentwicklung zeigen und daß hier starke Störungen unter Umständen bis zur Selbstzerstörung einer Lebensge174

meinschaft führen können. Verbiß- und Schälschäden können den Wald gefährden. Unter solchen Bedingungen ist Einschränkung mancher Wildarten, also Jagd, nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Zeit- und stellenweise waren und sind Schäden dieser Art so groß, daß ein tierliebender Waldfreund die Parole ausgeben mußte: Wald vor Wild! Was früher Wolf, Luchs, Uhu, Adler und andere Greifvögel besorgten, muß heute, nachdem diese ausgerottet wurden, durch Jäger erfolgen: Bestandsregulierung. Im Rahmen des jagdlichen Wirkens zur Erhaltung eines wünschenswerten Gleichgewichtes, besonders im Hinblick auf die benachbarte Landwirtschaft, ist die Regulierung des Bestandes an Pflanzenfressern notwendig. Wo pflanzliche Kulturen für die Ernährung des Menschen in Gefahr sind, ist Jagd, wenn kein besseres Mittel möglich ist, wie Schädlingsabwehr berechtigt. Das sogenannte Raubwild bedarf nur bei Übervermehrung einer Beschränkung, was nur selten voll berücksichtigt wird. Gegen die für ein wünschenswertes Gleichgewicht notwendigen Greifvögel, gegen Fuchs und Wiesel glaubt man einen Vernichtungsfeldzug führen zu müssen. Die Folge ist in Mitteleuropa z. B. ein Uberhandnehmen der Krähen, die dann oft mit fragwürdigen Mitteln (Gifte) bekämpft werden, statt sie durch Habicht und Wanderfalk ohne unser Zutun in Grenzen halten zu lassen. Heute muß die einzig vertretbare Losung heißen: Kein Schuß auf Greifvögel! Andererseits sind folgenschwere Eingriffe in das naturnahe Gleichgewicht durch falsche positive Maßnahmen vorgenommen worden: Einführung bodenfremder Arten (Sikahirsch, Muffelschafe, Waschbären und Sumpfbiber). Auch der Fasan ist ein Fremdling in unserer Landschaft, der sich nur halten kann, wenn heimische Wildarten wie Fuchs, Wiesel, Bussard, Habicht, Milan u. a. bekämpft werden. Die Einführung der Fremdlinge ist nicht Hege, sondern Materialbeschaffung zum Abschuß. Wer gibt dem Jäger das Recht zu solchen Eingriffen in die Natur? Hege ist notwendig, wo wegen starker Siedlungs- und Verkehrsentwicklung und ihrer Folgen einzelne heimische Arten nicht mehr ohne Unterstützung durch den Menschen existieren können. Praktisch wird Hege heute meist durch andere Bedingungen notwendig: Weittragende Gewehre, Zielfernrohre, starke Vermehrung der Jäger,9 leichtere Übersicht über kleinere Reviere und anderes haben die Dezimierung des Wildes gefördert. Um die Jagd weiter möglich zu machen, muß dafür gesorgt werden, daß der Nachwuchs den Abschuß ersetzt. Auf die Erhaltung der Abschußmöglichkeit kommt es nämlich solcher Hege an! Die Sorge um die lebende Kreatur ist bei vielen Jägern ausschließlich ausgerichtet auf das Wild, das sich für Büchse und Küche eignet. Nach dem Bundesjagdgesetz § 1 (1) gehört merkwürdigerweise das Recht, Wild zu hegen, zur ausschließlichen Befugnis des Jagdberechtigten. Wer also in Notzeiten dem darbenden Wild Futter reicht, greift in das R e i t des Jägers ein!

Wo ethisch und biologisch vernünftige Überlegung stattfindet, können vertretbare Ziele entwickelt werden: »Zeitgemäße Jagd kann sich nur als Dienst 175

an der natürlichen Umwelt verstehen. Ziel . . . ist die Erhaltung und Wiederherstellung funktionsfähiger Lebensräume für Pflanze, Tier und Mensch.«10 Dieser von Naturschützern und Jägern gemeinsam entwickelte Grundsatz entspricht auch den hier entwickelten Vorstellungen. Der entschiedene Tierschützer ist nicht selten genötigt, praktisch zu taktieren. Starke Bejahung des Fuchses muß er heute z. B. fordern, um die totale, anscheinend von den Behörden erstrebte Ausrottung des Fuchses durch Begasung aller Fuchsbauten (in der BRD) wegen der vermeintlichen oder wirklichen Tollwutgefahr zu verhindern. Es fragt sich natürlich, ob dieser Mord an den Füchsen berechtigt ist, die Vernichtung von Tausenden von Füchsen, um eine Krankheit einzuschränken, an der in den letzten 20 Jahren fünf Bundesbürger starben. 11 Ein Vielfaches an Menschen geht zugrunde durch nächtliche Wildwechsel über Autobahnen. Sollte man deshalb die Vernichtung aller Rehe fordern? Maßlosigkeit kennzeichnet unsere Zeit. Sonderformen der Jagd Es seien hier noch einige Sonderformen der Jagd besprochen. Die in England im November immer noch übliche Hetzjagd auf den Fuchs mit einer großen Hundemeute bietet ein widerliches, sportlich und gesellschaftlich stark klassengebundenes blutiges Schauspiel. Eine Gesellschaft von Reitern jagt mit einer Meute von Jagdhunden den Fuchs, bis er erschöpft gestellt und zur Strecke gebracht wird. Als >fairstewaidgerechteste< Jagdart, als >lautlose Jagd< wird die als vornehm geltende, im Mittelalter wohl verbreitete Beizjagd angesehen. Greifvögel, vorzugsweise Wanderfalken und Habichte, werden abgetragen (dressiert). Bei der Jagd trägt der Falkner auf ledergeschütztem Arm den Beizvogel angebunden und den Kopf mit einer Lederkappe bedeckt. Wird der zu jagende Beutevogel sichtbar, nimmt der Falkner dem Beizvogel die Kappe ab und läßt ihn aufsteigen zum Schlagen des Opfers. Der »Deutsche Falkner-Orden« pflegt auch heute noch diese Jagdart. Freude an der Tötung von Tieren, die zwar auch in der freien Natur von Tieren gejagt werden, ist wohl auch das Motiv zu dieser Jagdform. Das sicher auch mit Qualen verbundene Abrichten (»Abtragen«) der Beizvögel kann wohl kaum vom entschiedenen Tierschutz gebilligt werden. Dazu kommt noch die Frage: Woher bekommt der Falkner seinen Beizvogel? Werden die Horste der aussterbenden Wanderfalken geplündert? Die »Falkenhöfe« sind Statussymbol, pflegen eine besondere Atmosphäre, bieten besonders zur Finanzierung Schaustellungen mit den gefangenen Greifvögeln. Gefangenschaft und Bewegungsmangel sorgen für Rückbildung der Flugmuskeln, auch verändert sich das Verhalten, die Tiere bleiben infantil, verharren in Futterabhängigkeit vom Falkner. O f t sind Eintagsküken aus der Kühltruhe Ersatz für die natürliche abwechslungsreiche und blutwarme Atzung. So aufgezogene Jungvögel haben in freier Natur kaum eine Chance zu überleben. 11 ^

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Der Angelsport erfreut sich weiter Wertschätzung, auch infolge eines mystischen Überbaus. Der Angler ist ein >Heros der GeduldArzt am Krankenbette Die Geschichte der Vivisektion ist voll von grausamen Experimenten; 32 sie sind auch deshalb so erregend, weil sie keine oder nur geringe Resultate boten. Es gibt kaum eine denkbare Möglichkeit, die von Experimentatoren nicht realisiert wurde — bis auf den heutigen Tag, etwa Zusammennähen zweier Tiere, Vertauschen der Köpfe von Hunden. Mit grauenvollen Versuchen hat sich in unseren Tagen Prof. DEMICHOW (Moskau) hervorgetan, Ausgeburten schlimmster Phantasie: Einem Schäferhund transplantierte er an der Brust einen zweiten Hundekopf und ein zweites Vorderbeinpaar. Einen Monat etwa hat dieses Monstrum qualvoll gelebt. Die Ausbeutung der Tiere, zu unsinnigen Zwecken noch dazu, blüht also auch in Ländern, die sich sozialistisch nennen. Auch in der DDR durfte DEMICHOW ähnliche Experimente vorführen. 33 Es werden auch heute noch Tiere gefoltert für »Kenntnisse, denen nur ein Verrückter Wert zuerkennen kann«. 34 Amerikanische Ärzte haben aus Affengehirnen lebender Tiere gewisse Zentren herausgeschnitten und durch Einsetzen von computergesteuerten Elektroden die partiell gelähmten Glieder wieder beweglich gemacht; die Affen mußten nur lernen, mit der noch funktionierenden Hand die richtigen Knöpfe zu drücken, wenn die gelähmte Hand etwa eine Frucht greifen sollte. Sinn dieser qualvollen Versuche war die Entwicklung einer Hirnprothese für entsprechend gelähmte Menschen.35 Hier wie bei ähnlichen Versuchen ist mindestens zu fragen, ob der Aufwand nicht für Vorbeugungstherapie besser angebracht wäre. Der Physiologe MORITZ SCHIFF durchschnitt seinen Hunden die Stimmbänder, damit deren Geheul fortan die feindlich gesinnte Nachbarschaft nicht mehr aufbrachte. Wegen dieser Experimente mußte SCHIFF, durch öffentlichen Protest genötigt, Florenz verlassen.36 Die moderne Verhaltensforschung hat, vor allem durch die sympathischen Bücher von K O N R A D LORENZ, bei den Tierschützern ein gutes Ansehen. 197

Es fehlt allerdings audi nidit an Forschungsmethoden und -richtungen, die ethisch fragwürdige Experimente zur Kausalanalyse des Verhaltens betreiben. Bei aller Schärfe und Entschiedenheit der Kritik soll nicht übersehen werden, daß es auch für Tiere harmlose Versuche gibt wie auch weniger harmlose, die vertretbar sind und Erfolge gezeitigt haben. Der Wert einer Erkenntnis kann unabhängig sein von der praktischen Verwertbarkeit, woraus aber nicht folgt, daß jedes Verfahren zu ihrer Erlangung berechtigt ist,37 auch dann nicht, wenn sich der Wert einer Erkenntnis erst ergibt, wenn ich sie habe. Eine gewisse Hoffnung, Tierversuche fühlbar einschränken zu können, bietet die Arbeit des von Tierfreunden errichteten >Institutes zur Erforschung von Alternativ-Methoden zum Tierversuch« in Wien.38 Die wichtigste Aufgabe sieht dieses Institut in der Entwicklung der Zell-, Gewebe- und OrgankulturTechnik, für die Prof. S. T. AYGÜN (Ankara) die wichtigsten Anregungen gab. Tiere werden ersetzt durch Kulturen lebender Zellen; tierische oder menschliche Zellen und audi deren pathologische Formen werden in Kulturflaschen mit Nährlösungen gezüchtet. Jahrelang lassen sich solche Kulturen am Leben erhalten. Besonders für standardisierte Routineuntersuchungen von Arzneimitteln hat sich diese Methode schon bewährt. Grenzen dieser Methode: »Allein die systemgebundenen Erscheinungen, welche . . . den Gesamtorganismus betreffen, entziehen sich der Erforschung durch die Zell-, Gewebe- und Organkulturen.« 80 Daher forscht man auch nach anderen Wegen. In einer >Dokumentationszentrale für Alternativ-Methoden zum Tierversuch« werden alle einschlägigen Veröffentlichungen gesammelt und Interessenten zur Verfügung gestellt. Routinekommerzielle

und

Demonstrationsversuche

Für den Chirurgen ist es wohl unbedingt notwendig, nach eingehenden anatomischen Übungen an Leichen, vor Operationen an Menschen die Eingriffe an lebenden Tieren zu üben. Die Verschiedenheit der Objekte fällt hier nicht so ins Gewicht, weil es hier auf die lebendige Gesamtsituation ankommt. Durch solche Experimente, die für das Tier Leiden mit sich bringen, wird das Leiden vieler Menschen, unter Umständen auch von Tieren, gemildert oder geheilt. Die Tiere werden betäubt und nadi der Operation nach Möglichkeit geheilt. »Das Tier wird dann zum Patienten, dessen Genesung... man anstrebt.«40 Die Forderung lautet auch hier: Unsere Lebensführung sollte so sein, daß solche Eingriffe nicht notwendig sind oder auf ein Mindestmaß schrumpfen. Die Wissenschaft sollte neue Methoden suchen, die Tieropfer überflüssig machen. Außerdem kann nicht für jeden Schaden jedes Tieropfer verlangt werden. Vegetarier wird man aus Ehrfurcht vor dem Leben, nicht aus Furcht vor Schaden; der Vegetarier verzichtet auf das Majestätsbewußtsein der Gattung 198

(W. METZGER). Indien hat die Ausfuhr von Tieren für medizinische Zwecke grundsätzlich aus religiös-ethischen Gründen verboten. 41 Die kommerziellen Tierversuche haben durch die chemische und pharmazeutische Industrie ein kaum zu überblickendes und zu kontrollierendes Ausmaß angenommen. 1956 wurden in England allein 2,5 Millionen Tiere zu vivisektorischen Versuchen geopfert; nur 13 % der Versuche wurden unter Betäubung durchgeführt. 42 Hier wie in aller Welt kann nicht die Rede davon sein, daß nach Art und besonders nach Zahl der Tiere nur notwendige Versuche angestellt wurden. Die große Zahl der Mittel und Mittelchen, die zu einem nicht unwesentlichen Teil gleiche chemische Substanzen, nur mit verschiedenen Bezeichnungen versehen, darstellen, übersieht kein Arzt mehr. Das Gewinnstreben der allzu freien Industrie ist die Wurzel des Übels: Wünsche des Publikums werden erspürt oder angeregt, entsprechende, mehr oder weniger wirksame Präparate erscheinen auf dem Markt, begleitet von wirksamer Werbung. Die Kontrolle solcher Mittel durch Tierversuche sollte staatlichen Hochschulinstituten übertragen werden, wenn sie überhaupt nötig sind, nicht aber privaten Industrien überlassen bleiben. Es gibt aber auch nicht-medizinische Tierversuche kommerzieller Art. In den Niederlanden werden z. B. auf Versuchstieren, Meerschweinchen, Viren gezüchtet, die bei Übertragung auf Tulpenzwiebeln absonderliche, dem Handel erwünschte Tulpensorten hervorrufen. 43 Hier müssen wohl Tiere möglicherweise leiden, damit Blumenfreunde, die wahrscheinlich von nichts wissen, künstlich krank gemachte Pflanzen kaufen können. Kommerziell ist natürlich auch die Produktion von Heilmitteln aus Organen oder Organabsonderungen (Hormone) von Tieren wie die Gewinnung von Seren zu Impfzwecken. Soweit die Tiere hier nicht wesentlich beeinträchtigt werden, was aber von Fall zu Fall beurteilt werden muß, sind diese Produkte nur noch nach ihrer Wirkung zu betrachten. Nach dem starken Rückgang oder Verschwinden der großen Volksseuchen wird manche konventionelle medizinische Maßnahme einer Prüfung unterzogen werden müssen. Nach Möglichkeit sollte man Mittel, die durch Quälen oder Tötung von Tieren gewonnene Stoffe enthalten, zurückweisen. Demonstrationsversuche sind fast völlig überflüssig; Fotos, Tafeln, Filme, Präparate können ethisch einwandfrei und doch hinreichend veranschaulichen. Die z. B. immer wieder in Vorlesungen vorgeführte Vergiftung von weißen Mäusen kann ohne Verlust auch mündlich dargestellt werden. Erzieherisch wäre es besser, wenn der angehende Arzt oder Lehrer von seinen Hochschullehrern, seinen Vorbildern, angeregt würde, sorgfältige ethische Überlegungen anzustellen, für große wie für kleine Maßnahmen seines Berufes. Es ist mehrfach berichtet worden, daß Studenten bei der Vorführung grausamer Versuche in Gelächter ausbrachen, wenn sie beobachteten, wie gasvergiftete Tier verzweifelt versuchten, dem Schaugefäß zu entrinnen. Dieses Verhalten einer Masse ist unsympathisch, scheint aber nicht immer sadistischen Motiven zu entspringen; hier bewirken wohl mehr Neugier, Sensationsgelüst und auch Schamgefühl die vielleicht auch unbewußt vorhandene ethische Span-

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nung durch erlösendes Gelächter loszuwerden. 44 Nichtsdestoweniger wäre gerade in einem solchen Fall ein erzieherisches Wort des Hochschullehrers wichtig, was ich selbst als Student aber nie erlebt habe. Tierversuche, erst recht solche, die zynisches Verhalten begleitet, haben Konsequenzen, die historisch bedeutsam werden können: »Die >Vernichtung lebensunwerten Lebens< als staatlich befohlene Großaktion ging unter medizinischer Hilfestellung vonstatten! .. . Ein kräftiges Vorurteil zugunsten der Liebe und Menschlichkeit paßt weit besser zum Arzt als jene Sachlichkeit, die beim Verstümmeln lebender Tiere beginnt und bei der Vergasung nicht mehr voll >einsatzfähiger< Patienten aufhört.« 45 Anmerkungen: S. 198 Motto: Einleitung in das Studium der Experimentalphysiologie (Paris 1855) S. 180. Es wird berichtet, daß sich Frau und Tochter von ihm abwandten wegen seiner grausamen Versuche. 1 Das Experiment. In: Studium Generale I (1947) H. 1. S. 8. 2 a.a.O. S. 9. 3 PASTEUR: »Ich würde nicht den Mut haben, einen Vogel auf der Jagd zu töten. Aber wenn es sich um ein Experiment handelt, dann mache ich auch vor keinerlei Gewissensbissen halt. Die Wissenschaft hat das Recht, die Oberherrschaft über den Zweck in Anspruch zu nehmen.« Nach CIABURRI: Die Vivisektion. Dresden 1933. S. 291. PASTEUR soll in seinen letzten Lebensjahren von Kirche zu Kirche gelaufen sein, um sein Gewissen zu beruhigen (CIABURRI: a.a.O. S. 305). Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben erlaubt »dem Gelehrten nicht, nur seiner Wissenschaft zu leben, auch wenn er darin sehr nützlich ist« (ALBERT SCHWEITZER: a.a.O. S. 254 f.). 4 S. 189 ff. 5 Zwischen Anden und Atlantik. München 1948. S. 82. 6 Nicht nur dies, sondern geradezu eine innere, oft als Gewissen bewußte Nötigung dazu! 7 a.a.O. S. 405. 8 Kultur und Ethik. München 1948. S. 250. 9 Von hinreichend Unverbildeten sprach L. NELSON, wenn er sich lieber Arbeitern als Akademikern zuwandte. 10 Berlin 1957. S. 26. 11 Tierversuche bleiben, wenn sie mit tiefen Eingriffen verbunden sind, sachlich und menschlich problematisch. Das zeigt auch der knappe und klare Beitrag des Physiologen E R I C H V O N HOLST: »Der Physiologe und sein Versuchstier« in »Mensch und Tier« (dtv 481. München 1968). Dieser Forscher hat selbst auch Versuche durchgeführt, die abzulehnen sind. S. 201 Motto: Aussprüche B. v. SUTTNERs über die Vivisektion. In: Ethische Rundschau I (Berlin 1912). S. 73. 12 Bericht über d. 14. Vers. d. Verb. d. Tierschutz-Vereine d. Deutschen Reiches. In: Eth. Rundschau III (Berlin 1914). S. 103. 13 Auch MAGNUS SCHWANTJE (Gründe gegen die Vivisektion. Berlin 1919 S. 31) deutet einmal an, daß Vivisektion in Erwartung brauchbarer Resultate für Menschen vertretbar ist, »die an ihrer Krankheit unschuldig sind« (bei M. S. gesperrt). — Sonst gilt: »Man will also durch die Vivisektion die Folgen der eigenen Fehler auf Unschuldige abwälzen« (a.a.O. S. 34). 14 Tierverachtung und Christentum. Ethische Rundschau I (Berlin 1912). S. 155. 15 CIABURRI: a.a.O. S. 136. 16 CIABURRI: a.a.O. S. 285. 17 Deutsches Allg. Sonntagsblatt N r . 38 vom 22. IX. 1968. 18 S. 5. Die Demonstrationsversuche haben heute nicht mehr diesen Anteil. Von a l l e n Versuchen insgesamt könnte man höchstens 5 °/o billigen. S. 194 Motto: wie Anm. 11 S. 97.

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19 Skizzen zu einer Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus. Zürich 1954. S. 28 f. 20 Wenn es um die Ethik geht, legt man wenig Wert auf diese Voraussetzung. Zitat S. 195: Prof. BECKER (Kiel): Diskussion eines Vortrages v. W. S C H U P H A N . Qualitas Plantarum, Vol. 23. no 1/3 S. 74. 21 E. SEIFERLE (Zürich): Das Tier und die Angst. In: Das Recht der Tiere (Oberstarnberg) 1958. H. 3/4 S. 10 ff. 22 SEIFERLE: a.a.O. S. 13. 23 I. EIBL-EIBESFELDT in einem Vortrag in Wuppertal, ferner: A. KOEGEL: Zum Kapitel »Mißbrauch von Tieren< im wiss. Tierversuch. Das Recht der Tiere 1955. März. S. 7. 24 CIABURRI: a.a.O. S. 256 f. 25 Nach CIABURRI: a.a.O. S. 256. 26 K. L O R E N Z : Das sogenannte Böse. S. 174. 27 CIABURRI: a.a.O. S. 245 f. 28 D I E T R I C H GUNST: Der Contergan-Prozeß und die Problematik des Tierversuchs. In: Das Leben (Int. Z. f. Biol. u. Lebensschutz) VII (1970). Nr. 1/2. S. 15 ff. 29 D I E T R I C H GUNST: a.a.O. S. 17. 30 Experiments on animals. In: G O D L O V I T C H / H A R R I S : Animals, Men and Morals. London 1971. S. 46. 31 CIABURRI: a.a.O. S. 6. 32 CIABURRIs Buch berichtet ausreichend. 33 Das ist nun nicht nur ein Beispiel einer »anfechtbaren Publizistik«, vor der »die Öffentlichkeit ein Recht (hat), geschützt zu werden . . . « (R. NISSEN: Die Konsequenz der Ehrfurcht vor dem Leben für die Medizin. Universitas XV. 1. 1960. S. 84). Wenn je die Hoffnung und Aussicht besteht, die Vivisektion auf das äußerste Maß einzuschränken, dann nur durch weite Öffentlichkeit aller methodischen Gebahren und Verfahren der Wissenschaft! Das gehört zur »Würde und Ethik der Wissenschaft« (NISSEN) unserer Zeit! 34 MAGNUS S C H W A N T J E : Gründe gegen die Vivisektion. Berlin 1919. S. 27. 35 T H . V O N R A N D O W in DIE ZEIT (Hamburg) vom 25. II. 72. 36 CIABURRI: a.a.O. S. 107/108, 273. 37 Die anscheinend so plausible Ablehnung des Grundsatzes »Der Zweck heiligt die Mittel* durch viele Tierschützer und Ethiker ist leichtfertig. Zwar nicht jeder Zweck heiligt jedes Mittel; aber all unser ethisch besonnenes Verhalten läuft auf eine Abwägung hinaus, die wesentlich mit jenem Grundsatz übereinstimmt. Manches Mittel macht allerdings den Zweck zunichte. 38 Informationen: Bund der Tierversuchsgegner, A-1060 Wien, Webgasse 42. 39 Hilf, Schach der Qual! 3. Quartalsheft 1972. JOSEF NEUMÜLLER: Aufgaben unseres Institutes . . . S. 14 f. 40 HERBERT FRITSCHE: Kann die Vivisektion der Heilkunst dienen? (Flugblatt.) 41 Die Affeninfektion. In: Gesundheitspolitische Umschau. 18. J. Folge 9. Sept. 1967. 42 MAX KELLER (Zürich): Die Vivisektion und wir. Das Recht der Tiere 1958. H. 5/6. S. 8. 43 MAX KELLER: a.a.O. S. 8. 44 »Zwangslachen tritt oft auf, wenn der Patient sich einem überlegenen Menschen gegenüber sieht, einem Lehrer etwa. . . . bis man bemerkt, daß sich der Lachzwang, die Herrschsucht und der Sadismus über dem schwachen Punkt des Minderwertigkeitsgefühls aufbauen, um ihn zu kompensieren.« ALFRED ADLER: Grausamkeit, Gewissen, Perversion und Neurose. In: Das Gewissen als Problem. Hrsg. N. PETRILOWITSCH. Darmstadt 1966. 45 HERBERT FRITSCHE: Der Wert der Vivisektion. In: Gesundes Leben. Medizinalpol. Rundschau (Hilchenbach/Westf.) 1957. H. 9.

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WILHELM

BROCKHAUS:

Gefangenhaltung,

Tierzucht

Von allen uns zur Verfügung stehenden Tieren sind Wildtiere die am wenigsten beeinflußten, die unverfälschtesten, die echtesten. Sie bilden die Grundlage und den Maßstab, die Norm für alle Beurteilung tierlichen Verhaltens. H . HEDIGER

Bei allem Fang und aller Gefangenhaltung von Wildtieren ist zu fragen, ob das Leben dieser Tiere keine wesentliche Beeinträchtigung erfährt, was nicht immer leicht feststellbar ist. Die Lebensbedingungen in der Gefangenschaft müssen etwa den natürlichen in der Freiheit des artgemäßen Biotops entsprechen, wenn Gefangenhaltung ethisch diskutabel sein soll. Das ist aber nur die eine Seite des Problems. Wir haben auch zu fragen, wozu die Tiere aus ihrem natürlichen Lebensraum gelöst und in Gefangenschaft verbracht werden sollen. Das Beobachten zu Forschungszwecken erfolgt am besten im allgemeinen im natürlichen Lebensraum unter Ausschaltung möglichst aller Beeinflussung durch den Beobachter. Soll in Gefangenschaft experimentiert werden, in Käfig und Labor, ist verschärft die Frage nach dem Wozu zu stellen. Sicher ist eine Erweiterung unserer Kenntnisse zur Biologie und zum Verhalten der Tiere notwendig, um in der Hochzivilisation dieser jetzt schon übervölkerten Erde das beste für die jeweiligen Arten und ihre Erhaltung planen und realisieren, sozusagen für die wahren Interessen der Tiere wirken zu können. Die reine Wissenserweiterung hat, wenn Tierpersonen betroffen sind, ihre Grenze. Wo durch Verbreitung von Tierkenntnis Tierliebe gefördert werden kann, ist das der Forschung zuzurechnen.

Die Überwindung der Einsamkeit vieler, besonders auch alter Menschen, ist gewiß ein möglicher Zweck der Tierhaltung; wenn auch hier stets zu fragen ist, ob so nicht mitmenschliches Versagen bequem kompensiert wird, anstatt Menschen an ihre Pflichten zu erinnern. Tiere zur bloßen Unterhaltung widernatürlich zu halten, ist fragwürdig. Hinsichtlich der Erwartungen und Notwendigkeiten bei der Tierhaltung zu diesem Zweck lese man K O N R A D LORENZ' schönes und inhaltsreiches Buch »Er redet mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen«, insbesondere das Kapitel »Schaff' Dir keinen Buchfink an!« Auch wo Tiere vermutlich keine Schmerzen empfinden und keine Qualen erleiden, kann das Gefangenhalten unter unbiologischen Bedingungen fragwürdig und ehrfurchtslos sein; auch bei Tieren sollte man nicht mit dem Unbekannten in ihrem Leben spielen. 202

Bäuerliche und industrielle Zucht Tierzucht zu Nahrungszwecken ist für die Zukunft nicht wünschenswert. Auf nicht ackerfähigen Böden mag Milchviehzucht in gewissem Maße und unter ethisch vertretbaren Bedingungen betrieben werden. Hühner, denen ausreichend natürliche Bedingungen, vor allem weite Bewegungsmöglichkeiten in naturnahem Gelände geboten werden, dürften nur zur Eierproduktion gehalten werden, ohne hier durch stimulierende, meist äußerst unbiologische und auch quälende Methoden Extrem-Erträge zu erzwingen. Die modernen Methoden der industrialisierten Tierzucht dürfen keinem Tierschützer gleichgültig sein, auch, wenn er die Produkte solcher Betriebe nicht verwendet. Vielleicht hat es auch im vorindustriellen Bauernhof nie ganz unbedenkliche Methoden gegeben. Die modernen Tierfabriken — im Fachjargon Intensivhaltungen«:, auch ein >StoffwortBewegungsstereotypien< genannten Erscheinungen des unentwegten Hin- und Herrasens der Eichhörnchen, das ewige Nicken mancher Bären oder das einförmige Wandern mancher Raubsäuger auf festgelegten Wechseln im engen Käfig sind doch eigentlich Geisteskrankheiten. Die in Gefangenschaft geborenen Tiere haben es etwas leichter in ihrem Leben; sie haben die ihnen entsprechende natürliche Umwelt gar nicht kennengelernt, ihre Verhaltensweisen haben sich sofort auf die Zoobedingungen einstellen können. Man fragt sich nur, wie weit diese Tiere noch sie selbst sind. Das wissen auch die Zoofachleute. So stellt HEDIGER 1 2 fest: »Das ursprüngliche, reine Tierverhalten können wir kaum oder gar nicht mehr erkennen; fast alles ist schon durchdrungen von den Reaktionen des Tieres gegenüber dem Menschen und gegenüber seinen technischen Einrichtungen.« Tiergärten mögen sich bewähren vor allem bei der Erhaltung und Auffrischung der im Freiland gefährdeten Arten! HEDIGER 1 3 weist auf das Beispiel der Wiedereinbringung des Steinwidders in die Schweizer Alpen mit Hilfe von in der Gefangenschaft geborenem Nachwuchs hin, der Wisent wurde neugezüchtet, der Milu-Hirsch (China) und der Koala-Bär (Australien) blieben uns im Zoo erhalten. Diese Aufgabe wird in der Hochzivilisation noch wachsen. Wie der Zoo helfen kann, die »Schatten der Wellentäler« im Leben der Tiere »aufzuhellen«, bleibt trotz HEDIGER, 14 dem liebevollen Tiergärtner und Fachmann, die offene Frage. Das Fressen und Gefressenwerden ist Naturordnung, was bedeutet hier Aufhellung des Wellentales? Leid zu mildern, wo es wirklich möglich ist, bleibt unsere Aufgabe. HEDIGERs 15 Meinung, daß Tiere ihren »Charakter als Ware« verloren haben und »den einer kostbaren Leihgabe aus der bedrohten Natur angenommen« haben, ist leider von der Wirklichkeit weit entfernt; dem Wunsch ist baldige Realisierung zu gönnen. 205

Zirkus, Dressur Was der Zirkus den Tieren durch seine Reisen mit dem notwendigen Ein- und Ausladen und besonders durch Dressuren, den Aufenthalt im grellen Licht der Manege, bei Musik und dem Menschengewimmel zumutet, wiegt wahrscheinlich das im Programm Gebotene nicht auf. Die meisten Besucher ahnen nichts von diesen Schattenseiten. Erlaubt die Befriedigung unserer bloßen Schaulust Gefangenhaltung und Dressurqualen der Zirkustiere? Zirkus, Wanderschauen, die Falknerei und einige Tiergärten betreiben Dressur. Von der Dressur zum Quälen ist es nicht weit — milde gesprochen. Es muß deshalb wohl dabei bleiben, was Tierfreunde schon vor langen Jahren aussprachen, was KARL BARTH, 16 der Basler Theologe, 1951 aussprach: Das Gefangenhalten und auch das Abrichten von Tieren zu bloßen Schau- und Vergnügungszwecken ist sittlich problematisch. Kindertier gärten Die Rolle der Tiere für die Erziehung möchte man endlich einmal von der pädagogischen Forschung einer sachlichen und wirklichkeitsgerechten Untersuchung und Beurteilung unterworfen sehen. HEDIGERs 17 Kritik der >Kindertiergärten< trifft ins Schwarze: »Anstatt das Kind zu lehren, sich mit einem gewissen Respekt und mit größtmöglicher Einfühlung dem Tier zu nähern, wird es im Tierkindergarten eigentlich dazu angehalten, hemmungslos über das wehrlose Tier zu verfügen und es nach Belieben zu behandeln.« Der ermöglichte intime Kontakt macht weithin Tiere zum Spielzeug. Ähnliches gilt für viele private Tierhaltung durch und für Kinder. Denn auch hier müssen wir HEDIGER 1 8 zustimmen: Tierliebe bedeutet, Eigenarten und Bedürfnisse der Tiere kennenzulernen und den Verzicht auf Befriedigung anthropozentrischer Wünsche, »die meist auf intensive Berührung abzielen... Unter echter Tierliebe verstehen wir . . . Freude am Tier unter größtmöglicher Rücksichtnahme auf seine biologische Situation.« Viel ungeleiteter Umgang unserer Kinder mit Tieren bedeutet stattdessen, oft unbewußt, Einübung falschen Verhaltens! Der Weg zum Verstehen der Natur beginnt nun einmal an den vielleicht bescheidenen konkreten Objekten der freien Heimatnatur. Natur hat man erst dann verstanden, wenn man zoologische Gärten als >SurrogatePlatz für wilde Tiere« in ihren natürlichen Lebensräumen! Anmerkungen: Literatur zum Gesamtthema: B E R N H A R D GRZIMEK: Gefangenhaltung von Tieren. Studium Generale III (1950) H. 1. S. 1 ff. K. F. FINUS: Zweck und Bedeutung der Tiergärten. In: Das Recht der Tiere. 1956. H. 1/2. S. 13 ff.

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S. 202 Motto: HEDIGER, H.: Skizzen zu einer Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus. Zürich 1954 (Büchergilde Gutenberg). S. 25. 1 R U T H H A R R I S O N : Tiermaschinen. München 1965. Verf. ist Vegetarierin. 2 K. L O R E N Z in: Informationen. Deutsche Tierfreunde e.V. Hamburg 1969. 9. J. Nr. 23. S. 14. 3 H. H E D I G E R : Wildtiere in Gefangenschaft. Ein Grundriß der Tiergartenbiologie. Basel 1942. S. 13. 4 H E D I G E R : Wildtiere . . . S. 176. 5 H. H E D I G E R : Mensch und Tier im Zoo. Tiergartenbiologie. Rüschlikon/Zürich/Stuttgart/Wien 1965. S. 26. 6 H E D I G E R : Mensch und Tier im Zoo. S. 311. 7 H E D I G E R : Wildtiere . . . S. 18. 8 H E D I G E R : Wildtiere . . . S. 104. 9 H E D I G E R : Wildtiere . . . S. 74. 10 H E D I G E R : Wildtiere . . S. 42. 11 H E D I G E R : Wildtiere . . . S. 149. 12 Skizzen . . . S. 28 f. 13 Wildtiere . . . S. 187. 14 Skizzen . . . S. 101. 15 Mensch und Tier im Zoo. S. 26. 16 Die kirchliche Dogmatik. Bd. III. 4. Teil. Zollikon-Zürich 1951. S. 400. 17 Mensch und Tier im Zoo. S. 170 f. 18 Mensch und Tier im Zoo. S. 171. 19 Diesen Ausdruck verwendet B. GRZIMEK in einem Aufsatz »Afrikaner, die nie einen Löwen sahen«. DIE ZEIT (Hamburg) Nr. 40/1960 Beilage S. 1.

WILHELM

BROCKHAUS:

Tierkämpfe,

Pferderennen

Stierkampf Die Corrida in Spanien kann nicht als Sport, nur als unwürdige, tierquälerische, allerdings für Manager und Stierkämpfer geschäftlich bedeutsame Schau betrachtet werden. Natürlich sind voll mitverantwortlich auch die zahlreichen Besucher, heute besonders die Touristen, die diese Veranstaltungen rentabel machen. Beim Jagdsport kann vielleicht wohl noch die Rede davon sein, daß dem Opfer eine Chance gegeben sei zu entkommen oder zu siegen. Nicht aber beim Stierkampf! Eine gewisse Anzahl, etwa 18, von ausgebildeten Leuten und Helfern steht dem Stier gegenüber, der meist durch allerlei Manipulationen auf den Ausgang des >Kampfes< vorprogrammiert wird: Den Hörnern wurden die Spitzen abgefeilt oder sie wurden im ganzen angesägt; das Gleichgewichtsempfinden der Tiere wird dadurch schon verunsichert. Aber auch durch ZurAder-Lassen sind die Tiere geschwächt. Meist handelt es sich um 3-4jährige Stiere, die noch nicht voll kampffähig sind. Die Pferde der Berittenen in der Arena werden von den Hörnern des Stieres oft schlimm zugerichtet. Helden sind also die Toreros nicht. »Ich könnte dem Kerl ins Gesicht spucken, der sich vor dem bereits maßlos geschwächten Stier hinkniet und sich in dieser 207

Pose als Held feiern läßt.« 1 Ein in Tradition und in Bezug auf die Tiere sichtbeschränktes Publikum läßt sich gern täuschen; außerdem erfüllen >Brot und Spiele< in manchen Ländern eine wichtige Funktion sozialpsychologischen Kittes. Enttäuschend ist, daß die in Spanien auch politisch so einflußreiche katholische Kirche zum Stierkampf, allerdings auch zu manchen wichtigeren sozialen Problemen, schweigt. Und doch liegt eine Grundsatzentscheidung in einer Bulle des Papstes PIUS V. vom 1. XI. 1569 vor!2 In § 2 dieses Dokumentes heißt es: »Wir stellen hiermit fest, daß Stierkämpfe und Kämpfe mit anderen wilden Tieren gegen die christliche Frömmigkeit und Liebe verstoßen und wollen hiermit derartige grausame schandbare und dämonische Schauspiele abschaffen . . . ; daher verbieten wir allen christlichen F ü r s t e n . . . , ebenso den Städten und sonstigen Gemeinwesen für ewige leiten bei Strafe des sofortigen Ausschlusses aus der Kirche, daß sie in ihrem Gebietsbereich Stierkämpfe . . . abhalten lassen.« »§ 4: Dem Welt- und Ordensklerus sind die Teilnahme an derartigen Schauspielen gleichfalls bei Meidung der Exkommunikation verboten.« Es hat nicht gefehlt an Versuchen einer Aufweichung dieser Verordnung. Trotzdem war der Erfolg außerordentlich. In den folgenden Jahrhunderten hörten die Stierkämpfe fast völlig auf. Erst der den Spaniern als König aufgezwungene JOSEPH BONAPARTE (1813 vertrieben), der sich beim Volke beliebt machen wollte, führte sie wieder ein. Leider nimmt heute die Kirche von dieser Bulle, die für »ewige Zeiten« gelten sollte, keine Notiz; von den schwachen spanischen Tierschutzorganisationen kann noch kein Erfolg erwartet werden. Durch diese Kämpfe wird die öffentliche Brutalität gefördert. Fast könnte man in der Beurteilung des Publikums Nachsicht walten lassen, wenn man der geistreichen Meditation über den Stierkampf eines Fachmannes der Friedenspädagogik, FRIEDRICH WILHELM FOERSTER, 3 folgt. Kein Wort über die Leiden der Stiere und Pferde, dafür aber ein Ohr für die einfühlsame Musik, die die Bereitschaft zur Begegnung mit dem Tode darstellt. »Wer dem wütenden Stier nicht zu begegnen wagt und ihn nicht ebenbürtig zu behandeln weiß, der hat das Spiel v e r l o r e n . . . im Beruf, in der Politik und in der Liebe . . . Dies fühlt unverkennbar das zuschauende Volk und so wird die Corrida zum Symbol des ganzen Lebens.« Diese Musik der Corrida, die FOERSTER erlebte, war der Himmelskönigin gewidmet!, deren »höchste Gnade« für den Ausgang des Schauspiels angerufen wird. »Der Sinn dieses Anrufes der Himmelskönigin — . . . er (gilt) nicht dem Stierkampf . . . , sondern der Gnade für den Torero, der sein Leben aufs Spiel setzt —, wird uns ganz k l a r . . . , wo wir wissen: der Torero, wenn er in der Kammer sein Kampfgewand anlegt, ruft noch einmal die höchste Gnade an und wirft sich vor dem Bilde der Himmelskönigin nieder, das von zwei brennenden Leuchtern umgeben ist.« 400 Jahre früher war PIUS V. weiter! FOERSTER erklärt ausdrücklich, daß er nicht den Stierkampf verherrlichen, 208

sondern nur zeigen will, »welche sittlichen (? W. B.) Elemente sich symbolisch mit ihm verbunden haben.« Wenn FOERSTER dann unter Hinweis auf die »glänzenden kulturellen Leistungen in Südamerika« sagt, die Tradition der Corrida stehe mit jenen heroischen Leistungen (in irgendeinem unsichtbaren Zusammenhang)«, sind wir wieder bei einer Mystifizierung, wie wir sie bei der Jagd dargestellt haben. Man schämt sich des Touristenpublikums, das nicht unwesentlich mit dazu beiträgt, den Stierkampf in Spanien geschäftlich zu stützen. Den Stierkampf muß man wohl auch dann ablehnen und bekämpfen, wenn dadurch der »mutige, kämpferische, spanische StierSport< — die Stierkämpfe der kleinen Leute — ist ein mit Geldeinsätzen verbundenes Unterhaltungsspiel der Männergesellschaft, die Frauen bleiben meist außerhalb der Halle. Pferderennsport Schon seit langem fehlt es nicht an Kritik dieses Sports. Die Rennen, bei denen auch das geschäftliche Moment nicht übersehen werden darf, entsprechen kaum den angeborenen Verhaltensweisen der Pferde; vor allem sind es die Sprünge über Hindernisse und Gräben, die den Tieren zu schaffen machen, wie die nicht 209

seltenen Knochenbrüche, Bruch des Rückgrates und andere Unfälle bei Stürzen zeigen. Die Urteile, die während der Olympischen Spiele die Runde machten, sprechen dringend für ein Verbot solcher Veranstaltungen. Der Zuschauer sieht in den öffentlichen Leistungsrennen sozusagen immer nur das Ende eines Vorgangs, nicht aber die notwendige Vorbereitung. Anmerkungen: 1 Prof. Dr. jur. A R M I N SPITALER in: »Das Recht der Tiere« (Oberstarnberg/Obb.) 1961. H . 1/2. S. 2. 2 Alle Ausführungen über diese Bulle nach JOSEF MAURER: Die Stierkämpfe in Spanien und die katholische Kirche. In: »Das Recht der Tiere« 1962. H. 1/2. S. 12 ff. 3 Erlebte Weltgeschichte. Nürnberg 1953. S. 548 ff. 4 H O R S T STERN: Bemerkungen über Pferde. rororo-Sachbuch. Reinbek b. Hamburg 1974. S. 17.

Religionen und Weltanschauungen zum Vegetarismus

PHILIP LEON PICK: Vegetarismus aus jüdischer Sicht Die jüdische Philosophie des Vegetarismus betrifft eine Lebensweise und reicht bis in die geheimnisvolle Frühzeit unserer irdischen Existenz zurück. Wie auch immer dem sei: Ob der Bericht über das Leben des Menschen im Garten Eden auf Wahrheit beruht, ob er nichts als eine alte Legende ist oder — wie wir es glauben — eine tiefsinnige Erklärung zum wahren Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfer und eine Abhandlung, die sich mit dem Wesen seiner Existenz beschäftigt, ganz sicher enthält er das Saatkorn einer ewigen Lehre, die den Weg seiner geistigen Entwicklung aufzeigt und sein Streben umschreibt. Er führt sein geistiges Fortschreiten längs des Umfanges eines weiten, weiten Kreises, bis er seinen Ausgangspunkt wieder erreicht und zurückkehrt zu seiner ursprünglichen Stellung als Hüter des Gartens und aller Lebewesen darin. Der erste Auftrag ist enthalten in Genesis 1,29 und 30. » . . . Und Gott sprach: Siehe, ich gebe Euch alles Kraut, das Samen trägt, das über die ganze Erde hin wächst und alle Bäume mit Baumfrüchten, die Samen tragen: Euch sollen sie zur Nahrung sein. Auch allen Tieren der Erde und allen Vögeln des Himmels und allem, was da kriecht über die Erde hin, in welchem eine lebende Seele wohnt, gebe ich alles Grün des Krautes zur Nahrung. Und so geschah es.« Kommentar: In der idealen Urzeit, genau wie in der Messianischen Zukunft (siehe JESAIAS 11), dienten die Tiere einander nicht als Beute (HERTZ). Am Ende eines jeden Schrittes der Schöpfung steht geschrieben: »Und Gott sah, daß es gut ward, »und am sechsten Tag (31) sah Gott alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.« In seiner Gesamtheit wurde es für »sehr gut« befunden, d. h. das Weltall war nach dem Willen des Schöpfers in vollendeter Harmonie. Kommentar: »Diese Harmonie legt Zeugnis ab für die Einheit des Schöpfers, der diese Einheit der Natur wollte« (LUZZATTO). Bis zu NOAHs Zeit war es ein ebenso schweres Verbrechen, ein Tier zu töten, wie das Töten eines Menschen. Das wird bestätigt durch die Feststellung der Genesis: »Dem Menschen und allen Geschöpfen habe ich eine lebendige Seele gegeben.« Man achte darauf, daß das Wort »Seele« in der selben Weise für 213

den Menschen und die Tiere verwendet wird. Im Gedanken hieran haben sich viele über die Geschichte von KAIN und ABEL gewundert, aber in diesem Zusammenhang wird sie auch verständlich. Warum war das wundervolle weiße Lamm, welches ABEL schlachtete, Gott als Opfer angenehm? Und wenn dem so war, warum tötete KAIN, dessen Opfer an Wert karg war und in neidischer Gesinnung geopfert, seinen Bruder ABEL? Die Geschichte hat einen doppelten Sinn: Erstens, daß man, wenn man etwas gibt, großzügig und weitherzig sein soll und an Kosten nicht sparen. K A I N handelte nicht in dieser Art, während ABEL von seinem Besten gab. Zweitens: Ganz unabhängig hiervon rechtfertigte die Todsünde ein Geschöpf zu töten, die Todesstrafe wegen des unabänderlichen Gesetzes der Vergeltung, und ABEL leistete die Sühne. Wegen des Mordes kam auch über KAIN und seine Nachkommen die Vergeltung. Das Zeitalter der Gewalt und der nachfolgenden Vergeltung hatte begonnen und sich bis zum heutigen Tage fortgesetzt. Das Gesetz »Auge um Auge, Zahn um Zahn« ist viel kritisiert worden von Leuten, die für seine schreckliche Wahrheit kein Verständnis haben. Es bedeutet nicht, Unrecht mit Unrecht zu erwidern, sondern, daß die Strafe dem Verbrechen angemessen sein muß. Es ist gleich falsch, zu viel zu strafen, wie zu wenig (Die Gnade steht wieder auf einem anderen Blatt, aber hier ist ja von Recht und Gesetz die Rede). Diktatoren sind dafür bekannt, daß sie Leute wegen politischer Anschauungen hinrichten lassen, aber das ist nicht »Auge um Auge«, es ist vielmehr Mangel an jedem Recht. Dieses spezielle Gesetz ist unabänderlich und absolut gültig und wirksam, ob wir es mögen oder nicht. Die Geschichte von KAIN und ABEL wirkt noch heute nach, wo Mensch und Tier in gleicher Weise grundlos töten und immerwährende Vergeltung unparteiisch geübt wird. Wir kommen nun an das Ende der Ära der Vollkommenheit. In Genesis 6 steht geschrieben: »Und es geschah, als sich die Menschen auf dem Antlitz der Erde auszubreiten begannen...« und Gott sprach: »Mein Geist soll nicht immer eifern mit dem Menschen. Und er sah, daß die Bosheit groß war und alles Fleisch seinen Weg auf der Erde verdorben hatte . . . « »Und da sprach Gott zu NO AH: Gekommen ist das Ende alles Fleisches vor mir; denn die Erde ist voll von Gewalttat von ihnen.« Kommentar: Gewalttat wird beschrieben als »unbarmherzige Beleidigung des Rechtes der Schwachen durch die Starken« (Talmud). Nach Lehre der Rabbiner bereute Gott seine Handlungsweise in der gleichen Art, wie Eltern einem Kind vergeben, welches ein Verbrechen oder sogar einen Mord begangen hat, und setzte den Regenbogen in den Himmel als Versprechen, die Erde nie wieder zu zerstören. »Denn das Sinnen und Trachten des Menschenherzens ist böse von Jugend an . . . « (Genesis 8,21), und das neue dann folgende Zeitalter nahm diese Tatsache als gegeben hin. In den Noachitischen Gesetzen, wie auch in den nachfolgenden Hebräischen Gesetzen vom Berge Sinai wurden keine Gebote erteilt, die die Menschen nicht annehmen würden, da diese nur eine Verachtung der 214

Gebote allgemein hervorgerufen haben würde. Der Kompromiß war daher wesentlich, in der Hoffnung, daß der Mensch durch eine in feste Form gebrachte Lebensführung vielleicht zu seinem ursprünglichen Selbst zurückkehren würde. Daher wurde zu dieser Zeit die Erlaubnis zum Fleischessen erteilt: » . . . und Furcht und Schrecken vor euch laste auf jedem Tier der Erde und auf jedem Vogel in den Lüften und auf allem, was sich auf der Erde bewegt, und auf allen Fischen im Meer — alles was sich regt und lebt sei Nahrung für euch, so wie das Grün des Krautes gebe ich euch das alles, nur Fleisch zusammen mit seiner Seele, seinem Blute, dürft ihr nicht genießen.« Der berühmte Rabbiner HACOHEN-KOOK, der erste Oberrabbiner von Israel, schrieb eine klarsichtige Abhandlung mit dem Titel »Die Prophezeiung des Vegetarismus und des Friedens«, und darin handelt er über den obigen Paragraphen wie folgt: »Es ist unvorstellbar, daß der Schöpfer, der eine "Welt der Harmonie gewollt hatte und eine vollkommene Art der Lebensführung für den Menschen, nun viele tausend Jahre später finden sollte, daß dieser Plan falsch war.« Er schreibt von der Herrschaft über die Geschöpfe, daß sie nicht besteht in »der Herrschaft eines Tyrannen, der sein Volk und seine Sklaven quält, nur um seine privaten Wünsche und Begierden zu befriedigen. Gott läßt nicht zu, daß ein so scheußliches Gesetz der Sklaverei auf ewig besiegelt werden sollte in SEINER Welt, der Welt Gottes, der gut zu allen ist, und dessen Güte sich aller seiner Werke erbarmt.« Diese Argumentation wird untermauert durch die sorgfältig verborgenen und wenig gelehrten Paragraphen, welche der Erlaubnis zum Fleischgenuß folgen: »Und vollends werde ich euer Blut für eure Seelen fordern. Von jeglichem Tier werde ich es fordern sowie von dem Menschen, von den Menschen untereinander werde ich die Seele des Menschen fordern.« Dies also ist die Lehre, die die Erlaubnis zum Fleischgenuß erteilt und ihre Strafen. Es ist gezeigt worden, daß diese Strafen unentrinnbar sind und augenscheinlich vorhanden in der gegenwärtigen Welt. Als sich die Hebräer schließlich in Israel niedergelassen hatten, wurde das Gesetz des MOSES richtig eingeführt, das 613 Vorschriften umfaßte. Obwohl eine bunt zusammengewürfelte Menschenmenge von 200 000 die 400 000 Hebräer auf ihrem langen Zug von Ägypten zum Gelobten Land begleitete, war es außer dem Mord das schwerste Verbrechen, ein Tier außerhalb des Tempeltores zu töten und wurde mit der schwersten Strafe nach der Todesstrafe geahndet. Diese umfaßte die Höchstzahl von Peitschenhieben und außerdem den Ausschluß aus der Gemeinschaft. Tieropfer im Tempel waren erlaubt, aber der große Philosoph, Arzt und Bibelkommentator des 12. Jahrhunderts, MOSES MAIMONIDES, stellte fest: »Die Tieropfer waren eine Konzession an die Barbarei.« Es muß in Erinnerung gerufen werden, daß das Opfern von Kindern allgemein gebräuchlich war und, wie die Geschichte vom Goldenen Kalb zeigt, das Volk 215

Israel von götzenanbetenden Stämmen umgeben war. Das Tieropfer sollte zur Abschaffung der Kindesopfer führen, bis es zu seiner eigenen Abschaffung führte. Das Opfer ist ein wichtiger Zug am Menschen, und es zeigt sich heute, wie Menschen in Kriegszeiten reagieren und freiwillig ihr Leben opfern. Die primitiven Völker konnten keine andere Art der Gottesverehrung verstehen, jedoch werden auch heute noch Opfer verlangt und dargebracht in Form von Spenden und guten Taten, welche diesen Instinkt befriedigen. Es war bei allen Stämmen üblich, das Blut lebender Tiere zu trinken und lebendigen Wesen Körperteile abzuschneiden unter der falschen Vorstellung, daß sie hierdurch die Kraft des Tieres übernähmen. Dieser Glaube lebt noch immer fort bei primitiven Stämmen wie den Hottentotten, die das Blut lebendiger Elefanten trinken. Die Gesetze des MOSES waren bestimmt zum Schutz der Tiere vor diesen Grausamkeiten und um die Vernichtung des Menschengeschlechtes durch Krankheiten nach Fleischgenuß zu verhindern, indem das Blut nicht genossen werden durfte, »welches das Leben des Fleisches ist«. Hierfür gab es auch einen streng moralischen Erlaß, und sogar heute noch wird bei Juden etwas von dem Blut in der Erde begraben und ein Gebet darüber gesprochen, wenn ein Tier geschlachtet wird; hierdurch soll der Schlächter daran erinnert werden, daß er ja schließlich ein Leben vernichtet hat. Obwohl man das Blut aus den Schlagadern auslaufen lassen kann, ist es nicht möglich, es aus den feinen Kapillaren zu entfernen, und diese Tatsache kann nun als Verbot gegen Fleischverzehr überhaupt ausgelegt werden. Um dieses Problem zu vermeiden, wird das Fleisch über einem Feuer erhitzt oder eine Stunde lang gesalzen. Man kann sagen, daß dies eine Umgehung des Gebotes ist, denn obwohl das Blut nicht mehr flüssig ist, ist es dennoch weiter vorhanden, wenn auch in fester Form. Das Gesetz enthält noch viele andere Vorschriften bezüglich der Leiden der Tiere. Einige Beispiele: »Du sollst keinen Esel mit einem Ochsen in ein Joch spannen« (das war nämlich eine Grausamkeit gegenüber dem schwächeren Geschöpf). »Du sollst dem Ochsen keinen Maulkorb umbinden, wenn er das Getreide beim Dreschen tritt.« Das wurde auch auf menschliche Wesen angewandt; es wurde als grausam angesehen, ein Geschöpf am Essen zu hindern, wenn es hungrig war, während es Nahrung für andere herstellte. Es ist nicht einmal erlaubt, Eier aus einem Nest zu nehmen, wenn die Bruthenne in Sicht ist; und das Verbot, Milch und Fleisch zusammen zu essen, beruht auf der entsetzlichen Gewohnheit, ein Junges vor den Augen seiner Mutter zu töten. Diese und alle anderen Gesetze dieser Art sind dargelegt im Talmud, von dem ein großer Teil dem »Tzar Baal Chaim« (Leiden der Tiere) gewidmet ist. Die Zehn Gebote sind die Grundlage des jüdischen Glaubens. Im Vierten Gebot 1 wird den Haustieren zusammen mit der Familie die Einhaltung des Sabbath auferlegt. Der Talmud verbreitet sich über diesen Gegenstand, und die Fragen darüber, in welcher Weise die Haustiere den Sabbath einhalten sollen, 216

sind hier beantwortet. Ist es z. B. ausreichend, sie dann in ihren Ställen zu belassen? »Nein!« ist die Antwort, »man muß ihnen erlauben, die Felder zu durchstreifen und sich am Sonnenschein zu erfreuen, an Luft und Gras, allgemein ausgedrückt, sich am "Werk der Schöpfung in derselben Art zu erfreuen wie der Mensch.« Das Sechste Gebot 1 wiederum, welches oft falsch übersetzt wird mit: »Du sollst nicht morden!«, sollte aber tatsächlich lauten: »Du sollst nicht töten!« Und das besiegelt die mehr allgemeinen Lehren, die sich mit der Gewohnheit des Fleischverzehrs befassen. Orthodoxe Juden sprechen ein Dankgebet für praktisch alle Wohltaten im Leben. Es gibt ein besonderes Dankgebet für jede Art von Gut, aber es gibt keins für Fleischgerichte — ein Wesen, das geschlachtet wurde, kann man nicht segnen. Es gibt ein Dankgebet, wenn man neue Kleider trägt, aber man darf keinen Segen sprechen über Pelze oder irgendwelche anderen Tierhäute — man kann nicht die Werke der Schöpfung zerstören und zur gleichen Zeit Gott dafür danken, sie erschaffen zu haben. Es gibt Dankgebete, wenn man schöne Bäume sieht, berühmte Leute, Donner, Blitz usw. Die Idee, die hinter alledem steckt, ist die Anerkennung der Hoheit Gottes und der Abhängigkeit des Menschen. Die Festtage, von denen viele in die christlichen Religionen übernommen worden sind, sind vor allem das Passahfest (Ostern), Pfingsten (ein Erntedankfest; im heißen Israel ist die Ernte früher als bei uns. D. Übers.) und Succut (Laubhüttenfest). Die Fasttage sind jedoch nicht übernommen worden! Bei diesen Festtagen spielen Fleischspeisen keine Rolle. Zu Pfingsten, wenn die Synagogen mit Früchten und Blumen geschmückt sind, sind keine Leichen hingeschlachteter Geschöpfe zu sehen. Wenn beim Laubhüttenfest die kleinen Häuschen aufgestellt sind, ebenfalls mit Früchten und Blumen geschmückt, werden keinerlei Tierkörper oder Teile davon als Dekoration benutzt. Selbst am Passahfest ist das Andenken an das Passahlamm rein symbolisch; es existiert keinerlei Vorschrift, Passahlämmer zu verzehren, und jede Art von Symbol kann benutzt werden, um die Anordnung zu befolgen, daß alle Generationen des Auszugs aus Ägypten gedenken sollen, des Ubergangs von der Sklaverei zur Freiheit. Am feierlichen Tage der Versöhnung, wenn alle Juden fasten und das Mitleid des Allmächtigen erflehen für ihr Leben und ihre Gesundheit im kommenden Jahr, sollen keine Lederschuhe in der Synagoge getragen werden. Der Grund dafür ist nicht die Bescheidenheit, sondern daß man die Heuchelei vermeiden soll. Es ist nicht Gott wohlgefällig, um Mitleid zu beten, wenn man selbst im täglichen Leben kein Mitleid gezeigt hat. Große Schriftsteller, Lehrer und Philosophen schreiten durch die Jahrtausende der jüdischen Geschichte. Durchdrungen von diesen Lehren, waren viele von ihnen Vegetarier. Viele, die den Sekten des antiken Israel folgten, halfen, die Flamme des Mitleids vor dem Erlöschen zu bewahren. Eine dieser Gruppen, die Essener, die allen Arten von Fleischspeisen und Rauschmitteln abschwören, ist noch heute im modernen 217

Israel stark vertreten. JESUS war einer der ihrigen, und es ist ziemlich überraschend, daß eine solche Diskussion darüber, ob er tatsächlich Vegetarier war, in vegetarischen Kreisen überhaupt stattfindet. Die Antwort darauf ist eindeutig, und solche Gleichnisse wie das von den Broten und Fischen erfordern andere Erklärungen, ein Gebiet, in welches dieser Beitrag nicht vordringen möchte. Es ist interessant festzustellen, daß ein viel größerer Prozentsatz der Juden Vegetarier sind als ihre Nachbarn in den verschiedenen Ländern der Erde. Es gibt viele Beispiele dafür, daß sie eine führende Rolle dabei innehaben, wenn es gilt, das Wissen um diese große Sache zu fördern. In nur 25 Jahren hat es in Israel zwei Oberrabbiner gegeben, die Vegetarier waren; und mehr als 4 °/o der Bevölkerung sind ebenfalls Vegetarier, vielleicht ein größerer Prozentsatz als in allen anderen Ländern mit Ausnahme von Indien. Der lange verschlungene Pfad zurück ist nunmehr klar zu sehen. Möge er immer schneller durchmessen werden, und möge der Tag nicht mehr fern sein, wo die wundervollen Prophezeiungen von JESAIAS erfüllt werden: »Denn siehe, ich werde einen neuen Himmel und eine neue Erde erschaffen und man soll der alten nicht mehr gedenken. Und sie sollen Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen, der Wolf und das Lamm sollen zusammen grasen und der Löwe soll Stroh verzehren wie der junge Stier. Sie sollen nicht verletzen noch zerstören auf meinem ganzen heiligen Berge.« 1 Anmerkung des Obersetzers: Die Juden zählen die Gebote anders als die Christen.

CARL ANDERS SKRIVER:

Vegetarismus im Fundament des

Christentums

Der Mythos vom vegetarischen Adam und von den zwei vegetarischen Schöpfungen Mythisches Denken ist Denken in Urbildern. Urbilder sind Ideen Gottes, geistige Bildekräfte, die sich der Materie und den Menschen einprägen. Mehr als wir glauben, leben wir alle nach Ideen, nach Richtlinien. Die Genesis enthält den Mythos vom vegetarischen ADAM, aber dieser Mythos wurde nicht ausgeträumt und schon gar nicht im Wachzustand verwirklicht. Im Anfang schuf Gott den Vegetarismus. In principio schuf Gott eine vegetarische Weltordnung, und niemand, kein Jude und kein Christ, weiß es und sagt es weiter. Dieser Satz und diese Ursetzung wurde von den Schriftgelehrten einfach übersehen und nicht als ein Urwille Gottes herausgehoben. Und wenn ihnen einmal die unverkennbaren Lettern der Genesis wie eine 218

Offenbarung einleuchten, pflegen sie sie sofort abzuwerten als fromme Kunde von einem vergangenen paradiesischen Zustand, der in der Gegenwart und für die Gegenwart der Menschen nicht mehr gilt. Aber diese Auslegung war und ist falsch. Das erste Kapitel der Genesis handelt gerade von der Erschaffung und Entstehung dieser unserer materiellen irdischen Welt. In einem lapidaren Satz wird als fundamentale Wahrheit klargestellt: Diese Welt entstand nicht zufällig und von selbst, ohne jede Entelechie, sondern: Prinzipiell gestaltete eine Göttergruppe, die ELOHIM, die Himmel und die Erde. Aber diese Schöpfung war nicht die primäre Schöpfung, sondern eine sekundäre, wenn die Genesis auch damit anfängt, von ihr zu berichten. Es war ein Anfang danach. Der Ausgangspunkt des neuen Anfangs war ein Chaos, ein Tohuwabohu, Finsternis über dem Abgrund. Aber über diesem Abgrund schwebte der Geist der ELOHIM, um wieder Ordnung und Polarität in dieses Chaos zu bringen. Und in diesem Wirbel waren bereits alle Wesen enthalten, die jetzt nach himmlischen Urbildern ins Material der Urwasser hineingestaltet wurden. Daher werden die Wesen einfach ins Erdenleben hineingerufen oder ans Licht der Welt gebracht. »Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut.« »Die Erde bringe hervor lebendige Tiere, ein jegliches nach seiner Art . . . Und es geschah also.« Das sind reine Emanationsvokabeln. Von einer Schöpfung aus dem Nichts ist in der Bibel nirgends die Rede. Wenn die ELOHIM oder der Herr der ELOH I M schaffen, dann immer aus den Urwassern oder aus dem Urmutterstoff der Erde. Die Erde wird dann entwicklungsgeschichtlich ganz vernünftig aufgebaut, wenn auch nicht Jahrmillionen dazu benötigt werden. Im Laufe des sechsten Schöpfungstages erscheint nach den Großtieren auch der Mensch, geistig als gottartig, leiblich tierähnlich und zweigeschlechtlich, also der irdische Mensch. Ihm wird die Erde als Lebensraum angewiesen und Vollmacht über die Tierwelt gegeben. Aber die Vollmacht, die Tiere zu regieren und zu beherrschen, bedeutet nicht die Lizenz, die Untertanen zu mißhandeln, umzubringen und aufzuessen. Wir haben es hier bereits mit einem der vielen Mißverständnisse des göttlichen Willens zu tun, die abzubauen unsere Aufgabe ist. Und ELOHIM sprach: »Sehet da, ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde, und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer (alleinigen) Speise, und allem Getier auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das da lebt auf Erden, daß sie allerlei grünes Kraut essen. Und es geschah also. Und Gott (ELOHIM) sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war (einmal) sehr gut« (Gen. 1,29—31).

Dieses Dokument ist einzigartig in der Geistes- und Literaturgeschichte der Menschheit. Es ist die Magna Charta, das Grundgesetz einer göttlichen vegetarischen Ernährung nicht nur für die ganze Menschheit, sondern auch für die Tierwelt, also die Verfassung einer vegetarischen Weltordnung. Aus der Natur 219

hat dieses Weltbild gewiß niemand abgelesen, als diese Sätze niedergeschrieben wurden. Entweder beruht diese Vision also auf einer übernatürlichen Offenbarung, oder aber der Verfasser von Genesis 1—3 war in seinem Herzen der kühnste Vegetarier aller Zeiten und glaubte, da er sich selbst für nach dem Bilde Gottes geschaffen hielt, auch Gott eine vegetarische Grundgesinnung zuschreiben zu müssen. Es gibt also nach der Genesis den Archetyp einer vegetarischen Schöpfung und Naturordnung. Nicht der Kannibale oder Karnivore, sondern der Vegetarier ADAM ist der Archetyp des Menschen. Davor machen die Menschen freilich beide Augen zu. Sie haben Augen und können nicht lesen. Sie haben Ohren und wollen nicht hören. Was aber war vor dem Anfang? Das steht in der zweiten Schöpfungsgeschichte (Genesis 2,4—3,24), die also frühere, präkosmische Zustände beschreibt, bevor die Weltmaterialisierung sich ereignete. Hier sind wir im Garten Eden und hier herrschen ganz andere Verhältnisse als auf Erden. Hier beginnt die Entwicklung oben, nicht unten. Hier ist der Mensch nicht das letzte, sondern das erste, der Anfang aller Lebewesen. Das Umdenkenlernen fällt dem heutigen Menschen gewiß schwer. Hier ist der Mensch zunächst noch eine androgyne Symbiose von Mann und Weib. Die Menschheit entsteht vor den Tieren. Die Tiere können sprechen, jedenfalls können ihre Gedanken vom Menschen gelesen werden, und umgekehrt. Da für den Menschen kein ebenbürtiger Partner unter den Tieren gefunden wird, wird er gleichsam wie siamesische Zwillinge in einer metaphysischen Narkose getrennt in die zwei Geschlechter. Das sind alles nur Andeutungen für rätselhafte, nur zu ahnende Vorgänge. Die Menschen sind noch Geistwesen, ohne Grobstoffleib, sie sind »nackt«. Es gibt hier mythische Bäume, die man auf Erden nicht findet: den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, den Baum des Lebens. Selbstverständlich ist auch dieser URADAM Vegetarier, reiner Fruchtesser. »Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten« (2,16). »Der Oberherr der Götter nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn baute und bewahrte« (2,15). Gärtner ist der Urberuf des Menschen, also nicht Bauer oder gar Viehzüchter. Fruchtnahrung ist die paradiesische Kost, die Unschuldsspeise. Denn die reifen Früchte fallen dem Menschen zu, ohne daß er die Substanz der Bäume oder der Kerne anzugreifen und zu vernichten braucht. Auch hierin liegt ein klares vegetarisches Bekenntnis des Autors. Zum mindesten trauert er einem verlorenen Idealzustand nach. In diesem präexistenten Daseinsbereich findet nun der Sündenfall, der Ursprungsfall (peccatum originis) statt, der die Voraussetzung ist für das Geworfensein ins Außen-Sein, in die Ex-sistenz, für die Verwerfung dieser sich um ADAM drehenden solaren Schöpfung ins materielle, umnebelte Dasein. Das Neue Testament spricht wiederholt vom Niederwurf oder Herabwurf des Kosmos (hä katabolä tu kosmu), was wir dann harmlos mit Grundlegung und 220

Anfang der Welt übersetzen. Die Übertretung eines göttlichen Verbotes (symbolisiert durch den Genuß einer verbotenen Frucht) führt zum Einbruch des Bösen und damit zur Aufspaltung und Verderbnis der heilen Welt in einer Kettenreaktion weiterer Sündenfälle bis auf den heutigen Tag. Das Ende der todfreien und sorglosen Vorwelt ist der Anfang einer Welt mit Geburt und Tod, Arbeit und Schweiß, Dornen und Disteln, Kummer und Tränen. Der Mensch bekommt jetzt einen Leib, ein »Fell«. »Und der Herr der Götter machte ADAM und seinem Weibe Röcke von Fellen und kleidete sie« (3,21). Dementsprechend vergröbert sich auch die Nahrung: Zur ätherischen Fruchtnahrung im Paradies kommt hinzu das Kraut (3,18), als eigentliche Tiernahrung nun auch erforderlich für den tierischen Leib des Menschen. Aus den Gräsern und Halmen erwächst das Korn und ergibt das tägliche Brot (3,19), alles zusammen also immer noch eine rein vegetarische Kost. Ausdrücklich werden auch für diese gefallene, unvollkommene Welt noch einmal Frucht und Kraut zum Ernährungsweltgesetz für Menschen und Tier erklärt (1,29—31). Nach der Ausweisung und dem Hinauswurf aus dem Garten Eden landete die Menschheit auf dem Erdboden, dessen Entwicklungsgeschichte in Genesis 1 beschrieben worden ist. Vom Gesichtspunkt dieser unteren Welt aus gesehen hätte der Übergang vom einen Schöpfungsbericht zum anderen in dem etwas linkischen Satz Genesis 2,4 präziser formuliert lauten müssen: Bevor aber Himmel und Erde (durch die ELOHIM) geschaffen wurden, hat der Herr der Götter in einem früheren Zeitraum (in einer höheren Welt) den Menschen und seine Umwelt also gemacht: . Doch wie kamen nun die Felle in die Schöpfung? Wenn der Herr der Götter dem ADAM und der EVA Röcke von Fellen machte, woher nahm er dann die Felle? Muß er nicht vorher Tiere geschlachtet und ihnen die Felle abgezogen haben? Und was geschah mit den Tierleibern, die die Felle lieferten? Haben Gott und die Urmenschen sie beiseite geworfen oder sie in einem Uropferschmaus verzehrt? Nach solcher uralten Entmythologisierung muß also Gott der erste Schlachter gewesen sein. Und warum nicht? So sieht es im Kopf eines fleischessenden allesgläubigen Bibelnormalverbrauchers aus. Wer A glaubt, muß auch B glauben. Das sind die Folgen, wenn man nicht mythologisch denken kann, sondern einen mythischen Satz aus einem materialistischen Bewußtsein heraus versteht und seinen Unverstand hinein übersetzt, ihn also regelrecht entmythologisiert. Es ist aber doch sicher kein Zufall, daß dieses Wort von der Einkleidung oder Einfleischung der Menschheit haargenau an der Stelle, dem Wendepunkt, steht, wo sie ausgewiesen wird aus der himmlischen Welt und sich nach ihrer Erdenfahrt wiederfindet im Leibe, in Fleisch und Blut, auf der Bühne der Erde. Förderlich für unser eigenes mythologisches Verstehen kann hier der folgende Gedankengang sein: Der Logos ward Fleisch (incarnatus est), heißt es bekanntlich von der Menschwerdung (Einverleibung) des CHRISTUS 221

(JOH. 1,14). Der Grund dafür war aber die vorherige Inkarnation der Gottesund Menschenkinder, wie es im Hebräerbrief heißt: »Nachdem (weil) nun die Kinder Fleisch und Blut angenommen haben, nahm auch er gleichermaßen Teil daran« (2,14). Inkarnation (Einkleidung), Geburt und Tod sind das Gesetz der neuen Todeswelt, das damals begann und dem auch JESUS Untertan wurde. Das buchstäbliche Verständnis der Felle als Schlachttierfelle war ein klassisches Beispiel landläufiger antivegetarischer Fehlinterpretation. Eine ganz andere, doch originelle Ausdeutung von Gen. 3,21 findet sich in dem altjüdischen Buch »Die Schatzhöhle«: »Und Gott machte ihnen Kleider von dem Fell, das von den Bäumen abgezogen wurde, nämlich von den Baumrinden; denn an den Paradiesbäumen waren zarte Rinden, zarter als Linnen und königliche Seidengewänder. Und er bekleidete sie mit diesem dünnen Fell, das ein Kleid um den Körper der Schmerzen bildete« (4. Kap. 22—23). Diese Exegese ist jedenfalls der ehrliche Versuch, sich in einem vegetarischen Kontext logisch zurechtzufinden und einzuordnen.

Die Essäer als die Wegbereiter des vegetarischen Christentums Unser Hauptinteresse hat jetzt die Frage, ob die Uroffenbarung und Uridee des Vegetarismus im Judentum und Christentum ganz untergegangen ist, oder wie sich die Idee des Urvegetarismus in der Geschichte des palästinensischen Judentums und des frühen Christentums abgespiegelt und ausgewirkt hat. Der Kampf der Propheten gegen die Tieropfer ist ein Kapitel für sich. Die zweite erleuchtete Geisterschar, die ein halbes Jahrtausend nach den Propheten auf die großen Tage des Urchristentums zuschritt, dem von JESAJA geweissagten NEZER den Einstieg und Aufgang aus der Höhe ermöglichte und eine Elite von Menschen heranbildete, die aufgeschlossen waren für die Erlösung vom Bösen und für eine totale Umkehr und Erneuerung des Lebens, war der jüdische Essäerorden, der seit etwa 150 Jahren vor der Geburt JESU ein Neues in Israel pflügte. Davon weiß unsere heutige Christenheit natürlich nichts. Obwohl es zur Zeit JESU Tausende Essäer gab, denen man in ihrer weißen Tracht täglich auf den Straßen Israels begegnete, obwohl die Sekte der Essäer allgemein ebenso bekannt war wie die Sekten der Sadduzäer und Pharisäer, wurden sie in der Bibel und dem zufolge in der ganzen Christenheit totgeschwiegen. Aber die Wahrheit ist nicht umzubringen, sie muß immer wieder ans Licht kommen. Noch im zwanzigsten Jahrhundert wurde sie von MARTIN BUBER, dem vorurteilsfreien jüdischen Religionsphilosophen, bezeugt: »Die Essäer wollen das Ziel durch eine Vereinfachung der Lebensform erreichen; und aus ihnen 222

wird der Mensdienkreis geboren, der den großen Nazarener trägt und seine Legende schafft: den größten aller Triumphe des Mythos.« H E I N R I C H CLEMENTZ, der deutsche Übersetzer der Werke des FLAVIUS JOSEPHUS, sprach es nüchtern aus, was die christlichen Theologen nicht wahr haben wollen: »Die Essener waren es vornehmlich, die durch ihr hohes Ansehen beim Volke der Lehre JESU CHRISTI Anhang und Popularität verschafften.« Die Essäer waren also die Vorläufer und Wegbereiter der »Sekte der Nazoräer« (Apg. 24,5), wie JESUS und die ersten Christen genannt wurden. »Die sogenannten Essäer sind ein Geschlecht von Menschen, die derselben Lebensweise anhängen wie die Pythagoräer unter den Griechen« (JOSEPHUS, Jüdische Altertümer 15,10,4). Die Pythagoräer lebten abstinent und vegetarisch. »Die Enthaltsamkeit haben sie in ihrer Seele zu dem Fundament gemacht, auf dem das Gebäude aller anderen Tugenden erbaut werden kann« (PHILO, De vita contemplativa § 4). »Opfer vollbrachten sie nicht« (JOSEPHUS, Jüdische Altertümer 18,19). »Lebende Wesen schlachteten sie nicht hin« (PHILO, Quod omnis probus liber §12). Sie enthielten sich also prinzipiell des Tötens. »Gewisse Arten von Fleisch sind allen, den Essäern ist das Fleisch überhaupt verboten« (PORPHYRIOS, De abstinentia IV,3). »Sie leben in der Regel lange, die meisten gelangen zu einem Alter von mehr als hundert Jahren und zwar, wie idi glaube, gerade infolge ihrer einfachen Lebensweise und strengen Sitte« (JOSEPHUS, Geschichte des jüdischen Krieges 2,8,10). »Schätze von Gold und Silber sammeln sie nicht. — Sie wollen vielmehr genau nur das, was zum Leben notwendig ist, besitzen. — Handwerker, welche Pfeile, Speere und Dolche, Helme, Panzer oder Schilder verfertigen, Waffenschmiede, Hersteller von Kriegsgerät oder überhaupt von Gegenständen, die im Krieg verwendet werden, sind unter ihnen nicht anzutreffen. — Unter ihnen gibt es keinen einzigen Sklaven; sie sind alle frei und helfen und dienen einander. Sie verurteilen alle Herrenmenschen« (PHILO, Quod omnis probus liber § 12). Sind die Christen heute nach 2000 Jahren schon soweit wie die Essäer damals? »Das Christentum ist ein Essäertum, das weitgehend geglückt ist«, meinte der französische Theologe ERNEST R E N A N im vorigen Jahrhundert. Man kann das noch bezweifeln. Uns geht es hierum den Vegetarismus. In seiner Vita JOSEPHI 2,11 beschreibt uns JOSEPHUS, wie so ein richtiger essäischer Vegetarier im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung aussah, den er als Jüngling besucht hat: »Da ich gehört hatte, daß sich einer mit Namen BANUS in der Wüste aufhielt, der seine Bekleidung von den Bäumen bezog (also Fell, Kamelhaar und Wolle ablehnte!) und als Nahrung nur das von selbst, von Natur Gewachsene (also Rohkost) zu sich nahm und sich auch wiederholt bei Tag und Nacht in kaltem 223

Wasser badete zur Heiligung des Lebens, da beschloß ich, sein System auszuprobieren.« Interessant ist, daß uns geläufige, scheinbar ganz moderne Probleme wie Verzicht auf Kleidung, die nicht ohne Grausamkeit gewonnen werden kann, und auf »grausame Genüsse« (TOLSTOI) von denkenden Menschen damals schon gelöst wurden. Die meisten Essäer lebten in Familien und in Gemeinschaften und Siedlungen. BANUS war ein Sonderling, eine Ausnahme, die sich nicht jeder leisten konnte. Er war aber auch ein Guru, bei dem man einen Kursus in Lebensreform und noch etwas mehr machen konnte. JOSEPHUS, der hochbegabte Jüngling, hat immerhin sechs Semester freiwillig zu seinen Füßen gesessen. BANUS war ein Urahn der späteren christlichen Anachoreten und Wüstenheiligen in Syrien und Ägypten, wie die ägyptischen Essäer (die Therapeuten) die Vorläufer und Vorbilder der christlichen Orden des Morgen- und Abendlandes geworden sind.

Der Nazoräer und die Nazoräer oder die vegetarischen Urchristen Was hatte nun das Christentum mit dem Essäertum zu tun? Wie entstand der erste Kontakt? Es begann mit JESUS dem Nazoräer in einem essäischen Elternhaus. Über einen sehr prominenten Sprößling aus dieser heiligen Familie haben wir einen Bericht von dem Judenchristen HEGESIPP, der um 150 lebte und fünf Bände Memoiren in der ernsten Absicht schrieb, »die unverfälschte Überlieferung der apostolischen Verkündigung in einfachster Form zur Darstellung zu bringen«: »Dieser war heilig von Mutterleibe an. Wein und berauschendes Getränk trank er nicht, noch aß er etwas, das beseelt gewesen war (also nichts vom Tier). Ein Schermesser kam nicht auf sein Haupt . . . Er trug nichts Wollenes, sondern Leinwand . . . Wegen der Außergewöhnlichkeit seiner Gerechtigkeit wurde er der Gerechte genannt« (EUSEB, Kirchengeschichte 11,23,5—7). So sah also ein Urchrist aus. Dieser Mann war nicht irgendeiner. Er war JAKOBUS, der Bruder JESU und der Nachfolger JESU, der »Chef« und das lebende Vorbild der Urgemeinde zu Jerusalem gleich nach der Himmelfahrt JESU. Über ihn haben wir auch das Zeugnis AUGUSTINs, Ad Faustum XXII,3: »JAKOBUS, der Bruder des Herrn, lebte von Sämereien und Pflanzen und berührte weder Fleisch noch Wein.« Dieser JAKOBUS kam also aus einer vegetarischen, essäischen Familie, aus dem Elternhaus JESU des Nazoräers. Ich überlasse es der Unvernunft der Zweifler zu glauben, daß in einer solchen Familie der Erstgeborene und Träger der höchsten Verheißungen von Mutterleibe an weniger sorgfältig und rein ernährt wurde als seine Brüder und Schwestern. Sollten die Brüder JAKOBUS 224

und JESUS aber von verschiedenen Müttern abstammen, JAKOBUS aus einer ersten Ehe des JOSEPH, so lebten doch beider Mütter, die des JAKOBUS und die JESU, in derselben essäisch-vegetarischen Tradition, und dieselbe Lebensweise muß auch für JOSEPH, den erkorenen Betreuer der Mütter und Kinder, vorausgesetzt werden. MARIA, die Mutter JESU, wurde vom 3. bis 12. Lebensjahr in einem Internat im Tempel erzogen, bevor sie dem JOSEPH anvertraut wurde. »MARIA war im Tempel des Herrn, ernährt wie eine Taube und bekam (ihre) Nahrung aus Engelshand« (Protevangelium des JAKOBUS 8,1). Dies ist eine wunderbar kurze Andeutung ihrer vegetarischen und spirituellen Lebensweise. Die Taube (das Symbol des heiligen Geistes) lebt bekanntlich im Gegensatz zu den meisten Vögeln rein vegetarisch. So begann auch für JESUS das Werden der neuen Kreatur bereits mit seiner Inkarnation und Geburt bei den Essäern. Wie JAKOBUS war auch er heilig von Mutterleibe an. Uber die Lebensweise JESU habe ich eine Monographie geschrieben, die ich hier nicht wiederholen kann. 1 Will man sich ein richtiges Bild von ihm machen, muß man dies bedenken: Daß er ein Fresser und Weinsäufer gewesen sei, war eine Verleumdung seiner Gegner, die aber bis auf den heutigen Tag von christlichen Theologen gerne weitergegeben wird. JESUS hat keine Fische gegessen und verteilt (die Speisung mit den zwei Fischen und den fünf und sieben Broten aus den zwölf unerschöpflichen Himmelskörben ist ein hochfliegender Sternenmythos!). Das letzte Abendmahl JESU und seiner Jünger war kein Passahmahl. Es fand im Ordenshause der Essäer zu Jerusalem statt. »Als Trank dient ihnen (den Essäern) das eben aus der Quelle geschöpfte Wasser« (PHILO, De vita contemplativa § 4). Die Jünger waren dem Mann mit dem Wasserkrug ins Essäerhaus gefolgt. So bezeugte JESUS bei seinem Abschied von dieser Erde noch einmal sein Zuhause bei den Essäern. Der Führungsschicht seiner Zeit sagte er frei ins Gesicht: »Wehe euch, Schriftgelehrte (Bibelforscher) und Pharisäer (Gesetzeshüter), ihr Heuchler, daß ihr das Äußere von Becher und Schüssel reinigt, inwendig aber sind sie voll Raub und Maß- und Geschmacklosigkeit (LUTHER: Fraß). Du blinder Pharisäer, reinige doch erst einmal den Inhalt von Becher und Schüssel, damit sie auch äußerlich rein werden! Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Scheinheiligen, weil ihr übertünchten Gräbern gleicht, die nach außen gepflegt erscheinen, inwendig aber sind sie voller Leichenteile und lauter Unreinigkeit« (MATTH. 23,25—27). Das heißt in moderner Sprache: Es ist fürchterlich, was ihr maßgeblichen Leute an ungenießbarem Zeug in eueren Gläsern und auf euren Tellern habt! Es beruht auf Lebensraub, auf pausenlosem Mord und Totschlag an der Kreatur und auf Verderbnis, wie bei der Alkoholisierung der Frucht des Weinstocks. Da ich euch durchschaue, sehe ich lauter wandelnde Gräber, Sarkophage (Fleisch verzehr er), äußerlich hübsch gepflegt, inwendig aber verdaut ihr laufend Tierleichenteile. »Lernet (doch endlich), was das bedeutet: Ich habe Gefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer (von Tie225

ren)« (MATTH. 9,13). Durch dieses Zitat aus HOSEA 6,6 bekundete JESUS seine Solidarität mit den Propheten. Auch nach seinem Tode griff JESUS immer wieder in die Führung seiner zurückgelassenen Jüngerschar ein. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Berufung des PAULUS durch JESUS vor Damaskus. Sehr beachtlich sind die vegetarischen Zeichen, die hierbei immer wieder gesetzt wurden. So bedeutete die Abschiedsfeier im Jerusalemer Ordenshaus der Nazoräer einen Hinweis der Gemeinde auf die von ihrem Meister gewünschte vegetarische Zukunft. Es war auch kein Zufall, daß nicht einer aus der Zwölfzahl der Jünger, sondern JESU Bruder JAKOBUS der Gerechte, der große Vegetarier, als sein würdiger Nachfolger in der Leitung der Jünger JESU erkannt und erkoren wurde (EUSEB, a.a.O. 11,1,3). Der vegetarische Geist des JAKOBUS bestimmte die Urgemeinde von Jerusalem die ersten drei Jahrzehnte (bis 62). Sein Nachfolger SIMEON (bis 107) und dessen Nachfolger JUSTUS (wieder ein Gerechter wie JAKOBUS) waren immer noch Vegetarier. Es dürfte in diesem Kreis kaum möglich gewesen sein, vom Vegetarismus abzufallen und dann gar noch eine Führungsrolle zu übernehmen. Darum tragen die spärlichen Nachrichten über den Vegetarismus der Hauptjünger alle den Stempel der großen "Wahrscheinlichkeit an sich. Erstaunlich ist doch, daß nach der Wahl des JAKOBUS auch als Ersatzapostel für JUDAS ISCHARIOTH ein Vegetarier, nämlich MATTHIAS, gewählt wurde. Er gilt als Platoniker, Gnostiker und »Vegetarianer« (siehe EDGAR FIENNECKE, Neutestamentliche Apokroyphen, 2. Aufl., S. 122, 125, 140). Von ihm sind alle Spuren fast vernichtet, ein MATTHIAS-Evangelium ganz. Seine Wahl durch das Los sah man als eine Entscheidung JESU an (Apg. 1,23 —26). Auch sein Mitkandidat bei der Wahl, JOSEPH BARSABAS mit dem Beinamen der Gerechte, ist zweifellos ein Vegetarier gewesen, sonst wäre er gar nicht aufgestellt worden. Sein Titel bezeugt ihn als einen Schüler JAKOBUS' des Gerechten. »MATTHÄUS lebte von Samenkörnern, Baumfrüchten und Gemüsen ohne Fleisch« (CLEM. Alex, Paid. II, 1.16). PETRUS bekannte: »Ich lebe von Brot und Oliven, denen ich nur selten ein Gemüse zufüge« (Ps. CLEM. hom. XII,6; rec. VII,6). THOMAS wurde bekanntlich der erste Apostel der Inder. Die Inder waren begeistert von seinen Wundertaten und über seine vegetarische Lebensweise: »Denn unausgesetzt fastet und betet er und ißt nur Brot mit Salz, und sein Trank ist Wasser, und er trägt ein Kleid, sei es bei heiterem Wetter, sei es im Unwetter, und nimmt von niemand etwas an, und was er hat, gibt er anderen« (THOMASakten 20, p. 131). »Und (nachdem er sie gesegnet hatte) nahm er Brot, ö l , Gemüse und Salz, segnete es und gab es ihnen. Er selbst aber beharrte in seinem Fasten« (THOMASakten 29, p. 146). Man möchte sagen: Siehe, ein rechter Essäer und Nazoräer! 226

Kein Zweifel, daß auch JOHANNES, der Lieblingsschüler JESU, ein Vegetarier gewesen ist. Sein Evangelium ist das Nazoräerevangelium schlechthin, er räumt als einziger mit der Legende vom Osterlamm auf und heftet als einziger der Evangelisten den Nazoräertitel mit an das Kreuz. »Nach Act. J O H . 113 hat ihn der Herr als jungen Mann berufen. Immer aufs Neue wird seine Jungfräulichkeit betont.« »EPIPHANIUS 78,13 dehnt (bei JOHANNES) die Enthaltsamkeit auf das gesamte Gebiet des Lebens aus« (HENNECKE, Seite 119). Fasten und Brotbrechen, Früchte und Gemüse geziemen allein einem Jünger. »JOHANNES genießt auf dem Transport nach Rom nur allsonntäglich eine Dattel« (Acta J O H . 6 p. 154; ed. BONNET). In den JOHANNESakten finden sich sogar tierschützerische Partien (HENNECKE, S. 180 u. 181). Die alten Schriftsteller bezeugen, »JOHANNES habe ein sehr hohes Alter erreicht«, bis in die Regierungszeit TRAJANs (98—117) hinein. »Die irdische Laufbahn des Apostels ist nach der überwiegend geteilten Auffassung durch einen friedlichen Tod beschlossen worden« (HENNECKE, S. 119) (vergl. J O H . 21,21—23). Auch J O H A N N E S war ein Zeuge eines makrobiotischen, essäischen Lebens. Wie THOMAS in Indien, so fand MARKUS als Apostel der vegetarischen christlichen Botschaft offene Türen bei den vegetarischen Therapeuten in Alexandrien. Er wurde der erste Bischof von Alexandrien. Als eine schwierige und Spätgeburt bezeichnete sich der Apostel PAULUS selbst. Er gehörte nicht zu den Männern der ersten Stunde, wollte nachher aber gern die erste Geige spielen. Er hatte JESUS im Fleische, als Essäer, nicht erlebt. Lange fehlte ihm als altem Pharisäer das Verständnis für den Vegetarismus. Er wollte das Christentum ohne Vegetarismus in aller Welt gesellschaftsfähig machen. Dabei stieß er auf großen Widerstand bei all denen, die in CHRISTO eine neue Kreatur geworden waren. Bevor PAULUS nach Rom ging, gab es auch dort schon eine vegetarische christliche Gemeinde und PAULUS versuchte, sich vorher schriftlich mit ihr zu verständigen. Die Macht der vegetarischen Mehrheit und der großen Autoritäten und schließlich eine Offenbarung JESU selbst hat dann auch ihn zum Vegetarismus bekehrt: »Es ist schön (und gut), nicht Fleisch zu essen, noch Wein zu trinken, noch irgend etwas, woran dein Bruder Anstoß nimmt« (Römer 14,21). »Er legt ein Bekenntnis ab, als wäre er ein Pyhagoräer«, schrieb dazu CLEMENS V O N AELXANDRIEN (Paed. 2,1,11). »Darum, weil meine Speise meinem Bruder ein Skandal ist, esse ich in Ewigkeit (bis zum Ende dieses Äons) kein Fleisch (kreas) mehr, damit ich meinen Bruder nicht ärgere« (1. Kor. 8,13). Wenn PAULUS sich selbst ernst genommen hat, wenn man sich auf sein geschriebenes Wort verlassen konnte, dann muß er die Konsequenzen gezogen haben und Vegetarier geworden sein, denn ihrer waren sehr viele damals, die an seiner noachitischen Leichtfertigkeit Anstoß nahmen. Warum aber nehmen 227

die noachitischen Christen diese Worte nicht ernst, die doch sonst jedes Wort ihres PAULUS für »Gottes Wort« erklären? Durch die zitierten PAULUS-Zeugnisse ist auch ein umstrittenes historisches Problem gelöst. In ihrem Abwehrkampf gegen den christlichen Vegetarismus hat es »die« theologische Geschichtswissenschaft gerne so darzustellen versucht, und sie tut es noch, als ob der christliche Vegetarismus erst eine Erfindung der Ebioniten des zweiten Jahrhunderts gewesen sei, die man dann der ersten Generation des Christentums angedichtet habe. Die paulinischen Briefe aber beweisen, daß man schon um die Mitte des ersten Jahrhunderts den christlichen Vegetarismus gegen PAULUS vertreten und verteidigt hat. Ein Dokument seines vegetarischen Damaskus ist schließlich noch das sehr apokryphe, aber sachlich völlig logische und glaubwürdige Bekenntnis des PAULUS: »JESUS befahl mir, daß ich kein Fleisch esse und keinen Wein trinke, sondern nur Brot, Wasser und Früchte, damit ich rein befunden werde, wenn er mit mir reden will« (TOLDOT JESCHU, Ms. Vindobona; herausgegeben von SAMUEL KRAUSS, Berlin 1902, S. 113). Reinheit und Wirkung der nazoräischen Diät sind nie klarer formuliert worden. Auch das Passahlamm gehört für PAULUS nicht mehr in das Christentum: »Wir haben auch ein Osterlamm, das ist CHRISTUS (1. Kor. 5,7). PAULUS bittet uns, die Nachfolgekonsequenzen daraus zu ziehen: »Ich fordere euch nun auf, liebe Brüder, im Hinblick auf die Barmherzigkeit Gottes (die blutigen Tieropfer aufzugeben und statt dessen) euer eigenes Leben in heiliger, Gott wohlgefälliger Aufopferung hinzugeben, welches sei euer vernünftiger (logosgemäßer) Gottesdienst« (Römer 12,1). Nicht vergessen sei auch die höchste nazoräische Einsicht des PAULUS: »Wir wissen, daß auch die ganze Schöpfung mitseufzt und mitleidet bis zu diesem Augenblick« (Römer 8,22). »Die Kreatur harrt ängstlich darauf, daß die Menschen sich als Söhne Gottes offenbaren (19). Denn auch die Kreatur wird einst frei werden von der Versklavung an den Kreislauf der Vergänglichkeit zur ursprünglichen Freiheit der Kinder Gottes« (21). Dazu schrieb MARTIN LUTHER (im Kommentar zu Römer 8,19 f.): »Dergleichen findet man sonst nirgends (!) in der Heiligen Schrift, wie hier St. PAULUS redet von dem endlichen Harren und Warten der Kreaturen auf die Offenbarung der Kinder Gottes.« LUTHER gibt dann eine kritische Naturbetrachtung, bei der die Christenheit den Atem anhalten sollte: »Ihr werdet dann die besten Philosophen und die besten Naturforscher sein, wenn ihr vom Apostel lernt, die Kreatur als eine harrende, seufzende, in Wehen liegende zu betrachten, das heißt als eine, die das, was ist, verabscheut und nach dem verlangt, was zukünftig ist und darum noch nicht ist.« 228

LUTHER ahnt also noch, daß die jetzige noachitische Weltordnung (nach Genesis 9) nicht ewig war, nicht gut ist, und nicht ewig bleiben wird. In einem seiner letzten Worte hat JESUS den Befehl gegeben: »Gehet hin in alle Welt (den ganzen Kosmos) und verkündigt die Heilsbotschaft aller Schöpfung« durch nachfolgende Zeichen und Taten! (MARKUS 16,15). Die Söhne Gottes sollten sich eben ganz anders zur Kreatur verhalten als die alte Mördergesellschaft von Genesis 9,2.3 es tut. Nun, leider wartet die arme Kreatur bei dieser noachitischen Christenheit schon fast zweitausend Jahre umsonst auf Mitleid und Barmherzigkeit. Denn sie haben sich ein kirchliches Christentum zurechtgemacht, das allein auf den Vorteil des Menschen bedacht ist. Ein beachtenswertes Zeichen in pazifistischer und vegetarischer Hinsicht setzte die Urgemeinde von Jerusalem dann im Jahre 66. Zu Beginn des jüdischen Krieges gegen die Römer verweigerte sie den Kriegsdienst und emigrierte sie auf göttliche Weisung hin nach Pella (EUSEB, Kirchengeschichte 111,5,3) zu den Essäern in Ostpalästina, nicht etwa nach Qumran. Die Qumraner hatten mit den friedfertigen Essäern und auch mit JESUS nichts zu tun und gingen an Jerusalems Seite »heldenhaft« zugrunde. Im Geiste ihres Herrn, dessen führende Hand hier sichtbar ward, gab die Urgemeinde hier für alle Zeiten das leuchtende Beispiel, daß die Söhne der Gerechtigkeit und die Söhne des Friedens mit »gerechten« Aufständen und Befreiungskriegen oder gar Eroberungskriegen nichts mehr zu tun haben. Nicht das irdische Vaterland mit seinen nationalen Interessen und polizeilichen oder militärischen Gewaltakten, sondern das Friedensreich Gottes und seine Gerechtigkeit ist das Vaterland der Christen. Für die Zeit der Evakuierung wurden den Nazoräern damals als Zuflucht die Siedlungen und Häuser der vegetarischen Essäer in der neutralen Dekapolis zugewiesen. Hier fanden sie Verständnis und Heimat auf Erden.

Essäer wie Nazoräer übten durch ihren religiösen Ernst, ihre politische Abstinenz und ihre asketische Lebensweise einen reinigenden Einfluß auf ihre jüdischen Zeitgenossen aus. »Als der Tempel zerstört worden war, mehrten sich die Enthaltsamen in Israel, die weder Fleisch aßen noch Wein tranken« (HANS JOACHIM SCHOEPS, Theologie und Geschichte des Urchristentums, S. 193). Als nach dem Ende des BAR-KOCHBA-Aufstandes im Jahre 135, an dem sich die Christen abermals nicht beteiligten, Jerusalem in eine judenfreie römische Stadt (Aelia capitolina) umgewandelt worden war, zogen sich die urchristlichen Gemeinden endgültig nach Ostjordanien zurück. SCHOEPS schätzt mit ORIGENES, daß es dort um die Mitte des 3. Jahrhunderts noch 100 000 Urchristen, wir können ruhig sagen vegetarische Urchristen gab, denn sie hätten die Überreste der Essäer aufgesogen (a.a.O. S. 277). 229

Für etwaige Ungläubige unter meinen Lesern fasse ich die Tatsachen noch einmal zusammen mit den folgenden wissenschaftlichen Belegen: »Enkratiten (was zu übersetzen ist: die Enthaltsamen, die innerlich Erkrafteten), keine Sekte, sondern eine bereits im NT (1. TIM. 4,3—6) nachweisbare, neupythagoreischen Idealen nahestehende, breite asketisch-vegetarische Strömung innerhalb der Gemeinden, die den Verzicht auf Fleischgenuß und Ehe empfahl, aber in dem Augenblick häretisch (?) wurde, wo sie es (allgemein) forderte« (Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl. 1928, Bd. II, Sp. 169). »Die Enthaltung von Fleisch und "Wein ist uns schon aus den ältesten Zeiten des Christentums bekannt« (JOHANNES SCHÜMMER (kath.), Die altchristliche Fastenpraxis, Münster 1933, S. 32). »Die Ebioniten (die Armen, Name der Judenchristen in Jerusalem) des 2. und 3. Jahrhunderts haben das mosaische Gesetz noch erheblich verschärft und extremisiert durch ihren prinzipiellen Vegetarismus, durch das Gebot der Armut und Gütergemeinschaft sowie durch eine rigorose Kathartik. — Sie haben den blutigen Tieropferkult, alsdann das Institut des israelitischen Königtums, ferner die falschen respektive nicht eingetroffenen Prophetien der Schrift sowie endlich die anthropomorphen Gottesaussagen als »falsche Perikopen« gestrichen, die nachträglich in die Thora MOSIS eingeschoben worden seien« (HANS JOACHIM SCHOEPS: Die ebionitische Wahrheit des Christentums, Deutsches Pfarrerblatt, 1. :. 1953, S. 50). Man sollte dieses Zeugnis eines Kenners ganz gründlich, Satz für Satz, studieren. Diese Judenchristen, die man uns von paulinisch gefärbter christlicher Seite immer gerne als konservative, rückständige Gesetzesjuden hingestellt hat, waren also diätetisdi, politisch, sozial und theologisch »liberale«, sehr progressive und mutige Leute, die entwicklungsmäßig schon viel weiter und JESUS dem Nazoräer viel näher stehend waren als bis heute alle heidenchristlichen Kirchen auf der ganzen Welt. »Nimmt man an, daß die Vegetarier, mit denen schon PAULUS in Rom zu tun hatte (Rom. 14) und die es laut 1. Kor. 8 auch in Korinth gegeben hat, Judenchristen gewesen sind, würde eine ebionitische Vegetarismustradition bis in die apostolische Zeit hinab gesichert sein, die Gemüse an die Stelle des Fleisdigenusses treten läßt« (HANS J O A C H I M SCHOEPS, Theologie und Gesdiichte des Judenchristentums S. 292 f.). »Die judenchristliche Gnosis wird repräsentiert durch die Elkesaiten. Eigentümlichkeiten: Beobachtungen des alttestamentlichen Gesetzes mit Ausnahme der Opfervorschriften (was wirklich keine Kleinigkeit war!). Wiederholte Waschungen mit Anrufungen des Vaters und des Sohnes (ohne die trinitarische Konstruktion). Das Abendmahl wird in Gestalt von Brot und Salz (also ohne Alkohol) gereicht. Verwerfung des Fleischgenusses, Hochhaltung der Ehe (Gnostiker und Vegetarier müssen also nicht unbedingt auch ehefeindlich sein!)«. (H. APPEL, Alte Kirchengeschichte, Teil I, Leipzig 1909, S. 16.) Auch diese judenchristlichen Gnostiker waren also sehr vernünftige Leute. Wir 230

müssen höchste Achtung vor diesen alten vegetarischen Urchristen haben und schleunigst das bisher Versäumte von ihnen lernen. • f r

Historische Wahrheit ist also: Das Christentum hat eine große vegetarische Vergangenheit. Die christliche Urgemeinde lebte schon im ersten Jahrhundert vegetarisch. Es ist ganz unwahrscheinlich, daß sie das ohne Bezug auf ihren Meister und gegen seinen Willen tat. Der Vegetarismus ist also keine Erfindung, kein Spleen des 19. und 20. Jahrhunderts, der die Christenheit nichts angeht. Der Vegetarismus ist vielmehr göttlichen Ursprungs, er ist in der Schöpfung und in der Erlösung verankert. Um so erstaunlicher ist es, daß die Christenheit sich gegen diese Wahrheit sträubt. Anmerkung des Herausgebers: Die vorstehende Darstellung ist Teil eines Buches mit dem Titel »Die vergessenen Anfänge der Schöpfung und des Christentums«, das weitere wichtige Fragen unseres Themas behandeln wird. 1 Die Lebensweise Jesu und der ersten Christen. Lübeck-Travemünde 1973. Im Selbstverlag des Verfassers.

GEORG MAGG: Vegetarismus aus der Sicht des katholischen Vegetariers Wenn in dieser MAGNA CHARTA ANIMALIUM die Kunde und Moral der Weltreligionen zu den Belangen einer ausgewogenen Lebensharmonie mit den Tieren zu Wort kommen soll, — und hier das Christentum in katholischer Sicht, dann fragt sich zwar, warum die biblische Kunde vom brüderlichen Einvernehmen der Tiere untereinander und des Menschen mit dem Tier nicht schon im ersten Kapitel besprochen würde. Denn die Kunde von der Tierfreundschaft im Paradiese und die Moral zum endzeitlichen Tierfrieden hin ist ja als Postulat unserer Religion sowohl in der Schöpfungsgeschichte als auch zum himmlischen Ziele hin biblischer Ausdruck des tatsächlichen Umstandes, daß die Lebensrechte des Tieres im gegebenen Naturbestande nicht gewahrt erscheinen und ebenso nicht das Glücks-Bedürfnis der Menschenseele in einem Freundschaftsverhältnis zum Tiere. Weil dieses Buch aber vermittels logischen Begreifens und wissenschaftlichen Denkens die gleiche Erkenntnis zum Bewußtsein bringt, — daß nämlich ein uneigennütziges, freundliches, edles Verhältnis von Mensch und Tier (gerade heutzutage) nicht nur möglich sei, sondern zum sittlichen Humanitätsbestande gehöre, ganz abgesehen vom erwiesenen Lebensrecht der Tiere und von der sich lohnenden Lebensfreude für das Menschenherz in einer Tierfreundschaft, darum wirkt sich diese religiöse Betrachtung des Themas freilich besser zum Abschluß des Ganzen (zumal heutzutage) wie die Würde eines Siegels aus, mit dem heiligen Zeichen des Welttierschutzpatrons FRANZ V O N ASSISI. 231

Im biblischen Milieu gilt der Verlust des Paradiesesfriedens als eine Folge des Sündenfalles von Adam und Eva. Vielleicht aber hätte FRANZ VON ASSISI auch TAILHARD DE C H A R D I N verstanden, der in der Evolution der Natur gleichsam von einem Soge spricht zu einer heilenden Zusammenfassung des Ganzen hin zu einem Vollendungszustand im Punkte Omega nach dem Wort vom kosmischen CHRISTUS im Epheserbrief des Neuen Testamentes 1,9 f.: im Weltheilande soll alles harmonisch vereinigt werden, wie die Glieder unseres Leibes im Haupte. Ist um den Tierfreund von Assisi jene Disharmonie schon am Verlöschen, die in 1. MOSES 9,2 im Bibelwort zum Ausdruck kommt, daß »Furcht und Schrecken vor dem Menschen auf allem Getier der Erde und allen Vögeln des Himmels« läge, so spricht JESAIAS, der Prophet, uns allen aus dem Herzen, wenn er in Kapitel 11,6 ff. vom kommenden Friedensreich dichterisch sagt: »Dann wird der Wolf zu Gast bei dem Lamm weilen und der Panther sich neben dem Böcklein niederstrecken; das Kalb und der junge Löwe und der Ochse werden beisammen weiden, und ein kleiner Knabe wird sich bei ihnen herumtreiben; Kuh und Bärin werden miteinander auf die Wiese gehen, ihre Jungen sich zusammen lagern; und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Der Säugling wird am Schlupfloch der Natter spielen und das eben entwöhnte Kind seine Hand nach dem Feuerauge der Giftnatter ausstrekken. Man wird nichts Böses mehr tun und nicht unrecht handeln auf meinem ganzen heiligen Berglande; denn das Land wird voll von Erkenntnis des H E R R N sein gleich den Wassern, die den Meeresgrund bedecken.« Das Geheimnis des Heiligen FRANZ V O N ASSISI ist im JOHANNESEvangelium als »Neugeburt des Menschen von oben her« (Kap. 3,3 ff.) bezeichnet, »um hineinkommen zu können in Gottes neue Welt«, »einer künftigen Herrlichkeit, auf die alle Geschöpfe sehnsüchtig warten«, wie der Apostel PAULUS im Römerbrief 8,18 f. sagt. Jene Neugeburt besagt die Veredlung des egoistischen Wildlings zum wohlwollenden Bruder. In diese Kultur des inneren Menschen gehört auch das Erwachen des Gewissens gegen ein Fehlverhalten zum Tier (und zur ganzen Natur), wie auch das Bewußtwerden der Lebenswerte im Tier (und der ganzen Natur), mit einem Satz: die Ehrfurcht vor allem Leben; darin integriert ist selbstverständlich die ethische Hygiene unserer Ernährung. Solche Selbstverständlichkeiten sind das Charakteristische beim »neuen Adam«, wie PAULUS den neugeborenen »Menschen in CHRISTUS« heißt (1. Kor. 15,47; 11. Kor. 5,17). Das Umwandlungsgeschehen in CHRISTUS hat FRANZ V O N ASSISI konsequenterweise auch zum Tierfreund und Vegetarier gemacht. Wer das Trieb-Ich (durch Personal-Integration der Triebkräfte) in sich gebildet hat, wird kein Tierschänder mehr sein können; wer die Wesensqualität des Leib-Ichs erworben (in der Integrierung aller Anlagen und Fertigkeiten unserer biologischen Vermögen), wird auch für Ausbildungsmöglichkeiten und Lebensschutzmaßnahmen in der Tierwelt ein offenes Auge haben; wer sein 232

Selbst-Ich entfalten konnte, wird auch die Selbständigkeitswerte der Natur achten; und wem — durch den Seinszuwachs aus dem Rahmen der Göttlichen Natur in der >Wiedergeburt in CHRISTUS< — die Bildung des Bruder-Ichs gelungen ist, für den ist die FRANZISKUS-Verausgabung der Namen Bruder und Schwester in die Tierwelt hinein keine bloß hohle Schwärmerei: auch den >bloßen Tierfreundedel, hilfreich und gut< zu allen Menschenkindern ist, wie auch den >bloßen Vegetarier^ dessen Ethik und Gewissen zur inneren Sauberkeit im Charakter, zum Vermeiden von Verletzung der Herzen und Schädigung der Lebensrechte anderer nicht mehr ausreicht, solches gibt es im FRANZISKUS-Milieu reifen Christentums nicht. Wenn aber schlußendlich das >kosmische Ich< im Menschen herangereift ist — nach der Entegoisierung und Sozialisierung seines Wesens im Bruder-Ich vermittels des >Schöpfer-Geistin CHRISTUS< geschehen ist: »alles findet in ihm sein Ziel . . . alles Feindliche wird durch ihn überwunden . . . alles Geschaffene findet >in CHRISTUS< zum Frieden . . . zurück«, wie wir es im Kolosserbrief des Neuen Testamentes (1,16 b ff.) lesen — d. h. in der kosmischen oder religiösen Ich-Qualität wird der Mensch miteingeschaltet zur Vollendung der Natur, z. B. hier im Anliegen dieses Buches für die verletzten Lebensrechte der Tiere und folgerichtig für die Erhaltung lebensgefährdeter Tiere und ganzer Naturumstände. Nach diesem philosophisch-theologischen Exkurs ist noch zu sprechen von der grundsätzlichen Haltung des katholischen Christentums zum Ideal des Vegetarismus und von der Durchschnittseinstellung seiner Kirchenmitglieder. Im Vollkommenheitsstande der katholischen Kirche ist jenes Ideal in den alten Ordensgründungen erhalten: ihre Ordensregeln enthalten ein generelles Verbot der Fleischnahrung, u. a. z. B. die der Benediktiner, der Karmeliter. Um FRANZ V O N ASSISI stehen u. a. die Namen HIERONYMUS, A N T O N I US DER EINSIEDLER, BENEDIKT, BERNHARD V O N CLAIRVAUX, THERESIA, HEDWIG; in unserer Zeit Samariterpfarrer KAISER, Theologieprofessor UDE u. a. Heute leben noch rein vegetarisch die Kartäuser- und Trappistenmönche, wie auch die Zisterzienser der strengen Observanz, die Samariterschwestern. Im kirchlichen Gesetzbuch der katholischen Kirche (C. J. C. can. 1252 § 1 & 2) besteht ein Fleisch-Nahrungsverbot für alle Freitage des Jahres, für Aschermittwoch, die Samstage der Fastenzeit, Vortage von Weihnachten, Pfingsten und Allerheiligen, wie auch die drei Fasttage jeder heiligen Woche der jeweiligen Jahreszeit (Quatember). In der Bezeichnung des Vortages der >Vierzigtägigen Fastenzeit< ist noch das Relikt erhalten für die Fleischabstinenz in diesen Wochen: Carneval kommt nämlich von >caro valec man feierte an diesem Tag humorvoll >Fleisch, leb' wohl< bis zum Osterfest. Wiewohl all diese Fleischverbote heute gelockert oder aufgehoben sind, essen doch noch viele 233

Katholiken u. a. an allen Freitagen fleischlos. Die Reformatoren aber gaben dieses alles von Anfang an auf. Als speziell katholische Tierschutzzeitschrift gibt es heute noch THE ARK, BULLETIN OF THE CATHOLIC STUDY FOR ANIMAL WELFARE (Catholic study circle for animal welfare. Secretary: Captain Sr. J. EyreSmith, M. C. Lough Ine House Skibbereen, Co. Cork, Ireland). Auch die kath. Samariterschwestern geben ein Werkblatt heraus: Postverlagsort Singen (Hohentwiel). Die »Rundbriefe für den christlichen Vegetarier«, herausgegeben von deren Gemeinschaft (H. Schellmann, 3 Hannover-Linden, In der Steinbreite 82, und F. Gronbach, 7 Stuttgart, Finkenstr. 53) sind ökumenisch: in diesem interkonfessionalen Bereich sind die Fragen zuständig, ob die Geschichtsquellen ausreichen, JESUS V O N NAZARETH (der nach dem Evangelium MARKUS 1,13/b »mit den Tieren lebte«, der nach MATTHÄUS 6 von der Versorgung der Vögel durch unsern himmlischen Vater spricht, der nach J O H A N N E S Kap. 13 beim letzten Abendmahl kein Pascha-Lamm gegessen, dessen Kultmahl ja erst nach seiner Todesstunde gewesen ist, wie das gleiche JOHANNES-Evangelium 18,28/b erwähnt; nach dem Korintherbrief 15,1 /b ist ja CHRISTUS selber geopfert worden, als man im Jerusalemer Tempel die Paschalämmer schlachtete) als Vegetarier zu erweisen; ähnlich ist es mit der Frage, ob PAULUS vegetarisch gelebt habe; sein Römerbrief-Wort 14,21, es sei besser, kein Fleisch zu essen und keinen Wein zu trinken, und sein Korintherbrief-Wort 8,13, er wolle lieber nie mehr Fleisch essen, können diese Frage quellenmäßig nicht eindeutig lösen, wohl aber die urchristliche Vegetarier-Diskussion erweisen. Sein Wort, das Reich Gottes bestehe nicht in Essen und Trinken (Rom. 14,17 f.) ist — wohl auch katholischerseits — zu Ungunsten von Abstinenz und Askese ausgelegt worden. »Wir wollen alles daran setzen, daß wir in Frieden miteinander leben und einander weiterhelfen«, dieses PAULUS-Wort Rom. 14,19 sei auch unser aller Toleranz-Edikt in Beherzigung des anderen Schriftwortes bei LUKAS 12,32: noli timere pusillus grex, d. h. laß dich nicht draus bringen, wenn die Mehrzahl anders denkt und lebt! In solchen nur kleinen Gruppen waren auch die Vegetarier PLATON, PYTHAGORAS, LEONARDO DA VINCI und die anderen Großen unter ihnen.

RUDOLF DAUR:

Evangelisches Christentum

und Vegetarismus

Wenn hier von dem Verhältnis von evangelischem Christentum und Vegetarismus die Rede sein soll, so gilt es zunächst die Frage zu klären: Was ist mit diesem, was mit jenem gemeint? Es gibt offenbar sehr verschiedene Arten von evangelischem Christentum und nicht minder verschiedene Arten von Vegetarismus. Wir unterscheiden im folgenden bei den beiden in Frage stehenden Größen zwei Grundgestalten, die weit voneinander entfernt, zwischen denen aber man234

cherlei Übergänge und Mischformen möglich und in der Wirklichkeit der Welt erfahrbar sind. Es gibt eine primitive Form von evangelischem Christentum: Der Mensch ist in einem »evangelischen« Haus geboren und erzogen, er ist getauft und konfirmiert worden. Er sieht auch keinen Grund, die Lehren, die ihm im Religions- und Konfirmandenunterricht beigebracht wurden, abzulehnen oder gar zu bekämpfen. Sie gehören offenbar zu einem geordneten und erfolgreichen Leben. Warum sollte man nicht dem Glauben und der Sitte der Väter treu bleiben? Etwaige Zweifel an deren Richtigkeit schiebt man weg; man kann ja nicht alles mit seinem Verstand ergründen. Dieses primitive, traditionelle Christentum ist zwar heute, nicht erst heute, ins Wanken geraten, hat aber doch noch immer eine erstaunliche Lebenskraft. Ebenso gibt es einen primitiven Vegetarismus. Das Fleisch hat einem schon von Kind auf nicht geschmeckt; man lehnt es also ab. Oder man hat die Entdeckung gemacht, daß man elastischer, leistungsfähiger ist bei Frischkost als beim Genuß des Fleisches getöteter Tiere. Man ist vielleicht auch durch Umstellung auf eine vegetarisdie Kost von körperlichen Beschwerden, etwa Rheumatismus oder einem Ekzem, frei geworden. Vielleicht hat man auch einen Blick in ein Schlachthaus getan und hat sich mit Entsetzen abgewendet. Diese primitiven Formen von Christentum und von Vegetarismus können nebeneinander bestehen, ohne sich zu berühren. Man ist Christ, denkt aber nicht daran, sich deshalb über seine Ernährungsweise besondere Gedanken zu machen. Das hat doch offenbar gar nichts miteinander zu tun. Und umgekehrt: man ist Vegetarier, ohne eine religiöse oder weltanschauliche Begründung für diese Form seines Lebens, seiner Ernährung zu suchen oder zu brauchen. Wer dächte schon daran? Es ist bezeichnend, daß in dem fünfbändigen Nachschlagewerk »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« das Wort »Vegetarismus« überhaupt nicht vorkommt. Es kann jedoch zu einer plötzlichen oder auch einer sich langsam anbahnenden Begegnung und Berührung der beiden Größen »Christentum« und »Vegetarismus« kommen. Der evangelische Christ fragt sich etwa: Wie, wenn die Forscher recht hätten, die uns sagen, wahrscheinlich JESUS selbst, sicher aber seine ersten Anhänger hätten — nicht anders als BUDDHA und seine Jünger — streng vegetarisch gelebt, vor allem der Bruder JESU, der Leiter der urchristlichen Gemeinde in Jerusalem nach JESU Tod, JAKOBUS, der »Gerechte«. Und zwar hätten sie das getan mit innerer und äußerer Konsequenz. Oder man wird nachdenklich, wenn man ein Wort liest wie das des großen Heiligen der ältesten Christenheit, HIERONYMUS V O N BETHLEHEM; den wir von DÜRERs Holzschnitt her kennen: »Der Genuß des Tierfleisches war bis zur Sintflut unbekannt — aber seit der Sintflut hat man uns die Fasern und die übelriechenden Säfte des Tierfleisches in den Mund gestopft, wie man in der Wüste dem murrenden, sinnlichen Volke Wachteln vorwarf. 235

JESUS CHRISTUS, welcher erschien, als die Zeit erfüllt war, hat das Ende wieder mit dem Anfang verknüpft, so daß es uns jetzt nicht mehr erlaubt ist, Tierfleisch zu essen, wie der Apostel sagt (Römer 14,21): >Es ist besser, du essest kein Fleisch und trinkest keinen Wein.< Denn der Gebrauch des Weines hat mit dem Fleischessen angefangen, nach der Sintflut. Der Genuß des Fleisches, das Weintrinken und die Überfüllung des Bauches sind die Pflanzstätten der bösen Begierlichkeit.« Der besinnliche Bibelleser fragt sich wohl auch: Ist es ohne Bedeutung für uns, wenn im ersten Buch der Bibel als die gottgewollte Ernährung des Menschen die Früchte von Garten und Feld bezeichnet werden und Fleischnahrung erst nach der Sintflut zugelassen wird für die sündige Menschheit, die aus dem Paradies ausgestoßen ist? Wenn aber zu Weihnachten gesungen und verkündigt wird: »Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis, der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr und Preis« — schlagen wir diese Tür nicht selbst wieder zu durch den genüßlichen Verzehr unseres Weihnachtsbratens, durch unsere ganze Lebens- und Ernährungsweise mit Schlachthäusern und Schlachtfeldern, mit Rausch- und Rauchgiften? Umgekehrt kann aber auch der »primitive« Vegetarier eines Tages vor der Frage stehen: Müßte unsere besondere Lebensweise nicht tiefer begründet werden, um mehr Durchschlagskraft zu bekommen, tiefer als bloß mit ästhetischen, hygienischen oder wirtschaftlichen Gründen, so schwer diese wiegen mögen? Es kann ja dem Einsichtigen nicht verborgen bleiben, daß die auf uns zukommende Weltkatastrophe, daß eine uns alle bedrohende, unausdenkliche Hungersnot nicht anders verhindert werden kann als durch eine radikale Umstellung unserer Wirtschaft und Gesellschaft, vor allem aber auch unserer Ernährungsweise. Der alte Spruch hat ja noch immer sein Recht: »Wo ein Jäger seine Nahrung findet, können zehn Bauern leben; wo ein Bauer seine Existenz hat, haben sie zehn Gärtner.« Besitzt diese Erkenntnis nicht heute eine geradezu unheimliche Aktualität? Wie aber kann es zu einer solchen radikalen Erneuerung der menschlichen Gesellschaft kommen, wenn nicht die innersten Kräfte mobilisiert werden, wenn nicht das Verantwortungsgefühl des Menschen für den Mitmenschen wächst, wenn nicht, um es geradeheraus zu sagen, der Geist der Bergpredigt JESU neu wirksam wird? So kann bei der Begegnung des Christentums mit dem Vegetarismus ein ernsthaftes Gespräch entstehen, kann ein vertieftes, radikales, das heißt zu den Wurzeln vordringendes Christentum erwachen — und ein ebensolcher Vegetarismus. Wie aber verhalten sich konsequentes, ganz aus dem Evangelium erwachsendes Christentum und konsequenter, wesenhafter Vegetarismus zueinander? Kein Zweifel, sie haben manchesmal ihre innerste Zusammengehörigkeit erfaßt., 236

Es hat nicht wenige Männer und Frauen gegeben, die mit ihrem ganzen Herzen, mit der Tat ihres Lebens, aus innerem Müssen den Weg JESU zu gehen versuchten, und denen sich dabei eine Änderung auch ihrer Ernährungsweise im Sinn eines konsequenten Vegetarismus unausweichlich ergab. So wurde die erste vegetarische Vereinigung in Deutschland von dem Theologen EDUARD BALTZER (geboren als Pfarrerssohn am 24. Oktober 1814) gegründet, der zwar mit den orthodoxen kirchlichen Behörden in Konflikt geriet, aber unbeirrbar mit geradezu prophetischer Begeisterung die Zukunft einer Menschheit beschrieb, die sich zur natürlichen Diät entschlösse, der Gewalt absagte, in der Gerechtigkeit und Friede blühten und wo die Mutter Erde ein Vielfaches an Nahrung hervorbrächte. Neben ihm mag gleich der Leipziger Theologieprofessor CASPAR RENE GREGORY (1846—1917) genannt werden, der bedeutende Erforscher des neutestamentlichen Textes, von dem ADOLF V O N H A R N A C K sagte, er habe nie einen Mann gesehen, der so die Nachfolge CHRISTI übte, der denkbar anspruchslos lebte und selbst als Soldat im Feld auf alles Fleisch verzichtete. Ob ALBERT SCHWEITZER praktisch konsequenter Vegetarier gewesen ist, darüber mag man sich streiten. Viele seiner Äußerungen und Gewohnheiten sprechen dafür, und die von ihm geforderte Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben läßt schwerlich eine andere Konsequenz zu. Dafür ein Wort statt vieler: »Wirklich moralisch ist nur der, der alles Leben rettet, dem er helfen kann, und der sich enthält, aller Kreatur, die lebt, Unrecht zu tun. Das Leben an sich ist heilig . . . Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.« Von bewußt evangelischen »Laien«, die Vorkämpfer des Vegetarismus waren, sei vor allem der Arzt und Quäker OTTO BUCHINGER genannt, der in seinen Sanatorien ungezählten Menschen den Weg zum seelischen und leiblichen Heil gewiesen hat und sich in vielen Schriften für eine neue Lebensweise ohne Fleisch und Genußgifte einsetzte. Neben diesen hervorragenden Männern und den Begründern der Heilsarmee, dem Ehepaar BOOTH, sei wenigstens noch eine Frau ausdrücklich erwähnt, MATHILDA WREDE, der Engel der Gefangenen; ein Mensch, der sein ganzes Leben im selbstlosen Dienst an den Ausgestoßenen der menschlichen Gesellschaft zubrachte, und für den die Ablehnung der Fleischnahrung eine Selbstverständlichkeit war. Woher mag es kommen, so fragen wir uns im Blick auf solche Vorbilder, daß diese Einheit von evangelischem Christentum und Vegetarismus doch eine Seltenheit, eine auffallende Ausnahme ist? Wo finden sich sonst unter den Professoren der Theologie, unter den Bischöfen und Prälaten, den Pfarrern und Volksmissionaren, unter den frommen Laien überzeugte und konsequente Vegetarier? Was der berühmte Basler Theologe KARL BARTH in seiner Dogmatik (Band 3,4) über die rein pflanzliche Urnahrung des Menschen und über dessen Verantwortung für das ihm anvertraute Leben des Tieres schreibt, 237

zeugt zwar von einem großen Verständnis für die Forderungen des Vegetarismus, zieht aber doch nur sehr behutsam praktische Konsequenzen. Und was bedeutet schon, aufs Ganze von Volk und Kirche gesehen, das kleine Häuflein »Christlicher Vegetarier und Lebensreformer«, das von H. SCHELLMANN (Hannover) und Fr. GRONBACH (Stuttgart) gesammelt wurde und betreut wird, und bei dem auch der Theologe Professor D. ADOLF KÖBERLE, ein überzeugter Lebensreformer, mitarbeitet, oder der von C. A. SKRIVER begründete Orden der »Nazoräer«, der ein radikales, streng »veganisches«, also ein auf alle vom Tier stammende Nahrung verzichtendes Urchristentum vertritt? Sind sie nicht weiße Raben? Die Frage sollte, so meine ich, nicht allzu schnell und allzu selbstsicher beantwortet werden. Ist es bloße Bequemlichkeit des Fleisches, schmeckt der Braten zu gut, als daß man auf ihn verzichten möchte? Schwerlich. Was für opferbereite Menschen finden sich unter diesen Christen. Oder will man eben nicht aus der Reihe tanzen? Fürchtet man aufzufallen, für einen Sonderling und Wichtigtuer gehalten zu werden? So lange die »gemischte Kost« allgemein als normal gilt, und auch die Ärzte und andere »Sachverständige« sie empfehlen, warum sollte man da klüger sein wollen als sie? Und hat nicht auch JESUS sich am Passahmahl beteiligt, wo doch ein Lämmlein verzehrt wurde (was allerdings, besonders nach dem JOHANNES-Evangelium, bestritten werden kann)? Ein weiterer, oft gehörter Einwand der Christen gegen den Vegetarismus lautet: Steckt in der Lebensreform nicht der Teufel der Selbsterlösung? Der evangelische Christ weiß doch, daß er nicht durch fromme Werke gerecht wird, sondern allein durch den Glauben, durch die Gnade. Der Vegetarier tut gewiß nicht gut daran, wenn er die Einwände der Christen gegen seine Denk- und Lebensweise leicht nimmt, wenn er gar sich besser dünkt als die »Carnivoren«. »Ein gewaltiger Asket kann ein Gefäß viel größerer Bosheit sein als der schlimmste Genußmensch. Wir werden es ja nicht gut wieder vergessen können, daß man Nichtraucher, Alkoholabstinent und Vegetarier sein und doch — ADOLF HITLER heißen konnte.« (KARL BARTH in »Die kirchliche Dogmatik, 3. Band, 4. Teil, S. 395). Es steckt ein gut Stück Wahrheit in einem Pessimismus allem menschlichen Selbstvervollkommnungsstreben, allem Moralismus und Rigorismus gegenüber. Der Zöllner und die Hure sind noch immer näher beim Reich Gottes als der hochmütige Pharisäer. Wenn die Reformatoren den Chiliasmus, den Glauben an ein Paradies auf dieser Erde, als Schwärmerei ablehnten und erst von der Wiederkunft Christi am Ende aller Tage den neuen Himmel und die neue Erde erwarteten, auf der Gerechtigkeit, auf der auch Friede zwischen Mensch und Tier im Sinn jener Schau des Propheten (JESAJA 11) herrscht — es lohnt sich, über den Sinn und die Bedeutung solcher mythologisch-symbolischer Bilder zu meditieren, es lohnt sich aber auch, zu fragen, warum die Reformatoren Bedenken hatten, aus diesen Bildern allzu rasch praktische Konsequenzen für diese Weltzeit zu ziehen. 238

Daß so viele evangelische Christen den Vegetarismus zwar tolerieren, besonders wenn er, wie sie sagen, »nicht zur Weltanschauung wird«, aber ihn doch für sich persönlich ablehnen, hat zweifellos nicht bloß oberflächliche Gründe. Und doch meinen wir, denen eine bewußte Nachfolge JESU und ein neues Verhältnis zum Leib, der nicht Kerker der Seele, sondern Tempel des Heiligen Geistes sein soll, denen auch ein neues Verhältnis zur ganzen seufzenden Kreatur, die ängstlich darauf wartet, daß die Menschen als Gottes Kinder offenbar werden (Römer 8,10 ff.), Herzenssache ist, gerade die evangelische Christenheit müßte die Fragen um Lebenserneuerung, um die gute Freundschaft mit den »jüngeren Brüdern«, wie MANFRED KYBER die Tiere nannte, ernster nehmen und das durch die Tat ihrer Lebensgestaltung praktisch erweisen. Was das konkret für den Einzelnen bedeutet, das wird je nach seiner Konstitution und Situation, auch nach der Stufe seiner Entwicklung ganz verschieden sein. Allgemeingültige Vorschriften oder Urteile über Andersdenkende und -geführte sind äußerst fragwürdig. JESU Weisung: »Richtet nicht!« wird gerade hier ihre volle Bedeutung haben. Auf der anderen Seite meinen wir aber auch, Menschen, denen der Vegetarismus Sache des Gewissens und nicht bloß eine diätetische Spielart ist, sollten den Kraftquell, der im Evangelium fließt, für eine Erneuerung des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens nicht so auf der Seite liegen lassen, wie es vielfach geschieht. Es ist bedauerlich, daß die vegetarische Welle, die zu Anfang dieses Jahrhunderts durch die Welt ging, so rasch verebbte, nicht zum wenigsten darum, weil der Boden, auf den das neue Haus gebaut werden sollte, vielfach Sand war und nicht der Felsengrund tiefer, letzter Einsichten, einer Verantwortung vor dem Schöpfer alles Lebens. ALBERT SCHWEITZERS Ruf zu einer Neubegründung unserer Ethik und unserer Weltanschauung und damit einer wahren Weltordnung auf der Ehrfurcht vor dem Leben ist heute zeitgemäßer als je. Idi möchten diese kurzen, vielfach nur andeutenden Ausführungen nicht schließen ohne ein Wort des Danks an den schwäbischen Theologen D. Dr. K U R T H U T T E N , der in einer Reihe von Aufsätzen in dem von ihm herausgegebenen »Materialdienst« (Quell-Verlag Stuttgart) in den Jahren 1969—71 mit großem Ernst und umfassender Sachkenntnis auf die Verantwortung des Menschen, zumal des Christen, für die Tierwelt und auf eine wichtige, längst nidit genügend beachtete und erfüllte Aufgabe der christlichen Kirche hingewiesen hat. Eine Stimme in der Wüste? Oder ein Ruf des Wächters am Morgen? Es wird auf uns ankommen.

OTTO WELKER: Vegetarismus in der Sicht der Siebenten-T'age-Adventisten, Ref.-Bew. Die Heilige Schrift lehrt, daß Gott der Schöpfer des Menschen ist. Es war für diesen kein Leben in Untätigkeit vorgesehen. Er bekam eine Aufgabe zugewiesen: »Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn baute und bewahrte« (1. MOSE 2,15). Jede Tätigkeit des 239

Körpers und des Geistes hat einen Verbrauch körperlicher und geistiger Kraft zur Folge. Diese zu ersetzen ist die Aufgabe der Nahrung. Um zu wissen, welches nun die beste Speise für den Menschen ist, müssen wir Gottes ursprünglichen Ernährungsplan für den Menschen studieren. Er, der den Menschen schuf und daher seine Bedürfnisse am besten versteht, wies ihm auch seine Nahrung zu. »Ich habe euch gegeben allerlei Kraut, das sich besamt, auf der ganzen Erde und allerlei fruchtbare Bäume, die sich besamen, zu eurer Speise« (1. MOSE 1,29). Es war also reine Pflanzenkost, die von dem Schöpfer dem Menschen zugewiesen wurde. In diesem Sinne schreibt Frau E. G. WHITE in ihrem Buch »In den Fußspuren des großen Arztes«: 1 »Getreide, Früchte, Nüsse und Gemüse bilden die von unserem Schöpfer für uns gewählte Diät. Diese Speisen, einfach und natürlich zubereitet, sind die gesündesten und nahrhaftesten.« Dementsprechend muß eine Abkehr von diesem Speiseplan Folgen für die Gesundheit haben. Bedenken wir weiter, daß in der zivilisierten Welt das ausgesprochene Schlachtvieh heute aus Rentabilitätsgründen meist auf mehr oder weniger krankhafte Mastprozesse hin gezüchtet wird. Lassen wir es mit den negativen Auswirkungen des Fleischgenusses genug sein. Ein ordentlicher Mieter z. B. fühlt sich verpflichtet, die Wohnung zu pflegen und in gutem Zustand zu erhalten. So fühlt sich auch der Christ seinem Schöpfer gegenüber verpflichtet, den Körper in guter Verfassung zu erhalten. Er wird deshalb die gesündere vegetarische Lebensweise wählen. So schrieb schon vor fast 2000 Jahren der Apostel PAULUS: »Preiset Gott an eurem Leibe« (1. Kor. 6,20). Die Heilige Schrift berichtet weiter von der dunkelsten Stunde in der Geschichte der Menschheit, dem Fall in die Sünde. Neben anderen Folgen verläuft nun des Menschen Lebenszeit zwischen den zwei Polen Gut und Böse. Die Neigung zum Bösen gehört seitdem zur Grundausstattung des Menschen; müssen doch alle feststellen, daß diese Neigung bei jedem vorhanden ist. Wohl sind Bildung und Erziehung imstande, eine äußere Umwandlung der Sitten und Moral herbeizuführen, aber sie können die geheimen Triebfedern des Lebens nicht reinigen. Der christliche Glaube lehrt nun, daß Gott in seiner Liebe für die in Sünden gebundene Menschheit eine Erlösung vorgesehen hat: »Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben« (JOH. 3,16). Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf der willige Mensch göttlicher Leitung. JESUS hat diese zugesagt: »Wenn aber er, der Geist der Wahrheit, kommt, so wird er euch im Bereich der vollen Wahrheit Führer sein« (JOH. 16,13). Der menschliche Geist ist dabei die empfangende Stelle. Dazu ein Beispiel aus der Welt der unsichtbaren Wellen um uns. Musik, Sprache, Bild werden heute durch unsichtbare Ätherwellen in alle Welt hinausgesendet. Es hängt jetzt vom Zustand der empfangenden Antenne ab, in welcher Qualität diese 240

Wellen wieder hörbar oder sichtbar gemacht werden können. So ist es auch im religiösen Bereich. Ist das Gehirn als Empfangsapparat in einem schlechten Zustand, so wird jener helfende Geist nicht zu der Wirkung kommen, zu der er fähig ist. Durch was kann aber diese Empfangsbereitschaft gestört werden? Es sei nochmals E. G. WHITE 3 zitiert: »Verkehrte Gewohnheiten im Essen und Trinken führen zu mangelhaftem Denken und Handeln.« Es gibt Stoffe, welche das Gehirn angreifen und sogar das Bewußtsein des Menschen verändern. Denken wir nur an den Alkohol oder die Rauschgifte. Sie beweisen, daß unser Gehirn als Empfangsapparat für den Geist empfindlich ist auf stoffliche Einflüsse. Solche Schäden können aber auch von einer unweisen Ernährung ausgehen. Der Fleischgenuß spielt dabei auch eine Rolle. Wieder sagt Frau E. G. WHITE: 3 »Der Fleischgenuß erregt die Neigung zu größerer Aktivität und stärkt die niederen Leidenschaften. Sobald aber diese tierischen Triebe zunehmen, vermindern sich die geistigen und sittlichen Kräfte. Die Verwendung von Fleisch führt zu körperlicher Schwerfälligkeit und zur Betäubung der hoch empfindlichen Sinnesorgane.« Es sei ferner der Arzt BIRCHER-BENNER zitiert: »Mit einer schweren, trüblichtigen Nahrung — reich an all den verschiedenen Fleischarten und Reizmitteln — rufen die Menschen nicht nur die Krankheiten herbei, sie bauen in ihrem Innern auch Barrikaden gegen den mächtigen und weisesten Freund ihres Lebens, gegen den Geist.« Also wird der Christ, dem es mit allem Ernst um die Erreichung eines höheren Zieles geht, eine Ernährung anstreben, die bei ihm die höchste Empfangsbereitschaft für den Geist ermöglicht, und sich aller schädlichen Dinge enthalten, die störend wirken können, wie Alkohol, Nikotin, Fleisch usw. Fleischnahrung verroht. Dazu sei eine Beobachtung von Dr. med. W I D U K I N D LENZ wiedergegeben. Er wies nach, daß Fett- und Fleischreichtum in der Ernährung die Schilddrüsentätigkeit anregt und die Erregbarkeit des sympathischen Nervensystems erhöht, daß das Temperament der fleischessenden Völker tatkräftig und aggressiv, das der vegetarisch lebenden ruhig und friedlich sei. Der Christ, der der Sanftmut JESU nachstrebt, wird sich also vom Fleischgenuß lossagen, weil er weiß, welche Folgen dieser auf die seelischen Reaktionen hat. Von dem Ziel aller Christen heißt es: »Der Tod wird nicht mehr sein« (Offenb. 21,4). Selbst in der Tierwelt wird dort Friede einkehren. »Wolf und Lamm sollen weiden zugleich, der Löwe wird Stroh essen wie ein Rind und die Schlange soll Erde essen. Sie werden nicht schaden noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge« (JES. 65,25). Zum Schluß sei nochmals Frau E. G. WHITE 4 zitiert: »Ist es nicht an der Zeit, daß alle sich das Ziel stecken sollten, das Fleischessen zu lassen? Wie können solche, die danach streben, rein, veredelt und heilig zu werden, damit sie Gefährten der Engel sein können, fortfahren, etwas als Nahrung zu gebraudien, das so schädliche Folgen auf Seele und Leib hat? Wie können sie Gottes 241

Geschöpfen das Leben nehmen, damit sie das Fleisch als eine Delikatesse verzehren? Laßt sie lieber zu der gesunden und köstlichen Nahrung zurückkehren, welche dem Menschen am Anfang gegeben wurde, sich darin üben, und es auch ihre Kinder zu üben lehren, den stummen Geschöpfen, die Gott geschaffen und unter unsere Herrschaft gestellt hat, Barmherzigkeit erweisen.« Der Apostel PAULUS schrieb: »Ihr esset oder trinket oder was ihr tut, so tut alles zu Gottes Ehre« (1. Kor. 10,31). In den »Glaubensgrundsätzen der Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, Ref.-Bew.« heißt es (S. 10, Nr. 19): »Die Mäßigkeit oder Gesundheitsreform. Wir glauben, daß es Gottes Wille ist, daß jeder Mensch geistig und körperlich sich der Gesundheit erfreut (1. Kor. 6, 19, 20). Wer seinen Körper durch Unmäßigkeit verdirbt und wer die Naturgesetze in seinem Organismus übertritt, sündigt gegen Gottes Gesetz und muß die zeitlichen und gottesgerkhtlichen Folgen tragen .. . Wie J O H A N N E S DER TÄUFER vor dem ersten Kommen CHRISTI in seinem Leben strengste Mäßigkeit zur Erfüllung seiner besonderen Lebensaufgabe zu beobachten hatte, so ist dies für das Volk vor dem zweiten Kommen CHRISTI in besonderer Weise vonnöten. Mäßigkeit bedeutet ein Ablassen von all dem Genuß der Speisen und Getränke, die für Körper und Geist schädlich sind, so z. B. Fleisch, Fisch, alkoholische und cocainhaltige Getränke, scharfe Gewürze, übelriechender, verdorbener Käse, Bohnenkaffee, schwarzer Tee.« Anmerkungen: 1 Adventverlag Hamburg 1907. 2 Schatzkammer der Zeugnisse. Bd. 3. Adventverlag Hamburg 1956. 3 Schatzkammer, Bd. 1. 4 Fußspuren, a.a.O. S. 323.

JAYANTILAL

N.

MANKAR:

Hinduismus

und

Ernährungsweise

Die Hindu-Religion, auch als Vedische Religion oder Sanatan Dharma (Ewige Religion) bekannt, ist eher eine Philosophie und eine Lebensweise als eine an Riten gebundene Religion. Ihre Grundlage ist die Auffassung des Lebens als einer Einheit und die Einheit der Seele, die sich in verschiedenen physischen Formen offenbart, die Entwicklungsstufen darstellen und letztlich nach Vereinigung mit Purna Brahma, der ewigen Seele, streben. Wie von Prof. MAX MÜLLER, einem Erforscher der indischen Vedanta-Philosophie, richtig bemerkt wurde, »werden Hindus in die Religion hineingeboren, sie leben die Religion und sie sterben in ihr«, was bedeutet, daß gemäß der Hindu-Philosophie das Leben von der Geburt an bis zum Tode ein Vorgang religiöser Entwicklung ist, die schließlich nach Befreiung der Seele von physischer Existenz und Vereinigung mit Purna Brahma, der ewigen Seele, strebt, welche die ganze Schöpfung umfaßt. Daher ist es nicht verwunderlich, daß jede Ausbeutung und Vernichtung von Tieren unter irgendeinem Vorwand durch versdiiedene religiöse Vorschriften 242

verboten ist. Im Bereich des Dharma wird der Ausübung von Ahimsa (Gewaltlosigkeit) höchste Bedeutung beigelegt; sie wird als höchste Religiosität angesehen: »Ahimsa Parmo Dharma«, wie im Mahabharat Anushashan Parva (115.25) bemerkt wird, und »Ma Himsyat Sarvani Bhutani«: Töte keine Geschöpfe, wie der Yajurved nachdrücklich gebietet. Es liegt deshalb auf der Hand, daß die Verwirklichung dieser Grundprinzipien nur durch gewaltlose Lebensweise möglich ist, die den Gebrauch tierischer, durch Töten oder Quälen von Tieren gewonnener Erzeugnisse vermeidet. Es sollte auch beachtet werden, daß die Sünden gewalttätiger Zerstörung nicht auf den physischen Akt eigenhändigen Tötens beschränkt sind. Nach MAHARSHI PANTANJALI, dem Verfasser des Yoga Sutra, können Sünden der Gewalttätigkeit auf einundachtzigfache Weise begangen werden: »Lebewesen persönlich töten, sie durch andere töten lassen und zum Töten ermutigen, sind drei Hauptformen gewalttätigen Tötens. Habgier, Zorn und Unwissenheit sind verantwortlich für die Auslösung von Gewalttätigkeit (Himsa); sie wird so zu neun Kategorien vervielfacht. Diese wiederum können sich graduell abstufen als sanft, leichter und schwer, und es ergeben sich weitere Kategorien der Gewalttätigkeit (9 mal 3), die sich auf siebenundzwanzig belaufen« (Yoga Sutra 2—34). »Diese siebenundzwanzig Arten von Gewalttätigkeit werden durch den Körper, den Geist oder die Sprache ausgeführt, und daher ergeben sich durch Vervielfachung mit diesen drei Möglichkeiten einundachtzig Kategorien.« Infolgedessen können selbst diejenigen, die Tiere nicht persönlich töten, wohl aber durch Töten, Quälen und Ausbeuten von Tieren gewonnene Erzeugnisse nutzen, nicht von den Sünden der Gewalttat freigesprochen werden, wie der große Gesetzgeber MAHARSHI MANU sagte: »Wer zu töten rät oder befiehlt, wer Tieren ein Glied abschneidet, wer ein Tier tatsächlich tötet, wer Fleisch kauft, wer Fleisch ißt und wer Fleisch kocht, sie alle sind Mörder« (Manu Smriti 5—61). Diese Lehren werden weiterhin unterstützt durch ähnliche Aussagen im Anushashan Parva des großen Epos Maha Bharat (115—40). So sollten diejenigen, die für sich beanspruchen, Anhänger der Hindu-Religion zu sein, kein Fleisch, kein Geflügel oder irgendein durch Töten, Quälen oder Ausbeuten von Tieren gewonnenes tierisches Erzeugnis gebrauchen. Wenn man die Frage der nichtvegetarischen Ernährungsweise im Zusammenhang mit dem höheren Ziele der Hindu-Philosophie, etwa dem der Befreiung von leiblicher Existenz, des Erreichens höchster Selbst- und Gottverwirklichung betrachtet, dann müssen das Prinzip der Auffassung des Lebens als Einheit und die Schaffung eines Gefühls von Furchtlosigkeit unter allem Lebenden entwickelt werden durch Ehrfurcht vor und Liebe zu allem, was lebt, und durch Enthaltsamkeit von Lebensweisen, die Tötung von Tieren einschließen. 243

Diese Art universaler Liebe und Brüderlichkeit unter allen Kreaturen kann zur Verwirklichung der ewigen Seele führen, die sich in unterschiedlichen Formen der Schöpfung kundtut. In der Bhagvad Gita, dem himmlischen Gesang, sagt KRISHNA der Herr, während er einen Sandhak als jemanden, der nach Gottverwirklichung strebt, bezeichnet, daß sie »Sarva Bhut Hite Ratan«, dem Wohlergehen aller Kreatur geweiht, sein sollten. Ähnlich müssen diejenigen, die danach streben, durch Frömmigkeit Bhakti Marg, das formlos Absolute, zu erreichen, frei von schlechten Gedanken und freundlich und mitfühlend allen Lebewesen gegenüber sein. Daher macht es die Hindu-Philosophie dem Menschen, der danach strebt, ein vollkommener Mensch zu sein, zur Pflicht, eine Lebensweise anzunehmen, die auf Ehrfurcht vor, Liebe zu und Mitleid mit allen Lebewesen beruht, so daß er des Erbarmens des Allmächtigen, des verkörperten Mitleids, würdig wird. In der Tat ist Mitleid der erste Schritt zu einer gewaltlosen (non-violent) Lebensweise, die unvermeidlich Sichenthalten von Tötung unter irgendwelchem Vorwand verlangt. Über die Bedeutungsherkunft des Sanskritwortes »Mansa« für Fleisch sagte der große Kaurava-Führer BHISHMA zu König YUDHISTHIR, auch als DHARAMRAY, König der Religion, bekannt: »O YUDHISTHIR, er ißt mich; deshalb werde ich ihn essen —- wisse, daß dies die Herleitung der Bedeutung des Wortes Mansa (Fleisch) ist« (Mahabharat Anushasan Parva 116 —63). Die obige Deutung wird auch durch den Gesetzgeber MANU so bekräftigt, »daß Geschöpfe, deren Fleisch ich in dieser Welt esse, das meinige in der nächsten Welt essen würden«. Diese Deutung des Wortes »Mansa« (Fleisch) stammt von den Gelehrten (Manu Smriti 5—55). Es ist daher klar, daß das Tier, von dessen Fleisch ein Mensch ißt, seinerseits, als Vergeltung, in zukünftigen Zeiten zum Verzehrer seines Fleisches wird. Es folgt deshalb, daß derjenige, der einem Lebewesen Leid zufügt, im Laufe der Zeit zwangsläufig größeres Leid erfahren wird als logische Folge davon, daß man die Früchte seines Karmas erntet. Betrachtet man die natürlichen Nahrungsquellen und den unterschiedlichen Körperbau verschiedener Klassen der Tierwelt einschließlich des Menschen, so ist es einleuchtend, daß sie einzuteilen sind in: Fruchtesser, Krautesser und Fleischesser. Demgemäß ist der Mensch zusammen mit anderen Geschöpfen — die Fleischesser ausgenommen — dazu bestimmt, sich von Früchten und Erzeugnissen des Bodens zu ernähren, der dank des Menschen Geschicklichkeit und Erfindungsgabe nahrhaftes Getreide, Früchte, Gemüse, Hülsenfrüchte und Wurzeln hervorbringt. Es gibt auch in reichlicher Menge überzeugende wissenschaftliche und physiologische Beweise, daß der Mensch und andere Tiere Früchte- und Kräuteresser sind und bei solch einer ausgewogenen Ernährung physisch, geistig und seelisch gedeihen können. 244

Außerdem ist der Mensch als höher entwickeltes Wesen mit der Fähigkeit begabt, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Der Mensch ist nach dem Verständnis der Hindu-Philosophie weder Körper noch Geist, noch Seele allein, sondern eine harmonische Einheit aller drei. Seine Existenz und Entwicklung hängen daher von der Lebensführung ab, die alle drei Aspekte des Menschen harmonisch in einem Zustand zu erhalten vermag, der ihn befähigt, auf der Leiter der spirituellen Entwicklung aufzusteigen. Daher haben die Hinduschriften eindringlich geboten, Sinne, Leidenschaft und Erregungen in der Gewalt zu haben. Dies ist nur durch eine Art von Ernährung möglich, die dem Menschen hilft, diese Beherrschung auf physischer und geistiger Ebene auszuüben. Die Bhagvad Gita betont daher zu Recht die Wichtigkeit von sadvic Nahrung unter physischen und sittlichen Gesichtspunkten, um dem Menschen die Bändigung seiner dunklen (Tamsic) Eigenschaften und tierischen Neigungen zu ermöglichen. Die geistige Haltung des Menschen wird von der Nahrung, die er zu sich nimmt, beeinflußt. Nach der Hindu-Philosophie »wird die Geisteshaltung geformt durch die Art der Nahrung, die er zu sich nimmt, und die Methoden ihrer Beschaffung«. Im Falle der Fleischnahrung entwickelt der Verzehrer Eigenarten, Verhaltensweisen und Neigungen des Tieres, dessen Fleisch er zu sich nimmt. Deshalb finden wir oft, daß Personen menschliche Werte im Alltagsleben verlieren. Dies bedeutet nicht nur Verzögerung ihres geistigen Fortschritts, sondern auch, als Ergebnis ihrer inhumanen Handlungen, Selbstdegradierung auf dem Pfade der Höherentwicklung. Im Mahabharata sagt BHISMA: »Um die Folgen seines Handelns im vorausgegangenen Leben zu ernten, nimmt der Mensch in seinem nächsten Leben einen Leib an, so daß ihm selbst angetan werden kann, was er anderen angetan hatte« (Mahabharat, Anushasan Parva 116—37). Trotz klarer Gebote in religiösen Hindu-Schriften gegen das Töten von Tieren zur Nahrungsgewinnung oder unter irgendeinem anderen Vorwand ist es ein Irrtum, wenn auf Erwähnungen von Fleisch als Nahrung oder Verwendung von Fleisch bei Opferritualen Bezug genommen wird. Aber im Hinblick auf die Grundprinzipien, die von der Hindu-Philosophie angenommen werden, nämlich die Auffassung des Lebens als einer Einheit und der Ahimsa als der höchsten Religion, erscheinen solche Bezugnahmen, wenn sie buchstäblich genommen werden, als mit den Grundprinzipien unvereinbar. Die vedische Terminologie hat jedoch unterschiedliche Bedeutungen in verschiedenen Zusammenhängen. Daher legen sie einige der irregeleiteten Reformer eigennützig zur Verteidigung ihres irreligiösen Verhaltens aus. Tatsächlich mißbilligen HinduSchriften ganz klar den Verzehr von Fleisch und das Töten von Tieren und schreiben Enthaltsamkeit vor zum Erlangen physischen und seelischen Wohlergehens, wie im Manu Smriti (5—45—49) bemerkt wird: 245

»Diejenigen, die nach eigenem Belieben Geschöpfe töten, erlangen weder in diesem noch im folgenden Leben Glückseligkeit. Angesichts der Methoden, mit denen Fleisch gewonnen wird und Lebewesen Leiden durch qualvolles Töten zugefügt werden, sollte der Mensch das Fleischessen jeder Art aufgeben.« Die folgenden Auszüge aus dem Mahabharat weisen auf die durch Fleischgenuß verursachten Schäden hin: »Derjenige, welcher sein eigenes Fleisch durch den Genuß von Fleisch anderer Geschöpfe vermehren will, lebt in Not, gleichgültig in welcher Art er auch wiedergeboren werden mag.« »Der böse und der unwissende Mensch, der, selbst unter dem Vorwand, Götter zu verehren oder vedische Opfer zu verrichten, Gewaltakte durch Töten von Tieren begeht, fährt zur Hölle.« (Mahabharat Anushasan Parva 115—36—6 —47—116—11—13.) Es gibt auch zahlreiche Hinweise, die physische und geistige Vorteile des Sichenthaltens vom Töten und Fleischessen darstellen. Davon können einige, die weiter unten angeführt werden, mit Interesse gelesen werden. Manusmriti sagt: »Enthaltung vom Fleischessen bringt Verdienste hervor, die denen gleich sind, die durch die jährliche Erfüllung vedischer Opfer durch hundert Jahre hindurch erlangt werden« (Manu 5—5—3). Im Mahabharat wird festgestellt, daß »derjenige, der sich des Fleischgenusses enthält und Mitleid hat mit allen Geschöpfen, für sie zu einem Gegenstand des Schutzes wird und ihr Vertrauen gewinnt. Er quält nie ein Lebewesen in der Welt, noch wird er von ihnen gequält. Niemand kann ihn in Schrecken setzen, er lebt lange und stets in Gesundheit. Das durch Sichenthalten von Fleischgenuß erworbene Verdienst ist so groß, daß es die durch Schenken von Gold, Kühen oder Land gewonnenen Verdienste übertrifft (Mahabharat Anushasan Parva 115—30). Um die letzten Ziele der Religion, nämlich Befreiung von physischer Existenz und Vereinigung mit der ewigen Seele, glücklich zu erreichen, muß ein Zustand von Furchtlosigkeit, Abhaya, geschaffen werden. Eine Person, die anderen wehe tut, lenkt nur Verletzung durch andere auf sich und kann selten Abhaya, frei von Furcht, sein. Nur durch Ausübung von Ahimsa kann ein Mensch selbst Abhaya sein und auch andere Abhaya machen, frei von Furcht, daß ihnen Schade angetan werden könnte. Er wird tatsächlich der Erlöser und Beschützer aller Kreatur durch AhimsaAusübung und ist verkörpertes Mitleid. Es ist zu Recht im Mahabharat festgestellt worden, daß »derjenige, der alle Kreaturen der Welt von Furcht vor ihm befreit, selbst auch Abhaya, furchtlos, wird. Also gibt es kein höheres Dharma als die Übung des Sichenthaltens davon, Geschöpfen Schaden oder Leiden zuzufügen« (Mahabharat Shanti Parva 262—24—5—28—30). 246

So ist es klar, daß nach der Hindu-Philosophie Tiertötung oder der Genuß von Fleisch oder anderer mit Gewalt erlangter Erzeugnisse verboten ist. Unglücklicherweise jedoch haben die Zunahme des Materialismus und der Leidenschaft für vom Westen beeinflußtes Leben den Glauben vieler gebildeter Hindus erschüttert, die sich sehr zum Schaden ihres körperlichen und geistigen Wohlbefindens gedankenlos das Fleischessen angewöhnt haben. Glücklicherweise haben viele nachdenkliche Sandhaks im Westen die Gefahren des Fleischessens erkannt und werden die Hindus an ihr wertvolles Erbe erinnern. (Übersetzer: H. ROHNER) SWARAN

SINGH SANEHI:

Vegetarismus

im

Sikhismus

Die Religion (d. h. die Sikh-Religion, Der Übers.) besteht den alten Schriften zufolge aus zehn Dingen, und die Gewaltlosigkeit nimmt den zweiten Platz hierunter ein, das Erbarmen aber den dritten. Alle großen Meister (Gurus) der Sikh begünstigten den Vegetarismus. Guru NANAK, der Gründer, verdammte das Fleischessen sehr streng.1 »Kehlen lebendiger Geschöpfe werden durchschnitten, nur um des Geschmacks und der Gaumenlust willen«, sagte er während seiner Reise zu zwei mohammedanischen Heiligtümern namens Mekka und Medina, »das Opfer wird zweifellos Vergeltung üben und nach der nächsten Geburt der Mörder werden, und so wird der Kreis von Unterdrückung und Rache fortbestehen.« Wie konnte er Fleischessen empfehlen, während er selbst es nie praktizierte, sogar nicht einmal an Orten, wo weder Korn noch Feuer zu haben war? Im Gegenteil, er schrieb: »Wenn unsere Kleider mit Blut befleckt sind, erachten wir sie für gottlos. Wie können die Seelen jener rein sein, welche Blut trinken?« 2 Guru N A N A K nahm niemals an den Mahlzeiten in solchen Häusern teil, wo man Fleisch aß oder Alkohol trank. Einst begegnete er dem fleischessenden König DEVLOOTA. Durch seine göttliche Würde beeindruckt, bat der König den Guru NANAK, im Palast zu speisen. Aber der Guru wies das zurück mit den Worten: »Gib zuerst die Gewohnheit des Fleischessens auf, für die du so viel Leben vernichtest.«3 Darauf übernahm der König die Lebensgewohnheit eines Heiligen und wurde treuer Anhänger des Guru. Es gibt zahlreiche Verse im Heiligen Granth, 4 die die Sache des Vegetarismus unterstützen. Der berühmte Sänger KABIR kritisierte die religiösen Mörder mit der Frage: »Ihr erschlagt die Geschöpfe und sagt, ihr habt eine religiöse Handlung vollzogen, wie werdet ihr dann Ruhe definieren? Und wenn ihr euch weiter als Heilige betrachtet, wer wird der Schlächter sein?«6 Der gleiche Dichter schreibt wieder: »Sprecht nicht: Vedas und Katebas (die religiösen Bücher der Hindus und Mohammedaner) sind unwahr. Der ist der Lügner, welcher nicht über den Inhalt solcher Schriften nachdenkt. Wenn Ihr bekennt, daß Gott allgegenwärtig ist, warum tötet Ihr dann ein Huhn (in dem er ja ebenfalls gegenwärtig ist. D. Übers.)? 247

Guru AR J A N war der Ansicht, daß ein wahrer Verehrer des Geistes kein Fleisch essen darf, da es die Seele verunreinigt. Er sollte stattdessen von liebevollem, gütigem Herzen sein. »Der Mensch liest die Gesänge der Veden«, sagte er, »aber er schämt sich nicht, die Mitgeschöpfe zu schlachten.«® Die Gurus der Sikh sahen keinen Unterschied zwischen kleinen und großen Lebewesen. Sie sahen dieselbe Seele in der Ameise wie im Elefanten. Daher waren sie streng gegen das Töten oder Belästigen der Geschöpfe. Indem er diejenigen, die töten, Sünder nennt, schreibt Guru N A N A K in der Einleitung zum Heiligen Granth — Jaji genannt: Zahllos sind die, die des Verbrechens schuldig, Kehlen zu durchschneiden. Zahllos die Sünder, die ihr Leben in Sünde verbringen. 7 Es war sein Glaube, daß niemand der Freund des Sünders ist oder ihn unterstützt. Im Gegenteil, der Guru ist nur verantwortlich für denjenigen, der niemals die Toten verzehrt. 8 Guru AR J A N DEV, der fünfte, sagte, daß alle anderen Geschöpfe auf Erden zwar eine Art Untertanen des Menschen seien, der mit hoher Gewalt ausgestattet ist.9 Daß aber ein weiser König niemals die Kehlen unschuldiger Untertanen durchschneidet. An 68 Schreinen und anderen Pilgerstätten sind Waschungen zur Sündenreinigung in Indien wohlbekannt. Zum gleichen Zweck werden an solchen Stellen den Armen Gaben überreicht. Aber der fünfte Guru sagt, daß jemand, der sich der Geschöpfe Gottes erbarmt, dies alles gar nicht mehr zu tun brauche.10 So sehr hat der die Sündenvergebung in Verbindung gesetzt zum Erbarmen. Dieser Vers ist enthalten in jenen zwölf Versen, die am ersten Tag eines jeden Monats des indischen Kalenders in allen Sikh-Tempeln zur Verlesung gelangen. Der Mensch ist von Geburt Vegetarier. Gott bestimmt das Fleisch nur für die fleischverzehrenden Tiere. Die Geschichte der Sikh offenbart, daß der Vater von D U N I C H A N D von Lahore wenige Monate vor seinem Tode aus einem Nachbarhaus den Geruch von Fleisch vernahm. Er wünschte das Fleisch zu kosten, obwohl er es Zeit seines Lebens nie gekostet hatte. Als Folge hiervon wurde er nach seinem Tode in einen Wolf verwandelt. Er bekam nur Fleisch zu essen und sonst nichts.11 Dies alles rechtfertigt, daß Fleischnahrung nicht für menschliche Wesen gedacht ist. Die Armen (unter den Tieren, D. Ubers.) sind die einzigen Opfer der Fleischesser. Der berühmte Sikh-Autor BHAI GURDAS, der den Heiligen Granth kommentierte, schreibt, daß das Fleisch des Elefanten abgelehnt wird, da er ein stolzes Tier sei und dasjenige des Löwen ebenfalls, weil er seinerseits unüberwindbar ist. 248

Daher machen die Fleischesser die arme Ziege zu ihrem Opfer. (Vergl. auch in Europa die weit bessere Behandlung des Hundes gegenüber den anderen Tieren, D. Übers.) Zu ihren Gunsten sagt er, daß die Ziege doch niemanden stört und nichts als Gras oder dergleichen verzehrt. Dennoch wird sie geschlachtet und ihr Fleisch verzehrt. »Was aber wird mit jenen geschehen, welche die Kehlen der Unschuldigen durchschneiden zu ihrer Nahrung und Freude?« Was aber soll denn nun gegessen werden? Diese Frage mag jeder stellen. »Es ist unrecht, irgend etwas anderes zu nehmen als Korn und Wasser«, sagte Guru N A N A K in Mekka den Mohammedanern, als sie ihm dieselbe Frage stellten. Der Heilige Granth bestärkt diese Feststellung. Das bedeutet jedoch nicht, daß gar nichts anderes als Korn gegessen werden dürfte. Andere genießbare Dinge sollen in der Mahlzeit ebenfalls enthalten sein, wie es ja auch die Gurus selbst hielten. Die Milch wird dem Nektar gleichgesetzt sowohl in den Heiligen Schriften der Hindus wie auch der Sikhs. Warum sollte sie nicht genommen werden, wenn die Gurus selbst sie zu trinken pflegten? Es muß beachtet werden, daß die Sikh Gurus nur die Dinge ausschließen wollten, die dem menschlichen Körper und der menschlichen Seele schaden. »Etwas zu essen, was dem Körper schadet und Geist oder Seele verunreinigt, heißt, das Glück des Lebens zu verlieren«, sagte Guru NANAK. Und es ist heute von den Nahrungsmittelforschern bestätigt worden, daß Fleischnahrung der menschlichen Gesundheit manchen Schaden zufügt. Obwohl uns alles das keinen Zweifel läßt, daß die Gurus der Sikh den Vegetarismus förderten und selbst praktizierten, sind die Sikh heute als ein Volk von Fleischessern und Alkoholtrinkern bekannt, seit die Mehrheit von ihnen von ihren wahren und ursprünglichen Prinzipien, wie sie von den Gurus niedergelegt wurden, abgewichen ist. Diese Tendenz fand ihren Weg in den Sikhismus nach Guru GOBIND SINGH, dem zehnten Meister; und danach begann auch der Abstieg der Sikh. In einer solchen Zeit des Niedergangs trat Satguru RAM S I N G H auf, der 12. Meister. Er wünschte den Sikkhismus mit allen Kräften durch Wiederaufgreifen der ursprünglichen Lehren zu reformieren. Er begann seine Mission im April 1857 und vollendete sie nach kurzer Zeit. Wohl war es hier eine höchst wichtige Regel, nur diejenigen aufzunehmen, die allen Lastern einschließlich Fleischessen, Alkohol und Rauchen abschworen. Dennoch warb er binnen zehn Jahren 700 000 Anhänger für seine Idee. Das war die größte Zahl von Menschen, die in der Religionsgeschichte der Sikh je von einer einzelnen Person zum Glauben bekehrt wurden. Diese reformierte Glaubensrichtung wurde Namdhari genannt. Diese Leute waren strenge Vegetarier und Abstinente. Sie wurden so streng in ihrem täglichen Leben, daß sie niemals Nahrung von Außenstehenden annahmen, auch nicht von den Gefängnissen. Als viele von ihnen während der Befreiungsbewe249

gung des 19. Jahrh. nach den verschiedensten Stellen inner- und außerhalb Indiens deportiert wurden, wurden sie im Meer ertränkt wegen ihrer Weigerung, das gekochte Gefängnisessen anzunehmen. Sie ertrugen die Verfolgung, aber sie wurden nie ihren Prinzipien untreu. Dieselben Prinzipien bezüglich der Aufnahme und des täglichen Lebens werden noch gegenwärtig in der Gemeinde der Namdhari Sikh streng beachtet, unter der Führung von Seiner Heiligkeit SATGURU JAGJIT SINGH JI, der in Indien als Rinderzüchter und Tierfreund bekannt ist. Seinen Prinzipien gemäß nimmt er nie Anteil an Nahrung von Fleischessern, Trinkern, Rauchern, Ungläubigen usw. Seine Gemeinde, die Namdharis, sind die einzigen Sikhs, die man so streng vegetarisch vorfindet und die »bekennen, daß sie streng ethische Nachfolger von (Guru) GOVIND SINGH sind.12 Es gibt mehr als zwanzig Dörfer, die von solchen Familien bewohnt werden und die seinen Hauptsitz im nordindischen Staate Harya umgeben. Allerdings sind sie auch bis in alle fernen Winkel unseres Planeten verstreut. (Übersetzer: H. ROHNER) Anmerkungen: 1 Biographie des Guru N A N A K . 2 Heiliger Granth, S. 140. 3 Guru Pratap Suraj. 4 Der Heilige Granth ist die einzige religiöse Schrift, die von den Propheten selbst verfaßt wurde (von Gurus und Sängern). Er ist das Heilige Buch der Sikh. 5 Hl. Granth, S. 1103. 6 Hl. Granth, S. 201. 7 Hl. Granth, S. 4. 8 Hl. Granth, S. 141. 9 Hl. Granth, S. 374. 10 Hl. Granth, S. 136. 11 Biogr. Guru N A N A K 12 Encyclopaedia Britannica, Ausgabe 1965, S. 647—649.

Ahimsa-Gebot Alle Heiligen und Ehrwürdigen in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft, sie alle sagen s o , künden s o und erklären s o : Keinerlei Lebewesen, keinerlei Geschöpfe, keinerlei beseelte Dinge, keinerlei Wesen darf man töten, noch mißhandeln, noch beschimpfen, noch quälen, noch verfolgen. Das ist das reine, ewige, beständige Religionsverbot, das von den Weisen, die die Welt verstehen, verkündet worden ist. MAHAVIRA,

250

Gründer

der

Jaina-Sektc,

lebte

vor BUDDHA.

BUDDHISMUS

UND

VEGETARISMUS

So sprach der BUDDHA: »Wer vollbewußt unermeßliche Güte pflegt, eingedenk der Hinfälligkeit alles Sterblichen, dem lösen sich die irdischen Fesseln. Wer klaren Sinnes auch nur für ein lebendes Wesen Güte hegt, der ist schon dadurch ein Gerechter. Der Edle aber, der sich aller Wesen in seinem Herzen erbarmt, ist reich an Verdienst. Jene weisen Herrscher, die sich den Erdkreis mit ihren zahllosen Wesen unterworfen hatten und dann, Opfer darbringend, von Land zu Land zogen, waren armselig, verglichen mit einem Gemüt, das von Güte gegen alle Wesen erfüllt ist. Wer nicht tötet noch töten läßt, nicht Gewalt tut noch Gewalt tun läßt, wer gegen alle Wesen gütig gesinnt ist, hat keinerlei Feindschaft zu fürchten.« ITIVUTTAKA

Das METTASUTTAM — die Lehrrede des BUDDHA von der Güte Aus Sutta-Nipata 8. Verse 145—150

Mög' Sicherheit und Glück den Wesen allen Beschieden sein und Freudigkeit des Herzens. Was es auch gibt an lebenden Geschöpfen, Ob schwach sie oder stark, ob lang, ob groß, Ob mittlerer Gestalt, ob kurz, klein, breit, Ob sichtbar oder unsichtbar sie sind, Ob weit sie leben oder nahob sie Geboren sind, ob der Geburt sie harren, Glückselig mögen alle Wesen sein! Es täusche keiner einen andern, keiner Verachte einen andern je, auch wünsche Aus Zorn und Rachsucht keiner andern Böses. Gleich einer Mutter, die ihr eig'nes Kind, Ihr einz'ges Kind bewacht, indem ihr Leben Sie wagt, so hege jeder ohne Schranken Wohlwollen im Gemüt für alle Wesen. In euren Herzen pfleget freundliche Gesinnung maßlos für die ganze Welt, Nach oben, unten, und nach den vier Winden, Ohn' Hindernis, Feindseligkeit und Haß. Übersetzt

von

Dr.

ARTHUR PFUNGST

251

SWARAN SINGH SANEHI:

Lehrte BUDDHA

die

Gewalt?

Die Buddhisten übertreffen an Zahl die Anhänger aller anderen Religionen der Welt. Eine große Anzahl von ihnen frönt heute der Gewalt, obwohl der Herr (d. h. BUDDHA, der Ubers.) die Verkörperung der Liebe, des Erbarmens, des Friedens und der Gewaltlosigkeit war. Viele seiner Anhänger sind in den letzten 2500 Jahren hiervon abgewichen und zögern heute nicht einmal, das kostbare menschliche Blut zu vergießen. Fleischessen ist auch bei vielen Buddhisten Mode geworden. Unzweifelhaft war der Herr BUDDHA strengstens gegen Gewalt in Worten, Werken und Gedanken. Schon während seiner Kindheit war es ihm, wie wenn ein Eisen seine Seele durchbohrte, wenn er irgendeinen Vogel antraf, der von jemandem verletzt worden war. Aus Liebe und Erbarmen nahm er solche Geschöpfe zur Wundbehandlung mit. Später, als Sidhartha zum BUDDHA wurde, blühten diese und andere Eigenschaften in ihr voll auf, und die Gewaltlosigkeit stand in seiner Lehre und in seinen Predigten an oberster Stelle. Welches war die Lehre BUDDHAs? Lehrte er die Welt eine höchst ekelhafte Gewaltlosigkeit? Nein. »Enthaltung von allem Bösen, gute Taten und die Reinigung des Geistes«, lautete seine Lehre. »Töten, meine Freunde«, erklärte er, »ist böse«. Daher legte er bei seinen Anhängern großen Nachdruck darauf und bestärkte sie darin, zehn böse Taten zu vermeiden. Und »tötet nicht, habt Achtung vor dem Leben«, stand allem anderen voran. Er, der den tadelnswerten Akt des Tötens um des eigenen Glücksstrebens willen verdammte, sagte: »Indem er anderen Schmerz zufügt, wird derjenige, der sein Glück wünscht, nicht vom Haß erlöst, er verstrickt sich selbst vielmehr in Schlingpflanzen des Hasses.« Der Herr war strengstens gegen das Schlachten zu irgendwelchen Zwecken. In dieser Beziehung ging er so weit, daß er den Ausschluß dessen, der getötet hatte, aus der Gemeinschaft vorschlug. »Wer lebendige Geschöpfe verletzt und schädigt bar allen Mitleids für das Lebendige, den laßt als Ausgestoßenen bekannt sein.« Das Töten wurde damals wirklich als eine Sünde betrachtet. Den Schriften auf den Säulen des Königs ASHOKA zufolge bereute der Herrscher, um seiner Ernährung willen getötet zu haben, und erflehte Vergebung für alles das beim Herrn. Er verbot jede Art Schlachten in seinem Reich. Die Tieropfer waren in jener Zeit ebenfalls etwas, wovon alle überzeugt waren. Der Herr BUDDHA verwarf das Opfer im Namen der Religion schärfstens. Es wird berichtet, daß der König von Kosala ein Yajna vollziehen sollte, bei dem er 500 Tiere jeder Art opfern mußte. Stiere, junge Kühe, Ziegen usw. wurden an Pfähle angekettet. Als die Mönche dem Herrn die ganze Angelegenheit berichteten, erklärte er, daß solche Opfer keinerlei Segen bringen, und er verbot gleichzeitig allen Adligen die Teilnahme an diesem Ritus. 252

»Wie könnte die Vernichtung eines Lebens ein anderes glücklich machen?« Er meinte: »Jemand, der Leben zerstört, lebt in Gram.« Nicht nur das. Er geht weiter. »Wer in die Vernichtung lebender Wesen verstrickt ist, wird bedrängt wie ein Haus in Flammen. Nach dem Tode wird er in der Hölle wiedergeboren.« Er verflucht den, der tötet. Dieser »bekommt schmerzhafte Krankheiten des Körpers, wie etwa an Auge oder Leib. Er wird von Unfällen, Tod oder Geisteskrankheit betroffen.« Tatsächlich war BUDDHA gegen alles, was zu seiner Herstellung irgendwelche Gewaltanwendung erforderte. Es wird berichtet, daß einige Leute Kokons der Seidenraupe kochten. Die Mönche erbaten sich einige von ihnen. »Wir töten diese Würmer«, antworteten sie, »um unseres Lebensunterhalts willen, für uns und unsere Familien. Das ist ein großes Unglück für uns. Aber wie konnten die Mönche — die Jünger des Herrn — so etwas tun?« Als die Sache zu BUDDHA gelangte, erließ er die Regel: »Wenn ein Mönch Tücher aus Seide machen sollte oder solche mit Seide gemischt, oder sie sich machen lassen sollte, so sind solche Dinge verboten.« Fleischessen wird mit besonderem Nachdruck den Religionsanhängern und der Geistlichkeit verboten, da Fleisch ein unfrommes Nahrungsmittel ist und die Seele verunreinigt. Im Gegenteil benutzt die Geistlichkeit nur »Satvik«-Nahrung, welche der Seele Ruhe verleiht. Man muß wissen, daß der Herr selbst täglich nur einmal zu speisen pflegte, und zwar am Mittag. Die Nahrung »bestand aus Reis mit Curry und danach nichts Festes mehr, außer vielleicht ein wenig Haferschleim zum Abendessen.« Unglücklicherweise sieht eine große Anzahl von Buddhisten keinen Unterschied zwischen Erbarmen und Grausamkeit, zwischen Liebe und Haß, Gewaltlosigkeit und Gewaltanwendung. Um der Neigung ihres Gaumens willen töten sie oder sind für das Töten verantwortlich. Die meisten von ihnen schämen sich nicht einmal, das kostbare Blut des Menschen zu vergießen und verursachen schlimmere Kriege als denjenigen von Kallingha, welcher von Kaiser ASHOKA geführt wurde, ehe er sich dem Buddhismus zuwandte. Um sich selbst zu rechtfertigen, haben solche fleischessenden Buddhisten die Mär verbreitet, daß der Herr ebenfalls Schweinefleisch gekostet habe, als er im Hause seines Jüngers C H A N D A weilte, ehe er — BUDDHA — den letzten Atemzug tat. Die Wahrheit hingegen liegt woanders. Ein wahrer Prediger ist derjenige, der seine Lehren zuerst bei sich selbst anwendet. BUDDHA war ein Mann von festen Grundsätzen und war rein und echt in seinem tiefsten Inneren. Wie hätte er von seinem Jünger Fleischgerichte erbitten können und dann noch in Gegenwart von so vielen anderen Anhängern, denen er selbst Gewaltlosigkeit gepredigt hatte? Er war ein allbekannter Prediger der Gewaltlosigkeit. Nur solche Personen wären von ihm als Jünger zugelassen worden, die zuerst alles Böse aufzugeben geschworen hatten. Gehörte C H A N D A nicht zu dieser Kategorie? Wie konnte 253

er sowohl einer, der tötet und gleichzeitig Buddhist sein? Im allgemeinen weiß der Jünger sehr gut, wie sein Herr und Meister sein tägliches Leben führt und welches seine Grundbedürfnisse sind. Der Herr aber weiß viel mehr über das geistliche Leben seines Jüngers. H a t denn C H A N D A tatsächlich nicht einmal das Grundprinzip der Gewaltlosigkeit gekannt, welches sein Herr seit seiner Erleuchtung laufend gepredigt hatte? Wenn nicht oder wenn er erst Novize war, dann ist es unmöglich zu glauben, daß eine so prinzipientreue Persönlichkeit wie der Herr bei einem Anhänger geblieben wäre, den er selbst nicht sehr gut kannte. Die Auswahl von CHANDAs Haus als seinen Aufenthaltsort rechtfertigt die Annahme, daß weder dieser Jünger getötet hatte noch erst ein Novize war, noch aber der Herr unwissend. Tatsächlich aber hat der Herr niemals Fleischgerichte gekostet, auch nicht einmal in CHANDAs Haus. Das, was ihm dort angeboten wurde, war eine Bodenfrucht, welche im Sanskrit Shukarmadhvam genannt wird. Einige Leute haben das für Schweinefleisch gehalten, da »shukar« allgemein Schwein bedeutet, aber die Geisteswissenschaftler haben über diese Sache ernsthafter nachgedacht und haben gefunden, daß es eine Art Frucht ist, welche im Boden gezogen wird und von Schweinen bevorzugt wird. Sie kann in vielen Formen angewendet werden, und es kann sein, daß CHANDA sie kochte und mit Milch mischte, um sie schmackhaft zu machen, daß der Herr sie so sehr schätzte. Wir können im Lichte von BUDDHAs eigenen Lehren und unter Bezug auf das oben Angeführte leicht beweisen, daß der Herr — welcher selbst in seiner Predigt gesagt hatte, daß »Gesegnet sind die, welche ihren Lebensunterhalt gewinnen in einer Art, welche keinem lebendigen Wesen Verletzung oder Schaden bringt« — daß dieser Herr keine Fleischnahrung gekostet haben kann, die ja niemals gewonnen wird ohne Gewalt zu begehen, welche er ja gerade ablehnte. Er unterstützte niemals die Gewaltanwendung des Fleischessens, sondern sein Leben war im Gegenteil der Liebe, dem Mitleid, dem Erbarmen, der Zuneigung, der Barmherzigkeit und der Gewaltlosigkeit gewidmet.

ELISABETH

BEGOIHN:

Mazdaznan

und

Vegetarismus

Mazdaznan ist ein Sammelbegriff der Meisterlehren, die ihren Ursprung in den Offenbarungen der hl. AINYAHITA (ca. 10 000 v. Chr.) und in den Weisheitslehren ZARATHUSTRAs (ca. 6000 v. Chr.) haben. Sie ist eine Reinheitslehre, die Körper, Seele und Geist erfaßt. Der Fleisch»Genuß« wird abgelehnt, weil er den Körper verunreinige und der geistigen Entwicklung hemmend im Wege stehe. ZARATHUSTRA, königlicher Herkunft, führte ein einfaches und bescheidenes Leben, um ein Beispiel zu geben, daß die Menschen zu einem naturgemäßen Leben zurückkehren müßten. Der Mensch hätte die Aufgabe, »die Wüsten in ein Paradies zu verwandeln«. 254

Hierzu wurde durch ZARATHUSTRA das Weideland in Acker umgewandelt. Der Weizen ist ein Veredlungsergebnis ZARATHUSTRAs. Es wurden blutige Tieropfer abgeschafft. Die zarathustrischen Lehren finden wir bei den Neuplatonikern wieder (SOKRATES, PLATO, ARISTOTELES, AMMONIUS SAKKAS, PLOTINUS, PYTHAGORAS, PORPHYRIUS u. a.). PORPHYRIUS (ca. 232 bis ca. 301 n. Chr.) warnte vor der Gier beim Essen und Trinken, ebenso wie vor dem Fleischgenuß. Die Gier verwandle die Speisen in Gift, das auf die Seele eher tödlich wirke als Arzneimittelgifte auf den Körper. Der Fleischgenuß reize den Geschlechtstrieb an und verleite zu Gewalttätigkeiten. Soweit die Aussagen des PORPHYRIUS. Dr. O. Z. A. HANISCH, Zögling zarathustrischer Mönche eines tibetanischen Klosters, hat das Verdienst, diese Lehre Ende des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nach dem Westen und in eine für den westlichen Menschen verständliche Form gebracht zu haben. Er hatte den Auftrag, die Menschheit auf die alten unverfälschten Reinheitslehren und Selbstentwicklungsmöglichkeiten aufmerksam zu machen. Er äußerte sich zur Fleischfrage folgendermaßen: »Der Leitsatz des Avesta: 1 >Reinheit ist das höchste Gut!Abfall< nur vorübergehend, doch sogar, wenn dies nicht der Fall ist, gibt es keinen Grund, den Betreffenden zu verurteilen. Auch soll man sich einmal fragen, warum man so gern will, daß das Kind in die Fußstapfen der Eltern tritt: ob da nicht etwa eine innere Unzufriedenheit bei den Eltern vorliegt und man darum dasjenige, was man selbst nicht erreichen konnte, in seinen Kindern verwirklichen will? Doch auch, wenn man wirklich in Unfrieden ist, weil man erfährt, daß das Kind sein geistiges Erbe verschleudert, auch dann noch soll man zurücktreten und dem Kinde die Freiheit lassen, die es für seine Aufgabe hier und jetzt braucht: Selbstentfaltung! Es gibt Eltern, die eigentlich ein zu großes Verantwortungsgefühl haben: sie fühlen sich verpflichtet, alle wirklichen oder vermeintlichen Fehler, die das Kind macht, zu korrigieren. Wenn aber die Kinder erwachsen sind, so ist die Aufgabe der Eltern zu Ende. Das einzige, was sie dann noch tun können, ist, sidi mit den Kindern auszusprechen, wenn diese selbst danach verlangen, oder höchstens: sie dazu anhalten, kritisch sich selbst gegenüber zu stehen. Eltern sollten bedenken, daß es auf anderen Lebensgebieten genau so geht. Denken Sie z. B. an die Religion. Es gibt zahllose Eltern, die enttäuscht oder schlimmer sind, weil ihre Kinder die Lebensanschauung, worin sie erzogen wurden, fahren lassen. Das ist oft schwierig für die Eltern, doch statt sich dadurch niederdrücken zu lassen, sollten sie bedenken, daß wie fein auch Gemeinsamkeit der Ideale sein mag, die Echtheit entscheidend ist: ein feines und 267

trautes Gefühl der Verbundenheit, das nur auf Schein beruht, ist wertlos und steht der weiteren Entwicklung nur im Wege. Es ist gut, wenn Eltern sich dessen bewußt sind, daß sie nicht für alles, was ihre Kinder betrifft, verantwortlich sind. Wenn der Ausgangspunkt gut ist, d. h., wenn sie ihren Kindern Entfaltungsmöglichkeiten gegeben haben, können sie zufrieden sein, auch wenn das Ergebnis anders ist als sie es sich vorgestellt hatten. Und warum sollten sie sich deswegen bedrückt fühlen? Es ist keine Endstation. Für niemand. Wir sind nicht fertig. Das Leben geht weiter; das Leben ist ewig in Bewegung, es gibt Tiefpunkte und Höhenpunkte; wir stehen immer vor Überraschungen. Nun zu unserem Thema zurück! Erziehung zum Vegetarismus? Selbstverständlich! Die Kinder sollen wissen, daß man ohne Fleisch gut und gesund leben kann; daß es eine gute Lebenshaltung ist, Ehrfurcht vor der Schöpfung zu haben, und wo irgendmöglich Leiden zu vermeiden, nicht nur Menschen gegenüber, sondern auch in bezug auf die Tiere. Wenn man ihnen das vorlebt, gibt man ihnen ein Geschenk fürs Leben mit. Und weiter bedenke man, daß erziehen heißt: das Kind begleiten und dann loslassen. Loslassen bezüglich erzieherischer Begleitung, doch die Liebe zum Kinde, die Treue, bleibt immer. Unsere Kinder sind mit ihren Möglichkeiten in die Welt gestellt; sie sollen die Freiheit haben, diese auszuwerten und dabei Fehler zu machen. Sie müssen ihren eigenen Weg gehen. Ich hörte einmal, wie ein weiser Mensch zu beunruhigten Eltern sagte: Vielleicht ist Euer Kind Gott näher als Ihr glaubt. (Übersetzung: Dr. T. Melder) WILHELM BROCKHAUS:

Vegetarismus in Erziehung und Unterricht

Erziehung sollte das Bemühen sein, zu selbständigem Denken zu führen und zur Selbstbestimmung zu befähigen. Dies ist der unverzichtbare Obersatz aller Erziehung! Alle Erziehungs- und Bildungsarbeit muß daher offen sein und bleiben, darf keine dogmatische Übernahmen von Erkenntnissen und Lehren verlangen. Am stärksten erweist sich hier im allgemeinen der Erzieher, der das Vertrauen hat, daß unbefangenes Denken doch in wesentlichen Lebensfragen zur Gemeinsamkeit führt. Die stillschweigend erhoffte Gemeinsamkeit bezieht sich auf Toleranz, auf die Einsicht, daß der Verkehr der Menschen untereinander rücksichtsvoll und dem Gebot der Gerechtigkeit unterworfen sein soll. Wenn das vegetarische Ideal zur Menschlichkeit gehört, müssen wir wohl fordern, daß es in Erziehung und Unterricht auch in den Blick unserer Kinder gerät. Es kann sich in der demokratischen Schule unserer pluralistischen Gesell268

schafl nicht um Aufnahme eines zusätzlichen Bekenntnisses in den Kanon der Erziehungsziele handeln. Zu fragen ist aber, welche Einsichten des Vegetarismus Anspruch darauf erheben können, in das Gespräch zu kommen; das wären materielle Anregungen. Darüber hinaus ist dann zu fragen, in welcher Form solche Anregungen angebracht sind. Das Ziel ist, unsere Kinder zu der Einsicht zu führen, daß die vegetarische Lebensweise tierische Nahrung meidet 1. aus Rücksicht auf die Tiere und 2. auch aus gesundheitlichen Gründen. Beide Argumente werden in unserer und der Kinder Umwelt überwiegend verspottet und abgelehnt. Darüber hinaus geht es um den Respekt vor Tieren überhaupt, überall, wo wir mit Tieren zu tun haben. Die Gewöhnung an eine vegetarische Kostform in der Familie mag unseren Kindern die Sicherheit bringen, daß Vegetarismus gut möglich ist. "Wir und auch unsere Kinder können aber nicht darüber hinwegsehen, daß es in unserer Umwelt auch Vegetarier gibt, die nicht optimal gesund sind, und andererseits, daß es gesunde und leistungsfähige Omnivoren gibt. Hierdurch können Kinder verunsichert werden! Die ethische Seite, die Tierliebe, die Ehrfurcht vor dem Leben, kann man Kindern in erster Linie nur vorleben; das Beispiel des Verhaltens im Alltag könnte sie ahnen lassen, daß es etwas mehr im Leben gibt als die unmittelbare Befriedigung nur der eigenen Interessen. Die intellektuelle Begründung erfolgt am besten erst dann, wenn Kinder von selbst danach fragen. Inhaltlich sollte in der Regel nur die Frage beantwortet werden und einfach und anschaulich auch das Recht der Tiere, den Anspruch auf ein Leben unter ihnen gemäßen Bedingungen dargetan werden. Wer zu früh seinen Kindern große Theorien oder Weltanschauungen einflößt, ohne daß sie die Kraft selbständiger Verarbeitung haben, fördert Dogmatismus oder läuft Gefahr, daß bei Selbständigwerden die Kinder das Oktroyierte rücksichtslos abwerfen .. . Schule und Unterricht können sachlich vieles vorbereiten und so schon die Haltung mit beeinflussen. Eltern und Lehrer können sich nur wünschen, das Vertrauen ihrer Kinder auch in solchen Wertungsfragen zu haben und ihnen so eine gewisse Sicherheit geben zu können. Wir selbst aber können den Wunsch nach diesem Vertrauen nur herleiten von unserem eigenen Vertrauen in die Erkenntnis vom Recht der Kreatur. Kinder zeigen zuweilen mehr oder weniger starke Tendenzen, Tiere zu quälen. Wir wissen nicht sicher, wie sie zu erklären sind, ob sie angeboren sind oder auf Umwelteinflüsse zurückgehen; einiges wird dazu in dem Beitrag zur Psychologie gesagt. Es ist damit zu rechnen, daß Selbstbehauptungsstreben, Geltungs- und Herrschaftsbedürfnis, Neugier und in der Persönlichkeit liegende Aggressionen feine Impulse zum Respekt vor den Tieren überdecken. Da die tiefste Wurzel im einzelnen Falle nicht oder nicht immer sicher erkennbar ist, 269

muß der Erzieher wohl in jedem Falle mindestens zunächst so handeln, als sei durch Erziehung ein Erfolg zu erreichen. Hier ist zu fragen, ob es aus unserer Sicht material Blickrichtungen und Kenntnisse gibt, von denen wir uns wünschen, daß sie in Erziehung und Unterricht einmal auftreten, ohne jedoch mehr an Nötigung zu fordern, als diese Impulse, die in jenen Anregungen liegen, in sich selbst tragen. Der Vegetarismus bezieht in umfassender "Weise das Lebendige, insbesondere die Tiere, in seine Weltansicht ein. Diese Betrachtungsweise muß einmal bekannt gemacht werden. Der konventionellen Pädagogik ist da wohl ein grandioses Ubersehen der Tiere anzulasten. Die Welle der »Ehrfurcht vor dem Leben« im Gefolge der Verehrung ALBERT SCHWEITZERS ist verebbt; sie hat episodisch nur im Schulleben eine gewisse Rolle gespielt, nicht in der theoretischen Pädagogik. Ihr fehlt hier ein Baustein im Fundament. Die Nähe alles Lebendigen zueinander und das Abgehobensein vom Nichtlebendigen verlangt gebieterisch seine Berücksichtigung in der Pädagogik. Es geht hier um die Einsicht, daß es Sachen und Lebewesen gibt. Lebewesen verdienen nach dem Grade ihrer Lebendigkeit, ihrer Beseelung, ihrer Personhaftigkeit, Rücksicht. Lebendiges ist nicht machbar wie die Sachen der Zivilisation, die in unserer Umwelt so sehr dominieren. Wenn hier Erziehung und Bildung versagen, ist ein weites Feld für schlimme Fehlverhalten frei, auf ethischem Gebiet wie auch in Fragen des Umweltschutzes. Der Unterricht hat hinzuführen zum nicht-nutzungsinteressierten Beobachten von Naturgegebenheiten. Es kommt darauf an, Konflikte des Menschen mit den Tieren zu sehen und zu erörtern, nicht immer aber, Lösungen zu finden oder zu oktroyieren. Es ist viel erreicht, wenn es gelingt, die vegetarische Fragestellung ins Gespräch zu bringen. Mehr ist der Schule nicht zuzumuten. Wohl darf verlangt werden, daß, wenn über Vegetarismus gesprochen wird, eine zutreffende Darstellung gegeben und der Begriff richtig erläutert wird, gleichgültig, ob der Lehrer diese Sache billigt oder nicht. Es gehört zur Bildung, daß man weiß, woher unser Brot kommt, wie es gebacken wird — ein klassisches Unterrichtsthema. Wissen unsere Kinder auch vom Inferno der Schlachthöfe mitten in unserem friedlichen Wohn- und Arbeitsland? Kriegs- und Jagdfilme dürfen vom Lehrer gewagt werden; darf ein Lehrer seine Schüler auch auf den in Betrieb befindlichen Schlachthof führen, wo etwas so Alltägliches wie unser Fleisch produziert wird? Der konkrete Fragenkatalog für den Unterricht ergibt sich aus den Erörterungen dieses Buches. Hier seien nur einige wichtige Themen hervorgehoben: 1 Das Recht der Tiere auf ihr Leben nach ihren angeborenen Bedürfnissen, Zucht und Tiertötung zu Nahrungszwecken, 270

Tiernutzung zu Unterhaltungs- und Kleidungszwecken (Tierkämpfe, Pelze, Leder), Tierversuche der "Wissenschaft, Gefangenhaltung, Tiergärten, Die Jagd. Die Lesebücher unserer Schulen sind wie eh und je meist allzu frei von Überlegungen und Bedenken in unserem Sinne. Hier findet durch naive, fröhliche und unbekümmerte Jagdverherrlichung in Bericht, Gedicht und Lied eine unreflektierte, kaum vertretbare Vorprogrammierung statt. Die Frage der ungewollten Vorprogrammierung unserer Kinder durch Spielzeuge aller Art muß untersucht werden, wozu auch der Umgang mit lebendigen Tieren gehört. »Ich schätze Tiere mehr, die noch ein wenig nach Feld und Wald riechen, die noch ihr natürliches Verhalten zeigen und nicht mit Degenerationserscheinungen behaftet sind. Und so hübsch Goldhamster aussehen, eines sind sie gewiß nicht: ein Spielzeug für Kinder! Man hat sie aber dazu gemacht und züchtet sie dafür! Kein Tier darf zum Spielzeug degradiert werden, und sei es noch so herzig.« 2 Nun ist nicht alle Tierhaltung durch Kinder Spielerei. Der rechte Umgang mit lebendigen Tieren ist allerdings eine verantwortungsvolle Erziehungsaufgabe. Angemessener Aufenthaltsort, richtige Ernährung und Pflege, zuweilen eine gewisse Dressur — alle diese Gesichtspunkte müssen gründlich bedacht werden, bevor man Kindern Tiere anvertraut. Dabei verlangt jedes Tier eine andere, ihm eigentümliche Behandlung. 3

Für den Lehrer einer öffentlichen Schule kann es kein Recht geben, seine subjektive Ansicht beliebig zur Grundlage des Unterrichts zu machen. Aber: Es ist etwas anderes als bloße subjektive Meinungsäußerung, wenn der Lehrer Gedanken, die in der Wissenschaft, in der Philosophie und den Religionen längst aufgeworfen und diskutiert wurden, als Frage und Problem an geeigneter Stelle und in didaktisch vertretbarer Form an seine Schüler heranbringt. Werbung für eine Richtung ist nicht annehmbar. Bei Gedanken und Stoffen für den Unterricht sollten nicht ihre Anerkennung in der Welt, sondern ihr geistiges und ethisches Gewidit entscheiden. Alles andere ist fragwürdig. Die Pädagogik unserer Zeit, die sich in so manchen rein theoretischen wie auch empirischen Feinheiten umfänglich verliert, hat die Fragestellung des Vegetarismus noch nicht einmal bemerkt. Grausamkeit, von der auch der Mensch der Hochzivilisation nicht frei ist, zu bekämpfen, werden einige Bemühungen unternommen. Daß die tägliche Tiertötung und das Fleischessen mit eine wesentliche Wurzel der Grausamkeiten sein könnte, ist der Wissenschaft der hohen Schulen ebenso verborgen geblieben. Für die Praxis des Schullebens, in dem auch Verpflegung geboten wird, müssen wir Rücksicht auf vegetarisch lebende Kinder verlangen; Gespräche der Eltern mit Lehrern und Küchenleitung lassen meist eine Lösung finden. Daß es Schu271

len mit rein vegetarischer Verpflegung gibt, wie z. B. in der ST. CHRISTOPHER SCHOOL (Letchworth/Herts., England), ist erfreulich. Das konkurrierende Angebot vegetarischer Kostformen in sonst auf Gemischtkost eingestellten Gemeinschaften wäre sehr zu wünschen. Oberzeugte Eltern sehen ihr Erziehungsziel mit Recht bestimmter und konkreter als die öffentliche Schule es darf. Eltern dürfen auch beim Kinde versuchen, ohne dogmatischen Druck, den Vegetarismus aufzubauen, und sie dürfen beim Kinde auch den Aufbau der Verteidigung des Vegetarismus in der Welt mitbedenken und vorsichtige Empfehlungen geben, vielleicht auch gelegentlich eine Anschauung von Grausamkeit (Schlachthof) vermitteln, wo die Schule versagt. Anmerkungen: 1 In meiner Schrift »Biologischer Unterricht in unserer Zeit« (Essen 1968) sind Unterrichtsfragen etwas ausführlicher dargestellt. 2 OTTO V O N FRISCH: Alle Taschen voller Tiere. Berlin 1966. Konsequente Tierliebe ist eine schwierige Sache, das zeigt sich auch bei diesem Autor, der Zoologe ist. »Der alte Bergbauer liebte seine Vögel, obgleich er sie fing und v e r k a u f t e . . . « (S. 45.) »Die nächtlichen Störungen ließen erst nach, als ich einigen der aufdringlichen Kater mit einem Luftgewehr eins auf das Hinterteil gebrannt h a t t e . . . « (S. 64.) 3 Der Bund gegen den Mißbrauch der Tiere e. V., 8 München 40, Viktor-Scheffel-Str. 15, hat ein gutes Flugblatt von Bruno Schulz: »Tiere sind kein Kinderspielzeug!« herausgebracht.

GERARDINA L. VAN DALFSEN: Zur Psychologie des Vegetarismus, des Fleischessens und des Vegetariers Man kann sich durch Erziehung des Fleischessens enthalten oder dasselbe tun, um sich bestimmten Menschen gegenüber angenehm zu machen; man kann es tun aus Sparsamkeit oder der Gesundheit wegen und aus vielen anderen Gründen mehr, aber aus den gleichen Gründen könnte man ein Fleischesser sein. Dies sind also keine wesentlichen Gründe für den Vegetarismus. Der Vegetarier im engeren Sinne hat den Vegetarismus aus tieferen Gründen gewählt. Ja, es kann geschehen, daß jemand aus tiefster Unbewußtheit lange Zeit oder sein ganzes Leben weiter Fleisch ißt, während tiefere Gründe zum Vegetarismus dennoch in seinem Herzen sind. Und gelegentlich könnten diese Gründe sich in irgend einer Weise geltend machen. Dieses möchte ich verdeutlichen durch einige kleine Beobachtungen aus meiner Praxis als Psychologin an einer therapeutischen Anstalt für erwachsene neurotische Deliquenten. Ich hatte dabei auch das Personal, das sich für diese Anstalt bewarb, zu testen. Zur Anstalt gehörte ein Bauernhof, auf dem die Deliquenten, wenn sie dazu veranlagt waren, mitarbeiten konnten. 272

Als Leiter dieser Arbeit suchte man einen tüchtigen Landwirt, der zugleich auch genügend gefestigt war, mit den Deliqrenten in angemessener Weise umzugehen. Dazu wurden drei Bewerber psychologisch getestet. Ich glaube nicht, daß es viele Psychologen gibt, die tüchtige, gesunde Bauern, die ihre eigene Arbeit weiterführen wollen, zum Testen bekommen. Deshalb ist das Ergebnis meiner Untersuchung, obgleich es nur eine kleine Zahl von Bauern betrifft, nicht ohne Bedeutung. Es sollten natürlich größere Zahlen von Bauern untersucht werden. Im großen und ganzen machten alle drei ihren Test gut. Einer wurde ausgewählt; und dieser hat sich viele Jahre gut geführt. Sonderbar aber war, daß alle drei nach dem sogenannten Rorschach-Test den Eindruck einer schweren Neurose (seelische Erkrankung, hervorgerufen durch seelische Schwierigkeiten, meist in der frühen Kindheit) machten. Der Rorschach-Test wertet die subjektive Wahrnehmung aus, die die zu testenden Personen bei Betrachtung sorgfältig selektierter unwillkürlicher Tintenklecksereien äußern, um so tiefgründige Gefühle zu erkennen. Alle drei sahen in verschiedenen Tintenklecksen Blut und wieder Blut! Von den Klecksen waren drei schwarz und rot und drei vielfarbig. Und wenn es keine rote Farbe in den Figuren gab, sahen sie zumeist Teile von Skeletten! Deutungsversuch: Die Bauern kamen als einfache Leute in eine Anstalt mit Ärzten (Psychiatern) und dachten zuerst an Krankheit und Anatomie. Der Test anderer einfacher Leute der gleichen Anstalt, zum Beispiel der Köche, ergab aber nicht das gleiche Rorschachbild! Warum hatten gerade die Bauern die blutige Vorstellung?! Meine Hypothese ist, daß Bauern mit lebendigen Tieren umgehen, sie pflegen, sie persönlich kennenlernen, aber auch gleichzeitig wissen, daß diese Tiere, sobald die Ökonomie das erfordert, verkauft und dann getötet werden. Zuweilen müssen sie die Tiere sogar selbst töten. Die Schweine werden ja gezogen nur mit dem Endzweck, sie zu töten. Dabei ist der Bauer nicht eine Art Mensch, die sich leicht ihre Gefühle bewußt macht. Er kann nicht darüber reden; er gesteht sie sich selbst nicht ein. Deshalb werden sie um so leichter projiziert, das heißt, unbewußt in etwas anderes der Außenwelt hineingesehen, z. B. in einen vorgelegten Tintenklecks. Diese gesunden Bauern, mit äußerlichem Gleichgewicht, waren also in einem bestimmten Punkt neurotisch. Sie litten darunter, daß sie ihre Pfleglinge dem Tode zu übergeben hatten; aber sie würden sich, auch sich selbst gegenüber, zu sehr geschämt haben, es zu gestehen. Was die Patienten der Anstalt angeht, habe ich, zwar nur bei sensitiven, d. h. zartfühligen Leuten, folgende Beobachtung gemacht: Oft fand ich unter den Ursachen ihres Konfliktes mit der Gesellschaft einen Haß gegen ihren Vater, der ein geliebtes Kaninchen geschlachtet hatte, oder gegen ihre Mutter, die sie 273

gezwungen hatte, davon zu essen. Die gleiche Geschichte ist mir so oft erzählt worden, daß ich zuletzt die Bezeichnung »Kaninchen-Trauma« (Kränkung durch Kaninchentötung) dafür gebrauchte, auch, falls irgend ein anderes Tier betroffen war. Ein dreizehnjähriger Knabe sagte mir, daß er gern Schlächter werden möchte, er aber zu schwach dazu sei. Er habe schon achtmal Lungenentzündung gehabt. Vielleicht könne er Chirurg werden, dann könnte er auch sehen, wie ein Mensch von innen aussieht. »Und warum wolltest Du Schlächter werden?« »Mein Vater und meine Brüder sind es, und es ist ein schöner Beruf!« »Was tust Du in Deiner Freizeit? « »Ich versorge mein Kaninchen.« »Ist es auch zum Schlachten?« »Nein! Nein! Es ist mein Kaninchen!«

Er war sichtlich erschrocken. Das Schlachten der Kühe, die er zuerst lebendig gesehen hatte, konnte ihm nicht gleichgültig sein! Aus Menschenhaß wollte er Chirurg werden: um Menschen aufgeschnitten zu sehen, so wie er es täglich bei Tieren sah. Natürlich konnte er in einer Schlächterfamilie keine vegetarischen Gefühle ausleben. Er vertraute seinem Vater, er bewunderte seine Brüder. Er konnte nur krank, wieder und wieder krank werden, um nicht kräftig genug zu sein für den »schönen« Beruf des Vaters und der Brüder. Denn in solch einer inneren Spaltung kann ein Kind nicht leben und gesund sein. Derartig schwere Konflikte werden meist tief verdrängt und können zur körperlichen Krankheit, zu Neurose oder Deliquenz führen. Die Tragik ist, daß es gerade die zum Mitgefühl Begabten sind, die von einer solchen Mißhandlung psychisch am tiefsten verletzt werden. Hilfe zur Bewußtwerdung und zu einer freien Wahl für den Vegetarismus kann in solchen Fällen unentbehrlich sein. Die Neigung zum Töten eines Menschen habe ich einmal im Prozeß des Entstehens beobachten können. Ein neurotischer Deliquent unserer Anstalt, der bisher nur viele Male gestohlen hatte (aus Mangel an in der Kindheit empfangener Liebe), wurde nach gelungener Therapie entlassen; er fand Arbeit in einer Fleischkonservenfabrik. Das war seinem Gefühl entgegen, und eines Tages sagte er mir, daß er in sidi selber das Verlangen spüre, lieber einen Menschen umzubringen, als das Töten unschuldiger Tiere mitanzusehen. Glücklicherweise konnte dieser Gefahr vorgebeugt werden, er fand für seine inneren Schwierigkeiten Verständnis. Ist das aber nicht der Fall und fühlt solch ein Mensch sich im Stich gelassen, wird eine solche Neigung zur Tat drängen. Grausamkeit kann also die Folge eines zutiefst verletzten Zartgefühles sein, das aus diesem Grunde verdrängt wird. Wenn ein Kind sich verworfen, erdrückt, unverstanden, mißhandelt fühlt, kann es unter bestimmten Bedingungen sich selbst in leidende Tiere projizieren 274

und das, was diesen Tieren geschieht, erfahren, als ob es ihm selbst geschähe. Man ist sozusagen das leidende Tier selbst, und das Schießen oder Schlachten oder Essen seiner selbst. fr Mit dieser Tierliebe kann Menschenhaß zusammengehen, um so mehr, als die Umgebung die Verweigerung des Fleischessens durch Hohn oder Gewalt so sehr zu einer Gefahr macht, daß das Kind aus Angst äußerlich resigniert und das Fleischessen mitmacht. Meine Kollegen und psychiatrischen Mitarbeiter wollten meine Deutung nicht annehmen, weil sie hierin ein meinen Vegetarismus bestätigendes Vorurteil vermuteten; die Patienten erzählten mir solche Geschichten, weil ich sie hören wolle, meinten sie. Aber eines Tages erzählte mir ein junger Psychiater, der meine Ansicht auch verlacht hatte, was er mit seinem eigenen dreijährigen Kinde erlebt hatte. Es hatte ein Brüderchen bekommen, das inzwischen einige Monate alt geworden war. Die Mutter hatte eines Tages ein Kaninchen gekauft. Als es abgehäutet in der Küche lag und der Kleine es sah, fragte er: »Ist das ein geschlachtetes Kindchen?« Nun schloß sich der Vater doch meiner Deutung an. Ich selbst würde in diesem Falle auch an die Möglichkeit denken, daß der Dreijährige eifersüchtig auf das Brüderchen war und deshalb unbewußt seinen Tod wünschte. Aber der Anblick von etwas, das als geschlachtetes Kindchen gedeutet wird, könnte im kindlichen Köpfchen audi den Gedanken ausgelöst haben: »Falls Mutti imstande ist, mein Brüderchen zu schlachten, könnte sie das auch mir antun?« Bei den Patienten mit dem Kanichentrauma fand ich zusammen mit dem H a ß auch eine große Angst. Was viele Erwachsene sich nicht genügend klar machen, ist die Tatsache, daß ein Kind keinen großen Unterschied zwischen Menschen und Tieren macht wie Erwachsene. Tieren fühlen sie sich eben oft näher. Also liegt es nahe anzunehmen, daß ein Kind so fühlt: Was Vati oder Mutti dem Kaninchen antun, könnten sie auch mit mir machen. Ich behaupte nicht, daß alle Kinder in dieser Weise reagieren. Ich habe eine junge Frau gekannt, die mir erzählte, sie habe sich gefreut, als sie, aus der Schule kommend, ein Schwein schlachten sah. Sie hatte sehr liebe Eltern und war selbst eine aufrichtig religiöse und sozialfühlende Person. Deshalb fragte ich: »Wie erlebten Sie denn die Schule?« Die junge Frau antwortete: »Der Lehrer war ein sehr unangenehmer Mensch, und ich dachte, als ich auf dem Weg nach Hause ein Schwein schlachten sah: Das ist sein verdienter Lohn!« Sie hatte den Lehrer auf das Schwein projiziert. 275

Warum hat sie das getan? Weil es ihr unmöglich war, ihren Eltern, die ihr immer vorgehalten haben, man solle seinen Nächsten und selbst seine Feinde lieben, zu gestehen, wie furchtbar böse sie auf diesen Lehrer war, der als Feind empfunden wurde. Die Eltern meinten es gut mit ihr, aber sie haben nicht bemerkt, daß JESUS sein Gebot »Liebet euere Feinde!« nie einem Kinde gegeben hat, weil dies noch weit über die Kraft eines Kindes hinausgeht. Deshalb konnte das Kind mit seiner Wut nicht fertig werden, und so projizierte es den Lehrer auf das Schwein. Es wurde dadurch, daß es das Schlachten sah, noch kein Vegetarier, weil es den Lehrer mit seinen Zähnen wohl hätte ergreifen und dann verschlingen können. Das Ansehen des Schlachtens hat bei ihr die Wut mindestens zum Teil kompensiert Und warum sollte sie dann auch nicht das Schweinefleisch essen?! An diesem Beispiel wird deutlich: Wer für die Sache des Vegetarismus etwas erreichen will, kann sich nicht auf das Wirken bloß für den Vegetarismus im engeren Sinne beschränken; er muß die gesamten Verhältnisse der Gesellschaft sehen, beurteilen und an ihrer Änderung mitwirken.

# Auch die Wahl des Schlachterberufes kann beeinflußt sein von starken verdrängten Wutgefühlen, die durch diesen Beruf zwar nicht sublimiert, sondern wenigstens sozialisiert werden, weil das Schlachten (bis auf weiteres) ein sozial akzeptiertes Handwerk ist. Das Vergnügen, das viele Leute darin finden, im Kino oder im Fernsehen Mörder und Aggressionen anzusehen, kann zum Teil mit verdrängten Wutgefühlen zusammenhängen, aber auch damit, daß man seine eigenen zarten Gefühle verdrängt, weil man dadurch zu verwundbar zu werden fürchtet. Aber dadurch, daß man seine Gefühle zu sehr verdrängt hat, wird das Leben zu langweilig, und dieser Langweiligkeit wegen verlangt man nach starken Spannungen und Erregungen, um das Leben noch ein wenig der Mühe wert zu machen. So werden die künstlichen Erregungen leicht zur Versklavung. Durch das wiederholte Ansehen von Greueln tritt eine Abstumpfung ein. Wenn durch Psychotherapie die Furcht vor den eigenen zarteren Gefühlen überwunden wird, nimmt der Bedarf an Erregungen ab. Was dagegen bei der Freude am Töten auch eine Rolle spielen kann — und so haben sich Jäger zum Beispiel geäußert —, ist die Erregung, die mit dem Gefühl verbunden ist, etwas Verbotenes zu tun. Daß man es als Verbotenes fühlt — auch, wenn in der äußeren Wirklichkeit keiner verboten hat, Tiere zu schießen —, kann ein Hinweis dafür sein, daß es im Menschen eine innere Hemmung gegen das Töten gibt. 276

Die Neigung, das Verbotene dennoch zu tun, stammt daher, daß ein Kind, besonders der Junge — und es gibt ja nur wenige Frauen, denen das Jagen Freude macht —, geneigt ist, seine Unabhängigkeit durch Übertretung gegebener Gebote zu behaupten. Erstens behauptet er damit der Mutter gegenüber, daß er nicht ist wie sie und darum auch nicht zu tun braucht, was sie sagt; und zweitens versucht er, damit den Vater als seinen männlichen Rivalen zu überwinden. Und je mehr man in dieser kindlichen Problematik stecken geblieben ist, desto mehr wird man sie auch als Erwachsener ausleben. Dazu kommt auch noch die Behauptung seiner Männlichkeit dadurch, daß man sich mit dem Tode selbst identifiziert. Im Grunde ist jede Angst Todesangst. Nun gibt es in der Auseinandersetzung der Menschheit mit dem Tode ein gewisses primitives Stadium, in dem man versucht, sich über diese Angst hinwegzusetzen dadurch, daß man sich nicht mehr mit dem Getöteten identifiziert, sondern mit dem Tode selbst. Ist man identisch mit dem Tode, dann braucht man den Tod nicht zu fürchten. Ich weise hier auf das Buch »Psyche und Tod« von EDGAR HERZOG 1 hin, insbesondere auf das Kapitel 2 »Vom Töten«. Um sich mit dem Tode selbst identifizieren zu können, hat man selbst zu töten. Denn man sieht nur zwei Möglichkeiten: entweder nur willenloses Schlachtopfer des Todes zu sein oder der Tod selbst. Besonders, wenn man ein Mann ist; denn das Weib kann den Tod dadurch besiegen, daß es ein Kind gebiert. Im Kollektiven Unbewußten (im Sinne JUNGs) spielen primitive Stadien der Menschheit noch immer eine Rolle und beeinflussen das bewußte Benehmen. Pädagogische Fehler können die Ursache sein, daß sie einen zu großen Einfluß haben. Was ist nun über die sonderbare Inkonsequenz eines berühmten Politikers und Humanisten N. N. zu sagen, der den Vegetarismus anderen gegenüber, in seinen Schriften, sehr gut verteidigt, aber selbst wieder Fleisch zu essen anfängt, ohne es anderen und sich selbst klarmachen zu können, aus welchen Gründen. Deutlich scheint in diesem besonderen Falle zu sein, daß es nicht geschieht aus falscher Scham anderen gegenüber. Dieser Mann könnte es getan haben aus falscher Scham sich selbst gegenüber; aus Zweifel, ob er ein Mann ist, wenn er nicht den »Mut« hat zu töten oder wenigstens Getötetes zu essen. Die ge-

nannten Inkonsequenzen des Herrn N. N. sind meines Erachtens seinen verdrängten Minderwertigkeitsgefühlen zuzuschreiben, wie eine Frau zu sein und doch nicht gebären zu können und andererseits kein wahrer Mann zu sein und deshalb seine Männlichkeit beweisen ZU müssen. Dies kann man nun auf verschiedene Weise zu tun versuchen; aker eine dieser Weisen, die aus einer sehr tiefen Lage des Bewußtseins kommen, ist das Gefühl, als Mann die »Pflicht« zum Töten zu haben, oder, anders gesagt, sich mit dem Tode selbst zu identifizieren. 277

Zur tieferen Begründung für die dargestellte Meinung weise ich auf drei Untersuchungen hin, die miteinander in Zusammenhang gebracht werden müssen: 1. Die schon genannte Schrift EDGAR H E R Z O G : Psyche und Tod; 2. die ethnologische Untersuchung von F. SIERKSMA: De roof van het vrouwengeheim 2 , und schließlich 3. meine eigene, noch nicht veröffentlichte Vorlesung f ü r die Niederländische Individualpsychologische Arbeitsgemeinschaft: Specifieke Minderwaardigheidsgevoelens bij de Man.

Dieses Bedürfnis von N. N, männlich sein zu wollen, vermute ich, war ihm um so wichtiger, als er aus einer patriarchalischen Umgebung kam. Als Kind wird er gesehen haben, daß die Frauen keine Rolle in der Synagoge spielen. Man wird ihm, wie das in vielen patriarchalischen Gruppen, nicht nur in den jüdischen, und sicherlich nicht dort am meisten, geschieht, gelegentlich auch einmal gesagt haben: »Aber Du willst doch kein Mädchen sein! Wenn Du so oder so tust, bist Du ein Mädchen!« Er war zart besaitet und fürchtete sich deshalb mehr, ein Mädchen zu sein als ein handfester Bursche. Immerhin hatte er sich wohl so weit entwickelt, daß er den Mut hatte, anderen gegenüber seine sanfteren Gefühle zu gestehen. Er schämte sich nicht anderen gegenüber, wohl aber sich selbst gegenüber. Er wagte aber nicht, sich einzugestehen, daß er sich fürchtete, als zu wenig männlich zu erscheinen, falls er nicht wenigstens Getötetes essen würde, um sich so an die Stelle des Todes zu setzen. Also: Furcht, kein Mann zu sein, und unbewußte Todesangst können einen Menschen daran hindern, das Fleischessen aufzugeben; die gleichen Motive können die Zuneigung zum Fleischgenuß verstärken. Diese Zuneigung wird um so kräftiger sein, je nachdem Impotenzgefühle eine Rolle spielen, denn weit verbreitet ist der Aberglaube, daß Fleischgenuß Potenz erhöht. Zwar gibt es Impotenz durch Aushungerung, aber dabei geht es nicht besonders um Fleisch. Meistens aber wird Impotenz, falls diese da ist, erzeugt von Relationsproblemen mit der Ehefrau, unverarbeiteten frühkindlichen Schwierigkeiten in bezug auf die Eltern und eventuell auch Leiden am Ende des patriarchalischen Systems (z. B. falls ein Mann plötzlich impotent wird, wenn seine im gleichen Beruf tätige Frau mehr soziale Anerkennung erhält als er selbst). Es sollen nun noch einige Beispiele aus der psychologischen Praxis angeschlossen werden. 1. In einer Familie, in der Mann und Frau wenig oder keinen Geschlechtsverkehr haben und der Mann also innere Schwierigkeiten hat in Bezug auf seine Potenz, zanken sich bei Tisch Vater und Söhne regelmäßig darüber, wer das größte Stück Fleisch haben sollte. Die ebenfalls neurotischen Söhne, die im Vater nicht ihr männliches Vorbild sehen, hegen auch Zweifel ihrer eigenen Männlichkeit gegenüber. Es ist klar, daß Fleisch hier ein Symbol der Potenz ist. Viel Fleisch bedeutet viel Potenz, durch Fleischessen hofft man, diese zu stärken. 3 278

2. In einer Familie, in der der Vater, ein sehr herrschsüchtiger und gelegentlich auch roher Mensch, Frau und Kinder verprügelt, fordert der Vater bei Tisch täglich doppelt soviel Fleisch wie jeder andere bekommen kann, Gäste einbegriffen. Ein Mann, der im allgemeinen nicht Angst vor Weiblichkeit hat und nicht unbewußt fixiert ist an ein Stadium der Mißgunst dem Weibe gegenüber, verprügelt seine Frau nicht. Die Angst versucht dieser Mann dadurch zu bändigen, daß er das doppelte Quantum Fleisch fordert, um sich doppelt zu stärken aus Furcht vor seiner Frau, seinen Söhnen und seinen Gästen. 3. Im allgemeinen neigen Männer eher zum Fleischessen, zum Jagen und zum Angeln als Frauen. Der schwache Punkt, an dem die Frauen eher scheitern, ist ihre Unsicherheit in Bezug auf ihre Schönheit, weshalb sie diese bedecken mit Häuten getöteter Tiere, ohne daran denken zu wollen, daß diese Tiere getötet wurden. Über die Frage, ob nur die Schönheit dieser Häute (Pelze) oder auch der befriedigende Gedanke eines so großen Wertes der eigenen Schönheit oder daß viele lebendige Wesen dafür in den Tod gehen, unbewußt eine Rolle spielt (so wie in einem Kannibalenstamm eine Braut von ihrem Bräutigam eine Zahl Köpfe fordert), habe ich noch keine Klarheit. Aber dessen bin ich ganz sicher, daß es sowohl für Männer wie für Frauen bessere Wege gibt, ihre Unsicherheit in Bezug auf ihre Männlichkeit oder Weiblichkeit zu überwinden. Je mehr sie beide zur vollen Menschlichkeit erwachen durch die Bewußtwerdung und Überwindung der frühkindlichen Problematik, desto größer wird der Fortschritt der Menschheit sein, auch in Hinsicht auf die Verbreitung des Vegetarismus. Denn die genuinen Gründe für einen psychisch gesunden Vegetarismus sind die Ehrfurcht vor dem Leben, die Fähigkeit und die Begabung, sich in andere Wesen hineinzudenken und hineinzuleben: dieses alles kombiniert mit einer gesunden Abwicklung frühkindlicher Konflikte. So dürfte man den Mut erwarten, seine Gefühle auch zu bekennen und diese ernst zu nehmen bis zur Tat. Anmerkungen: 1 Rascher-Verlag, Zürich/Stuttgart 1960. 2 Verlag Mouton & Co, s'Gravenhage. 3 Die Werbung macht auch Gebrauch vom Fleisch als Symbol männlicher Potenz. In holländischen Bahnhöfen liest man auf Werbeplakaten: »Fleisch, gnädige Frau! Sie wissen wohl, warum!« Fleisch hat tonisierenden Effekt. Der Arzt wird bei Impotenz helfen müssen durch Psychotherapie, eventuell auch durch Aphrodisiaka.

VEGETARIER-SIEDLUNGEN Der Gedanke, daß Vegetarier in gemeinschaftlichen Siedlungen zusammen wohnen und leben sollten, ist nicht neu. Seine Realisierung ist mit unterschiedlichem Erfolg schon häufiger versucht worden. Die für unsere Zeit bedeutsamsten Siedlungen, Oranienburg-Eden (DDR) und Amirim (Israel) sollen hier kurz dargestellt werden. 279

WILHELM

BROCKHAUS:

Oranienburg-Eden1

Die Zeit des wirtschaftlichen Aufstiegs des Deutschen Reiches und des steigenden äußeren Glanzes im Ausgang des 19. und im Anfang des 20. Jahrhunderts hatte auch erhebliche Schattenseiten aufzuweisen. Verstädterung, unbiologische Sitten, schlechte Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und gesellschaftliche Überheblichkeit der führenden Schichten hatten eine Reaktion zur Folge. Das Entstehen der Lebensreformbewegung, Bodenreformbestrebungen und die Jugendbewegung waren neben den politischen Strömungen ihre wichtigsten Äußerungen. Sozialreformer wie Friedrich Naumann und die Bodenreformer Adolf Damaschke und Franz Oppenheimer und andere wirkten weit in das Bürgertum hinein. Aus den Ideen solcher Strömungen und ihrer führenden Geister entstand die ideale Vorstellung eines Lebens abseits der Großstadt in gesunden und überschaubaren Siedlungen mit eigenem Gartenbau auf naturgemäßer Grundlage. Am 28. Mai 1893 gründete im Vegetarischen Speisehaus Ceres in Berlin eine Gruppe von 18 Männern, unter ihnen 2 Ärzte und ein Rechtsanwalt, die »Vegetarische Obstbaukolonie Eden e.G.m.b.H.« mit dem Zweck, auf eigenem Grund eine genossenschaftliche Siedlung zu errichten für Bewohner, die Obstbau treiben wollten. Das Land wurde in Oranienburg bei Berlin von der Genossenschaft erworben und an die Siedler verpachtet. Über die Ziele der Siedler sagt die Gemeinde-Ordnung (um 1900): »Diese Ordnung soll die gesellschaftlichen und sittlichen Grundlagen des Zusammenlebens der Gemeinde festlegen. Jedes Gemeindemitglied hat eingedenk zu sein, daß die Kolonie Eden nicht nur eine Produktivgenossenschaft ist zur Erzielung materiellen Gewinnes, sondern daß sie in erster Linie gegründet ist, um ein Sammelpunkt sittlich strebender Menschen zu sein. Als zusammenfassende, jeden einzelnen moralisch verpflichte Grundlage gilt der Vorsatz zur Führung eines naturgemäßen Lebens im Sinne praktischer Selbstreform, d. h. beständiger Selbsterziehung. Die Freiheit des einzelnen soll ihre natürliche Grenze im Gemeinwohl finden zur Erreichung des genossenschaftlichen Ideals der Harmonisierung von Individualismus und Sozialismus.«1 Die ersten Siedler waren Vegetarier aus ethischen und biologischen Gründen. Die Siedlerfamilien mußten sich zur vegetarischen Lebensweise verpflichten; später wurde diese Bestimmung etwas gelockert. Im Laufe der Zeit entstanden in Eden etwa 400 Siedlungshäuser, jedes mit einem Obst- und Gemüsegarten. 1939 hatte Eden etwa 1200 Einwohner. Die Überschüsse der Ernten wurden in den Handel gebracht. 1898 wurde die »Gemeinnützige Obstverwertung« begründet zur Herstellung von alkoholfreien Obstsäften ohne chemische Konservierungsmittel und Marmeladen. Kulturmethoden und Verarbeitung von Edener Obst und Gemüse waren so, daß 280

»Eden« geradezu ein Qualitätsmerkmal für die hier hergestellten Waren wurde. Die Edener Erzeugnisse wurden vor allem in Reformhäusern abgesetzt und trugen das Eden-Warenzeichen, das Wappen mit den drei Tannen. Das am weitesten verbreitete Produkt war die rein pflanzliche »Eden-Butter« (seit 1908), die später aus gesetzlichen Gründen »Eden-Margarine« genannt werden mußte. Dieses Erzeugnis, von dem Edener Arzt Dr. Landmann entwickelt, erfüllte schon damals die Erfordernisse, die wir heute aus dem chemischen Wissen um ungesättigte Fettsäuren, Vitamine und Cholesterin an ein hochwertiges Fett stellen. In der Abteilung Pflanzenfleischwerk wurde pflanzlicher Brotaufstrich u. ä. hergestellt. Der Edener Genosse FRITZ KIEL hat als erster vegetarische Brotaufstriche hergestellt. Eine eigene Bank wurde eingerichtet, ein Reformgästehaus, eine Druckerei u. a. In Eden lebte man also gesund und arbeitete an der Verbesserung unserer Versorgung mit naturbelassenen Lebensmitteln. Das geistige Klima dieser regen Gemeinde war sehr lebendig und vielseitig. Künstler, Schriftsteller, Vertreter der Naturheilmethoden interessierten sich für Eden und befruchteten das Gespräch über alle Ziele, die man in Eden realisieren wollte. Eine Heimatbühne entstand, ebenso eine Musikvereinigung. »Eden war lebendige Verwirklichung der Ziele lebensreformerischer Bestrebungen und der Ideale der Jugendbewegung. Dadurch wurde es zu einem Ausstrahlungspunkt neuer Lebensformen und maßgebend für die Schaffung neuer Ref ormwaren.« 1 Das Werk dieser Siedlung, in der es natürlich auch wie bei allen geistig lebendigen Menschen Auseinandersetzung und Konflikte gab, ist ein Vorbild für die Lebensreformbewegung vieler Länder Europas gewesen, das bis heute fortwirkt, wenn auch in anderen Formen. »Erstaunlich der Weitblick der Gründer und ihr Mut — . . . 1893 — zu solchen Zielen und revolutionären Gedanken der Bodenreform, Lebensreform und Wirtschaftsreform« 1 , Zielen, die heute noch vertreten werden können. Der Boden gehörte der Genossenschaft und konnte von den Siedlern nur gepachtet werden. Eden war in vieler Hinsicht bedeutsam. Hier fanden mehrfach Vegetarierkongresse statt, 1932 auch der Welt-Vegetarierkongreß. In Eden lebten der Wirtschaftsreformer SILVIO GESELL, der Schriftsteller KARL BARTES, der die »Neuform« redigierte, Vorläufer der heutigen »Reform-Rundschau«, GUSTAV SIMONS, der Vollkornbrotfachmann. Andere bedeutende Reformer förderten Eden, z. B. der Soziologe FRANZ OPPENHEIMER. MAGNUS SHWANTJE war häufig in Eden; seine Arbeit wurde von FRITZ KIEL finanziell gefördert. Der Edener OSKAR MUMMERT, Schriftleiter von »Der Naturarzt«, äußerte sich so: »Eden sollte nicht nur eine Siedlung für die in Eden Wohnenden sein, 281

sondern ein Tatsachenbeweis für eine Idee: Siedlung lebensreformerisch eingestellter, naturverbundener Menschen, für die der richtunggebende Gedanke so ausgedrückt wurde: Das Wohl des Einzelnen in Harmonie zu bringen mit dem Wohl der Gesamtheit.« Der Edener Arzt Dr. med. F. LANDMANN hatte statistisch über viele Jahre die Säuglingssterblichkeit in Eden verfolgt und gefunden, daß sie die geringste in ganz Deutschland war, 3,6%> gegen damals 10—20% in den meisten Kulturländern. 2 Bedeutungsvoll waren die Ernährungsuntersuchungen, die der dänische Forscher Dr. med. MIKKEL H I N D H E D E in Eden anstellte, zusammen mit Dr. LANDMANN. 3 Untersucht wurden der Nahrungsmittelverbrauch und Gesundheitszustand der einzelnen Familien. Im Laufe von etwa l 1 ^ Jahren (1921/22) untersuchte H I N D H E D E 26 Familien 1—-3mal. Die Ernährung war, besonders im 1. Weltkriege und in den schweren Jahren danach, einfach, knapp, mindestens aber ausreichend, der Gesundheitszustand befriedigend oder besser. H I N D H E D E 4 schließt seinen Bericht: »Für die Wissenschaft am bedeutsamsten ist der von Eden geführte, wertvolle Beweis, daß man tierisches Eiweiß, selbst in Form von Milch, ohne Nachteil entbehren kann. Pflanzliches Eiweiß ist dafür vollständiger Ersatz. Das gilt auf alle Fälle für Erwachsene.« »Was in Eden mit am meisten in die Augen fällt, sind die gesunden Kinder.« Bemerkenswert die Beobachtung, daß die Kinder gesund aufwuchsen, obwohl sie nur zwischen V« und Vs Liter Milch täglich bekamen. »Daß Liter Milch täglich je Kind genügt (das erste Jahr ausgenommen), kann hiernach nicht gut bezweifelt werden. Wahrscheinlich können wir ohne Gefahr noch weiter damit heruntergehen, vielleicht ganz auf 0, aber dafür liefert Eden uns noch keinen Beweis.«5 H I N D H E D E verglich die Bedingungen der Edener Kinder mit denen, die ein amerikanischer Arzt zu der Zeit forderte. Ergebnis: die Edener Kinder erhielten nur die H ä l f t e an Gesamteiweiß und an tierischem Eiweiß nur reichlich 1 h der geforderten Norm. »Trotzdem waren die Edener Kinder ungewöhnlich gesund und kräftig .. ., noch besser entwickelt, als die HOLTschen Kinder.« 6

»VOIT verlangte . . . 118 g Eiweiß je Tag, wovon */» bis 1/2 ausschließlich tierischen Ursprungs sein sollte . . . Diese sehr gesunden und arbeitstüchtigen Edener Familien begnügen sich nun aber mit 68 g, wovon nur 10 g vom Tiere stammen. Und dies gerade in den kinderreichen Familien, wo doch der Eiweißbedarf verhältnismäßig groß ist! Einen schlagenderen Gegenbeweis gegen die VOIT-RUBNER-THOMASsche Lehre wird man schwerlich entdecken können. Und dieser Beweis ist nur 30 km von der Berliner Universität zu finden.«7 »Diese Untersuchungen lehren uns, was unsere Untersuchungen in Dänemark schon längst bewiesen haben, daß Erwachsene bei ausschließlich pflanzlicher Ernährung im besten Wohlsein leben und arbeitsfähig bleiben können, und daß Kinder bei der gleichen Kost mit Zusatz einer geringen Menge Milch gut gedeihen. Fleisch ist für Kinder und Erwachsene ganz überflüssig.«8 282

»Hätte man dies in Deutschland schon im Jahre 1914 gewußt — und das hätte man leicht erfahren können, wenn die Berliner Physiologenschule das beweiskräftige Edener Material, das vor ihrer Türe lag, nur hätte verwerten wollen! — dann hätte kein Mensch in Deutschland weder im noch nach dem Kriege zu hungern brauchen.« 8

Diese Ergebnisse H I N D H E D E s wie auch seine Ernährungslehre 2 waren für die deutsche Lebensreformbewegung und besonders für die Vegetarier von großer Wirksamkeit; die offizielle Wissenschaft in Deutschland nahm leider weniger von ihnen Kenntnis. Die hervorragenden Ergebnisse waren auf die gesamte biologisch vernünftige Lebensführung der Edener zurückzuführen, wenn auch die veganische oder laktovegetarische Ernährungsweise einen Hauptfaktor darstellten. So wurde in Eden nicht geraucht; Besucher wurden durch ein Schild am Ortseingang gebeten nicht zu rauchen. »Die Siedlung war die erste und einzige >trockengelegte< Gemeinde Deutschlands, es gab dort keine Kneipen und keinen Alkoholausschank.«1 Der 2. Weltkrieg brachte die Teilung Deutschlands. Die Siedlung Eden liegt heute in der DDR. Der Betrieb ist selbständig geblieben, also weder volkseigen noch staatlich, und versucht, im Rahmen der neuen Wirtschaftsordnung die Tradition weiterzuführen und einige Reformhäuser und Diätabteilungen von HO-Geschäften mit Frucht- und Gemüsesäften und vegetarischen Brotaufstrichen zu beliefern. Im Rahmen der staatlichen Planung sind keine weiteren Herstellungsmöglichkeiten gegeben. In der BRD arbeitet seit 1950 die durch die Initiative des Edener Kaufmanns KURT GROSSMANN und mit Zustimmung der politischen Organe der damaligen sowjetisch besetzten Zone gegründete »Eden-Waren G.m.b.H.« in Bad Soden^Taunus im Sinne der alten Tradition weiter als Werk, nicht mehr als Siedlung. Erstaunlich und einzig dastehend das politische Faktum: der Hauptgesellschafter dieser Firma ist die »Eden Gemeinnützige Obstbausiedlung«, Oranienburg-Eden (DDR)! Die Hälfte des Anteils des Hauptgesellschafters ist 1961 der »Eden-Stiftung zur Förderung naturnaher Lebenshaltung und Gesundheitspflege« überschrieben worden. Wertvolle wissenschaftliche Arbeit im Sinne der Lebensreform ist von hier gefördert worden. Anmerkungen: 1 Zur Abfassung dieses Beitrages standen zur Verfügung zwei dankenswerterweise von der Eden-Waren G.m.b.H. und Herrn K. Großmann überlassene Jubiläumsschriften: »75 Jahre Eden. 1893—1968« und »Eden« o. J., und briefliche Auskünfte. 2 M. H I N D H E D E : Die neue Ernährungslehre. Autorisierte Übersetzung aus dem Dänischen von Dr. med. F. L A N D M A N N . Oranienburg-Eden. Dresden 1922. S. 159. 3 M. H I N D H E D E und F. L A N D M A N N : Ernährungsuntersuchungen in der Obstbausiedlung Eden bei Berlin. 2. Aufl. Dresden 1924.

283

4 5 6 7 8

H I N D H E D E und L A N D M A N N : a.a.O. S. 28. a.a.O. S. 30. a.a.O. S. 31. a.a.O. S. 29. a.a.O. S. 34.

OTTO

ROBINSOHN:

Die

Vegetarier-Siedlung Amirim (Israel)

Vor etwa 15 Jahren tat sich auf Grund eines Zeitungsinserates eine kleine Gruppe von Vegetariern zu dem Zwecke zusammen, eine landwirtschaftliche Siedlung ausschließlich für Vegetarier zu errichten. Nach langwierigen Verhandlungen mit den Behörden wurde eine kleine Siedlung oben im Galil ausgesucht, die ursprünglich für Neueinwanderer bestimmt gewesen war, aber von den dort angesiedelten Neueinwanderern — zumeist Juden aus dem Yemen und dann aus Marokko — fast ganz verlassen worden war. Amirim liegt im obergaliläischen Bergland, zwischen 500 und 600 m über N N , beim Orte Shefer an der Landstraße Sfad-Akko. Sein Klima ist warm (Südhang!); die Nächte sind hier angenehmer als in der Ebene. Die Niederschläge fallen hauptsächlich im Winter und betragen etwa 700 mm. Im November 1959 zogen die ersten Siedler ein. Es waren etwas über 30 Personen verschiedenster Herkunft und verschiedenstem sozialem Hintergrund. Darunter befand sich ein verhältnismäßig großer Anteil von unverheirateten Männern und auch Frauen. Diese erwiesen sich als unstabiles Element und wanderten in der Folge wieder ab. Zunächst waren die Verhältnisse sehr primitiv, es gab weder Elektrizität noch einen richtigen Zufahrtsweg. Die Häuser waren großenteils in sehr schlechtem Zustand, so daß zuerst die dringendsten Reparaturen durchgeführt werden mußten. Für die Menschen mußte Beschäftigung gefunden werden. Die Siedlungsbehörden begannen zu helfen, nach und nach die Häuser instand zu setzen, landwirtschaftliche Geräte zur Verfügung zu stellen und die Bewohner bei der Anlage von Pflanzungen zu beschäftigen. Hauptpflanzen: "Weinreben, Apfelpflanzungen wurden später als unrentabel aufgegeben; in den Hausgärten: Pfirsiche, Aprikosen, Apfel, auch Walnuß, Feigen und Granatapfel. Vieh wird nicht gehalten, außer einigen Hühnern. Ein Ortsrat wurde gegründet, der Ort erhielt den Status eines Moschavs und damit die budgetäre Unterstützung, die für solche Siedlungen vorgesehen ist. Ein Moschav ist ein Genossenschaftsdorf, dessen Boden individuell, aber mit gegenseitiger Hilfe (wie in Amirim) oder kollektiv bewirtschaftet wird. Sehr hilfreich erwies sich der Umstand, daß einer unserer prominenten Vegetarier, H. ISRAEL GURI, Mitglied der Knesseth und Vorsitzender des Finanzausschusses derselben, seinen persönlichen Einfluß für den Ort verwendete. Amirim wurde an das Elektrizitätsnetz angeschlossen, eine Zufahrtsstraße wurde 284

gebaut, Darlehen für den Ausbau der Häuser zur Verfügung gestellt. Die Zusammensetzung der Einwohnerschaft änderte sich: der größere Teil der Einzelpersonen zog weg, ebenso mehrere Familien, die sich aus verschiedenen Gründen nicht entsprechend einordnen konnten; dafür gab es stärkeren Zuzug von anderen Familien. Es zeigte sich bald, daß die ursprüngliche Absicht, die Siedlung auf Landwirtschaft aufzubauen, nicht durchgeführt werden konnte. Es stand viel zu wenig Boden zur Verfügung; in den unfruchtbaren Berggebieten des Oberen Galil hat sich nirgends eine rentable Landwirtschaft aufbauen lassen. Es zeigte sich, daß die Landwirtschaft nur eine und nicht einmal die wichtigste Existenzgrundlage sein konnte. Deshalb wurde beschlossen zu versuchen, das Dorf hauptsächlich auf Sommergäste und Touristik zu basieren. Man begann damit, daß einige Bewohner individuell Räume für Gäste bereitstellten und die Gäste selbst mit Mahlzeiten versorgten oder aber auch nur die Räume vermieteten und die Verpflegung den Gästen selbst überlassen war. Die Behörden stellten auch Mittel zum Bau entsprechender Gasträume zur Verfügung. Dagegen ist es bis heute nicht zur Errichtung eines Erholungsheimes oder auch nur eines Restaurants gekommen. Jedenfalls geht die Entwicklung in dieser Richtung. In diesem Zusammenhang ergaben sich auch Schwierigkeiten dadurch, daß durch die verhältnismäßig isolierte Lage des Ortes den Gästen nicht genügend Unterhaltung und Sportbetätigung geboten werden konnte. Jetzt ist ein Schwimmbecken im Bau, das bis zum Sommer (1974) fertig werden sollte, Spazierwege in den nahen Wäldern sind geplant. Trotzdem lebt der größere Teil der Bewohner von Amirim von Außenarbeit als Lehrer, Beamte usw. Im Ort selbst gibt es nur einen Kindergarten, aber keine Schule. Die Kinder werden alltäglich mit Autobus in die Bezirksschule gebracht. Nur wenige Einwohner leben an Ort und Stelle von landwirtschaftlicher Arbeit allein oder von landwirtschaftlichen Hilfsarbeiten. Die Landwirtschaft ist fast ausschließlich auf den verhältnismäßig kleinen Traubenpflanzungen aufgebaut. Die Trauben werden zum großen Teil zum Export verkauft. Jeder Einwohner hat bei seinem Hause eine Fläche von 2—3000 m2, die von den meisten zum Anbau von Obst und Gemüse für eigenen Bedarf verwendet wird. Selbstverständlich ist dieser Anbau organisch, es werden kein Kunstdünger und keine Spritzungen verwendet. Ein Teil dieser Produkte wird auch im eigenen Konsum an diejenigen Bewohner verkauft, die nicht selbst Obst und Gemüse anbauen. Beim Obstbau wird fast durchweg die Methode der Bedeckung der Erde rings um die Bäume mit Stroh oder dergl. verwendet (Mulchen), es wird nicht umgegraben. Gegen Schädlinge, speziell gegen die Mittelmeerfliege, wird das Obst weitgehend mit Säckchen verpackt, bis es reift. Jahrelang gab es im Dorf scharfe Streitigkeiten zwischen zwei Gruppen, denen im Wesentlichen die verschiedene Herkunft und eine unterschiedliche Einstellung zum Vegetarismus zugrunde lag. Durch diese Streitigkeiten wurde das 285

Wachstum des Ortes lange gehemmt. Seit etwa 2—3 Jahren ist eine wesentliche Besserung eingetreten, der Ortsrat ist rührig, und das hat zu einer nennenswerten Bevölkerungszunahme und zu einer wirtschaftlichen Stabilisierung und allgemeinen Entwicklung geführt. Heute wohnen in Amirim zwar immer noch nur etwa 150—160 Seelen, aber es handelt sich zum großen Teil um junge Familien, und das Dorf hat einen großen Prozentsatz von Kindern. Jetzt sind Bemühungen im Gange, eine weitere Vergrößerung herbeizuführen. Weltanschauungen? Politische Anschauungen? Wir haben jetzt gerade (1973) bei den Wahlen ein gewisses Bild über die letzteren erhalten, welche auch auf die Weltanschauungen hinweisen. Knapp die Hälfte der wahlberechtigten Einwohner stimmte für den Zentrumsblock »Likud«, fast ebensoviele wählten den gemäßigten Linksblock »Maarach«, aber es gab auch vereinzelte Stimmen für die Kommunisten (nationale Fraktion) und für die religiösen Parteien. Diese Unterschiede in den politischen Anschauungen treten aber im Alltagsleben in keiner Weise störend zutage. Es gibt auch eine Anzahl von Theosophen, die Zahl der traditionstreuen Einwohner ist bedeutend größer als die Zahl der Wahlstimmen für die religiösen Parteien. Jeden Vorabend des Schabath findet in der kleinen und sehr bescheidenen Synagoge Gottesdienst statt. Was allen gemeinsam ist, ist tatsächlich der Vegetarismus. Neue Einwohner kommen nur deshalb nach Amirim; für die Alteingesessenen ist der Vegetarismus nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern es wird vielleicht sogar zu viel Wert auf Diskussionen darüber und auf sehr individuelle Einstellung dazu gelegt. Es handelt sich bei dem weitaus größten Teil der Leute um biologischen oder Gesundheitsvegetarismus, nur wenige sehen ihn von einer höheren Warte, natürlich insbesondere die Theosophen. In einem kleinen Hause befindet sich eine Bibliothek mit vegetarischer, biologischer und gesundheitlicher Literatur, z. T. auch deutschsprachiger. Weitgehende oder Strukturveränderungen sind in nächster Zeit nicht zu erwarten. Es scheint eine weitere Vergrößerung und Festigung bevorzustehen. Für die Vegetarierbewegung von Israel ist Amirim selbstverständlich von ganz besonderer Bedeutung. Es bildet sozusagen ein Symbol des praktisch verwirklichten Vegetarismus. In Amirim besteht eine Ortsgruppe der Vegetarierbewegung von Israel, welcher der weitaus größte Teil der Bewohner angehört. Auch für Außenstehende sind Vegetarismus und Amirim sozusagen Synonyme.

BRIAN ].

GUNN-KING:

Die

Internationale

Vegetarier-Union

(IVU)

Die Internationale Vegetarier-Union (IVU) wurde im Jahre 1908 auf eine Anregung von Dr. ANJOU, Nizza (Frankreich), auf dem diamantenen Jubelfest der Vegetarischen Gesellschaft von Britannien gegründet. Seitdem sind bis 286

1973 22 Welt-Vegetarier-Kongresse abgehalten worden, und zwar der erste 1908 in Dresden, später dann wieder in Deutschland 1932 und 1960 in Berlin, Hannover und Hamburg. Die übrigen Tagungsländer der Kongresse waren England, Belgien, die Niederlande, Schweden, Tschechoslowakei, Dänemark, Norwegen, Frankreich, Indien, Spanien und Israel. 1975 wurde ein Kongreß in Nordamerika abgehalten. Die Weltkongresse finden alle zwei Jahre statt, Regionalkongresse wurden organisiert in Venezuela und ostasiatischen Ländern. Zur Verwaltung der IVU wurden 7 Regionen gebildet: Nordamerika, Lateinamerika, Ferner Osten, Mittlerer Osten, Europa, Afrika und Australien. Es sind zur Zeit mehr als 50 Organisationen und zahlreiche Einzelpersonen in der ganzen Welt der IVU angeschlossen als Mitglieder oder Förderer. Auf dem zweiwöchigen Weltkongreß in Schweden 1973 waren mehr als 430 Delegierte aus 26 Ländern anwesend. Auf den Weltkongressen werden die Fortschritte der Bewegung dargestellt und ihre wissenschaftlichen und geistigen Grundlagen und Aspekte in öffentlichen Vorträgen und internen Seminaren behandelt, Resolutionen zu aktuellen Fragen gefaßt und persönliche Verbindungen geknüpft zur engeren internationalen Zusammenarbeit. Für die Zukunft plant die IVU einen erheblichen Ausbau ihrer Büros mit modernen Einrichtungen, erweiterten Bibliotheken und eine Datenbank. 1974 bereits entstand ein Versuchsgarten mit organischem Gemüsebau. Vorgesehen sind auch Räume für Vorträge, Unterbringungsmöglichkeiten und Kochkurse. Der Wissenschaftliche Rat der Internationalen Vegetarier-Union (Scientific Council of the IVU, abgekürzt SCIVU) wurde 1965 auf dem Weltkongreß in Swanwick (England) gegründet, um die wissenschaftlich arbeitenden und interessierten Mitglieder der IVU zusammenzuführen. Biologisch-medizinische, chemische Probleme wie das Welthungerproblem sind in erster Linie die Themen von Veranstaltungen und Veröffentlichungen. Von 1968—1972 erschienen durch die Anregung des SCIVU und herausgegeben vom Vegetarian Nutritional Research Centre, Watford, Herts., England, 2 Bände der wissenschaftlichen Zeitschrift »Plant food for human nutrition« (Pergamon Press, Oxford). 1973 wurde diese Zeitschrift vereinigt mit »Qualitas Plantarum« (Dr. W. JUNK, Den Haag, Niederlande). Aus der Satzung der IVU seien hier einige Abschnitte wiedergegeben: Die »aus gemeinsamen Interessen und zur Förderung des VEGETARISCHEN IDEALS« in der IVU zusammengeschlossenen Gesellschaften werden vom Internationalen Rat geleitet, dem Mitglieder aus mehreren Ländern angehören. »§ 2 a. Die IVU soll gemeinnützig sein und sich aus allen Vegetarischen Gesellschaften zusammensetzen, die folgende Zwecke vertreten . . . Verbreitung der 287

Kenntnis des Vegetarismus und die Praxis, von den Erzeugnissen des Pflanzenreichs zu leben, als Mittel, die sittliche, geistige, physische und ökonomische Hebung des Menschengeschlechtes zu unterstützen.« »§ 2 b. Die Definition des Vegetarismus soll die Praxis sein, von Getreide, Hülsenfrüchten, Nüssen, Obst und anderen Naturprodukten und vom Menschen hergestellten Nahrungsmitteln zu leben — von denen keines Fleisch, Fisch und Geflügel ist, mit oder ohne Eier und Molkereiprodukte, bis zum vollständigen Ausschluß des Fleisches aller Tiere . . . als Nahrungsmittel, . . . der Begriff »Vegetarier« (vegetarian) bezeichnet einen Menschen, der beharrlich einer solchen Praxis entspricht, oder (vegetarian) adjektivisch gebraucht, die Bestätigung einer solchen Praxis. Förderung der Forschung und Veröffentlichung der Ergebnisse solcher Forschung und Beschaffung von Informationen über die Herstellung, Nutzung, Verarbeitung, Konservierung und diätetische Wirkung pflanzlicher Stoffe für den menschlichen Verbrauch.« »§ 3 a. Die Mitgliedschaft in der IVU ist offen für jede Gesellschaft, die vegetarische Ideale vertritt und deren Vorstände ausschließlich mit Vegetariern besetzt sind.« Eine Zusammenstellung der Namen und Anschriften vegetarischer Organisationen, Hotels, Heime und Restaurants aus vielen Ländern der Welt bietet das »Vegetarian Handbook« (1974), zu beziehen von The London Vegetarian Centre, 53 Marloes Road, London, W 8 6LD, Preis 15 p. Auskünfte erteilt das Hauptbüro der IVU, »Braidjule«, 120 Knockan Road, Broughshane, County Antrim, Northern Ireland, U.K., BT43 7 LE. SCIVU: Schriftführer Dipl.-Ing. JULIUS FLEISCHANDERL, A-8010 Graz (Österreich), Leechgasse 7.

JACK LUCAS:

Umweltverschmutzung und vegetarische Lebensweise

Die Vegetarier teilen mit allen Mitmenschen eine zunehmende Besorgnis über das wachsende Ausmaß der Verschmutzung der irdischen Umwelt; dies besonders, da die Folgen dieser Verschmutzung einen doppelten Schlag gegen den Menschen selbst führen. Erstens sind die gröberen Formen der Verschmutzung, von denen viele ein Vermächtnis der industriellen Revolution des 19. und 20. Jahrhunderts sind, schädlich für die Umwelt außerhalb des Menschen, indem sie seine Fähigkeit mindern, sich seiner Umgebung in vollem Maße zu erfreuen. Die verschiedenen Formen der industriellen Verschmutzung sind in der neueren Zeit verstärkt worden durch das schnelle Wachstum der chemischen Industrie (Kunstdünger, Eisen- und Nichteisenmetalle, Zement und Beton, Plastik, pharmazeutische 288

Produkte) und durch die rapide wachsende Nachfrage nach allen Arten der Energie in Haushalt, Arbeitsstätte und Verkehrswesen. Ein weiterer Faktor der Verschmutzungslage ist die chemische Revolution in der modernen Landwirtschaft mit der Tendenz zu intensiven Formen des Ackerbaus und der Viehzucht. Gerade dieser Wandel wirkt auf die Agrarlandschaft ein durch das Entfernen der Hecken und das Ausfüllen der Gräben zur Erleichterung der Mechanisierung verschiedener Arten der Monokultur. Die Populationen der Vögel und anderer Tiere sind dann bedroht, sowohl durch den Verlust ihres normalen Lebensraumes wie auch durch die Gegenwart chemischer Rückstände in ihren Hauptnahrungsquellen. Intensive Viehzucht bringt außerdem riesige Mengen flüssigen Düngers hervor, welcher schon ein größeres Problem zu werden beginnt als das von der menschlichen Bevölkerung produzierte Kloakenwasser mit all den damit verbundenen Schwierigkeiten der Beseitigung. Alle diese und andere Tätigkeiten des Menschen bringen eine Reihe von Schmutzstoffen in die äußere Umwelt, wobei der Umfang des Schadens mit der Stärke der Verseuchung ansteigt. Die verschiedenen Arten der Schadstoffe sind in Tabelle 1 zusammengefaßt. In einigen Fällen, z. B. bei Schwermetallen, ist der Schadstoff eine in der Umwelt vorhandene natürliche Substanz, während er in anderen Fällen, z. B. bei vielen der insektenvernichtenden Chemikalien und bei den Spaltprodukten in radioaktiven Niederschlägen, dort einen vollkommen neuen Faktor einführt. Alle diese Schadstoffe können die äußere Umwelt schädigen, aber auch noch eine weit heimtückischere chronische Langzeitwirkung auf den Menschen ausüben als Ergebnis ihres Ubergangs durch die Umwelt hindurch in jene Pflanzen und Tiere, die Quellen unserer Nahrungsmittel sind. Ihre Gegenwart in der Nahrung und deren Genuß durch den Menschen führen zur Vergiftung seiner eigenen inneren Umwelt. Dieses Kapitel befaßt sich vor allem mit dieser inneren menschlichen Umwelt als Endstadium der Vorgänge, welche Industrieabfälle, Chemikalien der Landwirtschaft und Atomwaffen mit sich bringen. Fremde Substanzen als Nahrungsverseucher müssen auch in ihrer Verbindung zu vielen anderen chemischen Mitteln betrachtet werden, die als Nahrungszusätze dienen und als Medizin und die alle den Umfang ausdehnen, in dem der Mensch fremden Substanzen ausgeliefert ist. Allein schon die Zahl solcher künstlichen Substanzen und das extreme Tempo, mit dem sie eingeführt wurden, sind Anlaß zu einiger Besorgnis. Viele von diesen Substanzen sind als Giftstoffe erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgetreten mit radioaktiven Niederschlägen aus den verschiedenen Reihen von Atomwaffenversuchen, mit weit verbreiteter Anwendung landwirtschaftlicher Chemikalien, dem Wachstum der Nahrungsmittelindustrie und der schnell zunehmenden 289

Tabelle 1: Nahrungsvergiftung — eine qualitative Schätzung

Die Beispiele der verschiedenen Arten von Schadstoffen stellen nur eine kleine Auswahl aus einer viel größeren Anzahl möglicher Vergiftungsstoffe dar.

Kategorien der Schätzung: 1. Vorhandensein in der Umwelt A Völliges Fehlen in der ungestörten N a t u r B Zusätzlich zu ähnlichen Substanzen in der Natur C Zusätzlich zu natürlichen Vorkommen 2. Vorhandensein in der menschlichen Nahrung A Vorhanden in allen Nahrungsmitteln B N u r in einigen Nahrungsmitteln vorhanden C Wahrscheinlich in allen Nahrungsmitteln vorhanden 3. Gefährdung A Vor B Für C Für

für den Menschen allem für Kinder besondere Bevölkerungsgruppen die gesamte Bevölkerung

4. Ausmaß der Gefährdung *** Hohes Risiko **

290

Mäßiges Risiko

*

Geringes Risiko

Herstellung bequemer Nahrungsmittel und mit der schnellen Entwicklung und Produktion einer großen Palette pharmazeutischer Stoffe und ihrer Verwendung in der Landwirtschaft als Antibiotika und Hormone. Obwohl der Körper zweifellos eine beträchtliche Fähigkeit zur Anpassung an wechselnde Umstände besitzt, muß man doch bezweifeln, daß er sich schnell genug auf so viele Änderungen umstellen kann. Diese Angelegenheit war ein Teil der von der Britischen Regierung anerkannten Resolutionen der Stockholmer Konferenz der Vereinten Nationen von 1972 zur menschlichen Umwelt. 1 Die Probleme der Verminderung industrieller Verschmutzung sind weitgehend wirtschaftlicher Art und können gelöst werden durch technisch mögliche Methoden, die zu Lasten des Kunden gehen. Das Problem der Energie wird vom Autor in einer anderen Arbeit behandelt. 2 Der Vegetarier hat keine in ihrer Art einzig dastehende Lösung anzubieten für die Probleme der industriellen Verschmutzung, aber es ist darauf hinzuweisen, daß eine drastische Abnahme der schlimmsten Seiten bei der Umweltverschmutzung bei der Landwirtschaft erreicht werden kann durch Umstellung auf eine Ernährungsweise, die weitgehend auf dem direkten Verbrauch von Pflanzenprodukten beruht, d. h. durch die vegetarische Lebensweise. Diese Verminderung der Verschmutzung durch die Landwirtschaft kann erreicht werden, indem man das als Hauptquelle der Eiweißversorgung höchst unergiebige landwirtschaftliche Vieh abschafft. Die Unergiebigkeit des Tieres bei der Umwandlung seines Futtereiweißes in eßbares Fleischeiweiß — bei durchschnittlich nur 1 0 % Nutzeffekt — wird in Tabelle 2 dargestellt. 90 % des Futtereiweißes, hauptsächlich Pflanzeneiweiß, gehen verloren, und zwar in einer Form, die zunehmend schwerer nur dem Land als Stalldünger wiedergegeben oder in Kläranlagen befriedigend verarbeitet werden kann.

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Dieser extrem niedrige Nutzeffekt verstärkt den Druck auf das Land, die Feldfrüchte anzubauen, die als Viehfutter gebraucht werden, wie etwa Mais, Gerste und Soja, und besagt, daß die durchschnittliche Zahl an Acres Land, die für die Tierzucht benötigt wird, fünfmal größer ist als diejenige, die man brauchte, wenn die Nutzpflanzen direkt dem menschlichen Konsum zugeführt würden. Es ist z. B. geschätzt worden, daß Rinder, die mit Mais ernährt werden, nur 26 Ibs an Eiweiß hervorbringen je Acre verglichen mit geschätzten 650 lbs je Acre an Eiweiß aus grünen Blättern. 4 Daher könnte jeder Versuch, den direkten Verbrauch an Pflanzeneiweiß zu steigern, den Druck auf das Land sehr schnell mindern mit der Folge einer Rückkehr zu herkömmlicheren Weisen des Landbaus und einer ganz wesentlichen Verminderung der Anwendung von Kunstdünger und Pflanzenschutzmitteln. Dieses Ziel kann nun erreicht werden, da es viele wahlweise benutzbare Quellen für Pflanzeneiweiß gibt, die jetzt in höchst schmackhafter Form auf dem Markt sind. Dies wird z. B. ersichtlich durch die Entwicklung einer Anzahl faseriger Pflanzeneiweißsorten auf der Grundlage von Sojabohnen. Es gibt auch keine schwerwiegenden Probleme, wenn man die menschliche Ernährung direkt auf pflanzliche Eiweißquellen gründet; die wichtigste Forderung hierbei ist das Vorhandensein vieler Quellen. Der unmittelbare Vorteil eines Programms in dieser Richtung ist zunächst einmal die lebenswichtige mengenmäßige Zunahme der f ü r den menschlichen Verbrauch verfügbaren Nahrung; diese Zunahme könnte einen schnellen Beitrag zur Lösung des Welternährungsproblems darstellen. Zweitens ist die Gelegenheit gegeben, die Schadstoffspiegel zu senken, die wir den vielen Chemikalien verdanken, die in der modernen Landwirtschaft gebraucht werden, und damit einen wesentlichen Teil der möglichen Bedrohung der menschlichen Gesundheit zu beseitigen.5 Der Vegetarier ist im unmittelbaren Vorteil gegenüber den NichtVegetariern im Hinblick darauf, in welchem Maße er den verschiedenen Schadstoffen in der von ihm verzehrten Nahrung ausgesetzt ist, und dieser Vorteil ist ganz unabhängig von irgendwelchen zukünftigen Tendenzen in Richtung Abhängigkeit von Pflanzennahrung als Haupteiweißquelle. Schätzungen der D D T Menge, die vom Durchschnittsbürger in Großbritannien, der sich von der üblichen Mischkost ernährt, 1966/67 eingenommen wurde, verglichen mit den Werten für den Durchschnittsvegetarier, sind in Fig. 1 wiedergegeben. Die Schätzungen für die vegetarische Kost beruhen auf eigenen Berechnungen des Verfassers,® wobei die DDT-Konzentrationen in der Nahrung benutzt wurden, wie sie vom Advisory Committee berichtet werden. 6 Die Schätzung der von Vegetariern verbrauchten Nahrung wurde von Dr. F R A N K WOKES beigetragen. 7 Der Unterschied ist zu erwarten im Hinblick auf die Fähigkeit des DDT, sich in den aufeinanderfolgenden Stufen einer Nahrungskette zu konzentrieren, d. h, bei jeder Stufe des Übertritts in einen Organismus sich zu verstärken. Die Resultate zeigen, daß die DDT-Aufnahme des durchschnitt292

liehen Fleischessers 2/s höher ist als die des durchschnittlichen Vegetariers. Ähnliche Berechnungen haben gezeigt, daß der Vegan sogar noch besser dran ist als der Vegetarier. Die Konzentrationen des radioaktiven Spaltproduktes Caesium 137 in der üblichen Nahrung für 1967/68 sind verglichen worden mit den Konzentrationen in der vegetarischen Nahrung und in Fig. 2 wiedergegeben. Caesium 137 ist eines der langlebigen Spaltprodukte im radioaktiven Niederschlag aus Atomwaffenversuchen und ist mit dem lebenswichtigen Nahrungsbestandsteil Kalium chemisch verwandt. Infolge seiner Radioaktivität ist es ein berüchtigtes Mutagen, welches Gefahren für die Gesundheit kommender Generationen darstellt; die Konzentrationswerte sind in der Tabelle wiedergegeben als Caesium-Einheiten (CE). Diese Einheit bedeutet die von Caesium hervorgerufene Radioaktivität pro Gramm Kalium in der Nahrung. Man wird feststellen, daß die "Werte in der üblichen Nahrung fast doppelt so hoch liegen wie in der vegetarischen; und da die Werte in der Nahrung beim Ubergang eines Spaltproduktes in den menschlichen Körper mit einem Faktor 3 multipliziert werden8, sind die Vorteile der vegetarischen Ernährung unbestreitbar von wesentlichem Ausmaß und obendrein weitgehend unabhängig davon, ob Getreideprodukte als Vollkorn verbraucht werden oder als Weißmehl von 70 % Auszug. Die Resultate sind auch berechnet worden für das andere wichtige Spaltprodukt, Strontium 90, die Unterschiede zwischen den beiden Kostformen sind hierbei sehr gering. Zusätzlich zu den spürbaren mengenmäßigen Unterschieden bei der Aufnahme von Schadstoffen zu Gunsten der Vegetarier kann man andere, weniger spürbare Vorteile erwarten. Diese sind gegenwärtig viel schwerer mengenmäßig zu bestimmen und stammen von dem höheren Verbrauch des durchschnittlichen Vegetariers an Rohkost, welche einen höheren Anteil an unverdaulicher Faser hat im Vergleich zur üblichen Nahrung mit ihrer zunehmenden Verwendung von stark denaturierten, verfeinerten Nahrungsmitteln. Der größere Rohfaseranteil der durchschnittlichen vegetarischen Nahrung sorgt für einen schnelleren Durchgang durch das Verdauungssystem und den Enddarm. 9 Die epidemiologischen Studien von Dr. P. BURKITT haben auch auf einen Zusammenhang zwischen den Durchgangszeiten und dem zunehmenden Auftreten von Karzinomen des Enddarmes und anderen Krankheiten des Dickdarmes bei den westlichen Völkern hingewiesen. Es ist möglich, daß die längeren Durchgangszeiten in Verbindung mit westlichen Ernährungsgewohnheiten einen Faktor bei der Entstehung von Enddarmkrebs darstellen, da sie eine längere Zeit hindurch einen Kontakt zwischen Schadstoff und Darmwand ermöglichen, obwohl hierbei auch andere Faktoren eine Rolle spielen könnten. Die längeren Durchgangszeiten könnten auch eine verstärkte Absorption der Schadstoffe durch den Dünndarm bewirken. 293

Microgramm pro Tag

Fig. 1: Aufnahme von D D T mir der Nahrung in Großbritannien 1966/67

Fig. 2: Geschätztes Ausmaß der Nahrungsmittelvergiftung mit Caesium 137 in den Jahren 1967/68

Der verstärkte Genuß von Rohkost bei den Vegetariern läßt sie auch weniger der großen Vielfalt von Chemikalien ausgesetzt sein, die als Zusätze bei der Bereitung der verfeinerten Nahrungsmittel dienen, welche ein so charakteristischer Zug der modernen westlichen Ernährungsgewohnheiten geworden sind. Der durchschnittliche Vegetarier setzt sich auch mit geringerer Wahrscheinlichkeit dem Einfluß pharmazeutischer Substanzen aus, welche als Medikament benutzt werden, so daß seine Gesamtgefährdung durch fremde Chemikalien weit weniger bedeutsam sein dürfte, als dies bei Nichtvegetariern der Fall ist. Die Gelegenheiten zu chemischen Reaktionen zwischen diesen Substanzen innerhalb des Körpers mit ihrer Summierung der Giftwirkung müssen daher beträchtlich vermindert sein. Der Vegetarier hat daher den unmittelbaren Vorteil, fremden Chemikalien weniger ausgesetzt zu sein und den Risiken, welche mit ihrem steigenden Verbrauch in der westlichen Zivilisation zusammenhängen. Außerdem hat er die noch bedeutendere Genugtuung, eine Sache zu vertreten, welche so viel dazu beitragen kann, die ganze zukünftige Gesundheit und das Wohlergehen der Menschheit zu verbessern, und dies in möglichst kurzer Zeit. 295

Anmerkungen: 1 The Human Environment, The British View; prepared for the UN-Conference on the Human Environment, Stockholm, 1972; HMSO, London 1972. 2 Energy — The Impending Crisis and Nuclear Solution; LUCAS, J. W., World Forum, 1973, in press. 3 Biological Ceilings and Economic Efficiencies for the Production of Animal Protein, AD2000; WILSON, P. N., Chem & Ind. 1968, 901. 4 Evaluation of Plant Leaf Protein as a Source of Food Protein. KINSELLA, J. F., Chem & Ind., 1970, 556. 5 Agriculture without Pollution, parts I and II, LUCAS, J. W., World Forum 1973; part I X X I V (3), 111—115, and part II X X I V (4), 171—175. 6 Further review of certain persistant organochlorine pesticides used in Great Britain; Advisory Committee on pesticides and other toxic chemicals. Department of Education and Science, HMSO London 1969. 7 WOKES, F. and ELLIS, F.: Persönliche Mitteilung. 8 Weil Caesium länger im Körper verweilt als Kalium und daher in größerer Konzentration vorhanden ist als Kalium. 9 wie in einer neueren Arbeit von Dr. FREY ELLIS vom Kingston-Hospital gezeigt wird. Siehe: The Vegetarian, April 1973. 10 Food Contamination. Part IV: Radioactive Contamination. J. W. LUCAS: The British Vegetarian. 1971 May/June, p. 184—189.

VERA GOTTKE: Die Pockenimpfung und ihre Diskussion Für die Herstellung von Lymphe für die Pockenimpfung werden gesunde Kälber ausgesucht. Sie werden geschoren und mehrmals von der Schnauze bis zum Schwanz mit Seife gewaschen. Dann müssen sie zwei Wochen im Korsett in Quarantäne stehen. Auch während dieser Zeit werden sie mit Seife gewaschen. Sie haben weder Heu noch Stroh und das Korsett verhindert das Hinlegen in die eigenen Ausscheidungen. Als Vorbereitung für das Einbringen der Vakzinia-Viren in die Haut wird ein Gebiet der Hautoberfläche des Tieres von der Größe 60 X 40 cm bis zur ganzen Haut nochmals geschoren, und das Tier wird wieder eine Stunde lang gründlich mit Wasser und Seife gewaschen. Man trägt immer wieder Seife auf und spült diese dann mit Wasser ab. Während dieser Zeit wird das Tier mit Medikamenten ruhig gehalten. Es folgt das Einritzen der Haut in langen Streifen und das Einbringen der Viren in die Wunden. Nach der Impfung steht das Tier 4 bis 5 Tage getrennt von anderen Tieren im Korsett im Inkubationsstall. Danach wird es wieder mit Medikamenten ruhig gestellt, auf einem Tisch festgebunden und nochmals gewaschen. »Die Tötung des Tieres erfolgt nach lokaler Anästhesie durch Ausbluten aus der Halsarterie« 1 Die Vakzinationspusteln werden mit einem scharfen Löffel abgenommen und vor der weiteren Verarbeitung bei minus 30° aufbewahrt. Jeden ethischen Vegetarier, der diese nüchterne Schilderung liest, ergreift eine tiefe Verzweiflung ob seines Unvermögens, den mißbrauchten, hilflosen Tie296

ren beizustehen, die zuerst gequält und dann geschächtet werden. Das Schächten ist zwar in Deutschland verboten, nur natürlich nicht dann, wenn die sogenannte Wissenschaft daran teilhat. 2 Das für den ethischen Vegetarier wichtigste Argument gegen die Impfung, nämlich die Grausamkeit den Tieren gegenüber, verfängt in seiner Umwelt am wenigsten, da bekanntlich von den meisten Menschen der Standpunkt vertreten wird, daß die Tiere eben für die Menschen da sind, ganz gleich auf welche Weise man sie behandelt und ausbeutet. Nur mit dieser Grundeinstellung sind der tägliche Küchenmord und die Vivisektion möglich. Es ist daher nicht sinnvoll, mit dem für den Vegetarier wichtigsten Argument, der Tierquälerei, eine Diskussion über den Wert oder Unwert der Pockenimpfung zu führen. Da das Thema der Pockenimpfung glücklicherweise zur Zeit aber ein recht häufiges Diskussionsthema geworden ist, soll im folgenden versucht werden, dem Leser anhand von Zahlen und Tatsachen — jenseits des Tiergebrauchs — sowie der Widerlegung immer wieder hervorgebrachter Einwände genug Entgegnungen zu geben, um einer Erörterung der Pockenimpfung gut standhalten zu können. Über die Geschichte der Pockenimpfung ist in der Allgemeinheit und auch in Ärztekreisen erstaunlich wenig bekannt. Da die gesetzliche Pockenimpfung in Deutschland seit rund 150 Jahren besteht, wurde sie zur Tradition. Die Folge war, daß man kaum mehr darüber nachdachte und sie — weil sie so alt ist — für gut und richtig hielt. Erst durch das Bekanntwerden von erschreckenden Folgen der Impfung sowie durch die unermüdliche Aufklärungsarbeit von Med.-Dir. Dr. G. BUCHWALD wurde für immer mehr Bürger die Frage >Pockenimpfung ja oder nein< ein Thema, über welches sie begannen nachzudenken. Es ist klar, daß die Menschen zu allen Zeiten Angst vor der furchtbaren Pokkenseuche hatten. Sie versuchten deshalb, sich davor zu schützen. Viele Schutzversudie bestanden aus Aberglaube, wie wir es heute nennen. Es sind aber auch schon aus dem frühesten Mittelalter medizinische Immunitätsversuche bekannt. Diese bestanden aus der sogenannten Inokulation, d. h. man brachte etwas Eiter aus einer Pustel eines leicht an den Pocken erkrankten Patienten in die Haut eines Gesunden. Dieses war jedoch eine sehr gefährliche Sache. Der so Geimpfte wurde hochinfektiös und verursachte nicht selten eine Epidemie. Wegen des Unheils, welches durch die Inokulation oft angerichtet wurde, verboten viele Landesfürsten und Städte diese Maßnahme. Auch heute wird nicht mit dem Variola-Virus, dem Menschenpockenvirus, geimpft, weil dies zu gefährlich ist. Man impft mit dem Vakzina-Virus (Vacca = Kuh). Die Pockenimpfung ist die einzige Impfung, bei der man mit einem anderen Virus impft, als mit dem die Krankheit übertragen wird. Schon diese Tatsache läßt die Wirksamkeit der Impfung zweifelhaft erscheinen. 297

Man unterscheidet zwischen drei verschiedenen Pockenviren. Diese sind: 1. das Poxvirus Variola = das Menschenpocken-Virus, 2. das Poxvirus bovis = das Kuhpocken-Virus und 3. das Poxvirus vakzinia = das Impf-Virus. Das Poxvirus vakzinia ist ein Labor-Virus, welches in allen Labortieren 2 in Passagen züchtbar ist, d. h. es wird über Tiere »aufgefrischt«. Die Herkunft des Labor-Virus liegt im Dunkel. Vielleicht ging die Züchtung vom Poxvirus bovis aus. Sicher ist dies nicht, denn weder läßt sich aus dem Poxvirus bovis das Laborvirus züchten, noch dieses zum Poxvirus bovis zurückzüchten. Die Bezeichnung »Vakzination« wird heute f ü r jede Impfung mit lebenden, vermehrungsfähigen Erregern angewandt.

Zu der Vakzinia-Impfung kam es auf folgende Weise: der englische Arzt EDWARD JENNER (geb. 1749) impfte Ende des 18. Jahrhunderts erstmalig mit Eiter aus einer Kuhpockenpustel, weil er glaubte, festgestellt zu haben, daß Melker, welche sich mit diesem Eiter infiziert hatten, weniger an den Pocken erkrankten. Von seinen Impfungen erfuhren bald andere Ärzte und die Bevölkerung, so daß er sehr schnell Nachahmer in England und auf dem Kontinent fand. In jeder Darstellung der Impfgeschichte kann man lesen, welche Feststellung JENNER zu seinen Impfungen veranlaßte. Nirgends aber findet man, was G. B. SHAW in seiner Vorrede über Ärzte (»Der Arzt am Scheidewege«)3 mitteilt: J E N N E R stellte fest, daß seine Impfungen nicht gegen die Pocken schützten und die Krankheit auch nicht gelinder machten, er revidierte deshalb seine Ansicht und schrieb die Fälle, die ihn früher irre geführt hatten, einer Pferdekrankheit zu. Aber zu dieser Zeit war die Impfung mit Vakzinia-Viren schon so weit verbreitet, daß sich niemand mehr nach JENNER richtete. In Deutschland besteht, wie bereits oben erwähnt, eine gesetzliche Impfpflicht seit 150 Jahren. Im Jahre 1807 erließen Hessen und Bayern ein Gesetz zur Einführung der Pflichtimpfung. Die anderen deutschen Länder folgten in den nächsten Jahren, und im Jahre 1820 erließ Sachsen als letztes deutsches Land ein diesbezügliches Gesetz. Diese Impfgesetze betrafen Kinder über drei Jahren. Nach Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 wurde 1874 ein einheitliches Gesetz, das sogenannte Reichs-Impfgesetz erlassen, welches 1875 in Kraft trat und neben der Erstimpfung auch eine Zweitimpfung der ^ j ä h r i gen Kinder zur Pflicht machte. Von vielen Deutschen wird dieses Reichs-Impfgesetz als »erstes« Impfgesetz betrachtet. Das ist falsch; vor Gründung eines Deutschen Reiches konnte kein Reichsgesetz erlassen werden, vorher waren die Länder zuständig. Die Pockenerkrankungen nahmen nach dem Erlaß des Reidis-Impfgesetzes mit der zweimaligen Impfung der Kinder tatsächlich enorm ab, aber sie nahmen auch in anderen westeuropäischen Ländern, z. B. in England, welches niemals die Zweitimpfung eingeführt hat und wo so weiter geimpft wurde, wie die deutschen Länder es vor 1875 gemacht hatten, nämlich nur einmal, genauso ab! Der Rückgang der Erkrankungen kann deshalb nicht an der zweiten Impfung (der 12jährigen Kinder) gelegen haben und an der einmaligen Impfung der Kleinkinder schon gar nicht, denn diese Impfung bestand ja bereits vorher seit 50 Jahren. 298

Hier ist der Punkt erreicht, an dem man sich über die Hygiene und den Rückgang der großen Seuchen Gedanken machen sollte. Enge, volküberfüllte Städte mit schlechter Hygiene waren und sind immer der Boden für Seuchen. Brach früher in einer Stadt eine Seuche aus, dann flohen die Bewohner, die es konnten, aufs Land. Wenn man damals auch noch keine Vorstellung über die Ursache der Seuchen hatte, so wußte man doch, daß es auf dem Lande, bei größerem Abstand der Menschen zueinander, etwas ungefährlicher war. Ein Hygienebewußtsein entwickelte sich erst langsam in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Europa entdeckte von neuem Wasserleitung und Kanalisation. Wer macht sich heute noch klar, was es bedeutete, wenn, wie z. B. in Berlin vor 100 Jahren, die Klosettabgänge der Häuser offen in den Rinnstein geleitet waren und man erwartete, daß die Fäkalien von dort durch wenig oder kein Wasser »wegrinnen« sollten. Sie wurden — soweit möglich — auf diese Weise in die Spree gespült oder in von Hunden gezogenen Kübeln gefahren. Die Straßen waren verkotet und stanken. Man trank Spreewasser und braute auch Bier daraus. Mit wenigen Ausnahmen war es in allen Städten ähnlich. Straßennamen wie »An der Bleiche« erinnern noch heute daran, daß man auch die Wäsche im Fluß wusch, womit keine Abtötung von Viren erfolgte. Dagegen tötet das Kochen der Wäsche mit Sicherheit PockenViren. Eine Kanalisation gab es in Berlin erst ab 1878. Die großen Seuchen gingen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zurück. Da der Rückgang der Pockenseuche so ungewohnt und neu war wie das zur gleichen Zeit erlassene Reichs-Impfgesetz, muß sich unter den Deutschen ein unerschütterlicher Glaube an die Wirksamkeit der Pockenimpfung entwickelt haben, der so weit ging, daß man die furchtbaren Impfopfer, nämlich die getöteten und zerstörten Kinder, zuerst nicht wahrhaben wollte und dann verschwieg. Eine öffentliche Bekanntgabe von genauen Zahlen über Impfschadensfälle die ganze Bundesrepublik betreffend, sucht man noch heute vergeblich. Man erfährt nur hin und wieder Prozentzahlen. So nannte Dr. SCHUMACHER vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit am 16. 1. 1973 bei einer Arbeitstagung des Ausschusses für Seuchenbekämpfung 17 bis 20 Todesfälle sowie 45 Dauerschäden pro Jahr. Mit diesen Durchschnittszahlen errechnet man seit Bestehen der Bundesrepublik 481 Impftodesfälle und 1170 Dauerschäden. Dieses sind jedoch nur die Durchschnittszahlen der anerkannten Impfschäden, die wirkliche Zahl liegt viel höher. Nur zögernd erschienen ab 1920 die ersten medizinischen Veröffentlichungen über Impfschäden. Dieses änderte sich erst nach dem zweiten Weltkrieg. Allerdings gab es immer noch mehr Veröffentlichungen von Ärzten, welche für die Pockenimpfung Propaganda machten und die Erwähnung von Impfschäden in ihren Artikeln unterließen. Noch heute haben viele Eltern die größten Schwierigkeiten, für ihr zerstörtes Kind eine Impfschaden-Anerkennung zu erreichen. Sie werden mit den ver299

schiedensten Begründungen abgewiesen, und es ist nicht selten, daß die oder der Impfgeschädigte das 30. Lebensjahr bereits überschritten hat und die gerichtlichen Verhandlungen immer noch laufen. Auch sind impfende Ärzte bis heute noch nicht von der Gutachtertätigkeit in Impfschadensfällen ausgeschlossen. Man muß Impfärzte für Übermenschen halten, wenn man glaubt, sie wären abgeklärte Gutachter bei Schäden, die durch eine von ihnen ausgeführte oder angeordnete Impfung verursacht sein können. Wenn sich aber ein Kind bis zur Impfung nachweislich normal entwickelt hat und es nach der Impfung zum geistigen und körperlichen Krüppel wurde, dann ist die Wahrscheinlichkeit der Impfschädigung gegeben, sie ist für die unglücklichen Eltern jedoch oft nicht nachweisbar. Diese Familien haben sich im »Schutzverband für Impfgeschädigte« (5912 Hilchenbach, Postfach 1330, Vorsitzender N. FORSCHEPIEPE) zusammengeschlossen, um auf diese Weise ihre Interessen besser wahren zu können. Bei einer Diskussion über die Pockenimpfung wird häufig der Einwand vorgebracht, daß durch das Nachlassen der allgemeinen Impfung der Immunitätsgrad sinkt und dann im Falle einer Pockeneinschleppung, wie diese heute durch den Flugverkehr immer möglich ist, eine Epidemie schnell um sich greifen würde. Dem sind die englischen Verhältnisse entgegen zu halten. England hat seit 1896 eine »Gewissensklausel« für die Impfung, seit 1946 ist die Impfung dort freiwillig und seit 1971 wurden routinemäßige Kinderimpfungen ganz aufgegeben. Trotzdem hat England — bei stärkerer Verbindung zu den klassischen Pockenländern Indien und Pakistan als die Bundesrepublik und einer »Immunität« unter 5 % (Prof. DICK, London) 4 — nicht mehr Pockenfälle als Deutschland. Die USA und Kanada haben 1971 die Impfpflicht aufgehoben. Als Grund wurde angegeben, daß die Impfung weit gefährlicher sei als die Pocken. Schließlich sei noch auf Indien verwiesen. Viele Zeitungen berichteten 1974 über die große Pockenepidemie in Indien. »Die Pockenepidemie des Jahrhunderts«, schrieb eine Zeitung, »in den ersten vier Monaten dieses Jahres über 30 000 Pockentote«, eine andere. 163 634 gemeldete Pockenfälle bis Juli 1974 gibt eine WHO-Statistik an. Nach einer WHO-Karte liegt das Epidemiegebiet in den Ländern des Gangesstromtales, in dem man vorwiegend Oberflächenwasser benutzt. Die indischen Bergdörfer, die ihr Wasser aus Quellen oder Bergbächen schöpfen, sind immer pockenfrei gewesen. Indien hat eine Impfpflicht alle fünf Jahre. Bestimmt wird aber mit Hilfe der W H O noch öfter geimpft. Dieses ist aus einigen Statistiken ersichtlich. Auch soll der indische Student, der vor Jahren die Pocken nach Ostberlin einschleppte, 28mal geimpft gewesen sein, was auf eine jährliche Impfung hindeutet. Welcher Wert diesen umfangreichen Impfungen, die natürlich mit großen Kosten verbunden sind, beizumessen ist, wenn Indien 1974 »die Pockenepidemie des Jahrhunderts« hatte, kann jeder selbst beantworten. 300

Für die deutschen Verhältnisse ist es noch wichtig, folgendes zu wissen: Früher impfte man Kinder im allgemeinen zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr. Da es gelegentlich zu heftigen Krankheitserscheinungen nach der Impfung kam (Gehirnentzündung = Encephalitis), empfahl man in Deutschland eine Impfung zu einem früheren Zeitpunkt. Durch die Frühimpfung wurde jedoch die akute Erkrankung (Gehirnerkrankung = Encephalopathie) nicht nur schwerer erkennbar, die verbleibenden Impfschäden wurden schlimmer. Während die Gehirnentzündung eines Kindes nach dem 3. Lebensjahr auch nach heftigen Krankheitserscheinungen ausheilen kann, ist das frühkindliche Gehirn noch nicht in der Lage, mit einer Entzündung zu reagieren, es wird vielmehr in größerem oder kleinerem Umfang zerstört, d. h. es kommt zu Blutaustritten aus den Gefäßen des Gehirnes, wobei spezifische Hirnzellen — mit denen das Kind später denken soll — zugrunde gehen. Das Kleinkind aber kann Kopfschmerzen und Beschwerden noch nicht äußern, oft ist nur ein Scheuern des Kopfes am Bettgestell das einzige äußere Zeichen für den Zerstörungsvorgang im Gehirn (G. BUCHWALD) 5 Die Pockenimpfung ist eine sehr gefährliche Zwangsmedikation, für deren gesetzliche Anordnung es keine ausreichende Begründung gibt und die auch mit dem Grundgesetz nicht in Übereinstimmung steht. Ein »historischer Massenwahn« — so Med.-Dir. Dr. G. BUCHWALD, Bad Streben6 — hat unzählige Opfer gefordert und fordert sie noch. Jeden Tag, den dieses hundertjährige Reichs-Impfgesetz weiter besteht, können durch dessen Durchführung Kinder getötet oder zu geistigen und körperlichen Krüppeln gemacht werden. Damit wird großes Leid über die betroffenen Familien gebracht, gar nicht zu reden von der oft nicht zu bewältigenden Anstrengung des Anerkennungsweges durch die Instanzen. Die Pocken sind zweifellos eine furchtbare Krankheit, der anscheinend nur mit Hygiene und — falls die Seuche eingeschleppt wurde — mit absoluter Isolierung beizukommen ist. Die Wichtigkeit der Isolierung ist den deutschen Gesundheitsbehörden nach bösen Erfahrungen durchaus klar geworden. Der im April 1974 mit Pockenverdacht aus Indien nach Berlin zurückkehrende Stephan Grether wurde gründlich isoliert: Die Ritzen an Fenstern und Türen wurden verklebt wegen der Luftzuggefahr, mit der Viren weitergetragen werden können, die Türklinken wurden abmontiert, um ein Entweichen des Patienten zu verhindern, das Gebäude wurde polizeilich abgesperrt und nachts durch eine sogenannte Lichtgiraffe erleuchtet. Kontaktpersonen durften ihre Wohnungen nicht verlassen und wurden ärztlich überwacht, aber nicht geimpft. Es erfolgten auch keine Aufrufe zu Massenimpfungen, die erstens eine Hysterie verursachen und außerdem sehr kostspielig sind. Es wird immer wieder darauf hingwiesen, daß es heute sehr einfach ist, von der noch vorgeschriebenen gesetzlichen Pockenimpfung befreit zu werden. Verantwortungsbewußte Eltern werden ihr Kind auch freistellen lassen. Leider 301

macht der überwiegende Teil der Bevölkerung alles mit, wie er auch alles in sich hineinißt. Diesen Teil gilt es aufzuklären. Wer heute sein Kind impfen läßt, obwohl er die möglichen Folgen kennt, muß sie auch tragen. Unser Mitgefühl gilt den Opfern, nämlich den zerstörten Kindern und den gemarterten Tieren7.

Anmerkungen: 1 H E R K E R , A. C.: Die Herstellung des Pockenimpfstoffes. In: Die Kapsel 32 (1974), S. 1448. Zeitschr. der R. P. Scherer GmbH, Eberbach/Baden. 2 In einigen wenigen Fällen wird versucht, Vakzinia-Viren auf angebrüteten Hühnereiern zu züchten. Da es aber sehr schwierig ist, Hühnereier leukosevirenfrei zu bekommen, hat diese Vakzinia-Virenzüchtung z. Zt. noch keine Bedeutung. 3 SHAW, G. B.: Der Arzt am Scheidewege. Vorrede über Ärzte. In: Komödien des Unglaubens. Artemis-Verlag, Zürich. 4 DICK, G.: Routine Smallpox Vaccination. Brit. Med. J. 3 (1971). S. 164. 5 BUCHWALD, G.: Medizinische Fragen der Entschädigung Med. Welt 25 (1974), S. 1310—1315.

impfgeschädigter Kinder.

6 BUCHWALD, G.: Die Pockenschutzimpfung — ein historischer Massenwahn. In: Natürl. Heilweisen 5/1971, S. 81. 7 Im Frühjahr 1975 wurde in der Bundesrepublik und West-Berlin die Pockenimpfung für Kleinkinder ausgesetzt. Die Änderung des Reichsimpfgesetzes ist in Vorbereitung. Bereits geimpfte Kinder sollen bei Erreichung des 12. Lebensjahres wiedergeimpft werden. (Stand vom 1. 9. 1975.)

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When all arguments are over, of one has not been convinced by the weight of reason, one's nightmares and day dreams should still be filled, if one's actual experience is not, with the vision of countless other animals dying and dead in the misconceived interests of man. Wenn alle Argumente vorüberrauschten, wenn nicht das Gewicht der Gründe überzeugte, sollten unser Alpdrücken und unsere Tagträume, wenn gegenwärtige Erfahrung fehlt, dennoch gefüllt sein mit der Vision zahlloser, in den mißverstandenen Interessen des Menschen sterbender und toter Tiere.

D A V I D W O O D : Strageties. In: S. & R. G O D L O V I T C H and J. HARRIS: Animals, Men and Morals. London 19/1. S. 211.

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LISTE

DER

MIT

ARBEITER

ELISABETH BEGOIHN, Dr. med., 7 Stuttgart 1, Ludwig-Hofer-Str. 14. Homöopathie, Naturheilverfahren. Mitarbeit in der Mazdaznanbewegung. RALPH BIRCHER, Dr. rer. oec., CH-8703 Erlenbach-Zürich, Laubholz 16. Herausgeber der Zeitschrift »Der Wendepunkt«. V.: Soldatenkost 1936, Genuß und Askese 1944, Hunsa, das Volk, das keine Krankheit kennt (Bern/Stuttgart 1952), Lebenswerte Gegenwart (Zürich 1958), Perspektiven zur Eiweißfrage 1957, Geschichte und Geographie der Ernährung 1958, BIRCHER-BENNER, Leben und Lebenswerk 1960. K E N N E T H DALZIEL O'BRIEN, 73 Crispin Rd. Bradville I, Milton Keynes. MK 13 7 BT. Buckinghamshire. England. Landschaftsarchitekt, Künstler, Designer, Mitbegründer des Vegan-Systems. WILHELM BROCKHAUS, em. o. Prof. (Gesamthochschule Wuppertal, Lehrstuhl für Geographie und ihre Didaktik, früher Dozent für Biologie), 56 Wuppertal 11, Blücherstr. 6 V.: (zus. m. H. BUDDE) Die Vegetation des Südwestfäl. Berglandes (Bonn 1954), Biologie in unserer Zeit (Essen 1958), Biol. Unterricht in unserer Zeit (Essen 1968, (zus. m. W. GROH): Biologie der Lebensführung (Essen 1971). Mitarbeit in naturw. Vereinen, der VegetarierUnion Deutschland (jetzt Bund für Lebenserneuerung), der Redaktion »Der Vegetarier« und im »Verein z. Förd. v. veg. Diät-Altenheimen e. V.«. GERARDINA VAN DALFSEN, Dipl.-Psychologin, Dr. theo!., Hilversum/ Niederlande, Bergweg 7. Früher freikirchl. Predigerin, später Psychologin in einer therap. Anstalt f. neurot. Deliquenten, jetzt Psychotherapeutin. V.: »Das innere Licht b. d. Quäkern, besond. b. Barclay« (holl., 1940), z, Zt. beschäftigt m. Quäkertum im 17. Jhdt. Mitarbeit am Buche v. B. STOKVIS »Psychologie der Suggestion und Autosuggestion« (1947) u. als Übersetzerin v. STOKVIS' »Kulturpsychologie u. Hygiene« (Hippokrates-Verlag 1965). 307

RUDOLF DAUR, Pfarrer i. R., 7 Stuttgart 80 (Möhringen), Fleischhauerstr. 7. 1921—1962 ev. Pfarrer in Reutlingen, Rohr, Stuttgart. Mitarbeit (Ehrenpräsident) im Deutschen Bund f. Freies Christentum, in d. Una-Sancta-Bewegung, der Int. Ges. f. Tiefenpsychologie u. der Veg. Ges. Stuttgart sowie bei etlichen Zeitschriften. V.: Durchlichteter Tag (1963), Die Zeit ist erfüllt (Predigten, 1964), August Schaal (1972). WILHELMINA M. EIKEBOOM-BROEKMAN, Amsterdam-Zuid, President-Kennedylaan 146 II. Viele Jahre Lehrerin, jetzt Ruhestand. Sekretärin von »De Nederlandse Vegetariersbond«, Mitarbeiterin in der Red. der Monatsschrift »leven & laten leven«, Vorstandsmitglied d. Int. Vegetarier-Union. VERA GOTTKE, 1 Berlin 28, Waidmannslust. Arztsekretärin. Mitarbeit in der veg. Bewegung, auch als Übersetzerin aus dem Schwedischen. BRIAN J. GUNN-King, Dip. T. C. P. (Nottm.); F. R. T. P. I.; F. R. S. H.; M. L. I. (N. Ireland); A. M. B. I. M. »Braidjule«, 120 Knockan Road, Broughshane, County Antrim, Northern Ireland (U. K.) BT43 7 LE. — Environmental planner. Honorary General Secretary Intern. Veg. Union (IVU). JACK W. LUCAS, B. Sc., F. R. I. C., 44 Worcester Avenue, Garstang, Lancs. PR3 1 EJ. England. Dozent f. Strahlenschutz u. Stellv. Leiter d. Department University of Manchester Radiological Service. Vorsitzender des SCIVU (Science Council of the International Vegetarian Union [IVU].) Our Polluted Food (London, New York 1975), World Food Pollution in the Balance (1974). GEORG MAGG, Dr. theol., kath. Pfarrer. 8111 Walchensee, Ringstr. 29. Mitglied und Mitarbeit u. a. in der »Gemeinschaft christl. Vegetarier und Lebensreformer«. SHRI JAYANTILAL N. MANKAR, Bombay 3, Dayamandir, 123/125 Mumbadevi Road, India. Mitglied des Animal Welfare Board (Gvt. of India); Vice-President der Int. Veg. Union; Hon. Secretary der Bombay Humantarian League. PHILIP LEON PICK, F. F. S., F. S. V. A., A. C. 1.1. — Bet Teva, 855 Finchley Road, London N. W. 11, England. Surveyor (i. d. Wiederaufforstung in Wales). Herausgeber von »The Jewish Vegetarian« und Vorsitzender der Jüd. Veg. Gesellschaft, Stellv. President der Int. Veg.Union. UDO RENZENBRINK, Dr. med., Arzt. 7663 Bad Liebenzell, Unterlengenhardt, Zu den Eichen 7. 308

Arbeitsgebiet: Ernährungsforschung; Leiter d. Arbeitskreises f. Ernährungsforschung. V.: Das Getreide als menschengemäße Nahrung (Dornach), Zeitgemäße Getreideküche. OTTO ROBINSON, Dr. jur., Rechtsanwalt, Haifa (Israel), 3 Shmaryahu Levin Street. Mitarbeit in der veg. Bewegung Israels und in Amirim. HERBERT ROHNER, Realschullehrer, 42 Oberhausen, Seilerstr. 59. Mitarbeit im Bund f. Lebenserneuerung. Ubersetzte engl. Beiträge. SWARAN SINGH SANEHI, V. & P. O. Shapur, Via Phillaur, Distr. Jullundur, Indien. Mitarbeiter Seiner Heiligkeit SHRI SATGURU SAGJIT SINGH JI MAHARY und der Academy of Namhari Culture, Sekretär d. Intern. Vereinigung vegt. Autoren. KÄTHE SCHÜDER, 2407 Lübeck-Travemünde 1, Lembkestr. 7. Mitarbeit im Nazoräer-Orden. V.: »Vegan-Ernährung« (1962). CARL ANDERS SKRIVER, Dr. phil., 2407 Lübeck-Travemünde, Lembkestr. 7. Ev. Pfarrer i. R., Schriftsteller, Gründer des Nazoräer-Ordens. V.: Die Regel der Nazoräer im 20. Jahrhundert (Berlin-Dahlen 1960), Der Verrat der Kirche an den Tieren (München 1967), Die Lebensweise JESU und der ersten Christen (Lübeck-Travemünde 1973). GÜNTHER STOLZENBERG, 32 Hildesheim, Kalenberger Graben 14. Dipl.Handelslehrer i. R., Sportlehrer, Studienrat. V.: Die Ernährung des Sportlers (Baden-Baden 1959), Heil oder Unheil durch Röntgenstrahlen (Hilchenbadi 1961), Die ganze Tierwelt ruft um Hilfe (München-Pasing 1965), Höchstleistung durdi Ganzheitsernährung (Heidenheim/Brenz 1973). OTTO WELKER, 713 Mühlacker, Iglauerstr. 34. Missionsgesellschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, Reformations-Bewegung.

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