Naturalismus und Menschenbild 9783787318797, 9783787320660

Der erste Band des neuen Jahrbuchs nimmt Stellung zu dem aktuellen Diskurs über das Problem der Willensfreiheit, die neu

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Naturalismus und Menschenbild
 9783787318797, 9783787320660

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Deutsches Jahrbuch Philosophie Band 1: Naturalismus und Menschenbild

Deutsches Jahrbuch Philosophie Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Philosophie Band 1

FELIX MEINER VERLAG



H AM BURG

Naturalismus und Menschenbild Herausgegeben von

peter janich

FELIX MEINER VERLAG



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Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-1879-7

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag, Hamburg 2008. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gestaltung: Marcel Simon-Gadhof. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer, Bad Langensalza«. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Peter Janich Vorwort . . . . ... .. .. ... .. ... .. .. ... .. ... .. .. .. ... .. .. ... .. ..........................

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Jürgen Habermas Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft. Probleme der Willensfreiheit . ... .. .. ... .. ... .. .. ... .. .. .. ... .. ... .. .. ... .......................

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Peter Janich Naturwissenschaft vom Menschen versus Philosophie ....................

30

Christoph Hubig /Andreas Luckner Natur, Kultur und Technik als Reflexionsbegriffe . ........................

52

Dirk Hartmann Posttraditionalität und Ethik .. .. .. ... .. .. .. ... .. ... .. ........................

67

Rainer Forst Die Perspektive der Moral. Grenzen und Möglichkeiten des Kantischen Konstruktivismus in der Ethik . .. ... .. .........................

126

Carl Friedrich Gethmann Warum sollen wir überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Zum Problem einer lebensweltlichen Fundierung von Normativität ...

138

Geert Keil Naturgesetze, Handlungsvermögen und Anderskönnen ..................

157

Mathias Gutmann Transformationen des Humanen: Beiträge zur Analyse der Rede von der Natur des Menschen .. .. ... .. .. ... .. ... .......................

185

6

Inhalt

Armin Grunwald Orientierungsbedarf, Zukunftswissen und Naturalismus. Das Beispiel der »technischen Verbesserung« des Menschen .............

212

Christoph Demmerling Welcher Naturalismus? Von der Naturwissenschaft zum Pragmatismus

240

Matthias Kettner Was macht Gründe zu guten Gründen? . .. .. ................................

257

Michael Weingarten Die abhängige Unabhängigkeit der Philosophie von den Einzelwissenschaften . ... .. .. .. ... .. .. ... .. ... .................................

276

Lutz Wingert Lebensweltliche Gewissheit versus wissenschaftliches Wissen? ..........

288

Geleitwort zum 1. Band

Das Erscheinen des 1. Bandes des Deutschen Jahrbuchs für Philosophie bietet Gelegenheit, die philosophische Fachöffentlichkeit über die Gründe zu informieren, die den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Philosophie e. V. (DGPhil) mit Zustimmung des Erweiterteten Vorstands bewogen haben, das unter den gegenwärtigen Umständen keineswegs kleine Wagnis einzugehen, eine neue Jahrbuch-Institution zu beginnen. Die Überlegungen des Vorstands gingen von der satzungsgemäßen Aufgabe des jeweiligen Präsidenten aus, alle drei Jahre einen Deutschen Kongreß für Philosophie zu veranstalten, der unter einem Leitthema den Stand der philosophischen Forschung im deutschsprachigen Raum dokumentieren soll, und die Kolloquiumsbeiträge anschließend in gedruckter Form zu publizieren. Die in den Zwischenjahren stattfindenden Foren für Philosophie jeweils zu einem begrenzten Thema stellen eine weitere Aktivität der DGPhil dar, die ein Mitglied der Gesellschaft im Auftrag des Vorstands durchführt und deren Ergebnisse ebenfalls regelmäßig veröffentlicht werden sollten. Somit ergibt sich im jährlichen Takt ein Bedarf für einen Tagungsband. Es liegt daher nahe, unter der Verantwortung des Vorstands der DGPhil ein Deutsches Jahrbuch für Philosophie herauszugeben, um dadurch die Kongresse und Foren als satzungsgemäße Aufgaben der DGPhil zu manifestieren. Das Deutsche Jahrbuch für Philosophie wird damit in Zukunft das Organ der regelmäßigen Dokumentation der Tagungsbeiträge der Foren und der Kolloquiumsbeiträge der alle drei Jahre stattfindenden großen Kongresse sein. Herausgeber der einzelnen Bände sollen unter der Verantwortung des Vorstands die jeweiligen Tagungs- bzw. Kongreßausrichter sein. Demgemäß werden die Vorträge der Foren in Marburg (2006, hg. von Peter Janich, vorliegender Band) und Leipzig (2007, hg. von Pirmin Stekeler-Weithofer) sowie die Kolloquiumsbeiträge des XXI. Philosophiekongresses (2008, hg. von Carl Friedrich Gethmann) die ersten drei Bände des Jahrbuchs bilden. Dem Meiner-Verlag, der bereit ist, das Deutsche Jahrbuch für Philosophie zu verlegen, sei für seine Bereitschaft zu dieser Zusammenarbeit herzlich gedankt. Essen im März 2008

Carl Friedrich Gethmann (Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie e.V.)

Peter Janich

Vorwort

Am 28. und 29. September 2006 fand an der Philipps-Universität Marburg eine Tagung zum Thema »Naturalismus und Menschenbild. Zur Rolle der Philosophie gegenüber den Naturwissenschaften« statt. Sie war als »Forum für Philosophie« und damit als Jahrestagung der »Deutschen Gesellschaft für Philosophie« ausgewiesen. Der Tagungstyp »Forum für Philosophie« hatte die traditionsreichen Tagungen des »Engeren Kreises«, das heißt aller Lehrenden und Habilitierten der Philosophie deutscher Sprache abgelöst, um sie auch anderen Interessenten zu öffnen. Erhalten geblieben ist die Funktion, jährlich zwischen dem jeweils alle drei Jahre stattfindenden »Deutschen Kongress für Philosophie« eine kleinere Tagung unseres Faches zu veranstalten. Die Marburger Tagung, die unter meiner wissenschaftlichen und organisatorischen Leitung stand, hatte allerdings eine besondere Vorgeschichte. Man muss sie kennen, um das Programm und die Auswahl der Sprecher zu verstehen. Seit sich der Kreis meiner Mitarbeiter und Schüler, dem natürlichen Gang akademischer Lebensläufe entsprechend, aufzulösen begann, hatte ich über einige Jahre hinweg zu einem »Marburger Philosophischen Herbst« eingeladen. Der Kern der Teilnehmer ist etwa durch die Autoren der beiden SuhrkampBände zum Methodischen Kulturalismus bestimmt.1 Hinzu kamen aktuelle Mitarbeiter, Doktoranden und Habilitanden. Gegenstand dieser Treffen war ein langer philosophischer Nachmittag mit kurzen Berichten der Anwesenden aus der eigenen Forschungstätigkeit. Beim gemeinsamen Abendessen wurden Erinnerungen an die Oberseminare im Blitzweg lebendig, dem Ort der Auslagerung meiner Arbeitsgruppe für 14 Jahre. Bei einem Brunch am darauf folgenden Samstag kam dann regelmäßig als Pflichtthema zur Sprache, worin denn nach Meinung der Anwesenden die größten Lücken, die dringendsten Pflichten und die wichtigsten Aufgaben für die philosophische Arbeit des folgenden Jahres zu sehen seien, sofern es sich um solche der ganzen Gruppe und nicht des Einzelnen handelte. 1

D. Hartmann, P. Janich (Hg.), Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne, Frankfurt a.M. 1996; und D. Hartmann, P. Janich (Hg.), Die Kulturalistische Wende. Zur Orientierung des philosophischen Selbstverständnisses, Frankfurt a.M. 1998.

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Peter Janich

Für das Herbsttreffen 2006 sollte dieser quasi familiäre Rahmen durchbrochen werden. Denn ich würde zum Ende des Wintersemesters 2006/07 aus Altersgründen meinen Marburger Lehrstuhl, den ich seit 1980 inne hatte, mit dem Ruhestand eintauschen. Ich schlug deshalb vor (und beriet mich mit den noch in Marburg verbliebenen ehemaligen Schülern Michael Weingarten und Mathias Gutmann), eine kleine Tagung zur Naturalismuskritik zu veranstalten. Statt bei den eigenen Arbeiten auf Fortsetzung zu dringen, sollte ein Gespräch mit Vertretern der Frankfurter Schule gesucht werden, deren Schriften in den Marburger Diskussionen stets eine wichtige Rolle gespielt hatten. So hatten wir in einem der letzten Oberseminare unter anderem das Buch »Wahrheit und Rechtfertigung« von Jürgen Habermas (Frankfurt 1999) diskutiert, in dessen Einleitung (»Realismus nach der sprachpragmatischen Wende«) der Autor, zur Pointierung eines Unterschieds gegenüber K.-O. Apel, seine »Option für einen ›schwachen‹ Naturalismus« (S. 13) äußert. Was dort als Abschwächung von »Rortys starkem Naturalismus« bezeichnet wird und »stärkere epistemische Ansprüche zur Geltung bringen« soll, wird schließlich zwischen dem strengen Naturalismus Quines und dem seinsgeschichtlichen Idealismus Heideggers als »von beiden Seiten ignorierte Alternative eines schwachen Naturalismus« – nach Kant und Darwin – empfohlen. Nicht zu übersehen war das von Habermas investierte Menschenbild: »Der schwache Naturalismus begnügt sich … mit der grundsätzlichen Hintergrundannahme, dass die organische Ausstattung und die kulturelle Lebensweise von homo sapiens einen ›natürlichen‹ Ursprung haben und grundsätzlich einer evolutionstheoretischen Erklärung zugänglich sind.« (S. 38) Diese Auffassung vertrug sich schlecht mit den Forschungsergebnissen, die in der Marburger Gruppe sowohl zu Fragen der Evolutionsbiologie als auch zu Fragen des Menschenbildes aus Sicht der Fachwissenschaften und der Philosophie entwickelt worden waren und in mehreren Büchern publiziert sind.2 Inzwischen hatte Jürgen Habermas auf meine Einladung am 28. Juni 2001 die Christian-Wolff-Vorlesung zum Thema »Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Der Streit um das ethische Selbstverständnis der Gattung« gehalten. 2005 war der inzwischen nicht nur durch die Gentechnik, sondern auch die durch die Neurowissenschaften gespeiste öffentliche Diskussion um das Menschenbild der Naturwissenschaften zu einer Auseinandersetzung um den (von den Marburger Methodischen Kulturalisten engagiert geführten) Streit über den Naturalismus geworden. Als dann noch von Habermas das Buch »Zwischen Naturalismus und Religion« erschien, waren Eckpunkte einer Debatte 2

Vgl. etwa die ca. 30 Titel des Literaturverzeichnisses in: P. Janich, M. Weingarten (Hg.), Wissenschaftstheorie der Biologie, München 1999, in der Abteilung »1. Weiterführende Literatur zum Methodischen Kulturalismus und zur Protobiologie«, S. 297–299.

Vorwort

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bestimmt, die nach dem verdienstvollen Diskussionsband »Naturalismus« von G. Keil und H. Schnädelbach dringend der Diskussion bedurften. Kurz, es entstand der Plan, zu meinem Abschied aus dem aktiven Dienst eine kleine, wissenschaftliche Tagung in Marburg zu veranstalten, zu der neben Jürgen Habermas auch Rainer Forst, Axel Honneth und Lutz Wingert eingeladen werden sollten. Neben den Rednern aus dem Marburger Kreis sollten außerdem Sprecher gewonnen werden, die eine Kenntnis der diskutierten Positionen mit einer kritischen Distanz mindestens zu einer der beiden Seiten verbanden. So entstand, nach den bekannten Zufällen von Zu- und Absagen, die zwangsläufig mit der Organisation einer Tagung zu einem bestimmten Termin zusammenhängen, schließlich ein Programm einer zweitägigen Veranstaltung, für die bei der Fritz-Thyssen-Stiftung ein Finanzierungsantrag gestellt und bewilligt wurden. Dieser Antrag war folgendermaßen begründet: »Bekanntlich sind in der westlichen Geistesgeschichte Themen und Fragestellungen, die ursprünglich zur Philosophie gehörten, zu Einzelwissenschaften geworden, oder einzelne Fachwissenschaften reklamieren ihre oder ihre ausschließliche Zuständigkeit für sie. Sieht man von dem Sonderfall ab, daß sich Philosophie auf bloße Philosophiegeschichtsschreibung zurückzieht und auf die archivalische Verwaltung des tradierten Textbestandes beschränkt, lassen sich wenigstens drei Formen der Reaktion der Philosophie auf diese Schwerpunktverschiebung unterscheiden: 1. die Ausbildung einer »dekonstruktiven« Metaphysik und Ontologie, in der eine Differenz zwischen Philosophie und Wissenschaften als unüberbrückbar behauptet wird, die aber hinsichtlich ihrer sprachlichen Mittel zur Verwirklichung dieses Projekt im günstigsten Falle unzureichend reflektiert bleiben; 2. die Ausbildung einer Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, die zwar sprachkritisch die Mittel der Wissenschaften reflektiert, darüber hinaus aber keine weiteren eigenen Forschungsfelder mehr beansprucht, die unabhängig von den Einzelwissenschaften durch die Philosophie zu bearbeiten wären; 3. die programmatische These, Philosophie sei selbst als (strenge) Wissenschaft möglich und zu betreiben, die sich von den etablierten Fachwissenschaften dadurch unterscheide, daß in ihr die Wissenschaftlichkeit der Fachwissenschaften Gegenstand philosophischer Reflexion wird. In jeweils eigentümlicher und spezifischer Weise kennzeichnet es diese drei voneinander verschiedenen Philosophieverständnisse, daß sie in ihren Argumentationsgängen an begründungsrelevanten Stellen auf ein Wissen zurückgreifen, das in seinen Geltungsansprüchen von der jeweiligen Philosophie nicht mehr eingeholt werden kann, sondern schlicht als geltend gesetzt werden muß: Sei es z. B. im metaphysisch-ontologischen Ansatz, daß von einem »Entbergen des Seins in der Sprache« gesprochen wird; sei es z. B., daß wissenschaftstheoretisch das Vorhandensein von Wissenschaften mit Geltungsanspruch und dessen Einlösung als Faktum genommen wird; oder sei es z. B., daß transzendentalphilosophisch ein Gattungssubjekt Mensch postuliert wird, dessen Eigenschaften nicht von der Philosophie selbst, sondern etwa von einer biologisch gestützten Anthropologie beschrieben werden.

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Peter Janich

Schon ein kursorischer Überblick über die meisten gegenwärtigen Debatten im Schnittfeld von Philosophie und Wissenschaften zeigt, daß diese Problemsituation des Rückgriffs auf unhinterfragte Setzungen geradezu kennzeichnend ist für die Lage der deutschsprachigen Philosophie. Seien es Fragen und Probleme im Kontext bioethischer Kontroversen, seien es Ansprüche und Zurückweisungen der Neurowissenschaften oder auch der Technikwissenschaften, die Philosophie sieht sich dem Problem der Relativierung ihrer eigenen Geltungsansprüche ausgesetzt. Soll Philosophie in diesen Kontexten wieder Argumentationsfreiheit und eine Ausweitung einlösbarer Geltungsansprüche gewinnen, dann ist es eine vordringliche Aufgabe zu klären, ob und inwiefern philosophische Argumentationen in ihren Geltungsansprüchen etwa generell abhängig sind von der Übernahme eines gesetzten, als gültig behaupteten Wissens, das die Philosophie mit ihren Mitteln schlichtweg zu akzeptieren habe. Das heißt, es ist zu klären, ob und inwiefern es nicht doch Möglichkeiten des Philosophierens gibt, in dem jeder argumentative Schritt mit ausgewiesenen eigenen begrifflichen Mitteln getan werden kann, ohne dabei hinter die sprachkritischen Einsichten des 20. Jahrhunderts zurückzufallen oder sich in eine bezüglich der eigenen Geltungsansprüche prinzipiell aporetische Abhängigkeit von einzelwissenschaftlichem Wissen begeben zu müssen. Ein Fixpunkt dieser Klärung kann das Verhältnis von diskurstheoretischen und methodischen Ansätzen sein, die in der theoretischen wie der praktischen Philosophie wenigstens graduell verschieden mit den Ansprüchen und Ergebnissen der Naturwissenschaften umgehen, insbesondere wo diese zunehmend Themen der philosophischen Anthropologie und der Ethik übernehmen. Als Probe aufs Exempel soll in einer Abschlußdiskussion entsprechender (kleiner) Podiumsbesetzung erwogen werden, ob rechtlich relevante Folgerungen aus den verschiedenen, vorher diskutierten Perspektiven der Philosophie an die Naturwissenschaften vom Menschen anzuschließen sind.

Das klar gesteckte Ziel dieser Tagung war also nicht eine Diskussion mit bekennenden Naturalisten über die Spielarten des Naturalismus zu führen, sondern mit Philosophen unterschiedlicher Einschätzung der Herausforderungen, die von den Naturwissenschaften vom Menschen ausgehen, zu diskutieren. Eine Kenntnis naturalistischer Positionen war bei allen Teilnehmern vorausgesetzt. Es sollte andererseits unbedingt vermieden werden, sich die in der Literatur zugänglichen naturalistischen Positionsdarstellungen von philosophischer oder naturwissenschaftlicher Seite erneut anzuhören, um festzustellen, dass eine in vielen Facetten geführte und publizierte Kritik am Naturalismus von dessen Vertretern weitgehend ignoriert wird. Damit war für eine kleine Spezialistentagung bewusst eine thematische Fokussierung und Beschränkung vorgesehen. Sie sollte ihr eigenes philosophisches Gewicht dadurch erhalten, dass die erkennbar verschiedenen Einschätzungen der Aufgabe der systematischen Philosophie gegenüber den Naturwissenschaften, etwa exemplifizierbar an Frankfurter und Marburger Texten, zum Thema werden. Dabei sollten selbstverständlich nicht nur wissen-

Vorwort

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schaftstheoretische Fragen, ja nicht nur Fragen der theoretischen Philosophie, sondern auch ethische und anthropologische Aspekte diskutiert werden. Die Vorbereitung der Tagung war bereits zu einer gewissen Reife gediehen, als Carl Friedrich Gethmann, Präsident der DGPhil, kurzfristig eine Absage seitens eines anderen Ausrichters für das »Forum für Philosophie« des Jahres 2006 erhielt. So entstand, nach Rücksprache mit der Thyssen-Stiftung, kurzfristig der Plan, die bereits programmatisch festgelegte Tagung aus dem Rahmen des »Marburger Philosophischen Herbstes« in den größeren Zusammenhang der Deutschen Gesellschaft für Philosophie zu überführen. Dem Erfordernis dieses Veranstaltungstyps entsprechend sollte zusätzlich eine Abendveranstaltung stattfinden. Dazu wurde eine Podiumsdiskussion zum Thema »Zwingt der Naturalismus die Gesellschaft zum Umdenken bei Strafrecht und Erziehung?« geplant. Unter der Moderation des Veranstalters setzte sich das Podium zusammen aus den Philosophen Carl Friedrich Gethmann und Jürgen Habermas, dem Hirnforscher Wolf Singer und den Juristen und Rechtsphilosophen Jan C. Joerden und Reinhard Merkel. (Sie ist in diesem Band nicht dokumentiert.) Die Tagung war wegen des umfangreichen und gedrängten Programms ungewöhnlich dicht und konzentriert. Die Regie des Programms sah vor, schon mit den beiden Eröffnungsvorträgen von Habermas und Janich eine Zuspitzung auf möglicherweise kontroverse Einschätzungen der Naturwissenschaften vom Menschen, und zwar vor allem in ihren philosophischen Prämissen und Konsequenzen, herbeizuführen, die in weiteren Gegenüberstellungen zu den Themen der Ethik, zu Willensfreiheit und Determinismus, und allgemein zu unterschiedlichen Formen und Thesen des Naturalismus fortgesetzt werden sollte. Leider erzwangen organisatorische Gründe eine Umstellung, in der die Vorträge von Habermas und Gethmann im Programm ausgetauscht wurden. So verliefen Zuspitzungen in den Diskussionen der Vorträge anders, als es die Tagungsregie erhofft hatte. Dennoch, und dies war eine während und zu Ende der Tagung oft zu hörende Einschätzung der Teilnehmer wie der Gäste, waren die Vorträge auf ungewöhnliche Weise thematisch fokussiert und argumentativ diszipliniert. Es ging nicht darum (und sollte auch für die vorliegende Publikation nicht darum gehen), dass die einzelnen Sprecher neue, bisher unveröffentlichte Thesen und Ergebnisse vortragen, sondern es ging – mit bereits ausgearbeiteten Positionen – um einen diskursiven Austausch von Argumenten. Wie weit dieses Ziel auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes verfolgt und erreicht wird, bleibt festzustellen dem Leser überlassen. Jedenfalls sollte es für die Publikation der vorliegenden Beiträge kein Hinderungsgrund sein, wenn es sich dabei um Texte handelt, die – mit gewissen Adaptationen auf die Tagungssituation – bereits publiziert waren. Sie haben, nachlesbar, nichts von ihrer Span-

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Peter Janich

nung verloren, wo sie im Sinne des Zieles der gesamten Veranstaltung als Beiträge zu einer Kontroverse aufeinander treffen. Insofern ist dem Meiner Verlag zu danken, dass er diesen Tagungsband publiziert – was mit Sicherheit nicht unabhängig davon ist, dass der Lektor des Meiner Verlags, Herr Horst D. Brandt, die gesamte Tagung selbst mit Aufmerksamkeit verfolgt hat und noch in Marburg an mich als Veranstalter mit dem Wunsch einer Publikation herangetreten ist. Die sich daraus ergebende, stets erfreuliche Zusammenarbeit mit ihm kann ich als Herausgeber nur dankend erwähnen. Einem glücklichen Zusammentreffen einer gelungenen Tagung und den weiteren Diskussionen im Vorstand der DGPhil ist es zu danken, dass die Publikation der Marburger Tagung nun den ersten Band eines »Deutschen Jahrbuches für Philosophie« bildet. So sind die durchaus kontingenten Umstände, unter denen eine spezielle philosophische Debatte geführt werden sollte und dann auch tatsächlich geführt wurde, um auf Fortsetzung zu hoffen, zum Anfang geworden für eine Buchreihe, in der die zukünftigen »Fora für Philosophie« ihre Heimat finden werden. Sofern dieses glückliche Zusammentreffen auf überlegtes oder auf spontanes Handeln von Personen zurückgeht, seien diese mit dem gebührenden Dank bedacht; der Rest wird wohl der Gunst glücklicher Umstände zuzuschreiben sein. Peter Janich

im Frühjahr 2008

Jürgen Habermas

Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft. Probleme der Willensfreiheit

In einer Zeitschrift, die den programmatischen Titel »Gehirn und Geist« trägt, haben elf führende Neurowissenschaftler ein Manifest veröffentlicht, das über den Kreis der Konkurrenten im Verteilungskampf um knappe Ressourcen hinaus Aufmerksamkeit gefunden hat.1 Die Autoren kündigen an, »in absehbarer Zeit« psychische Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle, Gedanken und Entscheidungen aus physikochemischen Vorgängen des Gehirns erklären und voraussagen zu können. Aufgrund dieser Prognose sei es geboten, das Problem der Willensfreiheit heute schon als eine »der großen Fragen der Neurowissenschaften« zu behandeln. Die Neurologen erwarten von den Ergebnissen ihrer Forschungen eine tiefgreifende Revision unseres Selbstverständnisses: »Was unser Bild von uns selbst betrifft, stehen uns also in absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus.« Worin besteht das Problem? Als handelnde Personen sind wir erstens von der Eigenständigkeit und kausalen Wirksamkeit des Geistes überzeugt. Wir meinen zu wissen, dass wir aus freien Stücken handeln und etwas in der Welt bewirken können. Als erkennende Subjekte sind wir zweitens von der epistemischen Autorität der Naturwissenschaften überzeugt, die allen, aber auch nur den in der Welt gesetzmäßig variierenden Zuständen und Ereignissen kausale Wirksamkeit zuschreibt. Als wissenschaftlich aufgeklärte Personen, die auf ihre Stellung in der Welt reflektieren, sind wir schließlich von der Einheit eines Universums überzeugt, das uns als Naturwesen einschließt. Hinter diesen drei einander widersprechenden Intuitionen stehen die wohldurchdachten Argumente, die wir für die kausale Wirksamkeit des Geistes, für die naturgesetzliche Determination alles innerweltlichen Geschehens und für eine monistische Verfassung des Universums anführen können. Mit dieser dritten ontologischen These möchten wir gerne einen Dualismus vermeiden, der den prima facie bestehenden Widerspruch zwischen den beiden ersten Thesen auflösen soll. Eine dualistische Aufspaltung der Welt in Natur und Geist ist unplausibel, weil die unbedingte Freiheit eines Geistes, der das naturgesetzlich determinierte Weltgeschehen, gleichsam von außen eingreifend, überdeterminiert, von Zufall nicht zu unterscheiden wäre. Wie können wir mit diesem Widerstreit zurechtkommen? 1

Gehirn und Geist, 6/2004. Die Antwort der Psychologen, in: Gehirn und Geist, 7–8/2005.

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Jürgen Habermas

Niemand leugnet das Phänomen der Willensfreiheit. Freilich hängt es von der angemessenen Beschreibung eines Phänomens ab, nach welcher Art von Erklärung wir suchen müssen. Ich werde deshalb zunächst die Willensfreiheit an dem Ort aufsuchen, wo sie auftritt – im Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft. Dann erkläre ich das sogenannte Problem der Willensfreiheit und diskutiere einige der Lösungsvorschläge, die von philosophischer Seite angeboten werden.

1) Das Phänomen der Willensfreiheit Spontaneität des Verhaltens schreiben wir bereits Tieren zu; aber erst intentional handelnden Personen unterstellen wir Willensfreiheit. Der Inhalt dieser Unterstellung zeigt sich, wenn einer den anderen zur Rechenschaft zieht: »Warum bist Du so spät gekommen?« – »Wie konntest Du so wütend werden?« – »Warum hast Du ihm nicht aus der Patsche geholfen?«. Wenn wir nach Gründen für unser Handeln gefragt werden, kommt uns zu Bewusstsein, was wir schon während des Handlungsvollzuges unterstellt hatten: Wir hätten auch anders handeln können; und es hat an uns gelegen, so und nicht anders gehandelt zu haben. Zum Inhalt des im Hintergrund performativ mitlaufenden Freiheitsbewusstseins handelnder Personen gehören diese beiden üblicherweise unterschiedenen Momente: die mehr oder weniger überlegte Entscheidung zwischen Alternativen und das mehr oder weniger spontane Ergreifen einer Initiative.2 Das Andershandelnkönnen macht auf die kognitive Dimension der Abwägung von Gründen, die Selbstbestimmung auf die volitive Dimension der Urheberschaft aufmerksam. Die pragmatische Unterstellung der Willensfreiheit ist konstitutiv für die »Verantwortung«, die handelnde Personen »tragen«. Wenn nicht ausdrücklich andere Regelungen bestehen – also jenseits der rechtlich gewährten Freiheiten, tun und lassen zu können, was man will – können wir für unser Handeln zur Verantwortung gezogen werden. Dann müssen wir »Rede und Antwort stehen«, nämlich Gründe angeben, warum wir so und nicht anders gehandelt haben. Willensfreiheit ist mithin eine zum Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft gehörende Präsupposition des Tun- und Lassenkönnens, die die Zurechnung von Verantwortung erst ermöglicht. Das Sprachspiel durchdringt den ganzen Alltag und bringt uns zu Bewusstsein, dass wir uns immer schon in einem Raum verpflichtender Gründe bewegen.

2

Zur Phänomenologie der Freiheit vgl. P. Bieri, Das Handwerk der Freiheit, München 2001.

Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft

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Der starke, in vielen Fällen kontrafaktische Gehalt der Unterstellung kommt freilich erst zum Vorschein, wenn moralische Erwartungen enttäuscht werden: »Wie konntest Du ihn nur so beleidigen?« Erst unter dem Rechtfertigungsdruck moralischer Vorwürfe wird retrospektiv klar, was unsere Gesellschaft von einer reflektierten Ausübung der Willensfreiheit erwartet. Die handelnde Person soll sich – des Umstandes bewusst sein, dass sie in einem kulturell umschriebenen »Raum der Gründe« steht und für Gründe pro und contra empfänglich ist; sie soll – ihr praktisches Urteil von einer Abwägung der einschlägigen Gründe abhängig machen; und – sich den kognitiv ausschlaggebenden Grund als Aktor auch zu eigen machen. Diese Bedingungen spezifizieren das »freie« Handeln als ein reflektiertes, von eigener Einsicht bestimmtes Handeln, sodass die manifesten Gründe auch zu den tatsächlichen Motiven – oder Ursachen – des Handelns gehören und nicht nur unbewusst bleibende Motive verdecken. Aber wie passen solche exzentrischen Erwartungen mit dem Hintergrundcharakter des beiläufigen Freiheitsbewusstseins zusammen, das alle unsere Handlungen, also auch die normalerweise unreflektiert ausgeübten Handlungen begleitet? Im Alltag sind ja die retrospektiv eingeforderten Gründe eher unklare Regungen, Dispositionen, Vorlieben und Wertorientierungen, die das Handeln vorreflexiv steuern. Diese Motive gehen auf Präferenzen, Neigungen und Charaktereigenschaften zurück, spiegeln herrschende Traditionen, eingewöhnte Praktiken und gesellschaftliche Normen. Interessanterweise können wir auch für die Folgen unreflektierter Handlungen, die wir aus solchen charakterlich oder gesellschaftlich sedimentierten »Gründen« vollziehen, zur Rechenschaft gezogen werden. Wir haften auch für die Folgen fahrlässigen Handelns. Denn »unsere« Gefühle, Einstellungen und Gewohnheiten operieren, auch wenn sie nicht durch den Filter expliziter Überlegungen hindurchgegangen sind, gewissermaßen mit unserem stillschweigenden Einverständnis. Aus ihrer charakterlichen Verankerung und konventionellen Selbstverständlichkeit werden Handlungsgründe erst in Konfliktfällen aufgescheucht und problematisiert. Erst in solchen Fällen gestörter gesellschaftlicher Integration sorgt das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft für eine Mobilisierung der Gründe in diskursiver Rede und Gegenrede. Vorwürfe richten sich dann gegen ein pragmatisch unkluges, ein ethisch unbesonnenes oder ein moralisch hartleibiges Verhalten. Der Gescholtene soll die einschlägigen Gründe nicht berücksichtigt haben – sei es, dass der Spielraum der Überlegung zu beschränkt war, um zu einem vernünftigen praktischen Urteil zu gelangen, oder sei es, dass andere Motive stärker waren als die wohlerwogene Überzeugung.

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Jürgen Habermas

So oder so habe er sich nicht zu einem reflektierten Gebrauch seiner Willensfreiheit »durchgerungen«. Im Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft verstehen wir also Personen keineswegs als reine Geister, wir identifizieren sie nicht mit dem Vermögen, sich im Denken und Handeln von guten Gründen affizieren zu lassen. Wir rechnen vielmehr mit fehlbaren Personen aus Fleisch und Blut, die die guten Gründe mit ihren anderen Motiven keineswegs immer in Einklang bringen können. Und dies so wenig, dass manchmal die Unterstellung der Willensfreiheit selbst davon berührt wird. Im Hinblick auf den Diskurs über Grenzen der Willensfreiheit ist das Recht, das die steilen Ansprüche der Moral ohnehin ermäßigt, lehrreich. Vor allem das Strafprozessrecht übersetzt die Alltagslogik des Sprachspiels verantwortlicher Urheberschaft in formale Verfahren der Zuschreibung von Verantwortung.3 Schon der erste Verfahrensschritt, die Suche nach Schuld ausschließenden Gründen, führt zu Fällen, in denen dem Angeklagten die Verantwortung für die Folgen einer objektiv festgestellten Normverletzung nicht zugeschrieben werden darf. Unter anderem gibt es geistige und physische Behinderungen oder akute Einwirkungen auf den Organismus (wie extreme Trunkenheit), die die Schuldfähigkeit des Angeklagten in Frage stellen. Ich habe die Fälle im Auge, bei denen ein anderer Typus von Erklärungen ins Spiel kommt: Handlungen werden nicht rational aus Gründen, sondern nomologisch, also im Lichte von Naturgesetzen aus organischen Veränderungen, chemischen Vorgängen oder physikalischen Ereignissen erklärt. Dabei tritt »Natur«- oder Ereigniskausalität, wie wir sagen, an die Stelle von Handlungsrationalität. Denn solche Erklärungen beziehen sich auf Naturprozesse, die durch unsere bewussten Abwägungsprozesse sowie durch handlungsmotivierende Gründe und Absichten hindurchgreifen. Sobald das als Handeln interpretierte Verhalten einer Person ohne Bezugnahme auf deren Stellungnahmen im Raum der Gründe kausal erklärt wird, ist die Unterstellung, die Person hätte besser überlegen und anders handeln können, sinnlos. Ebenso wenig hat sie sich schuldig machen können.

2) Das Problem der Willensfreiheit Wir können uns das Problem der Willensfreiheit an der öffentlichkeitswirksamen Brisanz klarmachen, die das zu Beginn erwähnte Manifest aus der Sicht dieser Art von juristischen Schuldausschließungsdiskursen gewinnt. Die Neurowissenschaftler vertreten darin die Auffassung, dass alle geistigen Operationen und Zustände nicht nur, was unbestritten ist, über Gehirnvorgänge rea3

K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, Frankfurt a.M. 2005.

Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft

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lisiert, sondern von Hirnzuständen kausal vollständig bestimmt werden. Unter dieser Prämisse müsste sich aber im Strafprozess der schuldausschließende Sonderfall des extremen Alkoholgenusses oder der chemisch unterstützten Gehirnwäsche in den Normalfall verwandeln.4 Wenn die neurologische Forschung heute schon den Schlüssel in der Hand hält, um in naher Zukunft beliebige Handlungsmotive und Abwägungsprozesse aus dem naturgesetzlich determinierten Zusammenwirken neuronaler Vorgänge vollständig zu erklären, müssen wir Willensfreiheit als fiktive Unterstellung betrachten. Dann dürften wir einander nicht länger unterstellen, dass wir anders hätten handeln können und dass es an uns gelegen hat, so und nicht anders gehandelt zu haben. Ja, die Referenz auf »uns«, als handelnde Personen, verliert unter neurologischen Beschreibungen jeden Sinn. Das menschliche Verhalten wird dann nicht von Personen entschieden, sondern von deren Gehirnen festgelegt. Konsequenterweise fordert Wolf Singer eine Revision des Selbstverständnisses handelnder Personen, insbesondere im Hinblick auf die Annahme mentaler Verursachung. Wenn wir die komplexe Verursachung des menschlichen Verhaltens in den Erregungsmustern des Gehirns suchen müssen, ist die Vorstellung, dass Personen durch absichtliche Interventionen Zustandsänderungen in der Welt hervorrufen können, abwegig. So etwas wie eine »Abwärtskausalität« gehört zum revisionsbedürftigen Selbstverständnis. Erst recht scheinen wir uns über den Zusammenhang von Reflexivität und Freiheit zu täuschen. Aus neurologischer Sicht besteht die große Ironie von Rechtfertigungsdiskursen darin, dass sie auf der jeweils höheren Reflexionsstufe nur noch ratifizieren können, was in den bewusstseinsferneren Regionen des Gehirns längst festgelegt worden ist.5 4

Vgl. die Interviewäußerung von W. Singer in: Forschung Frankfurt, 4, 2005, 86: »Im Strafrecht wird ja behauptet, dass sich das Strafmaß an der subjektiven Schuld orientiert, was häufig durch Gutachten von Sachverständigen geklärt werden soll. Nach meiner Auffassung sind aber die forensischen Psychiater mit der Bestimmung der Schuldfähigkeit hoffnungslos überfordert. Sie gestehen verminderte Schuldfähigkeit zu, wenn sie zum Beispiel einen Gehirntumor entdecken, weil der die »normalen« Hirnfunktionen einschränkt. Als Neurobiologen wissen wir aber, dass genetisch bedingte Fehlverschaltungen, frühe Prägungsprozesse oder degenerative Erkrankungen zu den gleichen Beeinträchtigungen oder Veränderungen von Entscheidungsprozessen führen können wie ein sichtbarer Tumor. Wir können sie nur nicht erfassen, zumindest zur Zeit nicht. Und darin sehe ich eine schreckliche Inkohärenz. Wenn wir hier nicht wirklich messend objektivieren können, dann gilt es, ein anderes Konzept zu finden. Wir sollten dann die Kausalketten ›subjektive Schuld bestimmt Strafmaß‹ und ›subjektive Schuld bemisst sich an Freiheit‹ nicht zugrundelegen.« 5 G. Roth schichtet die kausalen Abhängigkeiten des Verhaltens jeweils nach der Beteiligung von subcorticalen und corticalen Hirnregionen: Auf der untersten Stufe sind vegetativ gesteuerte affektive Zustände, auf der mittleren Stufe ich-zentrierte Gefühle, Präferenzen und Überzeugungen und auf der bewusstseinsnächsten Stufe kommunikativ vermittelte und moralische Gründe wirksam. Er entwirft so ein suggestives Bild

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Im Falle einer Dissonanz zwischen Ergebnissen bewusster und unbewusster Abwägungsprozesse, sitzen die unbewussten am längeren Hebel, weil sie eine sehr viel größere Menge an Variablen gleichzeitig verarbeiten können.6 Das Problem der Willensfreiheit besteht darin, dass die Forderung nach einer Revision des Selbstverständnisses handelnder Personen leichter erhoben als eingelöst ist. Es stellt sich nämlich die Frage, ob die Anpassung eines normativ geprägten Bewusstseins an eine objektivierende Selbstbeschreibung überhaupt auf konsistente Weise nachzuvollziehen ist oder ob dieser Versuch an praktische Grenzen der Selbstobjektivierung stößt. Denn mit einer bloßen Umdefinition ist es nicht getan. Die nachträgliche Harmonisierung der bewussten Gründe mit vorangehenden unbewussten Ursachen mag als beruhigend empfunden werden. Aber erklärt sie das performativ mitlaufende Bewusstsein von Freiheit? Was hat die Anpassung dissonanter Überlegungen an Intuitionen, die das Ergebnis vorgängiger unbewusster Prozesse bloß spiegeln, mit »Mündigkeit« zu tun?7 Diesen Protest des Alltagsbewusstseins nehmen die Philosophen auf, wenn sie auf die begrifflichen Unterschiede zwischen den Vokabularen der Welt- und der Selbstbeschreibung hinweisen. Sie machen beispielsweise darauf aufmerksam, dass das Problem der Übersetzung von Gründen in nomologisch verstandene Ursachen überspielt wird, wenn man, wie manche Neurologen vorschlagen, den »Wettbewerb« der unbewusst wirkenden neurologischen Variablen an das Muster des Wettbewerbs von Argumenten angleicht. Der nach logischsemantischen Regeln beurteilte Wettbewerb um das bessere Argument verlangt eine andere Beschreibung als die kausale Folge von Zuständen im limbischen System: »Ein solcher Widerstreit ist etwas anderes als ein Wechsel von körperlichen Zuständen. Diese können sich nicht widersprechen.«8 Wissen und Wissenszuwachs sind unheilbar normative Begriffe, die sich allen Anstrengungen einer empiristischen Neubeschreibung widersetzen.9 Was sich hier widersetzt, ist, wohlgemerkt, nicht die Subjektivität des bewussten Lebens, das wir auch Tieren zuschreiben.10 Es ist vielmehr die invon der »Nachträglichkeit« diskursiver Rechtfertigungen: ders., Gehirn, Gründe und Ursachen, DZPhil 53 (2005), 699 f. 6 Singer, Wann und warum erscheinen uns Entscheidungen als frei? Ein Nachtrag, DZPhil, 53, Berlin (2005), 710 f. 7 So der Vorschlag von Singer (2005), 712 f. 8 Zum folgenden L. Wingert, Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung, in: D. Sturma, Philosophie und Neurowissenschaften, Frankfurt a. Main 2006, 250. 9 Ph. Kitcher, The Naturalist Return, The Philosophical Review, Vol. 101, No.1 (January 1992, 53–115) 10 T. Nagel, What is it like to be a bat? in: Id., Mortal Questions (Cambridge UP), 1979, 165–180. Zur Unterscheidung von Intentionalität und Erlebnisfähigkeit vgl. auch D. Sturma, Philosophie des Geistes, Stuttgart 2005, 86 ff.

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tersubjektive Verfassung eines intentional auf die Welt gerichteten und an Geltungsstandards ausgerichteten Geistes, die der Selbstobjektivierung sprechender, erkennender und handelnder Personen Grenzen ziehen. Der begriffliche Einwand stützt sich nicht in erster Linie auf den sperrigen ontologischen Status von Erlebnissen, von Schmerzen oder Stimmungen, sondern auf eine für das Selbstverständnis konstitutive Unterscheidung zwischen Sein und Sollen. Lutz Wingert zeigt, dass sich Personen unter der angebotenen neurologischen Selbstbeschreibung unverständlich werden müssen – nicht nur als handelnde, sondern auch als lernende Personen. Die Forschungspraxis selbst würde sich für die Beteiligten in ein opakes Unternehmen verwandeln. Denn die Forscher würden unter der neurologischen Selbstbeschreibung eines »Dialogs von Gehirnen« nicht mehr verstehen können, was es bedeutet, theoretische Annahmen im Lichte besserer Gründe zu korrigieren, also einen Wissenszustand zu verbessern oder gar nach neuen Erkenntnissen zu suchen. Wie sollte beispielsweise ein Argumentationsteilnehmer, der zweifelnde Opponenten von der Wahrheit seiner Aussage zu überzeugen versucht, gleichzeitig die Gewissheit haben können, dass die Gesamtheit »menschlicher Interaktionen, einschließlich seines eigenen Verhaltens, schon immer im Voraus festgelegt war«?11

3) Ein philosophischer Ausweg: Der Kompatibilismus Solche Einwände mögen genügen, um das Problem der Willensfreiheit ins rechte Licht zu rücken. Aber ein Naturalist muss sich von Argumenten, die auf den Nachweis eines performativen Selbstwiderspruchs hinauslaufen, nicht beeindrucken zu lassen. Könnte der Anspruch, dass die Neurologie eines Tages geistige Zustände hinreichend erklären wird, nicht auch dann berechtigt sein, wenn dieses Wissen praktisch, also im Vollzug der Verwirklichung einer Handlungsabsicht, mit der Selbstbeschreibung der handelnden Personen nicht in Einklang gebracht werden kann? Die neurowissenschaftliche Forschung steht ohnehin nicht zur Diskussion. Strittig ist nur die Interpretation einer Voraussetzung, von der alle nomologisch verfahrenden Naturwissenschaften ausgehen: dass die Welt durchgängig als ein naturgesetzlich determinierter Zusammenhang von raumzeitlich identifizierbaren Zuständen und Ereignissen zu begreifen ist. Es sind vor allem unsere alltäglichen Überzeugungen – und die Philosophen als Fürsprecher des Common sense – die sich nicht so leicht über die Revisionsfestigkeit unseres begrifflich immunisierten Freiheitsbewusst11

J. Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005, 41.

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seins hinwegsetzen. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil eine Revision des Sprachspiels verantwortlicher Urheberschaft mit der Hypothek eines Umbaus unserer Lebensform im ganzen belastet ist. Solange unser Zusammenleben über Werte und Normen geregelt wird, müssen Personen für die Folgen ihrer Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden können. In Fällen gestörter gesellschaftlicher Integration gibt es für diese Art der moralischen und rechtlichen Thematisierung der hartnäckig misslingenden Handlungskoordinierung nur das kostspielige Substitut der Gewalt. Das performativ mitlaufende Freiheitsbewusstsein, in dem sich die pragmatische Unterstellung von Willensfreiheit spiegelt, gehört gewissermaßen zum Reproduktionsmodus unserer Lebensform. Müssen wir dann nicht auch der Eigenständigkeit der Kultur und der sprachlich vermittelten Interaktionen zwischen verantwortlich handelnden Personen auf eine andere Weise Rechnung tragen als durch den nur metaphorisch verstandenen »Dialog der Gehirne«?12 Die Philosophen antworten auf diese Herausforderung mit einem vielstimmigen Konzert. Im folgenden werde ich drei Stimmen herausgreifen. Betrachten wir zunächst den Kompatibilismus, der erklären möchte, warum das naturalistische Weltbild keine kognitiven Dissonanzen im Selbstverständnis handelnder Personen hervorrufen muss. Im Anschluss an eine klassische Überlegung von G.E. Moore soll der Handelnde das voluntaristische Bewusstsein, sich frei zu entscheiden, mit dem Wissen vereinbaren können, dass die Entstehung des entsprechenden Willensaktes naturgesetzlich determiniert ist. Auch in einer materialistisch beschriebenen kausal geschlossenen Welt darf sich die handelnde Person sagen, dass sie anders hätte handeln können. »Können« freilich in dem Sinn, dass sie anders gehandelt haben »würde«, wenn sie es nur so gewollt hätte. Eine handelnde Person wird sich einen Willen, wie immer dieser selbst auch verursacht worden ist, selber zuschreiben, sofern sich der Entschluss nur aus einem begründeten praktischen Urteil herleiten lässt. Weil die für eine diskursive Willensbildung maßgebenden Wertorientierungen in der eigenen Identität verankert sind, kann die handelnde Person zu Recht das Bewusstsein haben, selber entschieden zu haben, gleichviel ob die Entstehung dieser personalen Identität – und damit die Genesis der letztlich entscheidenden Handlungsmotive – als Kette kausal verknüpfter Ereignisse beschrieben werden muss.13 Dieser Rettungsvorschlag möchte also die Genesis von der Geltung der praktisch ausschlaggebenden Motive entkoppeln. Die jeweils maßgebenden Motive sollen gleichzeitig von innen als Gründe und von außen als Wirkungen eines kausal erklärbaren Vorgangs verstanden werden können. Das ist aber bei 12 13

Rösker-Hardy (Ms. 2005). M. Pauen, Illusion Freiheit?, Frankfurt a. Main 2004.

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näherer Betrachtung eine paradoxe Forderung, denn Gründe, die immer in semantischen Zusammenhängen mit anderen Gründen stehen, können bestritten werden, während es sinnlos ist, psychischen Zuständen, die aus einer kausal erklärbaren Entstehungsgeschichte hervorgegangen sind, widersprechen zu wollen. Die Kompatibilisten muten der handelnden Person zu, aus Gründen zu handeln, die bei Licht betrachtet zu kausal erklärten Effekten erstarrt und damit jeder Argumentation entzogen sind. Das Bewusstsein von Freiheit würde jedoch beschädigt, wenn der Handelnde sich im Raum der Gründe nicht ungehindert bewegen, also nicht grundsätzlich alles in Frage stellen könnte. Auch die identitätsbildenden Wertorientierungen sind keine bloßen Ereignisse, sondern implizit bejahte Urteile. Nur so erklärt sich, warum wir eine erwachsene Person sogar für ihre Charaktereigenschaften verantwortlich machen. Das Scheitern der kompatibilistischen Versuche erinnert uns an die begriffliche Hartnäckigkeit, mit der sich das personale Selbstverständnis gegen eine objektivierende Neubeschreibung wehrt. Diese Abwehr stützt sich auf einen Dualismus von Wissensperspektiven, aus denen wir, wie es scheint, dieselben Objekte verschieden wahrnehmen und erklären. Wie sollen wir die Meditation eines Mönches auf das synchron beobachtete Erregungsmuster von Gammaoszillationen seiner Hirnrinde beziehen, wie sollen wir die elektronenzephalografisch festgestellte Korrelation zwischen einer Glaubenserfahrung und einem neuronalen Zustand deuten? Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich die Sprachspiele, Vokabulare und Erklärungsmuster, deren wir uns in solchen Fällen jeweils bedienen müssen, nicht aufeinander reduzieren lassen.14 Auch mit dieser Einsicht kommen wir freilich nicht an der ontologischen Frage vorbei, wie denn nun der epistemische Dualismus mit einer einheitlichen ontologischen Beschreibung des Universums, das den Menschen als Naturwesen einschließt, versöhnt werden kann. Von philosophischer Seite gibt es darauf viele Antworten, aber im wesentlichen zwei Strategien. Die eine Seite geht vom »wissenschaftlichen Weltbild« eines materialistisch begriffenen kausal geschlossenen Universums aus und beschreibt den »Geist« entsprechend als die Gesamtheit »mentaler Ereignisse«. Die phänomenale Eigenständigkeit von Intentionen und Erlebnissen kann dann nur in der ontischen Beziehung zwischen dem Mentalen und dem Physischen selbst begründet sein. Die andere Seite wählt als Ausgangspunkt die methodologische Frage, wie die Naturwissenschaften ihre Gegenstandsbereiche kausalgesetzlich modellieren und braucht deshalb den in Gesellschaft und Kultur verkörperten Geist nicht in die Begriffe einer Körper-Geist-Onto14

Die funktionalistische Deutung der Korrelationen zwischen Hirnzuständen und repräsentationalen Gehalten, der sich G. Roth (Gehirn, Gründe, Ursachen, DZPhil 53 (2005), 694 f.) anschließt, verschiebt nur das Problem; dazu Wingert (2006), 244 ff.

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logie zu pressen. Aber nur mit einem Gegenzug gegen diese erkenntnistheoretische Besinnung lässt sich dieser objektive Geist in eine einheitliche Beschreibung des Universums einbeziehen.

4) Zwei Strategien (1) Ansätze, die der phänomenalen Eigenständigkeit des Geistigen gerecht werden wollen, ohne das naturalistische Weltbild preiszugeben, verfolgen das Ziel eines Materialismus, der nicht-reduktiv verfährt. Natürlich kommt es darauf an, was man unter ›Reduktion‹ und ›Eigenständigkeit‹ versteht. Die Version, die im naturalistischen Lager als unproblematisch angesehen wird, begnügt sich damit, die Komplexitätsstufe des Geistes durch »emergente« Eigenschaften im schwachen Sinne zu charakterisieren. Eigenschaften wie Selbstorganisation, Wachstum und Evolution, Stoffwechsel, Fortpflanzung usw. treten auf der Stufe des organischen Lebens, Eigenschaften der Subjektivität wie Empfindung, spontane Bewegung, Wahrnehmung usw. bei höher organisierten Lebewesen in Erscheinung.15 Freilich kommen emergente Eigenschaften auch schon in der anorganischen Natur vor. So nennen wir Eigenschaften, die jeweils auf der Ebene des Systems und nicht schon auf der Ebene seiner Komponenten auftreten; sie ergeben sich erst aus bestimmten Konstellationen dieser Bestandteile. Der Aspekt der Neuartigkeit lässt sich unter dem diachronischen Gesichtspunkt der Evolution verschärfen. Emergent nennen wir dann Eigenschaften, die aus neuen Konstellationen entstehen und vor ihrer ersten Exemplifizierung auch nicht vorausgesagt werden konnten.16 Sollten sich nun personale Eigenschaften wie Intentionalität und Sprachkompetenz in ähnlicher Weise wie die erwähnten biologischen Eigenschaften als »emergent« verstehen und kausal erklären lassen, würde sich der Geist in eine materialistisch beschriebene und kausal geschlossene Welt einfügen. Natürlich nur unter der Prämisse, dass es auch in diesem Fall gelänge, das Geschehen auf der Systemebene in seine Bestandteile zu zerlegen und mithilfe eines theoretischen Modells so abzubilden, dass wenigstens im Prinzip erklärt werden kann, wie das systemische Geschehen aus dem gesetzmäßigen Zusammenwirken dieser Elemente zustande kommt. Neurowissenschaften, denen eine Naturalisierung des Geistes in diesem Sinne gelingen würde, könnten der phänomenalen Eigenständigkeit des Geistes unter wesentlichen Aspekten Rechnung tragen, allerdings mit einer wichtigen 15

G. Toepfer, Der Begriff des Lebens, in: U. Krohs, G. Toepfer (Hg.), Philosophie der Biologie, Frankfurt a. Main 2005, 157–174. 16 A. Stephan, Emergente Eigenschaften, in: Krohs, Toepfer (2005), 88–105.

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Ausnahme: Wenn das Zusammenwirken der neurologischen Variablen geistige Zustände vollständig erklärt, kann es so etwas wie mentale Verursachung, also Abwärtskausalität nicht geben. Aber genau diesem Phänomen muss ein nichtreduktiv verfahrender Materialismus gerecht werden, wenn er nicht von vornherein die subjektive zugunsten der objektiven Wissensperspektive entwerten will. Donald Davidson sucht deshalb nach einer toleranteren Lösung.17 Er nimmt den Dualismus der Wissensperspektiven ernst und geht davon aus, dass sich geistige Ereignisse weder durch psychophysische Gesetze noch durch definitorische Beziehungen zwischen verschiedenen Theorieebenen auf physikalische Ereignisse reduzieren lassen. Andererseits lehnt er auch die Vorstellung einer Interaktion zwischen geistigen und physischen Ereignissen ab. Davidson bedient sich des Begriffs der Supervenienz von Eigenschaften, um die von der Erfahrung mentaler Verursachung nahegelegte Interaktion durch eine andere Vorstellung zu ersetzen: Alle Ereignisse sind physischer Natur, aber einige dieser Ereignisse tragen gewissermaßen außer ihren physischen auch noch mentale Eigenschaften. Sie weisen immer dann, wenn sie die physische Eigenschaft K haben, zugleich die mentale Eigenschaft G auf. Gemessen am Ziel der Argumentation, den geistigen Tätigkeiten einen Platz in einer durchgängig physikalistisch erklärten Welt zu reservieren, kann auch dieser »anormale Monismus« nicht überzeugen. Es ist nämlich überflüssig, die Existenz einer besonderen Art von Eigenschaften zu postulieren, wenn diese in einem materialistisch begriffenen Universum, in dem nur Ereignisse aufeinander einwirken können, keine »kausale Arbeit« leisten.18 Dieser Versuch, den Geist vor der Reduktion zu bewahren, scheint ungewollt auf dessen Eliminierung hinauszulaufen. Wenn man am Argumentationsziel gleichwohl festhalten will, steht nur noch die Option offen, den Begriff der Kausalität anders aufzufassen. Neuere Auffassungen verzichten auf die Vorstellung einer nomologischen Realisierung von geistigen Eigenschaften in einer kausal geschlossenen Welt physischer Ereignisse. Sie operieren entweder mit der Annahme einer Unterdetermination höherer Emergenzstufen durch physikalische Gesetze19 oder statten Eigenschaften und Konfigurationen von Eigenschaften mit kausalen Kräften aus.20

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D. Davidson, Geistige Ereignisse, in: ders., Handlung und Ereignis, Frankfurt a. Main 1985, 291–316, hier S. 292. 18 J. Kim, The Myth of Nonreductive Materialism,in: R. Warner, T. Szubka (Eds.), The Mind-Body Problem (Blackwell), 1994, 242–260, hier S. 246: »What does no causal work does no explanatory work either; it may as well not be there«. 19 Nida-Rümelin (2005), 94. 20 W. Detel, Forschungen über Hirn und Geist, DZPhil 52 (2004), 6, 891–920.

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Von hier ist es nur noch ein Schritt zu Spekulationen über Linien kausaler Einflussnahmen, die im Rahmen desselben Energiehaushaltes von unten nach oben, also von den physischen und organischen zu den mentalen und soziokulturellen Stufen, aber eben auch abwärts, von den höheren zu den niederen Komplexitätsstufen verlaufen.21 Dieser Monismus lässt Raum für eine Art Schichtenontologie für (im »starken« Sinne) emergierende Entwicklungsstufen. Aber bevor man sich auf ungesichertes naturphilosophisches Gelände begibt, drängt sich eine andere Strategie auf: Die Ausgangsfrage, wie der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus zu versöhnen ist, lässt sich auch von der erkenntnistheoretischen Seite her in Angriff nehmen. (2) Die Wissenschaftsgeschichte erinnert uns an die erstaunliche Serie von Erfolgen der reduktionistischen Forschungsstrategie, der es immer wieder gelungen ist, komplexe Phänomene aus dem gesetzmäßigen Zusammenwirken ihrer physischen Bestandteile zu erklären. Das naturwissenschaftliche Weltbild zeichnet einen Weg von den Teilchen zu Atomen und Molekülen, von dort zu Gasen, Flüssigkeiten und Festkörpern und von den anorganischen Stoffen zu den Genen, dem ganzen Organismus und den Arten. Allerdings können wir bestenfalls darauf wetten, dass uns die gleichen nomologischen Erklärungsmuster, die gleichen experimentellen Methoden und Messverfahren jetzt auch den Weg von den Neuronen zu Bewusstsein und Kultur eröffnen. Bei der Höhe des Einsatzes für diese Wette sollten wir zwei bedenkliche Umstände berücksichtigen. Zum einen fehlt wegen des Dualismus der Wissensperspektiven die Erfüllung einer Bedingung, die bisher für erfolgreiche Reduktionen immer notwendig war, nämlich eine einheitliche Terminologie für geistige Operationen und Gehirnzustände. Das kann man auch so ausdrücken: »Die Aussage, dass das Bewusstsein aus Neuronen, Synapsen und Neurotransmittern besteht, macht keinen Sinn.«22 Zum anderen führt das suggestive Bild einer wohlgeordneten Hierarchie von naturwissenschaftlichen Theorien, worin sich eine Theorie an die andere anschließt, in die Irre. Drastische Erklärungslücken bestehen schon innerhalb der Physik, und erst recht beim Übergang zur Biologie: »Die kausale Modellierung von Naturvorgängen nach physikalischen, chemischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten ist uneinheitlich und lückenhaft. Wer (meint)…, der Bereich des Physischen oder Physikalischen sei geschlossen, sollte das bedenken. Von einer kausalen Geschlossenheit naturwissenschaftlicher Erklärungen jedenfalls kann derzeit keine Rede sein. Schlimmer noch: Was in dieser 21

Ph. Clayton, Mind and Emergence. From Quantum to Consciousness, Oxford UP 2004. 22 B. Falkenburg, Was heißt es, determiniert zu sein?, in: Sturma (2006), 67.

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Aussage eigentlich der Terminus ›kausal‹ bedeuten soll, ist schon angesichts der heutigen physikalischen Theorien uneinheitlich und unklar.«23 Wenn sich aber die Natur unserer kausalen Modellierung bisher keineswegs lückenlos fügt, ist es angebracht, den Blick auf die konstruktiven Leistungen der Forschergemeinschaft, die diese Modellierung vornimmt, zu richten. Sie ist es, die die Gegenstandsbereiche konstituiert, indem sie einen kategorialen Rahmen festlegt und sich darüber verständigt, wie Phänomene beschrieben und Daten gesammelt werden sollen. Im Anschluss an Kant und Husserl, Peirce und Dewey hat sich eine transzendentalpragmatische Deutung der naturwissenschaftlichen Forschungspraxis herausgebildet. Nach dieser Lesart ist die grundbegriffliche Konstituierung von Gegenstandsbereichen und die experimentelle Herstellung von Messdaten in vorwissenschaftlichen Praktiken verwurzelt. Der Rückgang auf die Grundlagen der Forschungspraxis in der Lebenswelt nötigt keineswegs zur Abkehr von einer realistischen Deutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse.24 Aber der Wechsel der Argumentationsebenen vom vermeintlich direkten Zugriff auf die ontologische Verfassung der Welt zur Reflexion auf die Bedingungen unseres kognitiven Zugangs zu dieser Welt ist kein trivialer Zug. In unserem Zusammenhang sind zwei Konsequenzen wichtig. Einerseits müssen wir auf die physikalistische Grundannahme verzichten, dass sich die »Natur« der nomologisch verfahrenden Naturwissenschaften mit der »Natur im ganzen« deckt. Die unter dem Aspekt der Verfügbarmachung objektivierte Natur umfasst alles, aber auch nur das, was sich an der Realität unter Gesichtspunkten möglicher kausaler Erklärungen, bedingter Voraussagen und erfolgskontrollierter Eingriffe erschließt. Diese Einschränkung erklärt, warum die Forschungspraxis selbst nicht ohne Rest auf die Objektseite gebracht und vollständig als innerweltlich determiniertes Geschehen beschrieben werden kann.25 Die intersubjektiven Bedingungen des wissenschaftlich objektivierenden Zugangs zur Welt können nicht vollständig in dieselbe objektivierende Blickrichtung eingeholt werden. Andererseits erlaubt uns die reflexive Wendung, die Reduktion des Geistes auf »mentale Ereignisse« rückgängig zu machen. Wenn wir das Mentale an seinem eigenen Ort, nämlich in den semantischen Gehalten der kommuni23

Ebd., 53. J. Habermas, Realismus nach der sprachpragmatischen Wende, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a. Main 1999, 7–64. 25 Die in wissenschaftlichen Lernprozessen nicht-hintergehbare Perspektivenverschränkung hat L. Wingert am Zusammenspiel von Begriff und Anschauung, Konstruktion und Entdeckung, Interpretation und Erfahrung analysiert: ders., Die eigenen Sinne und die fremde Stimme, in: M. Vogel, L. Wingert (Hg.), Wissen zwischen Entdeckung und Konstruktion, Frankfurt a. Main 2003, 218–249. 24

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kativen Alltagspraxis aufsuchen, wird klar, dass sich der subjektive Geist der Intentionen und Erlebnisse nicht von den symbolischen Formen des objektiven Geistes abtrennen lässt. Wir dürfen, was wir in Sätzen der ersten Person ausdrücken können, nicht ungeachtet des pragmatischen Zusammenhanges einer expressiven Kommunikation26 zu darstellbaren mentalen Episoden vergegenständlichen.27 Erst das Ganze aus intentionalem Weltverhältnis, Sprachkompetenz, gegenseitiger Perspektivenübernahme und Intersubjektivität der Verständigung macht geistige Phänomene wie Erlebnisse, Meinungen und Absichten möglich.28 Der »Geist« wird erst durch die emergenten Eigenschaften der soziokulturellen Lebensform im ganzen möglich gemacht. Diese erkenntnistheoretische Einsicht trägt zwar dem epistemischen Dualismus Rechnung, entfernt uns aber von einem ontologischen Monismus, der uns sagen könnte, welchen Platz der lebensweltlich situierte Geist in der Natur selbst einnimmt. Interessanterweise gibt Kant an entlegener Stelle29 einen kryptischen Hinweis auf das Aposteriori der »ursprünglichen Erwerbung« apriorischer Anschauungsformen und Verstandesbegriffe. Auch das »Angeborene« soll also einen Ursprung in der Zeit haben? Obwohl sich dieser Ursprung nicht wiederum unter dem Aspekt der Verfügbarmachung analysieren lässt, verlieren wir nicht jeden kognitiven Halt. Aus anderen Konfrontationen und Formen des Umgangs mit Natur stammen andere Konzepte der Natur – beispielsweise die Begriffe der natürlichen Evolution und der Naturgeschichte.30 Heute müssen wir Kant nicht mehr mit Newton, sondern mit Darwin versöhnen.31 Der Versuch einer naturgeschichtlichen Detranszendentalisierung muss von der Annahme ausgehen, dass die kognitive Struktur unserer Lebenswelt selber aus einem evolutionären Lernprozess hervorgegangen ist. Denn die Möglichkeit objektiver Naturerkenntnis ist nur dann gegeben, wenn sich die organischen Ermöglichungsbedingungen selber schon als das Ergebnis von kognitiv relevanten Auslese- und Anpassungsprozessen begreifen lassen. Heute können wir aus der physischen Anthropologie, der Entwicklungspsychologie und der vergleichenden Ontogenese von Kindern und Schimpansen, aus Bio-

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E.v.Savigny, O. Scholz, Wittgenstein über die Seele, Frankfurt a. Main 1995. H.J. Schneider, Reden über Inneres, DZPhil 53 (2005),743–760. 28 W. Prinz reduziert allerdings den objektiven Geist, der sich in sozialen Interaktionen und Institutionen ausdrückt, mit Hilfe der Attributionstheorie auf die vorgängigen konstruktiven Leistungen des subjektiven Geistes: W. Prinz, Kritik des freien Willens, Psychologische Rundschau 55 (2004), 198–206; dazu Wingert in: Sturma (2006), 252 ff. 29 Auf die mich Rudolf Langthaler hingewiesen hat: Kant, Über eine Entdeckung … (Ausgabe Weischedel) Bd. III, 337 f. 30 M. Quante, Ein stereoskopischer Blick? Lebenswissenschaften, Philosophie des Geistes und Begriff der Natur, in: Sturma (2006), 124–145. 31 J. Habermas, Freiheit und Determinismus, DZPhil 52 (2004), 871– 890. 27

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logie und Neurologie, Sprachforschung, Kulturgeschichte und Archäologie nur verstreute Evidenzen zusammensuchen, um von der Entstehung soziokultureller Lebensformen die eine oder andere Geschichte zu erzählen. Ob solche Erzählungen eines Tages durch eine Theorie ersetzt werden können und wie diese Theorie aussehen könnte, ist eine offene Frage. Offensichtlich hat das kulturelle Lernen das Tempo der Veränderungen, das wir aus der natürlichen Evolution kennen, erheblich beschleunigt. Die für kulturelles Lernen überhaupt konstitutiven Bedingungen können wir aus den komplexeren Formen von Intentionalität und Intersubjektivität gleichsam von innen, aus der Sicht derer, die diese Kompetenzen schon erworben haben, rekonstruieren. Aber die Genese dieser Bedingungen werden wir vermutlich erst verstehen, wenn wir die natürliche Evolution selber auf eine nicht-metaphorische Weise als »Lernprozess« begreifen. Erst eine gelungene »Naturalisierung« des Geistes liefert diejenige Interpretation von »Vernunft«, die schon in der subhumanen Natur am Werk ist. Wie dem auch sei, bereits die Kontinuität einer übergreifenden Naturgeschichte, von der wir uns wenigstens in Analogie zum Darwinschen Erklärungsansatz eine Vorstellung, wenn auch noch keinen befriedigenden Begriff bilden können, begründet die Einheit eines Universums, dem die Menschen als Naturwesen angehören.

Peter Janich

Naturwissenschaft vom Menschen versus Philosophie

Zum aktuellen Stand der Debatte Das Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie bezieht seine aktuelle Spannung aus einem Zuständigkeitskonflikt. Vor allem im Feld der Naturwissenschaften vom Menschen ist allenthalben der Anspruch zu hören, traditionelle Verständnisse des Menschen seien, woher auch immer sie stammten, durch bessere, naturwissenschaftliche Alternativen zu ersetzen. Gegenwärtig sind solche Äußerungen in allen Medien präsent. Öffentliche Aufmerksamkeit erfahren sie, wenn anscheinend jeder betroffen ist: Wo die Neurowissenschaften (als jüngstes, aber nicht einziges Beispiel) »unser« Selbstverständnis als Illusion zu entlarven beanspruchen, wo neben dem neurowissenschaftlichen immer noch der genetische oder oft ein evolutionsbiologischer Determinismus auf einem begrifflichen Niveau angepriesen wird, das jeden Laien ohne Vorwissen zum Mitdiskutieren einlädt, oder wo Revisionen von Moral-, Rechts- und Erziehungskonzeptionen angemahnt werden, fühlt sich jedermann zur Stellungnahme bereit und befähigt. Thesen wie die, dass die Bestrafung von Mördern »absurd« sei (Gerhard Roth), bilden da nur die Spitze eines Eisbergs von Aufmerksamkeitserheischung. Schon begegnet man der Forderung, Siegmund Freuds grandiosen Selbstverortungseinfall von den drei Kränkungen der Menschheit, der kopernikanischen, der darwinschen und der freudschen, um eine neuronale Kränkung (der Mensch sei nicht Herr seines Willens/seiner Gedanken/seines Hirns) zu erweitern. Wo unkritisch applaudierende Journalisten des Feuilletons gleich eine ganze Reihe potentieller Kandidaten für neue Kränkungen der Menschheit durch die Naturwissenschaften ausrufen (anscheinend hat sich der Topos vom Paradigmenwechsel durch Inflation bereits abgenutzt), bliebt der Freudsche Einfall ein Klischee dadurch, dass jede Angabe fehlt, wer da worin gekränkt würde. Ist es der (selbstverständlich kulturhistorisch belastete) Alltagsverstand, oder die (bei Journalisten meist unbeliebte) systematische akademische Philosophie? Sind es »die« Geisteswissenschaften oder vielleicht doch nur Vertreter christlicher Kirchen, die sich, wo schon nicht um die reine Lehre, so doch um die Wirkung besagter Kränkungen auf das gläubige Fußvolk sorgen? Die in den Medien popularisierte Naturwissenschaft trifft auf eine gleichzeitig (zumindest als theoretische) marginalisierte Philosophie und beeinflusst

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politisch wirksame Wertschätzungen, wie unschwer an den in denselben Feuilletons zu findenden Klagen über die gegen die Geisteswissenschaften wirkende aktuelle Hochschulreform oder Wissenschaftspolitik zu sehen ist. Insofern ist das Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie brisant. Die als Zuständigkeitskonflikt geführte Kontroverse wird nicht mehr im akademischen Raum wissenschaftlich ausgetragen, sondern erzeugt als öffentliche Debatte ein Klima, in dem scheinbare oder tatsächliche Legitimationsdrücke entstehen und Wirkung vor allem auf die Philosophie ausüben. Die Naturwissenschaften dagegen stehen unangefochten da, wie zuletzt die Kriterien der gesamtdeutschen Exzellenzinitiative gezeigt haben. In dieser Situation soll mein Vortrag Klärungen zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie in den folgenden Schritten herbeiführen: (1) In einem ersten, analytischen Schritt (»Inhalte statt Soziologismen!«) ist die gängige, nicht nur unter Laien übliche Abgrenzung der beiden Großunternehmen Naturwissenschaft und Philosophie zu prüfen und zu revidieren. (2) In einem zweiten Schritt ist an drei exemplarischen Kritiken zentraler Ansätze in den »Lebenswissenschaften« zu zeigen, dass speziell die Naturwissenschaften vom Menschen ein problematisches Selbstverständnis haben. (3) In einem dritten, konstruktiven Teil sind notwendige und hinreichende Forderungen an die Naturwissenschaften vom Menschen zu diskutieren. (4) Damit lassen sich resümierend in einem vierten Schritt Kategorienfehler in den Naturwissenschaften vom Menschen methodisch heilen, Wege zu kohärenten, alle wissenschaftlichen Bereiche umfassenden Menschenbildern weisen und der Philosophie eine kritische Rolle gegenüber den Naturwissenschaften zurückgeben. (5) Fazit und Ausblick.

1) Inhalte statt Soziologismen! Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie Wo sich Zuständigkeitskonflikte zwischen Naturwissenschaft und Philosophie artikulieren, finden sich verdächtig oft die Sprechweisen von der Naturwissenschaft bzw. der Philosophie. Hier sollen keine abkürzenden oder zusammenfassenden Formulierungen, keine vorschnellen Pauschalierungen oder Einvernahmen kritisiert werden. Denn zunächst einmal gilt es aufmerksam zu machen auf das Verständnis, das hinter den generischen Singularen »die Naturwissenschaft« und »die Philosophie« oder auch der Rede von »den Naturwissenschaftlern« bzw. »den Philosophen« steht. Hier herrschen, mangels wichtiger Gegenbeispiele sogar umfassend, Soziologismen vor, in denen die Gegenstände der Naturwissenschaft und der Philo-

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sophie nur noch qua Personen, Personengruppen, Professionen und Institutionen zitiert werden. Von Inhalten oder Methoden ist da nicht die Rede, ja nicht einmal mehr von spezifischen Erkenntnisansprüchen. Die Wissenschaftstheoretiker einer bestimmten, vor allem im angelsächsischen Bereich vorherrschenden Tradition können zufrieden sein. Ob man die Resignationsgeschichte dieser Wissenschaftstheorie, die mit dem Rationalitätsoptimismus des Wiener Kreises begonnen hatte und dann durch den Kritischen Rationalismus relativistisch infiltriert wurde, nun mit der Historisierung und Soziologisierung der Naturwissenschaften durch Thomas S. Kuhn, mit der Naturalisierung der Epistemologie durch Willard V. O. Quine oder in der anarchistischen Erkenntnistheorie Paul Feyerabends enden lässt: Naturwissenschaften und Philosophie sind nur noch das, was Naturwissenschaftler bzw. Philosophen tun. Um sich diesem Soziologismus anzuschließen, muss man nur historisch davon absehen, dass es sich beim Gang der Wissenschaftstheorie um eine Resignationsgeschichte, d. h. um das Scheitern eines wissenschaftstheoretischen Programms handelt. Mit ihr ist zugleich die (begriffliche) Disziplinierung durch den linguistic turn der Philosophie (eindrucksvoll nachweisbar an der Analytischen Philosophie des Geistes) verloren gegangen. Dann liegt der bequeme Weg nahe, die etwa von den Exponenten des Logischen Empirismus oder des Methodischen Konstruktivismus unternommenen Arbeiten am Begriff und an der Methode der Naturwissenschaften sowie an einer kritischen Auseinandersetzung mit den Erkenntnisinteressen im aktuellen Zuständigkeitskonflikt von Naturwissenschaft und Philosophie zu ignorieren. Der Deskriptivismus, der historisch innerhalb der Wissenschaftstheorie der Mehrheitstradition begonnen hat, hat sich auf die nächst höhere Stufe, nämlich auf den Gang der Philosophiegeschichte, genauer der Wissenschaftstheoriegeschichte, verschoben. Die Naturwissenschaften haben gesiegt. Sie gelten als sakrosankt und bieten den meisten Philosophen nur noch Anlass zu Analyse und affirmativer Beschreibung. So gilt, was Naturwissenschaftler tun, aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz und ihrer augenfälligen, technisch-industriell wirksamen Einflüsse auf Kultur und Lebensverhältnisse, als quasi unkritisierbar. Man kann sich als aktuell informiert und einschlägig kompetent ausweisen, wo man die wichtigsten Ergebnisse aus »Nature«, »Science«, »Lancet« und anderen naturwissenschaftlichen Organen, meistens ausreichend zusammengefasst in den Wissenschaftsteilen der großen Zeitungen oder in eigenen Popularisierungszeitschriften z. B. der Spectrum-Reihe, berücksichtigt. Dabei spielt es keine Rolle, ob man sich selbst der Profession der Naturwissenschaftler, der Philosophen, der Wissenschaftsjournalisten oder einer anderen Gruppe zurechnet. Die Erscheinungsformen, sich selbst in die Erfolgsgeschichte der Naturwis-

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senschaften als Nicht-Naturwissenschaftler affirmativ einzureihen, sprechen sich oder den favorisierten Ansätzen schwache oder starke Fassungen eines Kausalismus, Materialismus, Naturalismus, Szientismus oder irgendeines anderen, deskriptiven Ismus zu. Wo Geisteswissenschaftler oder Philosophen dagegenhalten, berufen sie sich, mehr oder weniger gestützt auf historische Autoritäten, beim Thema Mensch auf Ausprägungen eines Mentalismus, Individualismus, auf das Historische oder Kultürliche, das Reich der Freiheit, der Kunst; im Endeffekt aber bedienen sie letztlich doch im Hintergrund der erfolgreichen Naturwissenschaften stehende, philosophische Selbstverständnisse. Noch einmal ist es die Analytische Philosophie des Geistes, in der sich zahlreiche Beispiele dafür finden, dass sogar Körper-Geist- oder Leib-Seele-Probleme in ihren (nach Trägern oder Typen) verschiedenen Fassungen nur noch als Soziologismen auftauchen, ob es nun Monisten, Dualisten, Kompatibilisten, oder andere, durch ihre Anhängerschar charakterisierte Positionen sind. Diese faktisch entstandenen Formen eines Zuständigkeitsstreits zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, der eher als entschieden proklamiert denn geführt wird, scheinen mit beunruhigender Allgemeinheit zu verdrängen, dass ein solcher Rückzug auf Soziologismen das Führen einer Debatte zur Lösung des Konflikts unmöglich macht. Denn Fächer nur noch über ihre Professionen oder Communities zu identifizieren opfert die Unterscheidungsmöglichkeit von Inhalten und metatheoretischer Abgrenzungen. Die normative Kraft des Faktischen geht in diesem Fall nur noch von den Überzeugungen aus, welche die eigene Gruppenzugehörigkeit definieren. Dagegen soll hier die These gesetzt werden, dass sich die Philosophie nicht in der mehrheitlich angenommenen Form von den Naturwissenschaften abgrenzen lässt (und vice versa, ohne sogleich in das andere Extrem zu verfallen, wonach mit Beginn des 20ten Jahrhunderts und mit den großen Revolutionen in der Physik die Philosophen neuerdings in den physikalischen Instituten zu finden seien). Aus Gründen der Klarheit und der Kürze soll am Beispiel der klassischen Mechanik gezeigt werden, warum und inwiefern die Physik nicht ohne Philosophie auskommt; dabei werden die Beispiele so gewählt sein, dass ihre Übertragbarkeit auf andere naturwissenschaftliche Disziplinen gewährleistet ist. Die Mechanik bietet sich besonders an, weil sie noch am ehesten von allen Naturwissenschaftlern anerkannt und von den Philosophen ausreichend verstanden wird. Außerdem bildet sie in einem weiteren Sinne durch ihren materiellen, kausalen, experimentellen, quantitativen und theoriebildenden Charakter immer noch ein Leitbild für die Naturwissenschaften. (Da es im nächsten Abschnitt um die Naturwissenschaften vom Menschen, genauer die Lebenswissenschaften gehen wird, ist auf deren mechanistisches Programm

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nicht im wörtlichen, kartesisch-newtonschen Sinne, wohl aber im weiteren, methodologischen Sinne hinzuweisen.) Wer sich als Forscher oder Lehrer, als Techniker oder philosophischer Metatheoretiker mit Mechanik kompetent befassen möchte, ist auf das Studium ihrer Lehrbücher angewiesen (und wird dann noch Wesentliches entbehren, wenn er nicht auch ein Studium der Laborpraxis absolviert hat). Die klassische Mechanik als erfolgreiches und grundlegendes Wissensgebiet der Physik ist in ihrer sprachlichen Weitergabe, ungeachtet verschiedener Lehrbuchstile von Newton bis heute, nach Sprachebenen strukturiert, denen spezifische Gegenstandsebenen, Begriffsbildungen und Methoden entsprechen. Da ist zunächst die Objektsprache, in der es um Bewegungen von Körpern in Kraftfeldern geht, also eine geometrische, kinematische und dynamische Fachsprache gesprochen und technisch reproduzierbare Laborsachverhalte behandelt werden. Diese für eine Beherrschung der Mechanik unverzichtbare Objektsprache könnte allein weder gelehrt noch in der Praxis verwendet werden ohne eine Metasprache, in der bestimmte Sätze der Objektsprache als Definitionen, Prinzipien, Gesetze, Hypothesen, Ergebnisse oder ähnliches charakterisiert würden. Die Lehr- und Lernbarkeit der Mechanik (wie jeder Naturwissenschaft) hängt an solchen Charakterisierungen einzelner ihrer Sätze oder Theoriestücke. Dabei wird aber nicht mehr über die Objekte des Laborbetriebs, also bewegte Körper in Kraftfeldern, sondern über sprachliche Gegenstände gesprochen. Das heißt, kein kompetenter Physiker bzw. Naturwissenschaftler kommt ohne Metasprache als Rede über Rede aus. Ebenso wenig kommt er aus ohne die weitere Sprachebene der Rede über Verfahren, Methoden und ihre Produkte. Er wird über Beobachtung, Messung und Experimente sprechen, empirische von mathematischen, vorläufig hypothetische von bewährten und technisch-praktische von theoretischen Sachverhalten unterscheiden müssen usw. Je nach Zusammenhang müssen für eine Beherrschung der Mechanik (wie jeder Naturwissenschaft) weitere Bereiche der sprachlichen Verhandlung hinzukommen, etwa solche der eigenen Fachgeschichte, der technischen Fortschritte und Anwendungen, der ökologischen, ökonomischen oder sozialpsychologischen Einordnung der eigenen Praxis, des Kampfes um öffentliche Anerkennung und Finanzierung, der Abgrenzung von oder Verflechtung mit anderen Disziplinen usw. Sofern man nun diese Strukturen der Mechanik bzw. der Naturwissenschaften nicht wieder in Personengruppen oder Professionen auflösen und soziologisieren möchte, sondern prinzipiell personenunabhängig oder professionsübergreifend Fachgebiete nach ihren Zuständigkeiten benennt, bietet sich als Unterscheidung an: Die Philosophie behandelt Bedeutung und Geltung

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sprachlicher Äußerungen in allen Formen ihres Auftretens, Verfahren und Strukturen von Begriffs- und Theoriebildung, den (empirischen oder apriorischen) Status von Ergebnissen, kurz, die wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Mittel der Diskussion von Wissenschaft. Mit diesem Verständnis von »Philosophie« ist keine Naturwissenschaft ohne Philosophie möglich, und zwar nicht nur im Sinne einer philosophisch diagnostizierten »Bedingung der Möglichkeit«, sondern im Sinne schlichter Tatsächlichkeit. Es gibt in diesem Verständnis sogar faktisch keine Naturwissenschaften ohne Philosophie. Damit stellt sich die Frage, was für eine Philosophie diese tatsächlich ist (unabhängig von der Frage, wer sie betreibt). Tatsächlich finden sich hier die persönlichen, fächer- oder schulgebundenen Glaubensbekenntnisse naturwissenschaftlicher Selbstverständigung. Als Glaubensbekenntnisse haben sie zu gelten, weil sie sich unter Verwendung von Begriffen wie Erfahrung, Natur, Gesetz, oder von Verständnissen der Wissenschaftlichkeit, ihres historischen Gangs usw. äußern, ohne dass es zu einer begrifflichen Klärung der einschlägigen Schlüsselwörter, zu einer Explikation oder gar Legitimation einschlägiger Verfahren oder auch nur zu der Einsicht käme, dass hier philosophiert und nicht etwa experimentiert, beobachtet oder gemessen wird. Das heißt, hier fehlt die Einsicht in die prinzipielle Verschiedenheit der Gegenstandsebenen und dafür einschlägiger begrifflicher und methodischer Mittel. Da mag der professionelle Wissenschaftsphilosoph noch so überzeugend kritisieren, dass die Mechanik, wie die Naturwissenschaften insgesamt, hinsichtlich ihrer Gegenstandsbestimmungen realistisch, hinsichtlich der Methoden empiristisch und hinsichtlich der Geltungsgründe naturalistisch seien. Eine weiterführende Debatte darüber findet nicht statt, weil der naturwissenschaftliche Fachmann in der Regel irrigerweise glaubt, mit seiner (hier gänzlich unbestrittenen) Fachkompetenz auch eine philosophische Zuständigkeit für die philosophischen Fragen seines Faches erworben zu haben. Die philosophischen Äußerungen, die bis in die oben am Lehrbuch der klassischen Mechanik diagnostizierten Erfordernisse der metasprachlichen Charakterisierung von Sätzen als Definitionen, Prinzipien, Gesetze usw. reichen, werden selbst keinen Kriterien der Wissenschaftlichkeit unterworfen. Transsubjektive Nachvollziehbarkeit ist keine Sache der Artikulation von Selbstverständnissen. Selbst die fachnächsten, unverzichtbaren philosophischen Unterscheidungen für das Treiben einer naturwissenschaftlichen Disziplin werden im Fachstudium nicht explizit gelehrt, sondern pflanzen sich naturwüchsig fort. Es ist, kurz, als wissenschaftshistorisches Faktum zu konstatieren, dass einerseits keine Naturwissenschaft ohne Philosophie auskommt, andererseits diese Philosophie jeweils eher den Charakter einer naturwüchsigen, unreflektierten, nicht selten vorurteilsbeladenen Selbstverständigung (etwa mit sozialpsycholo-

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gischen Abgrenzungsaufgaben) hat als den Charakter einer wissenschaftlichen, kontrollierten Bemühung. Dieses historische Faktum wird zwar trivialerweise von Personen getragen und realisiert, soll aber hier nicht im Sinne einer personellen Zuschreibung, sondern nur als Qualität eines Diskurses betrachtet werden. Wenn also in der Frage nach dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie ein systematischer Teil der Philosophie als unverzichtbar für die Naturwissenschaft, gleichwohl in seiner faktisch vorfindlichen Form als un- oder vorwissenschaftlich, ja als ein Typ von Glaubensbekenntnis zu charakterisieren ist, so soll diese Einschätzung keine Zuschreibungen von Verdienst oder Schuld an Professionen oder Personen sein. Vor allem ist diese Einschätzung ersichtlich nicht verbunden mit einer Ablehnung der fachwissenschaftlichen Resultate der Naturwissenschaften. Das heißt, sowohl die allgemeine Betrachtung des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Philosophie als auch die besondere Betrachtung der fachspezifischen philosophischen Erfordernisse einzelner Naturwissenschaften sind weitestgehend unabhängig von der Anerkennung naturwissenschaftlicher Resultate; lediglich die Unterscheidung der beiden Ebenen oder Sprachspiele, des naturwissenschaftlichen und des philosophischen, ist strikt durchzuhalten, und zwar an Sprachstücken, Kriterien, Methoden und den sie jeweils leitenden, für Wissenschaft und Philosophie verschiedenen Zwecken und Erkenntnisinteressen.

2) Philosophien der Naturwissenschaften vom Menschen am Beispiel derLebenswissenschaften Die in den letzten Jahrzehnten üblich gewordene Rede von »Lebenswissenschaften« (life sciences) verdankt sich nicht nur dem Zusammenrücken von Biologie und Medizin in der Forschung, sondern auch der immer deutlicher werdenden Zersplitterung der Biologie in Einzelfächer, die sich in ihren Anliegen und Grundsätzen nicht mehr viel zu sagen haben (wie z. B. Molekularbiologie und Morphologie), ja sogar in unverträgliche Ansätze etwa innerhalb der Genetiken oder der Evolutionstheorien auseinander fallen. Deshalb schlage ich hier eine eigene Einteilung der Lebenswissenschaften in drei Bereiche vor, für die dann jeweils ein spezifischer (und alle Bemühungen dieser Bereiche betreffender) Einwand vorgetragen wird. Ein primärer Bereich erforscht das Leben des Individuums als Organismus. Hier geht es um das in aktueller Beobachtung oder labormäßiger Untersuchung verfügbare Einzelobjekt (z. B. Einzeller, Pflanze, Tier, Mensch), das aber weniger als Individuum, d. h. als unteilbarer Leib, sondern vorrangig als Typ eines organismischen Bauplans untersucht wird. Klassische Fächer dieses Be-

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reiches sind Anatomie und Physiologie (einschließlich Hirnforschung) und Organismustheorien einschließlich aller potentiellen Wechselwirkungen des Organismus mit seiner Umwelt. Ein sekundärer Bereich betrifft Fortpflanzung und Vererbung. Hier sind die Grenzen des Individuums überschritten. Es geht um Beschreibung und Erklärung von Eigenschaften (»Merkmalen«) durch Vererbung. Klassische Fächer dieses Bereiches sind die Genetiken: klassische Genetik in der Tradition, die mit den Mendelschen Vererbungsregeln beginnt, mathematische versus naturalistische (d. h. Züchtungs-) und Populationsgenetik, Zellbiologie, Genomforschung, Molekularbiologie. Der dritte Bereich betrifft die naturgeschichtliche Entstehung des Menschen und umfasst als klassische Theorie die Evolutionsbiologien sowie evolutionäre Sekundärtheorien (evolutionäre Erkenntnis- und Ethik-Theorien). Während auf der ersten Fächerebene die Laborforschung dominiert und auf der zweiten Fächerebene der Experimentalforschung über Fortpflanzung und Vererbung durch Züchtungsexperimente beim Menschen nur moralische, aber keine erkenntnistheoretischen Grenzen gesetzt sind, ist die Naturgeschichte des Menschen eine Wissenschaft von den nicht beobachteten und nicht beobachtbaren vergangenen Entwicklungen des Lebendigen auf der Erde. Hier werden narrative oder retrodiktive hypothetische Modelle aufgrund verfügbaren (Labor-) Kausalwissens als Rekonstruktionen entwickelt, ausgehend von heute vorfindlichen Verhältnissen, die ihrerseits im Lichte der hypothetischen Entstehungstheorien strukturiert werden. Bei Beschränkung auf den Menschen als Untersuchungsobjekt weisen die drei Forschungsperspektiven und Fächerbereiche also erhebliche Unterschiede in Zwecksetzung und methodischem Zugang auf. Nun sollen drei exemplarische Kritiken zu den drei Fächerebenen vorgetragen werden, die ihrerseits auf die in die Lebenswissenschaften von den Naturwissenschaftlern investierten Philosophien verweisen. (1) Exemplarisch für den ersten Forschungsbereich ist die (unbestritten höchst erfolgreiche) Sinnesphysiologie, z. B. des visuellen Systems. Der Bau des Auges, die Funktionen des zweiäugigen Sehens sowie die neuronale Verarbeitung von Netzhaut- und anderen Reizen bilden nicht nur (insbesondere hinsichtlich der neuronalen Verarbeitung) ein höchst aktuelles Forschungsgebiet, sondern auch einen eminent wichtigen Bereich der Augenheilkunde und der Neurologie. Philosophisch von Bedeutung ist, dass die Sinnesphysiologie nicht definieren kann, was »Sehen« ist. Vielmehr bezieht sie ihren Gegenstand, und in Experimenten ihr Explanandum aus dem lebensweltlichen Verständnis des Physiologen als Laien. Das Kind hat gelernt, dass es mit den Augen sieht, weil es nichts mehr sieht, wenn es diese mit den Händen bedeckt. Der Begriff des Sehens ist

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durch das lebensweltliche Sprachspiel z. B. mit seinen Aufforderungen, etwas anzuschauen, genau hinzusehen usw. bestimmt. Kurz, die Sinnesphysiologie des visuellen Systems hätte keinen Gegenstand ohne lebensweltliches Wissen, was »Sehen« bedeutet. Mehr noch, die Physiologie des Visuellen hätte auch keine Methoden, wenn nicht die Physiologen im Bereich der Forschung in der Lage wären, konsensfähige Urteile über das Gesehene zu bilden. Mit welchen technischen und experimentellen Raffinessen auch immer der Physiologe das Sehen untersucht, immer wird am Patienten, an der Versuchsperson und der Versuchsapparatur etwas zu sehen und als wissenschaftliches Ergebnis zu beschreiben sein. Die Sinnesphysiologie verdankt also, nun schon verallgemeinert auf alle Sinnesmodalitäten, ihre Gegenstände und ihre Methoden dem lebensweltlichen, also vor- und außerwissenschaftlichen Vollzug und Verständnis von Sinneswahrnehmung einschließlich ihrer sprachlichen Verhandlung. (2) Als Exemplar für den zweiten Bereich der Fortpflanzung und Vererbung sei auf den klassischen Fall der Züchtungsgenetik verwiesen. Die auch dem Laien bekannten Mendelschen Regeln, nach denen sich die Blütenfarben von Erbsen oder Bohnen im Sinne dominanter oder rezessiver Merkmale vererben, sind kein Ergebnis reiner Naturbeobachtung. Erst wo durch technischen Eingriff künstlich Pflanzen gezüchtet werden, die in Isolation durch längere, über viele Generationen laufende Selbstbefruchtung und Auslese nach einer Blütenfarbe so genannte »Reinzuchtformen« bilden, lassen sich »reine«, d. h. erwartbar nur die eigenen Blütenfarbe in der Nachkommenschaft aufweisende Pflanzen verschiedener Farben kreuzen. Kurz, der Gegenstand einer Züchtungsgenetik ist ein Artefakt. Die Semantik und die Beobachtbarkeit des Erbganges von Merkmalen verdankt sich der technischen Produktion von Unnatürlichem (d. h. von Formen des Lebendigen, die nicht von selbst in der Natur auftreten). Beim Menschen, bei dem zwar (in allen Kulturen) die kultürlichen Einflüsse auf die Auswahl der zur Fortpflanzung kommenden Individuen unbestreitbar, aber eben nicht von den Zwecksetzungen des experimentierenden Züchtungsforschers bestimmt sind, verdankt sich die Auswahl der »Merkmale« nicht dem Kriterium technischer Manipulierbarkeit durch den Experimentator, sondern der Aufmerksamkeit für Störungen, vor allem für Erbkrankheiten. So waren die frühesten genetischen Wissensbestände solche des Erbganges von Bluterkrankheit, Farbenblindheit oder Polydaktylie. Störungen sind hier Defekte gegenüber einer Normalität im doppelten Sinne des Wortes als Üblichkeit und wünschenswerter Gesundheit. Damit zeigt sich sowohl für die an Pflanzen und Tieren praktizierbare Züchtungsgenetik als auch für eine humane Vererbungslehre, dass die Auswahl der Merkmale, deren Erbgang erforscht wird, nicht ohne menschliche Setzung, nicht ohne aktiven Eingriff und nicht ohne normative Vorgaben erfolgt.

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(3) Für den dritten Bereich, die Naturgeschichte des Menschen, greifen wir evolutionäre Erkenntnistheorien als lehrreiche Beispiele heraus. Für Einwände, die sich gegen die allzu einfachen und unkritischen Annahmen evolutionärer Erkenntnistheorien bezüglich der jeweils zugrunde gelegten Evolutionstheorie beziehen, muss auf die Literatur verwiesen werden. Hier sollen nur die Ansprüche bedacht werden, eine Erkenntnistheorie aus der Naturgeschichte des Erkenntnisvermögens gewinnen zu können. Dafür muss nichts an objektsprachlichen Ergebnissen der Evolutionsbiologie hinsichtlich der von der Physiologie beschriebenen und erklärten Ausstattung des menschlichen Organismus und seiner evolutiven Entstehung bestritten werden. Unverzichtbar aber muss jede evolutionäre Erkenntnistheorie eine Unterscheidung von kognitiv relevant und kognitiv irrelevant treffen. (Die Pointe des Ansatzes von Konrad Lorenz besteht zwar darin, prinzipiell jeden Stoffwechselprozess als Informationstransport und jeden Verdauungsvorgang als Erkenntnisprozess zu interpretieren; aber dabei geht unvermeidlich die wahrfalsch-Unterscheidung von Erkenntnis und Irrtum verloren.) Selbst in der vorsichtigeren Form der evolutionären Erkenntnistheorien, nur eine Naturgeschichte bestimmter Erkenntnisdispositionen schreiben zu wollen, ist die Investition einer Unterscheidung von kognitiv/nicht kognitiv unverzichtbar. Denn es sind ja dieselben kognitiv relevanten Strukturen, mit denen der Mensch erkennt und irrt. Aber Irrtümer müssen zu einem evolutiven Nachteil führen, oder die Theorie hätte keine These. Also muss Irrtum von Erkenntnis und damit falsch von wahr unterschieden werden, und zwar als Prämisse, nicht als Konklusion der Theorie.1 Als Fazit dieser drei exemplarischen Kritiken lässt sich festhalten: (1) Die Gegenstandskonstitution aller drei Forschungsbereiche erfolgt nicht innerhalb oder durch die jeweilige Naturwissenschaft, sondern außerhalb dieser in der 1

Dies ist ein immanentes und damit letztlich naturalistisches Argument. Ein letztlich wichtigeres, von vielen philosophischen Kritikern der evolutionären Erkenntnistheorien geteiltes Argument besagt dagegen, dass Vertreter evolutionärer Erkenntnistheorien selbst Geltungsansprüche für ihre Theorie insgesamt sowie für deren Teilaspekte erheben. Anpassungsprozesse des Erkenntnisvermögens sind nur als Relation eines beschriebenen und damit erkannten Erkenntnisvermögens zu einer beschriebenen und damit erkannten Wirklichkeit möglich. Speziell in der Tradition der methodischen Philosophie steht das Argument, dass Irrtümer, definiert durch normative Wahrheitskriterien, mit denselben materiellen Strukturen im Organismus begangen werden wie das Gewinnen vor Erkenntnissen; ohne dass deshalb Naturgesetze falsifiziert würden, welche die Funktion des Organismus beschreiben bzw. kausal erklären. Damit kann aber auch die wahr-falsch-Unterscheidung nicht von (als gültig unterstellten) Naturgesetzen impliziert werden. Vgl. P. Janich, Evolution der Erkenntnis oder Erkenntnis der Evolution? Konstruktivismus und evolutionäre Erkenntnistheorie, in: Ders., Konstruktivismus und Naturerkenntnis, Frankfurt a. Main 1996, S. 135–153.

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Lebenswelt. Plakativ formuliert, die Lebenswissenschaften handeln nicht von Naturgegenständen. Die Naturwissenschaften können keine, und schon gar keine explizite Operationalisierung des jeweiligen Explanandums angeben, für das sie experimentelle Erklärungen (im Explanans) zu bieten beanspruchen. Für die jeweiligen, das Selbstverständnis der Lebenswissenschaftler tragenden Philosophien heißt dies, dass sie nicht aus den Naturwissenschaften gewonnen, sondern in sie investiert werden müssen. Man muss eben schon vor der Sinnesphysiologie wissen, was es heißt, etwas (gut, richtig, genau, wie die anderen Menschen) zu sehen. Man muss vor der Erforschung erblich weitergegebener Merkmale diese operationalisiert, durch eine Medizin definiert und erforscht haben, und man muss vor Formulierung einer evolutionären Erkenntnistheorie den Unterschied von wahr und falsch, von Erkenntnis und Irrtum zur Verfügung haben. Anders könnten die Naturwissenschaften vom lebenden Menschen ihre Methoden als Regeln zweckrationalen Handelns nicht entwickeln und realisieren.

3) Minimalforderungen an die Naturwissenschaften vom Menschen Nicht zuletzt ruhen die Lebenswissenschaften auf einem Fundament historischer Entwicklungen von Rationalitätskriterien auf. Der Anspruch dagegen, dieses Fundament nachträglich als Ergebnis der Lebenswissenschaften interpretieren zu können, ist eine Selbsttäuschung der Lebenswissenschaften, ist ein philosophischer, genauer ein methodischer Irrtum. Damit aber stellt sich allgemein die Frage, welche Philosophie die Naturwissenschaften vom Menschen haben sollten – wenigstens aus philosophischer Sicht und damit auf Grundlage von Argumenten, die für sich und nicht durch die Brille des Naturalismus der Lebenswissenschaften geprüft werden müssen. Vorauszuschicken ist, dass jetzt »die Naturwissenschaften vom Menschen« nicht mehr auf die Lebenswissenschaften beschränkt verstanden werden sollen. Auch Physik und Chemie lassen sich, zweckabhängig, sinnvoll und erfolgreich auf den Menschen »anwenden«, d. h. es gibt Zwecke, für die es ein zweckmäßiges Mittel ist, den einzelnen Menschen als physikalischen Körper, als thermische Maschine, als Energiekonsument und -produzent usw. zu betrachten. Für alle Naturwissenschaften vom Menschen muss zumindest ein »Anthropisches Prinzip« als notwendige Bedingung für ihre Gültigkeit anerkannt werden. Die Rede vom »Anthropischen Prinzip« stammt aus der Kosmologie, allerdings in deren naturalistischem Verständnis. Dort wird in einer Situation der Theoriewahl, die sich aus astrophysikalischen Daten nicht entscheiden lässt, ein schwaches bzw. ein starkes Prinzip formuliert, welches besagt: Die Entstehungstheorie des Kosmos darf die Entstehung des Menschen nicht aus-

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schließen (schwache Form des Prinzips) bzw. muss sie kausal erklären (starke Form des Prinzips). Die Existenz des Menschen als Faktum wird also investiert. Gleichwohl ist diese Form des Prinzips naturalistisch verkürzt, weil der Mensch nur qua Evolutionsprodukt, genauer nur qua erdgeschichtlicher Bedingungen für die Entstehung des Lebens auf einem Planeten des Sonnensystems in Rechnung gestellt wird. Spezifische Leistungen des Menschen, insbesondere diejenige, solche Kosmologien zu formulieren und als Erkenntnis zu beanspruchen, werden dagegen nicht beachtet. Für die Naturwissenschaften vom Menschen ist nun beim besten Willen nicht zu bestreiten, dass sie im zweifachen Sinne Wissenschaften »vom« Menschen sind, nämlich nicht nur den Menschen als Objekt der Forschung haben, sondern auch von Menschen als Subjekten forschend hervorgebracht werden. Damit lautet ein kulturalistisches Anthropisches Prinzip in seiner schwachen Form, dass die Naturwissenschaften vom Menschen für keine Ergebnisse Geltung beanspruchen können, welche eben diese Naturwissenschaften vom Menschen als unmöglich auszeichnen, d. h. als Erkenntnis ausschließen würden. Dieses schwache Prinzip ist eine Forderung nach performativer und semantischer Selbstkonsistenz. In einer starken Form fordert das kulturalistische Anthropische Prinzip, dass die Naturwissenschaften vom Menschen ihre Ergebnisse so zu fassen haben, dass eben die Fähigkeit zum Treiben dieser Naturwissenschaft vom Menschen erklärt wird. Auch hier liegt letztlich eine Forderung nach performativer und semantischer Selbstkonsistenz vor, allerdings mit einem ungleich höheren Anspruch an die Leistungen der Naturwissenschaften. Dieses Prinzip hat den Einwand gegen sich, dass es gerade nicht naturwissenschaftlich erfassbare, nämlich z. B. kulturhistorische Umstände sein können, welche die Wissenschaftlichkeit der Naturwissenschaften vom Menschen sichern und sich deshalb der naturwissenschaftlichen Erfassung entziehen. Unterstellt, die Rede von notwendigen und hinreichenden Bedingungen einer Wissenschaft sei semantisch und methodisch expliziert, bilden die anthropischen Prinzipien nur notwendige Bedingungen. Hinreichende Prinzipien könnten nur relativ zu einer Zweckbestimmung des ganzen Unternehmens angegeben werden, was hier von philosophischer Seite nicht zu präjudizieren ist. Einige, über die Anthropischen Prinzipien hinausreichende Forderungen sind jedoch allein aus philosophischen Gründen zu rechtfertigen: (1) Anthropische Prinzipien sind nur Ausschlussprinzipien für Forschungsprogramme, keine orientierenden Rationalitätsnormen für die Naturwissenschaften vom Menschen. Aber sie lehren einen (in der gegenwärtigen wissenschaftshistorischen Situation wichtigen) Perspektivenwechsel: statt den Menschen nur als Objekt, sozusagen in der methodologischen Naivität der klassischen Physik gegenüber ihren Objekten, zu betrachten, wird der Mensch

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als Urheber, als Autor und Akteur, als Zwecksetzer, Kriterienwähler und Methodenrealisierer betrachtet. (2) Betrachtet man das Verhältnis von Explanandum und Exlanans (im Zusammenhang experimentell gestützter Kausalerklärungen), so muss das Explanandum Mensch als lebensweltlicher Reflexionsbegriff angesetzt werden. Der Begriff Mensch ist also kein Definitionsprodukt etwa einer biologischen Taxonomie, einer evolutionsbiologischen Artbestimmung oder einer anderen Naturwissenschaft, sondern er wird durch eine offene, sich kulturhistorisch weiter entwickelnde Liste von Zuschreibungen gefasst. Was man als menschlich, als human ansieht (wie die Fähigkeit, sich gegenseitig sprachlich verantwortlich zu machen, zweckrational zu handeln, mit metasprachlichen Aufstufungen zu sprechen und zu denken, Institutionen zu bilden und in Traditionen Kultur zu entwickeln), all dies wird einem lebensweltlichen Reflexionsbegriff »Mensch« zugewiesen. (3) Der lebensweltliche Begriff »Mensch« ist auch nachträglich nicht durch einen naturwissenschaftlichen ersetzbar. Jeglicher Speziezismus, auch wenn er gelegentlich von Moral- und politischen Philosophen gebraucht wird (der Mensch als homo sapiens sapiens mit der Zutat des moralischen oder politischen Handelns)2, ist ein methodischer Irrtum. Denn es gibt keine kausalen, funktionalen oder andere empirisch gestützten Erklärungen, wo es kein (hinreichend) bestimmtes Explanandum gibt. Und mit Sicherheit führt die Doppelung, daß der Mensch sowohl als Autor wie auch als Objekt der Wissenschaft vorkommt, nicht zu einem diffusen »Zusammenfallen« von Explanandum und Explanans, wie es in der Formel »das Gehirn erforscht das Gehirn« behauptet wurde.3 Damit sind die ersten Schritte getan, um das zentrale Anliegen dieses Aufsatzes wieder aufzugreifen und das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft vom Menschen neu zu bestimmen. Was heißt es, die Naturwissenschaften vom Menschen als von Menschen getragene Forschungspraxis zu begreifen?

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Und zwar unabhängig von der politischen Orientierung etwa von Hermann Lübbe ebenso wie von Jürgen Habermas. 3 So etwa W. Singer: »Bei der Erforschung des Hirns betrachtet sich ein kognitives System im Spiegel seiner selbst. Es verschmelzen also Erklärendes und das zu Erklärende.« In: Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt a. Main 2002, S. 61.

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4) Menschenbilder und die Auflösung von Kategorienfehlern Die folgenden Lösungsvorschläge stammen aus einer methodisch-kulturalistischen Wissenschaftsphilosophie. Dort werden Wissenschaften als Kulturleistung betrachtet. Sie kommen durch Handeln von Menschen unter historischen Bedingungen zustande. Hinsichtlich Programm und Durchführung sei auf die Literatur verwiesen.4 Hier sind nur einige, wenige Aspekte zu wiederholen, die direkt für die folgende Argumentation benötigt werden.

4,1 Wissenschaft als Handeln Den handlungstheoretischen Bestimmungen wissenschaftlicher Methoden einschließlich ihrer sprachlichen Teile liegt ein askriptiver Handlungsbegriff zugrunde. Das heißt, der Mensch erwirbt in einer Lerngeschichte innerhalb einer Handlungs- und Redegemeinschaft die sozial unverzichtbare Unterscheidung von verantwortungspflichtigem Handeln und bloßem, natürlichen Verhalten (im Sinne von »behaviour« und nicht von »conduct«). Menschen werden für Handlungen verantwortlich gemacht durch Zuschreibung von Verdienst oder Schuld. Nicht im Sinne einer Definition, sondern analytischer Konsequenzen wird von dieser so verstandenen Handlung festgehalten: Handlungen kann man unterlassen (unterlassen ist hier der Gegenbegriff zu aktualisieren, also vom juristischen Begriff der Unterlassungshandlung zu unterscheiden); zu Handlungen kann man sinnvoll auffordern; Handlungen können ge- oder misslingen, d. h. richtig oder falsch ausgeführt werden (relativ zu den Intentionen des Akteurs oder zu irgendwelchen Handlungsregeln); Handlungen können erfolgreich oder erfolglos durch Realisierung oder Verfehlung ihres Zwecks sein; Handlungen haben Ergebnisse und Folgen sowie Nebenfolgen.5 Wichtig für die Naturwissenschaften vom Menschen sind zwei Typisierungsebenen des Handelns: (1) Handlungen, die nur unter Beteiligung eines anderen Akteurs gelingen können, sollen Beteiligungshandlung heißen. Im kinetischen Bereich sind der Wettlauf oder das Tauziehen, im poietischen Bereich der Gebrauch einer zweihändigen Baumsäge und im praktischen Bereich das Heiraten einschlägige Beispiele.

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Vgl. etwa P. Janich, Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Weg zum Kulturalismus, Frankfurt a. Main 1996, und: Ders., Kultur und Methode. Philosophie in einer wissenschaftlich geprägten Welt, Frankfurt a. Main 2006. 5 Die handlungstheoretische Terminologie fi ndet sich in: P. Janich, Logisch-pragmatische Propädeutik, Weilerswist 2001.

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Davon unterschieden soll eine Handlung Gemeinschaftshandlung heißen, wenn sie nur unter Mithilfe anderer Akteure Erfolg hat. Eine Schnitzeljagd, der Bau einer Stadt oder eine Revolution bilden hier ein kinetisches, ein poietisches bzw. ein praktisches Beispiel. Nur wo keine Beteiligungs- oder Gemeinschaftshandlung vorliegen, ist von einer Individualhandlung die Rede, in der sich der Akteur unabhängig von Beteiligung und Hilfe anderer einen Zweck setzt, Mittel wählt und »persönlich«, d. h. allein für die Folgen verantwortlich ist. Schon auf den ersten Blick ist sichtbar, dass Wissenschaften generell auf Beteiligungs- und Gemeinschaftshandlungen angewiesen sind und nicht aus einer Menge von Individualhandlungen allein bestehen können. (2) Eine zweite Typisierung von Handlungen betrifft die Unterscheidung von Beschreibung und Vollzug. Beschreibungen des Handelns können aus Beobachter- oder Teilnehmerperspektive gegeben werden. Für die Wahrheit von Aussagen eines Anatomen über das menschliche Skelett ist es unerheblich, dass er selbst ein Skelett des beschriebenen Typs hat. Er beschreibt das Skelett also aus einer Beobachterperspektive. Der Sinnesphysiologe dagegen muss, wie oben erläutert, die Fähigkeit des Sehens und ein Verständnis, d. h. eine sprachliche Beherrschung des Sehens haben, um über Gegenstand und Methode einer Sinnesphysiologie des Visuellen zu verfügen. Er beschreibt also das menschliche Sehsystem aus einer Teilnehmerperspektive. Beide Beschreibungsperspektiven sind aber zu unterscheiden von einer Vollzugsperspektive. Da auch dabei über Handlungen gesprochen wird, scheint hier, in einer für die methodische Philosophie seit Hugo Dingler und Paul Lorenzen zentralen Einsicht, bloß eine philosophische Spitzfindigkeit vorzulegen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Auch der Laie unterscheidet nachdrücklich Vollzug und Beschreibung. Niemand würde den Unterschied übersehen, mit einem Mörder oder mit einem Beschreiber von Mördern und Morden, z. B. einem Krimiautor, befreundet zu sein. In beiden Fällen ist der potentielle Freund von Mörder oder Krimiautor nicht selbst Vollzieher des Mordens. Aber entscheidend ist der Vollzug des Mordes für die Perspektive, unter der der Mörder vom Krimiautor unterschieden wird. So wird auch in operativen Begründungen wissenschaftlicher Theorien die jeweilige Operation in eine Begründung nur wieder beschreibend eingerückt. Aber die Gegenstände, von denen eine solche Beschreibung handelt, kommen nur durch tatsächlichen Vollzug in die Welt. Dieser Vollzug ist in wichtigen Fällen ein nichtsprachlicher, muss aber nicht auf den nichtsprachlichen Bereich beschränkt bleiben, sondern kann auch z. B. in expliziten Konstruktionen oder Definitionen begrifflicher Gegenstände bestehen. Vollzüge spielen eine zentrale Rolle als Begründungsanfänge.6 6

Vollzüge als Begründungsanfänge kennzeichnen damit ein prinzipiell anderes Verständnis von »begründen«, als es den Einwänden des Münchhausen-Trilemmas von H.

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Die Einbeziehung der Vollzugsperspektive bildet de facto den wichtigsten Unterschied einer bloß deskriptiv verbleibenden Wissenschaftsphilosophie und den methodischen Rekonstruktionen in methodisch-kulturalistischen Ansätzen.7 Ein weiteres wichtiges Unterscheidungskriterium für verschiedene wissenschaftsphilosophische Ansätze hängt damit aufs Engste zusammen, nämlich das Prinzip der methodischen Ordnung (PmO). Was im Alltagsleben für jeden Menschen in deskriptiver, präskriptiver, performativer und expressiver Rede selbstverständlich ist, wird in den theoriebildenden Wissenschaften und ihren Philosophien häufig ignoriert bzw. verletzt: Jeder normal handlungsfähige Mensch beherrscht Handlungsketten, in denen Teilhandlungen nur bei Strafe des Misserfolgs der Gesamthandlung vertauscht werden können. Schon die einfachsten Verrichtungen des alltäglichen Lebens sind von dieser Art. Die Berücksichtigung dieser Reihenfolge (»pragmatische Ordnung«) in sprachlicher Verhandlung welchen Typs auch immer (»methodische Ordnung«) ist im Alltagsleben derart selbstverständlich, dass Verletzungen nicht vorkommen oder bestenfalls zu beabsichtigten Überraschungseffekten eingesetzt werden. Das PmO ist eine Verbotsnorm und schreibt vor, sprachlich nicht von der Reihenfolge abzuweichen, die im beschriebenen Handeln für den unterstellten Erfolg verantwortlich gemacht wird. Wissenschaftsphilosophisch kommt dem PmO die Rolle einer Rationalitätsnorm zu: in syntaktisch strukturierten sprachlichen Fassungen von Wissen sichert es die Anbindung der Theorie an ihren (durch Handeln erzeugten) Gegenstand. Oder umgekehrt gefaßt verhindert die Berücksichtigung des PmO die Ablösung der Theorie vom praktischen Fundament, von der Gegenstandskonstitution, von der geregelten Herstellung oder unterscheidenden Einteilung der Gegenstände der Theorie. Hat dieses Prinzip im Bereich etwa einer operativen Geometriebegründung (gegen formalistische oder empiristische Alternativen) noch die Stringenz des Faktischen auf seiner Seite – auch Formalisten und Empiristen kommen nicht

Albert zugrunde liegt. Eine Unterscheidung verschiedener Typen von »Begründungsanfängen« findet sich in: P. Janich, Begründungsanfänge, in: Ders., Kultur und Methode, Frankfurt a. Main 2006, S.161–185. 7 Auf die feineren Unterschiede zwischen den Rekonstruktionsbegriffen, die den Arbeiten Hugo Dinglers, dem Erlanger Konstruktivismus bei Paul Lorenzen und etwa der Protophysik des Autors zugrunde liegen, kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. hierzu etwa P. Janich, Konstitution, Konstruktion, Reflexion. Zum Begriff der »Methodischen Rekonstruktion« in der Wissenschaftstheorie, in: Ders., Konstruktivismus und Naturerkenntnis, Frankfurt a.M. 1996, S. 53–72; und: Ders., Dingler und der Apriorismus, in: P. Janich (Hg.), Wissenschaft und Leben. Philosophische Begründungsprobleme in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler, Bielefeld 2006, S. 53–68.

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ohne technische Produkte zur Realisierung des Geometrischen aus –, so ist das PmO im Bereich der Naturwissenschaften vom Menschen leichter unbemerkt zu verletzen, führt aber auch dort zum Verlust eines nachvollziehbaren Gegenstandsbezugs.8 Die oben gegebenen Beispiele der Sinnesphysiologie oder der evolutionären Erkenntnistheorie können dies belegen.

4,2 Methodische Überwindung von Kategorienfehlern Einen zentralen Themenbereich der Naturwissenschaften vom Menschen bilden, insbesondere hinsichtlich der heute favorisierten Naturalisierung des Menschen, Körper-Geist- und Leib-Seele-Probleme. Der Kürze halber sei hier exemplarisch das Körper-Geist-Problem im Sinne der Frage herausgegriffen, inwiefern materielle Systeme kognitive Leistungen erbringen und wahre Aussagen produzieren können. Damit sind also sowohl kognitive Leistungen von Menschen als auch deren leistungsgleiche Substitution durch Maschinen betroffen. Exemplarisch soll, ausgehend von der methodisch-kulturalistischen Alternative in der Philosophie, dieses Problem neu bestimmt werden, um die Verschiebung gegenüber herkömmlichen Interpretationen durch einen methodischen Zugang zu demonstrieren. Diese Neubestimmung ist geboten, weil sich in der Vielfalt der in der Literatur zu findenden Charakterisierungen des genannten Verhältnisses von Körper und Geist (mit kleinen Variationen) prinzipiell nur zwei finden, nämlich logisch-definitorische und kausal-empirische. Obwohl sich heute kaum mehr ein bekennender Logischer Empirist finden dürfte, ist dennoch die Tradition, z. B. in der Analytischen Philosophie des Geistes, aber auch in den Naturwissenschaften, immer noch beschränkt auf die Auffassung, dass es in den Naturwissenschaften letztlich nur diese zwei Typen von Wahrheit oder Geltung geben kann, die logisch-definitorisch-mathematischen, also formalen, und die durch Beobachtung, Experiment und Messung beherrschbaren experimentellkausalen Wissensbestände, also die empirischen. Dennoch ist es gerade diese Beschränkung auf die Doktrin des Logischen Empirismus, welche den Kategoriensprung zwischen Körper und Geist aufzulösen verhindert. Alle Beispiele von Körper-Geist-Verhältnissen müssen unausweichlich in Form ihrer Beschreibungen oder Modellierungen diskutiert werden, betreffen also nicht direkt Naturgegenstände, sondern Handlungen ihrer Beschreiber. Diese Beschreibungsabhängigkeit legt die Einbeziehung einer dritten Verhält8

Vgl. P. Janich, Mensch und Natur. Zur Revision eines Verhältnisses im Blick auf die Wissenschaften, in: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt a. Main, Bd. XL, Nr. 2, Stuttgart 2002.

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nisbestimmung nahe, nämlich die von Zweck und Mittel. Der Korrekturvorschlag gegenüber der Beschränkung auf die logisch-empiristische Tradition lautet damit, dass die Zweckrationalität des Handelns der naturwissenschaftlichen Akteure beim sprachlichen (Er)Fassen von Körper-Geist-Problemen (in Vollzugsperspektive!) einzubeziehen ist. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Die künstliche oder gekünstelte Irritation, wie aus dem kausal beherrschten Räderwerk einer Uhr die emergente Leistung entstehen kann, Zeit richtig zu messen oder (bei einer Rechenmaschine) wahre arithmetische Aussagen zu produzieren, wird ersetzt durch die methodisch korrigierte Beschreibung, dass ja der menschliche Urheber (»methodisch primär«) den Zweck einer Uhr oder einer Rechenmaschine setzen und, nach Bestimmung der erwünschten Funktionskriterien, die Mittel technisch dafür erfinden, erzeugen und einsetzen muss. Anders kommen diese Artefakte und ihre kognitiven Leistungen nicht in die Welt. Die höheren Systemeigenschaften emergieren also nicht in einem geheimnisvollen, Kausalität und logische Konsistenz bewahrenden und doch nicht vorhersagbaren Emergenzgeschehen aus den niedrigeren, sondern werden ihnen (in Be- oder Vorschreibungen) vorgegeben.9 Das PmO fordert hier schlicht, die Zwecke vor den Mitteln zu bestimmen. Der Uhrmacher bzw. der Rechenmaschinenkonstrukteur muß (methodisch) vor seinen Erfindungsschritten schon explizit wissen, wie die Uhr bzw. der Rechner funktionieren soll, d. h. was eine korrekte Zeitmessung oder ein richtiges Rechenergebnis sind. Da auch in den Bereichen der Wissenschaften vom Natürlichen Beschreibungen, Erklärungen und Prognosen über technisch beherrschte Modellierungen laufen, kann es kein Argument sein, die »niedrigeren« Systemeigenschaften als die von der Natur primär, z. B. im Evolutionsgeschehen zeitlich früher vorgegebenen anzusehen. Was unter welchen Kriterien als primär und was als sekundär zu gelten hat, ist immer eine Urheber-abhängige Entscheidung. (Für das Evolutionsgeschehen muss immer das heute vorfindliche Ergebnis primär bekannt sein, sonst hat die Evolutionstheorie kein Explanandum.) Das heißt, die technische und begriffliche Beherrschung von Artefakten ist methodisch primär gegenüber jeder modernen naturwissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung kognitiver Leistungen an Menschen und Maschinen. Der Kategoriensprung vom Körper zum Geist löst sich auf in ein Mittel-ZweckVerhältnis der betreffenden Beschreibungen.

9

Eine methodische Kritik emergenztheoretischer Begriffe und Ansätze findet sich in: P. Janich, Emergenz: Ist die Kultur des Wissens natürlich begrenzt? In: Ders., Kultur und Methode, Frankfurt a. Main 2006, S. 137–160.

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4,3 Philosophische Korrekturen am Selbstverständnis der Naturwissenschaften vom Menschen Die Verblüffungsresistenz naturalistischer Fassungen des Körper-Geist-Problems und der in diesem Feld bemühten Emergenztheorien beruht unter anderem in eindrucksvoller Weise darauf, Einsichten des linguistic turn vergessen zu haben. Die Entdeckung der Sprache als Mittel der Wissenschaften, als deren Leistung der linguistic turn kurz bezeichnet werden kann, enthält ja die Aufgabe, Scheinprobleme, die bloß aufgrund inadäquater Sprache erzeugt sind, von solchen (»echten«) Problemen zu unterscheiden, die nicht im Bereich der sprachlichen Formulierung, sondern z. B. im Bereich des Empirischen entschieden werden müssen. Wer aber den Kategoriensprung vom Körperlichen zum Geistigen zum Problem stilisiert, hat damit genau dieses Postulat aus dem linguistic turn verletzt: Denn es sind ja immer die eigenen Analysen und Beschreibungen der beiden Bereiche, die wiederum mit Mitteln der Sprache ins Verhältnis gesetzt werden. Die Adäquatheit von Modellierungen des Körperlichen und des Geistigen bleiben immer auf die investierten Erkenntnisinteressen, Fragestellungen, Problemformulierungen und Anwendungen zu beziehen. Die Natur zwingt dem naturwissenschaftlichen Autor keine bestimmte Modellierung auf. Schon gar nicht wird von der Natur und ihren Gesetzen als metaphysisch-hypothetisch postulierten Entitäten dem Naturforscher aufgezwungen, sich lebensweltliche oder philosophische Explananda (wie unsere intuitiven Selbstverständnisse bezüglich Willensfreiheit, Selbstbewusstsein für den Hirnforscher usw.) auszuwählen. Vielmehr ist, wie aktuell in den Neurowissenschaften, den Genetiken und Evolutionstheorien, (wo Anspruch auf naturwissenschaftliche Kausalerklärungen als Alternativen zu kulturwissenschaftlichen und philosophischen Deutungen erhoben wird) immer der Bereich des Explanandums methodisch vor dem des Explanans explizit und hinreichend detailliert zu bestimmen. Sofern es dabei erst um eine begriffliche Eingrenzung geht, wiederholt sich dieser methodische Aspekt am Unterschied von Definiendum und Definiens: Was als Definiens unter naturwissenschaftlich-materialistischer Perspektive auftauchen kann, wird in seiner Adäquatheit nur relativ zu einem Definiendum zu beurteilen sein, das seinerseits unabhängig von der fraglichen Definition hinreichend zu operationalisieren und explizieren ist. Wo z. B. nur pauschal über »Kognition« als kausal zu erklärende Leistung gesprochen wird, aber nicht die dabei stillschweigend investierten Kriterien des Unterschieds von wahr und falsch einbezogen sind, ist auch keine brauchbare Definition im Bereich naturwissenschaftlicher Gegenstände erreichen. Diese Kritik an naturalistischen Verständnissen des Menschen in den Aspekten des Körperlichen und des Geistigen, sowie die methodischen Gegen-

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vorschläge der zweckrationalen Auflösung sind im Bereich tatsächlich praktizierter Wissenschaftlichkeit nicht so revolutionär, wie sie vielen Vertretern des Naturalismus erscheinen. Der Pragmatismus der Medizin hat längst dazu geführt, etwa Krankheitsbilder als Explananda für naturwissenschaftliche Erklärungshypothesen getrennt für sich zu erforschen, zu charakterisieren und operationalisieren. Wer eine organismustheoretische, physiologische, genetische oder dann auch evolutionsbiologische Erklärungen für Charakteristika physischen und psychischen menschlichen Reagierens geben möchte, muss zuerst eine hinreichende Operationalisierung der fraglichen Phänomene für brauchbare Diagnosen und Ätiologien geben. Philosophische Korrekturen am Selbstverständnis der Naturwissenschaften vom Menschen fokussieren sich damit, bei aller Pauschalität der Kritik an materialistischen, kausalistischen, formalistischen, empiristischen oder naturalistischen Annahmen auf einen Aspekt, der oben als Perspektivenwechsel in Folge eines kulturalistischen anthropischen Prinzips angekündigt war: Wo sich die Naturalisierung des Menschen auf den Menschen als Objekt der Forschung beschränkt (und damit sozusagen die »klassische« Naivität der Physik im 17ten Jahrhundert mit ihrer methodologischen Selbstvergessenheit nachahmt), darf der Mensch als Urheber der Naturwissenschaften vom Menschen nicht vergessen werden. Die Richtung des (methodisch naiven) Blicks auf den Menschen als Objekt der Forschung sollte also um die entgegengesetzte Blickrichtung auf den Menschen als Subjekt, als Urheber und Träger der Naturwissenschaften vom Menschen erweitert werden. Dies ist die wichtigste Lehre aus dem kulturalistischen anthropischen Prinzip. Mit dieser zweiten, die erste ergänzenden Perspektive kommen Fragen nach dem Zweck (und damit nach den angemessenen Mitteln) der Naturwissenschaften vom Menschen ins Spiel. Sie können nicht einfach durch Anwenden oder Fortsetzen von in anderen Bereichen der Naturforschung vorgefundenen, naiv naturalistischen Forschungsstrategien und -praxen bewältigt werden, und nicht in der usurpatorischen Ausweitung naturwissenschaftlicher Geltungsansprüche, sondern die Zwecke und Mittel der Forschung müssen sich (hier vor allem betrachtet: methodologisch) einschlägig legitimieren. Der Philosophie fällt dabei die Aufgabe zu, nicht etwa nun selbst mit Menschenbildern (etwa vom animal rationale) aufzuwarten, sondern gegenüber den Wissenschaften die Rolle kritischer Reflexion zu übernehmen. Dabei empfiehlt sich gegenüber den Geistes- bzw. den Kulturwissenschaften dieselbe kritische Distanz wie gegenüber den Naturwissenschaften. Beteiligen sich doch leider diese Fächer (wo sie nicht, durch den Erfolg der Naturwissenschaften geblendet, mit positivistischem Selbstverständnis technisches Verfügungswissen suchen) entweder bei hermeneutischer Zweckfreiheit oder bei archivalischer Bewahrung von Kulturgütern verharrend, an der Naturalisierungsdebatte nicht oder

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nur defensiv. Bei einer aktiven Beteiligung der Geistes- bzw. Kulturwissenschaften (als unverzichtbarem Komplement zu den Naturwissenschaften vom Menschen) jedoch – der »Kulturalisierung« des Menschen – kommt es diesen Fächern zu, die erforderlichen begrifflichen und historischen Beschreibungen des Menschen und seiner Leistungen beizusteuern; dann könnten die Naturwissenschaften auf Explananda zugreifen, wo sich eine kausale Erklärung (oder technische Substitution) kultureller Leistungen überhaupt als sinnvolles Unternehmen begreifen lässt. So aber reden die Naturwissenschaften von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, von Kognition und Erkenntnisfähigkeit, von Freiheit und Handlung, von Selbstverständnis und Ich-Perspektive in völlig ungeschützter, bildungssprachlicher Unschärfe. Zwar können sich Naturwissenschaftler zu ihrer Entlastung darauf berufen, dass selbst professionelle akademische Philosophen, und dies sogar im Bereich von Ethik und Politik, beim Begriff des Menschen gerne primär auf die Evolutionsbiologie zugreifen, den Menschen als Taxon homo sapiens sapiens fassen und dann die jeweils erforderlichen moralischen oder politischen Zutaten addieren; aber dies ist ein Rückgriff auf eine fragwürdige Autoritätswahrheit. Demgegenüber bleibt festzuhalten, dass alle fächerspezifischen Charakterisierungen des Menschen z. B. als homo sapiens sapiens, homo sociologicus, homo oeconomicus usw. stets einem spezifischen Fachinteresse geschuldet sind; im Falle der Naturwissenschaften heißt dies eine in ihrem (anderweitig erfolgreichen) Methodenarsenal begründete Reduktion auf Kausalerklärungen für materielle Systeme. Dem steht die heutige gesellschaftliche Praxis eines Alltagslebens in einem liberalen Rechtsstaat gegenüber, in dem z. B. der »Mann auf der Straße« (entgegen aller biologischen Moden) selbstverständlich den Unterschied von Mensch und Tier dadurch macht, dass wohl den Menschen, nicht aber den Tieren Verantwortung und damit ein Handeln zugeschrieben wird. Es würde doch wohl kein besonnener Bürger ein Aufgeben z. B. der rechtlichen Unterscheidung befürworten, dass man ein Tier, nicht aber einen Menschen (Leibeigenen, Sklaven) besitzen könne. Kein besonnener Bürger ließe in moralischer oder rechtlicher Hinsicht die Berufung auf das eigene Genom oder das Zentrale Nervensystem zu, um ein Verbrechen zu entschuldigen oder gar zu rechtfertigen. Und auch Naturwissenschaftlern sollte man die Rolle des besonnenen Bürgers nicht absprechen. Mit anderen Worten, den Geistes- und Kulturwissenschaften fällt die Aufgabe zu, die Liste der Humana, der heute kultürlich anerkannten und anerkennungspflichtigen Zuschreibungen von Eigenschaften des Menschen zu führen und zu explizieren. »Mensch« ist letztlich kein Gattungsbegriff der Naturwissenschaften, sondern ein Reflexionsbegriff der Moral- und Rechts- sowie der theoretischen Philosophie.

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5) Fazit und Ausblick Wenn die Anfangsanalyse dieses Vortrags zutrifft, dass der Zuständigkeitskonflikt zwischen Naturwissenschaften und Philosophie, mit Hilfe von Soziologismen vorgetragen, in Wahrheit nicht die Inhalte von Naturwissenschaft betrifft, sondern ihre fragwürdigen Selbstverständigungsphilosophien, dann ist der Diskurs um die Deutungshoheit des Menschen auf eine andere Ebene zu heben. Selbstverständlich soll niemandem das Recht bestritten sein, seine Selbstverständnisse autonom zu artikulieren. Wenn diese allerdings eine Rolle in einem Diskurs um »unser« Menschenbild in einer von Wissenschaft geprägten Welt spielen sollen, müssen sie sich Regeln diskursiver Begründung und Rechtfertigung stellen. Es ist nachgerade trivial darauf zu verweisen, dass hierfür die akademische Philosophie eine Fülle von Unterscheidungen, theoretischen Argumenten, praktischen Beispielen und Einsichten, auch in argumentative Sackgassen, beizusteuern hat. Im Verhältnis zu den Naturwissenschaften vom Menschen wird die Philosophie also eine kritische Instanz gegenüber den philosophischen Investitionen und Konsequenzen der Naturwissenschaften vom Menschen bleiben.

Christoph Hubig / Andreas Luckner

Natur, Kultur und Technik als Reflexionsbegriffe

In diesem Beitrag geht es um die Frage des Verhältnisses von Naturalismus und Menschenbild. Dass die Naturwissenschaften – und insbesondere die vom Menschen wie gegenwärtig vor allem die Neurowissenschaften – prägend für das Bild vom Menschen sind, dürfte kaum bestritten werden. Aber handelt es sich dabei um ein Trugbild, einen Bildausschnitt, gar ein Zerrbild, das, wenn es zu einem Leitbild, d. h. zur Orientierungsinstanz auch und gerade für unser Handeln würde, revidiert werden müsste? Zunächst ließe sich grundsätzlich fragen: Ist nicht jedes Bild vom Menschen notwendigerweise auch schon ein Zerrbild? Sich ein Bild vom Menschen zu machen – ist nicht allein dies schon Fixierung eines dem Wesen nach eben nicht Fixierbaren? »Du sollst Dir kein Bildnis machen«, auch nicht vom Menschen, lautet es schließlich (und vielleicht nicht ohne Grund) schon im ersten Gebot des Dekalogs. Anthropologie – mit anderen Worten: methodisch geregelte Menschenbildproduktion – könnte, so sagen viele, wenn überhaupt, nur negativ sein; wir können nur sagen, was der Mensch nicht ist, er ist eben kein besonderes, sondern ein nicht-festgestelltes oder überhaupt gar kein Tier, so wenig, wie er ein Gott ist, er ist kein rein natürliches Wesen, und er hat überhaupt kein Wesen im Sinne einer unveränderlichen Substanz usw. Die radikale These von der Unfassbarkeit des Menschen, seine Nicht-Abbildbarkeit, kurz: seiner Negativität – die in vielen Spielarten die Geschichte der positiven Wissenschaften des Menschen begleitet – zeigt immerhin, dass es nicht selbstverständlich ist, dass die Menschen sich überhaupt ein Bild von sich machen. Aber es nützt nichts, daran zu erinnern, dass ein Bild des Menschen ihm nicht adäquat sei, wenn man andererseits noch nicht einmal etwas über die Adäquatsheitsbedingungen sagen kann, die es allererst entscheidbar machen würden, ob ein Bild adäquat oder eben inadäquat sei. Genau das ist eben nicht möglich, wenn man die These der negativen Anthropologie ernst nimmt; Bilderverbote, Ikonoklasmen gar nehmen oft in Anspruch, was sie zugleich bestreiten, nämlich: Dass es Kriterien für die Adäquatheit von Menschenbildern gäbe.1 Gäbe es diese, dann wäre die Menschenbildproduktion kontrollierbar; 1

Die negative Anthropologie, wie auch schon ihre Vorläuferin, die negative Theologie, tritt mit einer Demutsgeste auf – aber es ist mitunter eine falsche Bescheidenheit,

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dann aber könnte es auch adäquate Bilder geben. Es hilft nichts; wir haben diese Bilder, und es ist nur gut, dass es viele davon gibt, denn dann ist die Gefahr, dass wir von einem Bild befangen auf uns selbst schauen, geringer, denn es wird deutlich, dass es sich jeweils um ein Bild des Menschen und nicht um die Sache selbst handelt. Die hier angedeutete Schwierigkeit, negativ-anthropologisch zu denken, wird allerdings durch die Schwierigkeit fast überboten, positiv-anthropologisch zu denken. Der Naturalismus ist ja vor allem deswegen so attraktiv, weil er davon ausgeht, dass es positiv-Gegebenes über den Menschen zu sagen gäbe, und so unser »Verlangen nach einem kohärenten Bild«2 nicht nur des Menschen, sondern sogar des ganzen Universums zu stillen verspricht. Aber der (einfache unreflektierte oder auch »harte«) Naturalismus hat freilich seine dogmatischen Tücken. Was ist nicht alles schon über die Natur des Menschen gesagt worden! Und immer ist es das Problem des Naturalismus, dass die Warte, von der aus die naturhaften Bestimmungen des Menschen getroffen werden, selbst unausgewiesen bleibt. Auch ein reflektierter Naturalismus, eine Anthropologie im Sinne des »weichen Naturalismus« von Habermas, wie wir in einem ersten Schritt zeigen möchten, zeigt die generellen Probleme des Naturalismus. In einem zweiten Schritt wollen wir untersuchen, ob und wie weit eine alternative philosophische Anthropologie, nämlich eine solche im Sinne des Kulturalismus, hier in reflektierender Hinsicht weiterkommt – letztlich haben wir es hierbei aber, so wird sich zeigen, mit einer technomorphen Überhöhung des Naturalismus zu tun oder mit einem, wie wir mit Absicht provozierend formulieren wollen, mit einem »Naturalismus der Kultur«, der seinerseits Bereiche möglichen Nachdenkens durch bestimmte Vorannahmen (vor allem in Bezug auf die Konzeptionalisierung von Handlungen) verstellt. Abschließend möchten wir ein i. w. S. pragmatistisches Reflexionsangebot machen, das in gewisser Weise eine Radikalisierung des Konstruktivismus darstellt. Der entscheidende Gedanke dabei ist, dass wir sowohl »Natur« als auch »Kultur« als Reflexionsbegriffe auffassen – allerdings im Sinne der transzendentalen Reflexion bei Kant, nicht der logischen.

die hier zu Schau getragen wird, eine letztlich hochmütige Einstellung, die sich herausnimmt, zu urteilen, wo der eigenen Position nach kein Urteil möglich ist. 2 Jürgen Habermas, Freiheit und Determinismus, in: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. Main 2005, S. 155–187, S. 170.

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1) Zum »weichen Naturalismus« Habermas’ Jürgen Habermas plädiert angesichts der neurowissenschaftlichen These, dass eine als mentale Verursachung begriffene Willensfreiheit Schein sei und statt dessen von einer durchgängig kausalen Verknüpfung neuronaler Zustände nach Naturgesetzen auszugehen ist,3 für einen weichen Naturalismus4, im Unterschied zum »harten«, dogmatischen Naturalismus der Neurowissenschaften. In den hart-naturalistischen Interpretationen etwa der Libetschen Versuche würde nämlich nicht gesehen, so Habermas völlig zu Recht, dass (über den kausal verursachten Artefakt der Aktion hinaus) erst ein interner Zusammenhang der Aktion mit Gründen diese zu einer freien Handlung mache. Die Abwägung von Gründen könne aber nicht der Letztentscheidung des Limbischen Systems unter dem Kriterium emotionaler Akzeptabilität unterliegen, denn dann gäbe es nichts, was abzuwägen wäre. Die Unterscheidung von Ursachen und Gründen spielt bei diesem Argument gegen den harten Naturalismus eine entscheidende Rolle. Seitens der Naturalisten könnte freilich eine solche Argumentation dahingehend angegriffen werden, dass jene Trennung von Ursachen und Gründen sich einer petitio principii verdankt. Mit von Wright ist dem Kausalismus jedoch entgegen zu halten, dass die Erhebung von Kausalitäten das Handlungskonzept eines Experimentators voraussetzt, welches an Gründe gebunden ist. Dem wiederum könnten Kausalisten entgegnen, dass die argumentative Rechtfertigung der Versuchsanordnung ihrerseits kausal bestimmt sei. Die hierzu zu unterstellenden Gesetzesprämissen, die Handlungsgründe als verursachte Ursachen für die Handlung formulieren, erscheinen jedoch beim oftmals zu konstatierenden Ausbleiben von Handlungsvollzügen insofern immun gegenüber Falsifikationsversuchen, als über Exhaustion hierfür weitere Ursachen geltend gemacht werden können. Der Kausalist ist somit zu einem eliminativen Materialismus gezwungen und bestätigt damit indirekt, dass Gründe keine Ursachen sind. Unter dieser Argumentation ist ein epistemischer Monismus, der Gründe als Ursachen begreift, in der Tat abzulehnen. Habermas versteht demgemäß die durch die Ergebnisse der Neurowissenschaften neu entfachte Kontroverse um Freiheit und Determinismus als eine »um die richtige [Herv. H./L.] Art der Naturalisierung des Geistes« und fordert für ein »angemessenes [Herv. H./L.] naturalistisches Verständnis« die Berücksichtigung der »intersubjektiven Verfassung des Geistes wie [des] normativen Charakter[s] seiner regelgeleiteten Operationen« 5. Er möch3 4 5

Habermas, Freiheit und Determinismus, S. 155. Vgl. ebd., S. 157, 171. Habermas, Einleitung zu: Zwischen Naturalismus und Religion, S. 7.

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te »Kant mit Darwin versöhnen«6 und Natur, insbesondere in Gestalt des Geistes, nurmehr als Ensemble »ermöglichender Bedingungen« begreifen. Dies kann man einen ontologischen Monismus nennen, der (wie wir gerade gehört haben) mit einem epistemologischen Dualismus vereinbar ist/sein soll, der in epistemologischer Hinsicht weiterhin Gründe von Ursachen unterscheidet. Habermas begreift die vom Limbischen System gesteuerten Prozesse, so wie wir sie als Prozesse der subjektiven Natur unseres Leibes erfahren, als ermöglichende Bedingungen. In diesem Punkt modifiziert Habermas den Kompatibilismus Peter Bieris mit dessen Konzept bedingter Freiheit. Eine Bindung der Freiheit durch Gründe dürfe nicht als Resultat eines Geschehens aus der Beobachterperspektive, sondern müsse als dasjenige eines Prozesses begriffen werden, an dem das wollende Subjekt beteiligt ist. Gegen diesen epistemischen Dualismus einer Beobachter- und Teilnehmerperspektive könnten harte Naturalisten einwenden: Gut und schön, aber der Reproduktionswert naturwissenschaftlicher Forschung, also die funktionale Relevanz einer objektivierenden Betrachtungsweise ist unter Anpassungsgesichtspunkten höher: Wir sind fitter, wenn wir objektivieren. Dieses evolutionistische Argument wendet Habermas gegen die Naturalisten um: Ein Reduktionismus, der einen Umgang mit Gründen, mithin auch die Forschungspraxis als Epiphänomen einstufe, widerspräche der allgemeinen evolutionistischen Prämisse, dass der Raum von Gründen und das Sich-Bewegen in ihm eine wichtige funktionale Rolle im Evolutionsgeschehen spiele (mit Searle). Mithin will Habermas offenbar nun das Freiheitsbewusstsein zwar der Erklärungsperspektive der Naturwissenschaften, aber nicht zugleich einem evolutionistischen Blickwinkel entziehen – dies dürfte letztlich auch der Grund sein, weshalb er überhaupt einen »Naturalismus« zu vertreten behauptet. Der soziale Interaktionstyp des Gebens und Nehmens von Gründen sei, so Habermas, nämlich selbst eine evolutionäre Errungenschaft, die die naturalistische Wissensperspektive komplementär verschränke mit der kulturellen Lebenspraxis. Der epistemische Dualismus ist quasi selbst aus einem evolutionären Lernprozess hervorgebracht. Wissenschaftliche Verständigungsprozesse können daher auch nicht in hart-naturalistischer Einstellung erschöpfend eingeholt werden, da die experimentellen Befunde als Argumente nur zählen, wenn sie sich gegenüber Opponenten verteidigen lassen. Hierzu ist eine Instanz vorauszusetzen, die die Begegnung »des Gehirns« (sic!) mit den propositionalen Gehalten der Zeichen seiner natürlichen Umwelt, die unmittelbar nicht zugänglich sind, ermöglicht. Es ist der Raum grammatisch geregelter Sinnzusammenhänge, der allererst eine Abgrenzung gegenüber einer nunmehr objektivierten 6

Habermas, Freiheit und Determinismus, S. 175.

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Umwelt verstattet.7 Kurz: Unsere Kognition sei aus evolutionären Gründen vergesellschaftet. Die neuronale Realisierung von Gedanken müsse daher eine gedankliche Programmierung des Gehirns nicht nur nicht ausschließen, sondern – umgekehrt – erst sozialisierte Gehirne, so Habermas, würden überhaupt zu Trägern von Lernprozessen, die sich sodann vom genetischen Mechanismus der Evolution abgekoppelt hätten,8 die wiederum nun als »objektiver Geist«, als vergesellschaftete Kognition auf die sozialisierten Gehirne, diese programmierend, zurückwirkt.9 Befremdlich erschien uns hier die Rede von interagierenden Gehirnen, die zum subjektiven Geist »mutiert« seien. Mutationen, die zur Folge haben, dass die Gehirne der Menschen die Fähigkeit entwickelt haben, Beobachter- und Teilnehmerperspektive zu entwickeln (also den epistemischen Dualismus), können, so scheint es, nicht nur Art- und Gattungsgrenzen, sondern auch kategoriale Grenzen überschreiten … aber das mag eine façon de parler sein, die ein wenig merkwürdig ist, da sie uns nötigt, einzugestehen, dass wir immer falsch gedacht haben, als wir dachten, dass wir denken und interagieren, und nicht unsere Gehirne. Habermas’ seltsamer Sprachgebrauch verdankt sich wohl dem Einstieg in die Verursachungsdiskussion unter naturalistischer Modellierung. Denn Habermas will den Naturalisten vorhalten, nicht kausal erklären zu können, wie Prägungen des Gehirns durch Wirkungen des objektiven Geistes (Sozialisation, Spracherwerb etc.) zustande kommen könnten, wie also das »Gehirn Dispositionen für den Anschluss an Gesellschaft und Kultur« erwerbe. Vermutlich will er mit diesem weichen Naturalismus, der sich gegen den harten neurowissenschaftlichen Naturalismus richtet, Wolf Singers These der ontogenetischen Schichtung, dem Vorrang des Unbewussten vor dem Bewussten und der hierdurch eingeschränkten Disponibilität von Variablen eines spät in Gestalt expliziter Repräsentationen Erlernten etwas entgegenhalten. Denn ein wie auch immer programmiertes Gehirn erscheine uns als Teil unseres organischen Substrats als Leib (nicht Körper), und die Abhängigkeit von ihm werde eben nicht als die von einer Determinante, einer Bedingung der Wirklichkeit, sondern von einer ermöglichenden Bedingung bewusst. (Ergänzt wird diese Instanz – da logischerweise Bedingungen, die etwas ermöglichen, immer auch solche sind, die etwas verunmöglichen – durch eine weitere, die »ein Bewusstsein von dem, was fehlt« artikuliere: die religiöse Überlieferung. Deren philosophische Potenz liegt darin, dass sie instantiiert, dass wir uns zur Natur verhalten.) Dass für ein solchermaßen sich selbst bewusstes Ich kein neuronales 7 8 9

Vgl. ebd., S. 182. Vgl. ebd., S. 177. Vgl. ebd., S. 180 f.

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Korrelat nachweisbar sei, treffe nur die alte Bewusstseinsphilosophie. Vielmehr käme dem Ich eine andere, grammatische, Rolle zu (mit Wittgenstein): Die Regelung der Zurechenbarkeit von Erlebnissen und Handlungen im dezentrierten Netz sozialer symmetrisch umkehrbarer Beziehungen zwischen ersten, zweiten und dritten Personen zu konstituieren. Wie auch immer, der »weiche Naturalismus« Habermas’ befindet sich auf einer höheren Reflexionsstufe als der »harte« Naturalismus der Neurowissenschaften, insofern nämlich, als er ihn auf dessen Bedingungen hin befragt: In einem ersten Schritt wird reflektiert, unter welchen Bedingungen ein experimenteller Befund überhaupt zum Argument wird. In einem zweiten Schritt wird herausgestellt, dass der hierfür erforderliche Raum des Argumentierens als ›Raum von Gründen‹ einen nicht reduzierbaren funktionalen Wert hat. Aus unserer Sicht findet jedoch ein Einbruch auf ein tiefer liegendes Reflexionsniveau statt, wenn an dieser Stelle wiederum das Evolutionsgeschehen als funktionsgebende Instanz reklamiert wird. Der Rekurs auf eine solche ontologische Basis, die zugleich die Basis für einen (ontologischen) Monismus abgeben soll, wird selbst nicht mehr auf seine Bedingungen und den Standpunkt hin befragt, von dem aus er erfolgt. Ein epistemischer Dualismus als Resultat einer sorgfältig durchgeführten Reflexion erscheint in seltsamem Licht, wenn als seine Basis eine common-sense-gestützte Ontologie, die Selbstverständlichkeit der Evolution, erwiesen wird, die ihrerseits dann nicht mehr Thema einer kritischen Reflexion sein soll! Eine solche kritische Reflexion würde ja nicht etwa die Erträge der Evolutionsforschung aushebeln wollen, sondern nach den Strategien der Modellierung des Evolutionsgeschehens zu fragen haben. Warum sollte sich die Reflexion aber überhaupt an einen ontologischen Monismus klammern? Zum Teufel damit! Denn schließlich war es ja Mephisto, der dem Faust seinen (der devotio moderna entspringenden) Pragmatismus – »im Anfang war die Tat« – austreiben und ihm die Einsicht in das »was die Welt im Innersten zusammenhält« in Aussicht zu stellen suchte; die Hoffnung aller Naturalisten, harter und weicher. Die Sehnsucht nach einem einheitlichen Weltbild führt den Monismus als schwachen Evolutions-Naturalismus allerdings in eine Region des Denkens, in der Naturalisten sich normalerweise freiwillig gar nicht begeben wollen: in einen Technomorphismus der Natur.10 War für 10

Dieser Ausdruck ist in Analogie zu »Anthropomorphismus« gebildet, ist aber freilich enger zugeschnitten auf eine bestimmte Denk- bzw. Seinsweise des Menschen. Etwas als »anthropomorph« zu kennzeichnen führt die Schwierigkeit mit sich, dass man schon ein Bild vom Menschen investiert haben muss, was ja, wie geschildert, ein großes Problem ist. Dieses Problem umgeht man mit dem Ausdruck »technomorph« bzw. Technomorphismus. Nur als Beispiel: »Anpassung«, einer der Grundbegriffe einer jeden Evolutionstheorie, ist eine technomorphe Metapher, die, wenn sie auf natürliche Zusammenhänge appliziert wird, ein Bild von der Natur zeichnet. Während Rorty, auf

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Kant, in seiner Kritik der Urteilskraft, die Idee einer quasi-ökonomisch agierenden Natur noch eine unverzichtbare heuristische Fiktion (ein Als-Ob) so stellen Evolutionisten sich das Naturgeschehen unter ontologischen Rahmenprinzipien vor, die innerhalb des Diskussionsspektrums dieselben empirischen Befunde in unterschiedlichster Weise argumentativ zu verwenden erlauben. In der ersten Welle der Darwin-Rezeption (die obsolet ist, aber was ihre strukturellen Defizite betrifft, sich in den neueren Modellierungen fortschreibt) wurde der Mensch entweder modelliert als starkes Überschusswesen, das seine Real-, Intellektual- und Sozialtechniken einsetzt, um aktiv seinen Vorsprung vor den Konkurrenten auszubauen (Ernst Kapp, Gilbert Simondon, Serge Moscovici u. a.), oder er wurde als Mängelwesen konzipiert, das mittels seiner Technik mühsam im Evolutionsgeschehen Schritt hält. Von der »Krone der Schöpfung« bis hin zur »Naturkatastrophe« (Franz Wuketits) reicht das Spektrum evolutionistisch-naturalistischer Menschenbilder. Aber allesamt konzipieren sie die den Menschen vor dem Hintergrund zu lösender (Überlebens-)Probleme.11 Der Naturalismus zeigt sich (nur scheinbar paradox) hier, in seiner Form als Evolutionismus, zugleich als ein Technomorphismus12, als die Form des Geistes den Habermas sich affirmierend bezieht (vgl. Habermas, Freiheit und Determinismus, S. 170) die Funktionalität der Aufspaltung der Vokabulare (einschl. des dadurch möglichen epistemischen Dualismus) als Ergebnis der Evolution kennzeichnet, dabei aber die Evolutionstheorie nicht i. S. eines Monismus als die »Wahrheit über die Welt«, sondern selbst als ein Bild nimmt, möchte Habermas hier tatsächlich den Anker auf den harten Boden der Natur werfen. Die Frage ist hier natürlich: Wenn es wahr ist und anderes unwahr, dass Evolutionstheorien selbst Manifestationen objektiven Geistes sind, es also die evolutionär sozialisierten Gehirne fertig bringen, ihre eigene Herkunft wissenschaftlich – objektiv – zu erklären, dann ist auch der Wahrheitsanspruch von Evolutionstheorien Produkt der Evolution etc. Auch hier haben wir die gödel-analoge Problematik vor uns, dass ein System »wahrer« Aussagen sich nicht selbst begründen kann, weshalb es nötig ist, das Konzept der Wahrheit selbst funktional zu beschränken (wie Rorty dies in pragmatistischer Weise, im Gegensatz zu Habermas, auch tut). 11 Selbst die religiöse Überlieferung – mit der Habermas auf eine Instanz der Artikulation, dessen, was uns fehlt, verweist – beruht in ihren trinitarischen Konzeptionen auf letztlich technomorphen Vorstellungen – hier freilich nicht unter der Problemstellung des Überlebens in der Schöpfung, sondern der Schöpfung selbst: Bei Augustinus explizit, in anderen Weltreligionen und ihren Säkularisierungen implizit wird die Dreiheit nach der Struktur technischen Handelns modelliert: Plan/Idee, Kraft und ausführendes Organ (Mittler) machen das Göttliche als Vollkommenes aus, demgegenüber unser im Horizont der Endlichkeit sich abspielendes Handeln defizitär erscheint. 12 Man könnte aber auch hier einen harten von einem weichen Technomorphismus unterscheiden. Ein selbstbescheidener, weicher Technomorphismus sieht das Evolutionsgeschehen zwar auch als irreversibel an und basiert auch auf der Unterstellung eines Ökonomie-Prinzips; er erachtet aber das Evolutionsgeschehen selbst – und in diesem den Menschen – als indeterminiert. Ein solcher weicher Technomorphismus enthält sich entsprechend einer Gesamtbeurteilung der Validität binnenorganisationaler Konstruk-

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also, die, ganz allgemein gesprochen, beliebiges Seiendes (also auch den Menschen) als mögliches Produkt einer Problemlösung versteht.13

2) Der methodische Kulturalismus – ein Naturalismus der Kultur? Der Ansatz des methodischen Kulturalismus Peter Janichs und seiner Schüler scheint hier von vorneherein radikaler zu sein, weil er eben auf diese Technomorphizität der Kultur reflektiert und genau darauf positiv aufbaut. Als Slogan: »Es gibt nichts Absolutes, außer man tut es«14. Das klingt so wie bei Hegel in der Phänomenologie des Geistes im Kapitel »Das geistige Tierreich«: Das handelnde Individuum »hat unmittelbar anzufangen […], ohne weitere Bedenken […] zur Tätigkeit zu schreiten«15; ein handelndes Individuum erfährt seine vorausgesetzte »ursprüngliche Natur«16 erst und nur aus dem Werk, durch das es sich in den zunächst »bestimmtheitslosen Raum des Seins hinausgestellt«17 hat. Dieser bestimmtheitsleere Raum ist mit Bestimmungen aufzufüllen, die ihre Basis in der methodischen Rekonstruktion des Tuns haben und dabei nach Hegel auf die Momente »Umstände, Zwecke, Mittel und Verwirklichung«18 abheben. Mit dem Tun ist ein Wissen von diesem Tun allerdings noch nicht gegeben. Was wären aber dann die Quellen dieses Wissens? Sie entspringen – so Hegel –

tionen im Evolutionsgeschehen. Die Beliebigkeit solch technomorpher Modellierungen wird aber an den Alternativoptionen ersichtlich: »Versklavt« hier die Konstruktion die Gene, so leiten alternative Modellierungen die Konstruktionen von gentechnischer Programmierung ab. Ein kultureller Raum von abzuwägenden Gründen kommt dabei nicht vor, und das ist auch gut so (Schließlich will und soll ein Naturwissenschaftler Naturwissenschaft betreiben.). Ein weicher Technomorphismus wäre, analog dem weichen Naturalismus ein »sentimentalischer«, selbstbescheidener bzw. selbstreflektierter: So findet man einen selbstreflexiven Technomorphismus schon in denjenigen Evolutionstheorien, die bewusst unsere Rekonstruktion an dem orientieren, was uns verfügbar und auf dieser Basis pünktlich terminologisch bestimmbar ist, z. B. der Thermodynamik hydraulischer Konstruktionen und Energiewandler, denen analog die Entwicklung von Organismen konstruiert wird. 13 Nur um nicht missverstanden zu werden: Natürlich vertreten wir hier keine antievolutionistische Position, sondern kritisieren nur die Ontologisierung der Evolutionstheorie. 14 Peter Janich, Wozu Ontologie für Informatiker? Objektbezug durch Sprachkritik, in: K. Bauknecht, W. Brauer, Th. Mück (Hrsg.), Informatik 2001 – Tagungsband der GI/OCG-Jahrestagung, 25.–28. September 2001, Universität Wien, Bd. II, S. 765–769. 15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S. 264. 16 Ebd., S. 266. 17 Ebd., S. 267. 18 Ebd., S. 264

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dem »Darstellungscharakter« des Tuns für Andere, der Belegung dieser »Darstellung« mit sprachlichen »Ausdrücken«, die die individuelle Aktion zu einer allgemein identifizierbaren Handlung machen. Bekanntlich geht ein endloser Streit um die Kriterien dieser Verallgemeinerung, also um die Frage, was eine Handlung zu einer solchen macht. Für den methodischen Kulturalismus ist dieses Kriterium für Handlungen (d. h. verallgemeinerten Darstellungen dieses Tuns) das »Gelingen« der Verwirklichung von Zwecken, die sich mit dem Tun verbanden – ein Gelingen, das nicht zufälliges Erfolgreichsein meint, auch nicht bloß korrekten Vollzug, sondern sicheres, wiederholbares und daher erwartbares – eben methodisches – Verwirklichen. Die Gesamtheit der methodisch rekonstruierbaren Gelingensschemata findet sich in der Kultur fehlerfreien Gebrauchs, die sich als jene »ursprüngliche Natur« erweist. Diese zeigt sich jedoch einzig unter der Brille zweckrationaler Betrachtung des Vollziehens. Die methodische Rekonstruktion macht die Zwecke explizit, in deren Lichte die Mittel des Vollzugs allererst als solche erscheinen. Sie modelliert Tun dabei offensichtlich als technisches Tun, Technik als Mittel seiner Realisierung, Wissenschaft als Aussagesystem über gelingenden Mitteleinsatz. Jedwedes Tun ist in dieser Perspektive also technomorph.19 In Janichs Rede von der »Kulturhöhe«,20 der die relativistische Tendenz eines jeden Kulturalismus ausbremsen soll, kann man hier eine »weiche« Evolutionsmodellierung erkennen: Versteht man, wie Janich, unter Kultur die Aufsteigerung von Naturprozessen unter Zwecken, insbesondere dem der Absicherung unseres steuernden Handelns vor störenden Umwelteffekten, also durch Regelung, dann lässt sich im Blick auf den Aufbau von Techniken untereinander, von denen die eine die vorhergehende voraussetzt, von unterschiedlichen Kulturhöhen sprechen. Dies schließt Intellektual- und Sozialtechniken ein, die ursprünglich realtechnisch bedingt, später variabel realtechnisch gestützt werden.

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Analog zu Habermas’ »weichem Naturalismus« müsste man diese Position als einen »weichen Technomorphismus« bezeichnen, im Unterschied zu den harten Technomorphismen, die den Menschen im Lichte der Evolution von vorneherein als ein prekäres oder sagen wir gleich: Mängelwesen konzipieren, das zur Lösung seines Überlebensproblems der Technik (kompensierend) bedarf (Gehlen usw.). Denn Evolution wird hier selbst bereits als Konstruktion unter Zwecken, also im Grunde als ein Kulturprodukt, entlarvt, entsprechend der bereits bei Hugo von St. Viktor formulierten These »alle Wissenschaften waren erst im Gebrauch und dann in der Kunst« (Didascalicon 21, S. 12 ff.), wird auch und gerade wissenschaftliches Tun solchermaßen modelliert. 20 Jüngst in Peter Janich, Kultur und Methode, Frankfurt a. Main 2006, S.15 ff. Aber auch schon in Peter Janich, Die Struktur technischer Innovationen, in: Peter Janich, Dirk Hartmann (Hg.), Die kulturalistische Wende, Frankfurt a. Main 1998, S.129 ff.

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Eine höhere Kulturstufe wird durch effizientere und effektivere Zweckverfolgung charakterisiert. Effektiver und effizienter wird die Zweckverfolgung durch bessere Regelung. »Bessere« Regelungen sind aufwändigere Regelungen. Sie bestehen darin, immer mehr Umweltparameter in die Systeme zu integrieren und disponibel zu machen.21 Janichs Beispiele vom Rad und vom Draht (der erst aus anderen Zwecken erfunden wird, um dann als Stromleiter fungieren zu können) zeigen, dass es hier in der Tat einen Fortschritt gibt, der auch beschreibbar ist – die Reihenfolge der Entwicklung lässt sich eben nicht umkehren. Wie steht es aber hier mit der Schere von Effizienz und Effektivität? Denn das Spektrum der Effektivität wird ja mit zunehmender Effizienzerhöhung gerade eingeengt und nicht erweitert. So ist die menschliche Hand zwar außerordentlich effektiv – tauglich für alles Mögliche –, aber im Unterschied etwa zu einer Baggerschaufel relativ ineffizient, was das Graben angeht; wogegen die Baggerschaufel nicht mehr effektiv ist in Bezug auf Liebkosungen oder das Winken, wofür man eine Hand eben auch noch gebrauchen kann. Haben wir es also hier, in der Annahme einer Abhängigkeit der Kulturhöhe von der Aufschichtung von effizienten Zweckverwirklichungsverfahren, nicht mit einem dem Ökonomie-Prinzip geschuldeten Effizienzsteigerungsmonismus zu tun, der den Verlust an alternativen Optionen, die unter ganz anderen als technischen Werten stehen können, zu berücksichtigen hätte? Auch die Erfindung der Tütensuppen etwa, nur als Gegenbeispiel, kann prima facie zunächst als eine Erweiterung der Disponibilität von Handlungsoptionen gesehen werden: Es ist seitdem viel mehr Leuten, auch solchen, die im Kochen ungeschickt sind, möglich, schmackhafte Suppen effizient zuzubereiten. Aber die andere Seite ist, dass die Effizienzsteigerung nur durch eine Effektivitätseinschränkung vonstatten gehen kann; der Fortschritt in Bezug auf Handlungsmöglichkeiten kann nur mit der Fokussierung der Kochkunst auf bestimmte einfache und wiederholbare Verfahren einhergehen – ob die Kochkunst als Kunst dadurch einen Fortschritt und eine Steigerung der Kulturhöhe erfährt, ist zumindest fraglich. Im Vergleich zum Brühwürfel – das sei freilich zugestanden – stünde eine Pfifferlingscremesuppe freilich auf einer höheren Kulturstufe. Damit eng zusammenhängend scheint es uns im methodischen Kulturalismus ein begriffliches Problem bei der Handlungsmodellierung zu geben; diese erscheint uns als zu eng bzw. zwar aus guten Gründen technomorph, nicht aber hinreichend radikal reflektiert. Hier kann ein Blick in die Philosophie der 21

Dies geschieht entweder durch höherstufi ge Steuerung oder Neutralisierung durch feedback oder über antizipierende Störgrößenaufschaltung. Beispiele, in aller Kürze: Eine höherstufige Steuerung hat man im »Gegensteuern« beim Aquaplaning vor sich, das klassische Beispiel eine Regelung durch feedback ist der Thermostat (i. U. zur Handsteuerung), eine Störgrößenaufschaltung liegt z. B. dann vor, wenn sich einem Menschen schon beim Anblick einer Zitrone der Mund zusammenzieht.

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Technik instruktiv sein: Dort ist Problem virulent, dass einerseits die Spezifik technischen Handelns modelliert werden soll, andererseits aber das Standardmodell der Handlungserklärung, nämlich das Schema von Zweck-Mittel-Intention, selbst oftmals technizistisch verkürzt erscheint. Wie soll man die Spezifik technischen Handelns erklären, wenn alles Handeln unter diesem Schema technomorph erscheint?22 Wenn das Handeln technomorph konzipiert wird, so wie im methodischen Kulturalismus, ist es nicht verwunderlich, wenn die Kulturhöhe von dem Stand der Techniken abhängig gemacht wird.23 Der Kulturalismus erscheint hier als etwas, das man einen »Naturalismus der Kultur« (der ›zweiten Natur‹) nennen könnte.24

3) Radikale Reflexion: Technik, Kultur und Natur als Reflexionsbegriffe Der methodische Kulturalismus bietet aus unserer Sicht allerdings eine gute Ausgangsbasis für eine radikale, an die Wurzeln gehende Reflexion – jedenfalls eine bessere, als sie ein harter Naturalismus der ersten Natur oder ein weicher Naturalismus Habermas’ je bieten könnte. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass »Natur«, »Technik« und »Kultur« auch im methodischen Kulturalismus Janichs nicht prädikativ verwendet werden sollen, sondern explizit als »Reflexionsbegriffe«25 bezeichnet werden. Allerdings wird in der Diktion der 22

Hier gibt es nun verschiedene Lösungsstrategien: die einen versuchen, die Technizität von technischen Handlungen in einer bestimmten (nämlich starren) Weise der Verknüpfung von Zweck und Mitteln zu sehen, das Zweck-Mittel-Schema also zu differenzieren, wieder andere versuchen, das Schema selbst als für technisches Handeln paradigmatisch zu qualifizieren, müssen aber dann nach einem anderen begrifflichen Horizont suchen, innerhalb dessen das Zweck-Mittel-Schema dann eine nähere Bestimmung darstellt. Vgl. hierzu: Ch. Hubig, A. Luckner, N. Mazouz (Hg.), Handeln und Technik – mit und ohne Heidegger, Münster 2007. Welche Strategie erfolgreicher ist oder sein wird, muss hier nicht entscheiden werden, es geht hier lediglich darum, aufzuzeigen, dass es mit dem Standardmodell des Handelns ein Problem, nämlich das eines unreflektierten Technomorphismus gibt. 23 Aber, um hier nur die Beispiele der Kunst und des politischen Handelns zu nennen, von der man schwerlich sagen wird können, dass sie der Kultur äußerlich wären: Lösen Künstler oder Politiker technische Probleme? Dass sie es oft so tun – keine Frage! Aber sind sie in ihrem Handeln notwendigerweise auf ein (technisch interpretiertes) Mittel-Zweck-Schema verwiesen? Ist nicht gerade Originalität und Kreativität auch das Eröffnen neuer Problemhorizonte? Wie auch immer, man kann hier viele Zweifel am notwendiger Weise technomorphen Charakter der Kultur anbringen; es scheint uns, dass die grundlegende Technomorphizität selber nicht noch einmal auf seine Bedingungen hin befragt wird. Auch hier könnte es daher ein Reflexionsdefizit geben. 24 Den Ausdruck »Naturalismus der Kultur« hat in den Stuttgarter Diskussionen Nadia Mazouz geprägt. 25 Peter Janich, Kultur und Methode, S. 44 ff.

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Janich-Schule hierbei das gemeint, was bei Kant »logischer Reflexionsbegriff« heißt, im Unterschied zum »transzendentalen Reflexionsbegriff«, welches Verständnis wir abschließend für unsere Diskussion fruchtbar machen wollen. Reflexionstermini im logischen Sinne sortieren nach Janich sprachliche Mittel lebensweltlicher oder wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung, sind also prädikative Ausdrücke.26 »Technik« als Reflexionsterminus zeigt dieser Auffassung von Reflexion gemäß an, »ob wir uns sprachlicher Mittel bedienen, die unser eigenes poietisch-handwerkliches wie sprachlich-begriffliches Handeln betreffen«27, eben Methoden – als abgesichertes geregeltes Steuern. Der Begriff »Natur« dagegen zeige an, dass wir »solche [sprachliche] Mittel benutzen, die das Widerfahrnishafte, am Gelingen und Misslingen unserer technischen (sic!) Handlungen Gelernte« betreffen, das, was das technisch Mögliche und technisch Unmögliche (im prädikativen Sinne) bestimmt. In dieser Fassung drücken Reflexionsbegriffe höherstufige Vorstellungen von denjenigen Vorstellungen aus, die durch prädikative Ausdrücke vermittelt werden – sind also höherstufige prädikative Ausdrücke. Reflexion wird hier als logische Reflexion, man könnte auch sagen: als Auffinden von Metaprädikaten aufgefasst. »Natur«, »Kultur« und »Technik« sind daher letztlich Oberbegriffe bzw. Titelworte für Vorstellungen über das, was es gibt. Von Kant werden die Reflexionsbegriffe wie »Identität und Differenz« oder »Materie und Form« aus guten Gründen aber nicht als solche Metaprädikationen bzw. Titel- und Sortierworte konzipiert; sie tauchen in seiner Klassifikation aller Vorstellungsarten nicht auf.28 Vielmehr werden sie als Namen für Strategien des Vergleichens von Vorstellungen gefasst, Strategien, für die wir uns jeweils entscheiden müssen und die wir also auch nicht einfach kulturell vorfinden und analysieren können. Was Kant hier im Blick hat, ist nicht die Beschreibung eines logischen Verhältnisses, sondern die Regulierung einer Rationalitätspraxis, also eine Regel des bestimmten Verstandesgebrauches. Die transzendentale Reflexion nun ist diejenige Überlegung bzw. Handlung, die (irgendwie) gegebene Vorstellungen mit den Bedingungen ihrer Möglichkeit, also den jeweiligen Erkenntniskräften bzw. -vermögen, zusammenbringt.29 Bei jeglicher Hinsichtnahme unter Gesichtspunkten, die die Reflexionsbegriffe bieten, sollte dem Subjekt nun nicht der Fehler unterlaufen – dies betrifft die ›Amphibolie der Reflexionsbegriffe‹ –, die transzendentalen ›Orte des Denkens‹ 26

Vgl. auch schon Peter Janich, Die kulturalistische Wende, S. 68 f. Ebd., S. 70. 28 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 376 f. 29 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 316 ff. Die transzendentale Reflexion ist also Voraussetzung der logischen Reflexion; den Katalog der Hinsichtnahmen in Zuordnung zu den Erkenntniskräften von rationalem und empirischen Vermögen, also Verstand und Sinnlichkeit, bezeichnet er als transzendentale Topik. 27

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mit den empirischen zu verwechseln, so wie es aus Kants Sicht dem Empirismus eines Locke, der die ›Begriffe sensifizierte‹, und dem Rationalismus eines Leibniz, der die Anschauungen intellektualisierte, unterlief.30 Da »Technik« nun nicht einen theoretischen, sondern einen praktischen Weltbezug meint, muss man an dieser Stelle Kant ergänzen31: Es wäre hier also der Bezug der Reflexionsbegriffe zu unserem Handlungsvermögen herzustellen bzw. unseren Vorstellungen hiervon. Die basale Vorstellung im Zusammenhang mit »Handeln« aber ist die Vorstellung subjektiver Freiheit, technisch ausgedrückt: der Disponibilität von Mittel- und Zwecksetzungen. Einen empirischen Nachweis solcher Freiheit oder Unfreiheit kann es gar nicht geben; wenn man davon ausginge, unterläge man eben der Amphibolie (also der Zweideutigkeit) der Reflexionsbegriffe und würde hier etwas ganz grundsätzlich verwechseln, wodurch dann zwangsläufig Antinomien entstehen usw. usw. Die subjektive Freiheit als ein unterstelltes Konzept erfährt man nicht durch Beobachtung, sondern vielmehr daran, dass wir beim Handeln Hemmungen als Provokation empfinden. »Technik« als transzendentaler Reflexionsbegriff würde nun ausdrücken, dass wir Verfahren, Fähigkeiten, Vollzüge und deren Resultate identifizieren nach Maßgabe ihrer Disponibilität bzw. Verfügbarkeit.32 »Technik« ist damit der Inbegriff dessen, wovon wir glauben, in transsituativer Weise handelnd verfügen zu können, und betrifft daher nicht nur die (theoretisch bzw. »logisch« bleibende) Sortierung unserer Vorstellungen. Wenn nun aber diese Disponibilität in reflexiver Einsicht mit ihren Grenzen konfrontiert wird, kann das andere ihrer selbst ebenfalls mit einem Reflexionsbegriff belegt werden, der zunächst das Negative von Disponibilität ausdrückt. Sowohl »Natur« als auch »Kultur« stehen für dasjenige, was prima facie im singulären Akt technischer Realisierung als nicht disponibel erscheint, freilich in unterschiedlicher Weise. Im ersten Falle, im Falle von »Natur«, handelt es sich um abduktiv erschlossene (mithin unsicher unterstellte) Wirkschemata bezüg30

Der transzendentale Vernunftgebrauch geht auf elementarste Gründe auch und gerade des empirischen Urteilens, geht auf die Bedingungen der Möglichkeit, der empirische Verstandesgebrauch geht auf die Bedingungen der Wirklichkeit der Gegenstände. Heutzutage sensifizieren die Psychologisten und Neurologisten die Begriffe, und die Kulturrelativisten einschließlich des methodischen Kulturalismus, dessen Relativismusbremse zu schwach ist, intellektualisieren die Anschauungen. 31 Vgl. hierzu ausführlicher: Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen I. Philosophie der Technik als Reflexion der Medialität, Bielefeld 2006, Kap. 7. 32 Daraus folgt, dass Technik einerseits mit einer Enthemmung zu tun hat, zugleich aber auch mit einem verschwindenden Freiheitsbewusstsein im und während gelingenden technischen Handelns. Vgl. hierzu, aus einer hegelschen Perspektive: Andreas Luckner, Technik als Sphäre »ungehemmter Begierde«? Zur Frage der Begründung von Technikphilosophie, in: Neue Realitäten. Herausforderungen der Philosophie (XVI. Deutscher Kongress für Philosophie, 20.–24. 9. 1993), Bd. 1, Berlin 1993, S. 2–9.

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lich der Disponibilität von Mitteln, im zweiten Falle, im Falle von »Kultur«, um Standards der Mittel-Zweck-Verknüpfung, unter denen bestimmte gewünschte Sachverhalte allererst als Handlungszwecke denkbar werden. Gründe sind soziale Fakten.33 Mit »Natur« liegt eine abgrenzende, mit »Kultur« eine affirmative Selbstbeschreibung derjenigen Handlungssysteme vor, in denen Technik eingesetzt wird, worüber nicht disponiert wird. Natur ist dabei der Inbegriff dessen, wovon wir annehmen, transsituativ nicht verfügen zu können, Kultur ist der Inbegriff dessen, wovon wir glauben, situativ nicht verfügen zu können (aber wir bauen daran, colere).34 ›Technik‹ und ›Natur‹ als Reflexionsbegriffe drücken den Bezug unseres Denkens zu den Handlungsvermögen aus. Naturalismus und Technomorphismus, auch in den jeweils »weichen« Varianten sind theoretische Einstellungen, die »Natur« und »Technik« letztlich nicht als Reflexionsbegriffe (in kantischen Sinne der transzendentalen Reflexion) begreifen – und genau dies zu tun, wäre philosophisch gesehen unsere Empfehlung. Ein reflektierter weicher Naturalismus wie derjenige Habermas’ hielte einer radikaleren Reflexion stand, wenn er sich darüber vergewisserte, dass die ermöglichenden Bedingungen als solche immer relativ zu Handlungskonzepten erscheinen. Und ein reflektierter weicher Technomorphismus wie der methodische Kulturalismus Janichs und seiner Schule entspräche ebenfalls diesem Anspruch, wenn er nicht die Kultürlichkeit mit der Höhe der technischen Entwicklung gleichsetzen würde, sondern das Kriterium der Disponibilität selbst relativieren würde, etwa im Blick auf die Vielfalt von Handlungskonzepten, deren unterschiedlich stufige Schemata den Inbegriff von Kultur ausmachen. Ein (weicher) Technomorphismus befindet sich zwar auf einer höheren Stufe Reflexion als der (weiche) Naturalismus, wäre aber seinerseits zu reflektieren auf die vielfältigen und disparaten kultürlichen Bedingungen dessen, was als disponibel erachtet wird und was nicht. Die angenommene Disponibilität ist 33

Ein grober Blick darauf, was in der Wissenschaftsgeschichte alles an Natur als nicht disponibel galt, bis hin zum neuerlichen Streit um die Validität von »Naturkonstanten«, ferner auf die unterschiedlichen Vorstellungen über die Verbindlichkeit bzw. Überschreitbarkeit kultureller Standards, zeigt, dass das Andere der Technik immer relativ zu dem eigenen Vermögen der Intervention modelliert wurde. 34 Das kann man sich auch am Unterschied von Entstandenem, Gemachtem und Hergestelltem klarmachen: Alles das ist Gewordenes, das Hergestellte ist das, was ist, weil jemand über die Bedingungen des Dass- und Soseins verfügte; nicht alles, was gemacht ist, ist aber hergestellt; so wird z. B. die Geschichte von den Menschen gemacht, aber sie wird nicht hergestellt, was nur bedeutet, dass über den Verlauf der Geschichte niemand (schon gar nicht in einem technischen Sinne) verfügen kann. Dies betrifft die Kultur. Jenseits dessen ist das Entstandene (eine Unterart wäre das Gewachsene) dasjenige, von dem angenommen wird, dass über es nicht verfügt wurde (also unter dem Blickwinkel von »Natur« gesehen).

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nicht beobachtbare Eigenschaft einer Kultur – das wäre ein Naturalismus der Kultur –, sondern selbst kulturell bedingt. In Ansehung dieser Bedingungen erscheint die Frage nach einem basalen Monismus oder Dualismus obsolet. Das Kontingenzmanagement der Kulturen ist seinerseits kontingent; Kultur erschließt sich nur durch einen »Grenzgang von Innen« (Wittgenstein), und ein summarischer Blick aus der Beobachterperspektive auf ein Evolutionsgeschehen, sei es eines der Natur (im prädikativen Sinne) oder der Kultur (im reflexiven Sinne), bleibt uns verwehrt. »Kulturhöhe« ist immer nur in Hinblick auf einen bestimmten Entwicklungsstrang zu bestimmen; es gibt Fortschritt immer nur in eine bestimmte Richtung – andere mögliche Richtungen bleiben dabei außen vor. Die pragmatischen Grenzen der Reflexion liegen allerdings darin, dass eine Vorstellung vom Handeln nicht zugleich Gegenstand der Reflexion werden kann, sondern sich in konkreten Reflexionsakten exemplifiziert.35 Auch die Produktion von Menschenbildern fällt hier hinein. Nichts aber ist schlimm an einem Menschen-Bild, wenn es uns nicht gefangen hält. Und es kann uns nur dann gefangen halten36, wenn wir es nicht als ein Bild, sondern für die Sache selbst halten.

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Dies scheint auch Hegel gemeint zu haben, wenn er am Ende der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik hervorhebt, dass das absolute Wissen nicht als positives Wissen sich zu erfassen vermag, sondern lediglich als Trieb der Vernunft, der sich im Zuge der Erfahrung seiner Instantiierung als negativer Erfahrung, gehemmter Begierde, als solcher begreifen kann. Eine dieser Erfahrungen ist der Streit um ein naturalistisches Menschenbild, welches Hegel (auf dem Stand der damaligen Diskussion) im Kapitel ›Die beobachtende Vernunft‹ seiner Phänomenologie des Geistes bereits verabschiedet hat, unter dem Hinweis darauf, dass es sich dabei immer nur um ein Bild vom Bezug der Vernunft auf eine Natur, die unter dem pragmatischen Interesse der Vernunft klassifiziert wird, und nicht um die »Sache selbst« – die Natur – handeln kann. Unter diesem Blickwinkel ist etwa eine »höhere« Stufe der Evolution lediglich die Spiegelung einer Vernunft, die mit einfachen Klassifikationen unter dem Trieb des Bestimmenwollens nicht mehr weiterkommt. Eine solche »Evolution« kann aus sich heraus das Interesse der Vernunft nicht legitimieren – unter anderen Gesichtspunkten wären genauso gut Mikroorganismen wie etwa der Aids-Virus sicherlich eine höhere Stufe der Evolution. 36 Vgl. hierzu auch Niels Gottschalk-Mazouz, Handlungsselbstverständnisse – Überlegungen mit Heidegger und Nietzsche zu Handeln, Metaphysik und Technik, in: Ch. Hubig, A. Luckner, N. Mazouz (Hg.), Handeln und Technik – mit und ohne Heidegger, Münster 2007 (i. Vorb.)

Dirk Hartmann

Posttraditionalität und Ethik

Methodischer Kulturalismus und Praktische Philosophie Ansatzpunkt für den Methodischen Kulturalismus in der theoretischen Philosophie ist die Auseinandersetzung mit dem Naturalismus, der Auffassung, dass alles Geschehen – insbesondere auch menschliches Handeln – mit den Mitteln der Naturwissenschaften wenigstens prinzipiell vollständig beschreibund erklärbar ist. In seinen konsequentesten Varianten sieht der Naturalismus vor, dass normative Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie durch empirische Kognitionswissenschaften (plus Wissenschaftssoziologie) zu ersetzen sind. Der Methodische Kulturalismus hält die naturalistische Auffassung für zirkulär und (entgegen ihrer eigenen Intention) metaphysisch belastet. Zum einen benötigen Naturwissenschaften für die Beurteilung ihrer Ergebnisse als ›wahr‹ und ›falsch‹ Geltungskriterien und bedürfen damit einer Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie, die nicht schon auf Naturwissenschaft aufbaut. Zum anderen genügen die in die naturalistische Auffassung investierten deskriptiven (und implizit normativen!) Prämissen nicht den vom Naturalismus selbst aufgestellten Rationalitätskriterien – d. h. lassen sich nicht selbst als Resultate empirischer Forschung verstehen.1 Vielleicht nicht zwangsläufig, aber doch regelmäßig beziehen Naturalisten zugleich realistische Positionen. Der Realismus sieht die Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung mit den vor allen Erkenntnisbemühungen fertig vorliegenden Tatsachen als das Geltungskriterium für Aussagen an. Aber auch der Realismus ist zirkulär: um Aussagen mit »den Tatsachen« vergleichen zu können, müsste man die Tatsachen kennen – und damit vorab wissen, welche Aussagen wahr sind. Stattdessen werden Tatsachen durch die Wahrheit von Aussagen konstituiert. Wahrheit wiederum ist eine Sache der intersubjektiven Übereinkunft im Rahmen von Sprach- bzw. Kulturgemeinschaften – das ist die kulturalistische Position. Weil Kulturen sich unterscheiden und in ständigem historischem Wandel begriffen sind, endet der Kulturalismus meist im Kulturrelativismus (oder 1

Diese kurzen Bemerkungen dürfen selbstverständlich noch nicht selbst als Widerlegung des Naturalismus gelten. Für eine ausführliche Argumentation siehe aber Hartmann/Lange (2000a) und Hartmann/Lange (2000b).

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Dirk Hartmann

Historismus), d. h. der Auffassung, dass wahr und gerechtfertigt jeweils das im spezifischen kulturellen Milieu gerade faktisch Anerkannte ist. Aber dies ist ein »Kurzschluss«: Aus der Falschheit des Realismus geht ja nicht hervor, dass über die Wahrheit von Aussagen durch bloßes Reden und beliebige Übereinkunft entschieden werden kann. Der Realismus hat darin Recht, dass es ein außersprachliches Wahrheitskriterium geben muss. Dieses Kriterium findet sich aber nicht in einer ominösen »Übereinstimmung« mit der Realität, sondern in den Widerfahrnissen des Gelingens und Scheiterns unseres Handelns. Weil Zwecke gewöhnlich nicht durch beliebige Handlungen erreicht werden können, lassen sich im Rahmen von Zweck-Mittel-Zusammenhängen zielführend geordnete Handlungsschritte von nicht-zielführenden intersubjektiv unterscheiden. Dabei müssen die betreffenden Zwecke von den Diskursteilnehmern nur »hypothetisch« gesetzt und nicht unbedingt auch tatsächlich verfolgt werden. Das Verankern von Begründungen im Handlungserfolg geht über den bloßen Verweis auf die faktische Akzeptanz von Aussagen hinaus und eröffnet die Möglichkeit eines transkulturell einlösbaren Anspruches auf Geltung. Dies führt zur Position des Methodischen Kulturalismus: Trotz des Verzichts auf die realistische Vorstellung einer vor aller menschlichen Erkenntnisbemühung fertig vorliegenden Realität lässt sich relativistische Beliebigkeit vermeiden, weil eine »objektive« (d. h. intersubjektive bzw. »interkulturelle«) Wirklichkeit durch das Gelingen gemeinsamer Praxis konstituiert werden kann. Die bis hierher durchgeführte Argumentation betrifft zunächst einmal als »Erkenntnistheorie« nur die Frage nach der Geltung von Aussagen. Lässt sich eine analoge Argumentation auch für den Bereich der praktischen Philosophie durchführen, also im Hinblick auf die Frage nach der Geltung von Aufforderungen? Tatsächlich finden sich auch in der praktischen Philosophie naturalistische, realistische und relativistische Positionen. Der Realismus in der praktischen Philosophie nimmt an, dass gewisse Werte bzw. Normen unabhängig von faktischen Vorstellungen über Sitte, Moral und Recht Geltung besitzen. Während aber der erkenntnistheoretische Realismus in der Philosophie eine beträchtliche Zahl von Anhängern um sich versammeln kann, kann der ethische Realismus aufgrund seiner offensichtlichen Rechtfertigungsnot im Wesentlichen nur im Zusammenhang religiös motivierter Positionen angetroffen werden. Der Naturalismus hingegen taucht in der praktischen Philosophie in zwei Varianten auf – einer älteren, realistischen Variante und einer moderneren, wesentlich radikaleren und konsequenteren Form. Die realistische Variante sucht Werte und ethisch einschlägige Begriffe wie ›gut‹ über »natürliche« Merkmale zu definieren – das ist der altbekannte »naturalistische Fehlschluss«, in welchem übersehen wird, dass vom bloßen Sein kein Weg zum Sollen führt. Obwohl philosophisch obsolet, wirkt der ältere Naturalismus gesellschaftlich

Posttraditionalität und Ethik

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noch nach, was man an Begriffen wie »Naturrecht« und »naturgemäßes Leben« sehen kann, sowie auch an immer noch bestehenden Hoffnungen, dass sich moralische Streitfragen (etwa über die Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen) letztlich mit naturwissenschaftlichen Argumenten entscheiden ließen. Die moderne, konsequente Form des ethischen Naturalismus geht (wie auch der erkenntnistheoretische) auf David Hume zurück und fordert, Ethik durch eine Art »Psychologie des moralischen Empfindens« zu ersetzen. Dass solcherart wissenschaftliche Untersuchungen über moralisches Empfinden möglich sind, ist freilich nicht zu bezweifeln. Die Frage ist aber, ob die Begründung von Normen auch bei Ablehnung des Werterealismus möglich bleibt. Der konsequente Naturalismus sagt hier klar »Nein«. Schließen sich schon in der Erkenntnistheorie konsequenter (d. h. methodologischer) Naturalismus und Kulturrelativismus nicht unbedingt aus,2 so gehen sie in der praktischen Philosophie sogar besonders gut zusammen. Aus der mit dem Naturalismus gemeinsamen Ablehnung des ethischen Realismus zieht der Kulturrelativismus den Schluss, dass relativ zu einem bestimmten kulturellen Milieu gerechtfertigt jeweils die faktisch anerkannten Normen sind – Geltung ist gar nichts anderes als faktische Anerkennung. Daraus folgt, dass die Geltung von Normen und Werten dem historischen Wandel unterworfen ist, und die moralische Beurteilung des Handelns fremder Kulturen oder früherer Zeiten niemals objektivierbar ist, sondern immer an die kontingenten Werte und Normen der eigenen Gesellschaft gebunden bleibt. Der ethische Kulturrelativismus ist eine wesentlich stärkere Position als der erkenntnistheoretische, da nach Ablehnung des ethischen Realismus nicht ersichtlich ist, wie nun noch ein außerhalb unserer faktischen Konsense stehender Faktor über die Gerechtfertigtheit von Werten und Normen entscheiden soll. Dass ein Schwert aus Eisen ein Schwert aus Bronze bricht, lässt sich kulturinvariant einsehen, weil dies eben nicht bloß eine Angelegenheit des Diskurses ist. Aber dass man seine Mitmenschen nicht übervorteilen soll, auch wenn die Gelegenheit günstig ist, lässt sich niemandem andemonstrieren, der nicht wenigstens implizit schon einschlägige Normen anerkannt hat.3 2

Siehe Lange (1998). Ethische Normen lassen sich auch nicht transzendental begründen, wie es insbesondere Apel (1993), aber (etwas abgeschwächt) auch Habermas (1996) versucht haben. Eine transzendentale Begründung einer ethischen Norm N läge dann vor, wenn gezeigt wäre, dass die vorgängige Akzeptanz von N eine Bedingung der Möglichkeit von Argumentation überhaupt darstellt (nicht nur von »moralischer« Argumentation – denn deren Möglichkeit steht ja gerade in Frage). In diesem Fall würde jemand, der an (irgend einer) Argumentationspraxis teilnimmt, andererseits jedoch die Geltung von N in Frage stellt, einen performativen Widerspruch begehen. Anders ausgedrückt: 3

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Der Kulturrelativismus hat also Recht darin, dass Werte und Normen wandelbare Kulturprodukte sind. Aber trotzdem ist das noch nicht die ganze Geschichte. Ob in westlichen Demokratien oder islamischen Gottesstaaten: In allen Kulturen finden sich faktisch etablierte moralische Normen, Rechtsnormen und Sitten. Auch faktisch etablierte Normen beanspruchen Geltung gegenüber denjenigen, an die sie sich richten, und so gibt es auch in allen Kulturen die Frage nach den Geltungsgründen zur Unterscheidung »gültiger« Normen von ungerechtfertigten Ansprüchen aufgrund von Irrtum oder Anmaßung. Sitten berufen sich auf Traditionen, Rechtsnormen müssen von legitimierter Seite beschlossen werden und dürfen nicht mit etablierten moralischen Normen konfligieren, die ihrerseits wiederum eines Legitimationsgrundes bedürfen. In Gottesstaaten tritt das Legitimationsproblem nicht in besonderer Schärfe auf: Das – meist schriftlich niedergelegte – Wort Gottes entscheidet über die grundlegenden Normen für das Zusammenleben. Schriftgelehrte oder Priesterkönige legen das Wort aus und sprechen Recht. Auch in Gesellschaftsformen, in denen der Gott durch einen weltlichen Herrscher ersetzt wird (oder in Mischformen wie etwa dem »Heiligen Römischen Reich«), gibt es kein prinzipielles Legitimationsproblem. Dieses taucht erst in den so genannten »posttraditionalen« Gesellschaften auf, in denen historische Umwälzungen dazu geführt haben, dass weder dem Wort Gottes noch sonst einer ausgezeichneten Autorität von vornherein das Recht zugebilligt wird, über Moral und Recht zu befinden.4 In Jemand, der nach einer Begründung von N fragte, würde bereits dadurch die Geltung von N (implizit) anerkennen. Leider gelingt die transzendentale Argumentationsfigur aber im Hinblick auf keinen einzigen ernsthaften Anwärter auf den Status einer ethischen Norm. Wer etwa nach einer Rechtfertigung dafür fragt, warum denn die Beurteilung der Gerechtigkeit einer Norm unabhängig vom Status der diese Norm befürwortenden Personen erfolgen solle, der erkennt das von ihm in Frage gestellte Prinzip damit keineswegs schon implizit an. Im Gegenteil: Sollte er unter einer Rechtfertigung gerade die Bezugnahme auf gewisse ausgezeichnete Autoritäten verstehen, dann wäre seine Frage wohl eher als ein Versuch zu werten, seinerseits (in aller Höflichkeit) auf eine »performative Absurdität« aufmerksam zu machen. Auf dem Hintergrund des Scheiterns moderner transzendentaler Ethikbegründungsversuche muss Kant, dem Vater der Transzendentalphilosophie, noch nachträglich Achtung dafür gezollt werden, dass er in der »Kritik der praktischen Vernunft«, im Abschnitt »Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft«, in aller Ehrlichkeit eingesteht, dass der Versuch einer transzendentalen Deduktion des kategorischen Imperatives vergeblich ist [80–82]. (Er hält dessen Geltung stattdessen für ein schieres – wenn auch das einzige – »Faktum der Vernunft«[55–56]. Es sei als solches »unleugbar« [56] und bestimme den Willen zwar nicht empirisch, aber doch »unvermeidlich« [96]. Im Preußen des 18. Jahrhunderts mag diese Auskunft sogar eine gewisse intuitive Plausibilität besessen haben.) 4 Es wäre jedoch ein Missverständnis zu glauben, dass in den so charakterisierten posttraditionalen Gesellschaften Traditionen nun keinerlei konstitutive Rolle mehr

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derartigen Verhältnissen leben beispielsweise wir Europäer. Der Kulturrelativismus sagt uns nun, dass unsere faktischen Wertvorstellungen keinen metaphysischen Anspruch auf universelle Geltung erheben können. Das hilft uns aber nicht bei der Aufgabe, unsere eigenen partikulären Legitimationsprobleme zu lösen. Die Posttraditionalität hat ja nicht nur zum Umsturz unbilliger Richter, sondern auch dazu geführt, dass wir hinsichtlich des Geltungsanspruches überkommener Moral und positiven Rechts verunsichert sind. Sofern wir nicht einfach Nihilismus oder das »Recht des Stärkeren« propagieren wollen, müssen wir für uns die Frage beantworten, wie wir in Zukunft »gerechte« von »unbilligen« Geltungsansprüchen unterscheiden sollen. Der Methodische Kulturalismus will hierfür (aber auch nur hierfür) eine Lösung versuchen. Wir streifen also zunächst die metaphysische Bürde der »universellen Geltung« von vornherein ab und beginnen explizit »partikularistisch«: Die (normative) Ethik, die im ersten Teil dieses Artikels erarbeitet werden soll, ist zunächst einmal nur für diejenigen gedacht, die als Posttraditionalisten überhaupt ein Legitimationsproblem haben. Posttraditionale Gemeinschaften dieser Art zeichnen sich durch gewisse, das Legitimationsproblem selbst betreffende, prädiskursive (bzw. »präaktive«) Grundkonsense aus, die es zunächst explizit zu machen gilt.5 Es wird sich zeigen, dass diese Grundkonsense bereits den Schlüssel zur Lösung des Legitimationsproblems liefern. D. h. es lässt sich erweisen, dass trotz des partikularistischen Beginns alle für gewöhnlich als wichtig erachteten Probleme – der Gerechtigkeit, Verpflichtung, des moralischen Subjekt- und Objektbereiches, der Verfassung nach Innen und Auseinandersetzung nach Außen, sowie des Verhältnisses von moralischem und glücklichem Leben – eine Antwort finden können. Dabei werden sich (wieder trotz des partikularistischen

spielten. Im Gegenteil ist ohne Traditionszusammenhänge Kultur, und damit auch Gesellschaft (als fortdauernd organisierte Gemeinschaft) gar nicht möglich. Für eine ausführliche Analyse des Begriffs der Tradition in diesem Sinne siehe Dittmann (2004). Ein weiteres Missverständnis wäre die Annahme, meine späteren Ausführungen präsupponierten – wegen des Ausgangspunktes bei der Posttraditionalität – eine Gemeinschaft von Atheisten. Gefordert ist aber unter den Bedingungen der Posttraditionalität nicht die Ablehnung religiöser Konfessionen, sondern nur die Anerkennung, dass der bloße Verweis darauf, dass eine Aufforderung aus den je eigenen Glaubensgrundsätzen folgt, keineswegs hinreichend ist, diese Aufforderung im Konfliktfall Nicht- oder Andersgläubigen gegenüber in Geltung zu setzen. 5 Auf Gethmann (1979, S. 101) geht der Ausdruck ›prädiskursives Einverständnis‹ zurück. Der von Janich (1998) vorgeschlagene Begriff des ›präaktiven Konsenses‹ unterscheidet sich hiervon meiner Einschätzung nach im Wesentlichen nur insofern, als er den eher impliziten Charakter solcher Einverständnisse, die sich weniger sprachlich als in der Teilhabe an gemeinsamer Praxis äußern, stärker hervorhebt. Es handelt sich somit also weniger um Konsense vor dem Handeln als um prädiskursive Konsense, die sich im gemeinsamen Handeln äußern.

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Ansatzpunktes) viele Übereinstimmungen mit Vertrags-, Diskurs- und Konstruktiver Ethik ergeben. Insbesondere wird es sich bei der im Methodischen Kulturalismus vorgeschlagenen normativen Ethik um eine so genannte »Beratungsethik« handeln müssen. Sie kann und wird daher kein komplett »neuer Wurf«, sondern eher ein neuartiges Ins-Verhältnis-Setzen und Ausdifferenzieren von bereits Bekanntem sein.6 Im Anschluss an die normative Ethik wird im zweiten Teil des Artikels auch die »eudämonistische« Ethik – die Ethik des »guten« (im Sinne von »glücklichen«) Lebens – behandelt werden. Dies ist schon aufgrund der klassischen Problematik des methodischen Verhältnisses von eudämonistischer und normativer Ethik unerlässlich: Schränken sie einander ein, schließen sie einander aus oder baut gar die eine auf der anderen auf? Selbst wenn man in erster Linie nur an normativer Ethik interessiert ist, kommt man also nicht daran vorbei, sich auch mit der eudämonistischen Ethik zu beschäftigen.

1) Normative Ethik 1.1 Die Aufgabe normativer Ethik Die Frage nach normativer Geltung ist zwar nicht ganz dieselbe Frage wie die nach der Geltung von Normen, jedoch ist letztere zumindest ein wichtiger Teil der ersteren. Normen sind über Situationen und Personen allquantifizierte bedingte Aufforderungen: Alle Personen werden aufgefordert, in allen Situationen eines bestimmten Typs entweder afinal eine Handlung eines be-

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Ein wesentlicher Unterschied zu den bekannten Positionen von Apel und Habermas bleibt aber, dass der hier vorgestellte Ansatz kein »universalistischer« im Sinne eines mit ihm erhobenen Anspruches auf universelle Geltung ist, der über transzendentale Argumente apodiktisch eingeholt werden soll. Vielmehr wird der Versuch gemacht werden, die kulturalistisch-partikularistische Grundhaltung von Kambartel (1978) und Schneider (1994), nach der immer nur lokale Begründungen aus der Teilnehmerperspektive unserer partikularen (aber Universalität inkorporierenden) Lebensform gegeben werden können, mit den Explikationsbemühungen diskursiver Verfahrensethiken zu verbinden. Denn auch wenn Schneider (1994) darin Recht zu geben ist, dass sich Lebensformen nicht vollständig »versprachlichen« lassen, so bleibt unserer posttraditionalen Lebensform doch die Einsicht in unsere eigenen komplexen Legitimationsverfahren Aufgabe und Bedürfnis zugleich. Worum es in der Verfahrensethik geht, ist nicht das Aufstellen einer »logischen Maschine« zur Lösung aller ethischen Fragen, sondern vielmehr die Erarbeitung eines besseren Selbstverständnisses. Dieses wiederum soll uns dabei helfen, unserer posttraditionalen Lebensform ethisch und politisch aktiv Gestalt geben zu können und nicht – aufgrund des posttraditionalen Wegfalls absolut gültiger Werte hoffnungslos verunsichert – letztlich einem resignativen Nihilismus zu verfallen.

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stimmten Handlungsschemas auszuführen, oder aber final eine Situation eines bestimmten Typs zu realisieren. Man spricht in diesem Zusammenhang (etymologisch etwas unglücklich) davon, dass Normen generell (Situationsbezug) und universell (Personbezug7) formulierte Aufforderungen sind. Insofern der immanente Geltungsanspruch von Normen zudem nicht nur auf eine konkrete Äußerungssituation (»jetzt«) bezogen, sondern implizit zeitübergreifend zu denken ist, muss eine Norm zwangsläufig eine bedingte Aufforderung sein – sonst würde sie nämlich zum ununterbrochenen Handeln auffordern. Wenn unbedingte Normen überhaupt sinnvoll sind, dann nur als Unterlassungsaufforderungen (»Du sollst nicht lügen!«). Normen sind also Sätze einer bestimmten Form.8 Die Universalität und Generalität der Formulierung hat noch nichts damit zu tun, ob die Norm etabliert ist oder nicht. Universelle Formulierung ist daher von universeller Etabliertheit bzw. universeller Geltung zu unterscheiden. Die letztere Unterscheidung bezieht sich auf den Unterschied zwischen faktischer und gerechtfertigter Etabliertheit, wobei diese selbstverständlich nur relativ zu selbst noch zu rechtfertigenden Rechtfertigungsverfahren gerechtfertigt ist. Erst wenn derartige Verfahren schon zur Verfügung stehen, macht auch die deskriptiv gewendete Formulierung von Normen mit logischen Partikeln und Gebotenheitsoperator einen Sinn.9 Gebotenheitsbehauptungen (oder »Sollenssätze«) behaupten auf der Metastufe die gerechtfertigte Etabliertheit einer Norm. Das heißt also insbesondere, dass die Frage der Wahrheit oder Falschheit von Sollenssätzen gegenüber der Frage nach der Rechtfertigung von Normen methodisch sekundär ist.10

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Eine für unsere Zwecke hinreichende Klärung des hier investierten Personbegriffs werden wir in Abschnitt 1.3 vornehmen. 8 Je nach strukturellem Differenzierungsanspruch fällt die symbolische Darstellung dieser Form mehr oder weniger kompliziert aus. Eine einfache Symbolisierung afinaler Normen wäre etwa die folgende: ( N ) ∀p∀x(!Hp⏐Spx) Lies: »An alle Personen p und für alle Situationen x: Falls sich p in der Situation x vom Typ S…__ befindet, dann bitte p tut H!« Da der logische Subjunktor ›→‹ und der logische Allquantor ›⵩‹ (in der von mir verwendeten Symbolik) nur für ihre Verwendung in Aussagen definiert sind, verwende ich die Zeichen ›⎜‹ und ›∀‹, die hier die Wörter »alle« und »wenn-dann« in ihrer vorlogischen Verwendung symbolisieren sollen. 9 Etwa folgendermaßen: ( N*) ⵩p⵩x(Spx → Δ!Hp) (Lies:) »Für alle Personen p und alle Situationen x gilt: Wenn p sich in x vom Typ S…__ befindet, dann ist geboten, dass p H tut.« 10 Allerdings ist die Formulierung von Normen als Gebotenheitsbehauptungen nicht überflüssig, weil sie sich in dieser Form für das in der juristischen Praxis benötigte

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Bei den innerhalb einer Gemeinschaft etablierten Normen unterscheidet man zwischen Systemen von Sitten, Recht und Moral.11 Sitten sind tradierte Handlungsweisen, die im Laufe der Zeit einen impliziten normativen Anspruch erworben haben. Dieser normative Anspruch ist über die faktische Etabliertheit der Norm gegeben, dass (»bewährte«) Traditionen nicht ohne explizite Begründung durchbrochen werden sollen. Während Sitten sich auf beliebige Handlungsbereiche beziehen können und oft sehr speziell formuliert sind (z. B. »Tischsitten«), betreffen moralische Normen insbesondere konfliktrelevantes Handeln gegenüber anderen Personen.12 (Die Bedingung der Konfliktrelevanz werde ich gleich etwas weiter unten erläutern.) Dies gilt auch für die Rechtsnormen (»Gesetze«), die aber im Unterschied zu moralischen Normen in einer Weise sanktionsbewehrt sind, die eine institutionelle Organisation der Gemeinschaft voraussetzt, in deren Rahmen je legitimierte Institutionen Normen – einschließlich solcher für die Bestrafung13 von Normverletzungen – etablieren, judizieren und exekutieren. Moralische Normen im engeren Sinne sind gewöhnlich als »Prinzipien« so allgemein formuliert, dass sie zwar die

deontisch-modallogische Schlussfolgern (mit den Modalitäten »geboten«, »verboten«, »erlaubt« und »freigestellt«) eignen. 11 Von den durch diese Klassifikation erfassten (»echten«) Normen lassen sich noch die »technischen« Normen (»hypothetische Imperative«) unterscheiden. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass die Situationsbeschreibung S eine Annahme über einen von p verfolgten Zweck Z beinhaltet, zu dessen Realisierung das Handlungsschema H als Mittel gedacht ist (»Wenn du einen Apfelkuchen backen willst, dann musst du …«). Der Geltungsanspruch solcher technischer Normen erschöpft sich also in der Behauptung, dass H tatsächlich ein geeignetes Mittel zur Realisierung von Z ist. Damit sind sie aber für die hier behandelte Problematik der Begründung sittlicher, rechtlicher und moralischer Normen nicht von Interesse. Andererseits gewinnen technische Normen als konstitutive Bestandteile technischer Praxen philosophische Bedeutsamkeit im Hinblick auf die Frage nach den Geltungsgründen naturwissenschaftlicher Theorien. Siehe hierzu etwa Hartmann (1993, 1.1.). 12 Das Gegenüber muss allerdings keine Person im strengen Sinne sein (siehe Abschnitt 1.3). Fälle moralischer Normen, die sich durch das scheinbar völlige Fehlen eines Gegenübers der Handlung auszeichnen, sind gewöhnlich religiös motiviert und lassen sich daher in abgeleiteter Weise so verstehen, dass dem betreffenden Handeln jedenfalls Gott gegenüber Konfliktrelevanz zukommt. 13 Unter dem Titel der »Sanktionsbewehrtheit« verstehe ich aber außer der normativ geregelten und institutionell exekutierten Bestrafung von Normüberscheitung auch das institutionell exekutierte Durchsetzen der in der Rechtsnorm geforderten Sachlage selbst. Beispielsweise wird ja Diebstahl nicht allein mit einer Strafe belegt, sondern auch (soweit noch möglich) die Herausgabe der gestohlenen Sache sichergestellt. Auf die institutionell exekutierte Durchsetzung von Rechtsnormen im Allgemeinen werde ich hier nicht weiter eingehen. Auf das durchaus schwierige Thema »Strafe« werde ich hingegen in Abschnitt 1.3 zurückkommen.

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Gesetzgebung leiten, aber sich gerade wegen ihrer Allgemeinheit selbst meist der »Verrechtlichung« entziehen.14 In Übereinstimmung mit der üblichen Konvention verstehe ich unter einer (normativen) Ethik15 nun nicht eine Moral (ein System moralischer Normen), sondern eine Konzeption der Beurteilung des Geltungsanspruches sittlicher, moralischer und rechtlicher Normen.16 In traditionalen Gemeinschaften besteht die Ethik darin, dem Wort Gottes zu folgen und/oder in Treue zu den Geboten weltlicher Autoritäten zu handeln, aber für posttraditionale Gemeinschaften ist das Problem per definitionem nicht mehr auf solche einfachen Formeln zu reduzieren. Stattdessen muss man sich zunächst einmal der Frage stellen, wozu moralische Normen überhaupt dienen sollen. Ein Teil der Antwort ist, dass kein Anlass dazu bestünde, das Handeln der einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft einer normativen Regulierung zu unterziehen, wenn jeder jederzeit seine Zwecke realisieren könnte. Dies ist aber ersichtlich nicht der Fall, und ein Grund hierfür ist, dass das Handeln des Einen die Zwecke des Anderen vereiteln oder behindern kann. Die Ausführung verschiedener Handlungen oder die Realisierung verschiedener Zwecke können also miteinander konfligieren – wie man auch sagt. Das Konfligieren von Handlungen und das Konfligieren von Zwecken fällt dabei nicht zusammen, denn zwei Zwecke konfligieren erst dann, wenn es keine verträglichen (nicht-konfligierenden) Handlungsschemata zur Erreichung beider Zwecke gibt. Es kann also vorkommen, dass zwei Zwecke nur scheinbar konfligieren, weil die faktisch als Mittel zu ihrer Realisierung ausgeführten Handlungen konfligieren. Ohne Konflikte besteht kein Bedarf für die normative Regulierung von Handlungen, und das ist der Grund, warum ich oben gesagt hatte, dass moralische Normen (wie die Rechtsnormen, aber im Unterschied zu den bloßen Sitten) konfliktrelevantes Handeln betreffen. Es gibt zwar allerlei Möglichkeiten mit Konflikten umzugehen, aber in einer Hinsicht gibt es nur zwei Alternativen: Zum einen kann man versuchen, die 14

So ist etwa die moralische Norm »Du sollst nicht lügen!« nur für spezifisch umschriebene Situationstypen rechtlich sanktionsbewehrt. Eine universelle Ausnahme stellt die moralische Norm »Du sollst nicht töten« dar, deren Übertretung in allen institutionell verfassten Gemeinschaften sanktioniert wird (soweit nicht gewisse Ausnahmeregelungen greifen, die insbesondere Notwehrsituationen betreffen). Eine kulturkovariante Zwischenstellung nimmt beispielsweise die Norm »Du sollst nicht ehebrechen!« ein. 15 Den Zusatz »normativ« benötigen wir, um das hier vorgestellte Unternehmen, von der in Abschnitt 2. behandelten eudämonistischen Ethik terminologisch unterscheiden zu können. 16 Hinsichtlich der Rechtsnormen ist hier zu beachten, dass die Ethik nicht die Legalität von Rechtsnormen (im Sinne ihrer Zusammenstimmung mit grundlegenderen Rechtsnormen) prüft, sondern ihre ethische Legitimität.

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Realisierung seiner eigenen Zwecke gewaltsam durchzusetzen. Gewalt schließt dabei alle Mittel zur Bewirkung der Durchsetzung der eigenen Zwecke ein – von der Brachialgewalt bis hin zu subtiler Erpressung oder Überredung. Wer anstatt mit dem Schwert seinen Willen mit geschickter Rhetorik durchsetzt, ist nicht gewaltloser, sondern nur schlauer. Entscheidend für die Anwendung des Begriffes »Gewalt« ist hier allein, dass der Einsatz der jeweils gewählten Mittel (im Konfliktfall) der Durchsetzung der eigenen Zwecke dient. Da das Bekenntnis zur Gewalt nur die Frage nach den besten Methoden zur Durchsetzung der eigenen Zwecke stellt, die Frage nach der Begründung moralischer Normen hingegen gerade verwirft, bleibt denjenigen, die unter der Bedingung der Posttraditionalität noch an der Unterscheidung gerechtfertigter von ungerechtfertigten Geltungsansprüchen interessiert sind, nur die Alternative, nach dem »Wie« gewaltfreier Konfliktbewältigung zu fragen. Meine Ausführungen richten sich daher im Folgenden nur an diejenigen, die das Interesse an gewaltfreier Konfliktlösung mittragen. Aus der damit eingenommenen Innenperspektive nenne ich dieses Ziel das Soziale Ideal.17 Dass jemand am Sozialen Ideal interessiert ist, heißt noch lange nicht, dass er sich auch über die geeigneten Mittel zu seiner Realisierung im Klaren ist. Mit der vorläufigen Einschränkung des Kreises der Angesprochenen auf diejenigen, die das Interesse an gewaltfreier Konfliktlösung bereits mitbringen, werden die einschlägigen Fragestellungen praktischer Philosophie daher keineswegs vorab »erschlagen«. Dennoch ist mit dem Bezug auf das Soziale Ideal für das Folgende ein wesentliches Hindernis aus dem Weg geräumt: Das vom Kulturrelativismus hervorgehobene Faktum nämlich, dass von nichts nichts kommt, genauer, dass Zwecksetzungen nicht beurteilbar sind, ohne dass wenigstens über einige Zwecke bereits ein prädiskursives Einverständnis besteht. Der (normativen) Ethik als philosophischer Disziplin lässt sich nun die Aufgabe zuordnen, Verfahren zur Approximation des Sozialen Ideals bereitzustellen. Genauer sind damit solche Verfahren gemeint, die sich schon semantisch aus der Analyse und Explikation des Begriffes »gewaltfreie Konfliktlösung« ergeben – im Unterschied zu solchen Verfahren, die das Soziale Ideal empirisch befördern.18 17

Hinter dem hier verwendeten Begriff des »Ideals« steckt die Einsicht, dass dieses Ziel faktisch nie vollständig, sondern immer nur in mehr oder weniger guter Annäherung realisiert werden kann. Das mögliche Alternativziel der Konfliktvermeidung wäre in dieser Hinsicht wohl so »ideal«, dass es schon als illusorisch eingestuft werden müßte. 18 Das Verfahren der semantischen Explikation, nach welchem ich im Folgenden vorgehen werde, entspricht in etwa der in Gethmann (1989 u. 1992) angewandten Methode, nach den Präsuppositionen des »Streitschlichtens« zu fragen. Insofern das Interesse an »Streitschlichtung« (im Sinne des Sozialen Ideals) nunmehr beim Leser unterstellt wird, beinhaltet die normative Auszeichnung der im Rahmen der Untersuchung

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1.2 Die gerechte Beratung Damit Konflikte gewaltfrei bewältigt werden können, müssen sie zunächst einmal überhaupt als solche festgestellt und damit »zur Sprache gebracht« werden. Ebenso bedarf die im Rahmen der Konfliktbewältigung erforderliche Neuorganisation des Handelns der sprachlichen Verständigung unter den Konfliktparteien. Dreh- und Angelpunkt gewaltfreier Konfliktbewältigung ist daher das Gespräch. Zum Zwecke der Organisation des Handelns durchgeführte Gespräche heißen Beratungen. Beratungen über geeignete Mittel bei Konsens hinsichtlich des zu verfolgenden Zweckes sind technische Beratungen, Beratungen über die zu verfolgenden Zwecke selbst sind hingegen praktische Beratungen. Bei den praktischen Beratungen lässt sich noch unterscheiden zwischen orientierenden Beratungen, die bei Unklarheit über die zu verfolgenden Zwecke der »Sinnfindung« dienen, und koordinierenden Beratungen zum Zwecke der Konfliktlösung. Faktische Beratungssituationen können selbstverständlich in mehr als nur eine dieser Kategorien passen. Außerdem werden in die Beratungen gewöhnlich auch Dispute über die Wahrheit von Aussagen integriert sein. Dispute lassen sich theoretisch auch als orientierende bzw. koordinierende Beratungen über die Annahme oder Verwerfung von Aussagen auffassen. Behandelt man sie hingegen parallel, so lassen sich Beratungen und Dispute terminologisch als Diskussionen zusammenfassen. Philosophisch wichtiger als raum-zeitlich konkrete, individuelle Diskussionen sind die aus diesen abstrahierbaren Diskurse – zeitlich und räumlich entgrenzte, aber thematisch zusammenhängende Beratungen oder Dispute. In Beratungen lässt sich der Beratungsgegenstand immer als Aufforderung formulieren – als afinale Aufforderung zur Ausführung einer Handlung oder als finale Aufforderung zur Verfolgung eines Zweckes. Die Aufforderung kann dabei beliebigen Allgemeinheitsgrad besitzen – von der singulären, personbezogenen Aufforderung bis zur generellen, universellen Aufforderung (Norm). Eine solche zur Beratung vorgelegte Aufforderung ist ein Vorschlag, die zur Beratung des Vorschlages unternommenen Redehandlungen (Zustimmung, Zweifel, Ablehnung, Folgerung, Stützung usw.) heißen Argumentationshandlungen. Wird zum Ende einer Beratung eine Aufforderung O verabschiedet, so heißt dies ein Beschluss zur Befolgung von O. Im Parallel- oder Sonderfall des Disputes spricht man statt vom Vorschlag von der These und statt vom »gefassten« Beschluss vom »gefällten« Urteil. An den mit Thesen und Urteilen erzielten Ergebnisse keinen naturalistischen Fehlschluss. Mit Gethmann (1992, S. 172) gesprochen: »Es gilt nicht die Normativität des Faktischen, wohl aber die Normativität des im faktisch Normativen Präsupponierten.«

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verknüpften Geltungsansprüchen – Wahrheit und Gerechtigkeit – lässt sich sehen, inwiefern Diskurse philosophisch wichtiger als konkrete Diskussionen sind: zwar lässt sich Struktur und Gehalt von Diskursen immer erst als Resultat rationaler Rekonstruktionen auszeichnen, jedoch bezieht sich der Geltungsanspruch eines Beschlusses bzw. eines Urteils in der Regel19 über die jeweilige Einzeldiskussion hinaus antizipierend auf den gesamten Diskurs. Wichtig ist nun, dass Beratungen nicht nur über Normen geführt werden können, sondern selbst gewöhnlich in irgendeiner Weise normativ organisierte Praxen sind. Es stellt sich daher die Frage, welche normative Organisation der Praxis koordinierender Beratungen unter dem Gesichtspunkt gewaltfreier Konfliktbewältigung ausgezeichnet ist. Die gesuchten Normen werden sich als ethische Normen von den moralischen und den Rechtsnormen also insofern unterscheiden, dass sie es uns auf der »Metastufe« ermöglichen, ohne argumentativen Bezug auf göttliche oder weltliche Autorität Moralisches vom Unmoralischen und Recht von Unrecht zu trennen. Bezüglich der Auszeichnung ethischer Normen sind aber noch einige Einschränkungen vorzunehmen: Sicher wird es im Hinblick auf die Durchführbarkeit gerechter Beratung viele empirische Vorbedingungen geben – etwa dass die Beratenden während der Beratung nicht todmüde sind oder sich in akuter Lebensgefahr befinden. Selbstverständlich sollen solche Bedingungen auch für die normative Organisation der Beratung berücksichtigt werden. Derartige Bedingungen zu identifizieren ist aber nicht Aufgabe der Ethik, sondern der lebensweltlichen und wissenschaftlichen Erfahrung. Weil die Beratungssituation eine Kommunikationssituation ist, müssen auch die üblichen Anforderungen an hinreichende syntaktische und semantische Eindeutigkeit des zur Verständigung benutzten Kommunikationsmittels (d. h. der verwendeten Sprache) gestellt werden. Diese Forderungen bilden ebenfalls keine spezifisch »ethischen« Normen, da sie allgemeine Gelingensbedingungen jeglicher Verständigung formulieren. Die unter spezifisch semantischem Bezug auf die Unterstellung des Sozialen Ideals rechtfertigbaren Normen für koordinierende Beratungen (die sich also als Teil der Explikation des Begriffs der gewaltfreien Konfliktbewältigung verstehen lassen) heißen ethische Diskursnormen.20 Bevor ich zur Diskussion kon19

D. h. in jedem Fall bei Urteilen, und bei Beschlüssen sofern es sich um Normen handelt. Ein Familienbeschluss bezüglich des nächsten Urlaubsziels antizipiert hingegen wohl kaum Gültigkeit im Hinblick auf einen zugehörigen Diskurs. 20 Dass ich diese Normen »Diskursnormen« nenne, liegt zum einen an der Möglichkeit, technische Beratungen und Dispute als Sonderformen praktischer Beratungen zu deuten (so dass ethische Normen – gegebenenfalls entsprechend modifiziert – auch für diese Beratungstypen gelten), zum anderen daran, dass sie eben nicht nur zur Koordination und Beurteilung singulärer konkreter Beratungen dienen, sondern gerade

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kreter ethischer Diskursnormen übergehe, sind zunächst einige weitergehende Erläuterungen zum Geltungsstatus solcher Normen angebracht: Zunächst sei daran erinnert, dass die Auszeichnung von Diskursnormen als ethisch beinhalten soll, dass es sich bei diesen um Normen handelt, welche allererst den Rahmen für die Beurteilung bzw. Auszeichnung von sittlichen, moralischen oder rechtlichen Normen auf Diskursebene schaffen. Dieser Unterschied wird gelegentlich auch durch die Wörter »formal« und »material« zum Ausdruck gebracht: Während die sittlichen, moralischen und rechtlichen Normen materiale bzw. »inhaltliche« Normen sind, die sich auf konkretes Handeln beziehen, sind die ethischen Normen formal, d. h. beziehen sich nur auf die Verfahrensform der Beurteilung materialer Normen. Man kann von ethischen Normen auch sagen, dass sie »a priori« gültig sind. Dies heißt nun aber freilich nicht, dass sie wie apriorische Aussagen »vor aller Erfahrung« gelten. Eine solche Redeweise machte mit Bezug auf echte (also nicht-technische) Normen keinen Sinn, da normative Geltung nicht auf deskriptive Geltung zurückführbar ist (aus dem bloßen Sein folgt kein Sollen), und folglich echte Normen sowieso grundsätzlich keine »Erfahrungssätze« sind.21 Vielmehr bedeutet a priori gültig im normativen Kontext »vor allen materialen Diskursen (d. h. Diskursen über materiale Normen) gültig«, und die Apriorizität ethischer Normen erhellt nun sofort daraus, dass sie materiale Diskurse allererst ermöglichen. Entsprechend sind dann sittliche, moralische und rechtliche Normen a posteriori (nämlich als Resultat materialer Diskurse) gültig. Dass man die im Zusammenhang mit Aussagen etablierte Unterscheidung »a priori« und »a posteriori« in analoger Weise auf Aufforderungen übertragen kann, legt die Frage nahe, ob dies nicht auch für die Unterscheidung »analytisch«/»synthetisch« möglich ist. Dementsprechend müsste eine Aufforderung analytisch gültig sein, wenn sie bereits aufgrund der Bedeutung der beteiligten Ausdrücke (und damit auch a priori) gültig ist – andernfalls wäre sie (wenn überhaupt) synthetisch gültig. Man sieht schnell, dass nicht für jede analytisch wahre Aussage auch die entsprechende Aufforderung analytisch gültig ist: Beispielsweise ist die Aussage ›Alle Junggesellen sind unverheiratet‹ analytisch wahr, weil der Begriff des Unverheiratetseins im Begriff des Junggesellens bereits enthalten ist. Doch daraus folgt keineswegs, dass jemand der de facto Junggeselle ist, auch unverheiratet sein soll – und daher kann ›Alle auch zur Bewertung von aus diesen rekonstruierten (zeitlich und räumlich entgrenzten) Diskursen. 21 Leider hat gerade Kant (1788) hier für eine gewisse Verwirrung gesorgt. Diese liegt vor allem in seiner mehrdeutigen Verwendung des Ausdrucks ›empirisch‹ in normativen Zusammenhängen begründet, und wird im Übrigen noch verstärkt durch eine unglückliche Doppelsinnigkeit seiner Unterscheidung zwischen ›kategorisch‹ und ›hypothetisch‹ in ebensolchen Zusammenhängen.

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Junggesellen sollen unverheiratet sein‹ keineswegs als analytisch gültige Norm gelten. Analytisch gültige Aufforderungen müssen also solche sein, für die sich der explizite Aufforderungsbestandteil bereits aus dem Vorkommen von in ihrer Bedeutung »normativ geladenen« Ausdrücken ergibt. Ein einfaches Beispiel wäre etwa ›Alle Mediatoren sollen unparteiisch sein‹ – da der Status des Mediators zwar nicht die faktische Unparteilichkeit, aber die Verpflichtung zur Unparteilichkeit begrifflich impliziert. Es bleibt nun noch die Frage zu klären, ob es Aufforderungen gibt, die synthetisch a priori gelten, also zwar nicht bereits aufgrund normativer Bedeutungsanteile der in ihnen beteiligten Ausdrücke, aber gleichwohl vor allen materialen Diskursen. Ganz so wie im Falle synthetischer Aussagen a priori nur diejenigen Aussagen als Kandidaten in Frage kommen, die Ermöglichungsbedingungen von Erfahrungswissen zum Ausdruck bringen, kommen im Falle synthetischer Aufforderungen a priori in analoger Weise nur diejenigen Aufforderungen in Frage, deren apriorische Geltung darauf beruht, dass sie materiale Diskurse allererst ermöglichen: die ethischen Diskursnormen. Dass diese Aufforderungen in der Tat nicht analytisch, sondern synthetisch sind, mag zunächst dadurch verschleiert werden, dass sie eine semantische Explikation des Sozialen Ideals darstellen sollen. Es ist aber zu beachten, dass schon eine Aussage A, die semantisch aus einer Aussage B folgt, nur dann analytisch ist, wenn bereits B analytisch war. Beispielsweise impliziert die Aussage ›Alle Körper sind träge‹ semantisch die Aussage ›Alle Ziegel sind träge‹‚ und gleichwohl ist letztere Aussage synthetisch weil es auch die erstere ist. Nun ist aber das Soziale Ideal (dass Konflikte gewaltfrei gelöst werden sollen) selbst eine synthetische Norm, und daher sind die es semantisch explizierenden Diskursnormen ebenfalls synthetisch. Die ethischen Diskursnormen lassen sich in drei Gruppen einteilen: Die erste Gruppe organisiert den diskursiven Rahmen und kann daher die Gruppe der Rahmennormen heißen. Die zweite Gruppe betrifft die von den einzelnen Diskursteilnehmern beim Vorbringen und Erwägen von Argumenten erwartete Einstellung oder Haltung. Sie soll daher die Gruppe der Haltungsnormen heißen. Die dritte Gruppe von Normen schließlich betrifft die allgemeine Form der Argumentation und heißt deshalb die Gruppe der Argumentationsnormen. Ich werde im Folgenden Normen für jede dieser drei Gruppen vorstellen und in Bezug auf das Soziale Ideal rechtfertigen. Mit den vorgestellten Diskursnormen soll dabei weder die Behauptung verbunden gedacht werden, dass die einzelnen Normen voneinander logisch-semantisch unabhängig seien, noch dass der Normensatz insgesamt im Hinblick auf das hinsichtlich des Sozialen Ideals Rechtfertigbare vollständig ist. Vielmehr sind alle im Folgenden vorgestellten Normen als Teil der Explikation des Begriffs der gewaltfreien Konfliktbewältigung zu verstehen. Diese Explikation wird hier soweit vorgenommen,

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dass die Beantwortung der Frage nach dem »Wie« der Verfolgung des Sozialen Ideals eine zwar noch allgemeine, aber bereits in konkreten Beratungen umsetzbare Antwort erhält. 1.2.1 Rahmennormen Ich komme nun zunächst zur ersten Gruppe ethischer Diskursnormen, den Rahmennormen. Hier sollen vier Normen vorgeschlagen werden, die die Teilnahme, das Sich-Einbringen und die Beschlussfassung organisieren. Die erste Rahmennorm ist das Teilnahmeprinzip: »Jeder, der von einem Konflikt betroffen ist, darf am Diskurs über dessen Bewältigung teilnehmen!« Erläuterung: Diese Norm folgt direkt aus dem Ziel der gewaltfreien Konfliktbewältigung. Zur Beseitigung einer Konfliktsituation müssen die Betroffenen ihr Handeln neu organisieren. Die Verhinderung der Teilnahme eines Betroffenen an der Neuorganisation des Handelns ist per definitionem schon selbst ein Akt der Gewalt. Wird ein Betroffener an der Teilnahme gehindert, wird er darüber hinaus entweder sein Handeln nicht adjustieren (dann besteht der Konflikt fort), oder aber die Änderung seines Handelns muss gleichsam technisch herbeigeführt werden (dann kann von gewaltfreier Konfliktbewältigung nicht die Rede sein). Andererseits besteht jedoch kein Anlass, prinzipiell jedermann – also auch Nichtbetroffene – in koordinierende Diskurse einzubeziehen.22 Dies schließt im Übrigen einen diskursinternen (und damit methodisch sekundären) Beschluss über die Einbeziehung Nichtbetroffener – etwa als unparteiische Schlichter – nicht aus. Eine derartige Einbeziehung Nichtbetroffener kann sogar normativ vorgesehen werden, wenn eine Gemeinschaft dazu übergeht, sich selbst unter Einschluss der Institutionalisierung von Beratungsgremien normativ zu verfassen (siehe auch 1.3). Nicht ausgeschlossen, aber doch methodisch sekundär ist auch die Möglichkeit des Ausschlusses Betroffener von der Beratung. Als Ausschlusskriterien lassen sich immanent nur kognitiv bedingte Argumentationsunzugänglichkeit sowie Nichtanerkennung des Sozialen Ideals bzw. der für den Diskurs kon22

Dies im Unterschied zu Alexy (1978) und Habermas (1996), wo das Teilnahmeprinzip so formuliert wird: »Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen«. Dieser etwas mehrdeutigen Formulierung ist zuzustimmen, sofern sie nur dazu dienen soll, den Bereich potentieller Diskursteilnehmer (»Personen«) als den »moralischen Subjektbereich« abzugrenzen (siehe auch 1.3). Abzulehnen wäre hingegen eine Interpretation, nach welcher jede Person an jeder konkreten Beratung teilnehmen dürfe.

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stitutiven ethischen Diskursnormen rechtfertigen. Die Institution gewaltfreier Konfliktbewältigung im Gespräch ist ja nur für diejenigen gedacht, die zu ihr sowohl fähig als auch gewillt sind.23 Ein methodisch heikles Problem besteht hier offensichtlich darin, dass ein Beschluss zum Ausschluss selbst diskursiv rechtfertigbar sein muss. Der schwierigste Fall ist der, dass ein potentiell Auszuschließender seine tatsächliche Nichtanerkennung der konstitutiven Diskursnormen leugnet. Ihm ist dann ein performativer Widerspruch zwischen seinen faktischen Argumentationshandlungen und seinen »Lippenbekenntnissen« zu den Diskursnormen nachzuweisen. Der methodischen Schwierigkeit, den Ausschluss Betroffener diskursiv zu rechtfertigen, steht die Unverzichtbarkeit einer solchen Option gegenüber, soll der Diskurs einer das Soziale Ideal verfolgenden Gemeinschaft nicht beliebig unterlauf- und instrumentalisierbar sein. Wie das Beispiel der Weimarer Republik zeigt, gilt dies insbesondere auch für die institutionalisierten Diskurse einer normativ verfassten Gemeinschaft (»Verfassungsschutz«). Die zweite Rahmennorm lässt sich formulieren als ein Egalitätsprinzip: »Alle Diskursteilnehmer haben in gleicher Weise Gelegenheit, Vorschläge zu unterbreiten und beliebige Vorschläge argumentativ zu stützen oder zu problematisieren!« Erläuterung: Auch diese Forderung ergibt sich aus dem Interesse an gewaltfreier Konfliktbewältigung im Diskurs.24 Alle, die in irgendeiner Form an Gremien23

Hier wird nun eine Beantwortung der Einwände möglich, die Tugendhat (1994, S. 171 ff.) gegen das Teilnahmeprinzip erhebt. Tugendhat suggeriert, dass wegen des Interesses an unparteiischen Entscheidungen der Ausschluss der Betroffenen geradezu unabdingbar sei. Nun bedeutet Betroffenheit trivialerweise Parteilichkeit, insofern jeder Betroffene per definitionem einen konfliktrelevanten Zweck verfolgt. Zum Problem wird das aber nur dann, wenn die Betroffenen – wie in Tugendhats Beispiel von Personen, die zum Überleben einer Organtransplantation bedürfen – nicht in der Lage sind, ihre Parteilichkeit im Diskurs zu transzendieren (siehe unten den Abschnitt 1.2.2 über »Haltungsnormen«). Nur dann ist – in einem methodisch nachgeordneten Schritt – ein Ausschluss Betroffener vom Diskurs in Erwägung zu ziehen. In jedem Fall führt Tugendhats Alternative in die größeren Schwierigkeiten: Nach Tugendhat müsste es nämlich generell am besten sein, Konflikte durch unbetroffene und damit unparteiische Richter entscheiden zu lassen. Dies impliziert, dass – da ja die Zustimmung der Betroffenen nach Tugendhats Voraussetzung irrelevant und daher hinsichtlich der Geltung auch nicht konstitutiv ist – sich der Geltungsanspruch normativer Urteile aus der Perspektive des »Beobachters« unter Rückgriff auf andere Geltungsgründe prüfen lassen muss. Wie sich ein solches Konzept zustimmungsunabhängiger normativer Geltung ohne Rückfall in metaphysischen Werterealismus in nachvollziehbarer Weise explizieren lassen könnte, bleibt aber auch bei Tugendhat unklar. 24 Sie entspricht der Regel 3.2. in Habermas (1996). Die aus Alexy (1978) übernommene dreigliedrige Formulierung lautet:

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arbeit beteiligt sind, wissen, worum es geht: Um die gängigen Tricks, derer sich manche Zeitgenossen gerne bedienen, um »ganz legal« die Unterbreitung oder Problematisierung von Vorschlägen in koordinierenden Beratungen zu verhindern (die geschickte Manipulation von Tagesordnungen gehört hier noch zu den eher plumpen Methoden). Unter der Perspektive des Sozialen Ideals handelt es sich dabei um gewaltsame Versuche zur Durchsetzung der jeweils eigenen Interessen. Eine dritte Rahmennorm findet Ausdruck im Konsensprinzip: »Die Beschlussfassung über die den Konflikt bewältigende Neuorganisation des Handelns vollzieht sich als Zustimmung aller Diskursteilnehmer zu einem Vorschlag!« Erläuterung: Das ist Habermas’ bekanntes Prinzip »D«.25 Seine Begründung ist trivial: Solange eine Konfliktpartei den zur Beschlussfassung vorliegenden Vorschlägen nicht zustimmt, dann wird sie entweder ihr Handeln nicht entsprechend adjustieren, oder sie wird zur Adjustierung gezwungen. In beiden Fällen kann selbstverständlich von gewaltfreier Konfliktbewältigung nicht die Rede sein. Eine sich an das Konsensprinzip richtende Frage ist, wie ihm gegenüber das übliche, »demokratische« Verfahren des Mehrheitsentscheids zu beurteilen ist. Wir werden hierauf in Abschnitt 1.3 noch zu sprechen kommen. Als vierte und letzte Rahmennorm formuliere ich das Gewaltfreiheitsprinzip: »Kein Teilnehmer darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang an der Wahrnehmung seiner diskursbezogenen Rechte gehindert werden!« Erläuterung: Auf dem Hintergrund, dass die Beratungen der gewaltfreien Konfliktbewältigung dienen sollen, ist das Prinzip trivial.26 Weniger trivial gestaltet sich hingegen die Beurteilung von Diskursen auf Gewaltfreiheit, da hier nicht nur auf eine Verhinderung der Wahrnehmung diskursbezogener Rechte durch physische Gewalt beziehungsweise offene oder implizite Drohungen zu achten ist. In unseren westlichen Gesellschaften geht die Gefahr vielmehr von subtilen Diskursverzerrungen aus, die sich außerdiskursiven (»Herrschafts-«)Verhältnissen verdanken, in denen die Diskursteilnehmer zueinander stehen (etwa Arbeitgeber/Arbeitnehmer oder Professor/Doktorand).

»a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern.« 25 Siehe Habermas (1996). 26 Die hier gewählte Formulierung entspricht wörtlich der Regel (3.3.) aus Habermas (1996) (bzw. Alexy (1978)).

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1.2.2 Haltungsnormen Während die erste Gruppe ethischer Diskursnormen den äußeren Rahmen der Diskurse reguliert, betrifft die zweite Gruppe, die Gruppe der Haltungsnormen, die von den einzelnen Diskursteilnehmern beim Vorbringen und Erwägen von Argumenten erwartete Einstellung oder Haltung. Als erste Haltungsnorm nenne ich das Unvoreingenommenheitsprinzip: »Argumentiere unvoreingenommen!« Erläuterung: Das Prinzip der Unvoreingenommenheit fordert die Diskursteilnehmer dazu auf, die konfligierenden Zwecke aller Parteien diskursiv gleich zu behandeln. Das heißt genauer, dass Argumente für oder gegen bestimmte Zwecke nicht deshalb stärker oder schwächer gewichtet werden dürfen, weil sie Argumente für oder gegen die eigenen Zwecke, die der Freunde, Gegner etc. sind. Diese Diskursnorm folgt direkt aus der Explikation der Gewaltfreiheit, nämlich insofern Gewalt bereits dann besteht, wenn Argumente nur relativ zu ihrer Eignung als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Zwecke beurteilt werden. Das Prinzip der Unvoreingenommenheit verlangt vom Einzelnen nicht, die eigenen Zwecke aufzugeben. Aber es verlangt, den Diskurs nicht als bloßes Mittel zur Durchsetzung dieser Zwecke, sondern als Mittel zur gewaltfreien Konfliktlösung zu begreifen. Mit der Forderung nach diskursiver Gleichbehandlung aller Zwecke verlangt das Prinzip von den Diskursteilnehmern, ihre Neigung, Argumente »im Licht« der eigenen (»subjektiven«) Zwecke zu beurteilen, zu überwinden.27 Lorenzen hat das Prinzip der Unvoreingenommenheit daher auch »Prinzip der Transzendierung der Subjektivität« oder »Prinzip der Transsubjektivität« genannt.28 Neben dem Unvoreingenommenheitsprinzip formuliere ich ein Ernsthaftigkeitsprinzip: »Argumentiere ernsthaft!« Erläuterung: Die Forderung nach Ernsthaftigkeit ist so gemeint, dass die Diskursteilnehmer keine Vorschläge und Argumente vortragen dürfen, die sie

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Es wäre noch zu prüfen, inwieweit die »Zumutung eines zweifachen Perspektivenwechsels«, die Wingert (1993, S. 252 ff.) propagiert, als positive Ausgestaltung dieser, gewöhnlich nur negativ formulierten Haltungsnorm gelten könnte. Nach Wingert sollen im Diskurs einerseits sowohl die »konkreten Anderen« als auch die »bloß repräsentierten Anderen« als Gleichberechtigte behandelt werden (erster Perspektivenwechsel), aber andererseits sollen trotz der in Bezug auf diskursive Rechte vorgenommenen Gleichbehandlung die »konkreten Anderen« auch in ihrer je individuellen Subjektivität respektiert werden (zweiter Perspektivenwechsel). 28 Erstmals in Lorenzen (1969, 7.).

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selbst nicht anerkennen.29 Beispielsweise dürfen keine Behauptungen aufgestellt werden, an deren Wahrheit man selbst nicht glaubt. Insbesondere dürfen keine Normen als »deckende« Argumente für singuläre Aufforderungen an andere vorgetragen werden, die man nicht selbst (als »Maximen«30) anerkennt. Anders ausgedrückt: Es darf nur mit solchen Normen argumentiert werden, die man (zumindest im Fall einer Einigung auf sie) auch selbst befolgen würde, wenn man sich in der einschlägigen Situation befände. Auch das Prinzip der Ernsthaftigkeit folgt unmittelbar aus dem Ziel der Gewaltfreiheit, da unernste (»persuasive«) Argumente offenbar nach Maßgabe dessen ausgesucht werden, was beim jeweiligen Diskurspartner »zieht«. Der explikative Beitrag des Prinzips der Ernsthaftigkeit liegt in seiner Hervorhebung der verpflichtenden Kraft diskursiv ausgehandelter Normen (siehe auch 1.3), wobei es diese auf die präsupponierte (Selbst-)Verpflichtung auf das Soziale Ideal zurückführt. 1.2.3 Argumentationsnormen Während die Rahmennormen den diskursiven Rahmen organisieren und die Haltungsnormen die von den Diskursteilnehmern erwartete Einstellung zum Ausdruck bringen, betrifft die Gruppe der Argumentationsnormen das Argumentationsverfahren selbst. Ich werde hier vier Argumentationsnormen formulieren und beginne dabei mit dem Umdeutungsprinzip: »Deute Zweckkonflikte als Mittelkonflikte!« Erläuterung: Der Versuch der Umdeutung konfligierender Zwecke zu bloß konfligierenden Mitteln geschieht durch Aufweis möglicher nichtkonfligierender Mittel. Der Konflikt kann dann schon durch bloße Änderung der Mittelwahl beseitigt werden. Dieses Prinzip ist das Argumentationsprinzip mit der höchsten Priorität, da bei einer erfolgreich vornehmbaren Umdeutung alle Parteien ihre Zwecke unmodifiziert weiterverfolgen und erreichen können. Das Umdeutungsprinzip ist auch auf der Metastufe in den Fällen anwendbar, wo Zwecke nur als »Unterzwecke« zur Erreichung anderer Zwecke (»Oberzwecke«) verfolgt werden. Das Prinzip ist hingegen nicht anwendbar, wenn sich die konfligierenden Zwecke nicht nur als bloße Mittel zur Erreichung weiterer Zwecke deuten lassen.31

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Das Ernsthaftigkeitsprinzip entspricht der Forderung nach Nichtpersuasivität in Kambartel (1979, S. 67). 30 Eine Maxime ist eine generell formulierte Selbstaufforderung. 31 Das bedeutet unter Anderem, dass das im Methodischen Konstruktivismus diskutierte »Moralprinzip« (siehe Schwemmer (1971, 4.) und Schwemmer (1979)), welches den Konfliktparteien eine Zwecktransformation explizit auch dann zumuten will,

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Das zweite Argumentationsprinzip ist das Verallgemeinerbarkeitsprinzip: »Argumentiere verallgemeinernd!« Erläuterung: Aufgrund der sich aus dem Sozialen Ideal ergebenden Forderung nach diskursiver Gleichbehandlung aller konfligierenden Zwecke sind an einzelne Personen oder Personengruppen gerichtete oder in Bezug auf singuläre Situationen formulierte Aufforderungen unter Rückgriff auf universelle und generelle Aufforderungen (Normen) zu begründen, die diese Aufforderungen als Einzelfälle implizieren.32 Wegen der Möglichkeit, die Bezugnahme auf singuläre Gegenstände syntaktisch zu »verstecken«, ist die Generalität auch semantisch zu gewährleisten.33 Ein weiterer Trick, die Forderung nach Generalität zu unterlaufen, ist die Formulierung von Situationstypen derart, dass über bekannte empirische Zusammenhänge gewährleistet ist, dass diese Typen an bestimmten Personen »kleben« – ein prominentes Beispiel wäre etwa die Hautfarbe. Ebenfalls recht offensichtlich ist die Generalisierung von Aufforderung auf Situationen, in die man selbst erwartbar nicht kommt – etwa wenn manche Politiker als wenn die zu ändernden Zwecke nicht bloß als Mittel zur Erreichung von Oberzwecken verfolgt werden, nicht als Teil der Explikation des Sozialen Ideals verstanden werden kann. Das liegt zum einen daran, dass eine Oberzweck-Unterzweck-Hierarchie nicht mit einer Präferenzordnung der betreffenden Zwecke zusammenstimmen muss, weil das Oberzweck-Unterzweck-Verhältnis nur formal als Zweck-Mittel-Verhältnis bestimmt ist (siehe hierzu auch Hartmann (1996, S. 99 Anm.)). Urlaub ermöglicht mir vielleicht einen Besuch bei Verwandten, aber daraus folgt nicht, dass ich den Besuch dem Urlaub vorziehen würde. Aber auch unter der Annahme, dass der Oberzweck gegenüber dem Unterzweck in der Tat präferiert wird, ist die Forderung des Prinzips, im Konfliktfall nach verträglichen Oberzwecken zu suchen und dann relativ zu diesen Oberzwecken neue, nichtkonfligierende Unterzwecke zu setzen, wohl nur für den Fall einsichtig, dass sich die Unterzwecke tatsächlich als bloße Mittel zur Erreichung der Oberzwecke verstehen lassen. Ich möchte nicht sagen, dass eine solche Forderung ganz abwegig ist. Die dahinter stehende, auf das Soziale Ideal gestützte Intuition wird aber besser eingefangen durch das etwas später von mir besprochene »Kompromissprinzip«. 32 In seinen späten Schriften vertrat Lorenzen die Auffassung (siehe Lorenzen (1987, S. 250.)), dass der Versuch, das Universalisierungsprinzip auf einer individual-ethischen Basis zu erhalten, zu »Scheinbegründungen« führe. Er schlug stattdessen vor, die universalisierende Argumentation durch Beschränkung der ethischen Argumentation auf politische Praxis im engeren Sinne (»Protopolitologie«) zu begründen: in der Gesetzgebungspraxis geht es ja um die Etablierung von Normen. Der Verzicht auf eine vorund außerpolitische Ethik ist aber ein zu starker und zudem ganz unnötiger Rückzug, da sich die Verallgemeinerungsforderung direkt aus der Forderung nach diskursiver Gleichbehandlung aller konfligierenden Zwecke ergibt. 33 Siehe hierzu auch Hartmann (1993, S. 62 ff.). Das Problem wird dort zwar im Hinblick auf die Formulierung von Naturgesetzen diskutiert, die Ergebnisse sind jedoch auf die Formulierung von Normen direkt übertragbar.

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»Leistungsanreiz« das grundsätzliche Befristen des Dienstverhältnisses von Hochschullehrern auf jeweils 5 Jahre vorschlagen. Die Forderung nach Ernsthaftigkeit im Ernsthaftigkeitsprinzip zielt gerade auch auf die genannten Missbräuche des Verallgemeinerbarkeitsprinzips ab. Verallgemeinerbarkeit plus Ernsthaftigkeit ergibt den »Kategorischen Imperativ« Kants: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.«34 Allerdings leidet Kants Formulierung noch unter einer monologischen Verkürzung, da der Diskurs hier auf den Diskurs des Subjektes mit sich selbst reduziert ist.35 Weiterhin benötigt man im Rahmen praktischer Argumentationen ein Wertungsprinzip: »Beurteile das relative Gewicht konfligierender Zwecke in Bezug auf einen gemeinsamen Bewertungsrahmen!« Erläuterung: Das Prinzip der Verallgemeinerbarkeit führt nur für diejenigen Fälle direkt zu einer Entscheidung über die Neuorganisation des Handelns, wenn die Argumentierenden die Handlungsanweisungen unter Bezug auf bereits gemeinsam akzeptierte Normen rechtfertigen können. Lassen sich solche Normen nicht angeben bzw. lässt das prädiskursive Einverständnis die Behandlung der Konfliktsituation unterdeterminiert, so ist man zunächst wieder auf das Prinzip der Unvoreingenommenheit zurückgeworfen. Aus der Unvoreingenommenheit folgt aber zunächst die grundsätzliche Gleichbehandlung aller Zwecke. Das heißt beispielsweise, dass mein Interesse an billigem Kaffee vorerst genauso ernst genommen werden muss wie das Interesse der Plantagenarbeiter an fairen Löhnen. Ohne zusätzliche Kriterien für die Beurteilung von Zwecken nach ihrem »Gewicht« müsste daher in letzter Konsequenz jeder snobistischen Flause der gleiche Anspruch zugestanden werden wie jedem noch so elementaren Bedürfnis. Mit der Einführung des Wertungsprinzips unterscheidet sich der in diesem Artikel vertretene Ansatz von (Beratungs-)Ethikkonzepten, die sich allein auf »Symmetrieprinzipien« stützen. Aufgrund der oben genannten Probleme stellt das Wertungsprinzip aber ein unverzichtbares Gegengewicht zu symmetrischen Prinzipien dar, die für sich alleine genommen »leer laufen« müssen, da sie das praktische Argumentieren völlig unterbestimmen. 34

Siehe Kant (1788, Akad.-A. S. 54). Der Kategorische Imperativ impliziert seinerseits die bereits in der Antike nachweisbare Goldene Regel (»Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu«), insofern nämlich eine Maxime den Universalisierungstest nach Maßgabe der Ernsthaftigkeit unter anderem dann nicht besteht, wenn man einer (durch eine beliebige Person) als Befolgung der einschlägigen Aufforderung ausgeführten Handlung nicht zustimmen würde, falls man selbst durch sie betroffen wäre. 35 Siehe hierzu Habermas (1996, S. 76 ff.).

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Dennoch bringt das Wertungsprinzip auch eine noch aufzulösende Schwierigkeit mit sich: Offensichtlich ist nämlich ein gemeinsamer Rahmen für die Bewertung von konfligierenden Zwecken nicht einfach als naturgegeben unterstellbar, sondern muss vielmehr selbst erst diskursiv erarbeitet werden. Die Grundlage eines solchen Rahmens bildet die material-diskursive Auszeichnung von Bedürfnissen, d. h. von Interessen, deren Wahrung für menschliches Leben unverzichtbar ist. Sollen Bedürfnisse erst diskursiv ausgezeichnet werden, dürfen diese Diskurse selbstverständlich noch nicht vom Wertungsprinzip Gebrauch machen. Auf die Frage, wie sich über Bedürfnisse intersubjektiv Einigung erzielen lässt, werde ich im letzten Abschnitt dieses Artikels noch zurückkommen. Als letzte Argumentationsnorm formuliere ich ein Kompromissprinzip: »Gehe im Falle nicht umdeutbarer Konflikte gleichwertiger Zwecke einen Kompromiss ein!« Erläuterung: Manche Konflikte sind, da sie nicht zu Mittelkonflikten umgedeutet werden können, nicht im strengen Sinne lösbar. Dennoch lässt sich in vielen Fällen zumindest eine Bewältigung im Sinne des Unvoreingenommenheitsprinzips erzielen, indem nämlich jede Konfliktpartei in gleichem Maße auf die volle Durchsetzung ihrer Zwecke verzichtet. Das Kompromissprinzip hebt insbesondere auf die Vermeidung von Schwierigkeiten ab, die viele Ethiken mit dem Problem der Verteilung von Mangelgütern haben.36 Wenn wir Beratungen gerecht nennen – nämlich dem Sozialen Ideal gerecht –, falls sie den vom Sozialen Ideal präsupponierten Prinzipien folgen, so ist damit die Frage nach der normativen Organisation gerechter Beratung beantwortet – wenn auch nur der Form nach, und nicht durch abschließende Angabe einer in allen Aspekten vollständigen Prinzipienliste. Abgeleitet hiervon können wir auch die Konsensergebnisse gerechter Beratungen – also die beschlossenen Aufforderungen – »gerecht« nennen. Diese Definition enthält keinen »naturalistischen« Fehlschluss, da sie nicht aus einer Beobachter- sondern einer Teilnehmerperspektive vorgenommen wurde, in der das Soziale Ideal bereits als anerkannt unterstellt ist.37 Unsere faktisch durch36

Schwierigkeiten, die leider auch das Schwemmersche Moralprinzip trotz seines offensichtlichen Kompromisscharakters nicht löst. Allerdings liefert auch das Kompromissprinzip keine Lösung für das Problem der zwei Schiffbrüchigen und der Planke, die nur einen Menschen trägt. Einwände dieser Art unterstellen stillschweigend, dass eine adäquate Ethik für jede denkbare Konfliktsituation ein Lösungsverfahren bereitzustellen hat. Dem Autor scheint diese Eigenschaft hingegen eher ein genereller Hinweis auf Inadäquatheit der betreffenden Ethik zu sein. 37 Ansonsten ist ›gerecht‹ ein mehrstelliger Prädikator: x wird y gerecht hinsichtlich Aspekt z. Insofern gibt es Gerechtigkeit selbstverständlich auch in traditionalen Kul-

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geführten Beratungen realisieren Gerechtigkeit immer nur mehr oder weniger gut, können aber prinzipiell stets selbst in weiteren Diskursen auf Gerechtigkeit hin geprüft werden. Daher ist die Gerechtigkeit kein schlichtes Faktum, sondern ein die koordinierenden Diskurse leitendes Ideal – eine »regulative Idee«, mit Kant gesprochen.

1.3 Moralischer Subjektbereich: Pflichten und die Organisation nach Innen Wie wir gesehen haben, spielen in den koordinierenden Beratungen Normen eine wichtige Rolle. Zum einen sind da die ethischen Diskursnormen, zum anderen die materialen Normen, mit deren Hilfe für oder gegen ein Handeln oder eine Zwecksetzung argumentiert wird. Die für eine gelungene Konfliktlösung oder -bewältigung nötige Neuorganisation des Handelns wird strukturiert durch einen Rekurs auf Normen, die entweder bereits Bestandteil des prädiskursiven Einverständnisses waren, oder über die im Diskurs explizit Einigung erzielt wurde. Es ergibt sich nun im Zusammenhang mit der Tatsache, dass Normen universell formuliert sind, die Frage, wie der Bereich des pragmatischen Allquantors, der die Universalisierung ausdrücken soll, genauer zu charakterisieren ist. Das wird gewöhnlich die Frage nach dem (ethischen oder moralischen) Subjektbereich genannt. Stillschweigend auf Vorverständnisse rekurrierend wurde dieser Bereich von mir im ersten Abschnitt zwar bereits als der Bereich der Personen bezeichnet, aber dies führt zunächst nur zu einer Umformulierung unseres Problems: Was ist eine Person? Ersichtlich ist dies keine schlicht empirische Frage. Vielmehr geht es darum, was wir im Hinblick auf den Zweck des Unternehmens der gewaltfreien Konfliktlösung unter einer »Person« verstehen sollten. Nach unserem Vorverständnis fallen beispielsweise Tiere nicht unter den Personbegriff. Der systematische Grund hierfür ist offensichtlich: Zwar kann unser Handeln mit dem Tun der Tiere konfligieren, aber diese Konflikte können andererseits nicht im Rahmen koordinierender Beratungen unter Beteiligung der Tiere angegangen werden. Daher ist es nicht sinnvoll, Normen an Tiere zu adressieren, sondern nur an diejenigen Lebewesen, deren Tun im Rahmen koordinierender Beratungen argumentationszugänglich ist. Damit haben wir die Argumentationszugänglichkeit als notwendige Bedingung der Personalität formuliert. Da aber andererseits jedes Lebewesen,

turen – nur ist die Hinsicht eine andere und besteht statt im Sozialen Ideal etwa im Willen Gottes. Mit Bezug auf das »Was« der Gerechtigkeit, d. h. den jeweiligen Inhalt gerechter Aufforderungen, werden üblicherweise weitere Unterscheidungen getroffen, z. B. spricht man von Verteilungsgerechtigkeit, ausgleichender Gerechtigkeit, politischer Gerechtigkeit usw.

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welches diese notwendige Bedingung erfüllt, auch an koordinierenden Beratungen, von deren Inhalten es betroffen ist, teilnehmen darf, ist die notwendige Bedingung der Argumentationszugänglichkeit zugleich auch hinreichende Bedingung der Personalität: Die Personen, die moralischen Subjekte, sind also die diskursfähigen Lebewesen.38 Dass der moralische Subjektbereich mit dem Bereich der diskursfähigen Lebewesen zusammenfällt, impliziert aber nicht, dass in faktischen Diskursen prädiskursiv akzeptierte bzw. diskursiv vereinbarte Normen auch für alle diskursfähigen Lebewesen gelten bzw. verpflichtend sind. Das ist wieder der bereits im ersten Teil erwähnte Unterschied zwischen der universellen Formulierung bzw. dem universellen Geltungsanspruch von Normen und der Einlösung dieses Anspruches auf universelle Geltung. Da Normen nicht auf singuläre Gegenstände, und damit auch nicht auf faktische Beratungen und deren Teilnehmer Bezug nehmen, transzendiert der Bereich des in ihnen auftretenden universalisierenden Allquantors immer den Bereich der faktischen Diskursteilnehmer in Richtung auf den gesamten moralischen Subjektbereich und schafft dadurch einen »Geltungsanspruchsüberschuss«, der gegenüber jedem neu hinzukommenden Diskursteilnehmer von neuem einzulösen ist. Der moralische Subjektbereich steckt also nie den faktischen, sondern vielmehr nur den potentiellen Geltungsbereich von in faktischen Diskursen vereinbarten Normen ab. Selbstverständlich kann niemand von wem auch immer unter Rückgriff auf irgendwelche »absoluten Werte« oder »a priori geltende Vernunftprinzipien« verpflichtet werden – hier greift wieder die kulturrelativistische Argumentation.39 »Verpflichtung ist vielmehr eine Sache der Psychologie moralischer

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Es ist mir klar, dass diese knappen Ausführungen der ausgedehnten Debatte um den Personbegriff nicht gerecht werden. Für die hier verfolgten Zwecke reichen sie jedoch hin. In gebührender Ausführlichkeit, und unter Einbezug der Debatte seit Locke, findet sich meine Position zum Personbegriff (und damit verbundenen Begriffen wie dem der personalen Identität) entwickelt in Merkel/Boer/Fegert/Galert/Hartmann/Nuttin/Rosahl (2007, 5). 39 Dem kulturrelativistischen Angriff auf absolute Wertethiken fällt im übrigen auch der Utilitarismus zum Opfer. Dieser ist zu den absoluten Wertethiken zu rechnen, insofern er die Maximierung des »allgemeinen Wohlergehens« zum absoluten Wertmaßstab für die moralische Beurteilung von Handlungen erhebt. Offenbar kann für die Auszeichnung eines solchen Wertmaßstabes (wie auch immer seine konkrete, materiale Ausgestaltung aussehen mag) nicht wieder utilitaristisch argumentiert werden, ohne dabei in einen Begründungszirkel zu geraten. Wie für alle absoluten Wertethiken, so ist es auch für den Utilitarismus charakteristisch, dass das in einer Situation jeweils moralisch Gebotene im Prinzip von einer einzigen, mit dem nötigen Wissen ausgestatteten, aber ansonsten unbeteiligten Person »ausgerechnet« werden kann – und zwar über die Köpfe aller Betroffenen hinweg. Aus der hier vertretenen diskursethischen Perspektive

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Empfindungen« wird der Naturalist hier ergänzen wollen. Aber Psychologie interessiert uns an dieser Stelle nicht. Wir wollen ja nicht wissen, unter welchen Umständen sich jemand verpflichtet fühlt, sondern wodurch jemand verpflichtet wird. Dieses Problem hatten wir aber im Prinzip bereits in Abschnitt 1.1 bewältigt, und zwar durch Beschränkung der Reichweite der Argumentation auf eine Diskursgemeinschaft, die sich bereits dem Sozialen Ideal und damit unter anderem dem Prinzip der Ernsthaftigkeit verpflichtet hat.40 Das ist der wahre Kern des Kontraktualismus:41 Dass es keine absoluten Werte oder a priori geltenden Imperative gibt, hindert ja niemanden daran, sich selbst zu verpflichten. Der semantische Witz am Begriff des Sich-Verpflichtens ist, dass man zwar frei ist, eine Verpflichtung einzugehen oder auch nicht, dass man aber nicht genauso frei ist, die Verpflichtung wieder aufzuheben – jedenfalls nicht, ohne sich zugleich aus der Diskursgemeinschaft herauszudefinieren, innerhalb der man die Verpflichtung eingegangen ist. Selbstverständlich kann man niemandem beweisen, dass zum Beispiel Versprechen gehalten werden müssen. Das Argument ist hier aber auch nur, dass man nicht einer Diskursgemeinschaft angehören kann, ohne die für sie konstitutiven Normen anzuerkennen. Ergebnis meiner Überlegungen bis hierher war, dass die innerhalb einer Diskursgemeinschaft in orientierenden und koordinierenden Diskursen vereinbarten Normen (trotz oder wegen ihres Geltungsanspruchsüberschusses) nur die Mitglieder der Gemeinschaft verpflichten. Dabei ist der methodisch primäre Fall der, dass alle Mitglieder auch an der Beschlussfassung mitwirken. Methodisch nachgeordnet ist dagegen die indirekte Verpflichtung, die dadurch zustande kommt, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft beschließen, ihre Gemeinschaft in der Form normativ zu verfassen, dass gewählte Delegierte stellvertretend für die ganze Gemeinschaft über bestimmte Normen (nämlich die Gesetze) beraten. Das ist in unseren posttraditionalen Gemeinschaften der Normalfall.

ist dies selbstverständlich inakzeptabel, da die Geltung moralischer Normen immer an die freie Zustimmung im Diskurs gebunden bleibt. Das heißt nicht, dass utilitaristische Argumentationsfiguren in Diskursen niemals statthaft sind. Sie sind jedoch methodisch sekundär, d. h. sie legitimieren nicht per se, sondern bedürfen vielmehr selbst diskursiv vollzogener Anerkennung. 40 Die Verpflichtung auf das Soziale Ideal impliziert die Verpflichtung auf das Prinzip der Ernsthaftigkeit, aber die Umkehrung gilt nicht. Das bedeutet, dass das Prinzip der Ernsthaftigkeit auch in Gemeinschaften befolgt werden kann, die sich nicht dem Sozialen Ideal (sondern beispielsweise dem Willen Gottes) verpflichtet fühlen. 41 Der in seinen historischen Ausformungen bei Hobbes, Locke und Rousseau allerdings immer naturrechtlich kontaminiert war.

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Auch wenn man von einer dem Sozialen Ideal verpflichteten Gemeinschaft ausgeht, bleibt hier aber zunächst die Schwierigkeit, dass Verfassungen faktisch nie als Ergebnis eines orientierenden Diskurses der gesamten Gemeinschaft zustande kommen. Selbst eine »Volksabstimmung« über die Verfassung ändert daran nichts, und überhaupt bliebe in jedem Fall das Problem des Generationenwechsels bestehen, sodass schließlich immer die Wenigsten an der normativen Verfassung ihrer Gemeinschaft mitgewirkt haben. Und dennoch kommt es hier zu einer indirekten Selbstverpflichtung des Einzelnen durch Inanspruchnahme des Systems, in das er hineinwächst. Um dies einsichtig machen zu können, muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass es nicht nur ein Problem der Verpflichtung, sondern auch ein komplementäres Problem des Erwerbs von Rechten gibt – Sympathisanten des Kulturrelativismus neigen oft dazu, diesen Punkt zu übersehen. Wenn es aber keine absoluten Werte gibt, dann gibt es nicht nur keine universell und a priori geltenden Verpflichtungen, sondern auch keine universell und a priori geltenden Rechte. Vielmehr lässt sich in jeder Gemeinschaft die Anerkennung von Rechten nur zugleich mit der Übernahme von Verpflichtungen erwerben, oder andersherum ausgedrückt: Verpflichtungen werden indirekt auch durch die Inanspruchnahme von Rechten eingegangen. Dass man sich durch Inanspruchnahme des Systems der normativen Verfassung der Gemeinschaft verpflichtet, heißt selbstverständlich nicht, dass keine Kritik oder Reform dieser Verfassung möglich ist. Ich argumentiere zwar noch immer aus der Teilnehmerperspektive einer Gemeinschaft, die dem Sozialen Ideal verpflichtet ist, aber gerade Gemeinschaften mit diesem Selbstverständnis müssen ihre faktischen Verfassungen immer auf Angemessenheit im Hinblick auf das Soziale Ideal überprüfen. Ich habe in diesem Abschnitt bis jetzt immer nur die (allerdings durchaus zentrale) Frage behandelt, wie Verpflichtung überhaupt zustande kommt. In diesem Zusammenhang ist aber auch die weitere Frage wichtig, was eigentlich aus dem Nichteinhalten von Verpflichtungen folgen darf bzw. soll. Insofern die beim Übertreten rein sittlicher bzw. moralischer Normen übliche Form der Missbilligung im Wesentlichen in der Einschränkung der Bereitschaft zu weiterer Kooperation bzw. Interaktion besteht, stellt sie aus ethischer Sicht keine besondere Schwierigkeit dar. Anders sieht es hingegen im Falle von Rechtsnormen aus, die ja – wie bereits in Abschnitt 1.1 betont – »sanktionsbewehrt« sind, was insbesondere42 bedeutet, dass ihre Übertretung mit Bestrafung verbunden ist. Zwar sind Sanktionierungsvorschriften für Normübertretungen selbst materiale Normen, und gehören daher zum legislativen Diskurs, phi42

Darüber hinaus besteht die Sanktionsbewehrtheit von Rechtsnormen darin, dass der in der verletzten Norm geforderte Zustand (soweit erforderlich und möglich) durch institutionell exekutierten Zwang nachträglich durchgesetzt wird.

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losophische Ausführungen zum Thema Strafe sind aber dennoch möglich, soweit sie allgemein apriorischer Art sind, d. h. sich semantisch auf das Soziale Ideal beziehen lassen. Das philosophische Grundproblem im Zusammenhang des Themas Strafe ist nun, dass Strafe ganz offensichtlich Gewaltausübung ist. Inwieweit ist Strafe also auf dem Hintergrund des Sozialen Ideals überhaupt rechtfertigbar? Zunächst lässt sich hier eine prinzipielle Zulässigkeit (im Sinne von bloßer Unverbotenheit) von Sanktionen gegen Gesetzesbruch wieder über den Verweis darauf rechtfertigen, dass die Inanspruchnahme von Rechten mit der Anerkennung von Pflichten einhergeht: Gesetzesbruch bedeutet implizite Nichtanerkennung von Pflichten, und damit – jedenfalls in entsprechendem Maße – eine Einschränkung der Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rechten. Diese Ausführung hilft aber insofern für sich allein nicht sehr viel weiter, da sie nicht nur die Frage unterbestimmt lässt, wie sich die Formulierung »in entsprechendem Maße« mit Blick auf die je zulässige Härte von Sanktionen nun eigentlich konkretisieren lässt, sondern zudem aus der bloß formalen Zulässigkeit von Strafe ja noch nicht folgt, dass man auch wirklich strafen soll. Im Hinblick auf das letztere Problem rivalisieren seit jeher zwei Auffassungen miteinander: Strafe als Mittel zur Verbrechensprävention und Strafe als Vergeltung (Retribution) bzw. Sühne.43 Auch wenn der Wunsch nach Vergeltung aus der Perspektive von Verbrechensopfern oder von mit Opfern sympathisierenden Personen durchaus nachvollziehbar, natürlich und psychisch gesund ist, so steht auf dem Hintergrund posttraditionalen Philosophierens dennoch außer Zweifel, dass der rechtfertigende Zweck,44 gewisse Normen als Gesetze überhaupt mit Sanktionen zu bewehren, darin besteht, von ihrer Überschreitung möglichst abzuschrecken. (Darunter fällt auch die so genannte »erziehende Wirkung«, die in nichts anderem besteht als der Abschreckung des je 43

Während Vergeltung die Seite des Opfers betont, betrifft Sühne die des Täters, der die auf sich genommene »Schuld« abträgt. Beide Begriffe besitzen einen gewissen Hintergrund im Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit: insbesondere dort, wo der Zustand vor der Normüberschreitung nicht in vollem Umfang wiederhergestellt bzw. der entstandene Schaden kompensiert werden kann, soll die Strafe zumindest so etwas wie ein »Genugtuungsäquivalent« erbringen. Ein auf solche Weise hergestellter Zusammenhang zur ausgleichenden Gerechtigkeit ist jedoch metaphysischer Art und hilft uns unter den Bedingungen der Posttraditionalität insofern nicht wirklich weiter. Man beachte zudem, dass Maßnahmen, die im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit dazu dienen, in wirklich konkreter Weise den Zustand vor der Normüberschreitung soweit möglich wieder herzustellen – beispielsweise Schadenersatz – üblicherweise gar nicht als zur Strafe gehörig angesehen werden, welche vielmehr zusätzlich verhängt wird. 44 Das heißt also, dass faktisch durchaus noch andere Zwecke im Hintergrund eine Rolle spielen können (etwa solche, die mit traditionalen Vorstellungen von »Schuld« und »Sühne« im oben besprochenen Sinne zusammenhängen), die sich aber nicht als rechtfertigende Zwecke eignen.

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konkreten Täters von der Tatwiederholung45). Hiergegen wird oft eingewandt, dass – ginge es wirklich nur um Abschreckung – die »Bestrafung« unschuldiger Personen (beispielsweise über »Sippenhaft«) als eventuell noch viel wirkungsvolleres Mittel ernsthaft zu erwägen wäre. Weil dies aber schlicht abgelehnt werde, könne Abschreckung eben nicht das primäre Ziel von Strafe sein. Dieser Einwand scheint mir allerdings bestenfalls gegenüber utilitaristischen Positionen eine gewisse Stichhaltigkeit zu besitzen. Ansonsten gilt, dass der Zweck selbstverständlich für sich allein noch nicht die Mittel heiligt: Erstens wären konkret materiale Sanktionierungsvorschläge der genannten Art nicht allgemein zustimmungsfähig (entsprechende Maximen bestünden noch nicht einmal den Test auf Universalisierung unter der Ernsthaftigkeitsbedingung). Zweitens ist die so genannte »Bestrafung Unschuldiger« schon semantisch keine Bestrafung, sondern schlichte Gewaltausübung gegen Unbeteiligte, und als solche mit dem Sozialen Ideal unverträglich. Ähnlich lässt sich der Einwand kontern, man müsse – ginge es primär um Abschreckung – erwägen, bereits kleine Ordnungswidrigkeiten mit hohen Gefängnisstrafen zu ahnden. Zwar lässt dieser Einwand »Unschuldige« aus dem Spiel, aber auch er berücksichtigt nicht, dass aus der Behauptung, dass der primäre Zweck der Sanktionierung von Gesetzesbrüchen in der Verbrechensprävention besteht, keineswegs folgt, dass das einzige Beurteilungskriterium für die Angemessenheit einer Strafe in ihrer abschreckenden Wirkung besteht. Beispielsweise muss, wie bereits angedeutet, berücksichtigt werden, dass die Nichtanerkennung von Pflichten nur in entsprechendem Maße eine Einschränkung der Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rechten bedeuten kann. Und insofern Strafe immer die Deprivation von ansonsten durch Rechte gesicherten Gütern ist, muss das Strafmaß einer gerechten Strafe dies zwangsläufig berücksichtigen.46 Was aber wäre, wenn sich nachweisen ließe, dass die Aussicht auf Strafe bei bestimmten Verbrechen (etwa Sexualverbrechen oder Völkermord) auf die potentiellen Täter nicht wirklich abschreckend wirkt? Müsste man in solchen Fällen die Bestrafung nicht unterlassen? Hier ist zum einen darauf hinzuweisen, dass im Falle unwirksamer Abschreckung wegen Wiederholungsgefahr

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Moralische Besserung bzw. Einsicht ist mit Sicherheit nicht Folge der Strafe

selbst. 46

Dies implizit gegen Kant, insofern er meint, dass man zur Begründung der Forderung, dass das Strafmaß dem Vergehen angemessen sein solle, auf das Talionsprinzip zurückgreifen müsse: »Nur das Wiedervergeltungsrecht (jus talionis), aber, wohl zu verstehen, vor den Schranken des Gerichts (nicht in deinem Privaturteil), kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben«. Siehe Kant (1797, Erster Teil, II.E). Auf das Talionsprinzip werde ich weiter unten noch etwas ausführlicher eingehen.

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strafunabhängig auf das Mittel der Sicherheitsverwahrung47 zurückgegriffen werden kann, und zum anderen (und wichtiger) darauf, dass es keineswegs zwingend, sondern eher ungereimt ist, die Frage der abschreckenden Wirkung kasuistisch für jeden Typus von Gesetzesbruch bzw. Gesetzesbrecher einzeln zu klären und die Strafe dann allein hiernach zu bemessen. Ich hatte bereits mehrfach erwähnt, dass das Strafmaß nicht beliebig sein kann, sondern der Schwere des Gesetzesbruchs proportional sein muss. Aus Gründen der normativen Gleichbehandlung muss dann aber diesbezüglich Kohärenz gewahrt werden – unabhängig von der Abschreckungswirkung im Einzelfall. Schon mit Blick auf die Vergleichbarkeit ist es auch sinnvoll, institutionell zu exekutierende Strafe ausschließlich über zuvor festgelegte Strafarten zu realisieren. Zwar ist schon das bis mindestens auf den Codex von Hammurabi zurückgehende Talionsprinzip (»Auge um Auge, Zahn um Zahn«) ein Versuch, Verhältnismäßigkeit beim Strafmaß zu gewährleisten. Abgesehen von seinem Bezug zu den traditional-metaphysischen Konzepten »Vergeltung« und »Sühne«, welche uns auf dem Hintergrund posttraditionalen Philosophierens nicht zur Verfügung stehen, scheitert das Prinzip aber – um im Bild zu bleiben – auch schon daran, dass man beispielsweise einem zahnlosen Schläger keinen Zahn ausbrechen kann. Das Talionsprinzip wird in vielen posttraditionalen Gesellschaften wegen seines reinen Vergeltungscharakters und dabei insbesondere wegen der Implikation, dass als Handlungsschema des Strafens gerade das ansonsten als Verbrechen geltende gewählt werden muss, nicht nur für archaisch, sondern sogar für barbarisch gehalten. Dennoch stellte das Prinzip historisch einen Fortschritt dar, indem es nämlich die bis dahin üblichen Strafexzesse und ungezügelten Rachezüge (beispielsweise durch Auslöschen der gesamten Sippe eines Mörders) untersagte. Zudem ist erwähnenswert, dass die in Rechtskontexten unerlässlichen Unterscheidungen zwischen »vorsätzlich«, »fahrlässig«, »Versehen« und »Unfall« (auf die ich hier nicht weiter eingehen werde) bei seiner Anwendung ebenfalls bereits im antiken Mesopotamien Berücksichtigung fanden. Liest man es im Sinne von »Gleiches höchstens mit Gleichem vergelten«, erhebt das Talionsprinzip vom Inhalt (nicht von seinem metaphysischen Bezug auf Vergeltung) her als einschränkendes Prinzip auch für das Strafrecht posttraditionaler Gesellschaften insoweit zu Recht Anspruch auf Geltung, als 47

Sicherheitsverwahrung dient der präventiven Verhinderung der Wiederholung sehr schwerer Delikte, wenn absehbar ist, dass Strafandrohung mit Bezug auf einen konkreten Täter nicht bzw. nicht mehr abschreckend wirkt, das In-Freiheit-Setzen des Täters also allgemeingefährlich wäre. Daher ist eine sich an eine Freiheitsstrafe für ein Verbrechen anschließende Sicherheitsverwahrung keine Strafe für die betreffende Tat, sondern eine Maßnahme, die von jener Strafe streng zu unterscheiden (und eigens, eben über die »Allgemeingefährlichkeit«, zu rechtfertigen ist).

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es in konkreter Weise auf mögliche Fälle verweist, in welchen die Strafe über das Maß dessen, was mit Bezug auf den Gesetzesbruch implizit an Rechten verwirkt wird, in eindeutiger Weise hinaus ginge. Ansonsten benötigen wir aber ein auf Begriffen von Schuld,48 Vergeltung und Sühne basierendes Prinzip nicht, da ein proportionalisierendes Zumessungsprinzip bereits gerade darüber begründet ist, dass die Nichtanerkennung von Pflichten nur in entsprechendem Maße die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rechten einschränken kann. Weil die körperliche Gewalt zwar nicht den einzigen, aber doch den paradigmatischen Fall von Gewalt darstellt, und in dem Sozialen Ideal verpflichteten Gemeinschaften insofern schon aus Gründen der pädagogischen Kohärenz vermieden werden sollte,49 sind Körperstrafen im Strafrecht der meisten posttraditionalen Gesellschaften heute de facto nicht mehr vorgesehen50 – stattdessen haben sich als so genannte »Hauptstrafen« Geld- und Freiheitsstrafen durchgesetzt.51 Ich möchte das Thema Strafe nicht verlassen, ohne auf die umstrittene Frage der Berechtigung der Todesstrafe eingegangen zu sein. In allen Ländern, in welchen sie überhaupt Anwendung findet, wird sie jedenfalls auf Mord angewandt. Darüber hinaus findet sie (in verschiedenen Ländern variierend) auch auf Raub mit Todesfolge, Vergewaltigung, Entführung, Landesverrat, Spionage, Drogenhandel, Drogenbesitz und sogar Homosexualität Anwendung. Wird die Berechtigung der Todesstrafe aus dem Talionsprinzip hergeleitet, dann müsste sie eigentlich eingeschränkt werden auf Mord bzw. Verbrechen, die den Tod anderer Menschen bewusst in Kauf nehmen. Allerdings wird die Todesstrafe stattdessen häufig gerade auch unter Verweis auf das Abschreckungsprinzip

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»Schuld« hier, wie bereits erwähnt, verstanden als das, was man – so wie Schulden – »auf sich lädt« (aufnimmt) und »sühnt« (abträgt). Sofern Schuld (und Unschuld) nur im Sinne von Täterschaft unter Bedingungen der Zurechnungsfähigkeit (Verantwortlichkeit) verstanden ist, sehe ich hingegen keine Schwierigkeit. Im Gegenteil ist der Begriff der Verantwortlichkeit für unsere Rechtspraxis in einem starken (d. h. Antideterminismus implizierenden) Sinne unverzichtbar. Zum damit angesprochenen Problem der Willensfreiheit und seiner (inkompatibilistischen) Auflösung siehe Hartmann (2000). 49 Psychologisch relevant ist hier insbesondere die Gefahr unerwünschter Ergötzung an körperlicher Gewalt gegenüber jenen, die es – aufgrund von Verurteilung – »ja verdient haben«. 50 Der Abschaffung körperlicher Strafen im Strafrecht selbst korrespondiert die strafrechtliche Nichttolerierung körperlicher Züchtigung im Erziehungsbereich übrigens de facto nicht immer bzw. offenbar nur mit einer gewissen historischen Verzögerung. 51 Daneben existieren in der Regel dennoch zusätzlich Fälle so genannter »Nebenstrafen«, wie insbesondere Fahrverbot.

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zu rechtfertigen versucht. Daher ist auch hier noch einmal der Hinweis wichtig, dass für Gemeinschaften, welche sich unter der Bedingung der Posttraditionalität dem Sozialen Ideal verpflichtetet sehen, der primär rechtfertigende Zweck von sanktionierten Rechtsnormen zwar in der Abschreckung (und nicht Vergeltung und Sühne) besteht, dies jedoch nicht bedeutet, dass das Maß der Abschreckung auch das einzige Beurteilungskriterium darstellt. Wir hatten oben gesehen, dass bereits auf dem Hintergrund des Sozialen Ideals ein proportionalisierendes Zumessungsprinzip für Strafe in Kraft ist, und dass das Talionsprinzip (inhaltlich), zumindest als einschränkendes Prinzip gelesen, dieses Zumessungsprinzip etwas konkretisiert. Das bedeutet aber, dass eine dem Sozialen Ideal verpflichtete Gemeinschaft die Todesstrafe überhaupt nur eingeschränkt mit Bezug auf vorsätzliche Tötung ohne Einverständnis des Getöteten material diskutieren kann. Aus posttraditionaler Sicht gibt es einerseits auch für diese Fälle keine metaphysische Rechtfertigung der Todesstrafe (dass Mord nur mit dem Tod »gesühnt« werden kann z. B.), aber die Kehrseite der Medaille ist, dass man sich bei ihrer Ablehnung ebenfalls nicht auf derartige metaphysische Gründe berufen kann (etwa, dass nur Gott zustehe, über Leben und Tod zu richten). Zwar ist es durchaus legitim, im Diskurs aversive moralische Empfindungen gegen diese Strafform anzuführen, aber dies würde nur dann zu einem material-normativen Konsens gegen die Todesstrafe führen, wenn diese Empfindungen von allen geteilt würden – was aber offensichtlich nicht der Fall ist. Meiner Auffassung nach gibt es dennoch, auch unabhängig von metaphysischen Vorannahmen und moralischen Empfindungen, einen guten Grund, die Todesstrafe als unzulässig zu verwerfen. Der Schlüssel hierzu ist das immer zu berücksichtigende Risiko der irrtümlichen Bestrafung Unschuldiger. Trotz der hier zu unterstellenden Unabsichtlichkeit (und Nicht-Fahrlässigkeit) ist die Bestrafung Unschuldiger selbst ein wieder auszugleichendes Unrecht. Daher muss der Effekt von Strafe wenigstens in einem Mindestmass reversibel oder doch kompensierbar sein. Dies ist jedoch gerade bei einer bereits vollstreckten Todesstrafe prinzipiell nicht möglich. Die Entgegnung, Todesstrafe solle eben nur verhängt werden, wenn die Täterschaft erwiesen ist, trifft mein Argument nicht. Denn selbstverständlich wird nur verurteilt, wessen Täterschaft als erwiesen gilt (»in dubio pro reo«). Justizirrtümer kommen aber trotzdem vor. Das Problem ist eben, dass für den je konkreten Einzelfall nie mit letzter Gewissheit auszuschließen ist, dass er irgendwann noch einmal »aufgerollt« werden muss. Beweise im strengen Sinne gibt es nur in der Mathematik (und selbst da kann man sich noch irren). Damit eine Gemeinschaft überhaupt über ein Rechtssystem, ein System sanktionsbewehrter Gesetze und ihrer Umsetzung, verfügen kann, muss sie bereits in ziemlich diffiziler Weise institutionell organisiert sein – letztlich muss

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sie, damit das Rechtssystem de facto in Kraft ist und dabei Aussicht auf Fortbestand hat, einen Staat bilden. Eine Gemeinschaft gilt als staatlich organisiert, wenn ihre normative Verfassung ein Institutionensystem konstituiert, welches das legislative, judikative und exekutive Monopol (Gewaltmonopol) für einen definierten territorialen Bereich besitzt. Zusätzlich wird die Zugehörigkeit zu einer staatlich organisierten Gemeinschaft (Staatsvolk) normativ geregelt, wodurch die Angehörigen (Staatsbürger) mit Bezug auf die Gemeinschaft bestimmte Rechte genießen und Verpflichtungen unterworfen sind, selbst wenn sie sich nicht auf dem Staatsterritorium befinden. Die Verpflichtung einer Gemeinschaft auf das Soziale Ideal bestimmt die Staatsform nur insofern, als diese seine Durchsetzung nicht behindern, sondern vielmehr fördern sollte. Diese Bedingung ist vage genug, um vielleicht als Definition des umstrittenen Ausdrucks »demokratisch« gelten zu dürfen. Die historische Erfahrung legt eine Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative und Exekutive nahe. Im Zusammenhang der Legislative sprechen organisatorische Schwierigkeiten mit basisdemokratischen Modellen für repräsentative Demokratieformen, in deren Rahmen die Bürger das im Teilnahmeprinzip formulierte »Mitbestimmungsrecht« bei der Beratung und Beschließung von Gesetzen an durch (freie) Wahlen legitimierte Delegierte ihres Vertrauens abtreten. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser: in dieser Funktion haben sich von den staatlichen Institutionen unabhängige Medien bewährt. Problematisch ist hingegen die übliche institutionalisierte Ersetzung des Konsensprinzips durch den Mehrheitsentscheid. Dass der Mehrheitsentscheid direkt dem Sozialen Ideal widerspricht, wird dabei durch die (theoretische) Möglichkeit, dieses Verfahren selbst über einen expliziten oder impliziten Konsens zu legitimieren, nur unzureichend kompensiert. Dem Vorteil der »Handlungsfähigkeit« von Beschlussgremien stehen außerdem als Nachteile die Möglichkeit des systematischen Übergehens von Minderheitsinteressen (»Zweidrittelgesellschaft«) sowie die Akzeptanzinstabilität von über bloßen Mehrheitsentscheid beschlossenen Normen gegenüber. Damit die Delegierten in repräsentativen Demokratien überhaupt im Sinne der Bürger beraten können, benötigen sie argumentationsrelevantes Wissen über relevante »gesellschaftliche Tatsachen«, also Wissen über gesellschaftliche Gruppierungen und Schichten, deren Meinungs- und Präferenzstrukturen sowie außerdem die historische Entwicklung dieser Tatsachen. Solches Wissen wird von den Kulturwissenschaften erarbeitet – insbesondere Soziologie, Politologie und Geschichtswissenschaft wären hier zu nennen. Es wird oft als »praktisches Wissen« dem von den Naturwissenschaften bereitgestellten »technischen Wissen« gegenübergestellt, wobei der methodologische Unterschied insbesondere darin besteht, dass die Etablierung technischen Wissens der experimentellen Methode bedarf, während zur Bildung

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praktischen Wissens vorrangig hermeneutische Methoden zum Einsatz gelangen.52 Insofern ich immer schon im Plural von dem Sozialen Ideal verpflichteten Gemeinschaften, von Demokratien usw. gesprochen hatte, hatte ich bereits die ganze Zeit über implizit berücksichtigt, dass aus dem Sozialen Ideal nicht folgt, dass die Gemeinschaft der es teilenden Personen in einem zentralen Staat (der im Idealfall ein »Weltstaat« wäre) organisiert sein müsste.53 Jedoch muss es dann selbstverständlich auch zwischenstaatlich organisierte gewaltfreie Konfliktlösung geben.54 Das leitende Prinzip hierfür ist die Übertragung des Personstatus von Personen im engeren Sinne auf Staaten und die entsprechende Anwendung der in 1.2 aufgestellten Diskursnormen auf sie bzw. den zwischenstaatlichen Diskurs. Die Rechtsverbindlichkeit bzw. Rechtssicherheit von auf zwischenstaatlicher (bi- oder multilateraler) Ebene erreichten Vereinbarungen, insbesondere im Rahmen von Verträgen, verlangt hier nach einem Rahmen sanktionsbewehrter Gesetze (als internationalem Recht), welches wiederum entsprechende überstaatliche legislative, judikative und exekutive Institutionen voraussetzt. Hieraus folgt, dass ein lockerer »Völkerbund« keinesfalls hinreicht. Dass dies aber dennoch nicht wieder der Forderung nach einem Weltstaat gleichkommt, lässt sich daran ersehen, dass die Geltung internationalen Rechts zwar die territorialen Grenzen einzelner Staaten überschreitet, jedoch dabei zum einen thematisch bereichsbeschränkt ist (Völkerrecht, supranationales Recht, internationales Handelsrecht) und zum anderen nur das Agieren von Staaten bzw. überstaatlicher Institutionen direkt betrifft (das Handeln konkreter Personen hingegen nur indirekt hierüber). Im Hinblick auf das Soziale Ideal ist grundsätzlich vom Staatenbund (Konföderation) bis zum Bundesstaat (Föderation) jede Form zwischenstaatlicher Organisation als Alternative zum »Weltstaat« denkbar.

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Für eine Rekonstruktion der grundlegenden kulturwissenschaftlichen Deutungsmethodologie siehe Schwemmer (1976) und Hartmann (1996, 4). 53 Dies gegen Kant (1795), welcher meint, dass der Weltstaat durchaus eine »Forderung der Vernunft« sei. Nur weil diese in der Realität nicht durchgesetzt werden könne, sei stattdessen ein »Völkerbund« anzustreben. 54 Diese Thematik bespreche ich deshalb im Abschnitt über »Organisation nach Innen«, da sie nur die Gemeinschaft derjenigen Staaten betrifft, welche das Soziale Ideal teilen. Über das Verhältnis dieser Staatengemeinschaft »nach Außen« komme ich im folgenden Abschnitt (1.4) zu sprechen.

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1.4 Moralischer Objektbereich: Rechte und das Verhältnis nach Außen Im letzten Abschnitt war vor allem von Verpflichtung und Pflichten (und ihrer Sanktionierung im Falle von Rechtspflichten) die Rede, aber gelegentlich auch bereits von Rechten. Bevor ich mich in diesem Abschnitt den Rechten ausführlicher zuwende, soll zunächst die Unterscheidung Recht/Pflicht, und ihr Bezug zum Begriff der Norm, präzisiert werden. Wir hatten schon in Abschnitt 1.1 festgehalten, dass moralische Normen und Rechtsnormen das Handeln von Personen gegenüber anderen Personen regeln. Generalität des Situationsbezuges von Normen ist insofern auch als Verallgemeinerung hinsichtlich des Gegenübers zu verstehen.55 So strukturierte Normen konstituieren (sofern ihr Geltungsanspruch diskursiv einlösbar ist) mit Bezug auf den Bereich der Universalisierung Pflichten, mit Bezug auf den Bereich der Generalisierung Rechte.56 Die Frage danach, wie der Bereich des Allquantors bei der Generalisierung zu charakterisieren ist, ist nun die Frage nach dem (ethisch-moralischen oder rechtlichen) OBJEKTBEREICH. Ersichtlich folgt bereits aus der Bestimmung der Aufgabe normativer Ethik, Mittel zur Approximation des Sozialen Ideals bereitzustellen, dass der Objektbereich mindestens den Subjektbereich beinhalten muß. Beachtenswert ist dabei die (selbst von ansonsten leidenschaftlichen Kulturrelativisten) oft vernachlässigte Tatsache, dass auch in Bezug auf den Objektbereich generelle Formulierung und generelle Geltung nicht zusammenfallen. Das bedeutet aber, dass in faktischen Diskursen prädiskursiv akzeptierte bzw. diskursiv vereinbarte Normen nicht automatisch auch von allen diskursfähigen Lebewesen als Rechte in Anspruch genommen werden können. Vielmehr hängt – wie wir oben gesehen haben – der Erwerb von Rechtsansprüchen eng mit der Übernahme von Pflichten zusammen. Trotzdem wird eine Diskursgemeinschaft, die sich über die Anerkennung des Sozialen Ideals definiert, aber übereinkommen, auch außenstehenden Personen, also solchen, die das Soziale Ideal selbst nicht anerkennen, gewisse Rechte schlicht zuzubilligen. Dass das nicht anders sein kann, wird klar, wenn

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Dies ließe sich für afinale Normen (in rudimentärer Weise) symbolisch etwa so zum Ausdruck bringen: ( N*) ∀p∀p’(!Hpp’⏐Spp’) Lies: »An alle Personen p und für alle Personen p’: Falls p und p’ sich in einem situativen Bezug vom Typ S…__ befinden, dann bitte p tut H gegenüber p’!« 56 Daraus ist klar, dass ich unter Rechten nicht einfach dasselbe verstehe wie Rechtsnormen (Gesetze). Rechtsnormen sind sanktionsbewehrte Normen, d. h. also, sofern sie Rechte konstituieren, sind sie im wahrsten Sinne des Wortes »einklagbar«. Daneben gibt es aber auch moralische und sittliche Rechte – z. B. das moralische Recht, nicht belogen zu werden oder das zum Bereich der »guten Sitten« gehörende Recht, (von Ausnahmefällen abgesehen) nicht ohne Zustimmung geduzt zu werden.

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man bedenkt, dass zwischen der Anerkennung des Sozialen Ideals und der Barbarei ein breites Spektrum verschiedener Lebensformen existiert, zu denen keineswegs nur eine Beziehung des »Die oder Wir« denkbar ist – wir werden hierauf etwas später noch zu sprechen kommen. Jedenfalls wird ein bestehendes Interesse am Sozialen Ideal nicht einfach außer Kraft gesetzt, wenn man es mit einem – mehr oder weniger – diskursunwilligen Gegenüber zu tun hat. Wenn eine Person das Soziale Ideal der gewaltfreien Konfliktbewältigung verfolgt, dann wird sie in der Auseinandersetzung mit jedem Gegenüber im Rahmen des für sie Möglichen für eine gewaltfreie Konfliktbewältigung sorgen, also zum Beispiel von sich aus zu anderen Mitteln zur Realisierung ihrer Zwecke greifen. Was jeweils möglich ist, hängt dabei selbstverständlich vom Handeln des Gegenübers ab und sein Handeln beeinflusst damit auch die Rechte, die ihm von der Diskursgemeinschaft zugebilligt werden können. Aber auch Lebewesen, die überhaupt nicht Personen sind, müssen von einer am Sozialen Ideal orientierten Diskursgemeinschaft Rechte schlicht zugebilligt werden: Während es keinen Sinn macht, Normen an Lebewesen zu adressieren, deren Tun nicht argumentationszugänglich ist, besteht ja im Zusammenhang des Zubilligens von Rechten kein analoges Problem. Im Gegenteil wird eine das Soziale Ideal der gewaltfreien Konfliktbewältigung verfolgende Person auch in der Auseinandersetzung mit einem diskursunfähigen Gegenüber (so wie im Fall des diskursunwilligen Gegenübers) trotzdem nach Möglichkeit das Ihre für eine gewaltfreie Konfliktbewältigung tun.57 Eine prinzipielle Grenze wird hier erst dort erreicht, wo sich von »Konflikten« nicht mehr bzw. nur noch metaphorisch reden lässt, weil sich die Regungen des Gegenüber – etwa eines Apfelbaumes – auch ohne Rekurs auf motivationale Zustände erklären lassen. Daher wird eine am Sozialen Ideal orientierte Diskursgemeinschaft übereinkommen, den moralischen Objektbereich in abgestufter Weise58 über den Subjektbereich hinaus auszudehnen. Die faktische Vorstufe solcher Ausdehnungen ist dabei gewöhnlich durch die über das Soziale Ideal direkt geforderte, diskursive Berücksichtigung entsprechender tutorischer Interessen von Personen gegeben, also etwa durch die Berücksichtigung des Interesses von Eltern an der Unversehrtheit und dem Lebensglück ihrer Kinder oder durch die Berück57

Die Stärke des Gesagten reicht allerdings nicht so weit, zu etablieren, dass eine auf das Soziale Ideal verpflichtete Gemeinschaft eine Gemeinschaft von Vegetariern sein müsse. Da die Tiere nicht zum Bereich der Personen gehören, folgt eine solche Norm nicht aus der semantischen Explikation des Sozialen Ideals. Da ihr Geltungsanspruch also nur über Konsens im Rahmen eines materialen Diskurses über sie eingelöst werden kann, verbleibt ihr Status (zumindest zurzeit) der einer individualethischen Maxime. 58 Abgestuft werden muss schon deshalb, weil nicht diskursfähige Lebewesen keine Pflichten übernehmen können und ihnen daher diejenigen Rechte, die mit der Übernahme von Pflichten einhergehen, nicht zugebilligt werden können.

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sichtigung ähnlicher Interessen von Tierhaltern. Aber das ist wie gesagt erst die Vorstufe dazu, den betreffenden Lebewesen auch unabhängig von personbezogenen Interessen Rechte zuzubilligen.59 Bei den Säuglingen und Kindern als Personen »in spe« ist eine solche Ablösung der Zubilligung von Rechten von diesbezüglichen Interessen je einzelner Personen bereits aus Gründen des Selbsterhaltes der nach dem Sozialen Ideal organisierten Gemeinschaft ethisch zwingend.60 Ein »Flip-Flop«-Modell des Zubilligens der Gesamtheit personaler Rechte und Pflichten erst bei Erreichung der Diskurszugänglichkeit wäre aus offensichtlichen Gründen absurd: Erfolgreiche Sozialisation (d. h. Sozialisation im Sinne des Sozialen Ideals) erfordert hier eine schrittweise Erweiterung von Rechten und Pflichten bis zur schließlichen »Mündigkeit«. Ich komme nun wieder auf die Frage zurück, welche Haltung eine dem Sozialen Ideal verpflichtete Gemeinschaft anders organisierten Gemeinschaften gegenüber einnehmen soll. Der Kulturrelativismus lehrt uns, dass die Auffassung illusorisch ist, man könne zeigen, dass die eigenen moralischen Normen auch für die anderen gelten (und man von daher berechtigt sei, ihre Einhaltung gegebenenfalls zu erzwingen). Die Kehrseite der relativistischen Medaille ist, dass dies nicht nur für die Pflichten, sondern auch für die Rechte gilt. Das heißt nun freilich nicht, dass für die Gemeinschaft demokratischer Staaten (siehe 1.3) nicht-demokratische Staaten61 einfach »vogelfrei« sind. Im Gegenteil beinhaltet die Verpflichtung auf das Soziale Ideal die Maxime, selbst in der Interaktion mit diskursunwilligen oder diskursunfähigen Gegenübern soviel wie möglich von sich aus zu einer gewaltfreien Konfliktlösung beizutragen. Aber der Grad, in welchem nicht-demokratischen Staaten62 Rechte trotz 59

Mit einer Unterscheidung von Gethmann (1996) lassen sich Diskurse über Normen, die das Handeln gegenüber nicht diskursfähigen Lebewesen betreffen, »tutorische Diskurse« nennen. Aus den in tutorischen Diskursen beschlossenen Normen erwachsen entsprechend »tutorische Pflichten«. 60 Das unterscheidet die Kinder kategorisch von nicht diskursfähigen Tieren. Entsprechend sind die Rechte der Kinder in unserer Gesellschaft vermittels Gesetzgebung unabhängig von den Interessen einzelner Eltern an ihren Kindern in Geltung. Abgesehen vom Verbot der Tierquälerei hängen die Rechte einzelner Tiere hingegen nach wie vor weitgehend vom tutorischen Interesse einzelner Personen (oder Personengruppen) an ihnen ab. Es gibt nämlich über die »Personschaft in spe« und ihren Zusammenhang zur Perpetuierung der Gemeinschaft hinaus kein Merkmal, mit Bezug auf welches sich bereits unter Rekurs auf das Soziale Ideal selbst nachweisen ließe, dass die es besitzenden Lebewesen in den moralischen Objektbereich aufgenommen werden müssten. Das gilt auch für den prominentesten Kandidaten – die Leidensfähigkeit. Siehe hierzu Galert (1997). 61 Selbstverständlich gilt das Folgende auch für Gemeinschaften, die nicht im strengen Sinne die Kriterien staatlicher Organisation erfüllen – z. B. Nomadenverbände ohne festes Staatsterritorium. Ich werde diese Fälle aber nun nicht mehr eigens erwähnen. 62 Der Unterschied zwischen Staaten auf der einen und ihren Bürgern auf der an-

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des Fehlens der Bereitschaft zur Übernahme entsprechender Verpflichtungen schlicht zugebilligt werden können, hängt wesentlich von deren Handlungsdispositionen ab – gegen den Versuch eines Vernichtungskrieges wird man sich selbstverständlich wehren wie gegen ein Naturereignis und dabei Eingriffe in die staatliche Souveränität des Angreifers nicht nur in Kauf nehmen, sondern sogar gezielt anstreben. Der genannte Extremfall wirft sofort die Frage nach den Bedingungen »gerechten Krieges« überhaupt auf, denn klarerweise ist Krieg kein Mittel gewaltfreier Konfliktlösung. Er kommt folglich (und das ist eine begriffliche Trivialität63) zwischen den Mitgliedern einer dem Sozialen Ideal verpflichteten Gemeinschaft demokratischer Staaten nicht vor. Die Frage nach dem »gerechten Krieg« kann sich daher nur mit Bezug auf Kriegshandlungen gegenüber nicht-demokratischen Staaten stellen. Aus dem mit dem Sozialen Ideal verbundenen Interesse, auch gegenüber Diskursunwilligen das je Mögliche zur gewaltfreien Konfliktbewältigung beizutragen, folgt zunächst nur negativ, dass die bloße Tatsache, dass ein Staat sich nicht dem Sozialen Ideal verpflichtet sieht, keineswegs einen Krieg gegen ihn rechtfertigt. Der Schlüssel zu einer substantielleren Beantwortung der Frage nach dem »gerechten Krieg« besteht nun darin, sich zunächst in Erinnerung zu rufen, dass hinsichtlich des zwischenstaatlichen Diskurses die Staaten wie Personen zu behandeln, d. h. die für Personen geltenden ethischen Prinzipien auf Staaten selbst anzuwenden sind. In konsequenter Verallgemeinerung stellt diese Analogie auch eine Richtlinie für die Übertragung grundlegender materialer Rechtsprinzipien auf zwischenstaatliches Handeln überhaupt dar. Dem Krieg zwischen Staaten entspricht der (physische) Angriff einer Person auf eine andere Person. Ein Angriff auf eine Person ist strafrechtlich nur dann erlaubt, wenn sie aus »Notwehr« erfolgt. Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. Im letzteren Fall spricht man auch von »Nothilfe«. Beim Notwehrprinzip handelt es sich nicht einfach nur um irgendeine materiale Norm. Sonst wäre sie auch für eine allgemeine ethische Behandlung der Frage nach dem gerechten Krieg unzureichend. Sie hängt hingegen mit dem Sozialen Ideal folgendermaßen zusammen: Nur wenn ein Angriff aus Notwehr erfolgt, dann widerspricht diese Handlung deren Seite darf hier nicht übersehen werden. Sollen beispielsweise die auswärtigen Kapitalanlagen eines Staates eingefroren werden weil dieser das auf seinem Staatsgebiet befindliche Eigentum anderer Staaten bzw. derer Bürger beschlagnahmt hat, dann folgt aus einer Entscheidung hierüber im Hinblick auf die auswärtigen Kapitalanlagen der Bürger des betreffenden Staates nichts. 63 Eine Trivialität, die aber gleichwohl Konsequenzen haben kann, nämlich hinsichtlich der Beurteilung der Frage, ob sich ein Staat zu Recht selbst als »demokratisch« bezeichnet.

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nicht der Verpflichtung, auch mit Bezug auf ein diskursunwilliges Gegenüber zu einer gewaltfreien Konfliktbewältigung alles in seiner Macht Stehende beizutragen. Übertragen auf Kriegshandlungen zwischen Staaten bedeutet dies: Gerecht sind Kriege nur als Notwehr- oder Nothilfekriege, d. h. Verteidigungsoder Beistandskriege gegen kriegerische Angriffe, die nicht ihrerseits bereits Notwehr- oder Nothilfe darstellen. Mit Hilfe der Konzepte Notwehr und Nothilfe und ihrem semantischen Umfeld lassen sich weitere Fragen klären. Beispielsweise sind Präventivkriege offensichtlich im Allgemeinen nicht zulässig, jedoch schließt die »Gegenwärtigkeit« eines Angriffes nach üblichem Verständnis (in der juristischen Praxis) zumindest sein unmittelbares Bevorstehen mit ein. Weiterhin ist darauf zu achten, dass die kriegerischen Notwehr- oder Nothilfehandlungen dem Angriff angemessen sind – wird auf ein Grenzscharmützel mit der vollständigen Ausschaltung des Angreifers geantwortet, handelt es sich um einen Fall von »Notwehrexzess«. Sehr viel schwieriger ist die Frage, ob die Konzepte von Notwehr und Nothilfe militärische Operationen gegen einen Staat erlauben, der »nur« sein eigenes Staatsvolk (oder Teile davon) unterdrückt, ohne hingegen andere Staaten militärisch anzugreifen. Kant hätte Kriegshandlungen dieser Art aller Wahrscheinlichkeit nach als »gewalttätige Einmischung in Verfassung und Regierung eines anderen Staates« kategorisch verboten.64 Hier kommt, wie ich meine, aber alles darauf an, ob die Handlungen des betreffenden Staates mit Recht als »gegenwärtige rechtswidrige Angriffe« auf die eigene Bevölkerung oder Teile davon angesehen werden können – dann spielt es keine Rolle, dass die Angegriffenen nicht selbst einen Staat darstellen. Der Angriff auf Dörfer im eigenen Land mit Giftgas wäre etwa ein solcher Fall, die gewaltsame Entwaffnung und Inhaftierung von Putschisten oder Terroristen hingegen nicht. Wie gesagt, ist selbst in der Auseinandersetzung mit Staaten, die sich nicht auf das Soziale Ideal verpflichtet haben, Krieg nicht der Normal-, sondern der Extremfall dessen, was an Interaktion im Sinne der Bewältigung von Konflikten je nach konkreter Sachlage möglich, legitim oder gar geboten ist. Der gewöhnliche Fall ist hingegen der, dass ein prädiskursives Einverständnis zwischen traditionalen und posttraditionalen Gemeinschaften nicht völlig fehlt, sondern nur mehr oder weniger stark eingeschränkt ist.65 Auf dieser eingeschränkten Basis sind bestimmte Formen der Kooperation meist gleichwohl möglich – gegenseitige Anerkennung staatlicher Souveränität, Wirtschaftsbeziehungen, Kulturaustausch etc. 64

Kant (1795, Erster Abschnitt, 5.) Für weitergehende Überlegungen dazu, wie auf einer solchen Basis gegenseitiges Verstehen und Konfliktbewältigung möglich ist, siehe Wohlrapp (1995) und Wohlrapp (1998). 65

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Dass das Soziale Ideal denjenigen, die es nicht teilen, nicht »andemonstriert« werden kann, impliziert allerdings nicht, dass man auch jeglichen Versuch zu unterlassen hat, für die Verbreitung seiner Anerkennung zu sorgen. Das ernsthafte Vorleben des Ideals mag dabei alleine schon eine gewisse Anziehungskraft ausüben – insbesondere auf Gesellschaftsschichten, die gerade wegen seiner Nichtanerkennung in traditionalen Gesellschaften benachteiligt sind (niedere Kasten, religiöse Minderheiten, Frauen etc.). Ansonsten ermöglicht das Interesse an Kooperation in bestimmten Bereichen eventuell eine gewisse Einflussnahme. Bedingungen nach dem Schema »Wenn ihr die Ausreisebeschränkungen lockern würdet, würdet ihr unter die Meistbegünstigungsklausel fallen«, sind insofern nicht schlichte Erpressung, weil es ja gerade auf dem Hintergrund der Anerkennung des ethischen Kulturrelativismus schlecht »moralisch« zu monieren ist, wenn die Bereitschaft zu bestimmten Formen der Kooperation, etwa im wirtschaftlichen Bereich, von den moralischen Dispositionen der potentiellen Kooperationspartner in anderen Bereichen abhängig gemacht wird. Wer an dieser Stelle aus der kulturrelativistischen Position ein »Einmischungsverbot« ableiten möchte, verheddert sich nur in hoffnungslosen Selbstwidersprüchen.

2) Eudämonistische Ethik 2.1 Die Möglichkeit eudämonistischer Ethik Nach Kant hat die Ethik die Aufgabe, eine Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« zu geben. In Bezug auf diese Frage waren meine bisherigen Ausführungen nicht nur der Versuch einer Antwort, sondern auch eine Interpretation. Ganz im Sinne Kants haben sich die vorangegangenen Abschnitte nämlich mit normativer Ethik als dem Projekt der Begründung moralischer Normen befasst.66 Die Frage »Was soll ich tun?« wurde somit aufgefasst als Frage nach meinem

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Nach Kant ist das Streben nach Moralität nicht mit dem Streben nach Glück zu identifizieren (Kant (1788, Akad.-A. S. 198–203)). Daher lässt sich moralisches Handeln nicht (wie bei Aristoteles und Epikur) durch Verweis auf eine wie auch immer geartete glückbefördernde Wirkung rechtfertigen. Das moralische Handeln ist Kant zufolge allein durch das Sittengesetz (den Kategorischen Imperativ) bestimmt. Wer gemäß dem Sittengesetz lebt, wird aber nicht allein schon dadurch glücklich, sondern vielmehr nur »glückwürdig« (Kant (1787, Akad.-A. B S. 834 ff.)). Erst die Existenz Gottes, die die praktische Vernunft notwendig zu postulieren gezwungen ist, rechtfertigt schließlich doch noch die Hoffnung auf Konvergenz von moralisch gutem und glücklichem Leben im Jenseits (Kant (1787, Akad.-A. B S. 837 ff.), Kant (1788, Akad.-A. S. 224 ff.), Kant (1790, Akad.-A. S. 423 f.)).

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Handeln anderen gegenüber. Aber sie lässt sich auch als Frage nach meinem Handeln mir selbst gegenüber verstehen, als die Frage nach dem »guten Leben« im Sinne eines mein Glück befördernden Lebens.67 Das Unternehmen, welches die Frage »Was soll ich tun?« in dieser zweiten Interpretation behandelt, nennt man (eudämonistische) Ethik. Während normative Ethik nach dem Scheitern des »real existierenden Szientismus« des Wiener Kreises insbesondere aufgrund der diskursethischen Arbeiten der Frankfurter Schule bereits seit einigen Jahrzehnten ihre Reputation zurück gewonnen hat, ist die Beschäftigung mit eudämonistischer Ethik noch immer mit dem Flair der Unseriosität behaftet (was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass ihre Gegner das etwa zu Beginn der 90er Jahre wiedererwachte Interesse68 an ihr noch immer gerne als »Mode« abtun möchten).69 Dabei kann an der philosophischen Brisanz des Themas gar kein Zweifel bestehen: Schon Ludwig Wittgenstein hat hervorgehoben, dass nach Beantwortung aller wissenschaftlichen Fragen unsere Lebensprobleme noch nicht einmal berührt sind.70 Zu ergänzen wäre, dass sie das auch nach Beantwortung aller die normative Ethik betreffenden Fragen nicht sind. Der Hauptvorbehalt gegen eudämonistische Ethiken besteht gewöhnlich in der Vermutung, dass in Sachen »glückliches Leben« keine allgemeingültigen Auskünfte möglich seien. Jeder möge daher nach »seiner façon selig werden«. Im Hintergrund dieses pauschalisierenden Einwandes gegen eudämonistische Ethiken steht nicht selten die Befürchtung, dass derartige Unternehmungen zwangsläufig Bestrebungen fördern, an den Betroffenen vorbei über deren »lebenswertes« oder »lebensunwertes« Leben zu befinden. Befürchtungen dieser Art sind aber nur relativ zu Ethikkonzeptionen gerechtfertigt, nach denen das Moralbegründungskonzept der normativen Ethik auf eudämonistischen Überlegungen aufruht und dies zudem in einer Weise, dass über die Geltung von Normen aus einer objektivierenden Beobachterperspektive und losgelöst von der Zustimmung durch die jeweils Betroffenen befunden werden kann.

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Die sich mit der Pflichtethik Kants durchsetzende normativ-ethische Interpretation der sokratischen Frage »Wie soll man leben?« ist weniger als Gewinn an begrifflicher Schärfe, denn als Vorentscheidung gegen eudämonistische Ethikkonzeptionen zu werten. Gegen sprachanalytisch gestützte Vorabeinengungen der Fragestellung auf ihren »moralischen« (normativ-ethischen) Sinn wendet sich zu Recht auch Williams (1985, S. 5). 68 Als Beleg hierfür kann etwa der Sammelband Steinfath (1998) dienen. 69 Der Status eudämonistischer Ethik ist auch innerhalb des Methodischen Kulturalismus nicht unumstritten. Für eine eher skeptische Beurteilung siehe z. B. Hanekamp (1996, 2.9.). 70 Siehe Wittgenstein (1921, 6.5.2.).

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Bekanntlich ist dies insbesondere im Rahmen utilitaristischer Ethikkonzeptionen der Fall.71 Im Hinblick auf am Sozialen Ideal orientierte, diskursive Konzepte normativer Ethik sind Befürchtungen der genannten Art hingegen nicht berechtigt: Hier sind normative Urteile mit Bezug auf den gesamten Objektbereich (ob diskursfähig oder nicht) rückgebunden an die Zustimmung durch die Betroffenen bzw. (im Falle ihrer Diskursunfähigkeit) an die Berücksichtigung ihrer Interessen. Daher sprechen relativ zu eudämonistischen Kriterien eventuell festgestellte Defizite erstens grundsätzlich nur für eine stärkere Berücksichtigung der betroffenen Angehörigen des Objektbereichs. Zweitens sind diese eudämonistischen Kriterien selbst zusätzlich noch rückgebunden an ihre diskursive Einlösbarkeit im Disput. Selbstverständlich bleibt aber auch dann noch die Möglichkeit, dass sich über das gute Leben keine allgemeingültigen Sätze formulieren lassen, wenn die Befürchtung, eudämonistische Ethiken führten grundsätzlich zu einer Unterminierung der Autonomie der Betroffenen, ausgeräumt ist. Ausschlaggebend ist jedoch, dass sich die Unmöglichkeit allgemeingültiger Aussagen über das gute Leben ihrerseits nicht a priori zeigen lässt. Aus diesem Grund sind eudämonistische Überlegungen jeweils für sich einer konkreten Überprüfung zu unterziehen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass Partikularismus und Universalismus des guten Lebens miteinander auf verschiedenen »Beschreibungsebenen« verträglich sein könnten. An verschiedenen »façons, selig zu werden« könnte es etwa Gemeinsamkeiten geben, die sich zugleich als notwendige Bedingungen guten Lebens erweisen. Umgekehrt mag es Umstände geben, die das Lebensglück generell behindern. Vielleicht lässt sich dies in einen »formalen« Begriff des guten Lebens ummünzen, den all die verschiedenen »façons« exemplifizieren. Ein zweiter Einwand gegen das philosophische Projekt einer eudämonistischen Ethik lautet, dass, sofern allgemeine Aussagen über das gute Leben getroffen werden können, es jedenfalls nicht die Aufgabe der Philosophen sei, über diese zu befinden, sondern eher die der Biologen, Psychologen oder Soziologen. Dieser Einwand, der die Kompetenzen ganz den empirischen Wissenschaften zuschanzen möchte, verkennt jedoch, dass empirisches Wissen über allgemeine Bedingungen guten Lebens einer begrifflich-explikativen Vorarbeit bedarf in der Art, wie sie gewöhnlich von Philosophen betrieben wird. Bevor beispielsweise ein Soziologe Untersuchungen darüber anstellen kann, welche Formen von sozialem Milieu ein glückliches Leben befördern, muss er schon 71

Das ist der rationale Kern des besonders in Deutschland stark ausgeprägten emotiven Unbehagens gegenüber utilitaristischen Argumentationen bzw. Positionen.

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wissen, was unter dem Begriff »glückliches Leben« überhaupt verstanden werden soll – sonst steht er vor dem Problem, keinen klaren Begriff davon zu haben, wonach überhaupt zu suchen ist. Die Beantwortung der Frage »Was soll ich tun?« ist daher in der eudämonistischen Ethik durch eine Analyse von Begriffen wie »Glück«, »gutes Leben«, »Bedürfnis« usw. zunächst einmal zu ermöglichen. Die Konkretisierung der Antwort im Sinne einer »eudämonistischen Moral« mag dann auch von Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen über Bedürfnisse, Glücksbedingungen etc. Gebrauch machen. Es ist jedoch zu vermuten, dass diesbezüglich bereits eine aus der Teilnehmerperspektive vorgenommene Reflexion auf die lebensweltlichen »Erfahrungen von Jedermann« weitgehend ausreicht.72 Ob man eine solche Reflexion in Gegenüberstellung zu einer aus der wissenschaftlichen Beobachterperspektive vorgenommenen Forschung »philosophisch« nennt oder nicht, ist dann ein eher unbedeutendes terminologisches Problem. Warum aber behandele ich in diesem Artikel überhaupt im Anschluss an die normative Ethik noch die eudämonistische Ethik? Ist das nicht ein schlichter Wechsel des Themas? Lässt sich denn normative Ethik nicht unabhängig von einer Theorie des Glücks betreiben? Fragen wie diese betreffen die (bereits in der Einleitung erwähnte) klassische Problematik des Verhältnisses von eudämonistischer und normativer Ethik: ob sie einander einschränken, ausschließen, oder gar aufeinander aufbauen. Ob man nun die Einschlägigkeit der eudämonistischen für die normative Ethik eher positiv oder negativ zu beurteilen geneigt ist – in jedem Fall kommt man nicht darum herum, sich zunächst einmal näher mit ihr zu befassen.

2.2 Der Begriff des Glücks Ich beginne diesen Abschnitt mit einigen terminologischen Vorklärungen, die in der praktischen Philosophie im Großen und Ganzen unkontrovers, aber dennoch unverzichtbar sind: Zunächst muss unterschieden werden zwischen dem Glück im Sinne des »Glücklich-Seins« auf der einen und im Sinne des »Glück-Habens« auf der anderen Seite.73 »Glückhaben« besteht im Eintreten erwünschter, aber unwahrscheinlicher bzw. im Ausbleiben unerwünschter, aber wahrscheinlicher Ereignisse. Die Klarheit dieser Definition steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu ihrer Relevanz für unser eigentliches Thema, das 72

Im Sinne einer »Philosophischen Anthropologie«, wie sie Wilhelm Kamlah als Ergänzung der aus der Beobachterperspektive betriebenen wissenschaftlichen Anthropologien eingefordert hat (siehe Kamlah (1972, S. 19 ff.)). 73 Siehe hierzu etwa Seel (1995, 2.1.1.).

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»Glücklich-Sein«. Hier unterscheidet man zunächst zwischen episodischem Glück – Glücksmomenten bzw. Glücksgefühlen – und übergreifendem Glück,74 in welchem »glücklich« als Beurteilungsprädikat für ein Leben als Ganzes dient. Dabei lässt sich dann noch einmal unterscheiden zwischen einer (gewöhnlich retrospektiven) Beurteilung aus der Perspektive des Beobachters und aus der Innenperspektive des Betroffenen. Diese Unterscheidungen legen nicht fest, wie sich Außen- und Innenperspektive methodisch zueinander verhalten. Und worin das Glück besteht, darüber sagen sie schon gar nichts. Im ersten Buch der Nikomachischen Ethik stellt Aristoteles fest, dass das Gute das oberste Ziel sei, nach dem alle streben, und in der Folge wird dieses oberste Ziel von ihm in der »Glückseligkeit« geortet.75 Aber während die Behauptungen, dass alle nach Glück streben und dass das Glück um seiner selbst willen erstrebt wird, tatsächlich den Status von Gemeinplätzen innehaben, so scheinen doch die Auffassungen darüber, worin denn das Glück nun eigentlich konkret zu finden ist, seit jeher weit auseinander zu gehen. Auch die vielfältigen Versuche antiker Denker, den Glücksbegriff material an die Begriffe der Lust, der Tugend oder der theoretischen Kontemplation anzubinden, haben hier nie zu einer Einigung führen können. Kant hat daher das Glück endgültig aus der Kategorie der »materialen« Zwecke herausgenommen und definitorisch eine Stufe über den Präferenzstrukturen angesiedelt: Demnach sei »Glückseligkeit« der Zustand, der darin besteht, dass alle materialen Zwecke vollständig und dauerhaft realisiert sind.76 Da die so »maximal« definierte Glückseligkeit offensichtlich faktisch für niemanden erreichbar ist und daher höchstens den Status einer »Idee« für sich beanspruchen kann, empfiehlt sich die folgende Abschwächung: Glück ist der Zustand, der darin besteht, dass jedenfalls ein Großteil der wichtigsten, d. h. der in der individuellen Präferenzordnung ganz weit oben stehenden, Zwecke vollständig und dauerhaft realisiert ist. Mit dieser Rekonstruktion – die ich im Folgenden auch die »Standarddefinition« nennen werde – hat man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, da 74

Siehe Seel (1995, 2.1.3.). Siehe Aristoteles (1960). 76 Kant (1787, Akad.-A. B S. 834): »Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen, (so wohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach).« Kant (1788, Akad.-A. S. 224): »Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht, und beruhet also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens.« Die oben im Text gewählte Formulierung ist angelehnt an die Rekonstruktion von Schwemmer (1971, S. 80): »Glückseligkeit […] ist der Zustand, der durch die Erfüllung aller Begehrungen einer Person herbeigeführt wird […].« 75

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sie zum einen die gewünschte Allgemeinheit besitzt, zum anderen aber dennoch mit den verschiedensten »façons, selig zu werden« völlig vereinbar ist. So weit, so gut. Allerdings hat die Standarddefinition einen kleinen Schönheitsfehler – sie ist leider ungenügend. Hierfür sind sowohl immanente als auch externe Schwierigkeiten verantwortlich, die ich im Folgenden kurz besprechen werde. Ein immanentes Problem der Standarddefinition ist, dass sie innere Konflikte, also Konflikte zwischen zwei Zwecken einer Person, nicht adäquat berücksichtigt. Jemand kann viele Zwecke erreichen, aber eventuell gerade dadurch die Erreichung anderer von ihm verfolgter Zwecke verfehlen, wenn sich diese Zwecke hinsichtlich ihrer Erreichung wechselseitig ausschließen. Jemanden, der mit sich in ernstem Konflikt über zu verfolgende Zwecke ist, würde man wohl nicht glücklich nennen, selbst wenn er faktisch einen Großteil der ihm wichtigen Zwecke erreicht.77 Ein zweites immanentes Problem für die Standarddefinition stellen so genannte »Sinnkrisen« dar, welche nicht darin bestehen, dass Zwecke nicht erreicht werden oder miteinander konfligieren, sondern vielmehr darin, dass jemand über die Frage ratlos ist, welche Zwecke er in seinem Leben überhaupt verfolgen möchte, welche Lebensform er wählen soll. Für diesen Fall wird die Schwäche der Standarddefinition besonders deutlich: Denn wer sich aufgrund einer Sinnkrise mit keinen Zwecken identifiziert, müsste, wenn man die Standarddefinition beim Wort nimmt, glücklich sein – er hat ja alle »seine« Zwecke erreicht. Man muss hier erst größere argumentative Verrenkungen machen, damit dieser kontraintuitive Fall ausgeschlossen wird.78 Die genannte Kritik lässt sich berücksichtigen, wenn man die Standarddefinition in die folgende, verbesserte Neufassung bringt: Glück ist der Zustand, der im vollständigen und dauerhaften Erreichen der wichtigsten Zwecke in einer ausgebildeten und konsistenten Präferenzstruktur besteht. Allerdings lässt sich auch an dieser Neufassung der Standarddefinition Kritik üben: Ansatzpunkt ist dabei die Feststellung, dass das so definierte Glück aus der Gegenwart tendenziell gewissermaßen in die Zukunft »verschoben« wird. Relativ zu jeder zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen Präferenzstruktur 77

Offenbar ist die stärkere Glückseligkeitsdefinition von diesem Einwand nicht betroffen, da sie im Definiens die Erreichung aller Zwecke schlicht unterstellt. Der Hinweis auf die Möglichkeit von Zweckkonflikten bedeutet allerdings ergänzend auch für sie, dass (kantisch verstandene) Glückseligkeit nur auf der Basis konsistenter Präferenzstrukturen (logisch) möglich ist. 78 Man könnte etwa behaupten, dass, wer in einer Sinnkrise steckt, den Zweck verfolge, für seine Person geeignete Zwecke ausfindig zu machen. Die immunisierende Tendenz solcher Argumente ist überdeutlich.

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sind die einschlägigen Glückszustände gewöhnlich erwünschte zukünftige Ereignisse der Realisierung von Zielen. Dieser Zukunftsaspekt haftet selbst bereits erreichten Zielen insofern noch an, als sich die ehemaligen Ziele nach ihrer Erreichung normalerweise in zukünftig zu wahrende Interessen verwandeln (ein gewonnenes Vermögen muss erhalten werden etc.). Demnach wäre aber Glück nicht etwas, das das Leben begleitet, sondern ein zukünftig zu erreichender Zielzustand. Und darüber, ob ein Leben glücklich ist oder nicht, könne daher »objektiv« nur aus der Retrospektive befunden werden. Dabei ist zusätzlich zu bedenken, dass die Erfüllung von Wünschen gewöhnlich nicht von der erhofften Zufriedenheit, sondern von neuen Wünschen gefolgt wird:79 Man sieht nicht das, was man erreicht hat, sondern nur das, was fehlt. Ist dies so, dann ist das definitorisch an die Zweckerreichung geknüpfte Glück faktisch im Normalfall nicht nur »zukünftig«, sondern im Falle seines tatsächlich gegenwärtigen Eintretens jeweils nur von kurzer Dauer. Glück präsentiert sich als eine Karotte am Stock, die (uns) Esel zwar antreibt, aber sich immer wieder entfernt, sobald wir sie zu fassen glauben. Es stellt sich daher die Frage, ob »teleologische«80 Definitionen wie die obige Standarddefinition, die Glück semantisch an die Zweckerreichung binden, nicht grundsätzlich inadäquat sind. Es ist versucht worden, die teleologische Standarddefinition durch eine weitere Abänderung so zu verbessern, dass sie Glück von der engen Bindung an die Zielerreichung löst. Die abgeänderte »teleologisch-prozessuale« Definition lautet: Glück ist der Zustand, in welchem man sich befindet, wenn man sich dessen bewusst ist, auf gutem Wege zur Erreichung der wichtigsten Zwecke in einer ausgebildeten und konsistenten Präferenzstruktur zu sein .81 79

Oder aber – wie schon Schopenhauer bemerkt – von Langeweile. Siehe Schopenhauer (1859, IV, § 57). Zu einem damit verwandten Punkt auch Seel (1995, 2.4.1.2.). Seel behandelt das Problem (»Wronskijs Problem«), dass Zweckerreichungen in Bezug auf die damit verbundenen Glückserwartungen enttäuschend (illusionär) sein können, hält es aber offenbar im Hinblick auf seinen »prozessualen« Glücksbegriff für nicht einschlägig. 80 Der Terminus »teleologisch« ist hier übernommen von Seel (1995, 2.4.1.1.). Anders als Seel verwende ich diesen Begriff hier aber so, dass alle Glücksdefinitionen, in welchen eine Zweckerreichungskautele im Definiens auftritt, als teleologisch gelten sollen, also auch Seels eigener »prozessualer« Glücksbegriff. 81 Siehe Rawls (1971, § 63 u. § 83). Rawls’ Formulierung lautet: »Mit gewissen Einschränkungen kann man einen Menschen als glücklich ansehen, wenn er in der (mehr oder weniger) erfolgreichen Ausführung eines vernünftigen Lebensplanes begriffen ist, den er unter (mehr oder weniger) günstigen Bedingungen aufgestellt hat, und wenn er einigermaßen sicher ist, dass er sich ausführen lässt. Jemand ist glücklich, wenn seine Pläne vorankommen, wenn seine wichtigeren Ziele sich erfüllen, und wenn er sicher ist, dass dieser gute Zustand fortdauern wird.«

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Glück ist demnach schon »auf dem Weg«, also in der Verfolgung der Lebensziele möglich. Die Tatsache, dass die alten Ziele bei Erreichung durch neue abgelöst werden, verhindert Glück nicht, solange man das »Bewusstsein« behält, auf »gutem Wege« der Erreichung zu sein. Dennoch bleiben auch weiterhin Probleme: Aus der Innenperspektive des Betroffenen ist es immer ungewiss, ob die in der Präferenzstruktur ausgezeichneten Ziele je erreicht werden. Immer könnte beispielsweise der Tod dazwischen kommen und alles zunichte machen. Für die zu wahrenden Interessen ist dies sogar absehbar. Das Verfolgen von noch nicht erreichten Zielen wird daher gewöhnlich von der Sorge um ihre Nichterreichung begleitet (insbesondere, wenn die Ziele hoch präferiert sind). Analog wird die Sorge um Erreichung der Zwecke als Ziele im Falle ihres Erreichens abgelöst von der Sorge um ihren Erhalt als Interessen. Ein Adäquatheitskriterium für jede Glücksdefinition sollte aber besagen, dass niemand glücklich ist, der in Sorge lebt. Daher hat z. B. schon Kant versucht, die Gewissheit um die Fortdauer des Glücks (die Beständigkeit der Zweckerreichung) mit in die Definition zu nehmen.82 In der teleologisch-prozessualen Definition finden wir eine analoge Kautele, in der »Bewusstheit, auf gutem Wege zu sein«.83 Dies zeigt aber wohl nur die Inadäquatheit des ganzen Ansatzes. Niemand kann sich nämlich der Erreichung seiner wichtigsten Ziele ganz sicher sein. Im Zusammenhang der Bewahrung des Erreichten findet sich mit dem Tod zudem immer ein unüberlistbarer Dieb. Daher ist ein – auch indirekt – an die Zweckerreichung gebundener Glücksbegriff von Grund auf verfehlt. Sieht man von diversen notwendigen, aber Seel (1995, S. 127) bestimmt den Begriff des glücklichen Lebens folgendermaßen: »Ein glückliches Leben hat, wem sich in einem selbstbestimmten Leben die wichtigsten eigenen Wünsche erfüllen.« Worauf es Seel ankommt, ist dabei die Bedingung der Selbstbestimmtheit, die im Übrigen auch die Fähigkeit einschließen soll, gegenüber den eigenen Zwecken in eine gewisse, Flexibilität ermöglichende Distanz zu treten. Seel hält seine Definition gegenüber der Rawlsschen insofern für echt (und nicht nur abgeleitet) »prozessual«, weil er das Leben im Modus »weltoffener Selbstbestimmung« als Zweck an sich selbst betrachtet, so dass die Erfüllung dieser Bedingung allein bereits ein »gelingendes Leben« bedeutet. Ein gelingendes und glückliches Leben nennt Seel auch ein »gutes Leben«, wobei wegen des zwischen gelingendem und glücklichem Leben bestehenden Bedingungsverhältnisses gutes und glückliches Leben letztlich zusammenfallen. Dennoch erscheint die von Seel (a. a. O. 2.4.1.2) eingenommene Opposition zu Rawls als eher künstlich, insofern die Rawlssche Kautele, dass der Lebensplan »vernünftig« und unter »günstigen Bedingungen aufgestellt« sein sollte, als in etwa mit der Seelschen Selbstbestimmungsbedingung zusammenfallend gelesen werden kann. 82 Siehe Kant (1797, A 6, S. 387): »Glückseligkeit ist die Zufriedenheit mit seinem Zustande, sofern man der Fortdauer derselben gewiß ist.« 83 Bei Rawls ist das die Kautele »und wenn er sicher ist, dass dieser gute Zustand fortdauern wird.«

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theoretisch weniger interessanten Bedingungen für menschliches Glück ab (ausreichend Nahrung etc.), dann sind die Zwecke selbst, die Sorge um ihr Erreichen als Ziele und ihre Wahrung als Interessen, das eigentliche Problem. Auch wenn Glück nicht mit der Freiheit von Sorge zusammenfallen sollte, ist ein Glücksbegriff, der mit einem Leben in Sorge verträglich ist, inadäquat. Die Überwindung der Sorge bedarf aber notwendig einer Änderung der Einstellung zu den eigenen Zwecken. An dieser Stelle liegt etwas nahe, was man den »asketischen Fehlschluss« nennen könnte – der aktive Verzicht auf die Verfolgung von Zwecken und Interessen. Der Asket hängt aber gewissermaßen noch (negativ) der Standardtheorie an: Wenn Glück im Erreichen der Zwecke liegt, dann wird man unabhängig von äußeren Bedingungen nur dann glücklich, wenn man keine Zwecke verfolgt. Hingegen kommt es aber nur darauf an, die innere Einstellung zu den eigenen Wünschen zu ändern: Die Einsicht in die Unverfügbarkeit der Ziele und in die Gewissheit des Verlustes alles Erreichten durch den Tod ist umzumünzen in die Einsicht der Sinnlosigkeit des befangenen Strebens und Festhaltens. Diese Einsicht manifestiert sich als »Loslassen«, als Gelassenheit im Hinblick auf die Erreichung und Bewahrung der eigenen Ziele und Interessen. Weil die Sorge als das eigentliche Unglück durch Streben und Festhalten entsteht, bewirkt die durch das Loslassen erreichte Distanz von der eigenen Interessenstruktur das Verschwinden der Sorge und ermöglicht so allererst das Aufkommen echter Lebensfreude, die den Namen »Glück« wirklich verdient hat. Erst jetzt entsteht auch Raum für von »egoistischen Hintergedanken« freies Interesse an der Welt und an anderen Menschen. Wohlgemerkt bedeutet dies nicht das Aufgeben jeglicher eigener Ziele. Aber es bedeutet, dass Ziele nun in einer anderen Weise gesetzt und verfolgt werden: Wenn man sich im Frühling an Blumen in seinem Garten erfreuen möchte, denkt man vielleicht zunächst an Orchideen. Wenn sich herausstellt, dass sich Orchideen in unserem Klima nicht halten, wählt man etwas anderes aus – vielleicht Glockenblumen. Man bleibt nicht trotzig bei Orchideen. Wenn man die Samen setzt und die kleinen Pflanzen gießt, dann freut man sich, wenn bei manchen eines Morgens die Blüten aufgegangen sind. Man sitzt aber nicht dauernd daneben und betet. Gehen die Blumen (z. B. wegen eines Kälteeinbruches) ein, dann hält man sich nicht mit Jammern auf, sondern ist längst schon wieder mit anderen Dingen beschäftigt. Die Ablösung von der Befangenheit in der eigenen Interessenstruktur bringt die ruhelose gedankliche Beschäftigung mit Zukunft und Vergangenheit zum Stillstand und ermöglicht ein Leben »jetzt«. Der Tod kann hier nichts mehr vereiteln, das Glück ist ja schon da. Er kann auch nichts wegnehmen, weil nichts festgehalten wird. (Erst auf diesem Hintergrund ge-

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winnen Epikurs Worte an Überzeugungskraft: »Der Tod geht uns nichts an.«) Der durch das Loslassen erreichte Gemütszustand wird in der antiken Philosophie mit dem Ausdruck ›ataraxia‹ (Seelenruhe) bezeichnet. Es ist wichtig, zu sehen, dass die Ataraxie nicht die »apathia«, die Abtötung aller Emotionen einschließt. Jedoch erhalten Emotionen einen anderen Hintergrund. Trauer beispielsweise tritt nicht mehr aufgrund eines Verlustes auf, sondern als Folge echten Mitgefühls. Die Ataraxie als solche wird gewöhnlich deshalb noch nicht als Synonym für »Glück« angesehen, da Glück die stärkere Konnotation von »Freude« hat. In der Tat besteht zwischen dem übergreifenden Glück und dem episodischen Glück ein semantischer Zusammenhang derart, dass episodisches Glück (der glückliche Moment) nicht übergreifendes Glück impliziert, jedoch ohne jegliche glückliche Momente nicht von übergreifendem Glück gesprochen werden kann. Obwohl die Ataraxie semantisch mit Glück nicht gleichzusetzen ist, hatten wir bereits festgehalten, dass sie erst echte Lebensfreude zulässt. Durch Ataraxie empfundene Lebensfreude: das ist die antike »euthymia«, die heitere Gelassenheit. Gibt es Mittel zur Erreichung des Glücks? Natürlich ist es eines, zu sagen, dass »Loslassen« erforderlich ist, und ein anderes, zu sagen, wie dies überhaupt bewerkstelligt werden soll. Wäre dies so einfach, dann wären wir schon alle glücklich. Tatsächlich fürchten wir uns aber als Selbstbefangene vor dem Loslassen, weil wir uns ja mit unserer Interessenstruktur als unserem »Selbst« identifizieren. Loslassen ist hingegen »Selbst«-Aufgabe. Wie sollte das Selbst dies nicht fürchten, insbesondere, wo in unserer westlichen Kultur »Selbstfindung«, »Selbstentfaltung« und »Selbstverwirklichung« ohne Unterlass gepriesen werden.84

84

Diese Kritik ist auch an Seels Bestimmung des gelingenden Lebens als Leben in »weltoffener Selbstbestimmung« zu richten, und ebenso an Kambartels Verständnis des »wahrhaft guten Lebens« in der »Selbstverwirklichung«, wobei »Selbstverwirklichung heißt […], das eigene Leben aus eigenem (nämlich selbst einsichtig gefaßten) Entschluß um seiner selbst willen führen zu können, sich selbst als eigenen, mit Kants Worten »Zweck an sich selbst« begreifen zu können« (siehe Kambartel (1978)). In den Ausführungen westlicher Intellektueller zu Fragen der Eudämonie lässt sich fast durchweg eine implizite und unhinterfragte Vorentscheidung zu Gunsten eines Konzeptes subjektiver Autonomie diagnostizieren. Diese Vorentscheidung geht als verstecktes Konzept des guten Lebens auch in dezidiert normative Ethiken wie die Diskursethik ein. Zu bedenken wäre aber, ob unser Autonomiestreben nicht vielleicht selbst schon ein »Symptom« unserer Selbstbefangenheit darstellt, die im Rahmen von begrifflichen Klärungen glücklichen Lebens mittels der Begriffe »Selbstbestimmung« und »Selbstverwirklichung« dann auch noch definitorisch als für menschliches Glück konstitutiv festgeschrieben wird.

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Für alle Angebote an Wegen zum Glück gilt zunächst gleichermaßen, dass die Mittel-Zweck-Beziehung zwischen ihnen und dem Glück die Gefahr einer Selbstbefangenheit auf höherer Stufe in sich birgt. Dies macht es in jedem Fall erforderlich, dass Ataraxie und Euthymie gerade nicht wieder als Ziel wie andere Ziele angestrebt werden. Das gibt der Sache ihre gefürchtete paradoxe Struktur. Wie Brecht es im »Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens« ausdrückt: »Ja, renn nur nach dem Glück. Doch renne nicht zu sehr! Denn alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher.« Verstand es sich in der Antike noch ganz von selbst, dass Philosophie auch Anleitung zum glücklichen Leben geben sollte, stellt konkrete Lebensberatung für die zeitgenössische Philosophie ein ausgesprochenes Tabu dar. Wie bereits zu Beginn dieses Abschnittes bemerkt, liegt dies an der vorherrschenden Auffassung, dass nur ein Jeder für sich selbst entscheiden könne, nach welcher façon er glücklich werden möchte. Obwohl die herrschende Ansicht falsch ist, findet die Abstinenz zeitgenössischer Philosophen in Sachen Lebensberatung dennoch einen guten Grund in der Tatsache, dass sie im Gegensatz zu ihren antiken Kollegen, sowohl was ihre Ausbildung als auch was die Praxis anbelangt, nicht mehr bestallt sind, Menschen zu erziehen und zu führen. Aber dennoch ist nach meinem Dafürhalten an dieser Stelle wenigstens ein Fingerzeig, ein Hinweis auf konkrete Mittel zur Überwindung der Sorge nötig, um nämlich dem Einwand begegnen zu können, dass es derartige Mittel überhaupt nicht gebe. Die oben angesprochene, paradoxe Struktur des Wegs zum Glück könnte zur Stützung einer solchen Behauptung herangezogen werden. Zusätzlich könnte unter (vielleicht falsch verstandenem) Bezug auf Martin Heidegger »Sorge« als »anthropologische Grundkonstante« postuliert werden. Diese ausschalten zu wollen wäre dann genauso illusorisch wie etwa der Versuch, das Bedürfnis nach Schlaf zu überwinden. Vielmehr gälte es, sich zum »Willen« – zum Streben und Festhalten – als unabdingbarem Bestandteil »menschlicher Natur« zu »bekennen« und damit ein »bewegtes« Leben im Auf und Ab von Befriedigung und Frustration zu »bejahen«: »›War das – das Leben?‹ will ich zum Tode sprechen. Wohlan! Noch einmal!« – beschwor uns schon Nietzsche in diesem Sinne.85 Gegen den Verdacht der Unmöglichkeit der Überwindung des befangenen Selbst sprechen zwar schon die Jahrtausende alten Praxen östlicher (und west85

Nietzsche (1980, S. 552).

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licher) Meditation, doch leider genügt ein bloßer Verweis auf sie hier nicht, da solche Praxen in unserer Gesellschaft nur sehr partikulär ausgeübt werden und sich zudem pauschal allen Vorurteilen ausgesetzt sehen, die mit dem Wort »Esoterik« gewöhnlich assoziiert sind. Es soll daher im Folgenden ein Hinweis auf eine einfache und konkrete Übung gegeben werden, wie sie im Rahmen verschiedener »Wege« in dieser oder ähnlicher Form vorkommt.86 Diese Übung stellt zwar keinesfalls selbst schon einen Weg dar, mag aber in ihrer Konkretheit verdeutlichen helfen, wie geeignete Mittel zur Überwindung der Sorge aussehen können. Den Hintergrund bildet dabei die Beobachtung, dass sich Sorge (unter anderem) in der Ruhelosigkeit unserer Gedanken manifestiert. Zwar werden wir von Kind auf daran gewöhnt, uns in unserem äußerlich sichtbaren Handeln und Verhalten nicht »gehen zu lassen«, sondern uns »zu benehmen«, aber nichts Vergleichbares geschieht in Bezug auf unser »inneres« Handeln und Verhalten. So lassen wir unseren Gedanken gewöhnlich freien Lauf, wohin sie uns auch gerade führen. Die Wahrnehmung von Geschehnissen ruft in uns assoziativ Gedanken hervor. Wegen ihres Relevanzbezugs zu unserer Interessenstruktur (unserem Selbst) lösen die Gedanken – als angenehme oder bedrohliche – Emotionen aus und diese wiederum weitere Gedanken zur Bewältigung der Emotionen und Geschehnisse. Je nach den Umständen und unserer momentanen Interessenstruktur ist dieser Kreislauf von größerer oder kleiner Intensität. Als »drückende Sorge« wird er uns nur bei hoher Intensität und starken begleitenden Emotionen bewusst, doch ist er immer da. Abgesehen von wenigen Ausnahmesituationen (etwa konzentrierter Arbeit) befinden wir uns beständig in einem mehr oder weniger dichten »Gedankennebel«, einem fortdauernden Tagtraum. Ob wir zur Arbeit gehen oder nach Hause kommen, beim Einkaufen oder vor dem Einschlafen – immer kreisen Gedanken und erzeugen Hoffnungen und Ängste. Um ein Missverständnis gleich von Vornherein auszuschließen: Hier soll keineswegs das Denken pauschal verdammt werden. Aber anstatt Gedanken wie alle anderen Handlungen als Mittel nur bei Bedarf auszuführen, denken wir ohne Unterlass und gleichen dabei Jemandem, der nach beendigter Fahrt auskuppelt und den Motor seines Wagens einfach weiterlaufen lässt. Nun ist andererseits einem Jeden von uns aus der Alltagserfahrung die wohltuende Wirkung bekannt, die einsetzt, wenn die Gedanken (und damit die Sorgen) zeitweilig ein wenig zur Ruhe kommen – im Urlaub etwa oder beim Spiel. 86

Es fällt mir keineswegs ganz leicht, das zu tun, da mir sehr wohl bewusst ist, dass so etwas, im Unterschied zur antiken Philosophie, in der zeitgenössischen (professionellen) Philosophie als ungehörig und peinlich gilt – man überlässt das Feld heute lieber der (natürlich ihrerseits als unseriös eingestuften) Ratgeberliteratur.

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Dieses wohltuende Zur-Ruhe-Kommen ist für gewöhnlich ein glückliches Widerfahrnis, es lässt sich aber auch – durch Übungen – gezielt herbeiführen und sogar zu einer »Gewohnheit« entwickeln. Normalerweise ist man in seine Gedanken vollständig involviert. Eine Situation ruft einen Gedanken hervor, dessen Inhalt wird emotional angenommen oder abgelehnt, neue Gedanken tauchen auf – und schon wird man im Strom der Gedanken fortgerissen. Die schon angekündigte (und nun auch wirklich folgende) Übung dient dem »sanften Durchschneiden« des Gedankenstroms: Sie besteht im Wesentlichen darin, gegenüber dem Gedankenstrom eine Haltung der Aufmerksamkeit einzunehmen. Gewöhnlich sind wir nur den intentionalen Objekten der Gedanken gegenüber aufmerksam, jetzt sollen die Gedanken selbst Objekt der Aufmerksamkeit sein. Dabei ist es wichtig, keine Bewertung der auftauchenden Gedanken vorzunehmen. Man nehme die Rolle eines »interesselosen Betrachters« ein, der die Gedanken – so wie sie kommen – ohne Bewertung aufmerksam gewahrt. Wenn und solange das neutrale Betrachten gelingt, wird für diese Zeitspanne der emotionale Bezug der Gedanken zur Interessenstruktur (zum Selbst) »gekappt«. Die Aufmerksamkeit auf die Gedanken benötigt nämlich »Energie«, welche zur Auslösung von Emotionen und neuen Gedanken nicht mehr zur Verfügung steht. Diese lösen sich daher im Verlauf der Übung auf. Ein häufig gemachter Fehler ist dabei, dass man diese Auflösung der Gedanken und Emotionen angestrengt herbeiführen will. Das führt dann zu dem (natürlich untauglichen) Versuch, die Gedanken zu »verscheuchen« oder zu unterdrücken. Zwar besteht das Ziel der Übung in der Tat in der Auflösung der Gedanken. Es ist aber für den Erfolg unabdingbar, dass das Übungsziel während der Übung selbst »vergessen« ist: man soll einfach bloß auf die Gedanken Acht geben, wie auf vorbeiziehende Wolken am Himmel. Selbstverständlich gelingt dies – insbesondere zu Beginn – nicht beliebig lang. Aber mit etwas Übungspraxis lässt sich die »Lücke zwischen zwei Gedanken« beachtlich weiten. Hier ist nun ein weiterer Einwand zu berücksichtigen: »Wenn die Gedanken verschwinden, gleichen wir dann nicht bloß dahinvegetierenden Kreaturen?« Die Antwort hierauf kann eigentlich nur lauten: »Tu und schau!« Wenn man wissen möchte, ob Honigmelonen fad wie Kürbisse schmecken, dann reichen aufgrund äußerlicher Merkmale gezogene Analogieschlüsse nicht aus – man muss die Melonen probieren. Im Fall der Achtsamkeitsübung wird man die Erfahrung machen, dass keineswegs alles »im Stumpfsinn versinkt«, wenn die Gedanken zur Ruhe kommen. Vielmehr lässt sich das Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken vergleichen mit dem Erwachen aus einem unruhigen Schlaf oder dem Sich-Lichten eines dichten Nebels. Der begleitende Gemütszustand lässt sich beschreiben als die beruhigende Geborgenheit einer unmittelbaren Rückbindung an die Welt, als ein Gefühl des Nicht-Getrenntseins oder auch Nicht-

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Alleinseins bei gleichzeitiger vollständiger Klarheit der Wahrnehmung, die ungetrübt ist vom begrifflichen und emotionalen Staub, der in der gewöhnlichen, selbstbezogenen Wahrnehmungsperspektive unaufhörlich aufgewirbelt wird. Das lateinische Wort für »Rückbindung« ist ›religio‹, und in der Tat versuchen alle großen Religionen seit jeher, Wege zu der uns verloren gegangenen Geborgenheit aufzuzeigen. Wie etwa die Bergpredigt oder die Schriften der deutschen Mystiker zeigen, gehört das Christentum hierzu genauso wie der Islam oder die verschiedenen Formen von Hinduismus und Buddhismus. Freilich haben wir mit dem Übergang zur Religion als (zeitgenössische) Philosophen das Problem, dass im religiösen Gespräch unsere bewährten, auf die Zwecke des wissenschaftlichen und philosophischen Diskurses zugeschnittenen Rationalitätsstandards versagen. Das liegt vor allem daran, dass sich der Sinn religiöser Aussagen ohne Kenntnis der durch sie ausgedrückten Erfahrungen nicht erschließt oder sich nur (wie im vorigen Absatz geschehen) äußerst vage in Analogien und Metaphern explizieren lässt. Religiöse Aussagen erhalten immer nur im Nachhinein durch die religiöse Erfahrung ihren Sinn. Sie dienen daher in erster Linie auch nicht der Vermittlung, sondern der Bewahrung religiöser Einsichten. Gehen die religiösen Erfahrungen verloren, dann degenerieren die religiösen Aussagen zu bloßen »Formeln«87 – so etwa das berühmte Augustinuswort »Inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te«, dessen tiefer Sinn heute gewöhnlich durch die oberflächliche Interpretation verstellt wird, dass es dem naiv Gläubigen wegen seines Gottvertrauens besser als dem »aufgeklärten« Atheisten gehe.

2.3 Bedürfnisse Die Frage nach dem Glück des Menschen als Frage nach der Überwindung der Sorge anzusehen, ist selbstverständlich erst auf dem Hintergrund einer Situation sinnvoll, in welcher viele grundlegende, für die Aufrechterhaltung menschlichen Lebens indisponible Interessen bereits als gewahrt unterstellt werden dürfen. Solche Lebensbedingungen (die im Übrigen erst im Falle der Deprivation explizit als Zwecke gesetzt werden müssen) habe ich in Abschnitt 1.2.3 als »Bedürfnisse« bezeichnet. Ihnen kommt im Rahmen von Beratungen um gewaltfreie Konfliktbewältigung eine wichtige Rolle zu, wenn es um die Gewichtung konfligierender Zwecke geht. Die Frage, der ich mich nun zuwenden möchte, ist, welche materialen Zwecke diskursiv als Bedürfnisse auszeichenbar 87

Insofern dies immer wieder geschieht, werden die alten Einsichten immer »neu« entdeckt und die neu entdeckten Einsichten immer in alten Formulierungen »wieder gefunden«. Siehe hierzu Kamlah (1972, II.§ 2 »Die neue Einsicht als die alte«).

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sind. Da diese Auszeichnung eine Sache des materialen Diskurses ist, dürfen die folgenden Ausführungen selbstverständlich nur als Vorschläge innerhalb dieses Diskurses betrachtet werden. Da sie aber auf rekonstruktiven Überlegungen beruhen, und zudem noch recht allgemeiner Natur sind, besteht für sie trotzdem begründete Hoffnung auf allgemeine Zustimmungsfähigkeit. Einig ist man sich hier über die so genannten »natürlichen« Bedürfnisse wie (in hinreichendem Maße) Essen, Trinken, Schlafen, von Verletzung frei zu bleiben etc., die der schlichten Aufrechterhaltung des physischen (Über-)Lebens dienen. Wird der Begriff des natürlichen Bedürfnisses von Bedingungen der Erhaltung des individuellen Lebens auf Bedingungen der Erhaltung der Art erweitert, kommen weitere Bedürfnisse wie Sexualität und Sozialität hinzu. Eine Beschränkung des Bedürfnisbegriffes auf natürliche Bedürfnisse wäre allerdings eine biologistische Verkürzung. Versteht man unter dem Begriff »Mensch« nicht bloß eine biologische Art (homo sapiens sapiens), sondern ein Kulturwesen, dann lassen sich in Analogie zu den natürlichen Bedürfnissen kultürliche auszeichnen als diejenigen Bedingungen, die uns unsere »Menschlichkeit« im kultürlichen Sinne erhalten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier als Beispiele zunächst die universellen »sozialen« Bedürfnisse nach Anerkennung, Freundschaft, Liebe und Geborgenheit genannt. Versuche, solche Bedürfnisse durch Aufweis eines mit ihnen verbundenen »Selektionsvorteils« in einen biologistischen Rahmen einzufügen, wirken wenig überzeugend. Ganz offensichtlich führen hier nämlich nicht biologische Resultate zur Auszeichnung derartiger Bedingungen als Bedürfnisse, sondern umgekehrt führt die intuitive Überzeugung, es hier mit menschlichen Bedürfnissen zu tun zu haben, zu »ad hoc«-Hypothesen über angebliche Selektionsvorteile. Diese universellen sozialen Bedürfnisse sind noch zu erweitern um soziale Bedürfnisse, die zwar insofern kulturkovariant sind, als sie von bestimmten strukturellen Merkmalen der normativen Organisation einer Gemeinschaft abhängen, aber aufgrund der faktischen Dominanz dieser Organisationsformen einen »quasiuniversellen« Status erhalten. Hierzu zählt beispielsweise das durch die arbeitsteilige Gesellschaft bedingte Bedürfnis nach einem Arbeitsplatz. Der biologistisch reduzierte Bedürfnisbegriff betrachtet den Menschen nur unter dem eingeschränkten Aspekt seines Überlebens als Individuum bzw. natürliche Art. Hingegen fängt für das kultürliche Menschenbild mit der Erfüllung der natürlichen Bedürfnisse das Menschsein erst an. Schon das Bedürfnis nach Arbeit lässt sich im Rahmen des kultürlichen Menschenbildes nicht einfach auf ein bloßes Mittel zur Erfüllung natürlicher Bedürfnisse reduzieren. Und Bedürfnisse wie die nach Spiel, Sport, Kunst und Bildung über ihren Nutzen im »Überlebenskampf« auszeichnen zu wollen, ist nichts weiter als ein Zeichen für hochgradige theoriegeleitete Selbstentfremdung. Dinge

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wie die genannten zählen genau deshalb zu den menschlichen Bedürfnissen, weil wir Menschen sie aus der Innenperspektive menschlichen Lebens als für »menschliches« Leben konstitutiv auffassen: Mit ihnen verlieren wir auch unsere Menschlichkeit. Das ist der Grund dafür, dass die Insassen der nationalsozialistischen Vernichtungslager allem Leid und Mangel an natürlichen Lebensgrundlagen zum Trotz bis zuletzt versucht haben, kulturelles Leben mit Musik, Theater, Spiel etc. aufrecht zu erhalten. Ich hatte diesen Abschnitt mit der Feststellung eingeleitet, dass die Frage nach dem menschlichen Glück erst auf dem Hintergrund einer Situation sinnvoll wird, in welcher die Erfüllbarkeit grundlegender Bedürfnisse unterstellt werden darf. Bei der Vielzahl der in diesem Abschnitt nur exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannten Bedürfnisse könnte sich dies so anhören, als sei Glück nur für die Wenigsten zu erreichen. Dies wäre aber eine Fehleinschätzung. In der Tat hat Epikur im Kern Recht, wenn er der Meinung ist, dass es nur wenige Bedürfnisse gibt, und dass diese leicht zu realisieren sind. Das soll nicht heißen, dass man sich etwa mit sozialer Ungerechtigkeit, unmenschlichen Arbeitsbedingungen usw. zufrieden geben sollte. Aber das Bedürfnis nach einer lebenswerten Wohnumgebung verlangt nicht nach Penthousesuiten und das Bedürfnis nach Kunst nicht nach Karten für die Bayreuther Festspiele. In den Fällen, in welchen uns ein »Bedürfnis« schwer oder gar nicht erfüllbar scheint, handelt es sich bei vorbehaltloser Prüfung oft um eine künstlich gesteigerte Begehrung, von welcher wir uns selbstbefangen beherrschen lassen. Aber auch, wenn einem Menschen tatsächlich die Erfüllung einzelner Bedürfnisse mehr oder weniger stark verwehrt ist, so bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass für ihn ein glückliches Leben nicht möglich wäre. Vielmehr kann die Einschränkung einzelner Bedürfnisse bis zu einem gewissen Grad durch Erfüllung anderer Bedürfnisse kompensiert werden. Das Leiden an einer chronischen Krankheit kann mehr als kompensiert werden durch eine erfüllte Liebe, und ein nicht erfülltes Bedürfnis nach Partnerschaft könnte aufgewogen werden durch die Freude an künstlerischer Betätigung. Erst wenn die Einschränkung der Bedürfniserfüllung so stark ist, dass jede Kompensation ausgeschlossen ist, wenn die Lebensumstände »unmenschlich« werden, ist ein glückliches Leben nicht mehr möglich. Was ist nun, wenn eine solche Situation eintritt und nicht mehr zu ändern ist? Bestünde dann nicht die Option des Freitods?88 Dieses Thema kann und soll hier nicht diskutiert werden, aber schon allein das Wissen um die Möglichkeit des Freitods befreit denjenigen, der sich durch Loslassen von der befangenen Sorge um die Wahrung der eigenen Interessen gelöst hat, zugleich von der Sorge, dass die un88

Siehe zu diesem Punkt die Ausführungen in Kamlah (1972, II.§ 6).

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menschliche Lebenssituation einmal eintreten könnte – wer nämlich weiß, dass er jederzeit aufstehen und gehen kann, der rutscht nicht unruhig auf seinem Stuhl herum.

2.4 Zum Verhältnis von Eudämonie und Moral Zum Schluss soll nun noch die klassische Frage nach dem Verhältnis von »Moral« und »Glück« beleuchtet werden: Schließen eudämonistische und normative Ethik einander aus, schränken sie einander ein oder bauen sie gar aufeinander auf? Wir betrachten zunächst, inwiefern Begriffe und Ergebnisse eudämonistischer Ethik für die normative Ethik eine Rolle spielen können: Da wären zunächst einmal die Bedürfnisse. Im Zusammenhang mit dem Wertungsprinzip (1.2.3) hatten wir gesehen, dass der Rekurs auf Bedürfnisse im Rahmen koordinierender Beratungen zur »objektiven« Gewichtung von konfligierenden Zwecken benötigt wird. Der Bedürfnisbegriff und die materiale Auszeichnung von Bedürfnissen gehört zumindest teilweise in die eudämonistische Ethik. Allerdings kann dies nicht heißen, dass eudämonistische Ethik der normativen Ethik in irgendeiner Weise methodisch vorgeordnet wäre. Immerhin hat ja die materiale Auszeichnung von Bedürfnissen diskursiv zu erfolgen, und sofern es sich aufgrund der wertenden Bedeutungskomponente des Ausdrucks ›Bedürfnis‹ bei derartigen Diskursen nicht um bloße Dispute über die Geltung von Aussagen handeln kann, setzt die eudämonistische Ethik vielmehr die normative Ethik (ohne Wertungsprinzip) methodisch voraus. Dennoch muss normative Ethik über die diskursive Auszeichnung von Bedürfnissen material ergänzt werden, da die Anwendung des unverzichtbaren Wertungsprinzips den Rekurs auf bereits ausgezeichnete Bedürfnisse erfordert. Wie wir in Abschnitt 1.2.3 gesehen haben, würde eine normative Ethik ohne ein das Unvoreingenommenheitsprinzip (Gleichbehandlung konfligierender Zwecke) modifizierendes Wertungsprinzip (Wichtung der konfligierenden Zwecke) für koordinierende Beratungen leer laufen bzw. – schlimmer – wegen der Nivellierung aller Zwecksetzungen inadäquate Ergebnisse zeitigen. Ein weiterer Punkt, an welchem Ergebnisse der eudämonistischen Ethik für die normative Ethik relevant werden, betrifft die Tatsache, dass die Fähigkeit zur Distanzierung von der je eigenen Interessenstruktur eine Bedingung der Befolgbarkeit der diskursiven Haltungsnormen darstellt. Mit anderen Worten: Die Überwindung der Selbstbefangenheit ermöglicht uns nicht nur allererst echte Lebensfreude, sondern zugleich echte Unvoreingenommenheit gegenüber den Interessen anderer Menschen, wie sie im koordinierenden Diskurs von uns gefordert ist. Solange wir hingegen in der Selbstbefangenheit verhar-

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ren, birgt auch die beste Absicht zu unvoreingenommenem Diskurs immer die Gefahr, dass uns unsere Interessenstruktur – unser Selbst – ein Schnippchen schlägt, während wir es selbst nicht einmal bemerken müssen. Psychoanalytisch ausgedrückt, sind unsere »vernünftigen« Argumente dann nur »Rationalisierungen« unserer befangenen Motive. Bis jetzt habe ich untersucht, inwiefern Begriffe und Ergebnisse der eudämonistischen Ethik für die normative Ethik von Relevanz sein können. Nun soll der Spieß umgekehrt und gefragt werden, welchen Einfluss die normative Ethik auf die »Lehre vom glücklichen Leben« ausüben könnte. Meist wird hier natürlich an Einschränkungen gedacht, die die normative Ethik dem Glückstreben auferlegt. Und in der Tat ist es auch schlecht wegzudisputieren, dass die Befolgung des Sozialen Ideals nicht damit verträglich ist, seine Zwecke auf Kosten der Zwecke anderer zu realisieren, selbst wenn es sich bei diesen Zwecken um Bedürfnisse handelt. Insofern kann die Erfüllung von Glücksbedingungen mit dem Ziel moralischen Handelns also durchaus konfligieren. Obwohl es aber richtig ist, dass das Glück des Individuums nicht das Ziel moralischen Handelns darstellt, ist das Verhältnis des tugendhaften Lebens zum glücklichen Leben nicht das einer bloßen Beschränkung. Bereits Platon hat in den Dialogen, die er seinen Sokrates mit den Sophisten führen lässt,89 darauf aufmerksam gemacht, dass Glück auch nach Moral (als notwendiger Bedingung) verlangt, da nämlich sonst die sozialen Bedürfnisse nach Freundschaft, Liebe und Geborgenheit als Grundbedingungen glücklichen Lebens nicht erfüllbar sind. Ausführlich wird dies am Beispiel des Tyrannen erörtert, der sich aufgrund seiner Macht jeden sonstigen Wunsch erfüllen kann. Freundschaft, Liebe und Geborgenheit lassen sich aber bekanntlich nicht erzwingen. Sie werden im Gegenteil durch eigensüchtiges Ignorieren der Bedürftigkeit der anderen im Keim erstickt. Aber selbst wenn der Tyrann ein solcher Soziopath sein sollte, dass ihm an Freundschaft, Liebe und Geborgenheit gar nicht erst liegt, so kann er doch die für das Aufkommen echter Lebensfreude nötige Überwindung der Sorge nicht leisten. Dabei geht es vielleicht weniger darum, dass er immer fürchten muss, eines Tages von seinen unterdrückten Mitmenschen gemeuchelt zu werden. Auch wenn er sich hier seiner Sache ganz sicher sein dürfte, so könnte er doch vieles von dem, an dem er so selbstbefangen festhält, im unverfügbaren Verlauf der Dinge verlieren – beispielsweise seine Gesundheit. Und da er mit dem Tod alles verliert, wird er diesen schließlich am meisten fürchten.

89

Vor allem in den Dialogen des Gorgias und der Politeia. Siehe Platon (1993a) u. Platon (1993b).

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Daraus, dass das moralische Handeln eine Glücksbedingung darstellt, folgt natürlich andererseits nicht, dass das moralische Leben schon das glückliche Leben ist oder es garantiert. Oft wird kritisiert, dass im geläufigen Begriff des »guten Lebens« der Aspekt eines ethisch-moralisch guten Lebens mit dem Aspekt des glücklichen Lebens in unklarer Weise konfundiert sei. Aber diese Kritik ist verfehlt. Im Begriff des »guten Lebens« kommt wie in keinem anderen Begriff die Einsicht zum Ausdruck, dass sich die eudämonistische und die normativ-ethische Lesart der Frage »Was soll ich tun?« nicht gänzlich unabhängig voneinander behandeln lassen: Ein »gutes Leben« ist ein solches, in dem sich Lebensfreude und eine dem Sozialen Ideal gemäße Lebensführung verbinden und wechselseitig befördern.

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Rainer Forst

Die Perspektive der Moral Grenzen und Möglichkeiten des Kantischen Konstruktivismus in der Ethik 1) In der zeitgenössischen Moralphilosophie steht eine Familie von Theorien, die vom Erlanger und Konstanzer Konstruktivismus über die Diskursethik bis zu Ansätzen reichen, die von John Rawls beeinflusst sind, für eine bestimmte Weise, das Wesen der Moral zu erklären. Der Grundgedanke dieser »Kantischen Konstruktivismen« besagt, dass die Gehalte und die Geltung moralischer Normen als Ergebnis eines reflexiv-diskursiven Verfahrens aufzufassen sind, das deren Anspruch auf moralische Richtigkeit begründet, da es selbst die praktische Vernunft in prozeduraler Form verkörpert. Damit stellt sich zunächst die Aufgabe, das Konstruktionsverfahren angemessen zu fassen, genauer: zu rekonstruieren. In dieser Hinsicht tun sich erhebliche methodische Differenzen zwischen den genannten Ansätzen auf, auf die ich im Folgenden nicht eigens eingehen werde;1 worauf es mir ankommt, ist zunächst zu zeigen, dass der so verstandene Konstruktivismus eine überzeugende Möglichkeit bietet, die Geltung moralischer Normen jenseits von Realismen und Relativismen zu erklären – um in einem zweiten Schritt zu fragen, ob auf diese Weise eben jene Geltung in all ihren Hinsichten hinreichend erklärt werden kann. Stößt der Konstruktivismus dort an seine Grenze, wo er die Verbindlichkeit des Konstruktionsprinzips der Moral selbst erklären soll? 2) Einige zentrale Begriffe seien vorweg erklärt.2 Unter Moral wird ein System von kategorisch verpflichtenden Normen verstanden, das unter Menschen generell, in ihrer Eigenschaft, moralische Personen zu sein, wechselseitig und allgemein gilt und keinen dichteren Kontext zwischenmenschlicher Beziehungen bzw. spezieller Gemeinschaften (Familie, Freunde, politische Gemeinschaft etc.) voraussetzt. Unter moralischer Normativität sei entsprechend der Grund der Verbindlichkeit moralischer Normen verstanden: das, was diesen ihre bindende Kraft verleiht, so dass man »einen Grund hat«, diesen Normen gemäß und aus den

1

Vgl. dazu Rainer Forst, Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. Main 2007, Kap. 1 und 4. 2 In den folgenden Abschnitten greife ich auf die Ausführungen in meinem Aufsatz »Moralische Autonomie und Autonomie der Moral« zurück, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52, 2004, 179–197, auch in: Das Recht auf Rechtfertigung, a. a. O., Kap. 2.

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richtigen Motiven heraus zu handeln. Methodisch gilt dabei, dass die Frage der moralischen Normativität nach einer Untersuchung der Perspektive der ersten Person verlangt; im Lichte von deren Selbstverständnis ist zu rekonstruieren, was es heißt, eine moralische Norm zu befolgen. Dies insbesondere schließt eine naturalistische bzw. funktionalistische Erklärung der Moral aus der Außenperspektive aus, da diese nicht zu jenem Selbstverständnis vordringen kann Moralische Normativität impliziert, so verstanden, eine Vorstellung moralischer Autonomie, der zufolge moralische Personen individuelle Mitglieder eines »Raumes der Gründe« sind, in dem sie intersubjektiv akzeptable Rechtfertigungen für ihre Handlungen liefern müssen. Dies ist die Grundform moralischer Verantwortlichkeit: einander angemessen antworten zu können. 3) Konstruktionstheorien der Moral implizieren jedoch nicht nur ein bestimmtes Verständnis moralischer Autonomie, sondern auch eines der Autonomie der Moral. Dies besagt, dass es sich um eine Moral handelt, die von traditionellen Inhalts- und Geltungsvorgaben zumindest insofern frei ist, als diese nicht mehr unhinterfragt den Grund und den Gehalt der Moral ausmachen; sie muss sich aus selbstständigen, reflexiven Quellen speisen.3 Rawls sieht darin ein wesentliches Kennzeichen des Konstruktivismus: »Kant’s idea of autonomy requires that there exists no moral order prior to and independent of those conceptions that determine the form of the procedure that specifies the content of the duties of justice and of virtue.«4 Kant verleiht der Idee einer autonomen Moral zudem die Pointe, dass sie nicht nur in ihrer inhaltlichen Normenbegründung selbstständig sein muss, sondern auch eine eigene Triebfeder braucht, frei von himmlischen oder irdischen Glückseligkeitslehren. Die Moral muss aus der Perspektive der ersten Person eine Normativität sui generis besitzen, die nicht aus einer anderen Normativität oder aus empirischen Bedingungen abgeleitet sein darf. 4) Kants Moralphilosophie strebt eine Erklärung der Normativität moralischer Normen an, die diese zugleich als Gesetze und als Produkte der Autonomie vorstellt. Das Sittengesetz gilt absolut, aber zugleich ist es das Gesetz der Freiheit, das zur Autonomie und zur Verantwor tung aufruft. Diese komplexe

3

Vgl. besonders Jürgen Habermas, Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. Main 1996, 11–64. 4 John Rawls, Lectures on the History of Moral Philosophy, Cambridge (Mass.) 2000, 236 f.

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Normativitätskonzeption, die ich an dieser Stelle nicht ausführen kann,5 setzt dreierlei voraus: (1) einen normativen Begriff der Person in ihrer Würde als vernünftiges, autonomes Wesen, (2) ein unbedingt geltendes Sittengesetz und (3) moralische Gesetze (bzw. Normen), die ihre Geltung durch das Durchlaufen des Rechtfertigungsverfahrens des kategorischen Imperativs gewinnen. Die Autonomie der Moral basiert demnach auf der moralischen Autonomie vernünftiger Personen, die ein Reich des Normativen hervorbringen. Es sind diese drei Elemente, die in den diversen »kantischen Konstruktivismen« ebenfalls anzutreffen sind: ein normativer Begriff der autonomen Person, verbunden mit einem bestimmten Rechtfertigungsverfahren, das schließlich zur Konstruktion von Normen dient. Das Rechtfertigungsverfahren selbst ist dabei freilich nicht konstruiert, sondern rekonstruiert: als Argumentations- bzw. Diskursprinzip der kommunikativen Vernunft in der Diskursethik, als Prinzip der praktischen Vernunft vernünftiger und rationaler Personen bei Rawls, als rekursives Prinzip der (Selbst-)Rechtfertigung der Vernunft bei Onora O’Neill6 und als unbestreitbar »korrektes« Prinzip bei Christine Korsgaard, die in diesem Zusammenhang von »procedural moral realism«7 spricht. Allen Ansätzen ist freilich gemeinsam, das Rechtfertigungsverfahren als intersubjektives zu rekonstruieren und somit Kant sozusagen vom transzendentalen Kopf auf die sozialen Füße zu stellen – doch gleich mit der Kantischen modalen Einschränkung, dass der Konsens, der die Geltung moralischer Normen legitimieren können soll, einer sein muss, der unter freien und gleichen Personen bestehen könnte. 5) Mein eigener diskurstheoretischer Vorschlag geht davon aus, dass die Analyse des moralischen Standpunktes mit einer pragmatischen Rekonstruktion moralischer Geltungsansprüche beginnen sollte, um von dort aus rekursiv nach den Bedingungen der Rechtfertigung solcher Ansprüche – und der Konstruktion von Normen – zurückzufragen.8 Sofern die praktische Vernunft als das Vermögen gelten kann, auf praktische Fragen gerechtfertigte Antworten zu finden, gilt das Prinzip der Rechtfertigung als Prinzip der Vernunft, welches besagt, dass solche Antworten auf genau die Weise zu rechtfertigen sind, auf die ihr Geltungsanspruch verweist. Hier bedarf es somit einer differenzierten Ana-

5

Vgl. dazu meine Deutung der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in: Forst (Hg.), Moralische Autonomie und Autonomie der Moral. 6 Onora O’Neill, Constructions of Reason, Cambridge 1989. 7 Christine Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge 1996, 35. 8 Vgl. ausführlicher Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt a. Main 1994 u. 2004, Kap. V.2, sowie Das Recht auf Rechtfertigung, a. a. O., Kap. 1–4.

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lyse verschiedener Kontexte der Rechtfertigung. Im Kontext der Moral nun erheben Normen, die besagen, dass eine jede Person die Pflicht hat, x zu tun oder zu unterlassen, den Anspruch einer kategorischen, wechselseitig und allgemein einforderbaren Sollgeltung. Niemand, so der Anspruch, hat gute Gründe, die Geltung solcher Normen anzuzweifeln; eine jede Person kann ihre Befolgung grundsätzlich gegenüber jeder anderen einfordern. Fragt man von diesem Geltungsanspruch nach den Bedingungen seiner Einlösung zurück, verwandeln sich die Geltungskriterien von Reziprozität und Allgemeinheit in Kriterien der diskursiven Rechtfertigung. Dann gilt, dass bei der Begründung bzw. Infragestellung einer moralischen Norm (bzw. einer Handlungsweise) niemand bestimmte Ansprüche erheben darf, die er anderen verweigert (Reziprozität der Inhalte), und dass niemand anderen die eigene Perspektive, eigene Wertsetzungen, Überzeugungen, Interessen oder Bedürfnisse einfachhin unterstellen darf (Reziprozität der Gründe), so dass man etwa beanspruchte, im »eigentlichen« Interesse der Anderen zu sprechen oder im Namen einer schlechthin nicht bezweifelbaren Wahrheit, die jenseits der Rechtfer tigung stünde. Und schließlich gilt, dass die Einwände von keiner betroffenen Person ausgeschlossen werden dürfen, und dass die Gründe, die eine Norm legitimieren sollen, von allen Personen geteilt werden können müssen (Allgemeinheit). Somit herrscht in moralischen Kontexten das Prinzip reziprok-allgemeiner Rechtfertigung, was heißt, dass moralische Normen auf Gründen beruhen müssen, die nicht mit dem Verweis auf die Kriterien von Reziprozität und Allgemeinheit »vernünftigerweise« zurückgewiesen werden können.9 6) Damit stellt sich die Lösung für das Normativitätsproblem folgendermaßen dar: Unsere normative moralische Welt ist eine nach dem Prinzip der reziprokallgemeinen Rechtfertigung gemachte Welt – eine intersubjektiv konstruierte Welt von Normen, die dadurch verbindliche Geltung erlangen, dass keine (im relevanten Sinne) guten Gründe gegen sie vorgebracht werden können. Ihre Normativität beruht auf der autonomen Einsicht in solche Gründe. Diese konstruktivistische Lösung sollte jedoch nicht mit unnötigem metaphysischem Ballast verbunden werden. Denn in dem Streit zwischen Konstruk9

Damit schließe ich an Thomas Scanlon, What We Owe to Each Other, Cambridge (Mass.) 1998, an. Gegenüber seiner Formulierung »not reasonable to reject« hat meine den Vorteil, dass es die Kriterien der reziprok-allgemeinen Zurückweisbarkeit auch im Falle von – erwartbaren – Dissensen oder bei »falschen« Konsensen (die z. B. auf illegitimer Beeinfl ussung, Einschüchterung oder mangelnder Information beruhen) deutlicher erlauben, die Qualität der jeweils erhobenen Ansprüche zu überprüfen und zu bestimmen, wann die vernünftige Zurückweisung eines Anspruchs vorliegt bzw. vorliegen könnte.

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tivisten und Realisten, ob reziprok-allgemeine Normen bzw. Gründe für sie von uns »gemacht« oder bloß »erkannt« und dann »anerkannt« werden, kann der bislang skizzierte Konstruktivismus eine agnostische Position einnehmen: Er ist dann ein praktischer, kein metaphysischer Konstruktivismus. Mit Rawls bin ich der Auffassung, dass der Konstruktivismus auf die metaphysische These einer »konstitutiven Autonomie« der Art, dass »die sogenannte unabhängige Wertordnung nicht durch sich selbst konstituiert ist, sondern durch eine wirkliche oder ideale Tätigkeit der praktischen (menschlichen) Vernunft«, verzichten kann.10 Die Idee einer autonomen »Gesetzgebung« durch moralische Personen muss nicht zu einem metaphysischen Konstruktivismus führen, solange unbestritten bleibt, dass »für uns« kein anderer Weg zu moralischen Normen möglich ist als der entlang des Rechtfertigungsprinzips. Ob wir mit dessen Hilfe eine Welt von Normen »machen« oder »sehen« – Tatsachen gleich, die wir entdecken11 –, kann offen bleiben. Die Geltungsfrage ist eine normative, keine metaphysische. Die Normativität der Moral, so ist bis hierhin festzuhalten, wird durch ein intersubjektives Begründungsverfahren hergestellt, das Normen mit nichtzurückweisbaren Gründen versieht. Dies erklären zu können ist in meinen Augen der entscheidende Vorzug des diskurstheoretischen Konstruktivismus; hier liegen seine Möglichkeiten, die andere Theorien posttraditionaler Ethik nicht ausschöpfen können.12 7) An dieser Stelle ist jedoch zu bedenken, dass die bisher gelieferte Erklärung sich auf die Normativität der Normen – in Kants Terminologie: der praktischen Gesetze – bezieht, die nach dem Rechtfertigungsprinzip konstruiert sind; nicht erklärt ist dabei die moralische Normativität des Rechtfertigungsprinzips selbst, das ich oben nicht als konstruiert, sondern als rekonstruiert bezeichnet habe. Und damit ist der zweite Aspekt der Kantischen Normativitätskonzeption angesprochen: der der »unbedingten« Geltung des Sittengesetzes. Erinnert sei daran, dass die ursprüngliche moralische Pflicht sich eben diesem zentralen Gesetz direkt verbunden sieht: dem Gesetz der Gesetzlichkeit sozusagen. Für Kant liegt hier die entscheidende Normativitätsfrage. Denn wenn die Verbindlichkeit des Sittengesetzes nicht durch eine Normativität aus eigener Kraft erklärt werden kann, dann fällt zugleich mit der motivationalen auch die 10

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inhaltliche Autonomie der Moral. Sollte das Motiv zum Moralischsein ein heteronomes sein, etwa ein empirisches Interesse oder ein »act of faith«13, dann würde die Moral ihre Pointe verlieren: nämlich schlechthin »geschuldet« zu sein. Ich sehe hier von einer Kant-internen Diskussion dieser Frage ab, insbesondere davon, wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft nach der Grundlegung einen neuen Anlauf unternimmt, die basale Normativität zu erklären. Nun soll bekanntlich nicht mehr das Bewusstsein der Freiheit es sein, von dem her das Sollen erklärt wird, sondern umgekehrt soll sich die Idee der Freiheit durchs moralische Gesetz offenbaren. So muss ein anderer, ein ursprünglicher Zugang zum moralischen Gesetz vorliegen. Und die Lösung hierfür ist die Einführung des Begriffs von einem »Faktum der Vernunft«, die sich dem Bewusstsein als »unmittelbar gesetzgebend« zeigt – »ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Factum«.14 Dieter Henrich hat eine platonische Lesart dieser »sittlichen Einsicht« vertreten: Sie sei ein »Wissen vom Guten«, eine Einsicht in dessen »Wirklichkeit«.15 Der »Anspruch des Guten« geht dem Subjekt voraus: »Für die sittliche Einsicht ist das Gute, das sie billigt, ›in Evidenz‹ legitim. Es bedarf der Begründung nicht. Und wer, ehe er ihm zustimmt, die Frage nach dem Grund des Guten beantwortet wissen will, hat es schon aus den Augen verloren.«16 Damit tut sich im Zentrum des Konstruktivismus eine Tür auf, durch die verschiedene Formen des moralischen Realismus, etwa der Intuitionismus, eintreten könnten. Doch so scheint das ganze konstruktivistische Unternehmen in Gefahr, denn hinge die Geltung des Rechtfertigungsprinzips davon ab, läge hier der eigentliche Grund der Normativität der Moral. 8) Kant führt die »Herrlichkeit« des Gesetzes, an der man sich »nicht satt sehen kann«,17 letztlich auf die Natur des Menschen zurück, und zwar auf die »Erhabenheit unserer Natur« als Vernunftwesen: Der »würdige Ursprung« aller moralischen Pflicht ist die freie, sich über die »gebrechliche Natur« erhebende

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Paul Lorenzen, Normative Logic and Ethics, Mannheim 1969, 74. Dazu Friedrich Kambartel (Hg.), Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt a. Main 1974, 9–72. 14 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe, Band V, ND Berlin 1968, 43. 15 Dieter Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Gerold Prauss (Hg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973, 225. 16 Ebd., 228. 17 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 77.

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»Persönlichkeit«, die allein als Zweck an sich selbst gelten kann.18 Diese »Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit« macht die Würde der vernunftbegabten Person aus – und eben dieser Würde gerecht zu werden ist der letzte Grund der Normativität bei Kant. Es ist die »Achtung für ihre höhere Bestimmung«, die Menschen als Vernunftwesen dazu verpflichtet, ihren Willen moralisch autonom zu bestimmen. Die so verstandene Selbstachtung ist die Basis der Moral. Versteht man die Frage nach der »letzten« moralischen Normativität jedoch so, dass ein Grund dafür angegeben werden muss, weshalb moralische Personen anderen Personen moralisch gerechtfertigtes Handeln unbedingt schulden, reicht der letztlich selbstbezogene Hinweis auf die eigene Würde als Vernunftwesen, die zu achten ist, nicht aus; was fehlt, ist der Verweis auf eine genuin moralische Instanz. Und da im Zeitalter der Pluralität metaphysischer Weltdeutungen keine transzendente Instanz dafür in Frage kommt, kann nur der andere Mensch, dessen »Menschheit in seiner Person«19 unbedingt zu achten ist, der Grund der moralischen Verpflichtung sein. Dann bedarf das Sittengesetz in der Tat »keiner rechtfertigenden Gründe«20 außer der praktischen Erkenntnis, dass man ein »rechtfertigendes Wesen« mit einer grundsätzlichen Pflicht zur Rechtfertigung gegenüber anderen ist. Diese Pflicht wird in der »sittlichen Einsicht« erkannt und zugleich anerkannt – in einem Akt der Freiheit, der zugleich ein Akt der Übernahme einer Verantwortung ist, die man als Mensch schlechterdings hat. Die Praxis der Moral hat somit die einzigartige Eigenschaft, dass ihre Begründung zu verstehen zu wissen heißt, dass sie nicht weiter begründet werden muss und kann. Wer hier nach weiteren Gründen fragt, hat die Pointe der Moral schon verpasst. In diesem Sinne stimme ich H. A. Prichard zu, der in seinem Aufsatz »Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?« (1912)21 die These vertreten hat, dass die Moralphilosophie zumeist eine Art von Antwort auf die Frage »Warum moralisch sein?« gesucht hat, die darauf gar keine Antwort sein kann, weil sie am Phänomen der Moral vorbeigeht. Kein nichtmoralischer Grund kann das Moralischsein begründen, auch nicht der Selbstbezug auf »meine« eigene Vernunftnatur – denn es ist die Würde der anderen Person, um die es in der Moral an erster Stelle geht. Diese »tiefste« Ebene der Intersubjektivität der Moral gilt es philosophisch freizulegen.

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Ebd., 86 f. Ebd., 87. 20 Ebd., 47. 21 Harold A. Prichard, Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?, in: Wilfrid Sellars u. John Hospers (Hg.), Readings in Ethical Theory, 2. Aufl., Englewood Cliffs 1970, 86–96. 19

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9) Ohne an dieser Stelle darauf eingehen zu können, wie etwa Christine Korsgaard – Kant folgend – die Moral in der Wertschätzung der eigenen Fähigkeit zu autonomer Zwecksetzung begründet,22 sei kurz ein Blick auf die Diskursethik geworfen, die die Intersubjektivität der moralischen Perspektive besonders betont. Nicht erst seit den Auseinandersetzungen mit den Rückgriffen auf einen nicht weiter zu rechtfertigenden »Glaubensakt« (Lorenzen) zur Teilnahme an moralisch-argumentativer Praxis23 ist das »letzte« Begründungsproblem dort Thema. Karl-Otto Apel beanspruchte schon in »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, Kants »Rede vom ›Faktum der Vernunft‹ als dem unbezweifelbaren Tatbestand der sittlichen Selbstbestimmung (durch ein selbstgegebenes Gesetz der Selbstüberwindung) als ein Ergebnis transzendentaler Selbstbesinnung aufzufassen, das sich in dem von uns angedeuteten Sinn einer Implikation des Argumentationsaprioris rekonstruieren läßt«.24 In der transzendentalpragmatischen Reflexion erschließt sich Apel zufolge, dass es »unausweichliche Vorentscheidungen der argumentierenden Vernunft« gibt, die einen Argumentierenden immer schon dazu verpflichten, bestimmte normative Bedingungen der Mitgliedschaft in einer (unbegrenzten) Kommunikationsgemeinschaft anzuerkennen, die den Charakter einer »moralischen Grundnorm« annehmen. So muss nur noch explizit anerkannt werden, was implizit je schon vorausgesetzt ist und nicht ohne Selbstwiderspruch sinnvoll bestritten werden kann.25 Dieser transzendentalpragmatische Ansatz verkennt jedoch ebenfalls das Spezifische der Normativität der Moral. Denn er sieht Rationalitätsverpflichtungen der argumentativen Vernunft insgesamt – also auch solche des Argumentierens, das sich gar nicht auf die Moral bezieht – als moralische Pflichten an, wobei das besondere Moment der Verpflichtung in moralischen Handlungskontexten verloren geht, während der Normativitätscharakter der Vernunft im Ganzen überdehnt wird.26 Schließlich ist die Einsicht in einen zu 22

Vgl. dazu Forst, Moralische Autonomie und Autonomie der Moral, Abschnitt 14. Vgl. die Kritik bei Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. Main 1973, 150 ff. 24 Karl-Otto Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik, in: ders., Transformation der Philosophie, Band 2, Frankfurt a. Main 1973, 418. 25 So auch in Apel, Faktische Anerkennung oder einsehbar notwendige Anerkennung?, in: ders., Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt a. Main 1998, 221–280. 26 Vgl. zur Kritik Jürgen Habermas, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. Main 1983, 96; Albrecht Wellmer, Ethik und Dialog, Frankfurt a. Main 1986, 102 ff.; Habermas, Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung, in: Dietrich Böhler et al. (Hg.), Reflexion und Verantwortung, Frankfurt a. Main 2003, 49 f. 23

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vermeidenden Selbstwiderspruch nicht von der Art, wie wir aus der Perspektive der ersten Person die grundlegende moralische Einsicht beschreiben müssen. Jürgen Habermas hat demgegenüber die Konsequenz einer strikten Unterscheidung zwischen »dem ›Muß‹ einer schwachen transzendentalen Nötigung« durch »unvermeidliche« Argumentationsvoraussetzungen und dem »präskriptiven ›Muß‹ einer Handlungsregel« gezogen, d. h. zwischen der kognitiven Einsicht in das Argumentationsprinzip »U« einerseits und der Verpflichtung durch diskursiv gerechtfertigte Normen andererseits.27 Die kommunikative Vernunft soll nicht mehr wie die Kantische praktische Vernunft »eine Quelle für Normen des richtigen Handelns« sein.28 Damit aber bleibt der verpflichtende Charakter des Diskursprinzips in moralischen Kontexten, in denen wir eine Pflicht zur Rechtfertigung voraussetzen, unterbestimmt; mehr noch, es besteht die Gefahr, dass für die Einnahme des moralischen Standpunktes ein nichtmoralischer Grund angegeben wird, nämlich ein primär ethischer im Sinne einer Antwort auf die Frage, wer ich sein will oder wir sein wollen. In diese Richtung deutet Habermas’ Rede von einem zumindest partiell ethisch motivierten »Entschluß«, auch unter Bedingungen eines weltanschaulichen und ethischen Pluralismus »das moralische Sprachspiel beizubehalten und gerechte Verhältnisse herzustellen, bevor sich begründen läßt, wie wir unser Zusammenleben legitim regeln können«.29 In dem Text über Die Zukunft der menschlichen Natur schließlich heißt es, dass die »Bewertung der Moral im Ganzen […] nicht selbst ein moralisches, sondern ein ethisches, ein gattungsethisches Urteil« ist.30 Einer moralischen Gemeinschaft anzugehören, in der sich die Einzelnen wechselseitig und allgemein als Freie und Gleiche achten, geht demnach auf ein »existentielles Interesse« an einer kommunikativen Lebensform zurück, das Habermas zufolge nur um den Preis des Identitätsverlusts kommunikativ handelnder Subjekte verleugnet werden kann.31 Diese These ist zwar überzeugend, doch begründet sie nicht, was sie begründen müsste, nämlich die Pflicht der Aufrechterhaltung einer solchen Lebensform anderen gegenüber; auch hier gilt, dass derjenige, der so mit Bezug auf die Kosten des Verlusts seiner eigenen Identität reflektierte, schon nicht 27

Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. Main 1991, 191. Ebd.; vgl. ders., Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, Stuttgart 2001, 26 ff. 29 Jürgen Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen, in: ders., Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt a. Main 1999, 316 (Herv.i. O.). 30 Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, Frankfurt a. Main 2001, 124. 31 Zur These von der Vorgängigkeit einer kommunikativen Lebensform vgl. auch Lutz Wingert, Gemeinsinn und Moral, Frankfurt a. Main 1993, 174 ff., 262 f. 28

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mehr im Modus der Moral dächte. Die Moral hat mit Kostenüberlegungen nichts zu tun, so fundamental sie auch sein mögen. Es bedarf daher einer Füllung der Lücke, die zwischen dem transzendentalen »Muss« und dem »Muss« gerechtfertiger Normen auftaucht. Anders ginge der praktische Sinn, den das Rechtfertigungsprinzip im Kontext der Moral hat, verloren. Es muss als ein normativ bindendes Prinzip – oder »Gesetz« – angesehen werden, denn sonst wüssten moralische Personen zwar, wie sie sich zu rechtfertigen haben, nicht aber, dass sie dazu verpflichtet sind, sofern ein moralischer Handlungskontext besteht. Dazu bedarf es einer praktischen Einsicht zweiter Ordnung – im Unterschied zu Einsichten erster Ordnung in gerechtfertigte Normen –, d. h. einer Einsicht in die fundamentale, kategorische moralische Pflicht zur Rechtfertigung von Handlungsweisen bzw. Normen, die andere auf moralisch relevante Weise betreffen. Entsprechend erkennen moralische Personen einander als Personen mit einem nichtreduzierbaren Recht auf Rechtfertigung an; und dies genau ist es, was heißt, sich und andere als »Zwecke an sich selbst« anzusehen. 10) Bei dem Versuch, diese ursprüngliche moralische Normativität näher zu bestimmen, ist methodisch zu beachten, dass es nicht darum geht, einem »Moralskeptiker« einen Grund fürs Moralischsein zu nennen, so dass er einsehen könnte, inwiefern das Moralischsein sich »auszahlt« bzw. »für ihn gut« ist. Dies wäre die falsche Fährte, die Prichard (s. o.) kritisiert, denn auf diesem Weg kann man gar nicht zum Phänomen des Moralischseins vordringen, das ja gerade darin besteht, dass derjenige, der sich moralisch dem Anderen verpflichtet weiß, weiß, dass es dazu keiner Gründe bedarf, die auf ein primär selbstbezogenes empirisches Interesse, etwa der Sanktionsvermeidung,32 rekurrieren. Darin liegt der eigentliche Sinn der Rede von der Autonomie der Moral. Das Einnehmen des moralischen Standpunktes darf aber auch nicht als »grundlos« verstanden werden. Es bedarf vielmehr eines eigenen moralischen Grundes. Diesen Grund zu erkennen hieße dann für eine Person, sich ursprünglich gebunden zu sehen und doch als frei im Sinne moralischer Verantwortlichkeit. Darauf zielte Kant mit dem »Faktum der Vernunft« ab. Davon ist zumindest so viel zu bewahren, dass die Achtung für Personen, wenn sie eine moralische ist, gleichzeitig eine Anerkennung der anderen Person als Zweck an sich selbst sein muss und eine Form des Respekts, die sich an das Rechtfertigungsprinzip gebunden weiß, denn nur so kann der Andere als Wesen mit einem Recht auf Rechtfertigung erscheinen. Die »Sicht« auf den Anderen ist nicht inhalts- oder prinzipienlos; der Anspruch, den er an mich stellt und dem 32

So insbesondere Peter Stemmer, Der Begriff der moralischen Pflicht, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49, 2001, 831–855.

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ich moralisch zu entsprechen habe, kann von mir nur als moralischer »wahrgenommen« werden, wenn ich ihn im Kontext seines und meines Rechts auf reziprok-allgemeine Rechtfertigung sehe. Die ursprüngliche moralische Anerkennung ist damit eine im Rahmen der praktischen Vernunft, denn bei aller »Unverfügbarkeit« des Anderen, der an mich einen »unbedingten« Anspruch stellt, wie Lévinas sagen würde,33 ist es doch eine besondere Form, in der dieser Anspruch zu einem moralischen wird. So verlangt er, anders als Lévinas es nahelegt, keine »bedingungslose« Unterwerfung, sondern eine bestimmte Verantwortung gegenüber anderen. Richtig aber bleibt, dass »der Andere« für mich als Mitmensch eine nicht weiter zu begründende, nicht vernünftigerweise zurückweisbare Pflicht zur Verantwortung aufzeigt. Sie moralisch zu »erkennen« heißt anzuerkennen, dass sie »ohne weiteres Warum« bindet. Die menschliche Praxis, die wir »Moral« nennen, zeichnet sich durch eben diese »Grundlosigkeit« aus: Wer nach Gründen dafür fragt, weshalb er andere Menschen achten soll, verfehlt diese Praxis schon. 11) Damit scheint sich der Kantische Konstruktivismus dort, wo es um die zentrale Normativitätsfrage geht, doch in eine Form des moralischen Realismus zu verwandeln. Denn bedeutet das Gesagte nicht, dass es im platonischen Sinne einen moralischen Personenstatus »gibt«, dem wir nurmehr entsprechen?34 Diese Konsequenz zu vermeiden, setzt voraus, dass – mit Kant – die Einsicht in den Grund der Moral als Einsicht der endlichen praktischen Vernunft verstanden wird, der kein Zugriff auf eine metaphysische Welt der Gründe möglich ist. Das »Letzte«, worauf man zurückgehen kann, ist daher nicht irgendein sub specie aeternitatis »Gegebenes«, sondern unsere praktische Welt als eine menschliche Realität und Einrichtung nach Maßgabe der Vernunft, derer wir uns rekursiv-rekonstruktiv versichern können. Und so bleibt auch die Moral eine spezifisch menschliche Institution, die darauf basiert, dass Menschen sich gegenseitig einen Status als moralische Personen zuschreiben – letztlich in einem Akt der Anerkennung, der »keiner rechtfertigenden Gründe bedarf« (Kant) außer dem, dass er unter Menschen »geschuldet« ist. Die Autorität, die dies von uns »verlangt«, sind wir selbst, keine weitere Welt der Werte »an sich«, kein »absoluter Grund« scheint dort auf. Insofern bleibt unsere moralische Autonomie letztlich konstitutiv für die Autonomie der Moral; sie ist unsere konstruktive Antwort auf die vielfältigen menschlichen Erfahrungen des Verletztwerdenkönnens. Die Moral etabliert ein Rechtfertigungs- und Gründe33

Besonders in Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg 1993. So Charles Larmore, Person und Anerkennung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46, 1998, 459–464; L’autonomie de la morale, in: Philosophiques 24, 1997, 313– 328; und Back to Kant? No Way, in: Inquiry 46, 2003, 260–271. 34

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spiel, das darauf reagiert, doch funktioniert es nur, wenn man weiß, was dabei auf dem Spiel steht – und dass es ein Spiel wie kein zweites ist. 12) Die Normativität der Moral ist eine Normativität sui generis. Sie verdankt sich einer autonomen Einsicht in eine ursprüng liche Verantwortung gegenüber anderen, die im Moment dieser Einsicht angenommen und übernommen wird. Dieser Vorgang hat nichts Mysteriöses, denn jenes Verantwortlichsein ist die basale, ganz alltägliche Weise, in der wir »in der Welt« sind: als endliche Wesen, die Gründe brauchen, d. h. geben können und benötigen.35 Die Moral ist die Form dieses »rechtfertigenden« Existierens, die sich einem besonderen praktischen Kontext verdankt. In solche Kontexte recht hineinzukommen, heißt erkennen zu lernen, was Rechtfertigungen sind und wann man sie wem schuldet. In diesem Sinne ist die Normativität der Moral naturalistisch zu erklären: mit unserer »zweiten Natur« soziale Vernunftwesen zu sein.36 Die Anerkennung eines »ursprünglichen Sollens« ist Teil dieser Natur unserer selbst als animalia rationalia, als rechtfertigende Wesen. Aber dies heißt eben, dass keine nichtnormative Tür in den Raum moralischer Normativität führt, sofern wir die Perspektive seiner Bewohner verstehen wollen. Wenn dies zutrifft, hat die Moralphilosophie in der Tat auf die Frage nach dem Warum der Moral allzu oft irreführende Antworten gesucht, ob sie auf Gott, das Eigeninteresse, das Mitleid, die Selbstachtung, die Furcht vor Sanktionen oder bloße Konventionen verwiesen – Antworten, die stets one thought too many darstellten, um eine berühmte Formulierung von Bernard Williams (gegen dessen Intention einer Kritik kantischer Theorien) zu verwenden.37 Die Aufgabe einer vollständigen Theorie moralischer Normativität, zu der ich hier nur Bruchstücke liefern konnte, wäre es somit, die vermeintliche Schwäche des kantischen Konstruktivismus in seine eigentliche Stärke zu verwandeln – und die Autonomie der Praxis erklären zu können, die wir Moral nennen.

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Ich kann an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen, inwiefern an dieser Stelle eine Analyse des moralischen In-der-Welt-seins angezeigt wäre, zu der Heideggers Fundamentalontologie aufgrund ihrer reduzierten Auffassung von praktischer Vernunft nicht vorgedrungen ist, auch nicht in Kant und das Problem der Metaphysik (Frankfurt a. Main 1998) und Vom Wesen des Grundes (in: Wegmarken, Frankfurt a. Main 1978, 123–174), die dabei von besonderer Bedeutung wären. 36 John McDowell, Zwei Arten von Naturalismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45, 1997, 5. 37 Bernard Williams, Moral Luck, Cambridge 1981, 18.

Carl Friedrich Gethmann

Warum sollen wir überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Zum Problem einer lebensweltlichen Fundierung von Normativität

Die Frage nach dem Ursprung des Sollens betrifft eine fundamentale Weichenstellung, durch die viele elementare ethische Fragen, schließlich auch die Varianz ethischer Groß-Paradigmen wie Tugendethik, Verpflichtungsethik oder Nutzenethik entschieden werden. Sie ist also eine »Grund«-Frage. Dies soll die durch den Obertitel dieses Beitrags bewußt gewählte Anspielung auf die metaphysische Grundfrage von Leibniz zum Ausdruck bringen. Dies könnte allerdings zu einer Art der Problembehandlung verleiten, für die die Philosophie oft (wenn auch zu Unrecht) in Verruf steht, nämlich zunächst die Geschichte des Problems zu erzählen und die Vielfalt der Antwortmöglichkeiten zu durchmustern, wenn alles gut geht, schließlich noch die Fragestellung in metaphysischer Manier zu entwickeln oder wenigstens die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu erörtern. Gegenüber diesem Verfahren soll im folgenden eine einfache Antwort ohne Anspruch auf metaphysischen Tiefgang, jedoch mit Anspruch auf pragmatische Adäquatheit expliziert werden. Sie lautet: Wir sollen etwas tun, weil und soweit jemand von uns etwas will. Abgesehen von einigen analytischen Aufgaben, wie etwa der genaueren Klärung der Termini »tun«, »voraussetzen« und »wollen«, ist damit der Beitrag der Sache nach beendet. Allerdings gibt es noch einige Aufräumarbeiten zu leisten, um der Antwort einen Weg zu bahnen, ihre Bedeutung für gegenwärtig vieldiskutierte Fragen zu erörtern und – vor allem – den Trivialitätsvorwurf zurückzuweisen. Zuvörderst ist jedoch die Frage zu beantworten, warum gerade diese und keine andere Antwort hier den größten Plausibilitätszuspruch erhält. Die Argumentation ist bei Fragen derartiger Grundsätzlichkeit keineswegs einfach. Der philosophische GAU ist bekanntlich die Konstellation, die zu einem »gratis asseritur – gratis negatur« führt. Die Frage nach der Ausweisbarkeit einer solchen These berührt direkt die methodologische Grundfrage der Philosophie: Wie kann man bei Fragen derart elementaren Zuschnitts, bei denen man im Interesse der Zirkelvermeidung kaum argumentative Instrumente zur Verfügung hat, seine Vorschläge ausweisen? Die Philosophie hat ein SkepsisProblem – immer. Mit der Frage nach der Beantwortung von philosophischen Grund-Fragen befinden wir uns entgegen dem oberflächengrammatischen Anschein nicht in einer Domäne geltungsbeanspruchender Redeformen wie Behaupten und Auffordern (vielmehr räsonieren wir über diese), sondern in einer Domäne solcher Redeformen, mit denen prä-diskursive Einverständnisse

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etabliert werden, nämlich Vorschläge und Empfehlungen. Allerdings ist auch in diesem Bereich nicht alles beliebig. Vielmehr gelten hier spezifische Rationalitätsformen, für die Begriffe wie Explikation oder Rekonstruktion verwandt wurden. Diese methodologischen Charakterisierungen zeigen an, daß wir uns in einem für die Wissenschaften scheinbar ungewohnten Feld pragmatischer Argumentation bewegen. Für die Evaluierung der Ergebnisse solcher Arbeit gelten nämlich nicht die in den Wissenschaften üblichen Beurteilungsprädikatoren wie wahr / falsch, sondern eher solche wie aussichtsreich, angemessen, fruchtbar oder erheblich.1 Ferner (und damit dürfte der Trivialitätsverdacht bereits ausgeräumt sein) gibt es durchaus ernstzunehmende philosophische Positionen, die ganz andere Antworten für angemessen halten. Mit Blick auf die aktuelle Diskussion um die Grundlagen der Ethik dürften zwei Antworten von besonderer Bedeutung sein: (a) Wir sollen etwas tun, weil die Dinge, mit denen wir umgehen (Dinge einschließlich Ko-Akteure), so und so sind, z. B. ihnen etwas inhäriert, das irgendwie »besagt« oder »bedeutet«, daß wir etwas Bestimmtes tun sollen. Man könnte diese Position (besser: Familie von Positionen) als praktischen Naturalismus bezeichnen. Die im folgenden zu explizierende Kurzkritik lautet vorab, daß diese Positionen versuchen, präskriptive Phänomene letztlich auf deskriptive zu reduzieren und damit regulative Redehandlungen in ihren Gelingensbedingungen auf konstative zu reduzieren. (b) Ich soll etwas tun, weil es in mir so und so geartete Wünsche gibt, die mich zusammen mit bestimmten Überzeugungen über die Zusammenhänge von Wunsch und Wunscherfüllung kausal veranlassen, etwas Bestimmtes zu tun. Diese Position kann man als praktischen Solipsismus bezeichnen.2 Die Kurzkritik an dieser Position zielt darauf, daß hier das Sollen nicht in seiner sozialen Funktionalität als interaktives Phänomen rekonstruiert, sondern als bloßes Phänomen der »Binnenrationalität« des Individuums betrachtet wird. Diese Auffassung ist durch einen doppelten Reduktionismus gekennzeichnet, der in einem präskriptiven Defizit (Warum soll ich, was ich mir wünsche?) und damit in einer fundamentalen Verfehlung des »Praktischen« liegt (Wieso nennt man das Ergebnis des kausalen Übergangs von Wünschen und Überzeugungen überhaupt »Handeln«?). Allerdings ist ein Reduktionismusvorwurf immer voraussetzungsreich. Er setzt voraus, daß es das angeblich reduzierte Phänomen »wirklich« gibt und daß es demzu1

C.F. Gethmann / Th. Sander, Logik und Topik. Es wird auch vom »Humeschen Standardmodell« gesprochen. Dieses Grundmodell hat in jüngerer Zeit Chr. Fehige in seinem Buch Soll ich? noch einmal plausibel zu machen versucht. Zur Kritik vgl. J. Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus. 2

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folge inadäquat ist, es zu »reduzieren«. Ob es aber präskriptive Phänomene wie Aufforderungen und Handlungen anders als vom praktischen Solipsismus unterstellt, »wirklich« gibt, liegt keineswegs ohne weiteres auf der Hand und ist daher zu klären. Nach dem »Ursprung« oder der »Quelle« des Sollens fragen, heißt diejenige Stelle suchen, an der das Phänomen als an seinem genuinen Erfahrungsort befindlich und somit irreduzibel rekonstruiert werden kann. Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, daß sowohl der praktische Naturalismus als auch der praktische Solipsismus in unterschiedlicher, aber durchaus ähnlicher Weise gegen diesen Anspruch verstoßen.

1) Auffordern Die Erfahrung des Sollens ist durch zwei Momente geprägt, wenn auch nicht vollständig beschrieben. Zunächst steht das Sollen immer an einer nachgeordneten Stelle im Diskurs. Man könnte in Anspielung auf eine verbale Strategie von C.S. Peirce von einer »Zweitheit« des Sollens sprechen. Das Sollen ist etwas, dem wesentlich etwas anderes vorausgeht. Genauer ist das Sollen ein reaktives Phänomen. Aktiv ist es, weil der Akteur, der ein Sollen vollzieht, dies in dem Wissen tut, daß er etwas tun soll. Das »Re-aktive« des Phänomens bedeutet, daß der Akteur sich gehalten sieht, etwas in Entsprechung zu … zu tun.3 Gesetzt, die »Erstheit« stelle ein erstes »Wort« dar, dann ist das Sollen die dazu passende »Ant-wort«. Das Sollen ist ein responsorisches Phänomen. Als solches ist es keineswegs ein Unikat. Andere Beispiele für Phänomene vom Typ der Zweitheit im Sinne einer responsorischen Realität sind: das Zweifeln (sc. an einer Behauptung), das Bestreiten (sc. eines Vorwurfs), das Einlegen eines Einspruchs (z. B. gegen ein Gerichtsurteil), das Protestieren (z. B. gegen eine politische Absicht), das Austreten (aus einem Verein), das Ausziehen (z. B. aus einem Parlament) usw.. (Rede-) Handlungen vom Typ der Zweitheit sollen »reaktive« (Rede-) Handlungen heißen. Es ist offenkundig, daß Reaktivität in diesem Sinne von Passivität deutlich unterschieden ist. Redehandlungen werden nach Austin4 und Searle5 durch spezifische Gelingensbedingungen ausgezeichnet. Searle war der Meinung, daß diese Gelingensbedingungen sich jeweils vollständig auf einen identischen Redenhandlungstyp beziehen und nicht durch den Zusammen3

»Tun« umfaßt in diesem Zusammenhang sowohl das Ausführungen als auch das Unterlassen der Ausführung eines Handlungsschemas. 4 How to do things with Words.

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hang mit anderen Redehandlungen mitbedingt werden. Gegen diese Auffassung Searles läßt sich jedoch leicht zeigen, daß es Redehandlungen gibt, die wesentlich dadurch ausgezeichnet sind, daß sie in Redehandlungssequenzen sinnvoll nur an bestimmten Orten vorkommen können, d. h. daß deren Gelingensbedingungen wesentlich von den Gelingensbedingungen anderer Redehandlungen abhängen.6 Dies läßt sich am Beispiel des Zweifelns illustrieren. Es ist in vielen, vielleicht sogar in allen Kontexten inkorrekt, eine Redehandlungssequenz mit einem Zweifel zu beginnen. Ein Zweifel bezieht sich z. B. auf eine (gegebenenfalls rekonstruktiv zu unterstellende) konstative Redehandlung, z. B. eine Behauptung. Verstöße gegen Gelingensbedingungen des Zweifelns wären die Äußerungen: (a) Ich zweifle an etwas, woran, geht niemanden etwas an.7 (b) Du hast p behauptet, ich zweifle daraufhin an q. Die Beispiele dokumentieren, daß von einem Fehlschlagen der Äußerungen und damit die Feststellung einer Inkorrektheit nur mit Bezug auf Regeln von Redehandlungssequenzen gesprochen werden kann. Würde man diese Äußerungen dagegen als »pragmatische Monaden« analysieren, wäre eine Inkorrektheit (dieses Typs) nicht feststellbar. Das Phänomen des »Sollens« als re-aktives Phänomen manifestiert sich in drei reaktiven Modi, nämlich der Zustimmung zu … , der Abweisung von … und des Zweifelns an … (quartum non datur). Dies zeigt allerdings auch, daß das Sollen nicht selbst eine Redehandlung ist, sondern ein Phänomen der sequenziellen Ordnung einer bestimmten Gruppe von reaktiven Redehandlungen, wie Zustimmen, Abweisen und Zweifeln. Allerdings weist diese sequenzielle Ordnung spezifische Uneindeutigkeiten auf. Die reaktiven Redehandlungen können nämlich re-aktiv zu unterschiedlichen Typen von Anfangshandlungen sein. Das »Sollen« konstituiert jedenfalls solche reaktiven Redehandlungen, die sich auf Anfangshandlungen vom regulativen Typ beziehen, d. h. auf Modi von Aufforderungen. Solche Modi sind das Bitten, Wünschen, Empfehlen, Erwarten, Drängen, Druck ausüben, Veranlassen, Anweisen, Befehlen und andere. Durch den Vollzug solcher regulativer Redehandlungen bekundet der Autor der Redehandlung ein Wollen. Somit gilt: Sollen setzt Wollen voraus. Es ist zu beachten, daß der Ausdruck »Wollen« nicht zwingend einen mentalistischen Redekontext unterstellt, d. h. nicht zwingend als »Aus-Druck« eines inneren Vorgangs verstanden werden muß.8 Der »Wille« ist daher auch 5

Speech Acts. Dies ist eingehend gezeigt in Th. Sander, Redesequenzen, vgl. bes. 10–15. 7 Gemeint ist hier das konstative Zweifeln, das nicht mit dem repräsentativen oder interrogativen Zweifeln verwechselt werden darf. 8 Hier wird nicht für den »Anti-Mentalismus« argumentiert. Allerdings ist zu beachten, daß ein Mentalismus im Sinne der Unterstellung privater innerer Vorgänge für 6

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nicht als eine Art Impulsgeber hinter der manifesten Handlung zu verstehen, sondern mit »Wollen« wird die Selbsterfahrung der Handlungsurheberschaft in der Erste-Person-Perspektive des Akteurs verstanden.9 Im folgenden soll das Auffordern paradigmatisch für die regulativen Redehandlungen weiter untersucht werden. Eine vollständige Analyse der Gelingensbedingungen des Aufforderns (und verwandter regulativer Modi) ist hier allerdings nicht durchzuführen. Wichtige pragmatische Merkmale des Aufforderns sind jedoch: (a) Durch das Äußern einer Aufforderung versucht der Autor der Redehandlung, einen Adressaten zu veranlassen, H zu tun (d. h. das Handlungsschema von H auszuführen oder seine Ausführung zu unterlassen). Für die Auszeichnung einer sprachlichen Aktivität als Redehandlung ist kennzeichnend, daß sie nur in der Erste-Person-Perspektive eine Redehandlung ist. Ein Bericht über eine Aufforderung in der Dritte-Person-Perspektive ist keine Aufforderung, sondern eben ein Bericht. (b) Autor und/oder Adressat können individuelle oder kollektive Akteure sein. Ferner können Autor und Adressat einer Aufforderung durchaus identisch sein. Es gibt somit sinnvolle Selbst-Aufforderungen.10 (c) Der Autor einer Aufforderung unterstellt, daß der Adressat H nicht bereits ausgeführt (bzw. seine Ausführung unterlassen) hat, bzw. nicht gerade dabei ist, H auszuführen (bzw. zu unterlassen) (d) Der Autor einer Aufforderung unterstellt, daß der Adressat in der Lage ist, H auszuführen (bzw. seine Ausführung zu unterlassen). Dies impliziert, daß der Autor der Redehandlung unterstellt, daß der Adressat nicht durch kausale Verläufe oder soziale Zwänge veranlaßt ist, H auszuführen (bzw. die Ausführung von H zu unterlassen). Daß jemand H tun »soll« heißt genauer, daß er Adressat einer Aufforderung (oder eines anderen regulativen Modus) im Sinne von (a) bis (d) eines Autors ist, H zu tun. Der Adressat reagiert auf ein derartiges »Sollen« durch Zustimmen zu … , Abweisen von … oder Zweifeln an … der Aufforderung. Durch diese Charakterisierungen ist die Rede vom »Sollen« für die Zwecke dieser Arbeit hinreichend präzisiert. Man könnte das bis hierher rekonstruierte »Sollen« als lebensweltliches (situatives, parteienvariantes) Sollen bezeichnen. Ein derartiges Sollen erhebt keineswegs analytisch zwingend einen universalistischen (parteieninvarianten) Anspruch. Vielmehr soll ein Sollen, das für alle Adressaten (eines bestimmten scopus für »alle«) gerechtfertigt werden kann, die folgenden Rekonstruktionen nicht gebraucht wird. Vgl. C.F. Gethmann / Th. Sander, Anti-Mentalismus. 9 C.F. Gethmann, Handlungsurheberschaft. 10 Vgl. »Spiel’ ihm doch nicht immer auf die Rückhand!« (Boris Becker).

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als Sonderform des Sollens ausdifferenziert werden. Lebensweltliches Sollen wird immer durch bedingte Aufforderungen konstituiert (hypothetisches Sollen). Ein Sollen, das durch unbedingte Aufforderungen konstituiert ist, soll kategorisch heißen. Diese Einführungsordnung dokumentiert die These, daß universalistischem und kategorischem Sollen, wie es in moralischen und juridischen Kontexten vorkommt, ein lebensweltliches Verständnis des Sollens methodisch vorausgeht. Handlungen kommen als Befolgungen von Aufforderungen »ins Spiel«. Damit wird nicht (die häufiger kritisierte11) These vertreten, »Handlung (H)« werde mittels »Befolgung von Aufforderung, H zu tun« definiert. Somit gibt es auch keine Definitionszirkelprobleme dadurch, daß Aufforderungen auch Handlungen sind.12 Vielmehr soll auf den (formal-)pragmatischen Zusammenhang aufmerksam gemacht werden, daß Aufforderungen als Handlungen einen Zweck haben, nämlich die Befolgung der Aufforderung, die darin besteht, daß eine Handlung H, zu deren Ausführung der Autor der Aufforderung auffordert, durch den Adressaten der Aufforderung ausgeführt wird. Man könnte hier in Erinnerung an Austin von der »perlokutionären« Teilhandlung der Aufforderung sprechen.13 Allerdings ist diese Rekonstruktion handlungstheoretisch nicht trivial, weil sie unterstellt, daß finale Handlungsdeutungen, denen gemäß Handlungen Zweckrealisierungsversuche sind, einen methodischen Primat vor kausalen haben, denen gemäß Handlungen Wirkungen von Ursachen sind. Wenn der Autor gemäß (d) nämlich weiß, daß das Eintreten von H kausal bestimmt ist, wird er die Ausführung von H insoweit nicht zum Zweck einer Aufforderung gegenüber einem Adressaten machen. Unterstellt man, daß in juridischen und moralischen Kontexten Akteure durch Aufforderungen zu Handlungen veranlaßt werden sollen, deren Ausführungen sie auch unterlassen könnten (bzw. zur Unterlassung von Handlungen veranlaßt werden sollen, die sie auch ausführen könnten), dann sind kausalistische (naturalistische) Handlungsdeutungen für diese, jedoch nicht für alle Kontexte inadäquat. Die Finalismus-KausalismusKontroverse ist somit kein Wahr-Falsch-Problem, sondern ein Adäquatheitsproblem hinsichtlich der adäquaten Wahl eines sprachlichen Instrumentariums für die Rekonstruktion bestimmter Kontexte. Für die adäquate Rekonstruktion juridischer und moralischer Kontexte ist daher die Rekonstruktion des lebensweltlichen Sollens eine zwar nicht hinreichende, aber eine notwendige Voraussetzung. 11

Z. B. D. Hartmann, Kulturalistische Handlungstheorie, v. a. 101–112. Allerdings stellt die Genus-Spezies-Relation von Handlung zu Redehandlung eine Prädikatorenregel dar, die sich sprachlich nahelegt, aber durchaus konventionell ist. 13 Austin, How to do things with Words, 8. Vorlesung. 12

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2) Rechtfertigen14 Die Rekonstruktion bestimmter Redehandlungen als reaktiv präsupponiert einen Kontext, der nun zu explizieren ist. Die Rekonstruktion des Aufforderns ergab, daß das Sollen ein Phänomen der Zweitheit ist. Die Rede von Erstheit und Zweitheit rekurriert auf eine sequenzielle Ordnung. Entsprechend wurde bereits von Redehandlungssequenzen gesprochen. Eine Redehandlungssequenz soll »Diskurs«15 heißen, wenn gilt: (a) Die vorkommenden Redehandlungen lassen sich nach ihrem spezifischen »Ort im Diskurs« klassifizieren, und zwar können sie sein: – Eröffnungshandlungen (initiative Redehandlungen), wie beispielsweise das Behaupten oder Auffordern; – Fortsetzungshandlungen (re-aktive Redehandlungen), wie beispielsweise das Zweifeln; – Beendigungshandlungen (resultative Redehandlungen), wie beispielsweise das Zustimmen oder Abweisen. (b) Eröffnungshandlungen sind solche, deren Zweck die Diskursbeendigungshandlung der Zustimmung ist. Sie können auch »geltungsbeanspruchende« Redehandlungen heißen, sofern ihr Anspruch die Zustimmungsfähigkeit (»Zustimmbarkeit«) ist. (c) Die Teilnehmer an Diskursen (»Parteien«) nehmen genau zwei Rollen wahr: – erste Rolle: Diskurseröffnung und diese stützende (»fundierende«): Proponent; – zweite Rolle: Diskursfortsetzung oder -beendigung: Opponent. Dabei können die Parteien Individuen oder Kollektive sein. Ferner können Parteien auch beide Rollen in Personalidentität wahrnehmen. (d) Die Abfolge von Redehandlungen zwischen den Rollenträgern erfolgt gemäß impliziten Korrektheitsregeln, die konstitutiv in die Gelingensbedingungen der Einzelhandlungen eingehen. »Ich soll H tun« kann dann paraphrasiert werden durch 14

Dieser Abschnitt nimmt Untersuchungen von C.F. Gethmann / Th. Sander, Rechtfertigungsdiskurse auf. 15 Mit »Diskurs« wird recht genau der in der Erlanger Schule herausgestellte »Dialog« bezeichnet. Der Ausdruck »Dialog« erscheint jedoch aus zwei Gründen verbal verfehlt: Einmal heißt δια nicht »zwei« (vielmehr δωο), sondern »durch« (per); ferner wird mit »Dialog« oft eine eher emphatische Form von Verständigung gemeint, worauf es hier nicht ankommen kann. Weitere historisch-systematische Hinweise zu »Diskurs« finden sich in C.F. Gethmann / Th. Sander, Rechtfertigungsdiskurse.

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»Ich bin der Adressat einer Diskurseröffnungshandlung regulativen Typs.« oder: »Ich werde zu einer Stellungnahme dazu herausgefordert, daß jemand äußert, eine Handlung sei auszuführen (bzw. ihre Ausführung zu unterlassen) und ich als der Adressat soll der Akteur der Handlung H sein.« Diskurse, deren Eröffnungshandlungen zum Typ der Regulativa gehören, sollen »Rechtfertigungsdiskurse« heißen. Demgegenüber sollen Diskurse, deren Eröffnungshandlungen zum Typ der Konstativa gehören, »Begründungsdiskurse« heißen. Rekonstruktiv spricht nichts für ein Rationalitätsgefälle von Rechtfertigungsdiskursen gegenüber Begründungsdiskursen. Es besteht nicht nur eine »Analogie«16, sondern eine (strenge) Parallelität zwischen beiden Diskursformen. Entsprechend ist der weitere terminologische Aufbau einzurichten (vgl. die folgende Tabelle). Klasse von Redehandlungen

konstativ

Äußerung atomare Äußerung molekulare (z. B.)

deskriptiv Behauptung

Sequenz von Redehandlungen (geregelt) Diskurs, im Falle des fortdauernden Zweifels (Mißlingen) …, im Falle der Zustimmung (Gelingen) Status der Anfangsäußerung im Falle des Gelingens … im Falle des situationsinvarianten Gelingens Argumentation := Redehandlungssequenzschema, das immer wieder von … Prämissen zu … Konklusionen führen soll (vorgeblich, vermeintlich) (tatsächlich), d. h. bei Erfüllung von Gültigkeitskriterien Unverträglichkeiten Argumentationsverweigerer 16

regulativ

präskriptiv Aufforderung Zweifel (regulativer) Zustimmung Bestreitung konstativer Diskurs regulativer Diskurs Dissens

Konflikt

(konstativer) Konsens

(regulativer) Konsens

(relativ-)begründet

(relativ-)gerechtfertigt

(absolut-)begründet : = wahr

(absolut-)gerechtfertigt : = richtig

wahren

richtigen

triftig gültig propositional: Widerspruch präsuppositionell: Ungereimtheit Skeptiker Fanatiker

Vgl. Habermas, Richtigkeit vs. Wahrheit, 184.

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Für den Übergang von der elementaren, lebensweltlichen Verwendung von »Sollen« und der in Jurisprudenz und Ethik üblichen »emphatischen« Verwendung ist das Augenmerk auf die Unterscheidung von relativ und absolut gerechtfertigten (»richtigen«) Aufforderungen zu richten. Unter dem Gesichtspunkt normativer Verallgemeinerbarkeit steht die Frage im Vordergrund, ob es Aufforderungen gibt, die für alle Parteien und alle Kontexte (»situationsinvariant«) Geltung beanspruchen können. Der normative Universalismus ist also nicht als Ergebnis eines Heraustretens aus allen (diskurs-) pragmatischen Kontexten, sondern das Universalisieren ist (neben dem Finalisieren, dem Generalisieren und anderen) eine besondere Form diskursiver Rationalität, ein spezifisches Sprachspiel. Normativer Kontextualismus und Universalismus stehen sich daher auch nicht kontradiktorisch gegenüber, vielmehr sind normative Kontexte nach dem Grad des zur Debatte stehenden Anspruchs auf Verallgemeinerbarkeit hinsichtlich der Klasse der adressierten Opponenten polar-konträr zu ordnen.17 Dabei richtet sich das Augenmerk vor allem auf die Regeln, unter Bezug auf die eine Rechtfertigung einer Aufforderung mit Bezug auf eine stützende Behauptung (oder Aufforderung) gelingen kann. Für diese Regeln gilt grundsätzlich, daß der Rekurs auf sie nur zweckmäßig ist, wenn P versucht, auf diejenigen Prämissen abzuheben, die O akzeptiert. Somit kann ein Rechtfertigungsdiskurs nur gelingen, wenn es bezüglich dessen, was zu tun ist, ein »prädiskursives Einverständnis«18 gibt und P in der Lage ist, auf dieses zu rekurrieren. Somit wird P versuchen, O daran zu erinnern, daß er sich in einer kommunikativen Situation befindet, d. h. in einer Situation, die dadurch bestimmt ist, daß bestimmte Handlungsbedingungen geteilt sind. Gesetzt den Fall, jemand nehme scheinbar die Rolle des O ein, der entschieden ist, an keiner kommunikativen Situation teilzunehmen, auch nicht an der des jeweiligen Diskurses, dann scheitert der Diskurs zwangsläufig. Zwar kann es O malgré soi unterlaufen, daß P ihn dennoch in die Diskurssituation einbindet und ihn sodann auf die Diskursregeln bei Strafe des pragmatischen Selbstwiderspruchs verpflichtet. Nach einigen Durchgängen von Versuch und Irrtum wird ein entsprechend zu allem entschlossener O jedoch gelernt haben, sich zu verweigern, ohne dadurch eine Selbstverpflichtung einzugehen. Der (routinierte) Fanatiker ist durch keine Argumentationsmacht der Welt zu bekehren.19 Für den hier skizzierten methodischen Aufbau der Ethik ist kennzeichnend, daß er nicht mit einem rhapsodisch aus der Bildungssprache, der angelsächsischen Moralphilosophie oder sonst woher aufgelesenen Verständnis 17

C.F. Gethmann, Universelle praktische Geltungsansprüche. C.F. Gethmann, Philosophie. 19 C.F. Gethmann, Letztbegründung vs. lebensweltliche Fundierung des Wissens und Handelns. 18

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von »moralisch« (etwa im Sinne von »altruistisch«) beginnt, sondern moralische Diskurse als Spezies von Universalisierungsdiskursen einführt. In Universalisierungsdiskursen (die gegebenenfalls fiktiv geführt werden) werden moralische Verpflichtungen und Berechtigungen gerechtfertigt. Über die materiellen Ergebnisse solcher Diskurse weiß die Ethik zunächst nichts zu sagen. Sie legt aber in Entfaltung des Verallgemeinerbarkeitsprinzips sozusagen die Geschäftsordnung des Universalisierungsdiskurses fest. Dabei stellt sich die Frage, wem eine handelnde Person die Berechtigungen zuerkennen soll und von wem sie sich verpflichten lassen soll. Dabei sind typisierend drei Antworten denkbar: – Erstens, jeder löst den Konflikt nur für sich, was ersichtlich ein pragmatischer Widerspruch ist (Solipsismus, Egoismus); denn Moral ist keine Privatsache. – Zweitens, die Lösung von Konflikten gilt nur für eine Gruppe (Partikularismus) und – drittens, sie gilt für jeden Akteur (Universalismus). Universalismus bezeichnet also eine Strategie der Konfliktbewältigung, in der Normen generiert werden, die durch die Diskursform der Universalisierung entstehen. Die Ethik wird auf diese Weise durch einen praktischen Universalismus bestimmt. Wenn man faktisch gültige oder als gültig prätendierte Moralen einer ethischen Kritik unterzieht, dann wird geprüft, ob eine solche Moral (z. B. Standesmoral) universalisierbar ist. Dies ist jedoch kein einfaches »TöpfchenKröpfchen-Geschäft«, denn im Falle der Nicht-Universalisierbarkeit erhebt sich sofort die Frage, wie man moralische Maximen ändern muß, damit sie universalisierbar werden. Bezüglich der Rechtfertigung des praktischen Universalismus stellt sich die Frage, warum man überhaupt ein Universalist und nicht vielmehr ein Partikularist sein soll, da doch die meisten, wenn nicht alle faktischen Moralen partikularistisch sind, d. h. durch die Zugehörigkeit zu Familie, Stamm, Stand, Rasse, Klasse, Bekenntnis, Geschlecht oder andere gruppenbildende Parameter bestimmt sind. Die Rechtfertigung des Universalismus ergibt sich aus den Präsuppositionen des Willens der Konfliktbewältigung. Will man also für die Konfliktbewältigung maximale Vorsorge treffen, so muß man die Grenzen der potentiellen Diskursteilnahme von Proponenten und Opponenten möglichst weit fassen, und zwar universell. Der Ausdruck »universell« heißt dabei, daß jeder, der in Diskursen durch das Äußern einer Aufforderung (z. B. »Gib mir das!«) einen Anspruch geltend machen kann, damit potentiell konflikterzeugend ist, einzubeziehen ist. Die Universalität der ethischen Imperative erstreckt sich also auf alle, die sich auf »das Auffordern verstehen«. Demzufolge wird der praktische Universalismus rein funktionell (nicht metaphysisch) gerechtfertigt: Will man sicher sein, daß

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die jeweiligen Maximen konfliktfrei realisiert werden können, dann muß man nach maximaler Akzeptabilität für jedermann und jederzeit suchen.

3) Auffordern und Behaupten Die gegenwärtige philosophische Diskussion um die Grundlegung der Ethik ist neben anderen Unterscheidungen durch den Antagonismus von »Kognitivismus« und »Nonkognitivismus« geprägt. Dabei geht es um die anscheinend triviale Frage, ob diejenigen Äußerungsformen, mit denen sich die Ethik elementar beschäftigt, »wahr / falsch« sind oder nicht. Dabei wird im negativen Fall unterstellt, daß die Äußerungsformen dann rational nicht entscheidbar sind. Die Problembeschreibung läßt sofort erkennen, daß sie von der Unterstellung lebt, Äußerungen seien entweder wahr / falsch oder aber nicht rational entscheidbar. Diese Unterstellung beschränkt den Begriff des »Rationalen« also auf Behauptungen und verwandte konstative Redehandlungen (»Konstativismus«). Hier (§2) wurde jedoch herausgearbeitet, daß auch Aufforderungen und verwandte regulative Redehandlungen prinzipiell universalisierbar sein und damit »richtig / unrichtig« sein können. Dies zeigt, daß die Debatte um den Kognitivismus / Nonkognitivismus durch eine ungeklärte sprachtheoretische Intuition bestimmt wird. Die hier vertretene sprachphilosophische Position20 geht von einer Doppelstruktur von Redehandlungen im Sinne einer performativen und einer propositionalen Teilhandlung aus. Bei manchen Redehandlungen gehen die Bedingungen, denen der propositionale Teil zu genügen hat, in die Korrektheitsbedingungen der ganzen Redehandlung ein. Beispielsweise ist eine Voraussage nur dann korrekt ausgeführt (»performiert«), wenn der propositionale Teil etwas über einen Sachverhalt in der Zukunft aussagt. Behauptungen sind nur dann korrekt ausgeführt, wenn der propositionale Teil »wahr« ist. Dies gilt (mit spezifischen typischen Modifikationen) für alle Konstativa. Dagegen gilt dies nicht für Regulativa. Beispielsweise ist die Aufforderung »Schließe die Tür« nur dann korrekt ausgeführt, wenn »Die Tür ist geschlossen« nicht wahr ist. Allgemein gilt unter sprachlichen Normalbedingungen, daß die Wahrheit einer Proposition nicht konstitutiv für die Korrektheit der Ausführung der Aufforderung. Heißt das jedoch, daß Aufforderungen nicht »rational«, z. B. bloße Expressionen sind? Wenn die (wie immer erklärte) Verallgemeinerbarkeit (evtl. partielles) Definiens für Rationalität21 ist, muß diese Frage negiert werden. Of-

20

C.F. Gethmann / G. Siegwart, Sprache. G. Siegwart, Vorfragen zur Wahrheit, C.F. Gethmann, Einführung in die Sprachphilosophie. 21 C.F. Gethmann, Art. »Rationalität«

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fensichtlich gibt es damit Äußerungsformen, die verallgemeinerbar, aber nicht »wahr / falsch« sind.22 Redehandlungen können korrekt oder inkorrekt ausgeführt werden, und wenn es dafür klare Regeln gibt, dann sind sie rational. Manchmal inkludieren Korrektheitsbedingungen wesentlich die Wahrheit des propositionalen Teils, aber dieser Umstand zeichnet nicht die »Rationalität« dieser Redehandlungen aus. Aufforderungen sind korrekt / inkorrekt – wie Behauptungen und einige andere und deswegen »rationale« Gebilde. Daneben können sie auch gerechtfertigt / ungerechtfertigt sein, so wie Behauptungen begründet / unbegründet sein können. Aufforderungen sind somit selbstverständlich andere Redehandlungen als Behauptungen, es gibt jedoch nicht a priori ein Rationalitätsgefälle zwischen ihnen. J. Habermas hat in seinem diese Frage direkt ansprechenden Aufsatz »Richtigkeit vs. Wahrheit« präskriptive Geltungsansprüche als »wahrheitsanalog«23 bezeichnet. Diese Bemerkung kann in dem harmlosen Sinn gelesen werden, daß konstative Geltungsansprüche entsprechend als »richtigkeitsanalog« bezeichnet werden können, was eine Art symmetrischer Analogie unterstellen würde. Habermas behauptet jedoch mehr, nämlich daß präskriptive Geltungsansprüche ein defizienter Modus von deskriptiven seien. Sie haben nämlich nach Habermas alles, außer dem »für Wahrheitsansprüche charakteristischen Weltbezug«24. Hier kommen merkwürdig realistische Töne in die Musik der Universalpragmatik. Ihnen liegt die sprachtheoretische Unterstellung zugrunde, daß Aufforderungen und damit Rechtfertigungsdiskurse gegenüber Behauptungen und damit Begründungsdiskursen einen defizienten Modus aufweisen. Diese These führt zu Behauptungen wie der folgenden: »Moralischen Geltungsansprüchen fehlt der für Wahrheitsansprüche charakteristische Bezug zur objektiven Welt. Damit sind sie eines rechtfertigungstranszendenten Bezugspunktes beraubt.«25 Demgegenüber folgt aus den vorstehenden Überlegungen, daß regulativen Geltungsansprüchen nichts fehlt, und zwar weil (a) es für die Rechtfertigungstranszendenz der Konstativa keine Gründe gibt; (b) der Weltbezug von Aufforderungen mindestens so stringent ist wie der von Behauptungen.

22 23 24 25

Ist das nun Kognitivismus oder Nonkognitivismus? Vgl. a. a. O. 184. A. a. O. 188. A. a. O. 195 (Hervorhebungen: CFG).

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(a) Die These von der »Rechtfertigungstranszendenz« ist im Kontext der bekannten erkenntnistheoretischen Diskussion um die Frage zu erörtern, ob Wahrheit die »gerechtfertigte Behauptbarkeit« »transzendiert«.26 Hier ergreift Habermas klar Partei für die Transzendenzthese, während er sie für Aufforderungen gerade bestreitet: Richtigkeit erfüllt sich für ihn durchaus in der »gerechtfertigten Aufforderbarkeit«. Die Transzendenzfrage kann hier nicht in der erforderlichen Differenziertheit diskutiert werden.27 Für diesen Zusammenhang mag genügen, die Frage aufzugreifen, ob der Kritiker der Transzendenzthese (»Anti-Realist«) für Behauptungen tatsächlich die Unterstellung machen muß, Behauptungen hätten keinen »Weltbezug«. Diese These muß als »realistische Propaganda« zurückgewiesen werden. Der Anti-Realist behauptet lediglich, daß es keinen Welt-Bezug ohne Bezug (auf einen den Weltbezug vollziehenden Akteur) gibt. Denkt man sich diesen Akteur weg (was nicht geht), dann ist nicht die Welt weg, sondern der Bezug. Daher muß die Gegenfrage aufgeworfen werden, was ein Weltbezug ohne Bezug bedeuten kann. Die Frage nach einer Welt, nach der tatsächlich oder notwendigerweise niemand fragt, ist sinnlos. Hinsichtlich der sogenannten »Transzendenz« der Wahrheit über die Behauptbarkeit ist allerdings zu beachten, daß es um Behauptbarkeit geht, nicht das faktische Behaupten. Damit ist zu klären, wie der hier unterstellte Begriff der Möglichkeit zu explizieren ist. Er hebt jedenfalls auf eine capacity28 ab, deren Explikation nicht trivial ist.29 Unabhängig davon führt die Behauptung, etwas existiere jenseits der Behauptbarkeit zu unauflösbaren Selbstrefutationsproblemen.30 (b) Wichtiger als die Transzendenzfrage ist in diesem Zusammenhang jedoch die Klärung des Weltbezugs der Regulativa. Sowohl das Behaupten als auch das Auffordern haben einen intentionalen Gegenstand, der in der Regel (d. h. wenn man sich nicht gerade im Sprachspiel der Fiktion, der Phantasie oder ähnlichem bewegt) nicht durch das Behaupten bzw. Auffordern »erzeugt« wird. Auf ihn wird durch die propositionale Teilhandlung der Redehandlung bezug genommen. Die Behauptung »Das Fenster ist geöffnet« hat nicht mehr »Realitätsbezug« als die Aufforderung »Öffne das Fen26

C.F. Gethmann, Wahrheit und Beweisbarkeit. Die in der Dummett-Schule diskutierte Frage, ob nicht an die Stelle der Behauptbarkeit eine »Super-Assertibilität« treten müsse (vgl. C. Wright, Truth and Objectivity) kann hier offen bleiben, weil die Superassertibilität zwar eine Art Perfektion der Ausführung der Behauptungshandlung bedeutet, aber nicht Transzendenz im Sinne eines realistischen Verständnisses. 28 M. Dummett, Thought and Reality, 80, 85 ff. 29 C.F. Gethmann, Wahrheit und Beweisbarkeit, 64 – 66. 30 Dies berührt direkt das Problem der Bivalenz; vgl. z. B. Dummett, Realism, 103. 27

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ster. Aber: der Realitätsbezug ist (und das macht einen entscheidenden Unterschied zwischen Konstativa und Regulativa aus) ein anderer. Dies wird sofort manifest, wenn man sich die spezifischen Gelingensbedingungen verdeutlicht. Die Aufforderung »Öffne das Fenster« würde, falls das Fenster geöffnet wäre, unter sprachlichen Normalbedingungen gegen eine Gelingensbedingung des Aufforderns verstoßen. Dagegen würde die Behauptung »Das Fenster ist geöffnet« gerade gegen eine Gelingensbedingung des Behauptens verstoßen, wenn es nicht geöffnet wäre. Damit ist festzuhalten, daß sich Aufforderungen und Behauptungen nicht durch das Ausmaß des »Weltbezuges«, sondern durch die Art des Weltbezuges unterscheiden. Damit ist die hier zu untersuchende Frage über das Weltverhältnis von Aufforderungen und Behauptungen und die Habermassche These vom defizienten Modus gegen Habermas beantwortet. Allerdings könnte man eine Art Ersatzfrage aufwerfen, um der These von Habermas noch eine benevolente Deutung zu geben. Es möchte doch scheinen, daß der Weltbezug des Behauptens irgendwie unerbittlicher ist als der Weltbezug des Aufforderns. Aber auch dies zu verneinen. Ja, es ist gerade umgekehrt. Die Sinnbedingungen hinsichtlich des propositionalen Teils schlagen beim Auffordern härter auf die erfolgreiche Ausführung durch als beim Behaupten. Für das sinnvolle (korrekte oder inkorrekte) Behaupten genügt es, daß der propositionale Teil die semantischen Anforderungen erfüllt, d. h. sinnvollerweise als »wahr« oder »falsch« bezeichnet wird. Für das Auffordern dagegen kann dagegen die Falschheit der propositionalen Teilhandlung durchaus die Sinnlosigkeit der Aufforderungen bewirken. Dazu vergleiche man die beiden folgenden Beispiele31: (i) BEH (Y,Z) .X stellt eine russische Puppe her, indem er den Holzklotz erst bemalt und dann schnitzt. (ii) AUF (Y,X) .das Herstellen einer russischen Puppe, indem X den Holzklotz erst bemalt und dann schnitzt. (i) ist unter sprachlichen Normalbedingungen eine sinnvolle, wenn auch aufgrund ihrer falschen Proposition inkorrekte Behauptung. (ii) muß dagegen als sinnlose Aufforderung beurteilt werden, weil die Handlung, zu deren Ausführung aufgefordert wird, aus formalpragmatischen Gründen nicht ausführbar ist.

31

Vgl. P. Janich, Logisch-pragmatische Propädeutik, 53–55.

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4) Bewerten und Vorziehen Die Bindung des Sollens an die formal-pragmatische Struktur von Rechtfertigungsdiskursen unterstellt, daß letztlich alle präskriptiven Geltungsansprüche auf Diskurse um regulative Redehandlungen reduziert werden können. Dies impliziert, daß alle für die Ethik interessanten elementaren Handlungen rekonstruktiv auf das Auffordern reduzierbar sind. Diese These provoziert den Einwand, daß es doch mehrere rekonstruktiv irreduzible elementare Redehandlungstypen geben könne. Dies kann selbstverständlich a priori nicht ausgeschlossen werden. Für die Ethik und andere normative Disziplinen wie Ökonomie und Jurisprudenz hat die Beantwortung dieser Frage erhebliche Konsequenzen. Dabei ist vor allem von Interesse, ob das Bewerten und das von ihm pragmatisch ableitbare Vorziehen (»Präferenzen«) Modi von Regulativa sind, oder eine irreduzible performative Klasse, die der »Evaluativa« bilden. Bei dieser Frage geht es nota bene um rekonstruktive Fragestellungen. Deskriptiv ist unstrittig, daß z. B. Bewerten und Vorziehen pragmatisch wichtige Formen der normativen Stellungnahme von Akteuren sind. H. Schnädelbach hat in seinem Aufsatz »Werte und Wertungen« die Irreduzibilität der Unterscheidung von (in seiner Terminologie) normativen gegenüber den evaluativen Beurteilungen herauszuarbeiten versucht und den Opponenten in dieser Frage einen »Normativismus« vorgeworfen.32 In diesem Zusammenhang wendet sich Schnädelbach zu recht gegen eine weit verbreitete Ontologisierung von Werten im Rahmen des im öffentlichen (und leider auch fach-philosophischen) Sprachgebrauch grassierenden Wertjargons. Unabhängig davon ist jedoch die These von der Irreduzibilität des evaluativen Stellungnehmens zu untersuchen. Schnädelbach führt zwei Argumente für die rekonstruktive Selbständigkeit des Bewertens an: (a) Ohne die Irreduzibilität könne nicht zwischen moralischen und außermoralischen Normen unterschieden werden. »›Gut‹ geht nicht in ›richtig‹ auf und umgekehrt«.33 Zu diesem Argument ist zunächst zu bemerken, daß man zwei Fragen unterscheiden muß, nämlich (i) die Frage, ob es Normen gibt, die moralisch indifferent sind, und (ii) die Frage, ob sich Wertungen rekonstruktiv auf Aufforderungen zurückführen lassen. Zu (i) ist ohne Einschränkungen zuzugestehen, daß es Normen gibt, die prima facie nichts mit moralischen Wertungen zu tun haben (DIN-Normen; Straßenverkehrsregeln). Der Fall, daß solche Normen secunda facie doch mo32

Schnädelbach nennt Frankena und Hare, er hätte durchaus auch Lorenzen, Schwemmer und den Autor dieses Beitrags nennen können. 33 A. a. O., 166.

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ralisch relevant sein können (DIN-Normen dienen z. T. der Sicherheit anderer, Regeln des Straßenverkehrs sind Ausdruck des allgemeinen Hilfegebots usw.) kann hier außer Betracht bleiben. Die Existenz moralisch indifferenter Normen schließt jedenfalls keineswegs aus, daß diejenigen Normen, die moralisch nicht indifferent sind, als zurückführbar auf Wertungen oder aber Wertungen als zurückführbar auf Normierungen rekonstruiert werden können. Damit stellt sich (ii) die Frage, ob sich Wertungen rekonstruktiv auf Aufforderungen zurückführen lassen. Normen sind in den hier relevanten (ethischen und verwandten) Kontexten bedingte oder unbedingte universelle Aufforderungen.34 Aufforderungen sind damit immer (gegebenenfalls fiktiv) auf Adressaten bezogen, während es den Anschein hat, als könne man Bewertungen »nur für sich selbst« durchführen. Somit können Bewertungen nicht Modi von Aufforderungen sein. Gegen diese rekonstruktive These ist jedoch einzuwenden, daß auch der Urheber einer Aufforderung zugleich der Adressat sein kann, was sowohl für lebensweltliche wie emphatische (universelle) Aufforderungen gilt.35 Ferner haben die »… ist gut«-Prädikationen nach der Analyse von Hare36 in moralisch relevanten Kontexten immer Empfehlungscharakter, weshalb sie gerade nicht mit Beschreibungen verwechselt werden dürfen. Empfehlungen jedoch sind Regulativa und haben immer einen (gegebenenfalls fiktiven) Adressatenbezug. Wenn jedoch Wertungen adressatenbezogen sind und dies den Fall der Selbstadressierung einschließt, dann spricht nichts dagegen, Wertungen als Modi von Aufforderungen zu klassifizieren. Bewertungen sind Aufforderungen, so zu handeln, daß p. Dem entspricht folgendes Definitionsschema: BEW (X,Y,Z,F) := AUF (X,Y, Z als F zu behandeln) (z. B. den Angeklagten als unschuldig) Ausgehend von dieser Definition läßt sich unschwer das Vorziehen (Präferieren) als komparatives (relationales) Bewerten verstehen. Präferenzen sind Aufforderungen, so zu handeln, daß eine Handlung H1 höher bewertet wird als eine Handlung H2: VOR (X,Y,H1,H2) := BEW (X,Y, Besser(H1,H2)) Folgt man diesem terminologischen Vorschlag, dann behandelt der Präferenzutilitarismus pragmatisch tertiäre Phänomene als elementare. Das mag als »bloßer« Rekonstruktionsfehler erscheinen (wenn überhaupt). Man beachte jedoch, daß es gerade dieser Verstoß gegen die methodische Ordnung ist, der für das normative Defizit des Präferenz- wie jedes Utilitarismus verantwortlich 34 35 36

F. Kambartel, Norm. Zu Selbstaufforderungen s. o., § 1. The Language of Morals.

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ist. Dieses Defizit liegt darin, daß nicht erklärt wird, warum soll man überhaupt soll, was sich als so und so optimal herausgestellt hat. Anders formuliert: Wogegen verstößt eigentlich folgender Opponent? P: »Wenn du H tust, werden mehr Menschen glücklich, als wenn du nicht H tust.« O: »Ist mir gleich.« Aus der Verlegenheit, die diese Frage erzeugt, wird man nur herausgeführt, wenn Präferenzen via Bewertungen letztlich rekonstruktiv als Modi von Aufforderungen aufgefaßt werden. Der Vorschlag, das Bewerten als performativen Modus des Aufforderns zu rekonstruieren, erlaubt schließlich auch einen Kommentar zur derzeit vieldiskutierten Frage des ethischen Objektivismus. Die inflationäre Verwendung der Rede von Werten hängt eng mit dem ethischen »Objektivismus« zusammen. Dieser wiederum erscheint vielen Autoren unvermeidlich, will man nicht die Geltungsansprüche moralischer Redeformen in Beliebigkeit versinken lassen.37 Ersichtlich unterstellt diese Motivationslage die oben (§ 3) erörterte Position bezüglich der Rationalität von Rechfertigungsdiskursen. Wenn allenfalls Behauptungsdiskurse rational sein können und man die Rationalität moralischer Diskurse festhalten will, scheint es unausweichlich, moralische Diskurse als Behauptungsdiskurse zu rekonstruieren. Dann aber bedarf es moralischer Tatsachen als intentionaler Objekte bestimmter Behauptungen. Der ethische Objektivismus beinhaltet einen sprachtheoretischen Konstativismus, der wiederum eine Reduktion des Präskriptiven auf das Deskriptive impliziert. Damit beruht der ethische Objektivismus auf einer Verwechselung von »Parteieninvarianz« mit »Objektivität«. Dazu ist zunächst zu bemerken, daß auch bei den Konstativa keineswegs allgemein gilt, daß die Parteieninvarianz immer durch Objektbezug gesichert wird. Es gibt viele Formen von Parteieninvarianz, wo die Rede von Objekten keinen Sinn macht, bloß metaphorisch ist, oder einen unnötigen Universalienplatonismus erzwingt (wie bei den Formalwissenschaften oder den praktischen Sprachen, z. B. Gesetzestexten). Parteieninvariante Gültigkeit von Aufforderungen wird nicht durch Objekte (und seien es besondere), sondern durch Erfüllung der Kriterien der Rechtfertigbarkeit gesichert. Daher gilt es die adäquate Formulierung dieser Kriterien zu rekonstruieren, wovon man nicht durch die Erfindung neuer Typen von Objekten entbunden wird.

37

M. Quante, Moral Realism; L. Siep, Moral Objectivity.

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Carl Friedrich Gethmann

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Geert Keil

Naturgesetze, Handlungsvermögen und Anderskönnen

1) Die libertarische und die kompatibilistische Freiheitsauffassung Jeder Philosoph hat eine Ahnung davon, dass die drei im Titel dieses Beitrags genannten Phänomene – Naturgesetze, Handlungsvermögen und So-oderAnderskönnen – auf spannungsvolle Weise zusammenhängen. Offensichtlich gemacht wird diese Spannung im sogenannten Konsequenzargument für die inkompatibilistische Freiheitsauffassung. Dieses Argument besteht aus zwei Prämissen und einer Konklusion: (P1) Wenn der Determinismus wahr ist, folgen unsere Handlungen aus Naturgesetzen und Ereignissen der fernen Vergangenheit. (P2) Es liegt nicht in unserer Hand, die Naturgesetze zu ändern, noch die Ereignisse vor unserer Geburt. (K) Also liegen auch die kausalen Konsequenzen der Vergangenheit und der Naturgesetze nicht in unserer Hand, unsere eigenen Handlungen eingeschlossen.1 Das ist kein besonders spektakuläres Ergebnis. Wenn der Weltlauf durch deterministische Naturgesetze alternativlos fixiert wird, dann stehen unsere Handlungen nicht bei uns, um eine aristotelische Formulierung zu gebrauchen. Das Konsequenzargument ist ein Argument für den Inkompatibilismus, also für die These der Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus. Es ist nicht schon ein Argument für die libertarische Freiheitsauffassung, denn von der Unvereinbarkeitsbehauptung aus kann man ja zwei Richtungen einschlagen. Während der Libertarismus den Willen für frei hält und den Determinismus für falsch, behauptet der harte Determinismus das Umgekehrte: Der Determinismus ist wahr, Freiheit ist eine Illusion. Die libertarische Freiheitsauffassung stellt also eine Konjunktion zweier Teilthesen dar, nämlich (a) der Nichtvereinbarkeitsthese und (b) der Doppelthese von der Falschheit des Determinismus und der Existenz der Willensfreiheit. Die übergroße Mehrheit der zeitgenössischen Freiheitstheoretiker vertritt bekanntlich eine weitere Auffassung, nämlich den Kompatibilismus, also die Lehre der Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus. Im Lager des Kompatibilismus gibt es noch eine wichtige Dif1

Vgl. van Inwagen 1983, 16 und 56.

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ferenzierung: Klassische Kompatibilisten halten den Determinismus für wahr, und manche von ihnen meinen sogar, dass Freiheit die Wahrheit des Determinismus erfordert.2 Diese Position kann man »deterministischen Kompatibilismus« nennen. Andere Kompatibilisten bleiben bezüglich des Determinismus indifferent, da sie die Frage nach dessen Wahrheit schlicht für irrelevant halten. Diese Position, prominent vertreten durch Peter Strawson, kann man »agnostischen Kompatibilismus« nennen. Im Konsequenzargument kommen zwei der drei Begriffe aus dem Titel meines Beitrags vor, nämlich die Naturgesetze und das Handlungsvermögen. Das Anderskönnen kommt im Konsequenzargument nicht ausdrücklich vor, wohl aber implizit – wenn man es nämlich als eine analytische Komponente des Handlungsbegriffs ansieht. Verschiedene Philosophen, unter ihnen Aristoteles und Kant, waren der Auffassung, dass das Merkmal des So-oder-Anderskönnens schon in den Handlungsbegriff eingebaut ist. Aristoteles sagt in diesem Sinne: »Wo das Tun in unserer Gewalt ist, da ist es auch das Unterlassen.«3 Und Kant sekundiert, dass »die Handlung sowohl als ihr Gegenteil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjekts sein muss«.4 Entsprechendes wird in der Analytischen Handlungstheorie des 20. Jahrhunderts behauptet. Dass dort nicht mehr unablässig von Willensfreiheit und Determinismus die Rede ist, erklärt sich Georg Henrik von Wright so, dass unsere gewöhnliche Rede über Handlungen das Freiheitsmerkmal des Anderskönnens schon einschließe: »[T]he concept of an action, the ascriptions of actions to an agent, belong to discourse in which ›free will‹ is taken for granted. […] The ›freedom‹ or ›free will‹ of a man consists in the fact that he acts, one could say.«5 Wenn Aristoteles, Kant und von Wright Recht haben, dann implizieren bereits unsere gewöhnlichen Handlungsbeschreibungen eine starke Freiheitsannahme, nämlich das Vermögen des So-oder-Anderskönnens. Es gehört dann zum Begriff des Handelns, dass Akteure das Vermögen haben, sich in einer gegebenen Situation für oder gegen die Handlung zu entscheiden. Begriffliche Implikationen sind freilich kein Freiheitsbeweis, aber sie dürften immerhin die Beweislast zuungunsten des Freiheitsleugners verschieben. Er muss dann ja erklären, wie es zu einer derartig tiefsitzenden, in unsere gewöhnliche Zuschreibungspraxis eingebauten Täuschung kommen konnte. Ob unsere gewöhnliche Rede über Handlungen und Entscheidungen das So-oder-Anderskönnen impliziert, ist aber gerade umstritten. Auch Kompa-

2

»Niemand kann den Determinismus beweisen, aber es ist sicher, dass wir sein Bestehen in allem unseren praktischen Verhalten voraussetzen.« (Schlick 1930, 168) 3 Aristoteles, EN 1113b6. 4 Kant, Rel. B 59 Anm. 5 Von Wright (1980), 78 f.

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tibilisten möchten an der Rede festhalten, dass Menschen handeln und entscheiden können, aber sie bestreiten, dass dafür So-oder-Anderskönnen unter gegebenen Bedingungen erforderlich sei. Dass es auch ohne geht, begründen viele Kompatibilisten durch die sogenannte konditionale Analyse des Könnens, derzufolge »Er hätte anders handeln können« nichts anderes heißt als »Er hätte anders gehandelt, wenn er sich zuvor anders entschieden hätte«, und diese Analyse sei determinismuskompatibel. Demgegenüber erfordert das So-oderAnderskönnen unter gegebenen Bedingungen angeblich das phantastische Vermögen, Naturgesetze abzuändern oder als ein Erster Beweger Kausalketten in Gang zu setzen. Diese Behauptung wird zu prüfen sein; vorerst habe ich nur die begriffliche These referiert, dass So-oder-Andershandelnkönnen nichts anderes bedeute als überhaupt handeln zu können. Die Alternative dazu ist die Behauptung, dass wir in jedem Augenblick immer nur etwas naturgesetzlich Prädeterminiertes tun können. Das ist in der Tat eine starke These – wiewohl sie natürlich richtig sein könnte. Während den meisten Nichtphilosophen das Konsequenzargument unmittelbar einleuchtet, sind in der Gegenwartsphilosophie die meisten Freiheitstheoretiker Kompatibilisten. Verbreitet ist folgende kompatibilistische Argumentation: Wenn man die Vereinbarkeit der Freiheit mit dem Determinismus erweist, kann man es dahingestellt sein lassen, ob der Determinismus material wahr ist. Das ist attraktiv, weil wir mit einem Freiheitsbegriff, der mit dem Determinismus vereinbar ist, auf der sicheren Seite sind. Selbst wenn der Determinismus sich als wahr herausstellen sollte – und darüber habe nicht die Philosophie zu entscheiden, sondern die Physik –, müssten wir unsere Auffassungen über die Freiheit nicht ändern. Diese Argumentation erscheint mir in mehrerlei Hinsicht verfehlt. Zum einen ist nicht ausgemacht, dass die Frage nach der Wahrheit des Determinismus eine innerphysikalische Frage ist. Vermutlich ist sie eine metaphysische Frage, deren Beantwortung zwar physikalisches Wissen erfordert, aber durch empirische Tatsachen unterbestimmt bleibt. Das heißt nicht, dass sie keiner vernünftigen Behandlung zugänglich wäre. Auch wenn metaphysische Fragen sich nicht empirisch entscheiden lassen, könnten einige von ihnen sich vernünftig entscheiden lassen unter Zuhilfenahme empirischen Wissens – dieser subtile Unterschied wird leicht übersehen. Die andere Fehlannahme der besagten kompatibilistischen Argumentation ist, dass wir mit unserer Freiheit auf der sicheren Seite sind, wenn wir sie nicht zu anspruchsvoll verstehen. Welche Art von Freiheit wir tatsächlich besitzen, hängt davon ab, wie wir und die Welt beschaffen sind, nicht davon, mit welcher Doktrin die Freiheit vereinbar oder nicht vereinbar ist. Und sollte die Aufgabe einer philosophischen Freiheitstheorie wirklich darin bestehen, auf der sicheren Seite zu bleiben? Sollte die Philosophie nicht eher im Verbund mit den

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anderen Wissenschaften herauszubekommen versuchen, wie sich die Sache mit der Willensfreiheit wirklich verhält? Soweit die Ausgangslage. Was ist nun das Thema dieses Beitrags? Ich möchte die Debatte über Freiheit und Determinismus mit der neueren wissenschaftstheoretische Debatte über Naturgesetze zusammenführen. In allen modernen Definitionen von »Determinismus« spielen Naturgesetze die zentrale Rolle, doch die Frage, was genau Naturgesetze zur Begründung des Determinismus leisten, wird meist als geklärt vorausgesetzt. Überhaupt gibt es in der neueren Freiheitsdebatte bemerkenswert wenig Diskussion über den genauen Sinn der Determinismusthese, und noch weniger über die Frage ihrer Wahrheit. Viele Autoren begnügen sich mit einem vagen Vorverständnis von »naturgesetzlicher Determination«, »kausaler Bedingtheit« o. ä. und halten die »Details« für nicht weiter von Belang.6 Diese Nonchalance wird verständlich, wenn man in Rechnung stellt, dass die meisten Teilnehmer der Debatte agnostische Kompatibilisten sind. Eine Präzisierung der Determinismusthese scheint in der Tat entbehrlich, wenn man die Frage nach der Wahrheit des Determinismus als für die Willensfreiheit irrelevant ansieht. Deterministische Kompatibilisten und Libertarier hingegen sollten sich durchaus für den genauen Sinn der Determinismusthese interessieren. Agnostische Kompatibilisten verbinden oft ein vages Vorverständnis von Determinismus mit einer naturalistischen Grundorientierung: Es gehe überall in der Welt mit rechten Dingen zu, es gebe keine Wunder, wir hätten nicht die Fähigkeit, Naturgesetze abzuändern, der Cartesianische Dualismus sei unhaltbar und das Nähere klärten die Naturwissenschaften. Dieser naturalistische Grundkonsens müsste doch genügen, um den Kompatibilismus zu motivieren. Er genügt aber nicht. Ob wir über Freiheit kompatibilistisch oder inkompatibilistisch denken sollten, hängt davon ab, womit genau die Freiheit vereinbar oder nicht vereinbar sein soll: damit, dass alles in der Welt mit rechten Dingen zugeht? Damit, dass die Körperwelt kausal geschlossen ist? Dass Personen und ihre Handlungen Teil der natürlichen Welt sind? Dass das Kausalprinzip ausnahmslos gilt? Dass es neuronale Determinanten des Verhaltens gibt? Dass der Weltlauf Naturgesetzen unterliegt, die wir nicht abändern können? Dies sind viele Möglichkeiten, die mehrheitlich nur eine lose Verbindung zum Determinismus haben. Und die Antwort auf die Vereinbarkeitsfrage muss nicht in jedem Fall gleich ausfallen. Auch unter Neurowissenschaftlern gibt es wenig Diskussion über den genauen Sinn der Determinismusthese. So führt Wolf Singer den Determinismus en passant als Korrolar eines nichtdualistischen Verständnisses des Geistes ein: 6

Ein Beispiel für diese Nonchalance liefert Peter Bieri (vgl. Bieri 2001, 435).

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»Aber der Abwägungsprozess selbst beruht natürlich […] auf neuronalen Prozessen und folgt somit […] deterministischen Naturgesetzen.«7 Allein daraus, dass Mentales neuronal realisiert ist, folgt sicherlich nicht, dass es deterministischen Gesetzen unterliegt. Die rasant fortschreitende neurophysiologische Forschung vermehrt unser Wissen davon, wie mentale Prozesse physisch realisiert sind, aber sie allein liefert keine neuen Argumente in der Determinismusfrage. Der Libertarier van Inwagen sieht hier geradezu einen Bluff am Werke: I have a very hard time seeing why so many philosophers seem to think that the results of the empirical study of human beings lend support to the hypothesis that human behaviour is determined. […] I can only conclude that these philosophers are convinced on a priori grounds, or perhaps on no real ground at all, that human behaviour is determined, and, owing to this conviction, are predisposed to regard very nearly anything as evidence in support of it. 8

Diese boshafte Diagnose, dass die Überzeugung von der Wahrheit des Determinismus sich weder auf empirische Befunde noch auf Argumente gründet, erhält in der Tat Nahrung durch einschlägige Ausführungen philosophierender Neurowissenschaftler. Gerhard Roth versichert, es könne »keinen vernünftigen Zweifel daran geben, dass es auch bei den hochstufigen Prozessen in unserem Gehirn, die für die Steuerung unseres Verhaltens zuständig sind, deterministisch zugeht«.9 Wenn man genauer wissen möchte, wo und wie die Neurowissenschaft denn herausgefunden hat, dass es im Gehirn deterministisch zugeht, muss man auf Enttäuschungen gefasst sein. Insbesondere wird in der neurowissenschaftlichen Literatur die Lücke zwischen dem deterministischen Charakter bestimmter Gesetze und Theorien und der Behauptung, dass es in der Welt oder im Gehirn tatsächlich deterministisch zugeht, nicht reflektiert. Deterministische Gesetze und Theorien sind ja billig zu haben, man muss sie bloß aufstellen. Damit sie den Schluss auf die Wahrheit des Determinismus erlauben, und sei es eines bereichsspezifischen über das Gehirn, müsste das Problem der Überlagerung verschiedenartiger Kräfte gelöst sein. Die Gesetze und Theorien müssten das Geschehen im fraglichen Bereich in allen Einzelheiten korrekt beschreiben, ohne durch ceteris paribus-Klauseln vor Störungen abgeschirmt werden zu müssen. Kurz, sie müssten empirisch wahre Allsätze über tatsächliche Verläufe sein. Solche Sätze gibt es aber weder in den Neurowissenschaften noch in einer anderen Einzelwissenschaft.10 Eine Auseinandersetzung

7

Singer (2004), 52; vgl. 37. Van Inwagen (1983), 198. 9 Roth (2001), 447. 10 »In short, we see that there is a large gap between the determinism of a given physical theory, and the bolder, vague idea that motivated the traditional formulations: 8

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mit diesem Problem sucht man bei Roth und Singer vergebens. Die schwierigen Fragen, worin ein Nachweis der Wahrheit des Determinismus bestehen könnte und wie sich ein bereichsspezifischer zum universalen Determinismus verhält, werden nicht einmal in den Blick genommen.

2) Unser Selbstverständnis als überlegungs-, entscheidungs- und handlungsfähige Wesen Menschen haben Fähigkeiten. Unter anderem haben sie die Fähigkeit, praktische Überlegungen anzustellen, diese zu einem Abschluss zu bringen und das Überlegungsergebnis in die Tat umzusetzen. Das sind vorphilosophische Gemeinplätze. Kompatibilisten wie Inkompatibilisten reden so. Ich möchte einen Schritt über diese Gemeinplätze hinausgehen und behaupten, dass auch die libertarische Freiheitsauffassung nicht eigentlich ein philosophischer Ismus ist, sondern eine gewöhnliche Auffassung des common sense, die wir alle teilen, soweit wir nicht durch kompatibilistische Philosophie verbildet sind. Die meisten Nichtphilosophen, die zum ersten Mal von der Auffassung hören, dass der Wille zugleich frei und streng determiniert sei, halten dies für absurd. Kompatibilismus ist eine typische Philosophentheorie, und dasselbe gilt für den Determinismus. Niemand, der nicht davon in Büchern gelesen hätte, würde den Laplaceschen Determinismus für wahr halten. Niemand käme auf den Gedanken, dass seit Menschengedenken und darüber hinaus schon auf die Millisekunde feststeht, wie lange er sich am nächsten Tag die Zähne putzen wird. Die Intuition gegen den Kompatibilismus ist ebenso einfach wie die gegen den Determinismus. Wenn der universale Determinismus wahr wäre, wäre der Weltlauf ein für allemal fixiert. Es gäbe an keinem Punkt mehr als eine Möglichkeit des Weiterverlaufs. Wie sollte es in einer solchen Welt etwas für uns zu entscheiden geben? Das Vermögen der freien Entscheidung wäre eine Selbsttäuschung oder eine façon de parler. Die Zukunft wäre kein offener Raum von Möglichkeiten, sondern durch vergangene Zustände und Naturgesetze alternativlos festgelegt. Dass alternative Möglichkeiten bestehen müssen, wenn Menschen sich frei entscheiden können sollen, hält der Inkompatibilist für eine Selbstverständlichkeit. Die vorphilosophischen Intuitionen gegen den Determinismus und gegen den Kompatibilismus treten noch deutlicher hervor, wenn man berücksichtigt, wie wir gewöhnlich über Handlungen sprechen. Wenn wir zu anderen oder zu uns selbst sagen »Das hättest Du nicht tun sollen«, dann unterstellen wir, dass the idea that the world in itself is deterministic.« (Butterfield 1998, 33) Vgl. zu diesem Problem Keil (2007), 30–49.

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dies auch möglich gewesen wäre. Aus dem Sollen folgt vielleicht nicht das Können, aber ohne das Können scheinen solche Vorhaltungen witzlos zu sein. In der neueren Freiheitsdebatte wird das Anderskönnen aus irgendeinem Grunde immer retrospektiv formuliert (»He could have acted otherwise«). Dieser Bezug auf die Vergangenheit bringt eine zusätzliche Komplikation ins Spiel, die mit dem Freiheitsproblem nichts zu tun hat, nämlich den Umstand, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann, der ja allseits akzeptiert wird. Unsere Fähigkeit, etwas zu tun, richtet sich immer auf die Zukunft, nicht auf die Vergangenheit. Wenn wir irgendetwas handelnd beeinflussen können, dann ist es die Zukunft. Die Zukunft ist ein offener Raum von Möglichkeiten, während die Möglichkeiten, die in der Vergangenheit einmal bestanden haben, nun alle verschlossen sind. Auch die Rede von »identischen Umständen«, unter denen das So-oder-Anderskönnen möglich sein soll, wird erst durch die retrospektive Formulierung nötig. Bleiben wir in der Gegenwart mit ihren gegebenen Umständen! Natürlich handeln wir immer in bestimmten Umständen. Diese Umstände sind, wie sie sind, und können nicht zugleich anders sein. Das Vermögen, zu entscheiden und zu handeln, haben wir entweder in diesen Umständen oder überhaupt nicht. Es dient deshalb der Klarheit, das Anderskönnen ins Präsens zurückzuholen. Wer leugnet, dass jemals jemand »unter identischen Umständen« anders hätte entscheiden können, der leugnet auch, dass er jetzt, unter den gegebenen Umständen, so oder anders entscheiden kann. Wenn nun Handelnkönnen schon So-oder-Anderskönnen heißt, und zwar unter den obwaltenden Umständen, dann sind wir prima facie alle Libertarier. Das ist natürlich noch kein zwingendes Argument zugunsten der libertarischen Freiheitsauffassung. Auch der Umstand, dass niemand im wirklichen Leben an den Determinismus glaubt, ist kein starkes Argument. Alltagsmeinungen sind häufig wahr, manchmal aber auch falsch. Der Determinismus könnte trotz seiner Unplausibilität wahr sein. Aufgabe der Philosophie in dieser Debatte kann es nicht sein, die libertarische Imprägnierung unserer gewöhnlichen Rede über Handlungen und Entscheidungen wegzuinterpretieren. Vielmehr sollten wir uns folgende Frage vorlegen: Steht irgend etwas, was wir wissenschaftlich oder philosophisch wissen, dieser Freiheitsunterstellung entgegen? Natürlich steht ihr, wenn der Inkompatibilismus Recht hat, die Doktrin des Determinismus entgegen, aber stehen ihr auch Tatsachen entgegen, empirische oder begriffliche?

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3) Welche Rolle spielen Naturgesetze für den Determinismus? Determinismus ist die These, dass der gesamte Weltlauf ein für allemal fixiert ist. Zu jedem Zeitpunkt gibt es genau eine mögliche Zukunft, da ein beliebiger Anfangszustand und die Naturgesetze alle weiteren Zustände der Welt festlegen. Determinismus ist somit eine Behauptung über den Weltlauf als ganzen. Daneben gibt es bereichsspezifische Determinismen: den genetischen Determinismus, den neurophysiologischen, den psychologischen, und die Älteren unter uns kennen noch den ökonomischen und den historischen Determinismus. Wie diese bereichsspezifischen Determinismen sich zum universalen verhalten, ist eine offene Frage. Seit der Jargon der möglichen Welten in Mode gekommen ist, erläutert man die Determinismusthese gern wie folgt: Unsere Welt W ist genau dann deterministisch, wenn eine andere mögliche Welt W›, die zu irgendeinem Zeitpunkt mit unserer Welt übereinstimmt, für alle Zeiten mit ihr übereinstimmt (Montague, Lewis, Earman).11 Der Laplacesche Determinismus ist eine modale These über den Weltlauf. Er sagt nicht bloß, dass die Zukunft so sein wird, wie sie sein wird, sondern dass sie notwendig so sein wird. »Que sera, sera«, hat Doris Day gesungen, und mit dieser Weisheit war sie auf der sicheren Seite, denn dass genau das geschehen wird, was geschehen wird, ist eine Tautologie. Zweifellos werde ich mich genau dazu entscheiden, wozu ich mich entscheiden werde – wozu auch sonst? Die These des Laplace-Determinismus lässt sich als eine modale Verstärkung der unkontroversen Behauptung »Que sera, sera« auffassen. Für die modale Behauptung, dass die Zukunft notwendig auf eine bestimmte Weise verlaufen wird, braucht es einen Grund in der Sache – etwas, was die Behauptung wahr macht. Man kann dies die Frage nach der Modalitätsquelle des Determinismus nennen. In der Philosophiegeschichte sind, wenn man Subtilitäten beiseite lässt, drei Modalitätsquellen für den Determinismus erwogen worden: Gottes Wille, das Schicksal und die Naturgesetze. Der theologische Determinismus, also die Prädestinationslehre, nimmt die modale Kraft aus Gottes Willen oder Befehl. Wie genau Gott es anstellt, seinen Willen in der Welt wirksam werden zu lassen, wird in den Prädestinationslehren selten genauer geklärt. Die Rede von der Vorherbestimmung lässt ja den Mechanismus offen. Allein durch Gottes Willen, seinen Ratschluss oder seinen Befehl, so sollte man meinen, wird hienieden nicht das Geschehen beein11

Vgl. Earman (1986), 16. Ähnlich Lewis (1986), 37: »A deterministic system of laws is one such that, whenever two possible worlds both obey the laws perfectly, then […] they are alike always or never.«

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flusst, kein Körper von seiner Bahn abgelenkt. Die Stoiker haben vom Fatum gesprochen, welches den Weltlauf unausweichlich macht. Sie hatten aber einen äußerst schillernden Begriff vom Fatum und von der Notwendigkeit, so dass ihre Lehre nicht einfach einzuschätzen ist. Wenn heute in wissenschaftlichen Kontexten vom Determinismus die Rede ist, sind diese beiden Auffassungen nicht gemeint. Die heutige Antwort auf die Frage, woraus der Determinismus seine modale Kraft bezieht, lautet: aus den Naturgesetzen. Sie ist in der Wissenschaftstheorie so selbstverständlich, dass in einigen Determinismusdefinitionen das Attribut »deterministisch« von vornherein Gesetze qualifiziert; die Determinismusthese wird dann in einem zweiten Schritt als die Auffassung eingeführt, dass der Weltlauf diesen Gesetzen unterliegt. Was sind Naturgesetze überhaupt, dass sie den Weltlauf alternativenlos festlegen können? Hier ist zunächst festzuhalten, dass Naturgesetze im Unterschied zu sozialen, juristischen oder göttlichen Gesetzen keine Vorschriften sind. Sie schreiben niemandem vor, was er zu tun hat, sondern sie beschreiben in systematisierter Form, wie die Welt beschaffen ist. Sie sind Allaussagen einer bestimmten Art. Diese nichtpräskriptive Auffassung von Naturgesetzen ist wissenschaftsgeschichtlich nicht selbstverständlich; noch Descartes und Newton verstanden Naturgesetze als von Gott erlassene Regeln. Die façon de parler, dass der Weltlauf durch deterministische Gesetze »regiert« wird oder ihnen »folgt«, ist ein Relikt dieser Auffassung. Gemeint ist vernünftigerweise, dass der Weltlauf zutreffend durch diese Gesetze beschrieben wird. Die wissenschaftstheoretische Standardauffassung dazu ist die deduktiv-nomologische: Dass ein zu erklärendes Ereignis unter deterministische Gesetze fällt, heißt, dass seine Beschreibung sich aus diesen Gesetzen sowie einem Satz vollständiger Antecedensbedingungen deduzieren lässt. Die deduktiv-nomologische Auffassung schließt auch die Lücke zwischen der auf den Weltlauf bezogenen und der auf Naturgesetze bezogenen Definition des Determinismus: Der Weltlauf ist dann deterministisch, wenn aus deterministischen Gesetzen und der Beschreibung eines vollständigen Weltzustands Beschreibungen aller weiteren Weltzustände folgen. Die Auffassung, dass Gesetze Allaussagen einer bestimmten Art sind, ist allerdings in der Wissenschaftstheorie nicht unumstritten. Gegen sie wird unter anderem eingewandt: Wir wissen nun, was Gesetzesaussagen sind, aber was sind die Gesetze selbst? An dieser Stelle ist es sinnvoll, zwei Auffassungen von Naturgesetzen zu unterscheiden. Nach der nominalistischen Gesetzesauffassung, die ich gerade verwendet habe, sind Gesetze wahre Gesetzesaussagen. Die logische Form dieser Aussagen ist die eines allquantifizierten Konditionalsatzes. Bei kausalen Gesetzen beschreiben Vorder- und Nachsatz des Konditionals aufeinanderfolgende Zustände eines physikalischen Systems. Der universalienrealistischen Auffassung zufolge sind Naturgesetze nicht wahre Gesetzes-

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aussagen, sondern das, was Gesetzesaussagen wahr macht. Diese Wahrmacher (truthmakers) sind nichts Sprachliches, sondern etwas in der Welt. Für diese Rolle werden Beziehungen zwischen physikalischen Größen vorgeschlagen.12 Beispielsweise macht das Pendelgesetz eine Aussage darüber, wie sich Länge und Schwingungsfrequenz eines idealen Fadenpendels zueinander verhalten, und sein Wahrmacher sei das tatsächliche Verhältnis dieser physikalischen Größen. Naturgesetze sind dieser Auffassung zufolge Beziehungen zwischen Universalien (Armstrong, Dretske, Tooley). Die Nominalisten müssen nicht leugnen, dass es etwas gibt, was ihre wahren Allaussagen wahr macht, nur können sie es nicht wiederum »Gesetze« nennen, denn diese Bezeichnung haben sie ja schon vergeben. Im Deutschen gibt es für diese Wahrmacher ein treffendes anderes Wort, nämlich Gesetzmäßigkeiten.

4) Folgt der Weltlauf ausnahmslosen Verlaufsgesetzen? Der universale oder Laplacesche Determinismus ist eine viel anspruchsvollere These als die, dass alles in der Welt mit rechten Dingen zugeht oder dass es keine Wunder gibt. Der Determinismus behauptet, dass der gesamte Weltlauf strikten deterministischen Gesetzen folgt, also allquantifizierten Immer dann, wenn-Sätzen der Art »Immer wenn etwas der Art A geschieht, dann geschieht danach etwas der Art B«. (Ich verwende im Folgenden die nominalistische Gesetzesauffassung.) Gegen den Laplace-Determinismus lässt sich nun ein sehr einfacher Einwand erheben: Kein derartiges Naturgesetz ist je präsentiert worden. Diejenige Art von Gesetzen, auf die der Determinismus sich stützt, ist in den Naturwissenschaften unbekannt, und es spricht auch wenig dafür, dass es sie überhaupt gibt. An dieser Stelle ist eine weitere Unterscheidung nötig, die nicht verschiedene Auffassungen von Naturgesetzen betrifft, sondern verschiedene Arten physikalischer Gesetze. Der Laplace-Determinismus macht eine Behauptung über den Weltlauf, also über die tatsächliche Abfolge von Ereignissen. Er kann seine modale Kraft daher nur aus einer bestimmten Art von Gesetzen beziehen, nämlich aus solchen, die tatsächliche Ereignisverläufe subsumieren. Solche Gesetze nennt man Sukzessions- oder Verlaufsgesetze, im Unterschied zu Koexistenz- oder Zustandsgesetzen. Diejenigen fundamentalen Naturgesetze, auf deren Entdeckung Physiker zu Recht stolz sind, sind aber keine Sukzessionsgesetze über tatsächliche Ereignisfolgen. Newtons Gravitationsgesetz sagt nicht, 12

»Laws eschew reference to the things that have length, charge, capacity, internal energy, momentum, spin, and velocity in order to talk about these quantities themselves and to describe their relationship to each other.« (Dretske 1977, 263)

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dass jeder Körper, der aus einem Meter Höhe auf den Boden fällt, mit einer bestimmten Geschwindigkeit unten ankommt. Es sagt überhaupt nichts darüber, was tatsächlich geschieht, sondern etwas über das synchrone Verhältnis physikalischer Größen, nämlich darüber, wie die Gravitationskraft, die zwischen zwei Körpern besteht, sich zu ihren Massen und ihrem Abstand verhält. Boyles Gasgesetz sagt etwas über das synchrone Verhältnis von Volumen, Temperatur und Druck in einem idealen Gas. Das Pendelgesetz sagt etwas über das Verhältnis von Länge und Schwingungsfrequenz eines idealen Pendels. Als Aussage über das Verhältnis von Universalien könnte das Pendelgesetz wahr sein, ohne dass ein einziges Pendel schwingt oder auch nur existiert. Anders kausale Sukzessionsgesetze: Diese machen Aussagen über tatsächliche Ereignisverläufe. Wie nun Nancy Cartwright und andere gezeigt haben, werden alle Kandidaten für solche Gesetze durch Gegenbeispiele falsifiziert. Die durch Cartwrights provozierend betiteltes Buch How the Laws of Physics Lie populär gewordene gesetzesskeptische These besagt, dass kein wahrer Immer wenn, dann-Satz über empirische Ereignisfolgen je präsentiert worden ist: »In fact our best candidates are known to fail«.13 Der Grund dafür ist schnell genannt: Es kann jederzeit passieren, dass just in dem Moment, wo das A-Ereignis eingetreten ist und das B-Ereignis folgen müsste, etwas dazwischenkommt. Da nun das Gesetz, als empirischer Allsatz, behauptet, dass jedesmal, wenn die Bedingungen des Vordersatzes erfüllt sind, das im Nachsatz Beschriebene geschieht, muss ein solcher Fall als Falsifikation des Gesetzes angesehen werden. Ähnlich hatte schon Michael Scriven behauptet: »The most interesting fact about laws of nature is that they are virtually all known to be in error«.14 Das Zugeständnis, dass physikalische Gesetze keine wahren Aussagen über empirische Regularitäten machen, ist Naturwissenschaftlern schneller abgerungen als viele Philosophen denken. Die gesetzesskeptische These ist leicht aufgestellt; die interessante Aufgabe besteht darin, die unweigerlich folgenden »Ja, aber«-Reaktionen zu parieren. In der Wissenschaftstheorie liegt eine ganze Palette von schadensbegrenzenden Gegenreden vor. Ich zähle einige von ihnen auf: – Gesetze seien immerhin approximativ wahr. – Gesetze seien Aussagen über ideale Gegenstände einer Modellwelt. – Gesetze müssten durch ceteris paribus-Klauseln abgestützt werden. – Gesetze müssten probabilistisch aufgefasst werden. – Gesetze seien dispositionale Aussagen über das Verhalten, das Systeme in ungestörten Situationen zeigen würden. – Gesetze seien instrumentalistisch aufzufassen, nicht realistisch. 13 14

Cartwright (1983), 46. Scriven (1961), 91.

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Man kann diese Gegenreden systematisieren, wenn man fragt, welches Merkmal der Gesetzesartigkeit jeweils betroffen ist. Die meisten Reaktionen auf die Gesetzesskepsis laufen darauf hinaus, dass von den drei Gesetzesmerkmalen wahr, empirisch gehaltvoll und strikt (also ausnahmslos) jeweils eines zugunsten der anderen beiden aufgegeben wird. Ein Instrumentalist der Naturgesetze sagt beispielsweise: Gesetze sind strikt und empirisch gehaltvoll, aber nicht wahr. Ein Modellplatonist sagt: Gesetze sind strikt und wahr, aber handeln nicht von der empirischen Welt. Wer ceteris paribus-Gesetze propagiert, sagt: Gesetze sind wahr und empirisch gehaltvoll, aber nicht strikt. Man kann jeweils zwei der Bedingungen auf Kosten der dritten erfüllen, aber eine fehlt immer.15 Die Gegenreden gegen die Gesetzesskepsis müssen wir hier nicht weiter verfolgen, da unser Einführungskontext ein eng begrenzter war. Es ging um den Laplace-Determinismus, und dieser kann nur durch eine bestimmte Art von Gesetzen gestützt werden, nämlich durch ausnahmslose empirische Verlaufsgesetze über tatsächlich Geschehendes. Von besonderem Interesse ist indes eine weitere Gegenrede. Möglicherweise verdankt sich der gesetzesskeptische Einwand, dass alle Allaussagen über empirische Verläufe Ausnahmen unterworfen sind, also durch Gegenbeispiele falsifiziert werden, einer zu einfachen Vorstellung davon, worin der empirische Gehalt physikalischer Gesetze besteht. Es könnte von vornherein eine unvernünftige Erwartung sein, dass einzelne Verlaufsgesetze zutreffend beschreiben, was ausnahmslos geschieht. In der wirklichen Welt liegt stets eine Überlagerung physikalischer Kräfte vor, und es ist kein Wunder, dass Gesetze, die einzelne dieser Kräfte und Bewegungstendenzen beschreiben, nicht zugleich deren Zusammenwirken beschreiben können. Laplace hat dieses Problem vorausgesehen, denn in seiner Darstellung werden nicht gewöhnliche Ereignisse als Ursachen und Wirkungen aufgefasst, sondern komplette Weltzustände: »Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten«.16 Die Falsifikationsanfälligkeit gewöhnlicher Verlaufsgesetze könnte man mithin auf den Umstand zurückführen, dass ihre Vorderund Nachsätze eben keine kompletten Weltzustände aufführen. So hat Russell bündig festgestellt: »Alle Kausalgesetze sind Ausnahmen unterworfen, wenn die Ursache nicht den Zustand des ganzen Weltalls umfasst.«17 Wenn man im Vordersatz eines kausalen Sukzessionsgesetzes einen vollständigen Weltzustand aufführen könnte, so sagt der Determinist voraus, gäbe es keine Gegenbeispiele mehr. Leider ist dies ein Überprüfungsverfahren für den Laplaceschen Dämon, 15 16 17

Vgl. dazu Keil (2000), 174–240; Keil (2005). Laplace (1814), 1. Russell (1914), 302 f.

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nicht für menschliche Physiker. Laplace spricht freilich von einem solchen Supergesetz, welches alle Naturkräfte synthetisiert, so dass es »in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper wie des leichtesten Atoms« subsumieren würde. Leider kennen wir dieses Supergesetz nicht. Nach Popper soll aber der physikalische Determinismus, anders als die theologische Prädestinationslehre, »wie ein Ergebnis des Erfolgs der empirischen Naturwissenschaft aussehen, oder wenigstens so, als werde er durch sie gestützt«.18 Wir hatten die deterministische These ja als modal verstärkte Regularitätsbehauptung aufgefasst, die ihre modale Kraft aus den Naturgesetzen bezieht. Nun sehen wir, dass bei Laplace das Verhältnis von metaphysischer These und empirischem Beleg nachgerade umgekehrt ist. Die fraglichen Naturgesetze kennt niemand, das Supergesetz erst recht nicht, doch wenn man von der Wahrheit des Determinismus schon überzeugt ist, könnte man die Karikatur dieses Supergesetzes mechanisch erzeugen, indem man die Beschreibungen zweier beliebiger Weltzustände Fx und Gx als Vorder- und Nachsatz in das Gesetzesschema ∀x (Fx → Gx) einsetzt und damit ex hypothesi etwas Wahres sagt. Eine Rechtfertigung für den Determinismus bietet die bloße Versicherung, dass das fragliche Supergesetz existiert und der Laplacesche Dämon es kennt, natürlich nicht. Indem man die Existenz des Gesetzes einfach postuliert, genießt man, wie Russell einmal in anderem Zusammenhang sagte, alle Vorteile des Diebstahls gegenüber ehrlicher Arbeit. Der Laplacesche Determinist könnte freilich argumentieren, dass die Doktrin gleichwohl wahr sein könnte. Sie lasse sich nur von menschlichen Physikern nicht hinreichend belegen, weil die Welt eben nur einmal da ist, so dass eine gleiche Distribution von Elementarteilchen nicht ein zweites Mal vorkommt. An dieser Stelle würde man in eine schwierige Debatte geraten, mit der man das Feld der Empirie verließe. Ich zitiere ersatzweise eine einschlägige Stichelei. Angesichts der Schwierigkeit, auch nur ein wahres deterministisches Sukzessionsgesetz aufzutreiben, drängt sich die Frage auf: Was ist hier eigentlich der empirische Befund und was die metaphysische Behauptung? Der Wissenschaftstheoretiker Patrick Suppes geht so weit, hinsichtlich der empirischen Belege die übliche Zuordnung umzukehren: »Free will, as exemplified in voluntary motion, is the hard empirical fact. Determinism […] is the transcendental metaphysical assumption«.19 In dieser Lage ist als Remedium vorgeschlagen worden, den Determinismus von vornherein nur für isolierte Systeme zu formulieren und deterministische Theorien aufzufassen als »describing single completely isolated systems, each

18 19

Popper (2001), 37. Suppes (1994), 462.

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alone in the universe«.20 Dieser Bezug auf isolierte Systeme oder Modellwelten würde den Determinismus indes zu einer kontrafaktischen These machen. Die Körperwelt mag als ganze kausal geschlossen sein, doch in ihr gibt es keine vollständig kausal voneinander isolierten Systeme. Der Wissenschaft bleibt nichts anderes übrig, als kausal interagierende Systeme zu untersuchen. Schon die Prozesse des Messens und Beobachtens beruhen auf kausalen Interaktionen zwischen System und Umwelt. Durch die Formulierung des Determinismus für isolierte Systeme würden die entsprechenden Regularitätsbehauptungen zu kontrafaktischen. Dies heißt aber, dass sie aufgegeben würden, denn »a counterfactual uniformity is no uniformity at all«.21 Der Determinismus würde, so ist argumentiert worden, auf diese Weise sogar eine kontralegale These, die nomologisch unmögliche Welten fingiert. Man würde durch das Fingieren isolierter physikalischer Systeme, die durch je eigene Gesetze geregelt werden, mehrere miteinander unvereinbare (un)mögliche Welten erhalten, in denen jeweils andere Gesetze und Kräfte weggedacht wären. Jede Zurückübersetzung der entsprechenden Theorien in eine indikativische Formulierung müsste scheitern, da in jeder dieser möglichen Welten die Existenzpräsuppositionen der übrigen Gesetze negiert wären.22 Die größte Schwierigkeit für die Überprüfung des Determinismus ist also das Problem der Überlagerung verschiedenartiger Kräfte. Die übliche Fixierung auf die Fragen, ob es in der Quantenwelt indeterministisch zugeht, obwohl die Schrödingergleichung deterministisch ist, und ob es verborgene Parameter geben könnte, verdeckt diese Schwierigkeit eher. An dieser Stelle könnte man einwenden, dass die Freiheitskritiker in der aktuellen Debatte sich ja nicht auf den Laplaceschen Determinismus berufen, sondern auf bereichsspezifische Determinismen: beispielsweise darauf, dass das Gehirn ein deterministisches System sei. Der neurophysiologische Determinismus wirft, wie auch der genetische, die Frage auf, ob einer der Bereichsdeterminismen wahr sein könnte, ohne dass der Laplacesche wahr ist. Man sieht schnell, dass dies nur unter einer – kontrafaktischen – Bedingung möglich wäre: Es müsste innerhalb des Universums kausal abgeschlossene Systeme geben, also Systeme, die nicht mit ihrer Umwelt interagieren. Nur dann wäre es möglich, dass bereichsspezifische deterministische Verlaufsgesetze, beispielsweise über die Arbeitsweise von Gehirnen, das Verhalten ihres Gegenstands zutreffend und vollständig beschreiben. Wie die Wahrheit eines Bereichsdeterminismus nachgewiesen werden könnte, ohne dass das Überlagerungsproblem gelöst ist, ist nicht zu sehen. Aber ich kürze die Debatte ab: Natürlich ist es nicht die Aufgabe der Hirnforschung, den Determinismus zu beweisen. In einer Welt, 20 21 22

Butterfield (1998), 36 f. Cartwright (1995), 313. Vgl. Joseph (1980), 778.

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die keine kausal geschlossenen Systeme enthält, transzendiert die Determinismusthese die empirischen Belege. Wenn ein Hirnforscher sich gleichwohl in seinen philosophischen Momenten zum Determinismus bekennt, ist ihm das nicht vorzuwerfen; zu kritisieren ist allein, wenn er ihn als Ergebnis einzelwissenschaftlicher Forschung ausgibt. Die Naturwissenschaft geht an der Nichtexistenz ausnahmslos wahrer empirischer Sukzessionsgesetze nicht zugrunde. Dass es solche Gesetze geben muss, war immer eine Philosophenidee. Die einzigen, die mit leeren Händen dastehen, sind die Laplaceschen Deterministen. Diejenigen Naturgesetze, die nicht lügen, sind keine Sukzessionsgesetze über Ereignisse, sondern Koexistenzgesetze über Universalien, Aussagen über Kräftegleichgewichte und Erhaltungssätze. Diese haben keine kausale Interpretation, stützen nicht den Laplace-Determinismus, fixieren also nicht den Weltlauf und sind auch nicht freiheitsgefährdend. Ich fasse den bisherigen Argumentationsgang noch einmal zusammen: (1) Der Determinismus sagt, dass die Zukunft notwendig so sein wird, wie sie sein wird. Er geht über die Tautologie »Que sera, sera« hinaus. (2) Dies wirft die Frage auf, woher die modale Kraft des Determinismus stammen soll. (3) Im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Weltbildes sind Gottes Wille und das Fatum als Modalitätsquellen unattraktiv, es bleiben die Naturgesetze. (4) Nicht Naturgesetze jedweder Art sind zur Stützung des Determinismus geeignet, sondern nur solche, die Aussagen über empirische Ereignisfolgen machen oder implizieren. In Abwesenheit einer anderen Modalitätsquelle steht und fällt der Determinismus mit der Annahme, dass der Weltlauf ausnahmslosen Sukzessionsgesetzen unterliegt. (5) Die Physik scheint keine ausnahmslos geltenden Gesetze über empirische Verläufe zu kennen. Die fundamentalen Naturgesetze sind von anderer Art.

5) Skizze einer Nihil-obstat-Auffassung der libertarischen Freiheit Bei diesem negativen Ergebnis können wir natürlich nicht stehenbleiben. Wenn man sich klarmacht, wodurch der Determinismus nicht gestützt wird, bleiben eine Reihe von Fragen offen, von denen ich zunächst folgende herausgreife: Ist nicht der Determinismus, wiewohl unbeweisbar, eine unerlässliche Voraussetzung der Naturforschung? Kant befürchtet bekanntlich, dass die Natur chaotisch und dem blinden Zufall überantwortet wäre, wenn man den Determinismus aufgäbe, und dass in diesem Falle einheitliche Naturerfahrung unmöglich wäre. In der neueren

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Freiheitsdebatte besagt ein verwandtes Argument, dass eine indeterministische Wahl zwischen Alternativen zufällig wäre, und der Zufall nütze dem Libertarier nichts. Die Antwort auf Kants Befürchtung muss lauten, dass die präsentierte Alternative unvollständig ist. Zwischen Determinismus und Chaos gibt es ein Drittes, nämlich eine Welt begrenzter, störbarer Regularitäten, welche nach allem, was wir wissen, die unsrige ist. Ich möchte den Zusammenhang sehr thetisch wie folgt darstellen: Für unsere Fähigkeit, in der Welt unsere Absichten zu verwirklichen, ist der Umstand wesentlich, dass Ereignisverläufe nichtstrikte Regularitäten aufweisen. Einerseits weisen sie überhaupt Regelmäßig keiten auf. Das muss der Fall sein, weil sonst überhaupt nicht absehbar wäre, welche Auswirkungen ein Eingriff haben wird. Andererseits sind diese Regelmäßigkeiten nicht strikt, sondern störbar. Da es keine ausnahmslosen Regularitäten gibt, sind die empirischen Allsätze, die dies behaupten, falsch. So gesehen, ist Kants Frage, wo in einer kausalgesetzlich geordneten Welt menschliche Handlungen Platz finden, falsch gestellt. Sie muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden und lautet dann: Wie sollte es in einer Welt, deren Verläufe durch Handlungen gestört werden können, strikte Verlaufsgesetze geben können? Ich behaupte also, dass Kant einen Hysteron-Proteron-Fehler begeht. Welche Gesetzesaussagen wahr sind, richtet sich danach, was in der Welt geschieht, nicht umgekehrt. Kant stellt diesen Zusammenhang unter Verwendung eines universalienrealistischen Gesetzesbegriffs verkehrt dar: Die Welt wird als etwas vorgestellt, das alle Gesetze schon enthält (besser sollte man sagen: Gesetzmäßigkeiten); dann kämen wir dazu und müssten im »Naturmechanismus« unseren Platz finden – nur um festzustellen, dass für uns und unsere freien Handlungen kein Platz freigehalten ist. Eben dies drückt ja auch die deterministische Rede von einem »lückenlosen Zusammenhang« aus, der die mechanistische Metapher von der Welt als einem kraftschlüssigen Räderwerk zugrunde liegt. Richtigherum ist es aber so: Erst kommt die Welt, der Weltlauf enthält unter anderem uns und unsere Handlungen, dann versuchen wir anzugeben, welche Gesetzesaussagen in dieser Welt wahr sind, also das Geschehen zutreffend beschreiben. Und wenn wir keine wahren Sukzessionsgesetze finden, dürfen wir nicht einfach postulieren, dass es welche geben muss, weil ja der Laplacesche Determinismus wahr sei. So ist unser Handlungsvermögen zwar einer der Gründe dafür, dass keine strikten Gesetzesaussagen wahr sind, doch was wir stören, sind keine »Naturgesetze«, sondern erwartete Ereignisverläufe. Wunder im Sinne Humes, also Verstöße gegen Naturgesetze, braucht es dafür nicht. Wir »stören« natürliche Verläufe allein in folgendem Sinn: Unsere Eingriffe haben zur Folge, dass die Welt anders weiterverläuft, als sie weiterverlaufen wäre, wenn wir nicht eingegriffen hätten. Gesetze müssten nicht, wie Kant sagt,

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durch Handlungen »unaufhörlich abgeändert«23 werden können, sondern nur nichtstrikte Gesetzesaussagen sagen über die Welt, in der wir nun einmal handeln, etwas Wahres aus. Die Natur räumt uns auch keine Sonderkonditionen ein, denn ein regelmäßiger Verlauf kann ebenso durch ein gewöhnliches Ereignis gestört werden wie durch eine menschliche Handlung. Der Grund dafür, dass der Zusammenhang zwischen freien Handlungen und Naturgesetzen so häufig falsch dargestellt wird und dann selbst Nichtdeterministen Kopfzerbrechen bereitet, ist die universalienrealistische Gesetzesauffassung im Verbund mit der Annahme, dass Naturgesetze regeln oder bestimmen, was geschieht. Gesetze sind aber abstrakte Gegenstände und haben als solche keine kausalen Kräfte. Sie sind Aussagen, die nicht vorschreiben, was zu geschehen hat, sondern in systematisierter Form beschreiben, was stets geschieht. Ob sie dies korrekt beschreiben, hängt klarerweise davon ab, was tatsächlich geschieht, nicht umgekehrt. Die Richtigstellung der verkehrten Auffassung, dass Naturgesetze das Weltgeschehen bestimmen oder notwendig machen, nennt sich heute Humesche Supervenienz. Diese von David Lewis formulierte Auffassung besagt, dass die Welt aus Dingen, lokalen Ereignissen und Tatsachen besteht (genauer: aus der raumzeitlichen Verteilung physikalischer Qualitäten) und dass alles andere, also auch Regularitäten und Naturgesetze, auf diese lokalen Anordnungen von Qualitäten superveniert. Für das Verhältnis zwischen menschlichen Handlungen und Naturgesetzen ergibt sich: »It is the events of universal history, as brute facts, that make the laws what they are, and not vice-versa. Taking this idea seriously, the actions of every human agent in history are simply a part of the universe-wide pattern of events that determines what the laws are for this world«.24 Die Darstellung, dass die tatsächlichen Handlungen und Ereignisse festlegen, was die Regularitäten und Naturgesetze sind, ist ungewohnt, aber sie ergibt sich zwingend aus der Berichtigung der universalienrealistischen und präskriptivistischen Gesetzesauffassung. Ferner ergibt sich, dass der Zustand der Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht festlegt, welches die Naturgesetze sind. Was ein Naturgesetz wahr machen würde, ist für den Humeaner die entsprechende ausnahmslose Regularität, die aus vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Teilen besteht. Wenn nun die Gegeninstanzen erst in der Zukunft liegen, macht erst die Zukunft das Gesetz falsch (oder erweist es als falsch, wenn man Wahrsein als zeitlos auffasst). Kehren wir derart belehrt noch einmal zum Laplaceschen Determinismus zurück. Dieser behauptet, dass die Gesamtheit der Naturgesetze und ein beliebiger Momentanzustand des Universums gemeinsam alle weiteren Zustände festlegen. Diese Determination ist eine zeitsymmetrische: Die Vergangenheit 23 24

Kant, KrV B 479/A 451. Hoefer (2003), § 2.3.

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legt die Gegenwart in genau demselben Sinne fest wie umgekehrt. Diese zeitliche Symmetrie hätte uns schon stutzig machen sollen, denn sie zeigt, wie wenig die Laplacesche Determination mit der gewöhnlichen Kausalität zu tun hat, der verbreiteten Rede vom »kausalen Determinismus« zum Trotz. Auch van Inwagens dramatische Darstellung, dass meine Handlungen für den Deterministen schon sämtlich »vor meiner Geburt« feststünden, verzerrt diesen Sachverhalt, indem sie dem Determinismus fälschlich eine Zeitrichtung unterlegt. Aus Laplacescher Sicht können wir mit gleichem Recht sagen, dass meine tatsächlichen Handlungen festlegen, was vor meiner Geburt geschehen ist. »Festlegen« bezeichnet hier keine Tätigkeit und kein dynamisches Verhältnis, sondern drückt den Umstand aus, dass man bestimmte zutreffende Beschreibungen aus anderen folgern kann. Nicht nur die Laplacesche Determination, sondern auch das Konsequenzargument für den Inkompatibilismus muss im Lichte einer Humeschen Gesetzesauffassung noch einmal neu bedacht werden. Seine zweite Prämisse lautet, dass niemand die Macht hat, Naturgesetze abzuändern. In gewissem Sinne liegen aber nun die Gesetze in unserer Hand: Was wir tun, gehört zusammen mit allen anderen Geschehnissen zu dem, was die Gesetze wahr macht oder eben falsch. Ein großer Teil dieser Wahrmacher liegt in der Zukunft, insofern ist noch nicht ausgemacht, welches die Naturgesetze sind. Entscheidend ist, dass für den Humeaner nichts von dem, was bisher passiert ist, fixieren kann, was ich morgen tun werde. Die Details von Lewis’ Lehre der »Humeschen Supervenienz« sind hier nicht von Belang. Für den gegenwärtigen Zweck genügt es, dass Naturgesetze nicht gebieten, sondern das tatsächliche Geschehen beschreiben oder subsumieren. Was ergibt sich nun aus einer Humeschen Gesetzesauffassung für das Vereinbarkeitsproblem? Wenn man einen Humeschen Gesetzesbegriff einsetzt, sehen die Determinismusthese und das Konsequenzargument anders aus als üblich. Einige Autoren haben aus dieser Lage kompatibilistische Folgerungen gezogen25 und dies wie folgt begründet: Werden die Naturgesetze als ausnahmslose Humesche Regularitätsbehauptungen verstanden, so liegen sie nicht mit unserer Fähigkeit im Konflikt, uns in einer gegebenen Situation so oder anders zu entscheiden. Wie auch immer wir uns entscheiden, wird nachträglich von einer gegebenenfalls revidierten Gesetzesaussage subsumiert. Am offensten vertritt diese Auffassung Norman Swartz: »The stumbling block for a fully satisfactory solution to the free-will problem is the mistaken theory of physical laws«.26 Der

25

Vgl. Swartz (1985), 116–140; Berofsky (1987); Beebee (2000); Beebee/Mele (2002). 26 Swartz (1985), 124.

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Anschein, dass der Determinismus dem So-oder-Anderskönnen widerspricht, entstehe allein durch die falsche präskriptivistische Gesetzesauffassung. Man kann die Sache aber auch anders sehen. Der Laplacesche Determinismus wird gemeinhin als die Auffassung definiert, dass Antecedensbedingungen und Naturgesetze den Weltlauf alternativlos fixieren. Wenn sie das nicht tun, weil Gesetze ihrer Natur nach keine formierende oder direktive Kraft haben, sondern umgekehrt durch das faktische Geschehen wahrgemacht werden, ist es vielleicht erhellender, die Lehre des Determinismus für falsch zu erklären, und zwar für begrifflich falsch, anstatt die Determinismusdefinition anzupassen. Es spricht einiges dafür, dass der präskriptivistische oder jedenfalls der nezessitarische Gesetzesbegriff (Armstrong) schon in den Determinismusbegriff eingebaut ist. Wir haben ja gesehen, dass schon der Sinn des Verbs »determinieren« unklar wird, wenn man den Humeschen Gesetzesbegriff einsetzt.

6) Naturgesetze als Restriktionen Der Laplace-Determinismus braucht eine Modalitätsquelle; als diese hatten wir bisher die Naturgesetze angesehen. Wenn nun, wie die Lehre von der Humeschen Supervenienz besagt, die Naturgesetze keinerlei formierende oder direktive Kraft besitzen, sondern nur nachträglich systematisieren, was faktisch geschieht, ist damit noch nicht gezeigt, dass es alternative Möglichkeiten des Weiterverlaufs gibt. Die Frage, was genau den Weltlauf fixieren oder determinieren soll, ist schlicht wieder offen. Die Naturgesetze sind es jedenfalls nicht. Wenn Naturgesetze durch das tatsächliche Geschehen wahrgemacht werden, liegt es nahe, die echten Determinanten auf der Ebene der tatsächlichen Geschehnisse oder Dinge zu suchen. Vielleicht liegen sie in der Natur der Dinge? In der Tat ist der Verweis auf die Natur der beteiligten Substanzen eine naheliegende Art, den empirischen Gehalt von Naturgesetzen zu reformulieren: Es liegt in der Natur des Pflanzenfarbstoffs Lackmus, sich durch Kontakt mit Säure rot zu färben, es liegt in der Natur der Fensterscheibe, durch den Aufprall von Steinen einer bestimmten Masse und Geschwindigkeit zerstört zu werden, etc. In der Wissenschaftstheorie der Physik ist seit drei Jahrzehnten eine Wiederkehr der Dispositionen und Kräfte zu beobachten, die mit der hier vorgetragenen Doppelkritik an der präskriptivistischen Gesetzesauffassung und am Determinismus gut zusammen stimmt. Die Rehabilitierung der Dispositionen nimmt ihren Ausgang von der Beobachtung, dass als modal verstärkte Regularitätsbehauptungen verstandene Naturgesetze keinen angemessenen Umgang mit Störfaktoren erlauben:

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For every alleged uniformity is defeasible by something’s interfering and preventing the effect; to assert the uniformity as a fact is to commit oneself to a rash judgment that such interference never has taken place and never will. Scientists do not try to describe natural events in terms of what always happens.27

Ein großer Vorteil von Dispositionserklärungen gegenüber Gesetzeserklärungen besteht darin, dass Dispositionen störende Einflüsse zulassen. Wenn eine Disposition sich manifestiert, hat es einen Erklärungsgehalt, auf sie zu verweisen, wenn die Manifestation dagegen ausbleibt, lässt sich dies auf die widrigen Umstände zurückführen. Die Erklärungsressource bleibt also im Störungsfall unangetastet, was sie nicht bliebe, wenn man zur Erklärung nichts als Regularitätsaussagen zur Verfügung hätte. Die Aristotelische Lehre, die sich aus der Wiederkehr der Dispositionseigenschaften natürlicher Substanzen ziehen lässt, lautet: »Generality in nature lies in things not conditions«.28 Das Allgemeine, Gleichförmige, Stabile in der Natur, von dem Wissenschaft möglich ist, liegt in den natürlichen Substanzen und ihren essentiellen Eigenschaften, während deren Manifestation in streng regelmäßigen Ereignissequenzen durch die wechselnden äußeren Umstände verhindert werden kann. Das gute Erbe des Aristotelismus besteht mithin in der Einsicht, dass die Naturdinge ihre essentiellen, ihre Artzugehörigkeit definierenden Eigenschaften unbeschadet der Tatsache behalten, dass zwischen den Ereignissen, in die sie involviert werden, keine ausnahmslosen Regularitäten bestehen. Haben Behauptungen über die Natur aristotelischer Substanzen auch irgendeine modale Kraft hinsichtlich der Fixierung tatsächlicher Ereignisverläufe? Dies scheint der Fall zu sein. Ihre modale Kraft lässt sich so wiedergeben: Es ist unmöglich, dass eine Substanz sich anders verhält, als es ihrer Natur entspricht. Ein Beispiel aus der stoischen Naturphilosophie: »Wenn der Stein aus einer gewissen Höhe losgelassen wird und kein Hindernis im Weg ist, kann er sich unmöglich nicht nach unten bewegen«.29 Dieses Beispiel kann nun nicht im Sinne eines durchgängigen Determinismus interpretiert werden, denn dafür müsste auch determiniert sein, ob der Stein losgelassen wird und ob sein Herunterfallen verhindert wird. Aber in der Natur welcher Dinge sollten diese Determinationen liegen? Allgemein wäre zu ermitteln, ob die Gesamtsumme essentialistischer Notwendigkeits- oder Unmöglichkeitsbehauptungen mit dem Determinismus äquivalent ist, also den Weltlauf alternativlos fixiert. In Bezug auf das So-oder-Anders-Können wäre zu fragen: Ist es gegen meine Natur, gleich die Handlung h auszuführen? Ist es gegen die Natur irgendeiner an27

Geach (1973), 102. Bhaskar (1975), 233. 29 So das Referat bei Alexander von Aphrodisias, De fato 181–182, zit. nach Long/ Sedley (Hg.) 1978, 465. 28

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deren Substanz, meine Ausführung von h zuzulassen? Wenn die Antwort zweimal »nein« lautet, gibt es kein naturgesetzliches Hindernis mehr, dass ich h tue. Wenn sich ferner für das Unterlassen dieselben Antworten ergeben, ist beides naturmöglich: dass ich es tue und dass ich es nicht tue. Dem So-oder-Anderskönnen stünde dann nur noch die Doktrin des Determinismus entgegen, nicht aber irgendwelche Tatsachen über die Natur der Dinge. Freilich sollten sich aristotelisch formulierte Erklärungen in moderne physikalische Erklärungen übersetzen lassen. Es kann auch nicht darum gehen, die Rede von Naturgesetzen zu verbieten, sondern nur darum, sie von falschen Konnotationen zu befreien. Auch der Humeaner hat kein Copyright auf den Ausdruck »Naturgesetz«. Nach wie vor lässt sich beispielsweise in generellen Sätzen formulieren, was naturgesetzlich möglich und was unmöglich ist. Wohlverstandene Naturgesetze, oder eine bestimmte Art derselben, könnten Einschränkungen für das benennen, was überhaupt geschehen kann. Sie könnten die Natur der Dinge und ihre Interaktionsmöglichkeiten beschreiben und damit Restriktionen, die einige Möglichkeiten verschließen, andere hingegen offenlassen. Es ist, soweit wir wissen, naturgesetzlich unmöglich, dass jemand schneller reist als das Licht, aber die Naturgesetze legen nicht fest, wohin meine nächste Urlaubsreise geht. Der Unterschied zum Laplace-Determinismus lässt sich nun so ausdrücken: Was hienieden geschehen kann, ist naturgesetzlich restringiert. Naturgesetze – aristotelisch: die Natur der Dinge – reduzieren den Raum der möglichen Verläufe, aber sie reduzieren ihn nicht auf einen einzigen. Das ist der entscheidende Unterschied zum Laplace-Determinismus, demzufolge die Naturgesetze ja alle Möglichkeiten bis auf die eine verwirklichte verschließen. Unter nichtdeterministischen Annahmen benennen Naturgesetze ebenfalls Einschränkungen, lassen aber dabei einen Spielraum von Möglichkeiten übrig. Möglich bleibt eben alles, was nicht naturgesetzlich unmöglich ist. Wenn den Naturgesetzen Genüge getan ist, gibt es nicht noch einmal eine Vorrichtung, die den Weltlauf alternativlos fixieren könnte. Wer den Determinismus leugnet, ist mithin nicht auf die Behauptung verpflichtet, dass jederzeit Beliebiges geschehen kann. Dies ist ja eine Variante des Zufallseinwandes gegen die libertarische Freiheit: Unter indeterministischen Annahmen könnten Subjekte losgelöst von ihren psychischen Dispositionen grundlos Beliebiges wählen, und das sei absurd. Wir sehen nun, inwiefern dieses Bild eine Karikatur ist. Indeterminismus ist nicht die Auffassung, dass unter gegebenen Bedingungen Beliebiges geschehen kann. Viele Optionen sind durch die jeweiligen Vorbedingungen und andere Faktoren ausgeschlossen, aber solange mehr als eine offenbleibt, gibt es einen Freiheitsspielraum. Zusammenfassend: Es gibt stets naturgesetzliche Einschränkungen, aber

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»these constraints from physics are only partial constraints. There is much freedom left after they are satisfied«.30 Es ist nicht nur »viel« Freiheit übrig, sondern alle wünschenswerte. Vernünftige Personen berücksichtigen naturgesetzliche Einschränkungen schon bei ihrer Absichtsbildung. Unerfüllbare Wünsche zu haben ist eine lässliche Sünde, doch die Formierung von Absichten sollte unter dem Realitätsprinzip stehen, und der Versuch, eine naturgesetzlich unmögliche Handlung auszuführen, ist schlicht irrational. Dies nenne ich eine Nihil obstat-Auffassung der libertarischen Freiheit. Sie klingt für viele unglaubhaft, sie klingt zu schön, um wahr zu sein. Der Freiheitsannahme muss doch etwas entgegenstehen, ist man geneigt zu sagen, worüber hätten sich so viele Philosophen sonst immer den Kopf zerbrochen? Wer so denkt, mag sich aufgefordert fühlen, genau anzugeben, was denn der Freiheitsannahme entgegensteht. Natürlich die Doktrin des Determinismus, aber welche Tatsachen stehen ihr entgegen?

7) Libertarismus und Dualismus Meine Skizze einer Nihil obstat-Auffassung der libertarischen Freiheit wäre noch gegen etliche Einwände zu verteidigen. Den Zufallseinwand hatte ich bereits bereits erwähnt, und ihm entgegengehalten, dass die Alternative von Determinismus und Zufall nicht erschöpfend ist.31 Nachzutragen wäre ferner der positive Teil der libertarischen Freiheitsauffassung. Freiheit erschöpft sich nicht im Ungehindertsein, sie muss auch positiv als besonderes Vermögen erläutert werden, beispielsweise als das Vermögen, praktische Überlegungen anzustellen und diese Überlegungen handlungswirksam werden zu lassen, eingeschlossen die Fähigkeit, vorfindliche Wünsche oder Antriebe zu suspendieren, eingehend zu prüfen und sich gegebenenfalls von ihnen zu distanzieren. Es liegt auf der Hand, dass der bloße Indeterminismus für eine positive Erläuterung nicht ausreicht. Dieser gewährleistet lediglich, dass das fragliche Vermögen auch in die Welt passt, dass seiner Ausübung also nichts entgegensteht.32 Eingewandt wird gegen den Libertarismus ferner, dass auch schwächere Formen von Determination freiheitsgefährdend seien. Warum habe ich den Laplaceschen Determinismus, der dem Mechanismus des 19. Jahrhunderts verhaftet ist, so in den Vordergrund gestellt? Bedroht nicht auch eine nicht30

Suppes (1994), 467. Genaueres zum Zufallseinwand vgl. Keil (2007), 103–117. 32 Der Unterschied zwischen dem negativen und dem positiven Teil einer Freiheitslehre ist näher ausgeführt in Keil (2007), 130–153. 31

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deterministische Naturwissenschaft die libertarische Freiheit, solange der Mensch und seine Entscheidungen Teil der natürlichen Welt sind? Genügt es zur Widerlegung des So-oder-Anderskönnens nicht, dass das Gehirn Regeln folgt, die wir nicht oder nur unvollkommen kennen und die wir nicht beeinflussen können?33 Ich biete folgende Gegenrechnung an: Das praktische Überlegen folgt logischen Regeln und Rationalitätsstandards, die wir sehr gut kennen. Wir besitzen die Fähigkeit, diesen Standards in unserem Überlegen innerhalb gewisser Grenzen zu genügen. Wie unsere Überlegungstätigkeit genau neuronal realisiert ist, kann uns dabei gleichgültig sein. Wer der Auffassung ist, dass die Arbeitsweise des Gehirns unsere Fähigkeit des ergebnisoffenen Überlegens und das So-oder-Anderskönnen ausschließt, der möge hervortreten. Wolf Singer und Gerhard Roth scheinen der Auffassung zu sein, dass Libertarier schon leugnen, dass Akteure und ihre Handlungen Teile der einen, natürlichen Welt sind. Roth referiert die libertarische Freiheitsauffassung wie folgt: Der »freie Akt darf natürlich selbst nicht wieder zerebral bedingt sein, sondern muss völlig immateriell, d. h. ohne jede Hirnaktivität vor sich gehen«.34 Wenn der Libertarier behaupte, dass die freie Wahl einer Person nicht durch Vorgänge in ihrem Gehirn »bedingt« sei, dann hänge er offenbar dem cartesischen Dualismus an. Was ist hier schiefgelaufen? Es wurde der synchrone Sinn von »bedingen« mit dem diachronen Sinn dieses Ausdrucks verwechselt. Dasjenige Festlegen, von dem der Determinismus spricht, ist ein Vorgang in der Zeit. Dasjenige Bedingen oder Festlegen, von dem Roth spricht, ist hingegen eine Beziehung zwischen einer Hirnaktivität und ihrer zeitgleichen mentalen Entsprechung. Die Verwechslung der beiden Arten von »Determination« führt zur Identifikation des neuronalen Substrats oder Korrelats eines mentalen Ereignisses mit dessen Ursache. Zwischen einem mentalen Ereignis und seinem zeitgleichen physischen Substrat kann es aber keine Kausalbeziehungen geben, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Wenn man hier überhaupt von »determinieren« sprechen möchte, ist das ein anderer Sinn als der für den Determinismus einschlägige. Mentale Ereignisse sind nach allem, was wir wissen, physisch realisiert, aber diese Realisierungsbeziehung hat mit dem Determinismus nichts zu tun und ist als solche auch nicht freiheitsgefährdend. Tatsächlich ist das Anderskönnen des Libertariers kein Anderskönnen gegenüber einem aktuellen physiologischen Geschehen, das wäre ja absurd, sondern es ist ein Anderskönnen bei gegebener Vorgeschichte. Niemand kann die Gegenwart anders sein lassen, als sie nun ein-

33 34

So hat mir der Strafrechtler Reinhard Merkel entgegengehalten (mündlich). Roth (2001), 436.

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mal ist, aber ein Handelnder kann die Welt von einem gegebenen Punkt an auf verschiedene Weisen weiterverlaufen lassen.35 Aus diesem Grunde ist allgemein die Erforschung neuronaler Korrelate des Mentalen für das Freiheitsproblem irrelevant – solange keine deterministische Zusatzprämisse ins Spiel kommt. Warum sollte der Umstand, dass mentale Prozesse physisch realisiert sind, dass also in meinem Gehirn etwas vorgeht, während ich etwas denke oder will, meine Freiheit gefährden? Wer hier einen Widerspruch sieht, der gründet seine Freiheit tatsächlich auf den Dualismus. Solche Philosophen gibt es natürlich, aber wir sollten dabei bleiben, sie Leib/ Seele-Dualisten zu nennen. Libertarier müssen diese Auffassung nicht vertreten. Deshalb habe ich die Determinismusfrage so hoch gehängt: weil die Naturzugehörigkeit des Menschen als solche noch kein Freiheitshindernis ist. Auch die naturwissenschaftliche Erforschbarkeit der biologischen Grundlagen menschlicher Fähigkeiten gefährdet die libertarische Freiheit nicht. Das zentrale Freiheitsmerkmal der libertarischen Auffassung ist das So-oder-Anderskönnen unter gegebenen Bedingungen. Diese Fähigkeit würde durch den Determinismus als illusionär erwiesen. Dass aber Libertarier cartesische Dualisten sein müssen oder, schlimmer noch, Wissenschaftsfeinde, das sind Unterstellungen von interessierter Seite, von denen man sich nicht verwirren lassen darf. Wolf Singer ist mit dem libertarischen Anderskönnen besonders schnell fertig: Es sei eine »triviale Erkenntnis«, dass »eine Person tat, was sie tat, weil sie im fraglichen Augenblick nicht anders konnte – denn sonst hätte sie anders gehandelt«.36 Diese Behauptung ist kühn. Daraus, wie eine Person tatsächlich gehandelt hat, kann man nach Singer schließen, dass sie nicht anders handeln konnte. Sie konnte also immer nur das tun, was sie tatsächlich getan hat, und dieser Zusammenhang zwischen Möglichem und Wirklichem sei sogar »trivial«. So verwenden wir das Wort »können« aber nicht. Singer fällt mit seiner Behauptung noch hinter Moores konditionale Analyse des Könnens zurück, die sich immerhin noch bemüht, den gewöhnlichen Sinn des Ausdrucks »können« zu bewahren. Um einen Lapsus handelt es sich wohlgemerkt nicht.37 Noch einmal: Woraus schließt Singer, dass die Person nicht anders handeln konnte? 35

Genaugenommen nehme ich hier nicht mehr in Anspruch als die Unbeeinflussbarkeit der Vergangenheit, denn bei zeitlich hochaufgelöster Betrachtung zerfällt ja jede vermeintlich gegenwärtige Zeitspanne in vergangene und zukünftige Teile. Die Behauptung lautet also, dass niemand denjenigen Teil der »Gegenwart«, der schon vergangen ist, anders sein lassen kann, als er war. 36 Singer (2004), 64. 37 Ein pädophiler Triebtäter, so Singer, hat »Unordnung im Hirn«, »Fehlschaltungen«, und wir wüssten doch, dass er nicht anders konnte, denn sonst hätte er sich ja anders verhalten (so auf einer Podiumsdiskussion in Marburg im September 2006).

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Dem Wortlaut nach allein daraus, dass sie es nicht tat, aber das wäre abenteuerlich. Vielleicht schließt er es aus der Tatsache, dass sie es nicht tat, plus der Zusatzannahme des Determinismus? Das wäre nachvollziehbar, aber dann sollte er es sagen, und die Behauptung wäre alles andere als »trivial«. Die Philosophie muss den deutschen Hirnforschern gleichwohl dankbar sein, dass sie dem Thema Willensfreiheit wieder öffentliche Aufmerksamkeit verschafft haben. Die Philosophen allein hätten dies nicht zuwege gebracht. Der Preis dafür war allerdings hoch. In den vergangenen Jahren wurde an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit eine Freiheitsdebatte geführt, in der der Respekt vor den philosophischen Schwierigkeiten des Themas fast vollständig verlorengegangen ist. Viele Wortführer dieser Debatte haben sich nicht genügend mit den begrifflichen und theoretischen Komplikationen des Freiheitsproblems beschäftigt und unterschätzen die Schwierigkeiten deshalb. Die suggestive Frage »Freiheit oder Wissenschaft?«38 zeigt diese Unterschätzung an. Suggeriert wird, dass eine Richtungsentscheidung zugunsten eines wissenschaftlichen Weltbildes das Freiheitsproblem vorentscheide. Ein minimaler Naturalismus, demzufolge alles in der Welt mit rechten Dingen zugeht, keine Naturgesetze verletzt werden können und keine Eingriffe immaterieller Seelensubstanzen in die Körperwelt möglich sind, müsste doch genügen, um den Belehrbaren unter den Philosophen die libertarische Freiheit auszureden. Dieser minimale Naturalismus genügt aber nicht. In einer Wissenschaftskultur ist er Geschäftsgrundlage auch der Philosophie des Geistes, aber die Probleme fangen erst jenseits dieses Bekenntnisses zur Wissenschaft an. Das Problem der Willensfreiheit ist wie das Geist/Körper-Problem vielschichtig und tückisch. Denkfehler, Verwechslungen, Kurzschlüsse und Kategorienfehler lauern an jeder Ecke. Ist man dem einen Fallstrick entgangen, droht der nächste, und allen zugleich zu entgehen erfordert enorme Umsicht. Kurz: Das Freiheitsproblem ist ein typisches philosophisches Problem. Philosophen sind mit der Kritik von Fehlschlüssen und Begriffsverwirrungen schnell bei der Hand. Kognitions- und Neurowissenschaftler ärgern sich häufig darüber, weil sie den Eindruck haben, ihnen würden Anfängerfehler, philosophisches Analphabetentum oder gar mangelnde intellektuelle Fähigkeiten vorgeworfen. Nichts könnte falscher sein. Philosophische Probleme bestehen aus Fallstricken, und es bedarf keiner besonderen Torheit, einem davon zum Opfer zu fallen, wohl aber außerordentlicher Umsicht, alle gleichzeitig zu vermeiden. Wittgenstein verwendete für den Fallencharakter philosophischer Probleme die Metapher des Fliegenglases: Es ist leicht, hineinzukommen, aber fast unmöglich, ohne Hilfe wieder hinauszufinden. Dieses Problem besteht für Philosophen wie für Nichtphilosophen. Man muss kein schlechter 38

Prinz (1996).

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Wissenschaftler und kein schlechter Philosoph sein, um gelegentlich im Fliegenglas zu landen. Die Entrüstung renommierter Wissenschaftler angesichts des Vorwurfs, allein aufgrund mangelnden Nachdenkens in die Irre gegangen zu sein, verrät eine bedenkliche Geringschätzung des Nachdenkens. Es ist eine Daueraufgabe für die Philosophie, in der räsonierenden Öffentlichkeit den nötigen Respekt vor der Schwierigkeit philosophischer Probleme anzumahnen. Die trügerische Einfachheit philosophischer Fragen wie »Ist der menschliche Wille frei?« macht diese Aufgabe nicht leichter. Dass die Schwierigkeit philosophischer Probleme leicht unterschätzt wird, stelle ich ohne jede Häme fest. Auch viele Philosophen glauben in ihrem Leben einmal oder mehrmals, das Freiheitsproblem endgültig gelöst zu haben. Vor dieser Hybris schützt am besten fortgesetzte Lektüre. Man verlangt von den Philosophen heute zu Recht, dass sie den neurowissenschaftlichen Forschungsstand zur Kenntnis nehmen. Die Wissenschaft weiß heute viel mehr über den Aufbau und die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns als Aristoteles oder Descartes (und weniger als künftige Forschergenerationen). Aber dieses Wissen macht die in zweieinhalb Jahrtausenden abendländischer Philosophie erarbeiteten Argumente zum Freiheitsproblem nicht gegenstandslos. Und auch die jüngere philosophische Forschung hat einige herausragende Freiheitsbücher hervorgebracht, beispielsweise das von Robert Kane. Diese Bücher kann jedermann lesen, und wer etwas Weiterführendes zum Freiheitsproblem beitragen möchte, ist gut beraten, den philosophischen Forschungs- und Diskussionsstand zur Kenntnis zu nehmen. Roth behauptet verschnupft, einige Philosophen sprächen »Denk- und Sprachverbote« aus und seien der Meinung, »Hirnforscher dürften sich grundsätzlich nicht zu Problemen der Willensfreiheit äußern«.39 Äußern dürfen sie sich sehr wohl, nur müssen sie sich gefallen lassen, dass ihre Einlassungen am erreichten Diskussionsstand gemessen werden. Aus welcher Fakultät jemand stammt, der die Debatte bereichert, spielt dann keine Rolle.

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Naturgesetze, Handlungsvermögen und Anderskönnen

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Geert Keil

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Mathias Gutmann

Transformationen des Humanen: Beiträge zur Analyse der Rede von der Natur des Menschen

Wenn von der Natur des Menschen die Rede ist, so liegt eine lebenswissenschaftliche Deutung zumindest nahe. Dieser Lesart folgend, wäre Natur etwa im Sinne der ersten Natur dasjenige, was vom Menschen nicht gemacht, ihn als Lebewesen charakterisiert. Das »von Natur aus mitgebrachte« wäre jedem Exemplar der Art Homo sapiens eigen, unterschiede ihn zugleich von anderen Vertretern der Gattung sowie – in abnehmender Spezifität – von anderen Lebewesen. Das Verhältnis zur zweiten Natur kann entsprechend als Abfolge verstanden werden; die erste ginge danach der zweiten zeitlich, erklärend oder beschreibend voraus (zur weiteren Ausführung s. Gutmann 2004). Alternativ wäre der Ausdruck »Natur« hingegen im Lichte der semantischen Verschiebungen, die der Begriff insbesondere im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die zunehmend selbstverständlicher werdende naturwissenschaftliche Fassung desselben erfuhr, primär auf z. B. lebenswissenschaftliche Gattungsbestimmungen zu beziehen. Gehen wir nun von dieser Deutung aus, so wäre die Transformation des Naturbegriffes zugleich als eine Transformation dessen aufzufassen, was unter dem Ausdruck »Mensch« selber (und sei es eben nur hinsichtlich von dessen Gattungseigenschaften) zu verstehen sei; exemplarisch lässt sich dies am Übergang von »Naturgeschichtsschreibung« zur Evolutionstheorie explizieren (s. Gutmann in print). Bei der Entwicklung der Rede von der Natur des Menschen soll nun weder eine einfache Marginalisierung der Biologie stattfinden; eine Versuchung, der von philosophischer Seite umso leichter erliegen mag, wer die integrativen Ansprüche dieser Naturwissenschaft unterschätzt. Noch aber darf eine einfache Anähnelung der Philosophie an die Naturwissenschaft das Argumentationsziel sein – hier mag das Scheitern der »empirischen Philosophie« eine Warnung sein (Gutmann & Weingarten 2005).

1) Eine kurze Typik des Natürlichen Wir können – für die Zwecke unserer Untersuchung – zwei grundsätzliche Herangehensweisen für die Beantwortung der gestellten Frage unterscheiden, worin genau »die« Natur »des« Menschen besteht. Zum einen lässt sich »inhaltlich« reagieren, indem wir verschiedene Sorten der Verwendung des Ausdruckes

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»Natur« und »natürlich« analysieren. Neben der unbestreitbaren Polysemie der Ausdrücke erbrächte dies möglicherweise auch relevante begriffsgeschichtliche Einsichten. »Natur« wäre danach eine Art Titelwort, dessen grammatische Einheit eine gegenständliche vortäuschte. 1. Natur kann für das »Wesen« einer Sache stehen. Diese Bestimmung von Natur kann erkenntnistheoretisch sowohl methodologisch als Angabe jener Kriterien verstanden werden, die die Zuweisung eines Gegenstandes zu einem wissenschaftlichen Gegenstandsbereich gestatten, oder ontologisch, wobei in der Regel »essentielle« von »akzidentiellen« Eigenschaften zu unterscheiden wären (dazu Rombach 1981). 2. Unter ethischem Gesichtpunkt kann die Rede von Naturrecht als Abgrenzung zum positiven Recht verstanden werden. Die Geschichte der obligatio als Hintergrund der Rede von der menschlichen Natur (verstanden als Gattungseigenschaft) mag hier ein Hinweis sein (dazu Hartung 1998). 3. Ferner lässt sich die Rede von Natur auf jene Gegenstände beschränken, die als Gegenstände bestimmter Wissenschaften auftreten, wie etwa der Physik, Chemie oder Biologie. In dieser Verwendung bekommt das Wort »natürlich« eine jeweils auf explizite Konstitutions- und Theoriekontexte bezogene Bedeutung. Entsprechend lässt sich hier eine reduktive von einer »holistischen« Verwendung unterscheiden, je nachdem ob im Kanon der so bereitgestellten Bestandteile von Natur eine Beschreibungsebene herausgehoben wird (wie etwa die quantenmechanische, s. Weizsäcker 2002) oder ob auf den Aspekt der »Vernetzung« der Gegenstände mehrerer Ebenen abgehoben wird. Ein Beispiel für die letztgenannte Verwendung mag das Gaia-Konzept Lovelocks (1995) bieten. 4. Schließlich kann auch innerhalb dieses Bereiches noch einmal eine Beschränkung auf bestimmte Gegenstände dergestalt stattfinden, dass »natürlich« ein Synonym zu »biologisch« wird, wie etwa im Falle der »naturbelassenen« Lebensmittel. 5. Versteht man den Menschen als Naturobjekt im Sinne der biologischen Beschreibung, kann ferner deren »Natur« direkt mit der biologischen Beschreibung der Relation von Mensch und Umgebung gleichgesetzt werden. 6. Als Gegenkonzept hierzu wären die »gesellschaftlichen Naturverhältnisse« anzusehen, die auf die Produktion von Natur-Kultur-Unterschieden innerhalb der Kultur verweisen (dazu Gutmann & Weingarten 2004). In diesem Fall bezeichnete »Natur« einen bestimmten Aspekt menschlicher Praxis, hätte also gerade mit der Rede vom durch den Menschen »Unberührten« nichts zu tun. 7. Versteht man »den Menschen« – inklusive des erkennenden Subjektes – selber als »Naturwesen«, d. h. als in die Natur eingebundenes Wesen, so kann das Wort »Natur« den Zusammenhang zwischen diesem Wesen und sei-

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ner Umgebung beschreiben. In emphatischer Betonung der zugrundeliegenden Ganzheitsvermutung spricht Goethe gleich mehrere Bedeutungen des Wortes an: »Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entschlafen. Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder – alles ist neu, und doch immer das Alte. Wir leben mitten in ihr, und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit uns, und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie, und haben doch keine Gewalt über sie.« (Goethe 1988, 45)

Die Verschiedenartigkeit der Verwendung lässt auf den ersten Blick kaum an eine andere Form der Einheit denken als an eine rein historische – die sich ihrerseits systematisch an Diskursformationen ausrichten mag. Doch ist mit dieser Herangehensweise nur die oben als »inhaltlich« angesprochene dargestellt. Eine systematische Alternative bestünde darin, die Art und Weise zu unterscheiden, in der »Natur« auf etwas (u. a. auch den Menschen) in der Rede bezogen wird. Dieser Fassung unserer Ausgangsfrage entsprechend wären etwa die folgenden drei Antworten möglich, deren jeder mehrere der oben gegebenen »inhaltlichen« Beschreibungen zugeordnet werden können.1 1. Der Mensch wird als von Natur aus Vernunft- oder Kulturwesen bestimmt: Diesen – kriteriologischen – Weg beschreitet exemplarisch Kant (1977) mit der (nicht adressierten) Feststellung, »die Natur habe gewollt«. Aus der Semantik des Vernunftbegriffes wird dann die (mögliche wie wohl nur deontisch notwendige) Teleologie der Freiheitsentfaltung gewonnen. Die argumentativen Kosten dieser Transformationsüberlegung sind allerdings hoch: a) die doppelsinnige Verwendung des Ausdruckes »Natur« – einmal als Gattungseigenschaft innerhalb des Naturalen, einmal als Bedingung der Möglichkeit, dieses Naturale selber zu bestimmen. Dies führt zu einer weiteren Verdoppelung, da einmal Freiheit und einmal Natur als übergreifendes Allgemeines des Gegensatzes von Natur und Freiheit fungiert, ohne dass die zugrundeliegenden begrifflichen Verhältnisse geklärt wären. b) der Verlust der Herkunftsbestimmung der Vernunft, wobei der Übergang zur Ursprungserzählung – wenn auch in säkularisierter Form – nahe liegt.

1

Es gibt also keine notwendige Entsprechung der beiden Listen.

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2. Der Mensch wird nach Maßgabe einer Aspektenontologie verstanden, die ihn mit Ansichten ausstattet. Eine nahe verwandte Möglichkeit der Ausdeutung des Natur-Kultur-Verhältnisses im Rahmen der Transformationserklärung »zum Menschen hin« besteht in der Rede von natürlichen und kultürlichen Aspekten. Deutet man diese Rede nicht realistisch, sondern in Abhängigkeit von den jeweils anzufertigenden Beschreibungen, geht die Aspektenunterscheidung über in die Frage nach dem Referenten der Beschreibung des Menschen als Natur- bzw. als Kulturwesen und deren systematischem Zusammenhang. Wiederum sichert die Natürlichkeit bestimmter Befähigungen die Allgemeinheit der Disposition (etwa die gegenseitige Rollenübernahme oder die Erwartungserwartung im Wechsel von 1. zur 3. Personperspektive). Dies führt letztlich immer nur zum Menschen als Gattungswesen. Möglicherweise ist die nicht-naturalisierte Variante nur durch eine nicht weiter aufgelöste Metaphorik (etwa der des scorekeeping/der doppelten Buchführung) oder einer Erziehungsgeschichte zu erhalten (etwa Davidson 1989, Brandom 1994).

3. Schließlich lässt sich die Rede von Aspekten in die von Perspektiven überführen. Ganz auf die Seite der Beschreibung rückt – zumindest auf den ersten Blick – die Metapher der Perspektive in der, durch die oder von der her der Mensch als Natur- oder Kulturwesen erscheint. Deutet man hier ontologisch, so wäre etwa Cassirers Einführung des Menschen im Rahmen des Uexküllschen Umweltkonzeptes als jenes Wesen bestimmt, das durch das Einschalten des Funktionskreises des Zeichens eine entsprechende Perspektive habe. Deutet man methodologisch, wird der Mensch in der Perspektive als Naturwesen beschrieben, die sich von anderen Naturwesen durch jenen Funktionskreis unterscheiden. Die Auflösung der Metapher führt dann entweder zur Metabasis-Konzeption zwischen natürlichem Weismannismus und kulturellem Lamarkismus oder zur Naturalisierung der Zeichenrelation durch wörtliche Interpretation der Funktionskreise (Cassirer 1972). Unabhängig von den spezifischen Auflösungen der jeweiligen Metaphern (denn dies ist die nichtadressierte Determination der Aspekt ebenso wie die Perspektive), muss in allen angeführten Fällen das begriffliche Problem der Transformation gelöst werden. Es erfolgt dann der Übergang etwa von der Natur zur Nicht- oder Nicht-mehr-Natur oder über Noch-nicht-Kultur schließlich zur Kultur. Sollen die Übergänge unter Nutzung explizit biologischen Wissens beschrieben werden, ergibt sich ein systematisches Auswahlproblem, wenn nach der Begründung der Adäquatheit gerade jener lebenswissenschaftlichen Sprachstücke gefragt wird, die tatsächlich Verwendung finden.

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Schließlich lässt sich – als dritte Option neben den beiden oben entwickelten – auf die Unterscheidung des Ausdruckes »Natur« durch die Doppelung von innerer und äußerer Natur verweisen. Grammatisch lässt sich dies zurückbeziehen auf die Rede von »der Natur des Menschen« – also der Verknüpfung zweier generischer Singulare in einer genitivischen Konstruktion. Diese spielt mit der Doppeldeutigkeit des Ausdruckes Mensch – einmal als Exemplar von Homo sapiens, einmal als besonderes Allgemeines im Rahmen eines Anerkennungsschemas. Übersieht man diesen Zusammenhang, dann liegt es wiederum nahe, den Ausdruck Natur mit Bezug auf den Menschen in Gegensatzpaaren zu deuten. Natur ist immer das, wovon her etwas über den Menschen als Produkt eines Transformationsprozesses gesagt wird. Diese Wovon-her erscheint regelmäßig als »außen«, von dem sich das Innen des Menschen bestimmt. Um hier einen Anfang der Klärung zu gewinnen, ist es hilfreich, die Auflösung des possessiven Ausdruckes in doppelter Form vorzunehmen. Denn zum einen ist damit objektiv die Inbesitznahme von etwas gemeint, welches als Natur dem Menschen im Vollzuge oder nach dem Abschluss derselben im besten Sinne »gegenübersteht«. Zum anderen ist es aber gerade »der Mensch« selber, der sich als Natur er- oder begreift.

2) Der Mensch als sich entwickelndes Wesen Wenn Natur nicht als Anzeige eines festen Bestandes, einer vorgegebenen Ausstattung »des« Menschen verstanden werden soll, dann muss dies auch die Bestimmung des Menschen als sich entwickelndes Wesen umfassen. Entwicklung kann in mehreren Bedeutungen verstanden werden (s. Gutmann 2003); systematisch lassen sich die »Entwicklung zum Menschen« und die »Entwicklung des Menschen« unterscheiden. Zumindest von der ersteren ist in einem eigentümlich individualisierten Sinne bei Kafka die Rede: »Ich rechnete nicht, wohl aber beobachtete ich in aller Ruhe. Ich sah diese Menschen auf und ab gehen, immer die gleichen Gesichter, die gleichen Bewegungen, oft schien es mir, als wäre es nur einer. Dieser Mensch oder diese Menschen gingen also unbehelligt. Ein hohes Ziel dämmerte mir auf. Niemand versprach mir, dass, wenn ich so wie sie werden würde, das Gitter aufgezogen werde. Solche Versprechungen für scheinbar unmögliche Erfüllungen werden nicht gegeben. Löst man aber die Erfüllungen ein, erscheinen nachträglich auch die Versprechungen genau dort, wo man sie früher vergeblich gesucht hat.« (Kafka 1983)

Eigentümlich ist diese Darstellung vor allem deshalb, weil die Entwicklung zum Menschen schon unter Kenntnis des Menschlichen stattfindet, die eigentlich erst mit ihrem Abschluss möglich ist. Der Abschluss der Sentenz unterstützt

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dies Enigmatische noch, indem er mit einer entsprechend paradoxalen Vorhernachher-Struktur arbeitet. Um die Deutungsmöglichkeiten der Rede vom Menschen als »sich entwickelndes Wesen« bestimmen zu können, soll zunächst wieder eine grammatische Vorüberlegung zur Verwendung vor allem des verbalen Ausdruckes vollzogen werden.

2.1 Zur Logik des Entwickelns Bemerkenswert ist der Ausdruck »entwickeln«, weil es sich um eine – heute in ihren zuzeiten äußerst umstrittenen biotheoretischen Implikationen kaum noch gewusste – Metapher handelt.2 Dies gilt in mehrerlei Hinsicht, da zunächst das Auswickeln des zuvorigen Einwickelns von etwas bedarf (welches ein durchaus anderes sein kann) und mithin der Ausdruck präformistische Präferenzen nahelegt. Eine andere – über die positiv-wissenschaftliche Mehrdeutigkeit hinausreichende – Polysemie liegt in seiner auf den ersten Blick ungeregelt erscheinenden Verwendung in so unterschiedlichen Kontexten wie dem Maschinenbau, der Ökonomie, der Embryologie, der Evolutionsbiologie oder der musikalischen Stillehre. Denn mit gleichem Wort ist von der »Entwicklung« der modernen Oper, des tetrapoden Landganges, besserer Motoren, der Volkswirtschaft, eines Filmes, eines Huhnes aus dem Ei oder eines Gedankens die Rede. Diese Mannigfaltigkeit der Verwendungsweisen lässt die Behauptung einer derselben als »unmittelbar lebenswissenschaftlich fundiert« im Sinne einer methodischen Ordnung kaum statthaft erscheinen – zumal lebenswissenschaftliche Theorien in einem auch nur annähernd modernen Sinne ohnehin erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts vorliegen. Dennoch führt uns die – eine bloße Familienähnlichkeit als kaum befriedigend bestimmende – Reflexion auf eine weitere und für unsere Untersuchung der Rede vom Menschen als »sich entwickelndes Wesen« relevante Besonderheit. Im Felde der Wortverwendungen von »Entwicklung« oder »entwickeln« lässt sich nämlich tentativ eine grundlegende Gemeinsamkeit auszeichnen, da es sich regelmäßig um Vorgänge der Veränderung, z. B. des Hervorbringens oder Produzierens, handelt, was sich exemplarisch an der Rede vom »Entwicklungsmotiv«, dem »Entwicklungsgegenstand« (Werkstück) oder dem »Entwicklungsgesetz« zeigt. Es erscheint legitim, zunächst zwei grundsätzliche Verwendungsweisen des Verbs »entwickeln« in den Blick zu nehmen, nämlich die »reflexive« im Sinne von »etwas entwickelt sich« und die »irreflexive« im Sinne von »etwas wird 2

Die folgenden Ausarbeitungen basieren auf Gutmann & Weingarten (2001).

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entwickelt«. Als Beispiele mögen hier gelten »das Huhn«, »die Tetrapoden« für den ersten, »technische Artefakte«, »der Motor« für den zweiten Fall. Unabhängig von der Antwort auf die Frage, welche der beiden Verwendungsweisen systematisch ursprünglich ist, müssen aber in beiden Fällen mindestens folgende Elemente der Rede bestimmt werden: nämlich der Gegenstand der Entwicklung, der Modus, der Anfangs- oder Ausgangszustand und das »Ziel«, der Endzustand. Dies sei für beide Fälle getrennt behandelt, mit dem irreflexiven beginnend.

2.2 Irreflexive Verwendung Die irreflexive Verwendung des Verbs »entwickeln« legt eine vollständige Explikation leicht nahe. Geht man von dem Beispiel eines Motors aus, liegt der Gegenstand als Produkt vorhergehender Herstellung schon vor. Der Modus der Entwicklung kann z. B. die »Leistungssteigerung« in Hinsicht je expliziter Kriterien sein, wie der Kolbenhub, die Einspritzung, der Ventillauf etc. Der Ausgangszustand wird durch eine spezifische Beschreibung des jeweiligen Motors angegeben. Dies kann im einfachsten Fall das jeweils zuletzt veränderte Modell sein, wobei die Angabe des Gegenstandes mit einer Beschreibung des Ausgangszustandes zusammenfiele. Systematisch entscheidend an diesem trivialen Beispiel ist die Tatsache, dass das Verb »entwickeln«, mithin auch die Rede von der Entwicklung eines Werkstückes (gleich welcher Art), eine »bloße« Metapher ist dergestalt, dass die Ersetzung nicht nur verlustfrei möglich, sondern nachgerade notwendig ist, um ihre Bedeutung hier überhaupt verstehen zu können. Diese Rede von »entwickeln« ist ferner ein gutes Beispiel für eine Rede in »progressiver« Absicht, da der »Endzustand« das Handlungsziel angibt. Selbstverständlich ist schon im Falle der irreflexiven Verwendung von »entwickeln« auch eine »regressive« Redeform denkbar, die den gegebenen Zustand der jeweiligen Gegenstände als »Endzustand« angibt und nach deren (möglichen) Vorläufern fragt, im gegebenen Beispiel also nach den Vorläufermodellen eines bestimmten Motors. Ganz dem ersten Fall entsprechend wird auch hier der Anfang der Betrachtung bei der Beschreibung eines gegenwärtigen Gegenstandes genommen. Jedoch unterscheidet er sich signifikant im Modus wie in der Angabe des »Endzustandes«. Der Modus soll hier im Vorgriff auf die zu leistende Einführung als »indirekter« bezeichnet werden, der im weiteren vor allem im Sinne einer »Rekonstruktion« gebraucht wird. Unter Rekonstruktion soll dabei die Angabe von Veränderungsschritten verstanden werden, als deren Produkt der als Anfang beschriebene Gegenstand gilt. Systematisch entscheidend ist hier die Differenz zwischen der Rekonstruktions- und der Berichtsreihenfolge. Zwar wird

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die Beantwortung der Frage, welche Vorläufer zu einem bestimmten Gegenstand führten, in der Regel als Ursprungserzählung berichtet, d. h. von einem zeitlichen Früher zu einem zeitlichen Später. Die hier als »Anfangszustand« gesetzte Beschreibung ist also in der methodischen Reihe der Abfolge der »Endzustand« et vice versa. Die sich ergebende Reihenfolge ist somit keine zeitliche, sondern zunächst eine methodische, die dann in der Berichtsperspektive in eine zeitliche umgedeutet wird. Selbstverständlich gibt es gerade technikhistorisch lückenlose Dokumentationen solcher Entwicklungsreihen, die den gezeigten Weg als umständlich erweisen mögen. Die vorgeschlagene Methode der »Re-Konstruktion« ermöglicht es aber, Selbstmissverständnisse zu identifizieren und mögliche von unmöglichen, behauptete von aufgezeigten Verläufen zu unterscheiden. Unabhängig also von als sicher geltenden »Entwicklungsgeschichten« kann auf diese Weise ein Bewertungsstandard bereitgestellt werden; dies ist vor allem – aber nicht nur – im kultur- und kunstgeschichtlichen Zusammenhang sowie bei der Behandlung evolutiver Fragestellungen (im engeren Sinne) von Bedeutung. Für die beiden hier aufgeführten Modi der irreflexiven Verwendung des Wortes »entwickeln« blieb aber in der Analyse ein Feld ausgespart, das sich dem Schema zu widersetzen scheint. Die bisherigen Beispiele waren nämlich – mit Absicht – technische. Anders scheint dies mit solchen Wendungen wie der Rede darüber zu sein, dass »eine Pflanze mit hohem Resistenzgrad entwickelt wurde« oder dass »im Wirbeltierstamm ein Herz mit vier Kammern und getrenntem Lungenkreislauf entwickelt wurde«. Diese Verwendungsweise von »entwickeln« in Bezug auf Lebewesen – hier im Sinne von »nicht durch Menschenhand hervorgebracht«3 – kann erst erfolgreich bestimmt werden, nachdem der zweite prinzipielle Fall, jener der reflexiven Verwendung von »entwickeln«, untersucht wurde.

2.3 Reflexive Verwendung Die reflexive Verwendung des Verbs »entwickeln« lässt sich wieder sehr gut an Beispielen wie »Das Huhn entwickelt sich aus einem Ei« aufzeigen. Wird die Explikation dem oben angewandten Schema entsprechend durchgeführt, so ist schon bei der Gegenstandsbestimmung ein grundsätzlicher Unterschied festzustellen. Während nämlich dort die Beschreibung eines Artefaktes oder Werkstückes den Anfang abgab, liegt hier der Bezug auf einen »Verlauf« zugrun3

Dass auch diese nur in einem ersten Schritt als Redeweise zulässig ist, ergibt sich aus den Problemen mit der exemplarischen Bestimmung solcher Gegenstände. In gewisser Weise sind nämlich Lebewesen nur »auf eine andere Weise erzeugt« als »Artefakte«.

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de, der eine Veränderung beschreibt; im gegebenen Beispiel eine sinnfällige, was sich in der Verwendung solcher Ausdrücke wie »eierlegen«, »ausbrüten«, »schlüpfen« dokumentiert. Dieser Verlauf kann allerdings lebensweltlich (d. h. hier zunächst einfach ohne Nutzung einer im engeren Sinne normierten biologischen Beschreibungssprache, wie dies bei der Rede von der »Ontogenese« der Fall wäre) unverfänglich beschrieben werden, indem auf Haltungs- oder Züchtungswissen zurückgegriffen wird. Ohne zu sehr zu verkünsteln, ist jedenfalls anzugeben, dass dann, wenn ein Huhn mit bestimmten Eigenschaften verfügbar sein soll, bestimmte Handlungen vorzunehmen und Resultate von Verläufen abzuwarten sind, an welchen wiederum Handlungen vorzunehmen wären. Die Rede über das dabei investierte Verlaufswissen kann dann als Referent für die Analyse im obigen Sinne verwendet werden. Mithin ist hier das »Ei« der Ausgangspunkt, das Huhn der Endzustand. Die Entwicklung bezeichnet den Verlauf von der Veränderung des Eis in ein Huhn, die reflexive Wendung den Unterschied im Produktionsvorgang selber, insofern dieser auch ohne weiteres Zutun des Menschen verläuft.4 Der entscheidende Unterschied zum irreflexiven Fall besteht darin, dass kein direkter Modus formulierbar ist, d. h. dass die Rede über »entwickeln« im paradigmatischen Fall schon nur in der Verwendung von Sprachstücken gelingt, die menschlicher Praxis (etwa der Herstellung, Manipulation etc.) entnommen sind. Wird nun im Sinne der obigen Unterscheidung »progressiv« über Entwicklung im genannten Beispiel gesprochen, so gibt die Beschreibung des Huhnes das Herstellungsziel an. Im Falle des reflexiven indirekten Modus bezeichnet die »progressive« Rede über Veränderung also die Herstellung von Lebewesen mit bestimmten Eigenschaften als Handlungsziel, welches dann unter Verwendung einschlägiger Verfahren5 zu realisieren ist. Auch die »regressive« Rede ist ganz analog zum Herstellungsverfahren belegt und gibt Auskunft über den bisherigen Verfahrensgang (im Beispiel also die Züchtungslinie). Formal entspricht dies aber dem irreflexiven direkten Modus mit dem Unterschied, dass das Produktionsverfahren gegenüber den oben einschlägigen gewisse Eigentümlichkeiten aufweist. Im Übergang zur »wissenschaftlichen« Fragestellung, die hier eine entwicklungsbiologische ist, zeigt sich aber, dass tatsächlich auch die zunächst »direkt« klingende Rede ihre Bedeutung nur unter Einsatz anderer Sprachmittel erhält. Nimmt man nämlich das Verb »entwickeln« als Aktivum und schreibt dieses als Handlung dem Huhn zu, welches aus dem Ei entstehe, dann ist der Verweis auf Handlungen

4

Dies schließt nicht aus, dass der als Beispiel angeführte Verlauf in immer stärkeren Maße der Handlungsverfügung unterworfen wird. 5 Diese Verfahren sind ursprünglich lebensweltlichen Praxen entnommen und ihrerseits schon Gegenstand der Veränderung gewesen (im Sinne der Veränderung der Produktionsmittel).

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der entscheidende explikative Hintergrund. Übersieht man nun die Tatsache, dass eben in dieser Ersetzung der Bezug auf menschliche Praxis verborgen ist, führt dies notwendig in die eingangs besprochene Teleologieproblematik. Zeigt schon die Analyse dieses Falles, dass in reflexiver Verwendung der Modus der Entwicklung metaphorisch zu bestimmen ist, also die einfache Ersetzung nicht gelingt, gilt dies selbstverständlich auch für den zweiten, oben als »indirekt« angegeben Modus. Als Beispiel diene hier die Aussage, dass »sich terrestrische aus marinen Vertebraten entwickelten«. Indirekt ist diese Rede nämlich in zweierlei Hinsicht. Zum einen handelt es sich um eine Rekonstruktionsaussage. Für diese gilt methodologisch das Gleiche wie bei der über Artefakte, mit der zusätzlichen Schwierigkeit, dass zunächst eine normierte Beschreibungssprache bereitgestellt werden muss. Die Bereitstellung solcher Beschreibungssprachelemente gelingt wieder nur unter Rückgriff auf menschliche Praxis. Zum Zweiten wird mit dem »sich« wieder der Verweis auf einen Verlauf getätigt. Dieser unterscheidet sich jedoch methodologisch grundsätzlich von dem zunächst behandelten »ontogenetischen« Fall, da es sich um eine stärkere empirische Behauptung über einen Verlauf handelt. Das investierte Wissen erlaubt uns zwar, Aussagen über mögliche Verläufe zu machen. Dies sind dann definitionsgemäß evolutive Verläufe. Die im Falle irreflexiver Rede aber leicht mögliche »progressive« Intention ist hier nicht einholbar, die Beschränkung auf die »regressive« Form mithin als Folge der getätigten methodischen Antizipationen notwendig. Die reflexive Verwendung des Wortes »entwickeln« ist aber keinesfalls beschränkt auf »biologische« Probleme (wie die hier gewählten Beispiele evtl. nahe legten). Dies zeigt sich an der Rede darüber, dass »sich der Säugling zum erwachsenen Menschen« oder die »abendländische Kultur sich als technische Zivilisation« entwickle. Beides sind reflexive Verwendungen von »entwickeln«, und beide zeigen wieder die Charakteristika des indirekten Modus. Während aber im ersten Fall sowohl progressive wie regressive Rede möglich ist, gilt dies im zweiten nicht. Die Kulturentwicklung ist also im oben explizierten Sinne als Rekonstruktion zu lesen. Für beide gemeinsam gilt – und dies markiert den zentralen methodologischen Unterschied zu den »biologischen« Beispielen – dass die sprachlichen Mittel zur Beschreibung der Verläufe nicht aus »biologischen« Theorien entnommen werden können. Hier deutet sich nun eine bemerkenswerte Asymmetrie an. Während nämlich zu Zwecken der Explikation der »biologischen« Entwicklungsmetaphern regelmäßig der Bezug auf menschliche Handlungen (des Veränderns, Produzierens etc.) als notwendig nachgewiesen werden kann, ist dies für den letzten Fall nicht unmittelbar einsichtig. Expliziert man »entwickeln« im Sinne des hier Dargestellten, so ist die Aussage, dass »eine Pflanze mit hohem Resistenzgrad entwickelt wurde«, schlicht eine metaphorische Wendung für die Herstellung einer Pflanze mit

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bestimmten Eigenschaften, also die Vertretung einer irreflexiven Verwendung im direkten Modus. Und dies ganz unabhängig davon, dass der Verlauf, auf den Bezug genommen wird, eine reflexive Verwendung im indirekten Modus nahe legt. Umgekehrt kann die Aussage, dass »im Wirbeltierstamm ein Herz mit vier Kammern und getrenntem Lungenkreislauf entwickelt wurde«, als eine metaphorische Wendung in der Berichtsperspektive gelesen werden. Hier geht es nämlich um eine reflexive Verwendung im indirekten rekonstruktiven Modus. Noch deutlicher wird die Metaphorik in solchen Wendungen wie die »klassische Symphonie hat sich unter Verwendung älterer Suitenelemente entwickelt«, da hier die reflexive Form eine Umschreibung der autorenbezogenen Feststellung der Konstruktion einer bestimmten musikalischen Form unter Nutzung älter Formen oder Formelemente ist.

3) Zwischenbetrachtung: die Entwicklung des Menschen als Anzeige einer Selbsthervorbringung Unsere bisherige Betrachtung bezog das Verb »entwickeln « zwar durchaus auf »den Menschen«. Dieser erschien – wenn denn überhaupt – in der Form eines Akteurs, wobei das Handeln als eine Fertigkeit gelten kann. Der Handelnde ist als solcher durch seinen Bezug auf anderes (etwa auf Gegenstände) ausgezeichnet, insofern er Mittel nutzt, um Zwecke zu realisieren. Gegenstände erscheinen als solche für den Handelnden nur in ihrer Gebrauchsform, d. h. es »gibt« für diesen »etwas« nur, insofern es »zu etwas ist«. In dieser Form hatten wir die Auflösung des Reflexivs in eine irreflexive Redeform vorgeführt, und insofern diese möglich war, galt der methodologische Primat der letzteren. Ganz anders aber stellt sich die Situation dar, wenn wir den Reflexiv auf den Handelnden als Handelnden beziehen. In diesem Fall sind nämlich der Akteur und der Bezuggegenstand grammatisch identisch. Das Besondere der grammatischen Situation besteht darin, dass wir nun solche Aussagen wie »Er hat sich zu einem guten Sänger entwickelt« als Anzeige einer Selbst-Hervorbringung aufzufassen haben. Die pragmatistische Betrachtung lässt sich nun erweitern, indem die andere Seite der Ding-Handelnder-Relation betrachtet wird. Die andere Seite dieser Relation besteht gerade in der Bildung des sich in Vereinzelung als zwecksetzendes und realisierendes verstehenden Ichs. Beziehen wir uns wieder auf ein Hervorbringen, das sich zunächst in der irreflexiven Form als ein Hervorbringen »von etwas« bezeichnen lässt, ist der Reflexiv eigentümlich vermittelt, weil auf die Hervorbringung von etwas bezogen. Mit Cassirer ergibt sich: Seine eigene Physis ergreift und begreift er nur im Reflex des von ihm Gewirkten – die Art der mittelbaren Werkzeuge, die er sich gebildet hat, erschließt ihm

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die Kenntnis der Gesetze, die den Aufbau seines Körpers und die physiologische Leistung seiner einzelnen Gliedmaßen beherrschen. Aber auch damit ist die eigentliche und tiefste Bedeutung der »Organ-Projektion« noch nicht erschöpft. Sie tritt vielmehr erst hervor, wenn man erwägt, dass auch hier dem fortschreitenden Wissen um die eigene leibliche Organisation ein geistiger Vorgang parallel geht; dass der Mensch vermittelst dieses Wissens erst zu sich selbst, zu seinem Selbstbewusstsein gelangt. Jedes neue Werkzeug, das der Mensch findet, bedeutet demgemäß einen neuen Schritt, nicht nur zur Formung der Außenwelt, sondern zur Formierung seines Selbstbewusstseins. (Cassirer 1987, 257 f)

Doch scheint gerade jene Selbstvergewisserung durch und in der Art des Tuns von einer der »objektiven« parallelen »subjektiven« Abstraktion bedroht. Denn in eben dem Maß, in dem die Gegenstände, die dem Verhältnis von Mensch und Werkzeug entspringen, sich entwickeln, scheint auch der Bezug auf sich selber durch sie hindurch immer vermittelter, immer »abstrakter« zu werden. Diese Abstraktion ist allerdings nur insofern als eine Entfernung vom verlassenen Zustand aufzufassen, als sie eben jenen Entwicklungsschritt zur (jeweils) neuen Herstellungsart bezeichnet. Es ergibt sich durch diese Veränderung eine weitere Relation, die jener von Natur(Kultur) zu Kultur(Natur)6 entspricht. Bezeichnet man den verlassenen Zustand der (im Rückbezug) Natur(Kultur) als den Bereich der Wirklichkeit (im Sinne des bisher Verwirklichten), so ist das Realisierte, die Kultur(Natur) als Möglichkeit anzusprechen. Diese Möglichkeit ist aber keine abstrakte, gleichsam bloße Möglichkeit sondern konkret, insofern sie die in der jeweiligen Wirklichkeit (also der Natur(Kultur) als Ausgangspunkt der Umbildung) gesehene Möglichkeit darstellt. Die Form des Handelns führt also im erreichten Zustand durch die Anzeige jeweils weiterer eben nicht oder noch nicht realisierter Möglichkeiten über sich hinaus: Dieses innere Wachstum erfolgt nicht einfach unter der ständigen Leitung, unter der Vorschrift und Vormundschaft des Wirklichen; sondern es verlangt, dass wir ständig vom »Wirklichen« in ein Reich des »Möglichen« zurückgehen und das Wirkliche selbst unter dem Bilde des Möglichen erblicken. Die Gewinnung dieses Blick- und Richtpunkts bedeutet, in rein theoretischer Hinsicht, vielleicht die größte und denkwürdigste Leistung der Technik. Mitten im Umkreis des Notwendigen stehend und in der Anschauung des Notwendigen verharrend, entdeckt sie einen Umkreis freier Möglichkeiten. Diesen haftet keinerlei Unbestimmtheit an, sondern sie treten dem Denken als etwas durchaus Objektives entgegen. Die Technik fragt nicht in erster Linie nach dem, was ist, sondern nach dem, was sein kann. Aber dieses »Können«

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Die Klammern sind wie folgt aufzulösen: es wird eine Entwicklungsreihe vorgestellt, die von einem bestimmten Zustand her (dieser erscheint damit als Natur, obgleich er selber schon je Kultur war, daher diese in Klammer) zu einem neuen Zustand führt, der seinerseits als kultureller aufzufassen ist (und da er das Ergebnis der Entwicklung von der scheinbaren Natur her ist, war hier dieselbe in Klammern anzeigt).

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selbst bezeichnet keine bloße Annahme oder Mutmaßung, sondern es drückt sich in ihm eine assertorische Behauptung und eine assertorische Gewissheit aus – eine Gewissheit, deren letzte Beglaubigung freilich nicht in bloßen Urteilen, sondern im Herausstellen und Produzieren bestimmter Gebilde zu suchen ist. (Cassirer 1985, 81)

Da aber auch Zwecke – die es unter Mitteleinsatz zu verwirklichen gilt – sich dem Bezug auf ein Wirkliches (also schon Verwirklichtes) verdanken, zeigt sich nun, dass eben jene Zwecke – die als »Entschluss« des Subjektes gedeutet werden können und diesem als Ausweis seiner Zwecksetzungsautonomie zu gelten haben – erst in Bezug auf (verwirklichte) Mittel bestimmt werden. Zwecke werden im Tun entdeckt: In diesem Sinne hat jede wahrhaft originelle technische Leistung den Charakter des Ent-Deckens als eines Auf-Deckens: es wird damit ein an sich bestehender Sachverhalt aus der Region des Möglichen gewissermaßen herausgezogen und in die des Wirklichen verpflanzt. Der Techniker ist hierin ein Ebenbild jenes Wirkens, das Leibniz in seiner Metaphysik dem göttlichen »Demiurgen« zuspricht, der nicht die Wesenheiten oder Möglichkeiten der Gegenstände selbst erschafft, sondern unter den vorhandenen, an sich bestehenden Möglichkeiten nur eine, und die vollkommenste, auswählt. So belehrt uns die Technik fort und fort darüber, dass der Umkreis des »Objektiven«, des durch feste und allgemeine Gesetze Bestimmten, keineswegs mit dem Umkreis des Vorhandenen, des Sinnlich-Verwirklichten zusammenfällt (…). (Cassirer 1985, 81 f.)

Der Abstraktion als Ausgang vom je Verwirklichten zum noch nicht Verwirklichten ist somit zugleich auch immer Antizipation des »Sein-Könnens«. Fasst man diesen Zusammenhang der Zweckverwirklichung und Entdeckung aber nur als Realisierung von Zwecken, ohne den Rückbezug auf das je Vorhergehende selber als Bezug auf ein ebenfalls schon Vermitteltes aufzufassen, so wird der Schein erzeugt, diese zunehmende »Abstraktion« hebe vom unmittelbar erlebbaren Zusammenhang von Zwecken und Mitteln an und führe nun wenigstens auf der subjektiven Seite der Werkzeug-Mensch-Relation zu einer »selbständigen« und verselbständigten Gegenständlichkeit. Damit kann die Kritik am »Unnatürlichen« der Technik nur hinsichtlich der Zwecke formuliert werden, denen technisches Handeln zu dienen habe. Und hier gilt dann allerdings: Sowenig die Technik, aus sich und ihrem eigenen Kreis heraus, unmittelbar ethische Werte erschaffen kann, sowenig besteht eine Entfremdung und ein Widerstreit zwischen diesen Werten und ihrer spezifischen Richtung und Grundgesinnung. Denn die Technik steht unter der Herrschaft des »Sachdienstgedankens«, unter dem Ideal einer Solidarität der Arbeit, in der zuletzt alle für einen und einer für alle wirkt. Sie schafft, noch vor der wahrhaft freien Willensgemeinschaft, eine Art von Schicksalsgemeinschaft zwischen all denen, die an ihrem Werke tätig sind. (Cassirer 1985, 89)

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Die Bewertung von Technik – etwa im ethischen Verstande – bliebe dieser äußerlich, insofern jene nicht (gleichsam außermoralisch) zunächst als Form menschlichen Wirkens verstanden und anerkannt wird. Jedoch, und dies war der Ausgangspunkt unserer Untersuchung, ist dieser Bezug von Technik auf Zwecke – und mithin auf »Sachdienstbarkeit« – gerade kein ihr externer. Indem im technischen Handeln sich der Mensch als wirkliches und verwirklichtes Wesen weiß, muss der reflexive Rückbezug auf das, was und wie es getan wird, als konstitutives Moment seiner Selbstbildung begriffen werden: Soll dieser Gedanke sich wahrhaft auswirken, so ist freilich erforderlich, dass er mehr und mehr seinen impliziten Sinn in einen expliziten verwandelt: dass das, was im technischen Sinn geschieht, in seiner Grundrichtung erkannt und verstanden, dass es ins geistige und sittliche Bewusstsein erhoben wird. Erst in dem Maße, als dies geschieht, wird Technik sich nicht nur als Bezwingerin der Naturgewalten, sondern als Bezwingerin der chaotischen Kräfte im Menschen selbst erweisen. (Cassirer 1985, 89)

Die Form technischen Handelns also ist es in der Cassirerschen Darstellung, die den Menschen zu dem macht, was er ist. Damit kann auch die Rede vom Mensch als Naturwesen nur aufgefasst werden als eine Rede über die Natur(Kultur) des Menschen, die jener in seiner Kultur(Natur) verwirklichte. Wirkliche Befreiung zielte also weder auf die Lösung von der Form technischen Handelns noch auf die von den an seine konkreten Erscheinungen herangetragenen Zwecke. Erst indem der Mensch als das in seiner Arbeit sich reproduktiv verwirklichende Wesen begriffen ist, kann auch die Herrschaft über »Natur« zunächst und vor allem als die Verfügung über sich selbst angesehen werden. Dieses doppelte Verhältnis, zum einen das Verhältnis des Menschen zu sich selber (in Gemeinwesen nämlich) und zum anderen das Verhältnis des Menschen (in Gemeinwesen) zur Umgebung (der schon gestaltet vorgefundenen Natur(Kultur)), ist also gemeint, wenn von der Gestaltung der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse menschlicher Gemeinwesen die Rede ist. Wenn wir also von der »Gestaltung von Technik« reden, so ist damit allererst ein »vermitteltes Selbstverhältnis« angezeigt. Ein vermitteltes Verhältnis ist es, weil es die tätige Beziehung des Menschen zu seinen Mitteln betrifft. Reflexiv ist es, weil der Mensch sich – qua Mittel – auf sich selber bezieht. Wenn nun von Entwicklung »des Menschen« die Rede ist, kann dies – im Anfang – also ohne jeden Rekurs auf lebenswissenschaftliche Beschreibungen geschehen. Letztere ließen sich aber nichtsdestotrotz methodologisch einbinden, wobei eine solche Verbindung – unseren Überlegungen folgend – argumentativ sichergestellt würde, über die Deutung des generischen Singulars als Anzeige eines Typenzusammenhanges von Menschen und Tieren – menschliche Individuen also als Exemplare der (echten wiewohl rezent monotypischen) Gattung Homo. In der so rekonstruierten Form lässt sich die Rede von dem Menschen

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als einem »sich« entwickelnden Wesen in zweierlei Weise (nämlich als mediale Form) deuten: 1. Zum einen vollzieht sich an ihm (als Gattungswesen) etwas, was als Transformation u. a. im evolutionsbiologischen Sinne zu verstehen ist. Die Rede von »dem« Menschen wäre hier also so aufzufassen, dass es sich um ein Lebewesen unter anderen handelt, welches mit bestimmten Fähigkeiten begabt diese als Fertigkeiten ausbildet. Diese Darstellung des Gattungswesens als eines Naturwesens folgt dabei der vermittelten Selbstbeziehung, die sich durch die Nutzung von Mitteln und Werkzeugen im gegenständlichen Tun darstellen lässt. D. h., lebenswissenschaftliche Beschreibungen sind wissenschaftliche Selbststellungnahmen des Menschen »als« Naturwesen. Sie folgen der pragmatischen Beschreibung von Gegenständen (des Handlungsbezuges) als Gegenständen zu etwas.7 2. In der eigentlich reflexiven Form wird die Rede von dem Menschen nun als Beschreibung eines tätigen Wesens so anzufertigen sein, dass die Individualisierung über die Tätigkeit selber erfolgt. Es »gibt« also in dieser Beschreibung nicht zunächst einen Gegenstand, der anderen Gegenständen gegenübersteht und die dann als Objekte oder Subjekte anzusprechen wären, wobei letztere aber mit der Fähigkeit begabt sind, genau dies zu tun. Vielmehr ist der Ausdruck des individuellen Menschen überhaupt nur dadurch zu erlangen, dass ein Tuender als Moment dessen aufgefasst wird, was als Tätigkeit hier im Sinne der technischen Form menschlichen Handelns eingeführt wurde. »Der« Mensch in dieser Grammatik ist also über die adjektivische oder adverbiale Form »menschlich« einzuführen. In dieser reflexiven Ansprache ist es notgedrungen »der Mensch«, welcher sich selbst (nämlich als individualisierter Mensch) hervorbringt. Die in der irreflexiven Stellung auftretende Unterscheidung von Fähigkeit (als Möglichkeit der Gattungsindividuen) und Fertigkeit (als notwendige Möglichkeit des Entwicklungs-Individuums) verkehrt sich nun eigentümlich; denn mit Bezug auf Tätigkeiten zeigt erst das Getane an, welche Fertigkeiten bestimmte Fähigkeiten realisieren. Beziehen wir die Rede von Entwicklung im verbalen Sinne nicht auf vorgängige Bestände, sondern auf die Veränderung der Form menschlichen Handelns, dann ist der Ausdruck Natur jeweils auf die Transformation dieser Form zu beziehen. Wir wollen nun die Folgen, die dieses Verständnisses Entwicklung als »Entwicklung des Menschen« für die Bedeutung des Ausdruckes Natur hat, näher untersuchen.8 7

Es handelt sich also bei der irreflexiven Verwendung des Ausdruckes »entwickeln« selber wieder um ein Verhältnis. 8 Die folgenden Überlegungen basieren auf der Ausarbeitung der argumentativen Struktur des Ausdruckes »Naturgeschichte« in Gutmann in print.

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4) Innere und äußere Natur als Aspekte vermittelter Selbsthervorbringung Wenn wir »entwickeln« verbal auffassen und die Metapher (im Sinne Königs 1994) durch Bezug auf bestimmte Formen des Hervorbringens explizieren, dann muss entsprechend für die Frage nach »der Natur« der Anfang bei den Tätigkeiten und Hervorbringungen des Referenten von »der« Mensch genommen werden. Exemplarisch wollen wir eine solche Explikation an jenem Ensemble von Tätigkeiten vornehmen, die mit dem Ausdruck des »experimentellen« – und insofern empirischen – belegt, zur zentralen Bestimmung des modernen Menschen zählen, wir bezögen uns also auf den Umgang mit Gegenständen moderner empirischer Naturwissenschaften.9 Diese sind durch experimentelle Stützung charakterisiert, d. h. ihr Wissenserwerb ist wesentlich auf Zweck-Mittel-Verknüpfungen bezogen (s. Janich 1997). Das »Beherrschen« drückt dabei nicht nur direkt die Art und Weise des Gegenstandsumganges aus, es bezeichnet vielmehr zugleich auch die Erwartungen, die an die Ausführenden dieser Handhabungen gerichtet sind. Die experimentelle Strukturierung von Gegenständen läuft nicht nur darauf hinaus, nur das, was in seinen Eigenschaften reproduzierbar manipuliert werden kann, als verstanden zu behaupten. Es ist vielmehr zugleich die stete Transformation (im oben angesprochen »reflexiven« Sinne also »Entwicklung«) der experimentellen Handlungsform selber, die sich mit der je weiteren experimentellen Strukturierung von Gegenständen vollzieht. Der Ausdruck »Natur« erhielte in diesem Sinne den Index der Zeit, denn was jeweils als Natur angesprochen würde, wäre nur mit Blick auf die jeweils geltenden wissenschaftlichen Beschreibungen auszumachen. Doch so selbstverständlich dieser Bezug mit Blick auf Naturwissenschaften auch sein mag, es handelte sich dabei schon um eine zweifache Verkürzung. Denn zum einen ist auch in anderen Erfahrungswissenschaften (die nicht notwendig empirisch sein müssen) »Natur« Gegenstand der jeweiligen wissenschaftlich-methodischen Betrachtung, und zum andern bedarf der Verweis auf »Wissenschaftsgeschichte« der Differenzierung, da es sich dabei ja schon um Resultate und Berichte dieser Resultate eines eigenständigen »bewährungsgeschichtlichen« Vorganges handelt, bei welchen häufig innerwissenschaftliche Alternativen ausblendet werden.

9

Wir nehmen also eine der am höchsten entfalteten Tätigkeitsformen zum Anfang, die zudem direkt jene unmittelbaren Beschreibungen der Natur des Menschlichen zu liefern scheinen, wie es die Nutzung der ihnen entnommenen Sprachstücke zur Beschreibung menschlicher Leistungen wie »denken« oder »sprechen« anzeigt (s. etwa Dennett 1989).

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Binden wir nämlich den Ausdruck »Natur« an Beschreibungen menschlicher Tätigkeit zurück, dann ist damit zunächst eine bestimmte Art und Weise des »sich zu etwas Verhaltens« angezeigt. Dieser Überlegung gemäß wäre nicht etwas – gleichsam schon vor jeder Beschreibung einfachhin Natur; es würde vielmehr als eine solche innerhalb menschlichen Tuns und Handelns erst bestimmt. Experimentelles Handeln wäre so zu rekonstruieren, dass die Form dieser Tätigkeit (im Sinne des oben aufgezeigten Technik-Begriffes) das einheitsstiftende Moment abgibt. Wir beziehen mit der Doppelläufigkeit des tätigen Umganges auf terminus ad quem wie a quo zugleich die erkenntnistheoretisch motivierte Unterscheidung von Subjekt und Objekt als Anzeige des Verhältnisses von innerer und äußerer Natur von vornherein auf die Analyse von Tätigkeitsverhältnissen. Die duale Differenz ist rein formal in eine gedoppelte zwiefache Relation aufzulösen. Denn zum einen erscheint Natur, vom Subjekt als diesem entgegen-gesetzte, in dieser Setzung wesentlich von ihm als tätigen abhängige, als Subjekt(Objekt). Natur wäre dann »äußere Natur« für das Subjekt, das in dem Einbeziehen seiner als körperliches Wesen als eine äußereinnere Natur an sich habendes auftritt; Natur als innere-äußere fürs Subjekt wird Subjekt(Objekt(Subjekt)). Doch indem nicht mehr nur für das Subjekt seine Natur als äußere bestimmt werden kann, sondern possessiv, als seine Natur, wird die innere-äußere zugleich äußere-innere, das Subjekt als selbständiges Objekt zum Objekt(Subjekt). Da in dieser Darstellung aber das Subjekt objektiviert wird, also unter eben die Beschreibung gerät, die wir für die äußere Natur fassten, die eigentümliche Beziehung des Subjektes zu sich als Objekt eben nicht zum Ausdruck kommt, muss ergänzt werden zu Objekt(Subjekt(Objekt)).

5) Leib und Körper als Explikandum von äußerer und innerer Natur Begrifflich ist diese Doppelläufigkeit über das Ausdruckspaar »Leib-Körper« auszudrücken; und wiederum (wie bei der Rede von äußerer und innerer Natur im Bezug auf Entwicklungsverhältnisse) verdoppeln sich die Explikationsmöglichkeiten. In Bezug auf individuelles Tun lässt sich zunächst der Tätige vom Gegenstand seines Tuns unterscheiden. Betrachten wir den Tätigen als Ausgang der Eingriffe und Manipulationen von Gegenständen, so erscheinen Gegenstände überhaupt nur in Hinsicht auf das Tun selber. Das also, was als Gegenstand anzusprechen ist, kann nicht als tätigkeitsinvariantes Ding einfach vorfindlich gedacht werden, sondern ist überhaupt nur, insofern es in Tätigkeit stehend als Gegenstand bestimmt wird. Hinsichtlich nun dessen, was getan wird, erscheint der Tätige vornehmlich als »Einlageort« seines Tuns. Er ist

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gleichsam das nicht in den Blick geratende Zentrum, von dem her sich sein Tun einstellt. Gehen wir grammatisch zur adjektivischen resp. adverbialen Form über, so bezeichnen wir diese Funktion des Tätigen innerhalb individuellen Tuns als leibliches Verhältnis. Dieses Verhältnis ist unmittelbar-mittelbar, insofern der Leib innerhalb von Tätigkeiten, dort aber – für das Individuum – als Leib außerhalb des Tätigkeitsverhältnisses fungiert. Der Ausdruck Leib wird also über solche leiblichen Verhältnisse als »gegenstandsgleiche« aber funktionsverschiedene Konstruktion aus der Sicht des tuenden und Tätigkeiten vollziehenden Individuums gebildet. Für das Individuum erscheint der Leib als einfach unmittelbar gegeben, so wie dies auch für den bearbeiteten Gegenstand als Ding selber gilt. Der Leib ist genau genommen ein leiblicher Körper, da er in der Form eines gegenständlichen Verhältnisses gedacht wird. Eine Erweiterung dieses (unmittelbar-mittelbaren) Verhältnisses erreichen wir, wenn das Fungieren des Leibes zum Gegenstand der Reflexion wird. Er ist nun nicht mehr einfach nur das »Wovon-her« des Tuns, er ist vielmehr das in Hinsicht auf die gezielte Veränderung von Gegenständen beherrschte und insofern als »Verhalten-zu« in Erscheinung tretende. Bezeichnen wir das Resultat dieser Reflexion als Herstellung körperlicher Verhältnisse, dann bestimmt sich »Körper« wiederum als Konstruktion über dieses mittelbar-unmittelbare im Tun des Individuums als dessen körperlicher Leib, da über ihn das Verhältnis zum leiblichen Körper in der Tätigkeit hergestellt wird. Diese Doppelung leiblicher und körperlicher Verhältnisse beschreibt aber lediglich das als »äußere Natur« bestimmte Verhältnis, da der Ausgangspunkt das gegenständliche Verhalten im Vollzug der Bearbeitung von Gegenständen war. Wenden wir die Betrachtungsrichtung nun um und beschreiben gegenständliche Tätigkeit als interindividuelles Tun, so gelangen wir zu einer Kehrfigur leiblicher Verhältnisse. Denn nun ist das Tun in Bezug auf Tätigkeiten selber das Definiens des leiblichen, das, insofern es als Tun nur in der Form leiblichen Verhaltens in den Blick gerät, unmittelbar-mittelbar als Leib angesprochen werden kann. Der leibliche Körper ist in diesem Verhältnis der auf das Tun anderer leiblicher Körper bezogene leibliche Körper. Der Bezug auf den Bezug anderer Leiber charakterisiert dasjenige, was als Leib unmittelbar hinsichtlich der mittelbaren Selbstheit des je unvertretbaren Tuns fungiert, das durch das erste Verhältnis beschrieben war.

6) Anerkennung als Hervorbringung in Arbeit Das vierte Verhältnis wollen wir uns an einer Rekonstruktion von Strukturelementen des Hegelschen Anerkennungskonzeptes vergegenwärtigen. Hegel nutzt die Ambivalenz des etymologisch Verwandten »Leben«. Dies ist zoe sowie

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bios – als Anzeige tätiger Verhältnisse.10 Nur scheinbar ist damit bei der Rede vom Leben eine lebenswissenschaftliche Beschreibung abgezweckt. Leben in der Form »x ist lebendig« fungiert als modifizierendes Prädikat. Es scheint bisher die individuelle Beschreibung des Tuns als Hervorbringung eines leiblichen »Verhaltens-Zugs« strukturgleich zu dem zu sein, was wir als in Herrschaft und Knechtschaft gedoppeltes Verhältnis innerhalb des übergreifenden Allgemeinen der Anerkennung bei Hegel kennenlernten: »Jedes ist dem Anderen die Mitte, durch welches jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt, und jedes sich und dem Anderen unmittelbares für sich seiendes Wesen, welches zugleich nur durch diese Vermittlung so für sich ist. Sie anerkennen sich als sich anerkennende.« (Hegel 1988, 147)

Die Ausdrücke »Herr und Knecht« lassen systematisch mindestens zwei – keinesfalls kongruente – Deutungen zu, indem wir einmal »kategorial« – über die Analyse der Rede von Zweck und Mittel eingeführt – verstehen; wir hätten es dann mit einer logischen Untersuchung von Redeformen als Redeformen zu tun. Andererseits ließe sich auch phänomenologisch rekonstruieren, wobei dann die Ausdrücke wörtlich fungieren, insofern sie diese bestimmten Redeformen sind. In beiden Fällen aber sind die sich ergebenden Verhältnisse grundsätzlich asymmetrisch. Sie sind als hetera gegeneinander bestimmt, als Verschiedene unterschieden und insofern zugleich einander Entgegengesetzte wie gleich. Nehmen wir dieses Verhältnis leiblicher Körper selber wieder zum Gegenstand der Reflexion, dann kann erneut der Übergang zum körperlichen Leib gemacht werden, der nun als Person nur scheinbar einfachhin »Haben« eines Individuums ist. Es ist dies eben nur mittelbar-unmittelbar, weil der Bezug auf leibliches Verhalten anderer leiblicher Körper für die individuelle Beschreibung gleichsam außerhalb des Skopus blieb. Die mittelbar-unmittelbare Individualität ist aber das Definiens dessen, was als Person eben nur in einer bestimmten Hinsicht das »Haben« eines Individuums ist: »Indem ein Selbstbewusstsein der Gegenstand ist, ist er ebensowohl ich wie Gegenstand. Hiermit ist schon der Begriff des Geistes für uns vorhanden. Was für das Bewusstsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewusstsein die Einheit derselben ist; Ich das Wir und Wir das ich ist.« (Hegel 1988, 145)

Dann nämlich, wenn schon ein Begriff des Geistes entwickelt ist. Als innere Natur lässt sich die Verdoppelung dieser Verhältnisse deshalb ansprechen, weil es nicht zunächst eine Reflexion auf Gegenstände als Gegenstände war, die den Anfang bildete, als vielmehr das gegenständliche Verhalten selber: 10

Arbeit hier also im Sinne von Work/opus, nicht von Labour (s. Cassirer 1972).

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»Das Tun ist also nicht nur insofern doppelsinnig, als es ein Tun ebensowohl gegen sich als gegen das Andere, sondern auch insofern, als es ungetrennt ebensowohl das Tun des Einen als des Anderen ist.« (Hegel 1988, 147)

Das »Innere« des Individuellen ist das veräußerlichte Innere des Interindividuellen und vice versa das Innere des Interindividuellen ist das äußerlich – als Tun – »In-Erscheinung-Treten« des verinnerlichten Individuellen. »Arbeit« wäre dann ein Ausdruck für die Transformation des Verhältnisses von Tun und Tätigkeit. Der unleugbare generische Aspekt, den der Anerkennungsbegriff wegen seiner Einführung über ein Tun erhält (»anerkennen« ist eben zunächst ein Verb), erwiese sich bei näherer Rekonstruktion als Schein wiewohl als notwendiger. Es handelt sich bei der Rede vom »Anerkennen« nur in mittlerer Eigentlichkeit um das Tun von Individuen. Mit dem Übergang von einer generischen zu einer rekonstruktiven Rede muss aber auch der Ausdruck der »Beherrschung« als »Naturbeherrschung« in jeweils neuer Weise expliziert werden. Denn wenn Anerkennen nicht das Resultat eines Kampfes um Anerkennung ist (oder dies nur uneigentlich) und sich zudem unsere Deutung der Verhältnisse als Anerkennungsverhältnisse innerhalb von Arbeitsverhältnissen als zutreffend erwiese, dann wäre der »Kampf« zunächst einfach ein metaphorischer Ausdruck für den Ausgangspunkt der Betrachtung in asymmetrischen Verhältnissen (wie sie mit dem Herrn für die Rede vom Zweck und dem Knecht für die Rede vom Mittel angezeigt wären) sowie deren gegenseitiger Spiegelung. Ein Kampf im übrigen, so notwendig (wegen des pragmatischen Anfanges der Einführung der Redeformen von Herr und Knecht) und unausweichlich (wegen der daraus resultierenden Widersprüche, die sich beim begrifflichen Übergang von der einen zur anderen Seite im Falle des vergegenständlichenden Verständnisses einstellen) er auch erscheint, so sehr doch zugleich (wegen der rekonstruktiven Einstellung des beobachtenden Phänomenologen) sich als reine Spiegelfechterei erweist.

7) »Geschichte« als reflexive Selbsthervorbringung Wir können nun in einem letzten Argumentationsschritt die beiden doppelläufigen Bestimmungen von Entwicklung und Natur des Menschen zusammenführen. Wenn wir die reflexive Form des verbalen Ausdruckes »entwickeln« auf ein Verhältnis beziehen, das seinerseits an Tätigkeiten als menschliches in der signifikanten Verdoppelung von äußerer und innerer Natur die beiden Bedeutungen des Genitivs zu explizieren erlaubte, dann kann dieses gedoppelte Verhältnis seinerseits nicht als fester Bestand, als ein irgend Vorgegebenes angesehen werden. Vielmehr bietet es sich nun an, mit der verbalen Form »entwickeln« als medialen Ausdruck jene Veränderung menschlicher Tätigkeit

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anzusprechen, die das durch äußere und innere Natur angezeigte Verhältnis selber betrifft. Menschliche Natur wäre danach wesentlich gleichbedeutend mit der Entwicklung eben dieser Verhältnisse. Charakterisieren wir mit König »den Menschen« damit, dass dieser schon immer Mensch ist und die Fähigkeit habe, zum Menschen zu werden, so kann die Reihung der beiden generischen Singulare (die Natur des Menschen) als Anzeige genau dieses rekonstruierten Entwicklungsverhältnisses angesprochen werden.11 »Der« Mensch wäre danach ein »sich entwickelndes Wesen«, wobei der Reflexiv in beiden oben explizierten Bedeutungen zu verstehen ist. Die spezifische Form dieser Entwicklung kann mit dem Ausdruck »Geschichte« bezeichnet werden. Dieser ist seinerseits mehrdeutig, ist damit doch zugleich ein Geschehen, der Bericht über dasselbe und möglicherweise eine Erzählung zu verstehen, die sich auf solche Berichte bezieht oder aus diesen speist. Die Form solcher Erzählungen wird in der Regel eine Ursprungserzählung sein, wobei Herkünfte berichtet werden; die im Bericht auftretenden Mittel sind dabei relevant für die Beurteilung der möglichen Einheit dieser Herkünfte im Ursprung (dazu Weingarten 1996). Selbst wenn wir zunächst noch »vornarrativistisch« und unter nur grammatischer Perspektive rekonstruieren, ist der Ausdruck »Geschehen« mehrstellig; denn es wird damit ein Geschehen bezeichnet, das für jemanden in einer bestimmten Weise abläuft und von ihm in einer bestimmten Weise beschrieben wird. Eine Erweiterung der AdressatenAdressanden-Verhältnisse ergibt sich, wenn wir die Erzählung selber, d. h. zunächst ihre rhetorische Struktur und die dabei verwandten Mittel zum Gegenstand nehmen (s. etwa Rüsen 1986, White 1990–94). Denn es handelt sich dabei zugleich um einen Bericht über etwas, welches als Vollzogenes Referent der Erzählung wie durch die Erzählung zum zu erzeugenden Gegenstand wird. Der Mensch als »sich entwickelndes Wesen« wäre in der einen Form der Darstellung Objekt der Betrachtung (und würde als ein solches Objekt hervorgebracht), zum anderen und zugleich wäre er in der reflexiven Form gerade jenes Wesen, das sich als ein solches Objekt hervorbringendes hervorbringt. Gram-

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König expliziert diese Rede an dem Falle des Säuglings, der in der Tat vor Augen zu führen vermag, dass die Transformation eines Wesens, das nicht sprechen kann, in ein solches, das es kann und das um sich als ein solches Wesen weiß: »Versteht man hingegen unter einem Menschen ein Wesen, das nicht nur um Anderes, sondern auch um sich selber weiß, so ist ein neugeborenes Menschenkind nach dem hier zur Erörterung stehenden Gedanken noch kein Mensch. Wobei es dann zu gleicher Zeit schon ein Mensch und noch kein Mensch ist, sondern sich dazu erst in seinem individuellen Leben entwickelt, kein Widerspruch.« (König 1994, 242). Die Transformation zum Menschen und des Menschen kollabieren hier also, ohne dass dies eine Nivellierung beider Betrachtungen impliziert (dazu Gutmann & Weingarten 2001).

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matisch ist diese Verdoppelung der Verhältnisse durch den medialen Charakter des Ausdruckes »entwickeln« (in reflexiver wie irreflexiver Form) angezeigt. Doch ist die ausgeführte Doppelung der Bericht- und Erzählverhältnisse nicht das eigentliche Problem; dieses ergibt sich erst, wenn wir nach den Geltungsbedingungen von Bericht und Erzählung fragen. Diese Geltungsfrage kann nicht unter Bezug auf eine beschreibungsinvariante Basis (etwa »Ereignisse«, die in Raum und Zeit wie mithilfe eines Cartesischen Koordinatensystems abzutragen wären) erledigt werden (dazu etwa Danto 1980). Die Einschränkung resultiert nicht so sehr aus der Tatsache, dass jede Aussage über vergangene Ereignisse mit einer allen empirischen oder erfahrungswissenschaftlichen Aussagen eignenden Unsicherheit verbunden ist. Sie scheint sich vielmehr aus der besonderen Form der Erzählung, insofern sie eine historische Erzählung ist, zu ergeben. Die Form solcher Erzählungen ist notwendig rekonstruktiv. D. h. es wird von Vergangenem bezüglich eines Wissens berichtet oder erzählt, das selber geltungsmäßig verfügbar ist. Von diesem methodischen Anfange her werden über Berichte von Geschehnissen Erzählungen angefertigt, die nun allerdings in spezifischer Weise, d. h. je nach Gegenstand unterschiedliche Plausibilisierung mit sich führen oder erfordern. Hieraus ergibt sich nun die eigentümliche Struktur historischen Erzählens: es weist durch den methodischen Anfang einen unaufhebbaren Bezug auf die gegenwärtige Situation und dort bestimmte Fragestellung sowie das bereitstehende Beschreibungswissen auf, einen Bezug, der sich geltungsmäßig durch die Betrachtungsrichtung kundgibt, die nämlich von der Gegenwart in die Vergangenheit verläuft. Zugleich aber bezieht sich eine historische Erzählung selber auf Berichte – und zwar durchaus im Sinne eines Meta-Berichtes – der Resultate eben dieser Rekonstruktion. Es wäre ein zu einfaches Bild, wollte man den Unterschied von Rekonstruktion und Bericht der Rekonstruktionsergebnisse analog der Differenz von Objekt- und Metaebenen auffassen – wiewohl sie dies notwendig immer auch ist. Die Doppelung geht einfach deshalb nicht in die Analogie auf, weil die Ergebnisse der Rekonstruktion und die Anfertigung des Berichtes selber den methodischen Anfang nicht unberührt lassen. Wir können das Besondere dieses Selbstbezuges mit der Interpretation des Dilthey-Satzes »Was der Mensch ist, erfährt er nur aus der Geschichte« ersehen. Folgten wir der Identifizierung von Rekonstruktions- und Berichtperspektive (wobei wir nun unter Bericht die Erzählung, also den Bericht-Bericht verstehen), dann wäre die von Dilthey aufgestellte Behauptung entweder trivial wahr oder vermutlich falsch. Das erste träfe zu, wenn wir den generischen Singular auflösten, indem wir den Menschen als eben das Wesen definierten, das Geschichte hat. Verstehen wir das Prädikat im

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selben Sinne wie die Aussage »Der Mensch hat 22 Autosomen-Paare«, hätten wir es mit »diskursiver« Rede in einem theoretischen Modus zu tun. Unabhängig davon, ob eine solche Verwendung des Ausdruckes »Geschichte haben« sinnvoll ist, läge darin keine Überraschung mehr. Eine andere Weise sich dem Diktum zu nähern bestünde nun darin, entweder dem Ausdruck »erfahren« eine weitere Bedeutung zuzugestehen oder dem Ausdruck »sein«. Verstehen wir unter »erfahren« zunächst eine – noch nicht weiter bestimmte – Form des Wissens, dann könnte man an dem Diktum festhalten, wenn das Wissen, um das es geht, sich als Wissen von jenem Wissen unterschiede, von dem im Falle des diskursiven Sprechens. Im ersten Falle würden wir vermutlich das Wissen, um das es als Erfahren hier nur zu tun sein kann, als ein »Um-sich-als-der-Wissen-der-um-sich-als-wissender-Weiß« ansehen. Es bezeichnete also der Ausdruck »Geschichte« gerade jene besondere Form des um sich als um Sich Wissenden. Die andere Möglichkeit bestünde nun darin, die Prädikation »was er ist« nicht im Sinne einer diskursiven, sondern einer evozierenden Rede zu lesen. Das »Sein« ist nicht eine Folge von Prädikationen (wiewohl sie dies immer auch ist), sondern bezeichnet die Art und Weise, in der der Mensch sich tätig zu sich und zu anderem verhält. König drückt diese merkwürdige Mehrdeutigkeit des Ausdruckes »Sein« in der Terminologie Mischs wie folgt aus: »Auch dieser Satz ist nicht als eine rein diskursive Feststellung zu verstehen, so dass das gemeinte in der Aussage voll aufgehoben und rein aus ihr zu entnehmen wäre, sondern als Ausspruch, der nach der Art einer evozierenden Formulierung auf die Sache hier also das Verfahren des geschichtlichen Verstehens zurückweist. Hingegen würde Misch einen Satz wie ›welche Nummer ein Fernsprechteilnehmer hat, erfährt er aus dem amtlichen Telephonbuch‹ wahrscheinlich als eine rein diskursive Feststellung ansehen.« (König 1967, 223)

Das diskursive Sprechen unterschiede sich vom evozierenden also gerade dadurch, dass es den konstitutiven Selbstbezug nicht explizit zur Geltung bringt, sondern ihn gleichsam nur »im Rücken« des Sprechenden beiherspielen lässt. D. h., dass wir erst an dem tatsächlich Gesprochenen den Referenten auszeichnen können; mehr noch: es ist gerade dieses Sprechen, die Nutzung bestimmter Redeformen und deren Beziehung untereinander, die den Referenten der Rede erzeugt. Wir können an dieser Stelle Königs spezifische Weiterführung der Mischschen Unterscheidung von diskursivem und evozierendem Sprechen aufnehmen, indem wir im Falle der Aussage »Der Mensch hat 22 Autosomen-Paare« von einer determinierenden Prädikation im theoretischen Modus sprechen. Denn als biologisches Wesen, das Gegenstand der theoretischen Betrachtung ist, wird »der Mensch«, d. h. das Gattungswesen (sensu verbis!) Homo sapiens durch die Chromosomenzahl – und eine ganze Reihe weiterer Merkmale – bestimmt, während wir es bei der Bestimmung des

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Mathias Gutmann

Menschen als geschichtlichem Wesen mit einer modifizierenden Prädikation zu tun haben.12 Der Unterschied lässt sich mit König wie folgt darstellen: »In meinem Sprachgebrauch hingegen ist z. B. ›vergangen‹ Ausdruck für das Wie und also für den Modus des Wirkens und Seins. In sachlicher Hinsicht sowohl als auch in sprachlicher könnte ich gleich gut von modalen Prädikaten sprechen. Im philosophischen Sprachgebrauch besteht aber eine Neigung, nur Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit ›Modi des Seins‹ zu nennen, so dass die Vermeidung des Ausdrucks ›modal‹ ratsam scheint.« (König 1937, 63).

Das »Sein«, von dem die Rede ist, darf nicht als gleichsam vorsprachliche Ontologie verstanden werden. Am Beispiel des »leer wirkenden« Zimmers ist das »Sein« dieses Zimmers, sein Modus also des Vorkommens, nicht einfach aufzulösen in die beiden Aussagen »Es gibt ein Zimmer« und »Dieses Zimmer ist leer«. Denn mit dem eigentümlich medialen Ausdruck des »So-Wirkens« ist die Aussage durchaus verknüpfbar, dass das Zimmer nicht leer ist: »Das so-wirkende, das intensiv-verbale so-Seiende und also das Seiende, das nicht das Vorhandenseiende ist, ist ursprünglich das, als welches wir es aussprechen: es ist ursprünglich das Seiende. Der Ausdruck das Seiende entspringt hier keiner Umwandlung von Sätzen, Reden über als eine und einige vorausgesetzte Subjekte. Denn die Subjekte des so-Wirkens (z.B: ein Zimmer das leer wirkt) sind, wie gezeigt nichts anderes als das so-Wirkende, also nichts als das Seiende.« (König 1937, 222)

Beziehen wir diese Rede vom »Sein« auf das »Mensch-Sein«, dann würde der Ausdruck entsprechen auf das »intensiv-verbale« »sein« abzielen, das in der Frage nach dem »Was der Mensch sei« mit Hinweis auf seinen Lebensvollzug beantwortet werden muss. »Leben« – als Bios – also ist gerade dasjenige, was als vollzogen Reflektiertes und reflektierend Vollzogenes die besondere Form menschlichen Seins als Tätigsein ausmacht. Das Verstehen dieses Seins ist Aufgabe dessen, was im Gegensatz zur philosophischen Hermeneutik (etwa Gadamerschen Zuschnittes) als hermeneutische Philosophie im Sinne der hermeneutischen Logik bestimmt werden kann: »Die hermeneutische Logik ist eine Art Kunst der Auslegung des Lebens, und so ist diese Logik wenn man so will, selber eine Art Hermeneutik. Aber bei solchem Sprechen muss man zugleich auch den Unterschied zur Hermeneutik im üblichen Sinne sehen und festhalten. In diesem üblichen Sinne ist Hermeneutik die Kunst der Auslegung geistiger Schöpfungen, z. B. eines Dichtwerks oder auch eines philosophischen Textes. Der Ausleger ist ein Mensch, und er muss was er auslegt, z. B. einen philosophischen Text schon vor seiner Auslegung irgendwie verstanden haben und eben überhaupt vor sich haben. Wenn ich nun Misch angemessen interpretiere, so

12

Auch diese lässt sich jederzeit in eine determinierende Prädikation überführen; sie geht nur eben nicht in ihr auf.

Transformationen des Humanen

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ist das bei der als eine Art Hermeneutik aufgefassten Logik anders. Da ist der Ausleger die Sprache oder, dasselbe anders formuliert, der sprechende Mensch als solcher und also nicht einfach ein Mensch; und der Mensch als solcher hat, was er auslegt, – das Leben – in gewisser Weise erst nach geschehener Auslegung vor sich; deshalb ist diese Auslegung des Lebens auch nicht so etwas wie ein Nachdenken oder ein Reflektieren über das Leben.« (König 1967, 228)

Das Auszulegende »vor sich« zu haben wäre gerade jene Form des Selbstbezuges, die für determinierend-theoretische Prädikate relevant ist, während die »Hervorbringung« dessen, was als Leben des Menschen bezeichnet wird, mit dem Resultat der Auslegung zusammenfällt (denn es wird das »Vor-sich-Bringen« überhaupt erst in der Auslegung her-vor-gebracht), gerade jene Selbstbestimmung bildenden Sprechens ist, wie es etwa in der Form der modifizierenden Rede geschieht. Soll die Alternative von Trivialität oder Falschheit umgangen werden, so bestimmt der Ausdruck »Geschichte haben« sich in der Perspektive Diltheys als Anzeige der besonderen Selbstbezüglichkeit menschlicher Tätigkeit. Dieser Selbstbezug bleibt unaufhebbar. Er ist Bedingung der Möglichkeit einer Einheit des Herkünftigen, die nicht einfach als Ursprung vor jeder Rekonstruktion zu haben wäre. Eine besondere Form der Strukturierung körperlicher Leibverhältnisse bildet die Gruppe von Entwicklungstheorien des Menschen als Gattungswesen. Diese Strukturierung – im Lichte der jeweiligen kultürlichen Naturverhältnisse artikuliert der wissenschaftliche Selbstbezug. Naturhistorische oder evolutionsbiologische Beschreibungen des Menschen sind nicht Beschreibungen seines Auch- oder So-Seins, sie artikulieren das Selbstverhältnis des Menschen als Naturwesen (s. Gutmann in print). Natur aber ist die Bestimmung dieses Selbstbezuges in Tätigkeitsverhältnissen.

8) Iteration der Herkünfte Wir können damit zumindest eine vorläufige Antwort auf die Frage geben, was mit der Rede von der Geschichte des Menschen als einem Naturwesen gemeint sein kann. Danach hätten wir es zunächst mit der Anzeige eines methodischen Anfanges der Beschreibung zu tun, die eine Auflösung des ersten generischen Singulars »der Mensch« erlaubt. Der Ausdruck »Anfang« verdient das Epitheton »methodisch« einfach deshalb, weil er sich nach den Ableitungszielen und den Beschreibungsmitteln bestimmt. Von ihnen her werden Transformationen als schon stattgehabte rekonstruiert. Die Rekonstruktion erlaubt Berichte der Herkünfte des in einer im methodischen Anfang Gegebenen. Der »Ursprung« bezeichnet die Einheitsstiftung der rekonstruierten Herkünfte. Insofern könnte der Singular »Ursprung« neben einer ontologischen Lesung auch eine methodologische erlauben, indem – im Bewusstsein der rein reflexiven Struktur des

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Mathias Gutmann

Referenten dieses Ausdrucks – darunter nicht mehr verstanden wird als die erzählungsförmige Einheitsstiftung von Anfängen in Berichten. Seine Form ist die der Erzählung, die ihre Plausibilitäten aus den Herkunftsberichten speist. Die Kohärenz und Konsistenz des Ursprunges ist die Norm der Synthese der Herkünfte. Die gewonnene Herkunft verklärte sich aber zum ontischen Ursprung, wenn dieser mit einem zeitlichen Ereignis identifiziert wird. Die Versprechen waren also – entgegen der Befürchtung Rotpeters – schon gegeben worden. Sie mussten nur als solche dargestellt werden.

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Armin Grunwald

Orientierungsbedarf, Zukunftswissen und Naturalismus. Das Beispiel der »technischen Verbesserung« des Menschen

1) Einführung und Überblick Die Naturalismus-Debatte stellt vor allem eine Kontroverse um die Interpretation naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse (Hartmann/Janich 1996) und die möglichen Folgen für die gesellschaftliche Ordnung dar. Beispiele sind die Deutungskontroversen zum Humangenomprojekt (Honnefelder/Propping 2001) und zu bestimmten Ergebnissen der Hirnforschung (bereits Janich 1996a). In diesem Beitrag erfolgt eine Annäherung an die Naturalismusproblematik von einer ganz anderen Seite. Im Mittelpunkt stehen gesellschaftliche Orientierungsprobleme in strittigen Fragen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.1 Orientierungsangebote arbeiten vielfach mit Hoffnungen, Erwartungen, Befürchtungen, oder sie verwenden Szenarien, Visionen oder Zukunftsprojektionen. Damit operieren sie im futurischen Modus. In diese für die Selbstverständigung und Orientierung moderner Gesellschaften wesentliche Zukunftskommunikation hält, so die These, an verschiedenen Stellen ein »Naturalismus zweiter Art« Einzug. Im Gegensatz zum erwähnten Naturalismus »erster Art« bezieht er sich direkt auf gesellschaftliche Verhältnisse, unterstellt eine nach kausalen Gesetzen ablaufende gesellschaftliche Entwicklung und interpretiert damit die Gesellschaft mit ihren Institutionen als eine »Zweite Natur«, die wiederum kausalistisch modelliert wird. Die Konsequenzen für Einstellungen gegenüber Orientierungsproblemen sind ganz analog zu denen des einschlägigen Naturalismus: eine Zurückdrängung von Gestaltungsfreiräumen zugunsten einer Annahme kausaler Gesetzmäßigkeiten, eine Fokussierung auf Ursachen statt auf Gründe und eine systematische Bevorzugung der Beobachter- gegenüber der Teilnehmerperspektive. Ein illustratives Fallbeispiel bildet die gegenwärtige Diskussion um eine »technische Verbesserung« des Menschen auf der Basis von Nanotechnologie und den »Converging Technologies« (Roco/Bainbridge 2002). Die – zurzeit weitgehend spekulativen – neuen Wahlmöglichkeiten in Bezug auf die Gestaltung des menschlichen Körpers und Geistes lassen erhebliche Orientierungsprobleme erwarten 1

Dieser Beitrag entwickelt Überlegungen von Carl Friedrich Gethmann (1994) und Peter Janich (1994) vor dem Hintergrund von Arbeiten des Autors zur Nanotechnologie und der »technischen Verbesserung« des Menschen (Grunwald 2006 a; 2007a) weiter.

Orientierungsbedarf, Zukunftswissen und Naturalismus

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(Kap. 2). Im Unterschied zu gentechnischen Eingriffen in »werdendes« Leben besteht bei diesen Formen »technischer Verbesserungen« des Menschen – die z. B. als Implantate in zustimmungsfähige Personen »eingebaut« werden könnten – die Möglichkeit der Herbeiführung eines »informed consent«. Argumente, die mit einer Gefährdung der Bedingung der Moralität durch gentechnische Verbesserung operieren (Habermas 2001), greifen in Bezug auf diese Formen technischer Verbesserung des Menschen nicht, jedenfalls nicht ohne Weiteres. Stattdessen operieren Ansätze zur Schaffung neuer Orientierung angesichts erodierter Selbstverständlichkeiten wesentlich mit Folgenüberlegungen möglicher »technischer Verbesserungen«, z. B. im Hinblick auf Verteilungsgerechtigkeit (Siep 2005). Folgenüberlegungen sind hypothetische Aussagen über Zukünftiges. Dieses Modell der Generierung von Orientierung entspricht der gesellschaftstheoretischen Erwartung (Luhmann 1997, S. 997 ff. und S. 1143 ff.), wonach moderne Gesellschaften ihre Weichenstellungen durch Bezüge auf Zukünftiges vornehmen statt, wie vormoderne Gesellschaften, durch Rückbezüge auf Vergangenheit und Tradition. Dadurch wird die Suche nach gegenwärtigen Orientierungen in eine Debatte über Zukunftsvorstellungen transformiert. Eine Orientierungsstiftung hierdurch ist jedoch nur unter starken Voraussetzungen möglich, da in den Zukunftsdebatten die gesellschaftlichen Konflikte reproduziert und noch um Konflikte um Unsicherheit und Unvollständigkeit des Zukunftswissens und seiner Beurteilung verschärft werden (Kap. 3). Wenn Folgenwissen und Zukunftsvorstellungen, wie in der modernen Gesellschaft üblich, umstritten sind (Brown et al. 2000), dann bedarf es eines Instrumentariums, um verschiedene »Zukünfte« unter Rationalitätsstandards argumentativ gegeneinander abzuwägen (Kap. 4). In normativ anspruchsvollen Demokratietheorien (Barber 1984, Habermas 1992) ist dies eine wesentliche Voraussetzung einer informierten und aufgeklärten Deliberation. Es stellt eine genuin philosophische Aufgabe dar, das begriffliche und methodische Instrumentarium bereitzustellen, zwischen verschiedenen Zukünften ein Rationalitäts- oder Geltungsgefälle herauszuarbeiten, um diese Deliberation zu unterstützen oder erst zu ermöglichen. Naturalismen »zweiter Art« lassen sich durch Analyse der Rationalität und Geltung von Zukunftsvorstellungen in Form von kausalen Gesetzesvermutungen oder impliziten Gesetzesannahmen in gesellschaftlicher Hinsicht aufdecken (Kap. 5). Evolutionstheoretisch motivierte und kausal-deterministische Zukunftsverständnisse lassen sich diesem Naturalismus zuordnen. Demgegenüber lässt sich ein kulturalistisches Zukunftsverständnis skizzieren (Kap. 6). Es basiert nicht auf voluntaristischen Annahmen einer intentionalen Gestaltbarkeit der Zukunft – dieses wäre naiv –, sondern stellt die Unterscheidung von mit Gründen gestaltbaren Teilen der Zukunft einerseits und kausalen Verknüpfungen unterliegenden Teilen zukünftiger Entwicklungen andererseits

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Armin Grunwald

sowie die Verfügbarkeit und Qualität von Argumenten für diese Unterscheidung in den Mittelpunkt.

2) Die aktuelle Debatte um die »technische Verbesserung« des Menschen Die Verbesserung des Menschen ist kein neues Thema. Vielfach ist historisch die Unzufriedenheit des Menschen mit sich selbst überliefert. Unzufriedenheit mit seiner physischen Ausstattung, seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, mit der Abhängigkeit von äußeren Ereignissen wie Krankheiten, mit der Unausweichlichkeit des Alterns und letztlich des Todes, Unzufriedenheit mit seinen moralischen Fähigkeiten oder – und dies dürfte besonders häufig sein – mit seinem körperlichen Aussehen. Überlegungen zur Verbesserung des Menschen in der europäischen Aufklärung setzten vor allem auf Erziehung und Kultur, während totalitäre Ansätze im 20. Jahrhundert z. B. rassebiologische Züchtungsfantasien hegten. In der gegenwärtigen Diskussion zur Verbesserung des Menschen geht es um eine technische Verbesserung, zunächst vor allem auf der Ebene individueller Fähigkeiten, erst vermittelt dann auch um Überlegungen zu einer »gesellschaftlichen« Verbesserung: »Rapid advances in convergent technologies have the potential to enhance both human performance and the nation’s productivity. Examples of payoff will include improving work efficiency and learning, enhancing individual sensory and cognitive capacities, revolutionary changes in healthcare, improving both, individual and group efficiency, highly effective communication techniques including brain to brain interaction, perfecting human-machine interfaces including neuro-morphic engineering for industrial and personal use, enhancing human capabilities for defence purposes, reaching sustainable development using NBIC tools, and ameliorating the physical and cognitive decline that is common to the aging mind« (Roco/ Bainbridge 2002, S. 1).

Nach dem Modell der in diesem Zitat angesprochenen »convergent technologies« wird angenommen, dass Entwicklungen aus Nanotechnologie, Bio- und Gentechnologie, Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Kognitionswissenschaften und Hirnforschung konvergieren und in ihrer Konvergenz radikal neue Möglichkeiten eröffnen. Der Nanotechnologie kommt in dieser Konvergenzhypothese eine herausgehobene Bedeutung zu, da sie die gezielte Manipulation auf molekularer und atomarer Ebene möglich machen soll. In einer Radikalisierung des physikalistischen Reduktionismus des 19. Jahrhunderts sollen die Sphären des Lebendigen und des Sozialen von der atomaren Basis her erklärt und technisch manipulierbar gemacht werden:

Orientierungsbedarf, Zukunftswissen und Naturalismus

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»Science can now understand the ways in which atoms form complex molecules, and these in turn aggregate according to common fundamental principles to form both organic and inorganic structures. … The same principles will allow us to understand and when desirable to control the behaviour both of complex microsystems … and macrosystems such as human metabolism and transportation vehicles« (Roco/Bainbridge 2002, S. 2).

Wenn dieses Programm umgesetzt werden könnte, würde, so die Überzeugung der Promotoren, auch der kategoriale Unterschied zwischen dem Lebenden und dem Nicht-Lebenden verschwinden, jedenfalls relativ zu der Manipulierbarkeit von Materie auf der atomaren Ebene.2 Die konvergierenden Technologien bieten nach Roco/Bainbridge (2002) weit reichende Perspektiven, den menschlichen Körper und Geist als gestaltbar anzusehen und ihn gezielt durch technische Maßnahmen zu »verbessern«. Die Maßnahmen, die genannt werden, beziehen sich vor allem auf Leistungen des Menschen, die technomorph verstanden werden können, so dass sich die Frage nach den Kriterien des Verbesserns in eine Frage quantitativer technischer Leistungsfähigkeit auflösen lässt. Hierzu gehören vor allem:3 – die Erweiterung der sensorischen Fähigkeiten des Menschen: die Fähigkeiten des menschlichen Auges könnten erweitert werden, z. B. im Hinblick auf die Sehschärfe (›Adlerauge‹) oder im Hinblick auf eine Nachtsichtfähigkeit durch die Erweiterung des erfassbaren elektromagnetischen Spektrums in Richtung auf das Infrarot; andere Sinnesorgane wie das Ohr könnten analog verbessert werden. Maß der Verbesserung ist hier die Erweiterung der Perzeptionsfähigkeit des menschlichen Sensorapparats. – die Erweiterung von Gehirnfunktionen durch technische Hilfe: Es könnte die Speicherkapazität des Gehirns verbessert und dem Vergessen von Informationen durch technische Redundanz vorgebeugt werden. Auch die Informationsverarbeitungskapazität des Gehirns könnte zum Gegenstand von Überlegungen des Verbesserns werden. Die Kriterien des Verbesserns wären hier durch Begriffe der Informationstechnik zu erfassen: Speicher- und Rechenkapazität.4 – Verlangsamung des Alterns: Wenn es gelänge, jegliche Formen der Degradation auf zellulärer Ebene im menschlichen Körper sofort zu entdecken und zu reparieren, könnte das Altern erheblich verlangsamt oder sogar ab2

Zur Kritik einschlägiger naturalistischer und reduktionistischer Überzeugungen in diesem Feld vgl. Janich (2006). 3 Demgegenüber werden andere Fähigkeiten des Menschen wie soziale, empathische, hermeneutische und diskursive Fähigkeiten oder die moralische Urteilskraft nur gelegentlich in den Begleittexten als Objekte einer möglichen Verbesserung erwähnt. 4 Vgl. Janich (1996b/1998) für eine Kritik an informationstechnisch-kybernetischen Modellierungen des Menschen und entsprechenden Begrifflichkeiten.

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Armin Grunwald

geschafft werden. Die »Verbesserung« würde sich hier auf eine deutliche Erweiterung der menschlichen Lebensspanne erstrecken. Die Fähigkeiten, die dem Menschen im Laufe der Evolution zugewachsen sind und die bislang, genauso wie die Grenzen dieser Fähigkeiten, als kaum beeinflussbar galten, würden durch »technische Verbesserung« in gestaltbare Eigenschaften transformiert, ganz in der Tradition des technischen Fortschritts, der zu jeder Zeit Zustände und Entwicklungen, die bis dato als vorgegeben, als unverfügbares Schicksal angesehen wurden, in beeinflussbare, manipulierbare und gestaltbare Zustände und Entwicklungen überführte. Damit findet eine weitere Erhöhung der Kontingenz statt: eine Ausdehnung dessen, was entscheidbar ist, und eine Zurückdrängung dessen, was aus der Tradition oder der Evolution unhinterfragt hingenommen werden muss (Grunwald 2007a). Diese Kontingenzerhöhung ist einerseits emanzipatorisch eine Befreiung von den Zwängen der Natur (was z. B. das Altern oder das sensorische Vermögen des Menschen betrifft). Sie könnte zu einer »Kulturalisierung« bislang naturaler Elemente des Menschen führen. Traditionelle Evidenzen wie die, dass Menschen bei Dunkelheit nicht sehen können, dass Menschen nicht über eine Radarfähigkeit verfügen wie Fledermäuse, dass Schnittstellen zur Technik (z. B. zu einem Computer) nur über recht komplexe Vorgänge unter Einsatz von Kulturtechniken wie des Schreibens oder durch das Bedienen von Tastaturen realisiert werden können, oder dass das menschliche Leben eine recht begrenzte Dauer hat, werden fraglich. Das »naturalistische« Argument, dass Menschen physiologisch so sind, wie sie durch die Evolution geworden sind, und daher auch so sein sollen, gilt nicht länger.5 Solange dabei nur einwilligungsfähige Personen nach erfolgter Information über Risiken und einem entsprechenden Einverständnis einer technischen Verbesserung unterzogen würden, bestünde, anders als im Falle gentechnischer Beeinflussung zukünftiger Menschen in der embryonalen Phase oder in der Keimbahn, keine Gefahr, dass diese »technisch verbesserten« Menschen nicht mehr in vollem Sinne Autoren ihrer Biografie wären (Habermas 2001). Im Gegenteil würden sie, jedenfalls nach Meinung der Promotoren der »Converging Technologies«, Autonomie gewinnen, indem sie sich nach ihren Intentionen von naturalen Vorgegebenheiten lösen könnten. Andererseits stellt diese »technische Verbesserung« des Menschen traditionelle Selbstverständlichkeiten in Frage: der Mensch mit den bislang als selbst-

5

Um es korrekter zu sagen: die naturalistische Argumentation hat nie »gegolten« (Hartmann/Janich 1996). Aus der Tatsache, dass wir uns als Menschen vorfinden, z. B. mit Augen, die nur in einem bestimmten Teil des elektromagnetischen Spektrums arbeiten, folgt normativ nichts unmittelbar. In Bezug auf die physische Ausstattung des Menschen hat es jedoch bislang keinen Anlass gegeben, derartige Fragen überhaupt aufzuwerfen.

Orientierungsbedarf, Zukunftswissen und Naturalismus

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verständlich anerkannten physischen und mentalen Fähigkeiten und Grenzen, würde zum Gegenstand technischer Manipulation »verflüssigt«. In Bezug auf die »Zukunft der Natur des Menschen« (Habermas 2001) stehen damit neue Entscheidungsmöglichkeiten im Raum, zu denen sich »die Gesellschaft« eine Meinung nicht nur bilden darf, sondern auch bilden muss. Beispiele sind die Fragen: – Wo liegen ethische Aspekte des Verbesserns, wie können mögliche Grenzziehungen begründet werden und wie belastbar sind diese Grenzen in argumentativer Hinsicht? – Welche Risiken für die betroffenen Individuen sind zu beachten und wie kann ein Missbrauch von Verbesserungstechnologien vorbeugend verhindert werden? – Welche Folgen hat eine technische Verbesserung des Menschen unter Aspekten der Verteilungsgerechtigkeit (Siep 2005), z. B. für eine vertiefte Spaltung der Gesellschaft? – Werden durch akzeptierte Optionen des Verbesserns bislang akzeptierte und praktizierte Lebensformen (z. B. das Leben als behinderte Personen) abgewertet oder unmöglich gemacht (Wolbring 2005)? – Sollen öffentliche Forschungsgelder bereitgestellt werden, um Angebote des Verbesserns wissenschaftlich zu entwickeln und in die Praxis zu überführen? Insbesondere sind Folgen für das Selbstverständnis der Medizin zu erwarten. Auch angesichts der bekannten Schwierigkeiten, eine klare Grenze zwischen »gesund« und »krank« zu ziehen (z. B. Gethmann 2004), so besteht doch ein kategorialer Unterschied zwischen Heilen und Verbessern. Denn das Heilen ist an der regulativen Idee eines gesunden Menschen orientiert. Was dies konkret bedeutet, ist sicher im Laufe der historischen Entwicklung kulturell verschieden beantwortet worden, jedoch kontextuell zumeist hinreichend klar. Die Augenärztin, die ihren Patienten einem Sehtest unterzieht, hat ein Verständnis davon, was das »gesunde« menschliche Auge zu leisten in der Lage ist. Sie wird erst bei Abweichungen davon und erst ab einer gewissen Größenordnung dieser Abweichung technische Verbesserungen vorschlagen (z. B. eine Brille). Das Ziel dieser Maßnahme ist die Erreichung des Normal- oder Idealzustands. Die Konstellation, dass ein angenommener Normal- oder Idealzustand als normatives Beurteilungskriterium zur Erkennung von Abweichungen und zur Diagnose von Eingriffsnotwendigkeiten besteht, ist im traditionellen ärztlichen Handeln nicht wegzudenken. Diese für das ärztliche heilende Handeln zentrale Denkfigur würde angesichts der möglichen technischen Verbesserung des Menschen weg brechen. Wenn Körper und Geist technisch gestaltbar würden, stünde die Frage im Raum, wie weit Menschen bei der (Um-)Gestaltung des menschlichen Körpers

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Armin Grunwald

zum Zweck seiner Verbesserung gehen dürfen, sollen oder wollen. Zögernde oder ablehnende Stellungnahmen beziehen sich zu großen Teilen auf die Folgen einer technischen Verbesserung – Folgen, die wie die Befürchtungen einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft (Siep 2005) hypothetisch sind. Argumente, die mit dem Erhalt der Bedingung der Moralität operieren (Habermas 2001), sind hier nicht anwendbar, da ein »informed consent« mit den zu verbessernden Menschen hergestellt werden kann. Es erscheint daher zurzeit nicht unwahrscheinlich, dass die gesellschaftliche Einbettung von Verbesserungstechniken, insofern sie faktisch verfügbar wären, nach dem Marktmodell erfolgen könnte. Seitens der Wissenschaften würde ein Katalog von Angeboten technischer Verbesserungen entwickelt und auf einem »Markt« angeboten. Eine Nachfrage ist leicht vorstellbar, wie es zurzeit auch in der ökonomisch sehr erfolgreichen und weiter expandierenden Schönheitschirurgie der Fall ist. Das öffentliche Interesse würde sich in diesem Szenario darauf beschränken, Risiken, Nebenwirkungen und weitere Folgen wie die erwähnte Problematik der Verteilungsgerechtigkeit zu beobachten und im Falle eines »Marktversagens« einzugreifen. Dieses Szenario mag für viele in kultureller, anthropologischer oder ethischer Hinsicht wenig attraktiv oder gar skandalös erscheinen. Vielfach wird möglichen technischen Verbesserungen des Menschen mit erheblichem Unbehagen begegnet. Dieses »Unbehagen« stellt, für sich genommen, jedoch noch kein ethisches Argument gegen eine technische Verbesserung des Menschen dar. Es bleibt eine offene Aufgabe der Ethik, diesem Unbehagen nachzuspüren und mögliche normativ gehaltvolle und argumentativ belastbare Hintergründe aufzudecken. Auf der anderen Seite wird die gegenteilige Position eines »Transhumanismus« vertreten, nach dem geschichtsphilosophisch die Aufgabe der Menschheit darin bestünde, sich selbst in eine technische Zivilisation zu überführen und dadurch »aufzuheben« (Coenen 2006). Diese Position liefert jedoch prima facie ebenfalls kein belastbares Argument zur Behebung des Orientierungsproblems, sondern stellt einen weltanschaulich motivierten Ansatz dar. Hier verbleibt also noch ein erheblicher Bedarf, in den verschiedenen und teils konträren Haltungen zur »technischen Verbesserung« des Menschen mögliche jeweils universalisierbare Anteile von den Anteilen eher privater Weltanschauung zu trennen. Es ist aber auch zu fragen, ob und in welchen Punkten gegenwärtig überhaupt ein Orientierungsproblem besteht. Die »technische Verbesserung« in den oben genannten Feldern ist keineswegs bereits auf dem Sprung in die Lebenswelt, sondern befindet sich noch tief im Labor. Vielfach ist die technische Machbarkeit nicht erwiesen oder kontrovers. Belastbares Wissen über Folgen und Nebenfolgen »technischer Verbesserungen« liegt nicht vor. In dieser Si-

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tuation könnte geschlossen werden, dass ein Orientierungsbedarf gar nicht besteht. Ethische Reflexion und Debatten über Technikfolgen könnten in diesem Feld unter eine grundsätzliche Irrelevanzvermutung gestellt werden, wie etwa, durchaus mit einer gewissen Berechtigung, diejenigen ethischen Reflexionen, die sich damit befassen, welche gesellschaftliche Folgen eintreten würden, wenn die menschliche Lebenserwartung 5.000 oder 50.000 Jahre betragen würde und wie diese Folgen beurteilt werden können (Moor/Weckert 2004). Mögen derartige Irrelevanzvermutungen in Einzelfällen berechtigt sein, geht jedoch der generelle Schluss in die Irre. Denn ein Verzicht auf Folgenüberlegungen und ethische Reflexion würde in vielen Fällen gegenwärtige Gestaltungsmöglichkeiten vergeben. Vor allem geht es dabei um die Forschungsförderung, die wichtig für die Themensetzung und die Prioritäten der Wissenschaften ist. Dadurch beeinflusst Forschungsförderung heute die verfügbaren wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten in der Zukunft und hat damit entscheidenden Einfluss auf die zukünftigen Gegenwarten. Weit vor dem Markteintritt möglicher Angebote der »technischen Verbesserung« des Menschen bestehen Gestaltungsmöglichkeiten, durch Forschungsförderung bestimmte Richtungen zu bevorzugen und andere zu benachteiligen. Das Orientierungsproblem heute besteht also keineswegs darin, ob eine »technische Verbesserung« des Menschen z. B. durch künstliche und in der Rezeptionsfähigkeit erweiterte Augen erlaubt werden soll, sondern erstens in der Orientierung heutiger Forschungspolitik. Zweitens geht es um die Sensibilisierung der Gesellschaft für Fragen dieses Typs, auch in Auseinandersetzung mit weltanschaulichen Strömungen wie dem Transhumanismus (Coenen 2006). Dies könnte auch Folgen für Bereiche haben, in denen »technische Verbesserungen« bereits etabliert sind wie in der Schönheitschirurgie, im Konsum von Leistung verstärkenden Drogen oder beim Doping im Sport. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist auch erkennbar, dass technische Verbesserungen in manchen Bereichen bereits zur gesellschaftlichen Praxis gehören und durchaus einer Reflexion hinsichtlich der »Zukunft der Natur des Menschen« zu bedürfen scheinen. Dies könnte drittens auch zu einem besser reflektierten Umgang mit bestimmten gegenwärtigen Praktiken beitragen.

3) Orientierung durch Zukunftskommunikation? Also besteht, auch wenn es nicht bereits darum geht, bestimmte Formen der »technischen Verbesserung« des Menschen zu regulieren oder Informierung und Orientierung auf einem Markt technischer Verbesserungsmöglichkeiten anzubieten, durchaus bereits heute ein Orientierungsbedarf angesichts der durch Diskussionen der genannten Art aufgeworfenen neuen Fragen bzw. auf-

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gelösten bisherigen Selbstverständlichkeiten. Orientierungsangebote in Fragen der Forschungspolitik, der Bildung und der gesellschaftlichen Debatte operieren mit erhofften oder befürchteten Zukünften.6 Hoffnungen, Versprechungen, Visionen, aber auch Befürchtungen und Sorgen prägen diese Debatten, teils operationalisiert in Szenarien zukünftiger Entwicklung. Es geht also, wenn auf diese Weise Orientierung geschaffen werden soll, darum, Zukunftskommunikation zur Gewinnung von Orientierungen für heute einzusetzen (Luhmann 1992, 1997). Die Rede vom Vorsorgeprinzip (Harremoes et al. 2002), von der Risikogesellschaft (Beck 1986), von reflexiver Modernisierung (Beck 2004), von nachhaltiger Entwicklung (Grunwald/Kopfmüller 2006) oder, wie in diesem Beitrag, von der technischen Verbesserung des Menschen, sind Beispiele für diesen Typus einer »Umwegargumentation« zur Schaffung von Orientierung: ausgehend von gegenwärtigen Orientierungsproblemen wird auf dem Umweg über Zukunftsdebatten Orientierung für heute gesucht. Eine wesentliche These dieses Beitrags ist, dass diese »Umwegargumentation« jedoch keineswegs wie von selbst auf neue Formen gesellschaftlicher Orientierung führt. Denn Zukunftserwartungen und -befürchtungen sind häufig selbst umstritten (Brown et al. 2000), zeigen tief gehende Ambivalenzen (Grunwald 2006b) und sind oft Ausdruck der Konflikte einer pluralistischen Gesellschaft (z. B. im Feld der nachhaltigen Entwicklung, vgl. Grunwald/Kopfmüller 2006). Wenn vor diesem Hintergrund die Kommunikation über Zukünfte zur Schaffung von Orientierung beitragen soll, kann dies nur unter starken Voraussetzungen erfolgreich sein. Um diesen Voraussetzungen nachzuspüren, seien im Folgenden einige der Funktionen der Zukunftskommunikation näher betrachtet, wie sie die Debatte um die »technische Verbesserung« des Menschen prägt (Grunwald 2007a): (1) Katalysatorfunktion: Bisherige unhinterfragte Selbstverständlichkeiten (z. B. die Fähigkeiten eines gesunden menschlichen Auges und seine Grenzen) werden bereits dadurch aufgelöst, dass über zukünftige technische Verbesserungsmöglichkeiten gesellschaftsweit geredet wird. Durch die Zukunftskommunikation als solche geraten mögliche Alternativen und damit potentiell neue Wahlmöglichkeiten in den Blick. Traditionelle Selbstverständlichkeiten und Grenzen werden aufgelöst und Kontingenzen geschaffen, ohne dass die technischen Möglichkeiten dafür schon vorhanden sein müssten. Zukunftskommunikation wirkt als Katalysator der Kontingenzsteigerung. 6

Der Bezug auf Vergangenheit und Traditionen wird dadurch nicht obsolet, denn selbstverständlich erfolgt die Debatte über Zukünftiges auf der Basis von Vergangenem (Grin/Grunwald 2000). Neu in der Moderne ist der »Umweg« über Zukunftsvorstellungen: Traditionen können nicht mehr direkt in Handlungsanweisungen für heute umgesetzt werden, sondern bedürfen der Vermittlung durch Zukunftsdebatten.

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(2) Indikatorfunktion: In der vermehrten Nutzung von Zukunftsbezügen in gesellschaftlichen Debatten zeigt sich deutlich das Aufbrechen traditioneller Überzeugungen und scheinbarer Gewissheiten sowie das Aufkommen neuer Fragen wie z. B. nach der Natürlichkeit oder der Gestaltbarkeit des menschlichen Körpers und Geistes. Zukunftskommunikation ist auch ein Indikator für die Kontingenzsteigerung. Daher ist hier ein Ansatzpunkt, durch Analyse und Deutung etwas über stattfindende Kontingenzsteigerungen zu erfahren. Empirisch-sozialwissenschaftliche Verfahren sowie philosophische Rekonstruktion sind geeignete Mittel (Mittelstrass 1992). (3) Orientierungsfunktion: Während Katalysator- und Indikatorfunktionen empirisch-beschreibend nachvollzogen werden können, ist die Funktion der Orientierungsleistung normativ gemeint. Wenn es gelänge, durch eine gesellschaftliche Verständigung über angestrebte, gewünschte oder zu verhindernde Zukünfte Orientierung in anstehenden Entscheidungen zu schaffen, dann wäre die Situation gesteigerter Kontingenz konstruktiv bewältigt – die gesteigerte Kontingenz wäre »reduziert« durch neue Grenzen des Handelns oder vereinbarte Zielsetzungen für das weitere Handeln. Dies ist jedoch eine Erwartung, genährt durch gesellschaftstheoretische Überlegungen (Luhmann 1997). An dieser Stelle kommt es zu einem folgenschweren Dilemma. Im Medium der Zukunftskommunikation vollzieht sich simultan die Auflösung vorhandener Orientierungen (Katalysatorfunktion), während normativ die Schaffung neuer Orientierung (Orientierungsfunktion) erwartet wird. Beispielsweise können die Visionen von Drexler (1986) und Roco/Bainbridge (2002) einerseits als Auflösung traditioneller Selbstverständlichkeiten gelesen werden, indem die menschliche Leistungsfähigkeit zu einem Objekt technischer Verbesserung gemacht wird, andererseits aber auch als klares Angebot, was – jedenfalls nach Meinung dieser Autoren – an die Stelle der traditionellen Orientierungen treten sollte. Dies geschieht aber nicht ohne Widerspruch (für die konträren Positionen zur Nanotechnologie vgl. Grunwald 2006a), denn Auseinandersetzungen um gewünschte oder befürchtete Zukünfte sind Spiegelbild der gesellschaftlichen Konflikte (Brown et al. 2000) und nicht Arenen des schnellen Konsenses. Das zentrale Dilemma der Zukunftskommunikation besteht darin, dass, in der Absicht, neue Orientierung zu schaffen, traditionelle Orientierung zersetzt und Kontingenz gesteigert wird. Zukunftsdebatten, eingesetzt zur Rückgewinnung von Orientierung, verstärken (wenigstens prima facie) die Desorientierung. Angesichts dieser Situation ist es erforderlich, einen Schritt zurück zu treten und die argumentative Konstellation reflexiv zu vergegenwärtigen. Mit Zukunftsaussagen in gesellschaftlichen Debatten wie um eine »technische Verbesserung« des Menschen werden praktische Ansprüche verbunden: aus den jeweiligen Zukunftsprojektionen soll etwas für heutige Entscheidungen

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folgen, z. B. im Hinblick auf Forschungs- oder Technologieförderung, die wissenschaftliche Agenda oder die öffentliche Wahrnehmung. Politik, Gesellschaft und Wissenschaft sollen auf Basis dieser Projektionen sich eine Meinung bilden und ggf. Entscheidungen treffen, sind dabei jedoch mit konkurrierenden und teils unvereinbaren Zukunftsvorstellungen konfrontiert.7 Daher müssen Beurteilungen vorgenommen werden, welche Zukunftsaussagen im jeweiligen Kontext als relevant, adäquat und belastbar angesehen werden. In einer gesellschaftlichen Situation, in der keine Autorität wie das Orakel von Delphi in der antiken Welt diese Entscheidungen treffen kann, ist hier der offene gesellschaftliche Dialog gefragt, informiert und beraten durch die Wissenschaft. Und hierfür bedarf es – jedenfalls insofern die Schaffung von Orientierung unter der Maßgabe argumentativer Rationalität erfolgen und nicht dem gesellschaftlichen Spiel der Kräfte, medialer Macht oder tagespolitischen Erwägungen überlassen werden soll – transparenter und nachvollziehbarer Kriterien und Verfahren der argumentativen Abwägung und Entscheidung zwischen verschiedenen Zukunftserwartungen, Befürchtungen, Hoffnungen, Szenarien, Visionen oder Projektionen. Die Demokratie – innerhalb derer legitimiert über konkurrierende Zukünfte und Konsequenzen für die Gegenwart letztlich entschieden wird – benötigt eine rationale Aufarbeitung der epistemischen und normativen Aspekte der Zukunftsbilder als Basis für eine offene deliberative Auseinandersetzung. Es stellt sich die Frage, welchen Zukunftsaussagen unter welchen Kriterien und mit welchen Gründen besser ›zu trauen‹ ist. Was sollte hier aber ›besser‹ oder ›schlechter‹ oder mehr oder weniger belastbar heißen? Haben Zukunftsaussagen überhaupt eine ›Geltung‹, so dass man verschiedene Zukunftsaussagen hinsichtlich ihrer Geltung abwägen könnte? Kann man von einer ›argumentativen Qualität‹ oder Belastbarkeit von Zukunftsaussagen sprechen und in welchem Sinne wäre dies zu verstehen? Wie können Qualität und Geltung von Zukunftsaussagen ›gemessen‹ werden? Hier ist der Ort, an dem eine erkenntnistheoretische Reflexion gefragt ist. Aufgabe der Philosophie ist es, für ein entsprechendes Instrumentarium die begrifflichen und methodischen Grundlagen bereitzustellen.

4) Geltungsansprüche prädiktiver Sätze Über die Geltung von Aussagen und die Berechtigung von Aufforderungen wird diskursiv entschieden (z. B. Gethmann 1979, 1982; Habermas 1988). Der Diskurs, der zwischen Opponenten und Proponenten unter Einhaltung von 7

Teils schwanken diese zwischen Paradieserwartungen und apokalyptischen Befürchtungen, was das Orientierungsproblem auf die Spitze treibt (Grunwald 2006b).

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Diskursregeln erfolgt, ist das Verfahren, in dem auch zwischen konkurrierenden Zukünften entschieden werden müsste. Insofern einem Diskurs Fragen der Zukunft – in der Form prädiktiver Sätze, seine dies Behauptungen oder Aufforderungen – überantwortet werden, bedarf es hierzu einiger Vorüberlegungen.

4.1 Die Immanenz der Gegenwart Zukunft besteht nur als sprachlich formulierte Zukunft. Wir machen futurische Aussagen, Prognosen, simulieren zeitliche Entwicklungen, formulieren Erwartungen und Befürchtungen, setzen Ziele und denken über Pläne zu ihrer Realisierung nach. Dies alles geschieht im Medium der Sprache. Zukunft ist nicht anders als sprachlich erfassbar (Kamlah 1973). Weder lebensweltlich noch wissenschaftlich haben wir einen außersprachlichen Zugriff auf die Zukunft, da niemand zukünftige Gegenwarten beobachten kann. Daher kommt der Art und Weise unseres Redens über Zukunft eine entscheidende Bedeutung zu.8 Der Begriff der Zukunft gehört zu den scheinbaren Selbstverständlichkeiten der Sprache, sowohl in der Lebenswelt als auch in den Wissenschaften. Zumeist reden wir über Zukunft in dem Sinne der zukünftigen Gegenwart, d. h. wie über einen Zustand, der dem Erleben der Gegenwart entspricht, der allerdings mit einem anderen Zeitindex versehen ist (zur Unterscheidung zukünftiger Gegenwarten und gegenwärtiger Zukünfte Picht 1971; Bechmann 1994). In dieser Redeweise versetzen wir uns wie in einem Gedankenexperiment in die Perspektive eines Teilnehmers jener ›zukünftigen Gegenwart‹. Wenn wir über Urlaubspläne, den Wetterbericht, die Aussichten für das Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr oder den demografischen Wandel reden, jeweils denken wir dabei zumeist an derartige zukünftige Gegenwarten. Auch die Wissenschaften, zu deren Programm Zukunftsaussagen gehören wie die Volkswirtschaftslehre, formulieren zumeist Aspekte zukünftiger Gegenwarten, über die man heute schon etwas wissen könne. Es scheint kein Verständnisproblem zum Begriff ›Zukunft‹ zu geben. Diese Sicherheit ist jedoch trügerisch. Denn Zukunft ist nicht die oder eine mögliche zukünftige Gegenwart. Zukunft ist hingegen, aufgrund des unlösbaren Bezuges auf die sprachlichen Mittel, mit denen wir über Zukunft reden, immer das, von dem in der Sprache, also jeweils »heute«, erwartet wird, dass es sich ereignen wird oder kann. Zukunft als Reflexionsbegriff über »Mögliches« ist damit etwas je Gegenwärtiges 8

Diese Überlegungen sind detaillierter nachzulesen bei Grunwald (2000), Kap. 3.3.3, Grunwald/Langenbach (1999) und Grunwald (2006a).

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und verändert sich mit den Veränderungen der Gegenwart. Daher können wir über mögliche Zukünfte reden, über alternative Möglichkeiten, wie wir uns die zukünftige Gegenwart vorstellen, und darüber, mit welcher Berechtigung wir etwas in der Zukunft erwarten dürfen, nicht aber über zukünftige Gegenwarten »als solche«. Zugänglich sind nur gegenwärtige Zukünfte (Picht 1971; Bechmann 1994). Die Gegenwartsfundierung von Zukunftsaussagen ist durch keinen Kunstgriff abzustreifen. Auch der Prognostiker kann nicht aus der Gegenwart ausbrechen, sondern ist grundsätzlich auf gegenwärtiges Wissen und gegenwärtige Relevanzeinschätzungen angewiesen (Grunwald 2000, Kap. 3.3.3). Das Vorliegen zukünftiger Sachverhalte oder Verläufe lässt sich aus gegenwärtigem Wissen nicht logisch ableiten (Goodman 1988). Was mit Geltung gesagt werden kann, sind nicht Behauptungen über das Eintreffen, sondern nur die Erwartbarkeit des Eintreffens zukünftiger Sachverhalte oder Verläufe auf der Basis des gegenwärtigen Wissens und gegenwärtiger Relevanzeinschätzungen (Lorenzen 1987; Kapp 1978). Geltung kann prädiktiven Aussagen9 nur zukommen, wenn man sie auf gegenwärtige Zukünfte bezieht, nicht aber, wenn zukünftige Gegenwarten angenommen werden. Die Immanenz der Sprache ist auch eine Immanenz der Gegenwart (Grunwald 2006a). In vielen Situationen des Alltags ist die Differenz zwischen gegenwärtigen Zukünften und zukünftigen Gegenwarten weitgehend irrelevant und führt dazu, dass die erwähnte scheinbare Sicherheit in der Verwendung des Zukunftsbegriffs in der Regel nicht auffällt. Dies ist jedoch anders im Falle weit reichender gesellschaftlicher Zukunftsdebatten.

4.2 Zukunftswissen und Geltungsfragen Die ›Geltung‹ von prädiktiven Aussagen bemisst sich nach den obigen Ausführungen ausschließlich nach Kriterien der Gegenwart, nicht nach einem späteren Zutreffen oder Nichtzutreffen, denn Wissen darüber ist in der jeweiligen Gegenwart, in der die Geltung beurteilt wird, prinzipiell nicht verfügbar. Diese Erkenntnis findet sich in der Auffassung von Prognosen als »begründeten Erwartbarkeiten« (Lorenzen 1987) – die Gründe, damit wir »mit Recht« etwas für die Zukunft erwarten können, sind immer je gegenwärtige Gründe. Prädiktive Aussagen sagen nichts über die Zukunft als eine zukünftige Gegenwart 9

Von prädikativen Aussagen werde gesprochen, wenn es sich um Aussagen im futurischen Modus handelt, unabhängig von ihren möglichen Begründungen, während prognostische Aussagen solche prädiktiven Aussagen sind, denen eine explizite Begründung zugrunde liegt.

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aus, sondern kombinieren gegenwärtige Wissensbestände und Relevanzentscheidungen in einer spezifischen Weise. Es gibt daher keine Möglichkeit, mit Geltung »in die Zukunft zu blicken«. Zukunftsvorstellungen sind opake begriffliche Konstrukte aus Wissensbestandteilen, ad hoc Annahmen, Relevanzen, ceteris-paribus-Bedingungen etc. Nicht durch Wissen gestützte Anteile werden durch Annahmen und normative Bedingungen »ergänzt« oder kompensiert. Aussagen über Zukunftsvorstellungen stellen daher nicht beschreibendes Wissen dar, auch wenn sie beschreibende Anteile enthalten, sondern haben immer auch normative Anteile. In der Analyse, welche Geltung prädiktiven Aussagen zukommen kann und wie diese bestimmt wird, müssen Proponenten einer derartigen Aussage mit ihren eigenen Ansprüchen und den Argumenten der Opponenten konfrontiert werden (Gethmann 1979; Habermas 1988). Dazu muss eine Abstufung der Wissensbestandteile, die in die jeweilige Zukunftsaussage eingeflossen sind, und der jeweiligen Prämissen nach Geltungsaspekten vorgenommen werden. Die Geltung von Zukunftsaussagen ist an der Geltung des in ihnen enthaltenen (gegenwärtigen) Wissens sowie an der »Komposition« dieses Wissens zu einem »Zukunftsbild« (z. B. Szenario) zu bemessen. Hier kann in einer groben Annäherung zunächst folgende Abstufung vorgenommen werden: – gegenwärtiges Wissen, das nach anerkannten (z. B. disziplinären) Kriterien als Wissen erwiesen ist (Geologie, Wirtschaftswissenschaften, Technikwissenschaften, ……); – Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen, die kein gegenwärtiges Wissen darstellen, sich aber durch gegenwärtiges Wissen begründen lassen (z. B. demografischer Wandel, Energiebedarf …); – ceteris-paribus Bedingungen, indem bestimmte Kontinuitäten, ein »business as usual« in bestimmten Hinsichten oder die Abwesenheit disruptiver Veränderungen als Rahmen für die prädizierten Entwicklungen angenommen wird; – ad-hoc Annahmen, die nicht durch Wissen begründet sind, sondern die »gesetzt« werden (wie z. B. die auch zukünftige Gültigkeit des deutschen Kernenergieausstiegs, das Nichteintreten eines katastrophalen Kometeneinschlags auf der Erde …) Für den Vergleich von Zukunftsaussagen unter Geltungsaspekten ist demnach die Qualität des enthaltenen Wissens, der Einschätzungen und der ad-hoc- und der ceteris-paribus-Annahmen und ihrer Zusammenstellung zu hinterfragen, genauso wie die diskursive Haltbarkeit der oben genannten Relevanzentscheidungen. Die Geltung von Zukunftsaussagen bemisst sich an ihrer ›argumentativen Härte‹ in der Immanenz des Gegenwartsdiskurses. Geltungsbeurteilungen dürfen nicht die verschiedenen Zukünfte direkt vergleichen, sondern müssen sich mit den zugrunde liegenden Prämissen und Wissensbestandteilen

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befassen. Die Voraussetzungen, die zu prädiktiven Aussagen führen, sozusagen die Antezedentia in Wenn/Dann-Ketten, sind in Geltungsfragen entscheidend. Diese enthalten die Voraussetzungen der Wissenshintergründe, der Extrapolationen, der ad-hoc-Annahmen etc. Eine diskursive Prozedur der Geltungsprüfung besteht wesentlich in der Aufdeckung und Prüfung der AntezedensBedingungen. Alles andere wäre keine rationale Prüfung konkurrierender Zukunftsentwürfe, sondern ein vormodernes Vertrauen auf Prophezeiungen. Diese Feststellung hat weit reichende Konsequenzen. Wer Geltung beanspruchend über zukünftige Entwicklungen redet, muss – soweit wie vom Opponenten gefordert, denn eine Vollständigkeit ist grundsätzlich nicht erreichbar – die Antezedentia angeben, die als Bedingungen für eine transsubjektiv begründbare Zukunftsaussage angenommen werden müssen. Ein Diskurs um Geltungsfragen von Zukunftsaussagen wird dadurch zu einem Diskurs über die – jeweils gegenwärtig gemachten – Voraussetzungen, die zu der Zukunftsaussage geführt haben. Ein Streit über die »Geltung« von Zukunftsaussagen in der Immanenz der Gegenwart bezieht sich daher nicht auf die vorausgesagten Ereignisse in einer zukünftigen Gegenwart, sondern auf die Gründe, die auf der Basis gegenwärtigen Wissens und gegenwärtiger Relevanzbeurteilungen in Anschlag gebracht werden können.10

4.3 Die Immanenz der Gegenwart im Fall ethischer Aussagen über Zukünftiges Insofern in normativ weit reichenden Fragen wie der »technischen Verbesserung« des Menschen Beurteilungen vorgenommen werden, erfolgen sie einerseits auf der Basis von prädiktiven Aussagen (z. B. über die Verfügbarkeit von Wissen über erwartbare oder mögliche Folgen), die den oben genannten Geltungsfragen von Zukunftswissen unterliegen. Andererseits bedürfen Beurteilungen aber auch normativer und ethisch zu rechtfertigender Kriterien. Die für diesen Beitrag relevante methodische Frage liegt darin, dass keineswegs klar ist, ob und inwieweit die Beurteilung von Zukünftigem gerechtfertigter Weise auf Basis der gegenwärtig verfügbaren Basis normativer Standards erfolgen kann. Beurteilungen von Zukunftsoptionen unter ethischen Standards sind nur dann kein Problem, wenn universalistische – und damit zeitlos gültige – ethische Argumentationsformen als normative Basis verwendet werden. Universalistische Ethik ist jedoch nach dem gegenwärtigen Stand der ethischen Debatte entweder nicht begründbar oder kann nur zu derart abstrakten Prinzipien führen, dass ihre Kontextualisierung nicht in einer einfachen Anwendung bestünde, 10

An dieser Stelle besteht der »entry point« für naturalistische Argumentationsmuster (vgl. Kap. 5).

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sondern selbst normative Investitionen erfordern würde – wodurch das Problem der zeitübergreifenden Geltung sofort wieder akut wäre. Auf der anderen Seite könnte dem Ideal einer Zeitlosigkeit ethischer Prinzipien die Diagnose einer völligen Nicht-Übertragbarkeit ethischer Argumente über die Zeit hinweg entgegen gestellt werden. Extrem kulturrelative Positionen könnten behaupten, dass zukünftige Generationen ihre eigene Normativität ausprägen werden und wir diese nicht antizipieren können. Eine derartige radikale »Immanenz der Gegenwart« würde dazu führen, dass unsere normativen Orientierungen nicht auf die Zukunft ausgedehnt werden können, außer um den Preis einer Missachtung der moralischen Autonomie zukünftiger Generationen. Diese Position erscheint, zumindest in ihrer radikalen Ausprägung, jedoch kontra-intuitiv. Historisch lässt sich durchaus festhalten, dass bestimmte ethische Standards durch kulturellen Wandel hindurch Bestand haben. Da dies jedoch keineswegs für alle normativen Standards gilt, ist die Frage nach den Kriterien zu beantworten, unter welchen in einer kontroversen Zukunftsdebatte entschieden werden könnte, welche normativen Sätze zeitübergreifende Geltung beanspruchen können und welche nicht, und unter welchen Voraussetzungen diese Unterscheidung getroffen werden kann. Umgehbar ist dieses Problem nicht, auch nicht durch Bezug darauf, dass sich das Orientierungsproblem, zu dessen Bewältigung auch ethische Reflexion beitragen soll, gar nicht auf die Zukunft bezieht, sondern auf die heutige Meinungsbildung und die Orientierung heutiger Entscheidungen, z. B. der Forschungsförderung. Denn die genannte Notwendigkeit einer »Umwegargumentation« über die Zukunft, z. B. dadurch, dass mit hypothetischem Folgenwissen operiert wird, bedarf der antizipierenden normativen Beurteilung. Wenn es um mögliche Probleme der »technischen Verbesserung« des Menschen in Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit oder eine gesellschaftliche Spaltung in verbesserte und nicht verbesserte Menschen (Siep 2005) geht, steht nicht zur Diskussion, wie wir gegenwärtig »für uns« diese Fragen normativ beurteilen, sondern es geht darum, wie wir – sicher in der Immanenz der Gegenwart – mit guten Gründen annehmen, dass die zukünftig möglicherweise Betroffenen mit dieser Frage umgehen, um von dem Ergebnis dieser Betrachtung retrodiktiv zurück zu schließen auf heutige Fragen z. B. in der Forschungsförderung. So ist beispielsweise in der Debatte um reproduktives Klonen diese hypothetische Umwegargumentation geführt worden, die zu einem Verbot der entsprechenden Forschung in vielen Ländern geführt hat. Es wurde dabei (implizit) unterstellt, dass die normativen Grundlagen, die gegen das reproduktive Klonen sprechen, auch in Zukunft gültig sind.11 11

Hier ist der Geltungsunterschied der Argumente vom Typ »Gefährdung der Be-

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In Bezug auf die Geltung prädiktiver Beurteilungen stellt sich also ebenfalls die Frage nach der argumentativen Basis in der »Immanenz der Gegenwart«. Jeder trans-subjektiven Form von Beratung, Absprache, Diskurs etc. muss eine gemeinsam anerkannte Basis zugrunde liegen, welche für die diskursive Argumentation herangezogen werden kann (Hartmann/Janich 1996). Dafür ist die vorgängige Akzeptanz von prä-deliberativen Einverständnissen erforderlich.12 Hierzu gehören (Grunwald 2004) (1) die Disposition, dass Moralkonflikte überhaupt argumentativ bewältigt werden sollen: Es muss unter den Teilnehmern die Bereitschaft zur Anerkennung besserer Argumente bestehen (Lernbereitschaft); (2) eine gewisse Gelingenszuversicht, dass eine argumentative Herangehensweise an moralische Konflikte eine bestimmte Erfolgsaussicht hat; (3) eine gemeinsame begriffliche Basis, gemeinsame Basisunterscheidungen (Mittelstraß 1974), gemeinsame Qualitätskriterien für Argumente und gemeinsam anerkannte Regeln des Diskurses. Ethische Orientierung ist gültig nur relativ zur Anerkennung derartiger prädeliberativer Einverständnisse. Der Geltungsbereich dieses Einverständnisses, d. h. die Reichweite seiner Zustimmungsfähigkeit, bestimmt auch die Reichweite der Geltung der ethischen Orientierung. Dies hat Folgen für die Übertragbarkeit ethischer Aussagen in andere Kontexte und damit auch für zeitübergreifende Überlegungen. Die genannten Elemente prädeliberativer Einverständnisse in Bezug auf normative Orientierungen des Handelns sind Elemente der jeweiligen Lebenswelt. Da die Lebenswelt ein methodisches A priori ethischer Überlegungen ist, ist dieses A priori immer ein gegenwärtiges. Insofern es also darum geht, Beurteilungen von ethischen Aspekten hypothetischen Zukunftswissens durchzuführen, stellt sich hier die Frage nach der Berechtigung, derartige gegenwärtige normative Standards auf Zukunftsfragen zu beziehen. Es besteht hier wohlgemerkt, nach dem Vorhergehenden, keine Wahlmöglichkeit: der Rückzug auf eine Position, dass eine normative Beurteilung zukünftiger Szenarien aus methodischen Gründen nicht möglich sei, ändert nichts daran, dass solche Beurteilungen vorgenommen werden müssen. Eine Rückbesinnung auf die argumentative Konstellation, um die es hier geht, ermöglicht immerhin einige Schlussfolgerungen. So geht es ja nicht da-

dingungen der Moralität« (Habermas 2001) und vom Typ »problematische Folgen« (Siep 2005) deutlich erkennbar. Letzterer Typ ist argumentativ voraussetzungsreicher. 12 Zur Unterscheidung von prädiskursiven (Gethmann 1979) und prädeliberativen Einverständnissen vgl. Grunwald (2004). Kurz gesagt, beziehen sich prädeliberative Einverständnisse auf situative Argumentationsprozesse, während prädiskursive Einverständnisse jeglicher diskursiven Argumentation zugrunde liegen.

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rum, heute abschließend über zukünftige Optionen zu befinden. Sondern die Situation ist, wie in der Diskussion um die »technische Verbesserung« des Menschen gezeigt, durch konkurrierende Aussagen zu Zukünften gekennzeichnet. Die Herausforderung liegt also in einer vergleichenden Beurteilung verschiedener Zukunftsvorstellungen in Abhängigkeit von der »Geltung« der jeweiligen normativen Basis. Es ist also zunächst eine Rekonstruktion vorzunehmen, um diese Basis zu bestimmen. Dann kann nach der Geltung gefragt und diese mit der Geltung konkurrierender Zukunftsvorstellungen verglichen werden, z. B. im Hinblick auf die Generalisierbarkeit heutiger lebensweltlicher und prädeliberativer Einverständnisse in den betreffenden Zukunftsfragen. Ethische Beurteilungen in Form der genannten »Umwegargumentation« über Zukünftiges weisen bereits prima facie große Geltungsunterschiede auf. Insofern es z. B. gelingt, Argumente zu formulieren, die mit dem Erhalt der Bedingungen der Möglichkeit von Moralität operieren (wie von Habermas 2001/2002 versucht), kann hier sicher eine höhere Reichweite in die Zukunft erwartet werden als ein Bezug auf gesellschaftliche »Werte« oder auf hypothetische Folgenüberlegungen dies erlauben würde: Der Satz »Seine Kraft zieht das Fremdbestimmungsargument allein aus dem Umstand, dass der Designer nach eigenen Präferenzen eine nicht revidierbare Weichenstellung für Leben und Identität einer anderen Person vornimmt, ohne auch nur kontrafaktisch deren Einverständnis unterstellen zu dürfen« (Habermas 2002, S. 290). Hier sind keine substantiellen Annahmen über die Verfasstheit einer zukünftigen Welt oder über gesellschaftliche Technikfolgen getroffen worden.13 Anders ist dies im Falle folgenorientierter Argumentationen (wie Siep 2005 zur »technischen Verbesserung« des Menschen). Diese bleiben geltungstheoretisch eher schwach, weil eine Reihe von mehr oder weniger unsicheren Annahmen über Zukünftiges getroffen werden müssen. Folgenwissen als Antizipation oder Projektion ist epistemologisch anfällig. In Formulierungen wie »Nach bisherigen Erfahrungen mit verbessernder Medizin, etwa im Bereich des AntiAgeing, der life-style Medizin oder des Dopings muss sicher mit erheblichen Kosten gerechnet werden. Diese könnten bei massenhafter Verbreitung natürlich sinken. … Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie nur für wenige erschwinglich wären …« (Siep 2005, S. 18) wird diese Hypothetizität sichtbar. Die Probleme der »Geltung« entsprechender Zukunftsvorstellungen sind ersichtlich und haben die erwähnten Folgen für darauf aufbauende Orientierungsangebote für heute. Diese Problematik trifft auch Dammbruchargumente: die Annahme eines Dammbruchs beruht darauf, dass Präzedenzfälle ein bestimmtes 13

An dieser Stelle soll nicht das Argument von Habermas selbst geprüft oder beurteilt werden; es geht hier nur um die Rolle unsicheren Zukunftswissens in einer ethischen Beurteilung.

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kollektives Verhalten nach sich ziehen werden. Dammbruchargumente setzen eine bestimmte Dynamik gesellschaftlicher Verläufe voraus. Insofern es hier zu einer Kombination der Unsicherheit des Folgenwissens und der Unsicherheit der ethischen Standards aufgrund der erwähnten Abhängigkeit von lebensweltlichen Präsuppositionen kommt, entsteht eine Gemengelage, die die Beurteilung der »Geltung« bestimmter Orientierungsangebote extrem erschweren und sogar unmöglich machen kann.

5) Naturalismen in den Verhaltungen zur Zukunft Die faktische Relevanz von Zukunftsprojektionen in vielen heute zur Meinungsbildung und Entscheidung anstehenden Fragen, insbesondere des wissenschaftlich-technischen Fortschritts,14 führt auf die Notwendigkeit – jedenfalls solange an Standards diskursiver Auseinandersetzung festgehalten wird – der Prüfung der argumentativen »Härte« dieser Zukunftsprojektionen. Diese Geltungsfragen stellen die entscheidende Hürde dar, wenn auf dem Umweg »Zukunft« Orientierung für heute geschaffen werden soll. Denn Zukunftsvorstellungen sind, wie sich gezeigt hat, unter Geltungsaspekten komplexe und opake Gebilde. In den aktuellen Zukunftsdebatten werden diese Geltungsprobleme als Grundsatzproblem kaum thematisiert. Nur anhand konkreter Fragen kommt es zu entsprechenden Kontroversen um die Geltung konkurrierender und unvereinbarer Zukunftsaussagen (z. B. in Bezug auf den Klimawandel und seine anthropogenen Ursachen, oder in Bezug auf den demographischen Wandel). Hier verbirgt sich jedoch, jenseits aller wissenschaftlichen Kontroversen um die Qualität von Modellen und die Aussagekraft von Simulationen (Janich 2003), ein prinzipielles Problem, das auch dann virulent sein kann, wenn es zu den Kontroversen des genannten Typs nicht kommt.15

14

Aber auch in vielen anderen Feldern wie z. B. der Wirtschafts-, Gesundheits- und Sozialpolitik, insofern es um politische Maßnahmen mit Reichweite in die Zukunft geht. 15 Scheinbare Selbstverständlichkeiten als versteckte Prämissen in Zukunftsaussagen sind ersichtlich schwierig aufzudecken. Ein Beispiel ist die Modellierung des zukünftigen Energiebedarfs in den 60er Jahren, die von der Prämisse einer engen Kopplung zwischen Wirtschaftswachstum und zunehmendem Energieverbrauch ausging und auf diese Weise zu Werten gelangte, die sich später, sobald durch Effizienzsteigerungen und Energiesparmodelle diese Kopplung beendet wurde, als deutlich überhöht erwiesen. Die Einsicht, dass Zukunftsaussagen stark von je gegenwärtigen Prämissen dieses Typs abhängen, kann dazu beitragen, vorsichtiger und stärker reflexiv vorzugehen.

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Es stellt sich sodann die Frage nach Strategien zum Umgang mit dem Problem der Geltung prädiktiver Aussagen. Insofern es sich um Aussagen auf der Basis von Naturgesetzen handelt, kann einerseits das deduktiv-nomologische Prognosemodell für Zukunftsaussagen genutzt werden (Hempel 1965). Andererseits können induktiv-statistische Aussagen gemacht werden, von denen ebenfalls in einem bestimmten Sinne »mit Geltung« gesprochen werden kann. Die »Geltung« von Zukunftsaussagen in diesem Bereich kann auf diese Weisen – sicher nicht ohne methodische Probleme (z. B. Grunwald 2000) – operationalisiert werden. Im Bereich der »Kultur« hingegen, die durch Historizität und Individualität der Situationen gekennzeichnet ist, mit entsprechenden Problemen der Verallgemeinerbarkeit und Übertragbarkeit (Schwemmer 1987; Hartmann/Janich 1996), sieht die Lage prinzipiell anders aus. Entsprechende methodische Herausforderungen an die Sozialwissenschaften sind bekannt (z. B. Schwemmer 1976). In der Bemühung um Orientierung stellt sich jedoch gerade hier die Herausforderung der genannten »Umwegargumentationen« über Zukünftiges und damit die Frage nach der Geltung von Zukunftsvorstellungen in diesem Bereich. Gelegentlich wird von bestimmten Bereichen der Kultur als »Zweiter Natur« des Menschen gesprochen. Dies bezieht sich in einem engeren Sinne auf Technik als die Zweite Natur: »Unter Technik wird dabei in erster Linie die auf der Anwendung von Arbeits- und Kraftmaschinen beruhende moderne Ingenieurtechnik verstanden, die sich seit der Industriellen Revolution allmählich zu ihrer heutigen Gestalt herausgebildet hat. Das Resultat der ingenieurtechnischen Maßnahmen sind die Systeme und Prozesse der Realtechnik, die uns heute in Form von konkreten, sinnlich fassbaren physischen Artefakten auf Schritt und Tritt umgeben und weithin als zweite Natur an die Stelle der vom Menschen unbeeinflussten Naturprozesse getreten sind« (Rapp 1979, S. 110).

In einem allgemeineren Sinne wird jedoch auch von gesellschaftlichen Institutionen und »Üblichkeiten« als einer Zweiten Natur des Menschen gesprochen (Gehlen 1956). Dieser Zweiten Natur wird, obwohl letztlich durch menschliche Handlungsweisen, eben in der »Kultur«, zustande gekommen, häufig eine Eigendynamik unterstellt, die auf die Handlungen Einzelner rückwirke. Ein Beispiel aus der Kritischen Theorie: »Die sogenannte Konsumentenökonomie und die Politik des korporativen Kapitalismus haben eine zweite Natur der Menschen erzeugt, die sie libidinös und aggressiv an die Warenform bindet. Das Bedürfnis, technische Gebrauchsartikel, Apparate, Instrumente und Maschinen zu besitzen, zu konsumieren, zu bedienen und dauernd zu erneuern, Waren, die den Leuten angeboten und aufgedrängt werden, damit sie diese selbst bei Gefahr ihrer eigenen Zerstörung gebrauchen, ist zu einem

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»biologischen« Bedürfnis (…) geworden. Die zweite Natur des Menschen widersetzt sich jeder Veränderung, welche diese Abhängigkeit der Menschen von einem immer dichter mit Handelsartikeln gefüllten Markt sprengte oder vielleicht abschaffte – seine Existenz als Konsument aufhöbe, der sich im Kaufen und Verkaufen selbst konsumiert« (Marcuse 1969, S. 26).

Ist die Rede von einer Zweiten Natur des Menschen zunächst nicht mehr als eine Metapher, so kann ihre Verwendung jedoch Folgen für das hier im Zentrum stehende Problem der Geltung des Zukunftswissens haben. Zunächst erscheint der Begriff der Zweiten Natur unverdächtig: »Freund, lang dauernder Übung bedarf ’s, so sag’ ich; sie wird dann sich als zweite Natur der Menschen schließlich erweisen« (Aristoleles: Nikomachische Ethik, 160). Diese Zweite Natur ist ein Geflecht von Üblichkeiten und Verlässlichkeiten, das das System von Handlungen, Erwartungen und Erwartungserwartungen stabilisiert und die für Kultur notwendige Kontinuität ermöglicht (Grunwald/Julliard 2005). Problematisch kann es dann werden, wenn zu dieser Metapher ein Kausalismus hinzu tritt, der sich auf vermutete Ursache/Wirkungsverhältnisse in dieser Zweiten Natur erstreckt. Elemente der Zweiten Natur wären danach durch Gesetze analog zu Naturgesetzen erklärbar. Die Unterstellung wäre, dass wir uns in einer ihren eigenen Gesetzen folgenden Zweiten Natur bewegen wie wir nur in den Grenzen der von der Ersten Natur vorgegebenen Gesetzen handeln können. Diese Zweite Natur wäre in einem starken kausalistischen Verständnis Teil einer kausal geschlossenen Welt (epistemischer Monismus nach Habermas in diesem Band).16 Insofern die Rede von einer Zweiten Natur mit der Prämisse eines Kausalismus verbunden wird, spreche ich von einem Naturalismus zweiter Art. Damit verbunden sind eine Fokussierung auf Ursachen statt auf Gründe, eine systematische Bevorzugung der Beobachter- gegenüber der Teilnehmerperspektive sowie eine Zurückdrängung von Gestaltungsfreiräumen zugunsten einer Annahme kausaler Gesetzmäßigkeiten. In Bezug auf Zukunftswissen und seine Geltung »gelingt« in diesem Rahmen eine Übertragung des »prognostischen« Modells der Naturwissenschaften, aus dem vermeintlichen Gesetzeswissen »gültiges« Zukunftswissen abzuleiten (Gethmann 1994; Janich 1994). Geltungsprobleme von Zukunftsbeurteilungen werden scheinbar gelöst durch Bezug auf Kontinuitäten oder Verlaufsgesetze. Diese naturalistische Strategie bezeichne ich als prognostisch-deterministisch (Grunwald 2003). Die Gesell-

16

Ob den »Gesetzen« der Zweiten Natur selbst wiederum Gesetze der Ersten Natur zugrunde liegen – erst dann wäre das Weltbild tatsächlich kausal geschlossen – spielt für sozialwissenschaftliche Naturalisten keine Rolle, wird allerdings immer wieder von Vertretern einer harten reduktionistischen Auffassung behauptet (für das »Human Enhancement« Roco/Bainbridge 2002).

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schaft wird als eine zwar komplexe, aber »im Prinzip« berechenbare Maschine angesehen, entweder als Ganzes oder (häufiger) bezogen auf Teilbereiche der Gesellschaft. In dieser Perspektive wird Zukunft als – wenigstens im Prinzip und in den jeweils interessierenden Fragestellungen – vorhersehbar über Gesetzeswissen und dessen Extrapolierbarkeit angesehen. So wurde in Teilen der frühen Technikforschung und Technikfolgenabschätzung (TA) angenommen, dass es – in Analogie zu natürlichen Systemen – gesellschaftliche Verlaufsgesetze gebe, die für Prognosezwecke verwendet werden können. Als zugrunde liegende Analogie dient z. B. die Wettervorhersage (Bullinger 1991, S 108). Oft werden hierbei Anleihen bei naturwissenschaftlichen Prognoseproblemen komplexer, d. h. nichtlinearer Art, gemacht. Die mathematischen und physikalischen Theoriebildungen im Bereich der »Chaostheorie« werden zu diesem Zweck auf die als in analoger Weise komplex gedeuteten Entwicklungen der Gesellschaft übertragen: »Die neuen mathematischen Werkzeuge erlauben zwar die Darstellung deterministisch chaotischer Systeme, …, es fehlen aber noch zuverlässige Instrumente zur Erfassung probabilistisch-chaotischer Zusammenhänge, wie sie für komplexe soziale Phänomene typisch sind« (Renn 1996, S. 37).

Die Übertragung des prognostischen Zukunftsmodells der Naturwissenschaften auf gesellschaftliche Verhältnisse (die Zweite Natur) macht die Berechtigung deutlich, hier von einem Naturalismus zweiter Art zu sprechen. Eine andere Spielart des Naturalismus zweiter Art stellt der Bezug auf die aus der Biologie auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragenen Evolutionstheorie dar (Grunwald 2003). In der evolutionstheoretischen Sicht wird die Kulturgeschichte als Naturgeschichte modelliert. Die Evolutionstheorie ist eine aus der Biologie stammende naturwissenschaftliche Theorie zur Rekonstruktion der Naturgeschichte. Ihre Interpretation ist bereits dort umstritten (Gutmann 1996). Zukunft wird als ein offener Raum betrachtet, der nicht determiniert ist, sondern durch die Ereignisse in der Gegenwart – nach den »Gesetzen« der Evolution – vorgeprägt wird. Evolutionstheoretische Ansätze erlauben keine Prognosen darüber, welche Entwicklungslinien den »Hauptstamm der Evolution« weitertreiben und welche in evolutionäre Sackgassen führen. Der Gang der Evolution ist prinzipiell nur ex post zu beobachten und zu interpretieren. Zukunft ist danach zwar nicht determiniert, aber auch nicht gestaltbar. Evolutionstheoretisch besteht keinerlei Möglichkeit, »mit Geltung« etwas über die Zukunft auszusagen. Evolutionstheoretische Modelle der Gesellschaft (Luhmann 1997) erlauben weder Prognosen noch geben sie Hinweise für Gestaltung, sondern sie verweisen uns auf das Prinzip von Versuch und Irrtum. Naturalistisch ist dieses Modell dahingehend, dass eine Modellierung von Abläufen in der Natur als Vorbild für die Modellierung gesellschaftlicher Entwicklungen verwendet wird.

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Beide naturalistischen Annäherungen an die Frage der »Geltung« von Zukunftswissen sind jedoch aus methodischen Gründen nicht haltbar (Janich 1994, Gethmann 1994, Grunwald 2000). Die Zweite Natur analog zur Ersten zu betrachten, stellt eine zwar in mancher Hinsicht nützliche Quelle für heuristische Information dar. Eine Interpretation von beobachtbaren Regelmäßigkeiten im Sozialen als Gesetz stellt jedoch bereits eine erhebliche Überschreitung der Geltungsgrenzen des Gewussten dar. Eine Extrapolation dieser vermeintlichen Gesetze in die Zukunft stellt eine noch stärkere Überbeanspruchung des Gesetzesbegriffs dar. Dies heißt nicht, dass Zukunftsprojektionen nicht Gebrauch Ansätzen dieser Art machen dürften; es ist jedoch darauf zu bestehen, dass die begrenzte Geltung dieser Zukunftsaussagen in einem Geltungsdiskurs offen gelegt wird. Alles andere wäre eine »Erschleichung« von Geltung.

6) Kulturalistischer Ausweg Ein Naturalismus zweiter Art überstrapaziert die mit Zukunftsaussagen erreichbare Geltung. Angesichts der oben geschilderten Orientierungsnotwendigkeiten auf dem »Umweg« über eine Zukunftskommunikation ist es jedoch kein pragmatisch gangbarer Ausweg, puristisch die Unmöglichkeit von Zukunftsaussagen »mit Geltung« zu gesellschaftlichen Zukünfte zu behaupten. Zukunftsaussagen sind notwendige Ingredienzien von Meinungsbildung, gesellschaftlicher Orientierung und in konkreten Entscheidungen. Häufig sind diese kontrovers, so dass eine diskursive Prüfung und Abwägung vorgenommen werden muss. Kulturalistisch (Hartmann/Janich 1996) erfolgt dies in einer Kommunikations- und Handlungsgemeinschaft, die auf diese Weise ein implizites oder auch in Teilen explizites gemeinsames prädeliberatives Einverständnis entwickelt hat, das als Basis für eine diskursive Reflexion der »Geltung« verschiedener Zukunftsvorstellungen herangezogen werden kann. Auseinandersetzungen um »Zukünfte« sind Teil der Konstitution dieser Kommunikationsgemeinschaft. Da diese prädeliberativen Einverständnisse sicher immer fragil sind, der Rekonstruktion und Weiterentwicklung bedürfen und nicht als »onotologisch vorhanden« verstanden werden dürfen, kann es auch Bedarf an einer prädeliberativen Arbeit an diesen Einverständnissen geben. Für die weitere Überlegung wird angenommen, dass eine wenn auch fragile prädeliberative Basis für eine argumentativ geführte Auseinandersetzung um konkurrierende Zukunftsvorstellungen vorliegt. Der möglicherweise nahe liegend scheinende Ausweg, an dieser Stelle auf ein voluntaristisches Modell intentionaler Gestaltung der Zukunft auszuweichen (Grunwald 2003), erweist sich beim näheren Hinsehen als brüchig. Das

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Modell der Zukunft als einer »Gestaltungsaufgabe«, als Beschreiben eines »leeren Blattes« nach der Maßgabe im Diskurs vereinbarter Ziele und der Wahl adäquater und effizienter Mittel, berücksichtigt nur unzureichend die Beschränkungen der Handlungsmöglichkeiten. Vielfach bestehen enge Grenzen des Handelns, sind Ziele nicht erreichbar oder Mittel nicht verfügbar. Insofern hier gesellschaftliche Verhältnisse eine begrenzende Rolle spielen (vgl. das Zitat von Marcuse aus Kap. 5), kann durchaus davon gesprochen werden, dass die »Zweite Natur« des Menschen nicht nur eine entlastende Funktion (im Sinne von Gehlens Theorie der Institutionen), sondern auch eine begrenzende und möglicherweise auch autoritär-totalitäre Seite habe. Auch wenn die »Zweite Natur« letztlich auf Handlungen des Menschen zurückgeht, ist damit nicht auch schon gesagt, dass alle Elemente dieser Zweiten Natur nach Intentionen gestaltbar seien. Die Frage ist hoch relevant, was als gestaltbar angesehen wird (und damit einem Schema von Aufforderung und Handlung folgt) und was nicht (das wäre dann mit einem Ursache/Wirkungs-Schema zu erfassen), und unter welchen Kriterien diese Unterscheidung erfolgt. Damit soll an dieser Stelle die Frage nach der Gestaltbarkeit zukünftiger Entwicklungen bzw. bestimmter Aspekte daran in das Zentrum des kulturalistischen Umgangs mit Zukunft gestellt werden. Je nach dem, ob ein bestimmter Zustand oder Verlauf als gestaltbar oder nicht gestaltbar angesehen wird, folgt ein unterschiedlicher Umgang mit der Geltungsfrage im entsprechenden Orientierungsdiskurs. Sobald etwas als gestaltbar angesehen wird, erübrigen sich kausalistische Zugänge, und stattdessen geht es um Gründe für diese oder jene Ausprägung der Gestaltung, um Ziele und um den Einsatz effektiver und effizienter Mittel. Damit sind wir im Bereich der praktischen Ethik oder der Planung (Grunwald 2000) mit dem dort etablierten Verständnis der »Geltung« von Zukunftsaussagen. Wenn jedoch bestimmte Aspekte als nicht gestaltbar angesehen werden, können Modellierungen nach Ursache/Wirkungsverhältnissen, Trendextrapolationen oder Simulationen durchaus angesagt sein, um in diesen Aspekten der Zukunft Wissen über (mehr oder weniger wahrscheinliche) Randbedingungen für das Gestaltbare zu gewinnen. Dies muss sicher unter all den methodischen Vorbehalten erfolgen, die im Einzelfall zu beachten sind (Janich 2003). Geltung würde hier bedeuten, das jeweils »beste« Wissen in diese Verfahren hineinzubringen und dieses in einer diskursiv verteidigbaren Weise zu »Zukünften« zu kombinieren. Gestaltungsorientierung und Reflexion auf die Grenzen der Gestaltbarkeit geraten auf diese Weise in die Mitte der Betrachtung. Szenarien beispielsweise als häufig verwendetes Mittel der Beschreibung »möglicher Zukünfte« stellen, methodisch betrachtet, operativ gemachte Unterscheidungen in dieser Hinsicht dar. Das, was als nicht gestaltbar angesehen wird, bildet einen Satz

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gemeinsamer Randbedingungen für eine Gruppe von Szenarien in einem thematischen Feld, und das, was als gestaltbar angesehen wird, führt gerade zu den unterschiedlichen Szenarien innerhalb der gleichen Randbedingungen. Die Unterscheidung zwischen gestaltbar und nicht gestaltbar ist ein A priori jeglicher Orientierungssuche durch Zukunftskommunikation. Zukünfte sind begriffliche Konstruktionen auf Basis solcher Unterscheidungen. Damit steht die Frage der »Geltung« von Zuschreibungen »gestaltbar« und »nicht gestaltbar« oder konditionalen Aussagen hierzu im Raum.17 Eine vorschnelle Naturalisierung in dem genannten Sinne eines Naturalismus zweiter Art schließt möglicherweise gesellschaftliche Gestaltungsoptionen aus. Um dies zu verhindern und Gestaltungsfreiräume zu erkunden und zu nutzen, bedarf es der erkenntniskritischen Frage nach der »Geltung« der verwendeten prädiktiven Aussagen und ihrer Voraussetzungen. Diese Frage hat damit auch eine gewisse »subversive Kraft«. Denn sie stellt die scheinbare Naturnotwendigkeit gesellschaftlicher Verläufe, wie sie naturalistisch in einer »Zweiten Natur« nicht selten behauptet wird, in Frage. Sie versucht, das maximal Maß der Gestaltbarkeit diskursiv zu ergründen, um nicht Gestaltungsmöglichkeiten in der Folge allzu skeptischer Annahmen vorschnell zu vergeben. Daher ist die Aufgabe der Philosophie in der erkenntniskritischen Untersuchung für Orientierungsfragen wichtiger Zukunftskommunikation auch demokratietheoretisch wichtig.

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Diese Frage ist nicht trivial, denn hier droht ein unendlicher Regress, wenn die Frage nach der Geltung von Zukunftsaussagen mit dem Verweis auf die Basisunterscheidung gestaltbar/nicht gestaltbar beantwortet wird, die sich aber auch auf eine angenommene Gestaltbarkeit in der Zukunft bezieht und damit selbst eine Zukunftsaussage darstellt, deren Geltung wiederum in Frage gestellt werden kann etc. Die Lösung kann hier nur angedeutet werden. Sie besteht darin, die »Immanenz der Gegenwart« (Kap. 3) ernst zu nehmen und Gestaltbarkeiten als Reflexionsbegriffe zu verstehen (dazu für die Gestaltbarkeit der Technik Grunwald 2007b).

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Christoph Demmerling

Welcher Naturalismus? Von der Naturwissenschaft zum Pragmatismus*

Vergegenwärtigt man sich die atemberaubende Entwicklung, welche die humangenetische und neurophysiologische Erforschung des Menschen während der letzten Jahrzehnte durchlaufen hat, kann es nicht überraschen, dass den Vertretern der unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Disziplinen mittlerweile vielfach eine Deutungshoheit auch in jenen Fragen zuerkannt wird, die über Jahrzehnte hinweg Angelegenheit geistes- und kulturwissenschaftlicher Orientierungsbemühungen zu sein schienen. Kulturelle Leistungen und Erzeugnisse des Menschen sowie der Mensch als solcher werden mehr und mehr als Naturprodukt angesehen und begriffen, welches sich mit den Mitteln der Biologie, der Hirnforschung und der evolutionären Anthropologie bzw. Psychologie vollständig erfassen lassen soll. Von Befürwortern wie auch von Gegnern werden (in erster Linie philosophische) Positionen, die im Zusammenhang mit der Frage nach dem Menschen ausschließlich an den Naturwissenschaften orientiert sind, gelegentlich als »naturalistisch« etikettiert. Die folgenden Überlegungen greifen in die Debatte über den Menschen und seinen Platz in der Natur ein. Sie lassen sich von der Überzeugung leiten, dass Natur und Rationalität, Natur und Geist miteinander verschränkt sind und dass – wie man heute oft sagt – das Reich der Natur und der Raum der Gründe zusammen gehören und nicht durch einen glatten Schnitt voneinander getrennt sind. Auch die Unterscheidung zwischen zwei gänzlich voneinander unterschiedenen Wissenschaftstypen wie zum Beispiel Natur- und Geistes* Eine Reihe von Anregungen verdankt der vorliegende Text verschiedenen Diskussionen am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück, wo ich im WS 2005/2006 vertretungsweise unterrichtet habe. Die Kollegen dort, danken möchte ich in erster Linie Frank Esken, Uwe Meyer, Achim Stephan und insbesondere Jan Slaby, haben mich in ganz undogmatischer Weise auf die Vorzüge des Naturalismus sowie die mit einer Diskussion naturalistischer Positionen häufig verbundenen Differenzierungsgewinne aufmerksam gemacht, ohne von mir zu erwarten, meine grundsätzliche und – wie ich meine – gut begründete philosophische Skepsis gegenüber Naturalisierungsprojekten aller Art aufzugeben. Meine antinaturalistische Skepsis ist vor allem einer Reihe von Überzeugungen geschuldet, die letztlich in der Tradition Kants stehen und sich zudem im weitesten Sinne den Bemühungen um eine konstruktive Theorie der Wissenschaft verdanken, wie sie an den Universitäten in Erlangen, Konstanz und Marburg entwickelt worden sind. Für einen Kommentar zu einer Vorfassung dieses Textes danke ich Theda Rehbock.

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wissenschaft, denen üblicherweise die Erkenntnismodi des Erklärens und des Verstehens zugeordnet werden, scheint mir im Sinne eines letzten Wortes zur Lage der Dinge nicht gerade sinnvoll zu sein. Bezogen auf den Menschen sind Gegenüberstellungen wie diejenigen von Natur und Geist, Natur und Kultur vielleicht sogar gänzlich verfehlt und es wäre an der Zeit, sich auf die Suche nach einem neuen Vokabular zu machen, um über die Stellung des Menschen in der Welt nachzudenken. Die Debatten um den Menschen als Teil der Natur und um den so genannten Naturalismus könnten ein produktives Durchgangstadium auf dem Weg zu einem solchen Vokabular darstellen. Der vorliegende Text enthält Vorüberlegungen zu einem derartigen Projekt. Im ersten Teil skizziere ich einleitend verschiedene Spielarten des Naturalismus (I), bevor sich der zweite Teil einer naturwissenschaftlichen Entdeckung zuwendet, von der während der letzten zehn Jahre immer wieder einmal die Rede war. Reichweite und Grenzen der empirischen Forschung für die Philosophie sollen am Beispiel der Spiegelneurone verdeutlicht werden (II). Der dritte Teil schließlich thematisiert die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Empirischen und dem Normativen und optiert für eine pragmatische Form von Naturalismus bzw. für einen pragmatischen Umgang mit den durch den Ausdruck »Naturalismus« angezeigten Problemen (III).

1) Ein Schwarm von Naturalismen Außer einer Hand voller Substanz-Dualisten in der Philosophie des Geistes und Anhängern des Kreationismus wird kaum jemand bestreiten, dass Menschen wie andere Lebewesen Produkte einer natürlichen Entwicklung sind. Dies gilt auch für ihre so genannten geistigen oder seelischen Eigenschaften, für ihre Überzeugungen und Absichten, ihre Wünsche, Gefühle sowie Empfindungen und es gilt für die Produkte ihres Handelns. Wie der Blutkreislauf oder das Verdauungssystem sind auch die genannten Eigenschaften menschlicher Wesen als Produkte der Naturgeschichte anzusehen. Selbst außerordentlich komplexe Leistungen wie die Komposition einer Oper oder die Abfassung eine Librettos wurzeln wohl am Ende in natürlichen Prozessen. Auch wenn solche Formulierungen im Einzelnen Klärungsbedarf nach sich ziehen, dies gilt insbesondere für den in diesem Zusammenhang verwendeten Ausdruck »wurzeln«, scheint mir die Auffassung, dass Menschen Teil der Naturgeschichte sind, im Großen und Ganzen plausibel zu sein. Selbst wenn man einräumt, dass beispielsweise die Fähigkeit eine Arie zu komponieren, nicht in einem strikten Sinne, das heißt: biologisch vererbt wird, in diesem Sinne also nicht in der Natur ›wurzelt‹, sondern dass es dazu unterschiedlicher Formen von kultureller Weitergabe bedarf, muss man die kulturelle Weitergabe nicht unbedingt als etwas anse-

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hen, was biologische Vererbung exklusiv ausschließt, sondern man kann – wie dies heute unter anderem in der evolutionären Anthropologie geschieht – die Fähigkeit der kulturellen Weitergabe ihrerseits als ein Produkt der natürlichen Evolution und als deren Verlängerung begreifen und in diesem Sinne dann doch davon sprechen, dass komplexe Leistungen des Menschen am Ende in der Natur ›wurzeln‹.1 Ob es letztlich und nach genauer Abwägung aller Gründe sinnvoll ist, so zu sprechen, ist eine Frage, die ich für den Augenblick ausklammern möchte. Prima facie jedenfalls spricht nichts gegen derartige Redeweisen. Das Etikett des ›Naturalismus‹ lässt sich für Auffassungen nach Art der skizzierten Position bereits deshalb verwenden, da sie im Gegensatz zu supranaturalistischen Auffassungen steht, die davon ausgehen, dass mit der Existenz übernatürlicher Kräfte zu rechnen ist. Der Naturalismusbegriff – daran sei erinnert – hat seine Konturen im 17. Jahrhundert zunächst auf der Grundlage einer Opposition zu den supranaturalistischen Grundzügen der christlichmittelalterlichen Metaphysik erhalten. Ein Naturalismus dieser Art ist sinnvoll. Er lässt sich zumindest in einem von Redlichkeit und nicht von Wunschdenken geprägten Milieu kaum von der Hand weisen. Der Streit um den Naturalismus setzt in der Regel nicht damit ein, die Ergebnisse der einzelwissenschaftlichen Forschung zu bestreiten, etwa der Molekulargenetik, der Hirnforschung oder der evolutionären Anthropologie. Der Streit um die Richtigkeit der Ergebnisse dieser oder jener empirischen Theorie ist im Normalfall eine Angelegenheit der Einzelwissenschaftler. Dies macht im Übrigen auch deutlich, dass die naturwissenschaftliche Forschung keineswegs jenen einheitlichen Block darstellt, auf den immer wieder referiert wird, wenn von der Naturwissenschaft die Rede ist. Einzelwissenschaftler streiten, aber zumeist nicht über Naturalismus. Der Streit um den Naturalismus setzt zumeist erst bei der Frage ein, was aus den Ergebnissen der einzelwissenschaftlichen Forschung für das menschliche Selbstverständnis folgt und welcher Stellenwert ihnen im sozialen Leben zuzuerkennen ist. Die Folgerungen, die unter Philosophen oder metaphysisch veranlagten Naturwissenschaftlern gezogen werden, sind im Einzelnen sehr unterschiedlich. Naturalistische Reaktionen auf die empirischen Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung lassen sich – grob gesprochen – auf zwei Ebenen verorten: Methodologische bzw. metaphilosophische Naturalisten empfehlen schlicht und einfach die Naturwissenschaften als Vorbild. Paradigmatisch für diese Form von Naturalismus ist Quines Forderung nach einer Naturalisierung der Erkenntnistheorie.2 Abgesehen von 1

Vgl. zu dieser Sicht der Dinge Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt a. Main 2002. 2 Vgl. dazu W. V. O. Quine, Naturalisierte Erkenntnistheorie, in: ders., Ontologische

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einer Vielzahl von Argumenten, die sich auf dem Hintergrund verschiedener philosophischer Positionen gegen diese Auffassung vorbringen lässt, scheint mir eine derartige, bis auf den heutigen Tag in vielen Variationen vorgetragene und verteidigte Orientierung bereits aus Gründen eines sinnvollen Methodenpluralismus nicht sonderlich viel versprechend zu sein. Einseitige Kost führt zu Mangelerscheinungen. Das gilt auch für die Wissenschaften. Bereits ein flüchtiger Blick in die Wissenschaftsgeschichte belehrt darüber, dass die Orientierung an einer Methode oder einem Paradigma häufig zum Stillstand der Erkenntnis führt. Auf dem Hintergrund dieses Gedankens sind die Restriktionen, die sich Naturalisten im Gefolge Quines bezogen auf die von ihnen zugelassenen Untersuchungsmethoden auferlegen, nicht einleuchtend. Sinnvoller als die Orientierung an einem einzigen Paradigma erscheint die Maxime, es zunächst einmal auf allen Wegen zu versuchen, um zu sehen, wie weit man kommt. Das gilt für die Erforschung des Universums wie auch für die Beschäftigung mit dem Menschen. Anders als bei Quine und seinen Nachfolgern üblich bietet sich zur Bezeichnung des methodologischen Naturalismus im Übrigen eher der Ausdruck »Szientismus« an, da die Orientierung an der Wissenschaft von der Natur und an deren Methoden das maßgebliche Element ist. Nicht an der Naturwissenschaft, sondern an der Natur als solcher – was immer das heißt – orientieren sich dem eigenen Bekunden nach die ontologischen Naturalisten. Sie sind Monisten und lassen sich von der Auffassung leiten, dass alle unsere Erkenntnisse von etwas in der Natur handeln, wie auch immer die Wissenschaften aussehen mögen, die sich mit den entsprechenden Erkenntnissen befassen. Der Monismus wird häufig bereits als ein schlagendes Argument für naturalistische Positionen angesehen. Abgesehen von ungenauen und allgemeinen Formulierungen wie denjenigen, dass es in der Welt mit rechten Dingen zugeht, dass die Welt ›kausal geschlossen‹ ist, um nur einige der Kandidaten zu nennen, die von Naturalisten zur Verteidigung ihrer Position häufig mit dem Gestus der Selbstverständlichkeit aufgeboten werden, lässt sich der naturalistische Grundgedanke in ganz unterschiedlichen Versionen ausgestalten. Ohne eine ausführliche Typologie der verschiedenen Naturalismen erstellen zu wollen, zumal für dieses Gebiet bereits die unterschiedlichsten Landkarten und auch gute Reiseführer vorliegen3, sei zumindest noch eine weitere Unterscheidung angeführt. Naturalisten, die sich die Überzeugung teilen, dass auch Realität und andere Schriften, Stuttgart 1969, 97–126; eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem auf Quine zurückgehenden Naturalismus in der neueren Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes führe ich in Christoph Demmerling, Sinn, Bedeutung, Verstehen. Untersuchungen zu Sprachphilosophie und Hermeneutik, Paderborn 1998, insbesondere 105 ff. 3 Einer der verlässlichsten Führer auf diesem Gebiet ist nach wie vor Geert Keil, Kritik des Naturalismus, Berlin/New York 1993.

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Menschen, ihre Eigenschaften, ihre Fähigkeiten und Produkte Teile der Naturgeschichte sind, können in irgendeiner seiner Variationen ein reduktionistisches Programm vertreten, sie können Emergenztheoretiker sein, sie können den Naturalismus in einer sozialpragmatischen Form verteidigen.4 Die Rolle, die der Natur im Rahmen dieser diversen Ausgestaltungen der naturalistischen Intuition zuerkannt wird, unterscheidet sich von Fall zu Fall. Am stärksten fühlt sich der Reduktionist der Natur verpflichtet, da er in der Regel von der Zurückführbarkeit aller Phänomene auf im engeren Sinne natürliche Phänomene und kausale Gesetzmäßigkeiten ausgeht; der Emergenztheoretiker geht zwar auch von einem Zusammenhang aller Phänomene aus, die am Ende in der Natur wurzeln, räumt aber ein, dass nicht alle höherstufigen Eigenschaften von etwas auf dessen einfache Eigenschaften reduziert werden können. Beim sozialpragmatischen Naturalismus hingegen handelt es sich um eine denkbar ›schwache‹ oder ›weiche‹ Form von Naturalismus. Er bewahrt die anti-supranaturalistischen Überzeugungen, ohne sich einfach der Autorität der Naturwissenschaft zu unterstellen und ohne die Natur a priori in ein Richteramt einzusetzen. Was zählt, ist für den pragmatischen Naturalisten Ergebnis einer Verständigung darüber, was zählen soll. Eine Verständigung darüber, was zählen soll, kommt ohne Normen nicht aus. Derartige Normen werden weder von der Naturwissenschaft noch auch von der Natur zur Verfügung gestellt, sondern sie sind Ergebnis einer gemeinsamen Handlungs- und Verständigungspraxis, im Rahmen derer selbstverständlich auch die Interaktion mit der Welt beispielsweise in Form des experimentellen Handelns eine Rolle spielt. Selbst wenn sich am Ende herausstellen sollte, dass es sinnvoll ist, in mancherlei Hinsicht die Natur zum Richtmaß zu machen, gilt: Um die Natur zum Richtmaß machen können, muss in normativer Hinsicht bereits eine Menge investiert werden. Das ist die Grundintuition des pragmatischen Naturalismus. Bevor ich diese Position näher erläutere, sei an Hand eines einzigen Beispiels die Reichweite, aber auch die deutlichen Grenzen der Impulse ausgelotet, die von der empirischen Forschung für die Philosophie ausgehen können, auch und gerade dort, wo sie mit der Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen befasst ist.

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Ich knüpfe an eine Unterscheidung zwischen reduktionistischem, emergentistischem und expressivistischem Naturalismus an, die Joseph Rouse im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit dem Problem der Naturalisierung von Intentionalität verwendet; vgl. Joseph Rouse, How Scientific Practises Matter. Reclaiming Philosophical Naturalism, Chicago/London 2002, 270. Das Buch entwickelt zudem die Grundzüge eines nicht-szientistischen Naturalismus. Darauf komme ich im letzten Teil dieses Beitrags zurück, in dem ich zum Teil an Rouse anschließe.

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2) Neuronenfeuer im Broca-Areal Die Neurowissenschaftler Giacomo Rizzolatti, Vittorio Gallese und Kollegen entdeckten Mitte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts im prämotorischen Kortex von Makaken eine Neuronengruppe, der sie den Namen »Spiegelneurone« gaben. Diese Neurone flackerten, wenn die Affen eine ganz bestimmte Handlung ausführten. Es ging um den Griff nach einem Objekt. Aber die Spiegelneurone feuerten nicht nur bei der Durchführung dieser Handlung, sondern auch dann, wenn der Affe eine Handlung des betreffenden Typs bei anderen Lebewesen beobachtete.5 Inzwischen geht man davon aus, dass Spiegelneurone auch das menschliche Gehirn durchziehen. Diese Nervenzellen scheinen allerdings beim Menschen viel weniger spezialisiert zu sein als im Fall der Makaken. Dies haben verschiedene Untersuchungen bestätigt, die unter anderem mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie durchgeführt wurden. Die Diskussion von methodischen und wissenschaftsphilosophischen Problemen bei der Datengewinnung lasse ich im Folgenden außer acht; eine Diskussion der besonderen Probleme, welche bildgebende Verfahren und die Deutung der Bilder mit sich bringen, muss ich ebenfalls ausklammern.6 Für den Augenblick nehme ich eine ganz naive wissenschaftsgläubige Haltung ein und gehe davon aus, dass sich in einer Vielzahl von Experimenten gezeigt und bestätigt hat, dass die betreffenden Neurone in (drei) unterschiedlichen Re5

Giacomo Rizzollatti et al., Premotor Cortex and the Recognition of Motor Actions, in: Cognitive Brain Research 3 (1996), 131–141. 6 Nur soviel: Bildgebende Verfahren wie die Positronenemissionstomographie (PET) oder die funktionelle Kernspintomographie (fMRI) stellen Daten über Hirnaktivität zur Verfügung. Als Hirnaktivität gilt eine erhöhte neuronale Tätigkeit, die Veränderungen im Grad der Sauerstoffsättigung des Blutes oder in der regionalen Blutflussrate der verschiedenen Hirnregionen bewirkt. Die Beobachtungen der Hirnaktivität sind indirekt: Man beobachtet im Prinzip Stoffwechselvorgänge. Wird bei der Bearbeitung einer Aufgabe durch einen Probanden eine bestimmte Hirnregion aktiv und zeigt einen erhöhten Stoffwechsel, nimmt man dies als Indiz für eine Beteiligung der betreffenden Region am Lösungsprozess. Die Problematik der bildgebenden Verfahren besteht auch in der Interpretation der gewonnenen Daten. Werden nämlich nur die aktivsten Gebiete beachtet, besteht die Gefahr, dass andere Strukturen vernachlässigt werden. Vergrößert man den Interpretationsraum, indem man auch Areale mit einem geringeren Aktivierungsgrad berücksichtigt, können die untersuchten Funktionen nicht mehr eindeutig einem Hirnareal zugeschrieben werden. Vgl dazu Britta Schinzel, »Wie Erkennbarkeit und visuelle Evidenz für medizintechnische Bildgebung naturwissenschaftliche Objektivität unterminiert«, in: http://mod.iig.uni-freiburg.de/cms/fileadmin/publikationen/online-publikationen/med.Bild.Objektivitaet.pdf. Zur Geschichte der Bilder vom Gehirn vgl. Michael Hagner, Der Geist bei der Arbeit. Überlegungen zur visuellen Repräsentation cerebraler Prozesse, in: C. Bork (Hg.), Anatomien menschlichen Wissens. Medizin, Macht, Moleküle, Frankfurt a. Main 1996, 259–286.

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gionen des menschlichen Hirns feuern.7 Bei der Aufgabe, Bewegungen zu beobachten und nachzuahmen, konnte man bei den Probanden beispielsweise eine erhöhte neuronale Aktivität unter anderem im Areal 44 feststellen. Die Areale 44 und 45 wurden in der älteren Neuroanatomie auch als Broca-Areal bezeichnet, dem eine besondere Bedeutung für die Sprachfähigkeit des Menschen zuerkannt wurde. Soviel zu den Tatsachen. Nun zu den Deutungen. Ich erörtere die Deutungen der Befunde zunächst aus der Perspektive derer, die sie verfechten, obwohl man in kritischer Perspektive von vornherein geltend machen könnte, dass diese Deutungen nicht unbedingt durch das vorliegende Datenmaterial gestützt werden und dass die Interpretationen der Befunde hochfliegend sind, zumal sie sich auf einer ganz anderen Ebene als jener des Feuerns von Neuronen bewegen. Aber betrachten wir die Auskünfte der Neurowissenschaftler erst einmal mit Wohlwollen und geben ihren Ansprüchen Kredit. Man geht davon aus, dass die Spiegelneurone die Funktion haben, dafür zu sorgen, die Handlungen anderer als Handlungen zu identifizieren und die Absichten anderer Akteure zu erkennen. Darüber hinaus vermutet man, dass Spiegelneurone dafür verantwortlich sind, die Emotionen und Empfindungen anderer zu erkennen und diese nachempfinden zu können. Philosophisch werden aus der Hypothese von den Spiegelneuronen unter anderem folgende Konsequenzen gezogen: Galleses Interpretation zufolge können die Spiegelneurone als neuronale Korrelate einer Fähigkeit angesehen werden, die in der neueren kognitionswissenschaftlichen und philosophischen Diskussion als Mind-Reading bezeichnet wird8; gemeint ist die Fähigkeit, andere als Wesen anzusehen, die bestimmte Überzeugungen haben, Absichten hegen, Wünsche verspüren, auf deren Grundlage sich ihr Handeln und Verhalten erklären lässt. In einem bestimmten Sinne geht es also um das, was man in der Tradition und im Alltag in vortheoretischer Perspektive »Verstehen« nennt. Es geht um das Verstehen von Handlungen und von Personen bzw. von intentionalen Akteuren als intentionalen Akteuren. Gallese vermutet, dass die Neurone bestimmte Handlungen ›repräsentieren‹; was auch immer die Rede von einer Repräsentation auf subpersonaler Ebene besagen soll. Es wird davon ausgegangen, dass der Organismus, dessen Neurone feuern, ein bestimmtes motorisches Schema durchspielt, ohne dass eine Handlung ausgeführt oder ein Verhalten gezeigt wird. In der 7

Giacomo Rizzolatti et al., Neurophysiological Mechanisms underlying the understanding and imitation of Action, in: Nature Reviews Neuroscience 2 (2001), 661–670; Giacomo Rizzolatti et al., The Mirror System in Humans, in: M. Staminov/V. Gallese (Hg.), Mirror Neurons and the Evolution of Brain and Language, Amsterdam 2003, 37–59. 8 Vittorio Gallese/Alvin Goldmann, Mirror Neurons and the Simulation Theory of Mind-reading, in: Trends in Cognitive Sciences, 2/12 (1998), 493–501.

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Debatte über das Handlungs- und Personenverstehen (Mind-Reading), in der mit der Theorie-Theorie und der Simulationstheorie im Wesentlichen zwei Ansätze miteinander konkurrieren, werden die Spiegelneurone jedenfalls als Bestätigung für die Simulationstheorie gewertet.9 Vertreter der Theorie-Theorie behaupten, dass unsere Kompetenz, anderen Gefühle und Überzeugungen zuzuschreiben, theorieartig strukturiert ist und gesetzesartige Verallgemeinerungen enthält. Das Verstehen einer anderen Person ist ihnen zufolge im Prinzip dem Verständnis vergleichbar, welches man für Vorgänge in der unbelebten Natur entwickeln kann.10 Vertreter des Simulationsansatzes hingegen, der in unterschiedlichen Versionen vertreten wird, von denen ich aber jetzt absehe, fassen das Verstehen anderer Menschen als eine besondere (nichttheoretische) Fähigkeit auf, über deren Fundamente bereits neugeborene Kinder verfügen. Man versetzt sich in andere hinein und gelangt auf diese Weise zu einem Verständnis dessen, was sie bewegt. Weitergehende Folgerungen aus der Entdeckung der Spiegelneurone betreffen die Theorie des Sprachursprungs. Giacomo Rizzolatti und Kollegen beispielsweise vertreten die These, dass aus der Fähigkeit der Primaten, andere Wesen und deren Handlungen zu verstehen, auch die menschliche Sprachfähigkeit entstanden sein könnte.11 Es wird darüber spekuliert, ob das Areal 44 als phylogenetischer Nachfolger des Areals F 5, das ist die relevante ›Feuerstelle‹ bei den nicht-menschlichen Primaten, aufgefasst werden kann. Gelegentlich wird den Spiegelneuronen auch die Funktion zugesprochen, Intentionalität anzuzeigen. So schüren Spiegelneurone die Hoffnung, dass sich das Projekt einer Naturalisierung von Intentionalität doch noch verwirklichen lässt.12 Anders als Alvin Goldman in seinem lesenswerten Buch Simulating Minds vermag ich keine schwerwiegenden Konsequenzen zu erkennen, die aus den betreffenden Ergebnissen der kognitiven Neurowissenschaft für die Philoso-

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Vittorio Gallese/Alvin Goldmann, a. a. O.; zur Debatte insgesamt vgl. die Studie von Manuela Lenzen, In den Schuhen des anderen. Simulation und Theorie in der Alttagspsychologie, Paderborn 2005; zu den Spiegelneuronen 153 ff.; ferner: Alvin Goldmann, Simulating Minds: The Philosophy, Psychology and Neuroscience of Mindreading, Oxford 2006. 10 Um nur einen Vertreter der Theorie-Theorie zu nennen: P.M. Churchland, Folk Psychology and the Explanation of Human Behavior, in: S. C. Christensen/D. Turner (Hg.), Folk Psychology and the Philosophy of mind, New York 1991, 247–262. 11 Rizzolatti, G./Arbib M., Language within our Grasp, in: Trends in Neurosciences 21 (1998), 188–194. 12 Diese Tendenz besteht bei Vittorio Gallese/Thomas Metzinger, Motor Ontology: the representational Reality of Goals, Action and Selves, in: Philosophical Psychology, 16/3 (2003), 365–388.

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phie berechtigterweise gezogen werden sollten.13 Keine philosophische Frage erhält durch die Hypothese der Spiegelneurone eine gänzlich neue Wendung. Sicher – erster Punkt (das ist auch für Goldman sehr wichtig) – in der MindReading-Debatte lassen sich die Spiegelneurone zumindest als Indiz für die Richtigkeit des Simulationsansatzes ansehen. Nun ist allerdings zu sagen, dass die Diskussion über Mind-Reading ihrerseits bereits einen sehr wissenschaftsnahen Versuch darstellt, einige Intuitionen der Hermeneutik mit Hilfe des Vokabulars der analytischen Philosophie und in enger Zusammenarbeit mit der experimentellen Forschung in der Psychologie zu rekonstruieren.14 Es handelt sich um einen Versuch, der unter dem langen Schatten des Empirismus steht. Damit möchte ich diese Debatte nicht diskreditieren. Im Gegenteil: Diese Diskussion gehört zu den Feldern, auf denen philosophisch erhebliche Differenzierungsgewinne zu verzeichnen sind. Aber die Beiträge der Hermeneutik werden dadurch weder falsch, noch auch werden ihre klassischen Texte und Unterscheidungen zum Thema »Verstehen« überflüssig. Des weiteren – zweiter Punkt, der die mögliche Relevanz dieser Art von empirischer Forschung für die Philosophie betrifft – könnte man die Spiegelneurone als ein Indiz dafür ansehen, dass nicht nur Menschen, sondern auch einige nicht-menschliche Primaten Wesen sind, die ihren Artgenossen intentionale Zustände wie Überzeugungen und Wünsche zuschreiben. Die Frage danach, ob Tiere in der Lage sind, anderen Wesen Absichten zuzuschreiben, ist allerdings nicht nur unter Philosophen umstritten, sondern auch unter Vertretern der einzelwissenschaftlichen Disziplinen.15 Die Annahme der Spiegelneurone

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Alvin Goldmann, Simulating Minds, a. a. O., 5: »Cognitive neuroscience […] has significantly changed the landscape.« 14 Vgl. Klaus Sachs-Hombach, Mentale Simulation – Eine neue Gestalt der Hermeneutik?, in: Neue Realitäten. Herausforderung der Philosophie. XVI. Deutscher Kongreß für Philosophie, Berlin 1993, 168–175. 15 Vgl. Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt a. M. 2002. Ihm zufolge können Primaten zwar intentional handeln, erkennen aber im Artgenossen kein Alter Ego. In neueren Arbeiten gehen Tomasello und Kollegen jedoch davon aus, dass Primaten durchaus in der Lage sind, Intentionalität bei anderen Wesen zu erkennen, schreiben ihnen aber nicht explizit die Fähigkeit zum Mind-Reading zu. Vom Menschen sollen sie sich nunmehr dadurch unterscheiden, dass sie keine Intentionen teilen können. Vgl. Michael Tomasello et. al., Understanding and sharing intentions: The Origins of Cultural Cognition, in: Behavioral and Brain Sciences (2005) 28, 675–735. Zu möglichen Argumenten, die dafür sprechen (manchen) Tieren die Fähigkeit zum Mind-Reading bzw. eine Theory of Mind zuzuschreiben, vgl. Dorothy L. Cheney/Robert Seyfarth, Wie Affen die Welt sehen. Das Denken einer anderen Art, München 1990, v. a. 275–338; ferner: Volker Sommer, Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, München 1992, 92–118. Inzwischen wird in der Diskussion zwischen verschiedenen unjd unterschiedlich komplexen Fähigkeiten

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stützt jedenfalls die Auffassung, dass zumindest einige nicht-menschliche Primaten über eine – wie man manchmal in dualistischer Weise missverständlich sagt – Theory of Mind verfügen. Schließlich – dritter Punkt – lassen sich die Spiegelneurone als das ›geteilte Gemeinsame‹ der Intersubjektivität und als neuronale Wurzel der Empathie auffassen, wie das Vittorio Gallese einmal im Titel eines Aufsatzes formuliert hat, in dem er – wie bereits angeführt – die Linien auszieht, die von seinen experimentellen Studien zu Merleau-Ponty, Stein, Husserl und anderen führen.16 Man kann die Neurone als notwendige Bedingungen dafür ansehen, sich auf andere beziehen zu können und sich auf der Grundlage eines solchen Bezugs selbst zu verstehen. (Neuere Forschungen, in denen ein Zusammenhang zwischen einer Dysfunktion des menschlichen Spiegelsystems und autistischen Erkrankungen vermutet wird, würden sich als eine indirekte Bestätigung dieser Behauptung auffassen lassen).17 Erinnert man sich daran, dass dieselben Zellen bei der Handlungskoordination wie auch bei der Beobachtung des Handelns feuern, kann man dies als Indiz dafür ansehen, dass die Subjekt-Welt-Relation von vornherein mit einer intersubjektiven Perspektive verzahnt ist. So gesehen stützt der Befund Intersubjektivitätstheorien, die davon ausgehen, dass sich das Selbstverständnis im Zusammenhang mit dem Verstehen anderer herausbildet. Spiegelneurone sprechen gegen subjektphilosophische Grundannahmen. So kann es nicht überraschen, obwohl es mehr als übertrieben ist, dass man der Entdeckung der Spiegelneurone eine »eminente Bedeutung für die phänomenologische Theorie der Intersubjektivität« bescheinigt, wie Dieter Lohmar in der Zeitschrift Phenomenology and the Cognitive Sciences.18

differenziert, die Intentionen anderer zu erkennen. So wird manchen Tieren zwar nicht die Fähigkeit zum Mind-Reading, wohl aber zum Behaviour-Reading zuerkannt. Vgl. die Beiträge in Teil V des Buches von Susan Hurley/Matthew Nudds (Hg.), Rational Animals?, Oxford 2006. 16 Vittorio Gallese, The Roots of Empathy: The shared manifold hypothesis and the Neural Basis of Intersubjectivity, in: Psychopathology 36 (2003), 171–180. 17 J. Williams et al., Imitation, Mirror Neurons and Autism, in: Neuroscience and Behavioral Reviews 25 (2001), 287–295; L. M. Oberman et al., EEG Evidence for mirror neuron dysfunction in autism spectrum disorders, in: Cognitive Brain Research 24 (2005), 190–198. 18 Dieter Lohmar, Mirror neurons and the Phenomenology of Intersubjectivity, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 1 (2006), 5–16, 5; kritisch distanziert zur Frage der Spiegelneurone mit Blick auf die Belange der Phänomenologie hingegen äußert sich Frank Esken, Spiegelneuronen: Die neurobiologische Antwort auf das Intersubjektivitätsproblem, die Husserl noch nicht kannte? Husserls Überlegungen zum Fremdpsychischen im Lichte der Kognitionswissenschaften, in: D. Lohmar/D. Fonfara (Hg.), Interdisziplinäre Perspektiven der Phänomenologie, Berlin/New York 2006.

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Alle Konsequenzen, die sich aus der Annahme von Spiegelneuronen für die Philosophie ziehen lassen, bestehen genau besehen darin, bestimmte Positionen zu stützen, für die sich auch ohne Rückgriff auf den konkreten empirischen Befund argumentieren ließe. Die Stärken neurowissenschaftlicher Befunde liegen im Bereich möglicher klinischer Anwendungen. Vom Autismus war bereits die Rede; man kann aber auch an die Videotherapie zur Rehabilitation der Opfer von Schlaganfällen denken. Die im engeren Sinne philosophische Reichweite solcher Befunde darf jedoch als begrenzt gelten. Eine grundsätzliche Reform des menschlichen Selbstverständnisses ist von derartigen, aber wohl auch von anderen Entwicklungen innerhalb der empirischen Forschung wie zum Beispiel der Neurowissenschaft nicht zu erwarten. Neben den Argumenten, die in systematischer Hinsicht dagegen sprechen, kann man darauf verweisen, dass grundsätzliche Reformen des Menschenbildes in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften zu häufig in Aussicht gestellt wurden, ohne dass die ›Welträtsel‹ (Ernst Haeckel) gelöst worden wären. Ich komme zum dritten Teil des Aufsatzes und zur Erläuterung der Position, die ich als sozialpragmatischen Naturalismus bezeichnen möchte.

3) Das Empirische und das Normative Die Frage nach dem Menschen ist eine Frage, die sich nicht, jedenfalls nicht ausschließlich mit empirischen Mitteln beantworten lässt. Nicht nur deshalb nicht, weil durch den Verweis auf die materiellen Bedingungen unseres Lebens allenfalls notwendige Bedingungen für das Menschsein ermittelt werden können. Sondern auch deshalb nicht, weil die Antwort auf die Frage nach dem Menschlichen immer auch normativer Art ist und infolgedessen nicht einfach empirisch bestätigt oder widerlegt werden kann. Zunächst einmal handelt es sich schon deshalb um eine normative Frage, weil nicht von vornherein klar ist, was im Zusammenhang mit einer Antwort auf diese Frage Berücksichtigung finden soll. Was ist es wert, in die Betrachtung einbezogen zu werden? Die Ergebnisse der Neurowissenschaften, religiöse Selbstverständnisse, praktische Selbstverständnisse, die sich im sozialen Leben bewährt haben, die Alltagspsychologie? Alle diese Theorien oder (je nach Gusto) Ideologien könnten potentielle Kandidaten sein. Welcher Stellenwert soll demjenigen, was in die Betrachtung einbezogen wird, zuerkannt werden? Die Position des pragmatischen Naturalisten hatte ich vorhin in grober Form so erläutert, dass für ihn Antworten auf diese Fragen Ergebnisse einer Verständigung über diese Fragen sind. Meine Rechtfertigung für diese Position hängt mit der Semantik des Wortes »Wir« zusammen.

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Das Wort »Wir« wird in einer Vielzahl von Bedeutungen und Kontexten verwendet. In der Alltagssprache kann man es in dem starken universalen Sinne von »wir Menschen« gebrauchen, etwa um damit einen Unterschied zu anderen Lebewesen zu markieren. Das allerdings dürfte eine eher seltene Verwendung sein. Zumeist richtet man sich an kleinere Einheiten: eine andere Person, die Mitglieder einer Familie, an Nachbarn, Freunde oder Kollegen. In allen Gebräuchen von »Wir« – dies ist das für den vorliegenden Zusammenhang Entscheidende – spielen Identifikationsangebote eine Rolle: Wir-Sager sind Identifizierer. Wir-Sager identifizieren sich mit jemanden und sie laden andere zur Identifikation mit sich ein. Identifizieren ist nicht nur als Beschreibung eines Sachverhalts in neutraler Perspektive aufzufassen, sondern als Status-Zuweisung anzusehen. Wer »Wir« sagt, erkennt jemanden als jemanden an, der in relevanten Hinsichten so ist wie er selbst, und nicht einfach als irgendeiner, als etwas oder eine Sache angesehen wird. Umgekehrt führt die Einschränkung des Wir-Gebrauchs und der Umstand, dass man anderen das mit der Verwendung von »Wir« verbundene Identifikationsangebot vorenthält, dazu, andere Wesen zu entpersonalisieren und zu einer Sache zu machen. Im Sinne der skizzieren Überlegungen ist »Wir« ist ein Wort mit normativen Anteilen und wird nicht ausschließlich deskriptiv verwendet. Wenn Menschen sich auf sich beziehen, indem sie »Wir« sagen, beschreiben sie sich nicht einfach als eine biologische Art neben anderen, sie beschreiben sich auch nicht einfach als Organismen oder Apparate mit bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten. Wenn Menschen »Wir« sagen, dann ist zunächst einmal entscheidend, dass sie eine bestimmte Haltung zu sich einnehmen. Wenn Menschen Überzeugungen darüber ausbilden, wer sie sind, beschreiben sie nicht einfach etwas, sondern sie schreiben sich eine bestimmte Art von Status zu. Die Zuschreibung einer bestimmten Art von Status ist aber nicht einfach nur ein Sagen, sondern bereits ihrerseits ein praktisches Tun. Deshalb kann man formulieren: Menschen konstituieren auf praktische Weise in ihrem Lebensvollzug ihre Identität, indem sie sich als Wesen einer bestimmten Art identifizieren. Was Menschen sind, hängt so gesehen von ihren eigenen Überzeugungen und Einstellungen ab. Es hängt von den Dingen ab, die ihnen wichtig sind und worum sie sich sorgen. Eben deshalb haben Menschen nicht nur eine Natur, sondern auch eine Geschichte, im Verlauf derer sie ihre Natur – wenn Sie so wollen als zweite Natur – in unterschiedlichen kulturellen Variationen ausbilden. Diese Idee teilen so unterschiedliche Philosophen wie Platon, Aristoteles, Kant, Hegel und Heidegger. In der Gegenwartsdiskussion ist sie auf unterschiedliche Weise von Autoren wie Robert Brandom und John Haugeland in Erinnerung gerufen und ausgearbeitet worden.19 19

Vgl. John Haugeland, Having Thought. Essays in the Metaphysics of Mind, Cam-

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Betrachtet man die Sache so, kann man sagen, die Antwort auf die Frage nach dem Menschen ist immer auch eine Angelegenheit der Selbstdefinition. Die Rolle, welche empirische Erkenntnisse in diesem Zusammenhang spielen, wird diesen Erkenntnissen von uns – von Wir-Sagern – zuerkannt. Auf dem Hintergrund bestimmter wissenschaftlicher Theorien, wie etwa der Annahme von Spiegelneuronen, oder den Befunden der Molekulargenetik könnte man nun dazu übergehen, beispielsweise Tieren, zumindest manchen von ihnen, einen ähnlichen Status wie uns Menschen zuzuerkennen. (Genau dies ist es, was an der Schnittstelle von Philosophie des Geistes und Tierethik gelegentlich geschieht). Auf dem Hintergrund anderer wissenschaftlicher Theorien könnte man ebenfalls dazu übergehen, uns Menschen bestimmte Eigenschaften oder einen bestimmten Status abzusprechen. (Wie es beispielsweise unter Verweis auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse in der Debatte um Hirnforschung und Willensfreiheit geschieht). In beiden Fällen sieht es zunächst einmal so aus, als würden uns die Ergebnisse der empirischen Forschung die entsprechenden Verständnisse unserer selbst bzw. anderer Wesen diktieren. So klingt es, wenn zum Beispiel gesagt wird: »Affen sind wie wir, weil auch in ihren Gehirnen Spiegelneurone feuern«, »Sie sind wie wir, weil sie mehr als 98% unserer Gene teilen« oder »Wir sind nicht frei, weil es in unserem Gehirn feuert, bevor wir unsere Absichten bewusst registrieren«. Dass man einen Status zu- oder aberkennen kann, ist jedoch nicht einfach als Ergebnis einer empirischen Entdeckung anzusehen, wird insbesondere auch nicht durch die Entdeckung ›vorgeschrieben‹, sondern es handelt sich um ein praktisches Tun: es handelt sich um einen normativen Akt (einen Akt der Anerkennung), dessen Berechtigung auf der Grundlage vieler Kriterien zu erwägen ist. Wer das Selbstverständnis des Menschen für eine Frage der Selbstdefinition hält, gerät schnell in den Verdacht, sich auf die Seite eines abgründigen Voluntarismus zu schlagen. Zu sagen, dass Selbstverständnis sei eine Frage der Selbstdefinition impliziert jedoch nicht die Behauptung, man sei und könne immer der sein, der man sein wolle. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es gibt Grenzen, innerhalb derer man sich definieren kann und muss, innerhalb derer Menschen sich definieren können und müssen. Die Widerständigkeit der natürlichen Welt und die Widerständigkeit der sozialen Welt stellen beispielsweise eine derartige Grenze dar. Die Grenzen zeigen sich, wenn man im Handeln und Beobachten mit der Welt zu tun bekommt. Man kann sich nicht

bridge 1998, dort v. a. die Aufsätze »The Intentionality All-Stars«, 127–170 und »Truth and Rule Following«, 305–361; Robert B. Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt a. Main 2000; auf der Linie Brandoms liegen auch ähnlich gelagerte Überlegungen von Sebastian Rödl, Selbstbezug und Normativität, Paderborn1997.

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einfach als das verstehen, als was man sich verstehen will. Man kann auch von der Welt und von anderen Lebewesen nicht glauben, was man glauben will. Natürliche und soziale Umwelt legen uns zwar letztlich nicht definitiv auf ein bestimmtes Selbstverständnis fest. Aber wir sind bei dem, was wir von uns denken, der natürlichen und sozialen Umwelt gegenüber verpflichtet. Es ist zwar nicht die Natur selbst, welche uns mit Autorität begegnet, aber sie begegnet uns gewissermaßen durch unsere sozialen Praktiken hindurch. Die Macht der Natur ergibt sich aus unserem praktischen und wahrnehmenden Umgang mit der Welt. Die Autorität, die wir den Objekten und Vorgängen in der Natur über uns ausüben lassen, gründet in unserer Art zu leben und die Welt anzuschauen. Wir gehen in der Regel zum Arzt, um eine Krankheit zu kurieren, nicht zum Schamanen. Wir schließen unser Haus ab, um einen Einbruch zu verhindern, lassen in der Regel nicht einen Zauberer einen Bannspruch ausstoßen, der andere am unerlaubten Betreten unseres Grundstücks hindern soll. Mit solchen Praktiken tragen wir der Verfassung der Natur Rechnung und billigen ihr Autorität zu. Empirische Forschungen können (und sollten) als Gründe fungieren, gegenüber der Wirklichkeit und den Wesen, welche die Welt bevölkern, diese oder jene Haltung einzunehmen und traditionelle Überzeugungen und Einstellungen gegebenenfalls zu modifizieren. Für aufgeklärte Menschen ist es charakteristisch, den Einblicken, die wissenschaftliche Praktiken in die Wirklichkeit gewähren, eine gewisse Autorität über ihr Sagen und Tun zuzuerkennen. Aber für aufgeklärte Menschen ist es auch charakteristisch sich zu vergegenwärtigen, dass die Einnahme einer Haltung und die Zuweisung eines Status ein menschliches Tun ist und bleibt. Was im Zusammenhang mit diesem Tun zählt, verdankt sich einer Reihe von Normen, die erst einmal investiert werden müssen, damit empirische Erkenntnisse als Gründe fungieren können, dieses oder jenes anzuerkennen. Unter traditionell gesonnenen Philosophen und Theoretikern, welche die von mir skizzierte Perspektive teilen, wird gelegentlich auch die Auffassung vertreten, im Zusammenhang mit einer Antwort auf die Frage nach dem genuin Menschlichen könne man auf die Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung verzichten. Wenn sich die Frage nach dem spezifisch Humanen nicht mit den Mitteln der empirischen Forschung beantworten lässt, dann – so wird manchmal geltend gemacht – muss es sich um eine rein begriffliche Frage handeln. Ich glaube, dass es keine rein begrifflichen Fragen gibt (Ausnahmen mögen sich in Mathematik und Logik finden). Deshalb kann die Philosophie nicht auf die Auseinandersetzung mit der empirischen Forschung verzichten. Aber die Rolle, welche die Ergebnisse dieser Forschungen spielen, ist eine andere als jene, welche die Anhänger eines im Großen und Ganzen naturalistischen Weltbilds ihnen beilegen. Erinnert sei an

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eine berühmte Formulierung, welche Kant 1787 in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft benutzt, um sein gesamtes Projekt im Bild einer kopernikanischen Wende zu verdichten: Statt davon auszugehen, dass sich unsere Erkenntnis nach den Gegenständen richten müsse, solle man einmal den umgekehrten Weg einschlagen und schauen, ob man nicht besser vorwärts komme, wenn man annehme, dass sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten. Diese Bemerkung würde ich gerne variieren, ohne die subjekt- und tranzendentalphilosophischen Schlacken der Position Kants übernehmen zu wollen bzw. der Position, die Kant im Rahmen oberflächlicher Interpretationen häufig zugeschrieben wird: Nicht die empirische Forschung sagt uns, wer oder was wir sind bzw. wie wir uns zu beurteilen haben. Es ist ja nicht die Natur, die sich in diesen Forschungen gewissermaßen selber beschreibt und Autorität über uns ausübt. Umgekehrt gilt: Wir sind es, welche die Ergebnisse dieser Forschungen beurteilen und ihnen gegenüber Stellung beziehen sei es positiv, indem wir sie als Gründe anerkennen, sei es negativ, indem wir sie als unzureichend kritisieren. Wir sind es, welche der Natur eine Autorität zuerkennen. Mit meinem Plädoyer dafür, den Menschen als ein Wesen anzusehen, welches sich durch das »Wir«-Sagen einen bestimmten Status zuerkennt, und sich damit von vornherein als ein Wesen begreift, das unter der Voraussetzung bestimmter Normen beurteilt, was für es als Grund von Belang ist, geht es mir nicht darum, den Rückgriff auf die (biologische) Natur des Menschen in einem sozialpragmatischen oder gar sozial-konstruktivistischen Überschwang verdampfen zu lassen. Meine Überlegungen verstehen sich vielmehr ihrerseits als im weitesten Sinne naturalistisch. Sie verstehen sich deshalb als Beiträge zu einem Naturalismus, weil sie bei der Suche nach den für unser Selbstverständnis relevanten Faktoren im Diesseits verbleiben. Auch die Normen und Unterscheidungen, auf die bei den Urteilen über die relevanten Faktoren und Theorien zurückgegriffen werden muss, werden als Produkte strikt innerweltlicher Orientierungsbemühungen verstanden. Es werden keine Wahrheiten unterstellt, die im strengen Sinne als a priori anzusehen wären. Die Begriffe des Naturalismus und der Natur verwende ich in einem sehr weiten Sinne. Wenn man soziokulturelle Entwicklungen und die Herausbildung von kulturellen Praktiken, in denen sich Begriffe und Gründe materialisieren, als Verlängerungen der Naturgeschichte begreift, lässt sich auch die Reflexion auf soziokulturelle und historische Faktoren in einem weiten Sinne als naturalistisch ansehen. Angesichts der von mir in diesem Aufsatz verfolgten Begriffspolitik mag sich ein Unbehagen einstellen. Man könnte den Einwand erheben, dass eine derart weite Verwendung des Naturalismusbegriffs, zu welcher in der Konsequenz auch eine weite Verwendung des Naturbegriffs gehören würde, letztlich zur Auflösung der Unterscheidung zwischen dem Natürlichen

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und dem Kultürlichen führe, auf die nicht zu verzichten sei.20 Was die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur betrifft, so kommt es auf die Kontexte an. In vielen Kontexten ist diese Unterscheidung gewiss unverzichtbar; so wird etwa zwischen Vorgängen unterschieden, die von selbst geschehen und in diesem Sinne natürlich sind, und solchen, die auf menschliche Eingriffe zurückzuführen sind, die also in diesem Sinne kultürlich sind. Trotz des skizzierten Unbehagens und trotz des Zugeständnisses, dass eine Unterscheidung von Natur und Kultur in vielen Kontexten unhintergehbar ist, scheint mir eine weite Verwendung des Naturalismusbegriffs nicht nur wegen der Frontstellung gegen den Supranaturalismus sinnvoll zu sein, sondern auch aus folgendem Grund: Unterscheidungen wie die zwischen »naturalistisch« und »normativistisch«, oder »naturalistisch« und »historistisch«, oder auch »naturalistisch« und »kulturalistisch«, um nur einige der relevanten Begriffspaare zu nennen, legen häufig nahe, es gäbe auf der einen Seite die harte, fest verdrahtete Natur (Kausalgesetze, nomologische Erklärungen) und auf der anderen Seite das ›weiche Drumherum‹ (Normen, 1. Person-Perspektiven). Das ist ein schiefes Bild. Molekularbiologie, Hirnforschung, Soziologie, Alltagspsychologie, Philosophie, Ethik – alle sitzen grundsätzlich betrachtet im selben Boot. So betrachtet ist alles ›hart‹ oder ›weich‹. Nicht anders als Alltagspsychologie und Philosophie gründet auch die naturwissenschaftliche Erforschung der Welt nicht auf einer normfreien oder sinnentleerten Konzeption von Wirklichkeit. Auch die Natur ist ein Phänomen, welches durch soziale Praktiken erschlossen wird und in normativen Begriffen verstanden wird.21 Dies verkennen häufig nicht nur die Anhänger des wissenschaftlichen Weltbildes, sondern auch diejenigen, die eine Welt der Normen gegen eine vorgeblich normfreie Natur aufbieten.

20

Die Unterscheidung zwischen Kultur und Natur steht im Zentrum der Naturalismuskritik von Vertretern des methodischen Kulturalismus wie Peter Janich und anderen Vertretern der Marburger Schule in der Wissenschaftsphilosophie. Zum Programm vgl. insbesondere Dirk Hartmann/Peter Janich, Methodischer Kulturalismus, in: dies. (Hg.), Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne, Frankfurt a. Main 1996, 9–69. 21 Eine Bestätigung dieser Auffassung sehe ich darin, dass neue Tendenzen in der Wissenschaftsphilosophie, die bereits durch das Fegefeuer des normativen Pragmatismus hindurchgegangen sind, empfehlen, den Naturalismusbegriff in diesem weiten Sinne zu verwenden, und mit dem epistemologischen Dualismus aufzuräumen. Joseph Rouse zum Beispiel macht in seinem 2002 erschienen Buch How Scientific Practises Matter, a. a. O., deutlich, dass die naturalistischen Bestrebungen im Anschluss an Quine und die soziohistorische Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft, die von Kuhn über die feministische Wissenschaftstheorie bis hin zu Hans Jörg Rheinbergers Theorie der Experimentalsysteme reicht, als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden können.

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Christoph Demmerling

Als pragmatisch bzw. sozialpragmatisch verstehen sich meine Überlegungen, da ihnen zufolge alle Normen, die im Zusammenhang mit Urteilen darüber, was wichtig ist und was zählt, maßgeblich sind, in gemeinsamen menschlichen Sprach- und Handlungspraktiken gründen. Freilich setzen die Tatsachen Grenzen und vernünftige Wesen unterstellen sich ihrer Autorität, in dem sie Gründe und Gegengründe darüber austauschen, was anzuerkennen sinnvoll ist und wie die Reichweite und die Grenzen der empirischen Forschung zu bestimmen sind. Schließlich lässt sich der Untertitel meines Beitrags (»von der Naturwissenschaft zum Pragmatismus«) auch im Sinne der vorphilosophischen Bedeutung von »pragmatisch« verstehen, nämlich als Plädoyer für einen, um das einmal salopp zu formulieren, entspannten Umgang mit der empirischen Forschung, der vor allem deren Überbewertung abzuweisen versucht, ohne dabei sogleich in eine Abwehrhaltung zu verfallen. Die Skylla der neuen ›Neuro-Metaphysik‹ sollte sich auf diese Weise ebenso umschiffen lassen wie die Charybdis des von Erfahrung und Experiment unbeeindruckbaren Lehnstuhlwissens.

Matthias Kettner

Was macht Gründe zu guten Gründen?

1) Eine Herausforderung des Naturalismus Das Manifest der Hirnforscher, nun auch schon wieder zwei Jahre alt, ist kulturwissenschaftlich betrachtet schon deshalb ein wichtiges Dokument, weil es jene hoffnungsfroh gestimmte, konsequent naturalistische Einstellung festhält, die zur geistigen Signatur der Gegenwart gehört.1 Der vorspringende Zug in dieser Einstellung ist die Erwartung, dass verlässliche Erkenntnis überhaupt nur mit Methoden der empirischen Naturwissenschaft gewonnen werden kann, egal worüber Erkenntnis gesucht wird, sei es über Supraleitung, Synapsen, Selbstbewusstsein oder Selbstmordattentäter. Die philosophische Kritik am Manifest hat sich besonders auf die Konfrontation von Willensfreiheit und Determinismusbehauptungen konzentriert. Kassierten wir den Begriff des freien Willens, wie die Hirnforscher es uns nahe legen, dann würden wir aus unserer anthropologischen Selbstbeschreibung jene Selbstbestimmung von Personen in ihrem Handeln (Autonomie) tilgen, die ihrem Begriff nach verlangt, dass Handlungen nicht bloß irgendwelche Ursachen sondern dass sie Autoren haben. Der Handelnde (Aktor), soweit er in seinem Tun als freie Person in Erscheinung tritt, will es so, wie er beabsichtigt und könnte auch anders; damit sieht er sich zugleich als der seiner selbst bewusste Urheber (Autor) seines Tuns und Lassens. Ich möchte im Folgenden aber nicht die Konfrontation von Willensfreiheit und Determinismusbehauptungen aufgreifen, sondern gehe von einem anderen Punkt des Manifests aus, der meine Fragestellung nach der Konstitution guter Gründe noch tiefer berührt. Der Punkt ist: Alle im Manifest enthaltenen Aussagen über Phänomene der menschlichen Lebensform sind von methodologischem Individualismus geprägt – die Sichtweise ist eingeengt auf die Erforschung des einzelnen Hirns, also auf das, was unter der Schädeldecke einzelner Menschen passiert. Diese methodologische Verengung übersetzt sich bei den Hirnforschern des Manifests mit erstaunlicher Leichtigkeit in eine ontologische Verkürzung: Als die eigentliche Wirklichkeit des Geistes gilt nur, was unter den Schädeldecken einzelner Menschen existiert.

1

Das Manifest ist unter http://www.gehirn-und-geist.de/manifest abrufbar.

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Matthias Kettner

Damit wird ein weiterer Teil unseres autorial-aktorialen Selbstbewusstseins und des Weltbildes, mit dem dieses Selbstbewusstsein ein kohärentes Ganzes bildet, ausgeblendet. Die Hirnforscher des Manifests würden sagen: kein wesentlicher Teil. Ich finde: ein entscheidender Teil. Ausgeblendet wird, dass wir als soziale Wesen, die in Gemeinschaft leben, in dieser Lebensweise unser Tun zumindest teilweise durch Gründe für unser Tun steuern, und dass das Spiel des Einforderns und Gebens von Gründen nur dadurch sein kann, was es für uns ist, dass es ein Gemeinschaftsspiel ist. An soziale Interaktion und Intersubjektivität reichen die Begriffe der Hirnforscher vorerst nicht heran. Zwar weisen manche Forscher bereits darauf hin, dass die Forschungsperspektive erweitert werden müsste. Aber im Manifest der Hirnforscher findet sich kein methodischer Ansatz, wie dies zu bewerkstelligen wäre. Solange diese methodologische Beschränkung besteht, ist es mit Bekundungen der Hirnforscher, man werde auch die höheren kognitiven Leistungen des Menschen lückenlos naturalistisch beschreiben, nicht weit her. Denn zum Kern menschlicher Rationalität gehört die Fähigkeit, Gründe zu geben, zu verstehen und vergleichend zu bewerten. Die Fähigkeit des Überlegens und Abwägens, Argumentations-, Diskurs- und Urteilsfähigkeit sind allesamt Ausprägungen dieser einen, für unser lebensweltliches Welt- und Menschenbild konstitutiven Fähigkeit zur Orientierung in einem – metaphorisch gesprochen – »Raum« der Gründe. Wolf Singer hat in vielen Gesprächen (u. a. mit Lutz Wingert und Julian Nida-Rümelin) seine Überzeugung dokumentiert, dass doch auch unsere Gründe, also die Beweg- und Rechtfertigungsgründe für unser Tun und Lassen, nur »im Kopf« existieren können. Wo sonst, wenn nicht in den neurophysiologischen Prozessen und Strukturen menschlicher Zentralnervensysteme, sollten sie einen Sitz in der Realität haben? Allerdings trifft die Aufschlusskraft naturalistischer Beschreibungssprachen hier auf eine tiefsitzende begriffliche Sperre: Als rationale Bewerter von Gründen denken wir uns als vernunftgeleitete Personen mit autorial-aktorialem Selbstbewusstsein, und nicht als zentralnervös gesteuerte Organismen. Wir sind Personen. Als Personen leben wir in einer Welt der Gründe. So würden wir sagen. Aber was heißt das und was ist daran unübersetzbar ins Naturalesische? Wie kommt die Welt der Gründe, wenn mit dieser Metapher ernst gemacht wird, zu stehen in einer Welt, die gewiss nicht durch und durch eine Welt der Gründe ist? Was an der Natur von Gründen versteht derjenige völlig falsch, der meint, gute Gründe existierten als konvergente Synchronisierungen oszillierender Nervenaktivität unter Schädeldecken? Wir könnten kurzerhand mit dem Hinweis auf die normativ-rationale Natur von Gründen antworten. Die normative Natur von Gründen zeigt sich darin,

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dass wir geltend machen können, der und der Grund sei vernünftig betrachtet nicht gut genug, oder nicht so gut wie er scheint, oder besser als ein anderer. – Diese Antwort greift aber zu kurz. Wir benötigen eine Theorie, was Gründe sind und wodurch sie, gegeben was sie sind, zu guten oder schlechten Gründen werden. Und eine solche Theorie auch nur in den Grundzügen zu entwickeln ist keine Kleinigkeit.

2) Gründe als Weil-Äquivalente Die Schwierigkeiten beginnen bei der Festlegung der äußersten Grenzen einer Welt der Gründe. Gründe sind ja nicht die Bewohner einer anderen (dritten?) Welt. Zum Grund wird etwas gemacht, d. h. etwas wird dadurch zum Grund, dass es in unseren Praktiken des nach Gründen Fragens und Gründe Gebens eine Rolle für Gründe gibt, und wir etwas diese Rolle zuweisen und spielen lassen. Welche Restriktionen müssen wir dabei beachten? Woran können Zuweisungsversuche scheitern? Philosophisch üblich ist ein Verständnis, wonach Gründe etwas sind, was für oder gegen konkrete Handlungsmöglichkeit von Personen sprechen kann und worauf Personen einander (in dieser Rolle) ansprechen können. Wer mir sagt: »Schalte den Ventilator am Beamer nicht gleich aus, denn sonst verkürzt du die Lebensdauer der teuren Lampe«, fordert mich zu etwas auf und nennt mir einen Grund, der mir die Aufforderung akzeptabel machen können sollte. Aber wenn wir etwas weiter ausholen, auch begriffsgeschichtlich,2 dann ergibt sich ein Bedeutungsspektrum, dem wir nur mit einer sehr viel offeneren Diskursrollendefinition eines Grundes gerecht werden können. Gründe sind Weil-Äquivalente: X ist ein Grund G gdw. eine Person S durch Anführen von X ernsthaft auf eine Warum-Frage (von S') antworten kann. Gründe sind Antworten auf Warum-Fragen aller Art im Rahmen unserer Praktiken des nach Gründen Fragens und Gründe Gebens, Praktiken des logon didonai. Dieser Rahmen enthält natürlich auch das Nachfragen und Angeben solcher Gründe, die für Personen die Gründe sind, aus denen sie zu handeln meinen, reduziert sich aber nicht auf Beweggründe. Dieser Diskursrollenbegriff des Grundes scheint überallgemein. Konfundiert er nicht objektive Wirkursachen (causae) und logische, als Prämissen in Schlüssen taugliche Gründe (rationes)? Gewiss, auch mit Kausalerklärungen antworten wir im Rahmen argumentativer Problematisierungs- und Recht2

Heidegger, M. (1997), Der Satz vom Grund, Frankfurt a. Main 1997.

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fertigungspraktiken auf Warum-Fragen. Doch sind derartige Gründe gewiss keine Gründe für Personen, etwas zu tun, und auch keine Gründe, aus denen nichtpersonale Entitäten etwas tun. Nichtpersonale Entitäten – klare Fälle wären subatomare Partikel, Steine, Seesterne, Spinnen, Stauseen, Stürme – kommen für die Zuschreibung von Gründen, aus denen sie Dinge tun können und die wir als gute oder schlechte bewerten könnten, deshalb nicht in Frage, weil sie überhaupt nicht als Werter und Bewerter von Gründen für uns in Frage kommen. Die Erfahrungen, die wir mit ihnen machen, geben uns keinen guten Grund (mehr), unsere diesbezüglich herausgebildete Einstellung zu ändern. Wenn nichtpersonale Entitäten überhaupt etwas tun, z. B. Tiere, wenn etwas mit (an, in) ihnen vorgeht, z. B. mit fallenden Steinen, oder an ihnen auftritt, z. B. Erwärmung, so gibt es dafür natürlich Gründe, die wir in Erfahrung bringen können, teils unter erheblichem Forschungsaufwand. (Keine Gründe gibt es nur für absolut Unerklärliches bzw. absolut Zufälliges.) Solche Gründe, die in einer älteren Terminologie ›Realgründe‹, ›Seinsgründe‹ usw. genannt wurden, sind für uns (mehr oder weniger gute) Gründe, aus denen wir etwas, an dessen objektiver Erklärung uns gelegen ist, objektiv erklären. Ihre Überzeugungskraft unter uns ist ihre Erklärungskraft im Hinblick auf erklärungswürdige Sachlagen. Mir kommt es hier nur auf den Punkt an, dass dort, wo etwas durch etwas erklärt wird, diskurspragmatisch gesehen bestimmte rationale Aktivitäten von uns stattfinden. Das hindert das explanans, von dem in diesen Aktivitäten Gebrauch gemacht wird, nicht daran, objektiv zu sein. Wir erklären uns die Blitze in Gewitterwolken so, dass sie sich aus Reibung und statischer Elektrizität bilden und nicht aus Zornregungen von Göttern. Es sind reale Reibung und reale statische Ladungen, woraus und wodurch Blitze sich bilden. Die in unseren argumentativen Problematisierungs- und Rechtfertigungspraktiken aufgespannte Ordnung von Gründen kontrastiert zwar mit der Weltordnung von irgendwie bestimmten materiellen Prozessen, die aber ihrerseits wieder nur in jener vernünftig bestimmten Ordnung des »logical space of reasons« für uns einsichtig werden kann. – Drei Arten von Gründen würde ich in Abhängigkeit von verschiedenen Bedeutungen unterscheiden, die die Warum-Frage annimmt, wenn man sie auf Ereignisse und Dinge oder aber auf Personen bezieht: Warum geschieht das? 1. Grund für etwas Warum tust du das? 2. Grund für etwas, das jemand tut 3. Grund für jemanden, etwas zu tun Gründe für etwas, das jemand tut, können wir »praktische Gründe« nennen, um damit zu markieren, dass es um jemandes Tun und nicht um irgendwel-

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che Ereignisse geht. Soweit wir aber jemandes Tun auch als ein Ereignis begreifen können, können wir auch dieses Ereignis durch Gründe für etwas, das geschieht, zu erklären versuchen. Ein Grund in diesem bestimmten Sinne ist in dem Maße ein guter Grund, wie er den tatsächlichen Handlungshergang und -hervorgang erklärt (bzw. im Lichte unserer einhellig als einschlägig anerkannten Standards als erklärt erscheinen lässt). Man kann den Ehrgeiz des Naturalismus in diesem Zusammenhang so verstehen, dass es darum geht, den Bereich von Gründen der ersten Art so auszudehnen, dass der zweite Bereich bruchlos in den ersten überführt wird. Eine deutliche Abgrenzung der »praktischen Gründe« erhalten wir erst dann, wenn wir Personen im Sinne von Wesen, die vernünftig mit Gründen umgehen, in unsere Betrachtung begrifflich »investieren«.3 Nur vernünftige Wesen (=Wesen, die unter uns menschlichen Personen in puncto Vernünftigkeit hinreichend als unseresgleichen anerkannt werden) können aus Gründen etwas tun wollen. Denn nur sie können ihre Handlungsintentionen so regieren lassen, wie wir es vernünftig finden, und das können sie, indem sie sie von Gründen regieren lassen. Jemand tut etwas aus einem Grund G, wenn er ggf. den Grund G angeben und ggf. den Grund G auch, sofern G für ihn keine Überzeugungskraft mehr hätte, aufgeben könnte und dann nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr aus G tun würde (sondern nun vielleicht aus einem anderen Grund, G’). Wer aus einem Grund G agiert, statt nur ein Verhaltensprogramm abzuspulen, dessen Agieren erfolgt auf eine Weise, die so unter der Kontrolle von G steht, wie es die Metapher, dass das Handeln »im Lichte von« G erfolgt, sinnfällig ausdrückt (»agent-guiding«). Indem Ps Agieren im Licht von G erfolgt (da es auf G basiert), ist die betreffende Aktivität holistisch einbezogen in die volle Rationalität, die wir P als einer rationalen Person zuschreiben. Da wir von rationalen Personen unter anderem erwarten, dass sie mit einem kognitiven System ausgestattet sind, dessen Operationen ein gewisses Maß an Logizität aufweisen, erwarten wir auch, dass Ps Agieren (vermittelt über den es begründenden Grund G) dieser Logizität untersteht. So erwarten wir beispielsweise, dass S nicht aus G A tun will und aus demselben Grund G und ohne weiteren Grund G’ auch das Gegenteil von A tun will. Wir erwarten auch, dass dann, 3

Die hilfreiche Redeweise des begrifflichen Investierens übernehme ich von Peter Janich. Im Sinne seines methodischen Kulturalismus sind begriffliche Investitionen diejenigen gedanklichen Unterstellungen und Voraussetzungen, die wir machen müssen, damit wir einen diskursivierbaren Gegenstand des systematischen Nachdenkens haben können. Relativ zu den begrifflichen Investitionen können dann bestimmte Weisen des Nachdenkens passend oder unpassend sein. Begriffliche Investitionen sind in der Regel nicht ohne Alternativen und daher ihrerseits diskursivierbar bzw. ein möglicher Gegenstand des systematischen Nachdenkens.

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wenn S aus dem Grund G1 agiert, und dann aber – aus einem guten Grund G2 – zur Bewertung kommt, dass der vermeintlich gute Grund G1 doch eher ein guter Grund ist, nicht zu Agieren, P aber einen weiteren Grund G3 hat, zu agieren, P nun nicht mehr aus G1 sondern aus G3 agiert – ein gerechtfertigter change of mind. Wir erwarten auch, dass wenn P aus G agiert, diese Aktivität (mehr oder weniger weitgehend) integriert ist in und abgestimmt ist auf viele andere Aktivitäten von P, die P aus vielen anderen Gründen vollzieht – eine komplexe Integration. Und wir erwarten auch, dass G im Großen und Ganzen mit allem zusammenpasst, was P für richtig, wichtig und wahr hält – Kohärenz der narrativen Identität von P. Augenfällig ausgeprägt sind all diese Erwartungen beim Fürwahrhalten. Ob es theoretisch sinnvoller ist, das Fürwahrhalten als eine Einstellung (»propositional attitude«) oder als eine Aktivität, ein Tun zu begreifen, muss ich hier offenlassen. Plausibel erscheint mir jedenfalls die Annahme, dass praktische Gründe nicht nur Absichten sondern auch Ansichten vernünftig regieren können. 3) Naturalistisches Wunschdenken Ich möchte nun kurz eine verbreitete, und für Naturalisten verführerische aber falsche Vorstellung loswerden, die Vorstellung nämlich, dass Wünsche zentral mit der Rationalisierung der Intentionalität einer Person durch Gründe zusammenhängen. Die Vorstellung, Wünsche seien Gründe oder übersetzten sich in Gründe, ist verführerisch dann, wenn man für Wünsche, und vielleicht noch für Überzeugungen (»belief-desire pairs«) eine gute naturalistische Theorie zu haben meint, beispielsweise eine Theorie, die die Wünsche als Motivatoren auf eine psychologische Weise erklärt. Aber wie zuletzt Thomas Scanlon, und 30 Jahre früher James Rachels gezeigt haben, haben Wünsche für den Aufbau einer Theorie guter Gründe wenig zu bieten. Ich konstruiere das entscheidende Begrenzungsargument an einem Beispiel: Jemand der weiß, dass ich gewöhnlich nicht vor Tagungsanfang anreise, fragt mich, warum ich diesmal schon einen Tag früher zur Tagung gekommen bin. Meine Antwort: »In Marburg läuft gerade ein früher Woody Allen Film, den man sonst gar nicht mehr zu sehen bekommt, und [ich möchte mir den ansehen, {wir machen in Witten gerade ein Seminar über Tragikkomik im Film}].« Der erste Teil meiner Antwort – »In Marburg läuft gerade ein früher Woody Allen Film, den man sonst gar nicht mehr zu sehen bekommt« – artikuliert innerhalb der Gesamtform meines Handlungsgrundes bestimmte Tatsachen, einen Inhalt, dessen Erfassen mich zu einer bestimmten Handlungsabsicht

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gebracht und entsprechend zum Handeln bewegt hat. Im Rest [--] meiner Äußerung artikuliere ich, warum das ein guter Grund für mich ist: Kenntnis der Tatsache, dass in Marburg gerade ein kaum noch bekannter Woody Allen Film läuft, könnte mich ja auch kaltlassen, lässt mich aber tatsächlich nicht kalt, sondern übersetzt sich in einen prima vista guten Handlungsgrund, weil ich den Wunsch habe, möglichst viele Woody Allen Filme anzuschauen. Mit dem letzten Teil {--} meiner Äußerung bette ich diesen Wunsch in seine für mich aktuelle Praxisumgebung ein, um ihn meinem Gesprächspartner noch verständlicher zu machen. Es ist aber nicht so, dass es da einen Wunsch gibt, der mich antreibt und sozusagen zu einer selbständigen Quelle meiner Handlungsmotivation wird. Vielmehr entspringt meine Handlungsmotivation erst meinem gesamten grundgebenden Handlungsgedanken. Mein Wunsch spielt zwar eine Rolle in der Bildung dieses Gedankens, aber dieser Gedanke besteht nicht aus jenem Wunsch. Die Rolle, die der Wunsch in der Bildung meines Handlungsgedankens spielt, würde ich so beschreiben: Den Wunsch zu haben disponiert mich, bestimmte Dinge als Gründe für Handlungen wahrzunehmen und zu bewerten, die ich andernfalls wohl nicht als diese Gründe wahrgenommen, bewertet und entsprechend gehandelt hätte. Der Wunsch spielt nicht etwa die Rolle eines Grundes, aus dem ich handle, nicht einmal in dem Sinne, dass sich der Wunsch in den Grund, aus dem ich handle, übersetzen würde. Allenfalls ließe sich sagen, mein Wunsch schreibe sich meinem Handlungsgrund ein. Hätte ich bestimmte Wünsche nicht, würden mir einige der Dinge, die mir jetzt Gründe zu bestimmten Handlungen geben können, diese Gründe nicht oder nicht so geben können.

4) Der diskursive Aufstieg zu praktischen Gründen Kommen wir von den Wünschen wieder zurück zu den Gründen. Ich beschreibe nun die Diskursivierung von praktischen Gründen. Was ist das, was ich mache, wenn ich in X einen Grund G sehe, A zu tun? Und wenn ich G als so und so gut bewerte? Hier ist zweierlei zu unterscheiden: (1) Dass ich in X einen Grund sehe. (2) Dass ich in dem Grund G einen so und so guten Grund sehe (um, im Kontext C, A zu tun). Dass ich überhaupt etwas als einen Grund für etwas »sehe« enthält, dass ich zu wissen meine, dass etwas für oder gegen die fragliche Handlung oder Handlungsabsicht spricht und was das ist, was da für oder gegen sie spricht. Dasjeni-

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ge nämlich, was für oder gegen sie spricht, ist genau dasjenige, was ich als einen bestimmten Grund bezeichne, erfasse, und abgrenze von demjenigen, wozu dieser bestimmte Grund ein Grund sein könnte. Bereits dieses Etwas-für-einen-Grund-Halten enthält ein Bewerten. Denn etwas, das aus meiner Sicht in keiner Weise für und in keiner Weise gegen etwas sprechen würden, wäre überhaupt kein Grund. Spricht aber in meiner Sicht etwas in irgendeiner Weise für oder gegen etwas, dann bewerte ich es auch schon. An dieser Stelle tauchen für die Theoriebildung schwierige Fragen auf: Ist mein Bewerten das Einnehmen einer besonderen Einstellung zu X, G und A, einer Einstellung, die eine spezifisch andere Einstellung ist als diejenige des Fürwahrhaltens?4 Oder ist mein Bewerten doch nur ein Fürwahrhalten, dass etwas der Fall ist? (Nämlich dass der Fall ist, dass der Grund G gut ist.) Ich komme zu einer Überzeugung, auf die ich mich festlege (nämlich zu der Überzeugung, dass der Grund G für A spricht). Aber ist diese Überzeugung eine Tatsachenüberzeugung oder bin ich nicht vielmehr von der Richtigkeit meines Grundes überzeugt? Eine Richtigkeitsüberzeugung hat eine direkte normative Kraft, die einer Tatsachenüberzeugung abgeht. Diese Fragen möchte ich jetzt offenlassen, wenn ich vom »Bewerten« von etwas als Grund und vom »Bewerten« eines Grundes spreche. Entscheidend ist, dass diese Art des Bewertens Urteilscharakter hat oder, wie diskurstheoretisch wohl genauer zu sagen wäre, dass mit der Grundbewertung ein Geltungsanspruch einhergeht. Das soll heißen: Ein Anspruch, der über meine bloß subjektive Einstellung intersubjektiv hinausgeht; mit dem immer schon andere Personen ins Spiel gebracht sind; mit dem die Möglichkeit gegeben ist, dass ich mich irre und versuchen kann, falls ich oder ein andere sich darin geirrt hätte, zu korrigieren oder mich korrigieren zu lassen. Als das geeignete Einheit der Analyse für eine Theorie guter Gründe drängt sich unmittelbar der Fall auf, dass eine Person P in einem Kontext C die Handlung A tut, und dass es einen Grund G gibt, der für A derjenige ist, aus dem P in C A tut. Dabei gerät freilich leicht aus dem Blick, dass es eine Praxis des intersubjektiven, also über verschiedene Subjektstellen hinweg vergleichbaren Bewertens geben muss, um allererst jene Rolle zu erzeugen, in die etwas so schlüpfen kann, dass es als ein Grund »da« ist, den Personen aufgreifen und sich zu eigen machen können. Die Einheit für die Analyse dieser Praxis ist komplexer als die erste, unmittelbare. Sie beinhaltet nämlich, dass eine Person P G als ihren Handlungsgrund geltend macht und dass Person P oder eine andere Person P’ Grund G oder einen anderen Grund G’ als einen möglichen 4

Vgl. Thomas Scanlons Diskussion der Annahme einer »special attitude« (What We Owe to Each Other, Cambridge 1998, S. 54–64).

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Grund, in C A zu tun, vergleichend bewerten kann. Die Theorie guter Gründe verlangt einen Aufstieg, der von Gründen, die in der ersten Analyseeinheit wie bereitliegende Handlungsmotive erscheinen, zu Gründen hinführt, wie sie in unseren diskursiven Praktiken erscheinen. Dieser Aufstieg führt offenbar über eine naturalistische Perspektive hinaus. Der Anspruch, geltend zu machen, dass G ein so-und-so guter Grund für A ist, enthält qua Geltungsanspruch eine gewisse Normativität oder normative Kraft. Innerhalb des Sprachspiels von Wirkungszusammenhängen in Gehirnen lässt sich diese nicht beschreiben. Dass der Gedanke »ich muss ganz dringend mehr trinken« mein effektiver Grund ist, auch noch das Glas Wasser meines Tischnachbarn auszutrinken, nachdem meines schon leer ist, ist natürlich auch eine psycho- und neurologische Tatsache über mich.5 Meine Bewertung, dass dies, dass ich dringend mehr trinken muss, sehr für diese Handlung spricht, also ein genügend guter Grund für sie ist, lässt sich hingegen nicht einfach mit irgendwelchen empirisch feststellbaren Tatsachen gleichsetzen. Weder ist meine Bewertung mit empirisch feststellbaren Tatsachen der physisch-natürlichen Welt gleichzusetzen, noch mit Tatsachen des sozialen Lebens, noch mit solchen des Seelenlebens, dessen Objektivierbarkeit einmal angenommen. Die Differenz tritt klar hervor, sobald man sich folgendes klarmacht: Zu der Bewertung gehört sinngemäß, dass ich mich korrigibel in ihr irren kann; die Möglichkeit, sich korrigibel irren zu können, hat aber nicht die logische Form einer empirisch feststellbaren Tatsache. Auf empirisch feststellbare Tatsachen können wir reagieren. Wenn es kalt ist, ziehen wir uns warm an, wenn der Bleigehalt im Kinderspielzeug zu hoch ist, verbieten wir den Verkauf. Soweit wir aber in solchen Reaktionen auf Gründe reagieren, tauchen in jeder phänomenal angemessenen Beschreibung solcher Reaktionen Begriffe auf, deren Bedeutung nicht vollständig in den deskriptiven Gehalten von psycho-, neuro-, soziologisch oder sonst wie feststellbare Tatsachen ausgedrückt werden kann. Das normative Moment im Reagieren auf Gründe reduziert sich nicht auf die Tatsachen, die erklären, wie wir es anstellen, auf Tatsachen zu reagieren. Das normative Moment im Reagieren auf Gründe zeigt sich darin, dass jede individualistisch vollständige Erklärung der Tatsache, dass P in C A aus G tut, die Frage offen lässt, ob P, indem er aus dem Grund G handelt, die relevanten Tatsachen vor Augen hat und in der richtigen Weise auf sie reagiert. Mit den Begriffen der Relevanz und der richtigen Weise sind Begriffe im Spiel, deren Bedeutung sich nicht auf eine Konstellation von Tatsachen reduzieren lässt. Man sieht: Eine auf den ersten Blick bestechende naturalistische Definition, die das, was es heißt, auf Gründe zu reagieren, scheinbar 5

Genauer: Eine Tatsache über die körperlichen und seelischen Prozesse der organismisch verkörperten Person, die ich bin.

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mühelos auf Individual(neuro)psychologie plus Tatsachen reduziert, misslingt, weil sich auf den zweiten Blick die Definition als unvermeidlich kryptonormativ entpuppt. Die Definition, X ist ein guter Grund, in C A zu tun, genau dann wenn gilt: Ich würde X für einen guten Grund halten, wenn mir die Tatsachen vor Augen stehen und ich auf sie reagieren würde, ist im Definiens zwar nicht normativ, aber unvollständig, während das vollständige Definiens, Ich würde X für einen guten Grund halten, wenn mir die relevanten Tatsachen vor Augen stehen und ich in der richtigen Weise auf sie reagieren würde, normative Begriffe enthält.

5) Die Zweckdienlichkeit guter Gründe Ich möchte nun einen konstruktiven Vorschlag machen, wie praktische Gründe zu analysieren sind, so dass erhellt, wie mehr oder weniger gute praktische Gründe möglich sind. Unter praktischen Gründe verstehe ich im Folgenden Handlungsgründen, die jemandes Tun nicht nur verursachen sondern auch in den Augen relevanter Anderer zu rechtfertigen vermögen, und Bewertungsgründen, mit denen wir in der Rolle von argumentierenden Diskursteilnehmern jemandes Handlungsgründe – oder andere Bewertungsgründe – ihrerseits bewerten können. Fangen wir so an: Wir wissen, dass Messer in der Regel dazu gut sind, zu schneiden. Das hilft uns, gute und schlechte Messer zu unterscheiden. Wozu ist das Spiel des Forderns und Gebens von Gründen eigentlich gut? Vielleicht hilft uns die Antwort, gute und schlechte Gründe zu unterscheiden. Zu was ist es gut für uns, in diesem Spiel mitzumachen? Nota bene: Gesucht sind jetzt nicht Funktionen, die das Spiel für irgendein Bezugssystem erfüllt, sondern seine Zwecke für uns, d. h. die intrinsischen Zwecke einer bestimmten, universell verbreiteten, menschentypischen Praxis, der Praxis des Gebens, Annehmens und Einforderns, des Bewertens und Vergleichens praktischer Gründe. (1) Die Gründe in diesem Spiel orientieren orientierungsbedürftige Absichten und Ansichten. Sie machen nämlich anderen, aber auch uns selbst gegebenenfalls transparent, warum wir tun, was wir tun, und warum wir es so tun, wie wir es tun. – Ich ziehe eine heiße Toastscheibe aus dem Toaster und fächele kurz damit hin und her. »Warum machst du denn das?« »Weil so der Toast

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schnell soweit abkühlt, dass ich ihn buttern kann, ohne dass die Butter gleich verläuft.« (2) Die Gründe in diesem Spiel rechtfertigen rechtfertigungsbedürftige Absichten und Ansichten. Je mehr Verantwortung an einer Handlungsweise hängt und dem so Handelnden zukommt, desto eher wird Rechtfertigungsbedarf entstehen, der durch Gründe gedeckt werden muss, die zeigen, dass für die Handlung spricht, dass sie in Ordnung ist und somit bestimmten Einwänden entgeht. Ein Grund ist demnach besser als ein anderer, wenn er die betreffenden orientierungsbedürftigen und/oder rechtfertigungsbedürftigen Absichten und Ansichten besser orientiert und/oder rechtfertigt, als ein anderer Grund.

6) Die Kohärenz dreier Weltbezüge von Gründen Wie lässt sich diese noch ganz abstrakte Unterscheidung konkretisieren? Betrachten wir genauer, wie wir von einem anscheinend guten Grund zu einem wirklich guten Grund gelangen. Auf die Frage, »Wie finde ich heraus, was ein wirklich guter Grund, A zu tun, wäre?« ist wohl nur zu antworten: »Das hängt zunächst einmal von der Aktivität ab, um die es mit dem Tun oder Lassen von A geht!« Denn schon wenn ich die relevante Art von Überlegungen ausmachen will, die etwas hervortreten lassen können, was für oder gegen A sprechen könnte, muss ich von meiner Kenntnis Gebrauch machen, um welche Art von Aktivität es sich bei A handelt. Ich muss mich sozusagen von A her umschauen, wenn ich wirklich noch im Ungewissen bin. Richard Stanley Peters hat diesen Vorrang der Materialität der Praxis, um die es geht, aristotelisch pointiert. Peters meint, man könne etwas aus Gründen, die Gründe für diese Art von Aktivität sind, tun, oder aber aus Gründen, »that can be artificially tacked on to almost anything that can be done. By that I mean that most things can be done for profit, for approval, for reward, to avoid punishment, for fame, for admiration. Such reasons are essentially extrinsic, as distinct from intrinsic reasons which are internal to the conception of the activity.« 6 Die Unterscheidung, die Peters hier macht, hat ihre Einheit an der Aktivität und ihrem guten Sinn in einer Praxis, und nicht, wie bei Bernard Williams, an der Person und deren subjektivem motivational set.7 Peters zufolge geht es 6

R.S. Peters, R. S. (1973), The Justification of Education, in: ders. (Hg.), The Philosophy of Education, London 1973, S. 245. 7 Williams, B. (1995), Internal Reasons and the Obscurity of Blame, in: ders., Making Sense of Humanity, Cambridge 1995, S. 35–45.

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beim Internen um die Intentionen, die es braucht, wenn einer sich auf die betreffende Aktivität so einlässt, wie dies einem für diese Aktivität angemessenen Verständnis und Selbstverständnis entspricht, woraus »intrinsische« Gründe entspringen. Gibt die Tatsache, dass seine Schüler zu gelangweilt sind, um zu lernen, einem Lehrer einen guten Grund, um seine Lehrmethode zu verändern, so ist dies – bezogen auf die Aktivität des Lehrens – ein intrinsischer Grund. Denn zum Lehren braucht es die Intention, jemandem etwas beizubringen zu wollen. – Um die Lehre aus dem Lehrerbeispiel sogleich zu verallgemeinern: Nicht dadurch, dass sie allgemeiner oder motivational tiefer oder verpflichtender sind als andere Gründe, sind Gründe die besseren Gründe. Sondern dadurch, dass sie auf einen bestimmten Orientierungs- und/oder Rechtfertigungsbedarf bedarfsgerecht antworten. Ich würde deshalb an praktischen Gründen strukturell dreierlei unterscheiden: (1) G hat Bezug auf Tatsachen, faktischen Bezug. Bei jedem Grund, aus dem einer etwas tut, könnten wir fragen, was der Fall sein muss, weil andernfalls der Grund verschwinden würde. Wenn ich am Nachmittag in Sport gehen will, weil ich einen körperlichen Ausgleich nötig habe, dann muss zutreffen, dass es mir körperlich wirklich schlecht geht, sonst ist da kein Grund. (2) G hat zweitens Bezug auf die Person selbst in der Weise einer positiven oder negativen Wertschätzung seitens der Person: Angenommen, ich bin an diesem Tag sehr depressiv. Und es geht mir körperlich wirklich schlecht. Dann hört G auf, ein für mich selbst guter Grund zu sein, obwohl ich ihn weiterhin rational bewerten und finden kann, dass einen körperlichen Ausgleich nötig zu haben einem einen guten Grund gibt, in den Nachmittagssport zu gehen – nur eben nicht mir. Es ist aber nicht so, dass ich den Grund nicht mehr hätte. Nur identifiziere ich mich nicht mehr mit ihm, ich kann ihn »nicht mehr besetzen«, obwohl ich einen körperlichen Ausgleich nötig habe, was mir aber jetzt völlig egal ist. Und ich habe auch keinen weiteren Grund, aus dem ich mich mit dem Grund nicht mehr identifizieren will. Einen solchen zusätzlichen Grund hätte ich beispielsweise dann, wenn ich Nachmittagssportler grässlich finde und keinesfalls »so einer« werden möchte. (3) G hat drittens Bezug auf Normen meines Lebensumfelds. Egal ob ich depressiv bin oder nicht, und egal ob es mir wirklich körperlich schlecht geht, es kann daraus – aus der Gegebenheit, einen körperlichen Ausgleich dringend nötig zu haben – nur dann ein selbstgenügsam guter Grund werden, wenn Sportmachen als körperlicher Ausgleich für einschlägig gehalten wird im Kreise eines Wir von relevanten Anderen. Wenn genügend Personen in meinem Lebensumfeld dazu übergingen, immer wenn es ihnen körperlich schlecht geht viel Kaffee zu trinken, und Sport nur noch als Bußritual am

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Karfreitag zu machen, dann würde mein Handlungsgrund seine Einschlägigkeit verlieren und die kritische Nachfrage der Anderen nach weiteren Gründen auf sich ziehen, weil mein Handlungsgrund nun nicht mehr als ein guter Grund gelten würde, aus dem »solche wie wir« Sport treiben wollten. Diese drei Beobachtungen ergeben: Exemplarisch gute Gründe sind dort im Spiel, wo die Spezifizität des faktischen Bezugs, die persönliche Resonanz des Selbstbezugs und die Einschlägigkeit des normativen Bezugs eines praktischen Grundes im konkreten Fall so zusammen passen, dass eine bestimmte Nachfrage nach Rechtfertigung und/oder Orientierung beantwortet werden kann, die ihrerseits nicht grundlos zu sein hat.

7) Wie können gute Gründe konfligieren? Besonders der normative Bezug, durch den praktische Gründe in Praktiken verstrickt sind, verdient genauere Analysen. Der normative Bezug macht, dass die Güte von Gründen mit der Variation von Praktiken variieren kann. Gründe können auf verschiedenartige Weisen (nämlich relativ zu verschiedenartigen, aufeinander nicht reduzierbaren Wertungsperspektiven) gute bzw. schlechte Gründe sein. Was z. B. ein moralisch guter Grund sein kann, die Wahrheit zu sagen statt zu lügen, kann zugleich ein juristisch schlechter und ästhetisch schlechter Grund für dieselbe Handlungsweise sein, usw. Deshalb können Gründe je für sich gute sein und gleichwohl in Konflikt miteinander liegen bzw. miteinander konkurrieren, so dass Abwägungen zwischen verschiedenartigen guten Gründen erforderlich sind, im Fall dass sie allesamt relevant für eine Handlungsalternative sind, über die deliberiert wird. Theoretisch besonders interessant sind hier Fälle, wo wir sagen würden, jemand tue das Richtige aus den falschen Gründen. In einem wunderbaren brasilianischen Film über die Regentschaft Philipp des III. von Spanien weist der König das Ansinnen des Hofjesuiten, ein Autodafe zu veranstalten, mit der Begründung zurück, verbranntes Fleisch stinke und das möge er nicht. Handelt es sich um die Angabe eines falschen Grundes? Eines ästhetischen Grundes, wo nur ein moralischer am Platz wäre? Aber der ästhetische Grund kann ja auch der im bestimmten Äußerungskontext von Philipp III. sehr klug gewählte, explizit geäußerte Grund aus einer Konjunktion von anderen, nicht geäußerten Gründen sein. Und allemal ist der angegebene ästhetische Grund aus unserer Sicht besser, nämlich aus unserer Sicht nachvollziehbar relevanter, als es z. B. der Grund wäre, darum kein Autodafe zu veranstalten, weil der Saturn im Aszendenten des Jupiters steht. Während dieser astrologische Grund in keinem aus unserer Sicht relevanten Zusammen-

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hang mit königlichen Anordnungen oder Verboten von Autodafes steht und stehen sollte, geht selbst als ein rein ästhetischer Grund der angegebene Grund in die (von uns aus gesagt: »richtige«, nämlich:) moralische Richtung, insofern er eine Abscheu vor barbarischen Handlungsweisen gegen Menschen anzeigt, als ein Missfallensgefühl.

8) Die Grundsituation rationaler Bewerter Gehen wir zurück zu der anfangs gefundenen Kurzformel für die spezifische Differenz unter guten Gründen: Ein Grund ist besser als ein anderer, wenn er die betreffenden orientierungsbedürftigen und/oder rechtfertigungsbedürftigen Absichten und Ansichten besser orientiert und/oder rechtfertigt, als ein anderer Grund. Man kann diese Differenz pragmatisch als einen Ausdruck dessen lesen, dass bessere Gründe uns vergleichsweise mehr helfen, bestimmte Probleme zu bewältigen, als schlechtere. Probleme welcher Form? Lässt sich eine allgemeine Beschreibung finden, an die Personen qua Bewerter von Gründen gedanklich gebunden sind? Wenn ein Grund G für eine Person Pi ein Grund ist, im Kontext C so und so zu agieren, dann gibt es stets mindestens eine bestimmte Problemsituation, für die G relevant ist, nämlich diejenige Problemsituation, die wir mit der Frage erfassen können: ob Pi -in-C so statt anders agieren sollte? (Diese Frage kann sich für Pi selber stellen oder für eine x-beliebige Person Pj im Hinblick auf Pi.) Wenn ich urteile, dass G für mich ein guter Grund ist, so statt anders zu agieren in C, dann muss ich keineswegs meinen, dass G für jede x-beliebige Person ein hierfür guter Grund ist. Was ich allerdings meinen muss ist dies: Für eine jede Person, die in einer (Problem-)Situation gleich der meinigen wäre, würde G gleich akzeptabel sein, wie G es für mich hier jetzt ist. Warum »muss« ich das meinen? Ich »muss« es rationaliter meinen, d. h. unter der Forderung der Vernunft. Denn es wäre ein performativer Selbstwiderspruch, wenn ich, um meinen Anspruch dir gegenüber zu rechtfertigen, einen Rechtfertigungsgrund anführen würde, von dem ich (ohne weiteren Grund) sage, dass dieser mein Grund für dich kein guter Grund ist. Der performative Selbstwiderspruch tritt hierbei ein zwischen der Form (=Urteilsform) meiner Äußerung und deren Inhalt. Die Form ist die eines Urteils. Die Urteilsform berechtigt dich, von mir zu denken (1) *was er mir sagt ist: aufgrund von G hält er es für richtig, so statt anders zu agieren*. Der Inhalt meiner Äußerung ist: (2) »Aufgrund von G halte ich, aber nur ich, es für richtig, so statt anders zu agieren«. Dieser Inhalt berechtigt dich, von mir zu denken: (3) *was er mir sagt ist: er hält allein für sich selbst etwas aufgrund von G für

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richtig*. Wo ist nun der performative Widerspruch? Er liegt hierin: Die (in 2) angesprochene Person sieht sich (in 1) von mir gedacht und angesprochen als ein Bewerter von Gründen, und sieht sich (in 3) von mir gedacht und angesprochen als kein Bewerter von Gründen. Mein Gegenüber kann mich nicht mehr als Bewerter von Gründen ernst nehmen – ich darf nicht erwarten, von meinem Gegenüber als Bewerter von Gründen ernst genommen zu werden. Aber ich schien zu erwarten (in 2), von meinem Gegenüber als Bewerter von Gründen ernst genommen zu werden. Kurz gesagt: Ich setze eine Gemeinschaftlichkeit des diskursiven Argumentierens an und streiche sie in einem Zuge wieder durch. Dieser performative Selbstwiderspruch zeigt, dass eine Person, wenn sie einen Grund als ihren Grund angibt, immer schon annehmen muss, dass auch ein Gegenüber ihren Grund, den sie für sich als guten Grund akzeptiert, für sich als guten Grund akzeptieren könnte. Das »könnte« bezieht sich auf ein Können, das auch hier wieder soviel bedeutet wie, dass man es rationaliter kann, d. h. unter der Forderung der Vernunft. Genauer gesagt: Wer einen Grund als seinen Grund angibt, muss immer schon annehmen, dass auch die zweite Person den Grund, den die erste Person für sich als guten Grund akzeptiert, für sich als guten Grund akzeptieren können sollte, wenn nicht (…). Die Teilformulierung »wenn nicht (…)« markiert die Möglichkeit von für mich neuen, überraschenden Gründen und somit eine Chance für Lernen. Die Person, die ernsthaft einen Grund als ihren Grund angibt, muss immer schon annehmen, dass der Grund in der zweiten Person so akzeptabel ist wie derselbe Grund in der ersten Person, ceteris paribus, das heißt sofern keine weiteren Gründe im Spiel sind.

9) Gründe transformieren Problemsituationen Ich möchte die Beobachtung weiterverfolgen, dass wir – mit einer geringfügigen Investition von philosophischem Pragmatismus – Gründe als Lösungen (Negationen) von Problemsituationen begreifen können: Ein in einem bestimmten Problembezug relevanter Grund G transformiert dadurch, dass eine Person S ihn hat, für diese Person die Problemlage L, in der die Person sich begreift. Der Unterschied, den eine solche in G gründende Transformation der Problemlage L von P für P selbst macht, sei ausgedrückt als die Differenz Δ in Ps Problemlage: Δ P(G/L).

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Das, worum es bei der Konstruktion von »allgemeingültigen« Gründen geht, lässt sich dann beschreiben als eine Symmetrie zwischen meiner eigenen Transformation durch G vis-a-vis L und derjenigen aller anderen Personen, die ihre Gründe miteinander teilen und kritisch bewerten können. Bei der Konstruktion von »allgemeingültigen« Gründen geht es um eine Symmetrie, die in den Grenzen der Gemeinschaftlichkeit dieser Gemeinschaft jeder auf jeden projizieren darf. Im vollkommen entgrenzt gedachten Fall umfasst die relevante Gemeinschaft alle (vernünftigen) Menschen. Einen Grund, der für eine x-beliebige Person so gut ist wie für eine x-beliebige andere Person unter allen (vernünftigen) Menschen, kann man einen »uneingeschränkt allgemeingültigen Grund« nennen. Wenn G uneingeschränkt allgemeingültig ist, dann gilt: (Pi)( Pj) [ ΔPi (G/L) = ΔPj (G/L)) ] Ein Beispiel: Beurteilen zu müssen, ob eine bestimmte Schlussfolgerung gültig ist (und ich also glauben soll, dass falls ihre Prämissen wahr sind, ihre Konklusion unmöglich falsch sein kann), ist eine Problemlage L. In diese Art von Problemlage können x-beliebige vernünftige Personen kommen. Und vorausgesetzt, die Schlüsse, um die es geht, sind einfach genug, können sie diese Problemlage auch intersubjektiv teilen.8 Der Grund, *dass die Schlussfolgerung einen Widerspruch beinhaltet*, ist nun ein ceteris paribus hinreichend guter Grund für jede x-beliebige vernünftige Person in dieser Lage, um nicht zu glauben, dass falls ihre Prämissen wahr sind, ihre Konklusion unmöglich falsch sein kann, sondern vielmehr zu glauben, dass sogar falls ihre Prämissen wahr sind, ihre Konklusion wahr oder falsch sein kann. Das Beispiel ist bewusst als eine Problemlage im Raum logischer, auf die Gültigkeit von Schlussformen bezogener Gründe gewählt, weil es uns in diesem Raum am leichtesten fällt, uneingeschränkt allgemeingültige Gründe zu denken. Jedes wirkliche »logische« Prinzip, z. B. das Prinzip des zu vermeidenden logischen Widerspruchs und das Prinzip der Identität (zwei logische Prinzipien, die Apel treffend so verknüpft, dass das letztere die ratio essendi des ersten sei, das erste aber die ratio cognoscendi des zweiten9), sind Quellen 8

Intersubjektivität kann man begreifen als die gedankliche Möglichkeit, dass eines ein und dasselbe für zwei verschiedene Subjekte sein kann (M. Kettner und A. Oefsti, Intersubjektivität. Einige Analyseschritte, in: G. Meggle (Hg.), Analyomen 2. Proceedings of the 2nd Conference «Perspectives in Analytical Philosophy, Vol. 3. Berlin 1997, S. 468–477. 9 Siehe besonders Apel (1995), Rationalitätskriterien und Rationalitätstypen. Versuch einer transzendentalpragmatischen Rekonstruktion des Unterschiedes zwischen Verstand und Vernunft, in: A. Wüstehube (Hg.), Pragmatische Rationalitätstheorien, Würzburg1995, S. 29–64.

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solcher Gründe bzw. können selber die Rolle solcher Gründe spielen, z. B. in der logischen Kritik von Aussageverbindungen. Wenn wir fragen, woran die Verallgemeinerbarkeit guter Gründe gebunden, was sie ermöglicht und zugleich auch begrenzt, dann genügt es nicht zu sagen, die Verallgemeinerbarkeit guter Gründe sei an die Vernünftigkeit aller gebunden, die einander Vernünftigkeit unterstellen. Das Spiel der Gründe macht nur Sinn für Wesen, die Vernunft und Probleme haben. Die Verallgemeinerbarkeit guter Gründe wird ermöglicht und zugleich auch begrenzt durch Problemlagen des Rechtfertigens, die einige oder alle miteinander teilen bzw. die einige oder alle (zu Recht oder Unrecht) als mit einigen oder allen anderen geteilt – oder als mit einigen oder allen anderen teilbare – Problemlagen unterstellen. Die Grenzen der Verallgemeinerbarkeit meiner Problemlagen des Rechtfertigens sind die Grenzen meiner diskursiven Welt. Da Problemlagen des Rechtfertigens gewöhnlich nicht »in der Luft hängen« sondern verwoben sind mit andersartigen – wenn man so will: konkreteren, praktischeren – Problemlagen, in denen sie sich allererst stellen und auf die ihr Ausgang rückbezogen bleibt, ist die Abhängigkeit der Verallgemeinerbarkeit guter Gründe sogar eine doppelte: Die Verallgemeinerbarkeit guter Gründe wird erstens durch die Teilbarkeit der Problemlagen des Rechtfertigens beschränkt und zweitens durch die Teilbarkeit der konkreteren Problemlagen, in denen sich die bestimmten Problemlagen des Rechtfertigens stellen und auf die sie rückbezogen bleiben. Problemlagen des Rechtfertigens können wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, seltener oder häufiger, mehr oder weniger kontextgebunden oder kontextunabhängig sein je nachdem, wie ein Raum für Diskursivierungschancen kulturell geöffnet oder geschlossen, kultiviert oder vernachlässigt, kanalisiert oder gestreut, kontrolliert oder befreit wird. Theokratische Gesellschaften werden andere Muster von Diskursivierungschancen aufweisen als liberale Demokratien.

10) Nachvollzug versus Übernahme guter Gründe Gründe, auf die wir uns festlegen, halten wir für gute Gründe, aber wir legen uns nicht auf alle Gründe fest, die wir für gute Gründe halten. Gewiss, eine Person, die einen Grund als ihren guten Grund angibt, legt sich selbst auf eine entsprechende Richtigkeitsüberzeugung fest. Aber man kann in der diskursiven Rolle des rationalen Bewerters Gründe bewerten, ohne sich uno actu mit diesen zu identifizieren. Jemand kann einen Grund für nachvollziehbar gut halten und ihn doch nicht akzeptieren. G für nachvollziehbar gut zu halten heißt natürlich, G aus der Perspektive einer Person zu denken, die G akzep-

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tiert. Aber diejenige Person, die G für nachvollziehbar gut hält, und diejenige Person, die G als ihren guten Grund akzeptiert, muss nicht ein und dieselbe Person sein: Die erste Person kann sich als die zweite Person (= diejenige, die G als ihren guten Grund akzeptiert) denken und gleichwohl sich selbst von ihr unterschieden halten. Das heißt: Wenn ich urteile, dass G ein guter Grund ist, muss ich weder meinen, dass G für jede x-beliebige Person ein guter Grund ist, noch muss ich meinen, dass G mein guter Grund ist. Wir können den gerade markierten Unterschied terminologisch fixieren, indem wir zwischen dem Nachvollzug und der Übernahme eines für gut gehaltenen Grundes unterscheiden. Eine Person P übernimmt den Grund G, wenn sie ihn unmittelbar anerkennungswürdig findet. Sie erwirbt dabei die dem Grund G entsprechende Richtigkeitsüberzeugung. Eine Person P vollzieht den Grund G nach, wenn sie ihn versteht und zudem versteht, inwiefern er in einer bestimmten Perspektive gut ist. Aber P erwirbt dabei nicht die dem Grund G entsprechende Richtigkeitsüberzeugung selbst, sondern schreibt sie anderen Personen P’ zu. Zwar impliziert der Nachvollzug von Gründen durch mich, dass ich eine rationale Bewerterperspektive einnehme, aber er impliziert nicht, dass ich meine rationale Bewerterperspektive einnehme. Ich wähle ein ethnologisches Beispiel: Im Kontext einer schamanistischen Heilungszeremonie der Akan muss für Stammesmitglieder, deren Seele von einer Hexe entführt wurde, die erste Fliege, die sich ab Sonnenaufgang auf einen bestimmten Topf setzt, gefangen und von den Kranken verspeist werden, denn die Fliege ist ihre zurückkehrende Seele. – Mit ein wenig Phantasie und Anstrengung können wir durchaus nachvollziehen, dass die Gründe, aus denen man die Fliege fangen und verspeisen soll, von allen, die so wie diese Stammesmitglieder mit schamanistischer Religion und Medizin aufwachsen, für gute Gründe gehalten werden. Wenn wir überzeugt sind, dass viele Formen von Psychotherapie ihre Heilwirkung aus Placebo-Effekten beziehen, dann brauchen wir uns an den sicher falschen Tatsachenannahmen, die bei den Akan für die Güte ihrer Rechtfertigungsgründe im beschriebenen Ritual im Hintergrund relevant sind, nicht mehr zu stören. Wir können dann sogar urteilen, dass der Akan-Schamane und sein Akan-Patient »die besten Gründe« für ihr Tun haben, die sie haben können. Wir können allerdings diese Gründe nicht für uns selbst übernehmen: Die Richtigkeitsüberzeugungen der Akan werden dadurch, dass wir sie nachvollziehen, nicht die unsrigen. Denn je tiefer wir verstehen, wie sich für diesen Patienten und Schamanen die Problemsituation darstellt, in der sie so handeln, wie sie aus ihren Gründen handeln, desto besser verstehen wir auch, dass diese Problemsituation der Akan sich nicht wirklich so auch für uns selbst stellen kann. Wir können mit ihnen die Problemsituation nicht tief genug teilen, um das, was sie in dieser Situation für gute Gründe halten, übernehmen zu können.

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Ich komme zurück auf meine Anfangsbemerkungen über das SozialitätsDefizit in den methodologischen und ontologischen Vorstellungen der Forscher, die sich im Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung geäußert haben. Wegen ihrer methodologischen und ontologischen Beschränkungen kann für die Autoren des Manifests das Spiel des Forderns und Gebens von Gründen nur als Musterbildung wechselwirkender neuronaler Aktivitätsmuster von Gehirn zu Gehirn erscheinen. Aber die Gründe, die wir meinen, wenn wir im Spiel sind, sind die Gründe von Personen, wobei wir Person schon begrifflich hier so verstehen müssen, dass Personen nicht argumentationsgemeinschaftsfrei sein können. Denn Gründe müssen diskursiv zugängliche Gründe sein, um unsere guten Gründe sein zu können. Diese Verhältnisse können Naturalisten derzeit nicht modellieren, nicht einholen. Könnten sie sie irgendwann eingeholt haben?

Michael Weingarten

Die abhängige Unabhängigkeit der Philosophie von den Einzelwissenschaften

Sind es heute die empirischen Kognitionswissenschaften, die beanspruchen philosophische Probleme mit ihren einzelwissenschaftlichen Mitteln lösen zu können, so waren es vor einigen Jahren die physikalischen Selbstorganisationstheorien und die aus der Evolutionsbiologie herrührende Evolutionäre Erkenntnistheorie, die eben diesen Anspruch gegenüber der Philosophie erhoben. Und um 1900 wurden von Darwinisten wie Ernst Haeckel schon vergleichbare Erklärungsansprüche formuliert, die von Edmund Husserl in seinem programmatischen Aufsatz »Philosophie als strenge Wissenschaft« als bloße Weltanschauungsphilosophie gebührend scharf kritisiert wurden. Im Folgenden soll es nun nicht darum gehen, die von Seiten einer Einzelwissenschaft gegenüber der Philosophie erhobenen Erklärungsansprüche zu diskutieren; wobei es sicherlich berechtigt ist daran zu erinnern, dass der Haeckelsche Monismus und sein darwinistisches Weltbild auch in der Fachwissenschaft schon lange als bloße Weltanschauung gilt, aber nicht mehr als ernsthaftes Forschungsprogramm einer empirischen Einzelwissenschaft. Ähnliches gilt für die Selbstorganisationstheorien und die Evolutionäre Erkenntnistheorie, die – was ihren philosophischen Gehalt betrifft – als nur mehr zeitbedingte Modeströmungen beurteilt werden müssen. Vielmehr soll gefragt werden, inwiefern die Philosophie selbst Schuld daran hat, dass von Seiten der Einzelwissenschaften immer wieder die Meinung vorgetragen wird und werden kann, philosophische Probleme ließen sich mit einzelwissenschaftlichen Verfahren zureichend lösen. Meine These, die hier nur in Umrissen skizziert werden kann, lautet: Eben weil die Philosophie sich im Anschluss an Husserl selbst als Wissenschaft versteht und sich in der Einlösung dieser programmatischen Forderung transformiert hat in Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und weil sie somit den Eindruck erweckt und erwecken muss, sie trete als Wissenschaft neben die vielen anderen Einzelwissenschaften, kann die Meinung entstehen, Philosophie sei substituierbar durch andere Wissenschaften. Damit ist nicht nur die Frage aufgeworfen nach dem Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften, sondern auch die Frage, welchen Status die Wissenschaftstheorie (und vergleichbar dann auch die Erkenntnistheorie) hat: Ist sie eine Disziplin innerhalb der Philosophie und wenn ja, müsste diese Bemühung dann nicht eher Wissenschaftsphilosophie heißen? Oder ist die Wissenschaftstheorie diejenige Bemühung innerhalb der jeweiligen Einzel-

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wissenschaft, in der aus einzelwissenschaftlicher Perspektive die Theorie-Form oder Wissenschafts-Form der betreffenden Einzelwissenschaft im Verhältnis zur Wissenschaft überhaupt thematisiert wird, sodass die Wissenschaftstheorie die Theorie der Wissenschaften als Wissenschaft wäre. Als eine solcherart »Reflexionswissenschaft« müsste diese Bemühung nicht notwendigerweise in der Philosophie verortet sein; vielmehr könnte sie sich zu den einzelnen Wissenschaften so verhalten wie sich die theoretische Physik zur Physik oder die theoretische Biologie zur Biologie verhalten. Dieselben Fragen ergeben sich, wenn man nach dem Status der Erkenntnistheorie fragt; auch hier ist zuerst auffällig, dass auf die Benennung als Philosophie verzichtet wird. Nun gilt sowohl für die Erkenntnistheorie als auch für die Wissenschaftstheorie, dass sie zwar einerseits als disziplinäre Benennungen entstanden sind seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber nicht verwendet werden als disziplinäre Benennungen innerhalb der klassischen Philosophie selbst. So kann weder Kants Kritik der reinen Vernunft einfach als Erkenntnistheorie verstanden werden noch dessen Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft als Wissenschaftstheorie – obwohl andererseits sowohl Erkenntnistheorie als auch Wissenschaftstheorie in irgendeiner Weise Fortführungen kantianischer Philosophie sind und sich als solche verstehen. Denn in beiden Fällen wird nach den Bedingungen der Möglichkeit von… gefragt, einmal nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, zum anderen nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Während Husserl die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von … zwar als philosophische Frage verstand, die Philosophie dieser Frage aber nur gerecht werden könne, wenn sie selbst strenge Wissenschaft, aber keine Einzelwissenschaft, werde, trennte Heidegger Philosophie und Wissenschaften so voneinander, dass Philosophie in völliger Unabhängigkeit von den Einzelwissenschaften betrieben werden können soll. Die Philosophie habe es mit dem Denken zu tun, die Wissenschaft aber denke nicht. Gegenüber den drei möglichen Behauptungen – Philosophie sei als Methodenlehre, Wissenschafts- oder Erkenntnistheorie eine Art Einzelwissenschaft; Philosophie sei so etwas wie Wissenschaft überhaupt; Philosophie sei etwas gänzlich anderes als Wissenschaft – gab es aber in der klassischen Philosophie selber, nämlich bei Hegel, eine durchaus andere Möglichkeit, das Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften zu verstehen. »Die Physik und Naturgeschichte heißen zunächst empirische Wissenschaften und geben sich dafür, ganz der Wahrnehmung und Erfahrung anzugehören und auf diese Weise der Naturphilosophie, der Naturerkenntnis aus dem Gedanken, entgegengesetzt zu sein. In der Tat aber ist das erste, was gegen die empirische Physik zu zeigen ist, dieses, dass in ihr viel mehr Gedanke ist, als sie zugibt und weiß, dass sie besser ist, als sie meint, oder, wenn etwa gar das Denken in der Physik für etwas

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Michael Weingarten

Schlimmes gelten sollte, dass sie schlimmer ist, als sie meint. Physik und Naturphilosophie unterscheiden sich also nicht wie Wahrnehmen und Denken voneinander, sondern nur durch die Art und Weise des Denkens; sie sind beide denkende Erkenntnis der Natur.« (Hegel 1970: 11)

Hegel erhebt also Einspruch gegen das empiristische Selbstmissverständnis der Einzelwissenschaften und macht diese so darauf aufmerksam, dass auch sie denken und nur dadurch, dass sie denken, den Anspruch erheben können, Wissenschaft zu sein. Somit können Einzelwissenschaften als Wissenschaft nicht in Empirie und Erfahrungserkenntnis aufgehen. Und insofern die Einzelwissenschaften denken, haben sie etwas mit der Philosophie gemeinsam: nämlich das Denken. Genau damit ist von Hegel behauptet, dass zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften ein begrifflich notwendiges Verhältnis besteht, die Philosophie sich also nicht von den Einzelwissenschaften getrennt und unabhängig verstehen darf. Dies wäre ein dem empiristischen Selbstmissverständnis auf Seiten der Einzelwissenschaften komplementäres Selbstmissverständnis auf Seiten der Philosophie. Insofern sind über die Gemeinsamkeit des Denkens die Philosophie von den Einzelwissenschaften sowie umgekehrt auch die Einzelwissenschaften von der Philosophie abhängig. Hegel betont daher gegen Schelling und die Naturphilosophie, die sich ja als die »bessere« Naturwissenschaft verstand: »Nicht nur muss die Philosophie mit der Naturerfahrung übereinstimmend sein, sondern die Entstehung und Bildung der philosophischen Wissenschaft hat die empirische Physik zur Voraussetzung und Bedingung.« (Hegel 1970, 15)

Der entscheidende Gesichtspunkt der Überlegungen Hegels liegt sicherlich nicht in der doch eher trivialen Feststellung, dass die Philosophie übereinstimmend sein muss mit der Naturerfahrung, also nicht im Widerspruch stehen darf zu den empirisch und experimentell gesicherten Ergebnissen der Einzelwissenschaften. Entscheidend ist vielmehr die Behauptung, dass die philosophische Wissenschaft die empirische Physik bzw. die empirischen und experimentellen Teile der Einzelwissenschaften zur Voraussetzung und Bedingung habe. Also nicht die Physik und die Einzelwissenschaften insgesamt, sondern eben »nur« den empirisch-experimentellen Teil derselben als Voraussetzung und Bedingung der philosophischen Wissenschaft. Denn in diesen empirischexperimentellen Teilen der Einzelwissenschaften seien mehr Gedanken enthalten, als von den Einzelwissenschaften selbst zugegeben und gewusst. Worauf es Hegel ankommt, ist zum einen der Sachverhalt, dass die Einzelwissenschaften sich zu den Resultaten ihres Denkens, ihren Gedanken, falsch verhalten können, bspw. in dem empiristischen Selbstmissverständnis, dem Bestreiten, dass in den empirisch-experimentellen Ergebnissen Gedanken enthalten seien, weil dort nur die Natur selbst und unmittelbar abgebildet und dargestellt würde.

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Die Täuschung der Einzelwissenschaften über ihr eigenes Tun und über die Resultate ihres Tuns ist aber nur ein Aspekt, über den Hegel begründet, dass und warum die empirisch-experimentellen Teile der Einzelwissenschaften Voraussetzung und Bedingung der philosophischen Wissenschaft sind. Indem die Täuschung der Einzelwissenschaften über ihr Tun zwar möglich, aber nicht notwendig ist, kommt der Philosophie die Aufgabe zu, das Tun der Einzelwissenschaften und die Reflexion des Tuns der Einzelwissenschaften durch die Einzelwissenschaften selbst immer wieder kritisch zu hinterfragen. Diese Aufgabe wäre aber erledigt und die Philosophie genau dann überflüssig, wenn sich die Einzelwissenschaften über ihr Tun nicht (mehr) täuschen. Hier treffen sich Hegels Überlegungen mit der (späteren) Wissenschaftstheorie. Wenn aber in den empirisch-experimentellen Teilen der Einzelwissenschaften mehr an Gedanken enthalten ist, als die Einzelwissenschaften wissen und wissen können, dann kann genau in diesem »mehr« an Gedanken dasjenige Moment liegen, das die Philosophie als notwendig erweist für die Aufklärung einzelwissenschaftlichen Tuns und in dem zugleich der originäre, nicht durch einzelwissenschaftliches Tun substituierbare Gegenstand philosophischer Bemühungen aufgewiesen werden kann: Nämlich die begriffliche Reflexion des Verhältnisses von Denken und Gedanke. Pointierend ist es möglich zu sagen, dass die Einzelwissenschaften Gedanken haben und, indem sie Gedanken haben, diese auch gedacht haben müssen; dass aber die Philosophie Gedanken als Gedanke denkt, indem sie das Verhältnis der Ausdrücke »Gedanke« und »Denken« selbst denkend bestimmt. Die Einzelwissenschaften bzw. überhaupt Wissen liefern der Philosophie ihre Gegenstände, nämlich Gedanken; insofern hat die Philosophie Einzelwissenschaften zu ihrer Voraussetzung und Bedingung. Insofern die Einzelwissenschaften aber über ein mehr an Gedanken verfügt als sie selbst in der Lage sind zu denken, d. h. mit ihren methodischen Mitteln zu erfassen, sind die Einzelwissenschaften angewiesen auf die philosophische Reflexion ihres einzelwissenschaftlichen Tuns und ihrer einzelwissenschaftlichen Reflexionen über ihr Tun. Weiter zu klären ist aber noch, wie die Philosophie Gedanken als ihre Gegenstände hat: So wie die Einzelwissenschaften ihre Gegenstände haben; wenn ja, dann könnte hierin eine Begründung liegen, dass die Philosophie selbst Wissenschaft sei. Oder grundsätzlich anders, also bspw. nicht als eine Reflexion über etwas (Dinge), das einfachhin vorliegt und thematisiert werden kann, sondern als eine Reflexion, in der die Gegenständlichkeit der Gegenstände der Reflexion in der Reflexion thematisiert wird. Die philosophische Aufgabe bestünde also in dem begrifflichen Aufweis der Verschiedenheit in der Rede von »Ding« (Gegenstand der Einzelwissenschaften) und »Gegenstand« (als einem Verhältnis: etwas steht etwas anderem entgegen) sowie in der Bestimmung des begrifflichen Verhältnisses von »Ding« und »Gegenstand« (Unterschied). Dieser formale Unterschied in der Rede von »Ding« und »Ge-

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genstand« ist – dies nur als These – weiter zu explizieren als Unterschied in der Rede von »Realität« (von res, Ding oder Sache) und »Wirklichkeit«. Das Denken der Philosophie lässt sich somit begrifflich als Denken nur dann bestimmen, wenn es die Verschiedenheit des Denkens der Philosophie (als Denken von Gedanken bzw. was bedeutet der Ausdruck »Gedanke«) von dem Denken (als Gedacht-haben) der Einzelwissenschaften als Unterschied im Denken der Philosophie (als Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Gedanken als Gedacht-haben) rekonstruiert. Um sich als im Denken vom Denken der Einzelwissenschaften verschieden und diese Verschiedenheit als Unterschied im Denken begreifen zu können, hat die Philosophie Einzelwissenschaften bzw. überhaupt Gedachtes oder Gewusstes zur Voraussetzung und Bedingung, denn ohne diese gäbe es nichts, auf das Philosophie als Denken von … sich einerseits beziehen und von dem das Denken der Philosophie sich andererseits unterscheiden könnte. Das Verhältnis von Philosophie und Einzelwissenschaften geht also nicht auf in der Abhängigkeit der Philosophie von den Einzelwissenschaften (und umgekehrt auch, wenn auch in anderer Weise, der Einzelwissenschaften von der Philosophie). Denn Philosophie und Einzelwissenschaften haben das Denken zwar gemeinsam, aber sie unterscheiden sich genau voneinander in der Art und Weise wie sie denken oder was bezogen auf ihre jeweiligen Bemühungen »denken« heißt; d. h. dass sowohl Philosophie als auch Einzelwissenschaften denken, aber das Denken der Philosophie ein als Denken anderes Denken ist als das Denken der Einzelwissenschaften. Gesetzt den Fall, diese Überlegung ist richtig, dann muss und kann gesagt werden, dass Philosophie und Einzelwissenschaften zwar von einander abhängen, weil beide denken; dass sie aber zugleich voneinander unabhängig sind, weil das Denken der Philosophie und das Denken der Einzelwissenschaften nicht einfach zwei Arten des Denkens sind, die unter einen gemeinsamen Gattungsbegriff (wie etwa das Denken überhaupt) fallen, sondern zunächst zwei verschiedene Gattungen darstellen. Die Unabhängigkeit der Philosophie von den Einzelwissenschaften besteht dann genau darin, dass die Bestimmung des Verhältnisses von Denken der Einzelwissenschaften und Denken der Philosophie nur in der Philosophie als Unterschied von Philosophie und Einzelwissenschaften gedacht werden kann, nicht aber in einer Einzelwissenschaft. Doch kann eben die Philosophie dieses Verhältnis nur denken, wenn es Einzelwissenschaften gibt (dies dann eben wieder die Seite der Abhängigkeit der Philosophie von den Einzelwissenschaften). Genau auf diese Probleme, die in der Ausformulierung von Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie als den Reflexionsformen (natur-)wissenschaftlicher Methoden und Verfahrensweisen zu Tage treten, zielt Helmuth Plessner, um zunächst die Möglichkeit von systematischer Philosophie als Naturphilo-

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sophie aufzuzeigen, wobei die Naturphilosophie dann selbst eine Anthropologie »enthält«. »Wie der Philosoph sucht der Physiker bei seiner Darstellung der Naturvorgänge das Subjekt der Darstellung, d. h. das Beobachtungs- und Messmittel, mit in die Darstellung aufzunehmen. Die Tatsache, dass der Beobachtende und Messende schon in seinen Maßstäben und Uhren mit zu der Situation gehört, in der allein die Erkenntnis möglicherweise richtig ist, verlangt in gleicher Weise einen integrierenden Bestandteil in den zur Erkenntnis kommenden Objekten zu bilden, wie die Tatsache der Gebundenheit des Philosophen an ein bestimmtes geschichtliches, gesellschaftliches und ethnisches Dasein in den Objekten der Philosophie.« (Plessner 1985, 67)

Die »Krise der Anschaulichkeit« von Natur rührt – dies sieht Plessner sehr genau – aus der Notwendigkeit der Orientierung der Naturwissenschaften und der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie auf die Messapparate. Da aber in diesen Disziplinen die Rede von Natur nicht einfach nur weiter beibehalten wird, sondern es in einer solchen Rede zu Widersprüchen (»Krise«) kommt, kann zumindest gefragt werden, ob nicht die Philosophie ohne Widerspruch genau das thematisieren kann, was den Wissenschaften auf Grund ihres Bezuges auf Methoden- und Verfahrensrationalität als Ausweis ihres Wissenschaftseins nicht möglich ist bzw. nur ihrem eigenen Verständnis widersprechend möglich ist. Voraussetzung für die Möglichkeit eines solchen philosophischen Projektes ist es aber, dass sich die Philosophie nicht mehr als Wissenschaft versteht oder, wenn sie weiterhin den Anspruch erheben sollte eine Wissenschaft zu sein, dieses Wissenschaftsein eine andere Gattung darstellt als das Wissenschaftsein der (Natur-)Wissenschaften, der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie. Unter »Anschauung« darf dann nicht nur die an das Subjekt und dessen Ausstattung gebundene Art des Erfahrens von Natur gemeint sein, sondern in der Anschauung müssen das Subjekt, das anschaut, und der Gegenstand, der angeschaut wird, so zusammen kommen, das gesagt werden kann, in der Anschauung erfährt das Subjekt die Natur selbst oder in der Anschauung zeigt sich die Natur selbst dem Subjekt. Plessner skizziert seinen Lösungsvorschlag folgendermaßen: »Auch die Wirklichkeit selbst tritt als der Anschauung zugänglich in die Anschauung ein und kommt in ursprünglicher sinnlicher Wahrnehmung zu derjenigen bildhaften Erscheinung, welche in der Lebhaftigkeit ihrer Farben und Formen, in der Eindringlichkeit ihres Widerstandes, in ihrer zeugenden und vernichtenden Macht dem Menschen unmittelbar als Natur sich aufdrängt. Wenn es 1. weder im Sinne noch in den Möglichkeiten der Naturwissenschaft liegt, die unmittelbare Anschaulichkeit und Bildhaftigkeit, weil sie sich eben einer messenden Bestimmung entzieht, zum Gegenstand der Untersuchung zu machen; wenn es 2. einer an die

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Naturwissenschaft – einerlei ob an ihre Ergebnisse oder an ihre Methoden – gebundenen Naturphilosophie deshalb unmöglich ist, sich der Probleme der anschaulichen Dimension zu bemächtigen; wenn 3. diese Probleme auch nicht zur Sache der Physiologie oder Psychologie gemacht werden dürfen, weil darin ohne Grund eine einseitige Zurechnung der anschaulichen Dimension zum empirischen Subjekt der Wahrnehmung ausgesprochen wäre, so folgt aus diesen drei Argumenten die Forderung nach Ausbildung einer von der Naturwissenschaft und Psychologie unabhängigen Theorie der die Natur in ihrem Bildgehalt charakterisierenden Elemente. Dieser Theorie wäre es vorbehalten, darüber zu entscheiden, welchen Anteil die Subjektseite und welchen Anteil die Objektseite am Bildgehalt der Natur besitzt. In dieser Zurechnung bestände eine wesentliche Seite ihrer im eigentlichen Sinne philosophischen Leistung, weil Fragen, welche die Reichweite von Subjekt und Objekt und ihre gegenseitige Abgrenzung angehen, nur von der Philosophie behandelt werden können.« (Plessner 1985, 71)

Auch wenn Plessner dieses Bild formuliert, um ein aus den Einzelwissenschaften herrührendes Problem, das Unanschaulichgewordensein der Natur, zu thematisieren, handelt es sich bei diesem Bild nicht einfach um eine – sagen wir – populärwissenschaftliche Darstellung der Unanschaulichkeit. Wissenschaftlich und/oder wissenschaftstheoretisch könnte für dieses Problem etwa folgende bildliche Darstellung gegeben werden: »Ich stehe auf der Türschwelle, im Begriff, ein Zimmer zu betreten. Das ist ein kompliziertes Unternehmen. Erstens muss ich gegen die Atmosphäre ankämpfen, die mit einer Kraft von 1 Kilogramm auf jedes Quadratzentimeter meines Körpers drückt. Ferner muss ich auf einem Brett zu landen versuchen, das mit einer Geschwindigkeit von 30 Kilometer in der Sekunde um die Sonne fliegt; nur den Bruchteil einer Sekunde Verspätung, und das Brett ist bereits meilenweit entfernt. Und dieses Kunststück muss fertiggebracht werden, während ich an einem kugelförmigen Planeten hänge, mit dem Kopf nach außen in den Raum hinein, und ein Ätherwind von Gott weiß welcher Geschwindigkeit durch alle Poren meines Körpers bläst. Auch hat das Brett keine feste Substanz. Darauftreten heißt auf einen Fliegenschwarm treten. Werde ich nicht hindurchfallen? Nein, denn wenn ich es wage und darauftrete, so trifft mich eine der Fliegen und gibt mir einen Stoß nach oben, ich falle wieder und werde von einer anderen Fliege nach oben geworfen, und so geht es fort. Ich darf also hoffen, das Gesamtresultat werde sein, dass ich dauernd ungefähr auf gleicher Höhe bleibe. Sollte ich aber unglücklicherweise trotzdem durch den Fußboden hindurchfallen oder so heftig emporgestoßen werden, dass ich bis zur Decke fliege, so würde dieser Unfall keine Verletzung der Naturgesetze, sondern nur ein außerordentlich unwahrscheinliches Zusammentreffen von Zufällen sein […] Wahrlich, es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn dass ein Physiker eine Türschwelle überschreite. Handle es sich um ein Scheunentor oder eine Kirchentüre, vielleicht wäre es weiser, er fände sich damit ab, nur ein gewöhnlicher Mensch zu sein, und ginge einfach hindurch, anstatt zu warten, bis alle Schwierigkeiten sich gelöst haben, die mit einem wissenschaftlich einwandfreien Eintritt verbunden sind.« (Eddington 1931, 334f)

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Für Eddington handelt es sich um die philosophisch-bildliche Darstellung eines physikalischen Problems, wobei die Darstellung ausdrücklich auf das Unzureichende des sprachlichen, insbesondere alltagssprachlichen Ausdrucks verweist gegenüber dem eigentlich darzustellenden physikalischen Problem und der physikalischen Fachsprache; für Eddington sind Alltagssprache und auch die Sprache der Philosophie einerseits und die Sprachen der Einzelwissenschaften völlig auseinandergefallen. Und das heißt nicht zuletzt: Nur wenn man die Physik beherrscht, kann man das Problem verstehen, das inadäquat bildlich dargestellt wurde. Demgegenüber fungiert die von Plessner gewählte bildliche Darstellung völlig anders – auch wenn es sich um die Darstellung desselben Problems, eben dem Unanschaulichgewordensein von Natur auf Grund der Ergebnisse der Einzelwissenschaften handelt. Denn für Plessner ist klar, dass das bloße Betreiben von Physik dieses Problem gerade nicht lösen kann; denn dieses hat ja das Problem erst herbeigeführt. Vielmehr sucht er eine Lösung in der Sprache selbst, in der Form der sprachlichen Darstellung des Problems – auch wenn er letztlich, wie zu zeigen sein wird, mit seiner Darstellung scheitert, weil er zwar ein sprachliches Bild ausgestaltet, aber genau nicht die sprachlichen Mittel, mit denen er dieses Bild ausgestaltet, reflektiert. Die vermittelnde Mitte zwischen Subjekt und Objekt bildet die Anschaulichkeit der Natur als Bild. Formal haben wir es mit demselben Verhältnis zu tun wie im Falle der Wissenschaften und den auf sie bezogenen Reflexionsdisziplinen Wissenschaftstheorie und Erkenntnistheorie – nur dass anstelle der Messapparate die Rede von »Bild« die vermittelnde Mitte anzeigt. Und genau wie im Falle der Wissenschaften die vermittelnde Mitte sowohl subjektivistisch missverstanden werden kann, wenn die Messapparate dem Subjekt zugerechnet werden, als auch empiristisch missverstanden werden kann, wenn die Messapparate dem Objekt zugerechnet werden, sind diese Missverständnisse ebenfalls möglich in der Rede vom Bild der Natur: das subjektivistische Missverständnis bestünde darin, das mit dem Bild Gemeinte zu verstehen so wie man von einem Bild des Malers spricht; das empiristische oder objektivistische Missverständnis bestünde darin zu sagen, dass sich in dem Bild die Natur an sich zeigt, ausdrückt oder spiegelt – auch dann, wenn es niemanden gibt, der das von der Natur gezeigte Bild als Bild der Natur selbst wahrnimmt. Plessner selbst hat die begriffliche Analyse der beiden vermittelnden Mitten, den Messapparaten und dem Bild, nur rudimentär geleistet. Hier ist anzusetzen, indem für den Fall der Messapparate als vermittelnder Mitte Hegels Überlegungen zur Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie, Naturphilosophie und empirischen Wissenschaften weitergeführt werden in zumindest zweierlei Hinsicht: Zum einen, dass die Verschiedenheit des Denkens von empirischen Naturwissenschaften und Naturphilosophie als Unterschied im Denken begriffen wird; zum zweiten, dass der Unterschied des Verschiedenen

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in Zusammenhang gebracht wird mit einem praktischen und theoretischen Verhalten zur Natur sowie der Bestimmung des Verhältnisses von praktischem und theoretischem Verhalten. Entsprechend ist eine begriffliche Analyse zu leisten bezüglich der Rede von »Bild« als vermittelnder Mitte. Mit der Rede vom Bildgehalt der Natur meint Plessner den merkwürdigen Sachverhalt, dass »die Wirklichkeit selbst« (die Objektseite) in einer bestimmten Weise, nämlich als der Anschauung zugänglich, in die Anschauung (die Subjektseite) eintritt. »Die Wirklichkeit« ist so das Aktive, denn sie ist es, die »in« die Anschauung »eintritt«. Aber obwohl es die Wirklichkeit »selbst« ist, die eintritt, bestimmt sie nicht den Modus ihres Eintretens als Modus des in die Anschauung Eintretens. Dieser wird vielmehr bestimmt von der Anschauung. So wie ein Zimmer nicht betreten werden könnte, wenn es nicht vor und unabhängig vom Betreten und dem in es Eintreten vorhanden wäre, so könnte auch »die Wirklichkeit« nicht in die Anschauung eintreten, wenn es »die Anschauung« nicht vor und unabhängig von dem in sie Eintreten der Wirklichkeit gäbe. Es scheint also erstens »die Wirklichkeit selbst« zu geben, das Objekt, und diese Wirklichkeit ist »die Natur«. »Natur« und »Wirklichkeit« scheinen für Plessner zwei Worte für ein und dieselbe Sache zu sein; zumindest geht Plessner bruchlos von der Rede von der Wirklichkeit über zur Rede von der Natur. Zweitens gibt es dann die Anschauung, das Subjekt. Und drittens schließlich die Beziehung zwischen Objekt und Subjekt, gefasst in der metaphorischen Rede des in ihrem Bildgehalt der Anschauung zugänglichen Eintretens der Wirklichkeit in die Anschauung. Aber wie ist diese metaphorische Rede begrifflich aufzulösen? Also: Wie ist das Eintreten der Wirklichkeit resp. der Natur in die Anschauung zu denken? Kann es die Wirklichkeit resp. Natur selbst sein, die in die Anschauung eintritt? Ist mit Wirklichkeit selbst resp. Natur selbst die Wirklichkeit an sich resp. die Natur an sich gemeint, so wie Kant von dem Ding an sich gesprochen hat? Dann muss gesagt werden, dass es nicht die Wirklichkeit an sich oder die Natur an sich ist und sein kann, die in die Anschauung eintritt, denn sie tritt ja ein als der Anschauung zugänglich, d. h. sie tritt so in die Anschauung ein, dass diese die Wirklichkeit resp. die Natur nicht an sich, sondern die Wirklichkeit resp. die Natur in ihrem Bildgehalt anschaut. Zwischen der Wirklichkeit an sich resp. der Natur an sich einerseits und andererseits der Wirklichkeit selbst resp. der Natur selbst muss, soll die von Plessner gewählte Metapher konsistent bleiben, begrifflich unterschieden werden können. Nun spricht Plessner von der Notwendigkeit einer »Theorie der die Natur in ihrem Bildgehalt charakterisierenden Elemente«. Offenkundig also hat die Natur einen Bildgehalt, der angeschaut werden kann – aber wie hat sie diesen? An dem Bildgehalt – so Plessner weiter – soll es möglich sein, den Anteil der Subjektseite (Subjekt an sich) und der Objektseite (Objekt an sich) zu unterscheiden. D. h., die Wirk-

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lichkeit selbst ist diejenige Wirklichkeit oder dasjenige an der Wirklichkeit, das sich Jemandem als etwas Bestimmtes zeigt, bspw. als Bildgehalt. Formal ist es sicherlich möglich zu unterscheiden zwischen dem Bild (dies müsste dann der Anschauung resp. der Subjektseite zugeordnet werden) und dem Gehalt des Bildes (dieser müsste dann entsprechend der Wirklichkeit selbst resp. der Objektseite zugeordnet werden). In gewisser Weise wird damit aber von Plessner das Problem der begrifflichen Auflösung der Metapher nur verschoben: Denn nun müsste es möglich sein von einem »Bild an sich«, nämlich einem Bild als Form ohne Gehalt, und einem »Gehalt an sich«, nämlich einem Gehalt, der nicht Gehalt bspw. eines Bildes ist und der daher keine (Bild-)Form hat, sprechen zu können. Wenn – irgendwie – der Gehalt an sich die Wirklichkeit an sich ist und dieser Gehalt an sich als Bildgehalt in die Anschauung eintritt und der Bildgehalt dann die Wirklichkeit selbst ist oder sein soll, wie verhält sich dann die Wirklichkeit an sich zur Wirklichkeit selber? Offenkundig verändert sich die Wirklichkeit irgendwie, indem sie eintritt, bspw. in die Anschauung eintritt. Bleiben wir bei der Metapher des Eintretens von etwas in etwas, also etwa dem Eintreten einer Person in ein Zimmer. Weder macht es Sinn zu sagen, dass aus Jemandem, indem er das Zimmer betritt, erst die Person bspw. meiner Frau wird – sie war auch meine Frau, bevor sie das Zimmer betreten hat, und sie ist meine Frau, auch wenn sie das Zimmer nicht betritt. Noch kann gesagt werden, dass es nicht meine Frau selbst ist, die eintritt, sondern, indem sie eintritt, ihr Bildgehalt. Zwar ist es möglich zu sagen, ich vermeinte, dass meine Frau in das Zimmer getreten ist, ein Blick belehrte mich aber, dass es »in Wirklichkeit« nicht meine Frau, sondern mein Sohn war, der in das Zimmer eingetreten ist. Aber es war dann immer schon mein Sohn gewesen, der in das Zimmer eingetreten ist, und ich habe mich einfach nur getäuscht, wenn ich meinte, meine Frau sei eingetreten. Das von Plessner offenkundig nicht gelöste Problem, an dem seine Metapher scheitert, besteht darin, dass er die Bezüglichkeit, dass etwas jemandem als etwas erscheint, was ja mit der Rede vom Bildgehalt der Natur gemeint ist, wenn nämlich an ihr die Subjektseite und die Objektseite sollen unterschieden werden können, begrifflich nicht fassen kann. So ist als erstes auffällig, dass nur die Aktivität der Wirklichkeit resp. der Natur als der Objektseite angesprochen wird; diese ist es ja, die eintritt. Die Subjektseite dagegen erscheint als passiv: in sie wird eingetreten. Zwar nimmt das Eintretende Rücksicht auf die Beschaffenheit desjenigen, in das es eintritt. Aber diese Rücksichtnahme (das der Anschauung zugänglich sein der Wirklichkeit), ist nur und ausschließlich das Tun desjenigen, das eintritt. Wenn die Subjektseite nur passiv ist, dann ist zweitens erklärungsbedürftig, wie es die Objektseite überhaupt schafft, sich der Anschauung zugänglich zu machen. Das angeschaut werden können ist etwas, das nur über »Elemente« der Objektseite zu erklären ist; insofern ist

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eine »Theorie der die Natur in ihrem Bildgehalt thematisierenden Elemente« wenn nicht insgesamt, so doch zumindest Teil einer Naturphilosophie. Insofern muss gegen Plessner festgehalten werden, dass die Rede von einem Bildgehalt der Wirklichkeit resp. der Natur genau nicht die gesuchte vermittelnde Mitte zwischen der Objektseite und der Subjektseite ist und sein kann, denn der »Bildgehalt« gehört auf die Seite der Wirklichkeit bzw. das angeschaut-werden-Können ist ein die Wirklichkeit resp. die Natur an sich charakterisierendes Moment unabhängig eben vom wirklichen angeschaut werden. Schließlich wird so auch klar, warum »Wirklichkeit« und »Natur« von Plessner begrifflich nicht unterschieden werden: Mit »Wirklichkeit« ist nichts anderes als »Natur an sich« gemeint. D. h. für Plessner fallen »Ding« und »Gegenstand«, »Realität« und »Wirklichkeit« unterschiedslos ineins. Dass es die »Natur an sich« ist, die in die Anschauung als der Anschauung zugänglich eintritt, zeigt sich daran, dass Plessner erstens behauptet, dass sich Natur in einer bestimmten Weise (»in der Lebhaftigkeit ihrer Farben und Formen«, »in der Eindringlichkeit ihres Widerstandes«, »in ihrer zeugenden und vernichtenden Macht«) dem Menschen unmittelbar als Natur aufdrängt. Und zum zweiten spricht er dann von einer unmittelbaren Anschaulichkeit und einer unmittelbaren Bildhaftigkeit der Natur. Wenn die Natur unmittelbar bildhaft und daher unmittelbar anschaulich ist, dann kann gar nicht sinnvoll gefragt werden, welchen Anteil die Subjektseite am Bildgehalt der Natur besitzt: Denn die Behauptung der unmittelbaren Bildhaftigkeit der Natur kann nichts anderes mehr bedeuten, als dass die Natur als Natur (das Natur-sein der Natur) unabhängig von dem Verhalten eines Subjekts ihr gegenüber bildhaft ist bzw. einen Bildgehalt hat; diese Bildhaftigkeit oder der Bildgehalt der Natur, welche die Natur als Natur auszeichnet, kann von dem Subjekt zwar verkannt oder nicht erfasst werden – aber dies ist dann immer dem Subjekt als Fehler anzurechnen und nicht der Natur. D. h. auch wenn Plessner von einer Vermitteltheit von Subjekt und Objekt, Anschauung und Wirklichkeit spricht, so bleibt er doch in klassischer Weise der dualen Entgegensetzung von letztlich Subjekt-Ding und Objekt-Ding verhaftet. Nun gibt es aber durchaus die Möglichkeit, die Metapher des Bildes für die Bestimmung der Subjekt und Objekt vermittelnden Mitte fruchtbar zu machen. Nicht mit der Rede von Bild überhaupt, sondern mittels der Metapher des Spiegel-Bildes, das sich in der Analyse dieser metaphorischen Rede als ausnehmend besonderes Bild zeigt, weil sich an ihm zeigen lässt, dass und inwiefern wir im Spiegel das Ding selbst, aber nicht das Ding an sich sehen (vgl. König 1969; Weingarten 1999; ders. 2004). Dass wir es sind, die im Spiegel das Ding selbst sehen, markiert so schon den logisch-ontologisch entscheidenden Unterschied gegenüber den Überlegungen Plessners, aber auch gegenüber der langen Tradition der Verwendung der Spiegel-Metapher in der Philosophie, weil mit der

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Betonung des »Wir« unser mit einander Reden begrifflich notwendig in die Analyse der Spiegel-Situation einbezogen werden muss. Denn »Denken« kann nun nicht mehr begriffen werden als Tun, Fähigkeit oder Eigenschaft eines Einzelnen (und genau in dieser und nur in dieser Hinsicht thematisieren ja die in der Kognitionswissenschaft zusammengefassten Einzelwissenschaften »Denken«), sondern »Denken« muss expliziert werden als etwas, das eine spezifische Form des mit-einander-Tuns von Mehreren meint. Und indem wir das Denken explizieren als das mit-einander-Tun von Mehreren, bestimmen wir begrifflich das Verhältnis zwischen dem Ich, das ein Wir ist, und dem Wir, das ein Ich ist bzw. philosophieren und treiben keine Einzelwissenschaft.

Zitierte Literatur Eddington, A. S. (1931), Das Weltbild der Physik und ein Versuch seiner philosophischen Deutung, Braunschweig 1931. Hegel, G. W. F. (1970), Phänomenologie des Geistes. Werke Bd. 4, Frankfurt a. Main 1970. – (1970), Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II. Werke Bd. 9, Frankfurt a. Main 1970. Heidegger, M. (1984), Was heißt Denken?, Tübingen 1984. Husserl, E. (1971), Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt a. Main 1971. König, J. (1969), Sein und Denken, Tübingen 1969. Plessner, H. (1985), Das Problem der Natur in der gegenwärtigen Philosophie. Gesammelte Schriften, Bd. 9, Frankfurt a. Main 1985, S. 56–72. Weingarten, M. (1999), Wahrnehmen, Bielefeld 1999. – (2004), Die ausnehmende Besonderheit des Spiegelbildes. Bemerkungen zu einer Metapher im Anschluss an König und Leibniz, in: S. Blasche, M. Gutmann und M. Weingarten (Hg.), Repräsentatio Mundi, Bielefeld 2004, S. 97–108.

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Lebensweltliche Gewissheit versus wissenschaftliches Wissen?*

Was ist das richtige Verhältnis von Wissenschaft und menschlichem Selbstverständnis? Eine naheliegende Antwort darauf lautet: Unser Selbstverständnis soll sich nach den wissenschaftlich begründeten Aussagen über uns richten. Das richtige Menschenbild ist ein Menschenbild, das mit den Ergebnissen der Wissenschaften vom Menschen vereinbar ist. Diese Antwort liegt für uns nahe, wenn mit »uns« wir Angehörige einer verwissenschaftlichen Alltagskultur gemeint sind. Es ist unstrittig, dass wir als Bürger demokratischer Rechtsstaaten, in denen noch ein recht hohes Maß an Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit herrscht, und wir als Mitglieder von OECD-Gesellschaften in einer wissenschaftlich geprägten Alltagskultur leben. Schon der Blick auf die Mineralwasserflasche neben dem Konferenztisch, im Gepäcknetz des Kinderwagens oder im Rucksack macht das klar. Das Etikett der Wasserflasche gibt Auskunft über die chemischen Stoffe, unter anderem über den Natrium- und den Magnesiumchloridgehalt. Es soll so darüber informieren, was für wen gesund ist. Gesund ist nicht einfach, was schmeckt, sondern was der Lebensmittelchemiker und die Ernährungswissenschaftlerin sagen. Etiketten auf Lebensmitteln, Lacktattests bei Fußballspielern, pränatale Diagnostik bei Schwangeren, steuerfinanzierte Universitäten oder ein bundesdeutsches Bruttosozialprodukt, das angeblich zu 25% mit dem Einsatz von Techniken auf der Basis der Quantentheorie erzielt wird1, sind nur einige wenige Anzeichen für eine verwissenschaftlichte Alltagskultur. Diese Kultur ist auch durch die Anerkennung eines Vorrangs wissenschaftlicher Überzeugungen gegenüber nicht-wissenschaftlich gebildeten Überzeugungen über die Natur, über die soziale Welt und über uns gekennzeichnet. Dieses Vorranggebot besagt, dass nicht-wissenschaftlichen Überzeu-

* Für hilfreiche Kommentare oder Hinweise danke ich insbesondere Logi Gunnarsson, Michael Hampe und wie immer Jürgen Habermas sowie Ansgar Beckermann, Martin Carrier, Carl Friedrich Gethmann, Christian Hiebaum, Felicitas Krämer, Achim Lohmar, Josef Mitterer, Julian Nida-Rümelin, Johannes Roggenhofer, Gregor Schimank, Holmer Steinfath, Dieter Sturma, Holm Tetens und Wilhelm Vossenkuhl. 1 Vgl. die als Vermutung qualifi zierte Angabe bei Claus Kiefer, Quantentheorie, Frankfurt/M. 2002, S. 3. Weitere Beispiele bei Alec Broers, The Triumph of Technology. The BBC Reith Lectures 2005, Cambridge 2005.

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gungen über uns vereinbar sein sollen mit wissenschaftlich begründeten Aussagen über uns. Das Vorranggebot lässt sich augenscheinlich damit rechtfertigen, dass wissenschaftliche Aussagen ein besseres Verständnis von uns verschaffen als solche Aussagen, die nicht mit wissenschaftlichen Methoden gewonnen und begründet werden. Wir können uns mit Hilfe der Wissenschaften ein überzeugenderes Bild in allen Dimensionen unserer Existenz machen, weil wissenschaftliche Überzeugungen die besten Kandidaten für berechtigte Wissensansprüche sind. Und wissenschaftliche Überzeugungen sind die besten Kandidaten, weil sie am strengsten geprüft werden. Allerdings ist das Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Überzeugungen und lebensweltlichen Überzeugungen auch in einer verwissenschaftlichen Alltagskultur nicht spannungsfrei. Lebensweltliche Überzeugungen werden nicht einfach nach Maßgabe ihrer Vereinbarkeit mit wissenschaftlich begründeten Aussagen beibehalten, preisgegeben oder modifiziert. So äußerte der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth vor einiger Zeit die Prognose: »Bald werden nicht nur die Hirnforscher (sondern wir alle, L.W.) einsehen müssen, dass es die traditionelle Willensfreiheit überhaupt nicht gibt.«2 Das war vor mehr als sieben Jahren und die prognostizierte Einsicht ist ersichtlich ausgeblieben. Man könnte einwenden: Sieben, acht, neun Jahre sind keine Zeit. Aber wer Ciceros Schrift De Fato (Vom Schicksal) in Erinnerung hat, weiß, dass auch dort mit frappierend ähnlichen Argumenten von einer Seite der Glaube an die Willensfreiheit verworfen wird.3 Und in der Zeit von Cicero (106 – 43 v.Chr./v.u.Z.) bis Roth ist unser wissenschaftliches Wissen von den kausalen Faktoren gewachsen, die den Menschen in seinem Fühlen, Urteilen und Handeln ohne dessen Wille und Bewusstsein beeinflussen. So scheint es zumindest. Eine lebensweltliche Überzeugung wie die, dass wir bisweilen in dem, was wir wollen und in dem, was wir willentlich tun, frei sind, erweist sich als widerspenstig gegenüber einer vermeintlich wissenschaftlich begründeten, gegenteiligen deterministischen Überzeugung über uns. Was soll man von dieser Widerspenstigkeit lebensweltlicher Überzeugungen gegenüber wissenschaftlichen Wissensansprüchen halten? Genauer: Was sagt diese Resistenz über den erkenntnismäßigen Status lebensweltlicher Überzeugungen aus? Sind diese

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In »Es geht ans Eingemachte«, in: Spektrum der Wissenschaft, Oktober 2000, S. 75, 1. Spalte. 3 Cicero, Über das Schicksal/De Fato, hg. von Karl Bayer, Düsseldorf/Zürich 2000, S. 57 ff. Leider konnte ich eine neue Studie zu Cicero nicht mehr berücksichtigen: Magnus Schallenberg, Freiheit und Determinismus. Ein philosophischer Kommentar zu Ciceros Schrift De Fato, Berlin 2007.

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Überzeugungen Irrtümer von Laien? Sind sie im Alltag eingeschliffene, unbegründete Gewissheiten, deren Gehalt nicht wirklich klar ist? Oder sind sie Einsichten, wenn auch nicht auf wissenschaftlichem Weg gewonnene Einsichten? Kurz, was sagt die augenscheinliche Unbeeinflussbarkeit bestimmter lebensweltlicher Überzeugungen durch die Wissenschaften vom Menschen über den epistemischen (erkenntnismäßigen) Status solcher Überzeugungen aus? Bevor ich diese Frage behandele, sollen die hier verwendeten Begriffe der lebensweltlichen Überzeugung, des Wissens, der Gewissheit sowie des wissenschaftlichen Wissens knapp erläutert werden.

1) Zum Begriff der lebensweltlichen Überzeugungen Zu lebensweltlichen Überzeugungen zähle ich das, was beispielsweise in Aussagen wie den folgenden ausgedrückt wird: 1. Erwachsene, gesunde Menschen können für ihr Tun so verantwortlich sein, dass sie dafür Lob und Tadel, Wertschätzung und Verachtung verdienen.4 2. Menschen haben bisweilen einen Spielraum effektiven praktischen Überlegens. Gründe sind wenigstens manchmal wirksam für Handlungen. 3. Die Handlungswirksamkeit von Gründen hängt von einer Bejahung der Gründe durch den Handelnden ab. Gründe wirken nicht so wie Pillen, wenn sie denn wirken. 4. Menschen sind keine Zombies. Sie haben eine Seele, ein Innenleben. 5. Handlungen sind nie ganz grundlos (»Grund« hier als präsumtiv rechtfertigender Grund verstanden.) 6. Menschen haben einen Sinn für symbolische Zeichen. Sie können einzelne Begebenheiten als Symbol für ein verfehltes Leben deuten und bei voller biologischer und geistiger Gesundheit die Hamletfrage negativ beantworten, also die Frage: Soll ich weiterleben oder nicht? 7. Menschen können kontrafaktische Gedanken unter anderem über Geschehnisverläufe fassen und sich so Handlungsmöglichkeiten schaffen. 8. Menschen können Wir-Intentionen haben. Sie können zum Beispiel unterscheiden zwischen »Wir unternehmen einen Ausflug« und »Jeder aus diesem Haus unternimmt einen Ausflug«. 9. Menschen verhalten sich auch regelgeleitet und nicht bloß regelmäßig.

4

Ich streiche im Folgenden den Zusatz »erwachsen und gesund« in Verbindung mit »Mensch« nur um der Vereinfachung willen. Mit der Liste wird weder Vollständigkeit noch Exklusivität beansprucht. Ich sage nichts darüber, ob die angeführten Aussagen nur auf erwachsende, gesunde Menschen zutreffen.

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10. Menschen können aufgefordert werden, etwas zu tun/zu unterlassen, und nicht bloß dazu gebracht werden, etwas zu tun bzw. zu unterlassen. Sie können den Status eines Adressaten von normativen Erwartungen oder eines Sollens erwerben. Viele der aufgelisteten, lebensweltlichen Überzeugungen haben Aussagen zu ihrem Gehalt, die Fähigkeiten zu konstatieren beanspruchen. Man kann das damit erklären, dass zumindest eine Klasse von lebensweltlichen Überzeugungen Bedingungen für das Verstehen von elementaren Eigenschaften menschlicher, sozialer Lebensformen angeben. Das Verstehen besteht im Fall der illustrierten Klasse von Überzeugungen darin, dass man an einer solchen Lebensweise teilnehmen oder sie reproduzieren kann.5 Es ermöglicht eine Praxisteilnahme. Lebensweltliche Überzeugungen der genannten Art geben die Fähigkeiten an, die es für die Möglichkeit braucht, an einer sozialen Praxis teilzunehmen oder sie fortzusetzen. Dazu passen bestimmte Charakteristika lebensweltlicher Überzeugungen. 1. Sie sind erstens intersubjektiv geteilte oder teilbare Überzeugungen. Mit dem Gebrauch der Fähigkeiten, die in lebensweltlichen Überzeugungen behauptet werden, wird eine öffentliche Welt zugänglich oder gar erst geschaffen. (So trägt die Ausübung der Fähigkeit zum Gebrauch symbolischer Zeichen und zu regelgeleitetem Verhalten zur Entstehung beispielsweise einer Welt des Geldes, des Börsenhandels usw. bei.) Die Überzeugungen sind lebensweltliche Überzeugungen. 2. Zweitens handelt es sich bei ihnen um Überzeugungen, die zunächst implizit sind in der Ausübung von oder in der Teilnahme an einer Praxis. (Man könnte hier mit Günther Patzig, Friedrich Kambartel und Pirmin StekelerWeithofer davon sprechen, dass lebensweltliche Überzeugungen empraktisch sind, oder mit John Searle, dass sie Teil eines Hintergrunds sind.6) Der Aussagehalt dieser Überzeugungen wird ausgedrückt durch die Angabe von Fällen mit Musterstatus, also von Exempeln, die auf das verweisen, was sie instantiieren. 3. Eng damit verbunden ist ein drittes Charakteristikum lebensweltlicher Überzeugungen: Ihr Aussagehalt wird nicht von Sätzen artikuliert, die Teil einer Theorie sind. Lebensweltliche Überzeugungen sind vortheoretische Überzeugungen. 5

Die Verbindung von Verstehen mit der Fähigkeit zur Teilnahme an einer sozialen Praxis hat Hans-Julius Schneider in einem Gespräch betont. 6 G. Patzig, Logik und Sprache, 2.Aufl., Göttingen 1981, S. 25; F. Kambartel, Wahrheit und Begründung II. Praktische Urteile, Ms 1993, S.4; ders. und P.Stekeler-Weithofer, Sprachphilosophie. Probleme und Methoden, Stuttgart 2005, S. 92. J. Searle, Intentionalität, Frankfurt a. Main 1991, Kap. 5. Der Begriff des Empraktischen geht auf Karl Bühler zurück, wie die genannten Autoren hervorheben.

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4. Viertens schließlich haben lebensweltliche Überzeugungen einen sehr unspezifischen Gehalt. Ihr Aussagehalt gibt etwas an, das den Status von Verstehensbedingungen nicht hinsichtlich eines spezifischen Praxisbereichs, sondern hinsichtlich eines Lebens hat. Sie sind ja lebensweltliche Überzeugungen und unterscheiden sich durch ihre Generalität von bereichsspezifischen Alltagsüberzeugungen. Um es zusammenzufassen: Lebensweltliche Überzeugungen sind erstens intersubjektiv teilbare, zweitens implizite (empraktische), drittens vortheoretische und viertens unspezifische Überzeugungen. (Ich lasse es offen, ob und welche lebensweltlichen Überzeugungen kulturell variieren.)

2) Zu den Begriffen des Wissens, der Gewissheit und des wissenschaftlichen Wissens Jetzt noch rasch ein Wort zu den Begriffen des Wissens, des wissenschaftlichen Wissens und der Gewissheit. – Unter dem Wort »Wissen« verstehe ich hier nur so viel wie Aussagewissen. Es gibt auch ein Wissen im Sinne eines Könnens, dessen Weltbezug nicht vom Wissenden in Aussagen ausgedrückt werden kann. Diese Art von Wissen wird hier ausgeklammert.7 Aussagewissen ist irrtumssensibles und irritationsfestes Überzeugtsein von der Wahrheit. Die Irrtumssensibilität und die Irritationsfestigkeit sind mit rechtfertigenden Gründen des Wissenden verbunden; mit Gründen dafür, dass er oder sie eine Aussage zu Recht als wahr behauptet oder eine Aufforderung als berechtigt geltend macht oder eine Bekundung für aufrichtig hält. Dieses Verständnis von Wissen ähnelt dem Wissensbegriff von Robert Nozick. Bei Nozick wird die Aussage »S weiß, dass p« bekanntlich durch die Angabe von vier Bedingungen interpretiert: (1) Die Aussage p ist wahr. (2) S ist davon überzeugt, dass p wahr ist. (3) Wenn p nicht wahr wäre, dann würde S auch nicht glauben, dass p wahr ist. (4) Wenn p auch unter für S veränderten Situationsumständen wahr wäre, dann würde S auch weiterhin glauben, dass p wahr ist. 7

Es kann sein, dass diese Ausklammerung das Ergebnis meiner Überlegungen in unzulässiger Weise vorentscheidet. Denn mit dem Begriff der Lebenswelt ist traditionell ja auch eine vorpropositionale Dimension der Weltverbundenheit gemeint: »[Die] lebensweltlichen Überzeugungen [liegen] nicht propositional und systematisch [vor] […] [Man] weiß deshalb auch nicht, wie sie als Voraussetzungen aufzufassen sind.« (Michael Hampe, briefliche Mitteilung vom 20.9.2006). Vgl. hierzu auch M. Hampe, Phenomenological Fundamentalism in Husserl’s Conception of a Life-World and Sellars’ Idea of a Synoptic Vision of a Manifest and a Scientific Image, in: David Hyder (Hg.), Science and the Life-World, Stanford 2007.

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Es ist am besten, die dritte Bedingung als Irrtumssensibilität und die vierte Bedingung als Irritationsfestigkeit eines Wissenden zu verstehen, und beides, Irrtumssensibilität wie Irritationsfestigkeit, als Einstellungen aufzufassen, die der Wissende kraft rechtfertigender Gründe hat. Ich modifiziere also Nozicks Wissenskonzeption internalistisch. Diese Modifikation hat unter anderem zwei Gründe: (1) Mit der vierten Bedingung führt Nozick den Begriff einer möglichen, relevanten oder nächsten Welt für ein Wissenssubjekt S ein. Man kann diesen Weltbegriff nicht ohne den Begriff von einem Zweifel erläutern, der für S sinnvoll, wenngleich unzutreffend ist. Der Komplementärbegriff zum Begriff des sinnvollen Zweifels ist aber der Begriff des rechtfertigenden Grundes. Sinnvolle Zweifel sind das, was von rechtfertigenden Gründen effektiv zurückgewiesen wird. Deshalb sind bei Nozick rechtfertigende Gründe versteckt doch im Spiel. Man kann dieses Argument auch abkürzend so formulieren: Nozick macht in seiner vierten Bedingung von einem kontrafaktischen Konditionalsatz Gebrauch. Für solche Sätze gilt: »counterfactual conditionals presuppose the point of reason«.8 (2) Das zweite Motiv für die internalistische Modifikation des Wissensbegriffs hat damit zu tun, dass man eine Analyse des Wissensbegriffs nicht mit einem externalistischen Gründebegriff beginnen lassen kann, also mit einem Begriff, wonach man Gründe haben kann wie einen Fleck auf dem Rücken – also unerkannt und vielleicht für denjenigen unerkennbar, der diese Gründe hat. Der Begriff des Wissens dient dazu, Garanten oder verlässliche Instanzen für wahre Überzeugungen bzw. Aussagen zu markieren, die sich als solche zu erkennen geben können.9 Das tun die Garanten, indem sie sagen: »Ich weiß, dass p.« Die performative Verwendung des Wissensbegriffs geht aber einher mit der Festlegung, Antworten zu geben auf »Woher weißt du das?«-Fragen. Antworten auf solche Fragen werden durch die Angabe von rechtfertigenden Gründen geliefert. (Diese Festlegung zu antworten, ist eine Folge des Behauptens, nicht des Wissensanspruches.)

8

H. Putnam, Renewing Philosophy, Cambridge (Mass.) 1992, S. 61 f. Vgl. a. Edward Craig, Knowledge and the State of Nature. An Essay in Conceptual Synthesis, Oxford 1990 sowie ders., Was wir wissen können. Pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff, Frankfurt a. Main 1993. Auf die Differenzen zu Craigs Wissensbegriff gehe ich an anderer Stelle ein. 9

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3) Zum Begriff der Gewissheit Gewissheit teilt mit Wissen die Eigenschaft der Irritationsfestigkeit. Die Gewissheit, dass p, ist die Abwesenheit von Zweifeln an einer für wahr gehaltenen Aussage p. Eine Gewissheit ist rational, wenn sich diese Abwesenheit eines Zweifels rechtfertigender Gründe für die Überzeugung, dass p, verdankt. Wissen ist deshalb rationale Gewissheit. Wissen und Gewissheit fallen nicht zusammen. Das bedeutet aber nicht, dass Gewissheiten, die kein Wissen sind, irrational sind. Es kann ja auch Gewissheiten geben, die weder rational noch irrational sind. Bei solchen arationalen Gewissheiten ist kein sinnvoller Zweifel denkbar.

4) Zum Begriff des wissenschaftlichen Wissens Wissenschaftliches Wissen schließlich sei hier im Kontrast zu Alltagswissen verstanden. Für wissenschaftliches Wissen ist unter anderem charakteristisch, dass es eine stärkere Forderung nach epistemischer Kontextinvarianz erfüllt als das Alltagswissen. Mit »epistemischer Kontextinvarianz« ist lediglich so viel gemeint: Wenn man den Kontext oder die Umstände einer Überzeugungsbildung verändert, dann bleibt der epistemische Status rechtfertigender Gründe, einen Wissensanspruch zu stützen, invariant. Wissenschaftliches Wissen ist durch eine sehr starke Invarianz der epistemischen Qualität rechtfertigender Gründe bei Transformation der Genese der Überzeugung gekennzeichnet. Das ist ein Grund dafür, dass wir in unserer verwissenschaftlichen Alltagskultur wissenschaftliche Wissensansprüche für die stärksten Wissenskandidaten halten und dass wir das erwähnte Vorranggebot akzeptieren. Die Kontextinvarianz rechtfertigender Gründe zeigt sich zum Beispiel an den Umständen, die auch in Form von Experimenten gezielt und wiederholt herbeigeführt werden. Solche Umstände sind eine Quelle von Sekundärerfahrungen im Unterschied zu den alltäglichen Primärerfahrungen, die ohne Theorien, Modelle und Experimente gemacht werden. Zu den Eigenschaften wissenschaftlicher Empirie gehören bekanntlich die Reproduzierbarkeit eines Sachverhalts, die vollständige Angabe relevanter Sachverhalte, die Unabhängigkeit des herbeigeführten Sachverhalts von bestimmten Untersuchungsverfahren oder zumindest die ›herausrechenbare‹ Abhängigkeit vom Untersuchungsverfahren.10 Diese geläufigen Eigenschaften erfahrungswissenschaftlicher Überzeugungsbildung lassen sich als Erfüllung der Forderung nach Kontextinvarianz interpretieren. 10

Vgl. Oswald Schwemmer, Die Philosophie und die Wissenschaften. Zur Kritik einer Abgrenzung, Frankfurt a. Main 1990, S. 103.

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Soweit einige Erläuterungen zum Begriff der lebensweltlichen Überzeugungen, des Wissens und der Gewissheit. Diese Begriffe spielen eine Rolle bei der hier anhängigen Frage, was der epistemische Status solcher lebensweltlicher Überzeugungen ist, die augenscheinlich resistent gegenüber wissenschaftlichem Wissen sind. Die Frage sei nur beschränkt auf die Klasse von Überzeugungen, für die ich oben Beispiele gegeben habe, also für Überzeugungen hinsichtlich einer sozialen, »kommunikativen Lebensform« (Jürgen Habermas). Nicht jede dieser aufgelisteten Überzeugungen tritt sogleich mit wissenschaftlichen Überzeugungen in ein Spannungsverhältnis. Am geläufigsten ist dieses Spannungsverhältnis mit Blick auf die lebensweltliche Überzeugung, dass wir zumindest bisweilen frei sind. Aber es gibt auch andere Paare mit reichlich Konfliktstoff. Zum Beispiel steht die lebensweltliche Überzeugung: (1) Gründe sind gelegentlich handlungswirksam gegen die neurobiologische Auffassung: (1’) Gründe sind ein fünftes Rad am Wagen des Handelns und fungieren als sozialverträgliche Rationalisierungen eines festgelegten Verhaltens. Oder die lebensweltliche Auffassung: (2) Auch ein rundum gesunder Mensch kann die Hamletfrage negativ beantworten gegen die evolutionspsychologische These: (2’) Der gesunde Mensch kann nicht gegen seine biologisch verstandene Natur handeln. Oder eng damit verbunden die lebensweltliche Überzeugung: (3) Das Gute und das Richtige erschöpfen sich nicht in Fitness und in deren Beförderung gegen die mitunter soziobiologische These: (3’) Alles menschliche Wertschätzen und Sollen ist bezogen auf die Erfüllung biologischer Funktionen. Es muss hier unbedacht bleiben, ob die genannten wissenschaftlichen Überzeugungen tatsächlich wissenschaftliche Überzeugungen sind, oder ob sie lediglich solche Überzeugungen von Naturwissenschaftlern sind, die dem Test auf Kontextinvarianz gar nicht unterzogen wurden.11 Auch kann ich im 11

Darauf hat insbesondere Logi Gunnarsson hingewiesen.

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vorgegebenen Rahmen diese Fälle eines Spannungsverhältnisses zwischen präsumtiv wissenschaftlichen und lebensweltlichen Überzeugungen nicht im Einzelnen diskutieren. Entsprechend muss ich die leitende Frage etwas allgemeiner behandeln, also die Frage: Was sagt die Konstanz dieser lebensweltlichen Überzeugungen gegen anfechtende Aussagen der Wissenschaften über den epistemischen Status dieser Überzeugungen aus? Meine Antwort darauf hat drei Komponenten: eine kritische, eine konstruktive und eine hypothetische: Die Widerspenstigkeit der genannten lebensweltlichen Überzeugungen ist nicht die Folge davon, dass diese Überzeugungen liebgewonnene oder gar unvermeidliche Illusionen sind, deren Preisgabe kränkend und deshalb schwer verdaulich ist. Das ist die kritische Komponente meiner Antwort. Vielmehr sind bestimmte lebensweltliche Überzeugungen relativ resistent, weil sie von den Wissenschaften vom Menschen ihrerseits vorausgesetzt oder präsupponiert werden. Das ist der konstruktive Bestandteil meiner Antwort auf die Frage nach dem erkenntnisbezogenen Status solcher lebensweltlicher Überzeugungen. Ich behaupte also, dass die genannten lebensweltlichen Überzeugungen den Status von Präsuppositionen der Wissenschaft haben oder zumindest Kandidaten sind für einen solchen Status. Diese Behauptung zehrt aber von einer falsifizierbaren Behauptung, nämlich der Behauptung, dass wir uns bei Wegfall dieser Überzeugungen in dem Sinne schlechter verstünden, dass wir unsere soziale Lebenspraxis nicht mit einem besseren Ersatz fortsetzen bzw. an ihr teilnehmen könnten. Das ist die hypothetische Komponente in meiner Antwort. Ohne dieses Element würden die präsupponierten lebensweltlichen Überzeugung keinen Wissensstatus beanspruchen dürfen. Um nun zu dieser Antwort hinzuführen, möchte ich drei mögliche Erklärungen dafür prüfen, dass die genannten lebensweltliche Überzeugungen ziemlich unbeeinflusst bleiben gegen augenscheinlich widersprechende, wissenschaftliche Auffassungen.

5) Drei Bestimmungen des epistemischen Status lebensweltlicher Überzeugungen 1. Man kann die Unbeeinflussbarkeit lebensweltlicher Überzeugungen damit erklären, dass diese Überzeugungen von wissenschaftlichem Wissen gar nicht in Frage gestellt, sondern ihrerseits erklärt werden. Die lebensweltlichen Überzeugungen haben dann den epistemischen Status von Phänomenen. Phänomene sind Sachverhalte, für die gilt: Ihre Existenz ist ebenso unstrittig wie erklärungsbedürftig.

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Man denke etwa an alltägliche Wahrnehmungsphänomene, zum Beispiel an die Tiefenwahrnehmung von Oberflächen.12 So mag eine beleuchtete Oberfläche zunächst eine Serie von nach außen gewölbten Halbkreisen aufweisen und ebenso eine Abfolge von nach innen gewölbten Halbkreisen. Dann verkehren sich die Anordnungen konvexer und konkaver Formen. An der Stelle von Vertiefungen treten Erhebungen und an der Stelle von Erhebungen treten Vertiefungen auf, ohne dass die Oberfläche zwischenzeitlich zum Beispiel bearbeitet worden wäre. Es ist unter diesen Umständen unstrittig, dass konvexe und konkave Formen ihre Raumstellen tauschen, und erklärungsbedürftig, warum sie das tun. Ebenso ist es unstrittig, dass erwachsene, gesunde Menschen jedenfalls bisweilen ein Freiheitsbewusstsein haben. Aber es ist erklärungsbedürftig, unter welchen Bedingungen dieses Freiheitsbewusstsein entsteht und besteht. – Lebensweltliche Überzeugungen haben in einer ersten Spezifikation den epistemischen Status von unstrittigen und erklärungsbedürftigen Tatsachen. 2. In einer zweiten Erklärung für ihre Unbeeinflussbarkeit werden lebensweltliche Überzeugungen als solche mentale Zustände mit einem Aussagehalt aufgefasst, in die man unvermeidlich gerät. Diese Erklärung führt auf eine andere, zweite Bestimmung des epistemischen Status von lebensweltlichen Überzeugungen. Man muss allerdings noch eine Norm für die Bildung und Bewahrung von Überzeugungen hinzunehmen: Halte den Inhalt Deiner Überzeugung kompatibel mit der Erklärung Deines Überzeugtseins!13 Beispielsweise lässt sich die Überzeugung, dass kraterähnliche Wölbungen an die räumlichen Stellen von hügelartigen Wölbungen oder Erhebungen treten, damit erklären, dass sich bei verändertem Lichteinfall die Tiefenwahrnehmung im stereoskopischen, menschlichen Sehen verkehrt. Dabei folgt der sehende Mensch (das Wahrnehmungssystem) der Annahme einer in evolutionärer Zeit stabilen Eigenschaft des Wahrnehmungskontextes: Das Licht, nämlich das Sonnenlicht, kommt von oben, weil die Sonne nicht unterhalb der Horizontlinie scheinen kann. Die wissenschaftliche Überzeugungsbildung nimmt diesen Wahrnehmungskontext gerade nicht mehr als invariant oder stabil an. Vorausgesetzt, die wissenschaftliche Erklärung der Genese einer Überzeugung ist gut, dann sollte der Überzeugte seine Überzeugung der Erklärung anpassen. Er oder sie wird dann zum Beispiel sagen: »Mir erscheint die Oberfläche verändert, aber sie ist es – objektiv besehen – nicht.« Tut er das nicht, 12

Vgl. Richard Gregory, Auge und Gehirn. Zur Psychologie des Sehens, Reinbek 2001, S. 232 ff. (dt. Übersetzung von Gregory, Eye and Brain, Oxford 1998); vgl. ebenso Thomas Ditzinger, Illusionen des Sehens, Heidelberg 2006, S. 173–176. 13 Diese Norm ist eine Folge davon, dass man darauf festgelegt ist, für seine sprachlich artikulierbaren Überzeugungen einzustehen, sowie eine Folge davon, dass rechtfertigende Gründe mit erklärenden Gründen für das eigene Überzeugtsein verträglich sein müssen.

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dann irrt er. (Immer vorausgesetzt die beste Erklärung seines Überzeugtseins rechtfertigt den Schluss darauf, dass die buchstäblich genommene Überzeugung falsch ist.) Es kann jedoch sein, dass die Anpassung ausbleibt, weil eine nicht behebbare Unfähigkeit zur Korrektur der Überzeugung besteht. In diesem Fall handelt es sich um eine unvermeidliche Illusion. Lebensweltliche Überzeugungen sind unbeeinflussbar, so der Gedanke, weil die Bedingungen ihrer Korrigierbarkeit unerfüllbar sind, oder sogar unbekannt und deshalb unerfüllbar sind. – Das ist ein zweiter, möglicher epistemischer Status lebensweltlicher Überzeugungen: der Status von unvermeidbaren Illusionen. Bei der ersten Spezifikation des epistemischen Status lebensweltlicher Überzeugungen besteht kein Gegensatz zwischen diesen Überzeugungen und wissenschaftlichem Wissen. Es liegt das Verhältnis von Phänomen und Erklärung vor. Das ist ein Fall des gegensatzfreien Verhältnisses zwischen Explanandum und Explanans. Bei der zweiten Bestimmung des epistemischen Status hingegen treten die lebensweltlichen Überzeugungen mit wissenschaftlichem Wissen in einen Gegensatz, sofern der Überzeugte nicht die objektivierende Außenansicht auf sich übernimmt und seine Überzeugungen nicht als unvermeidliche mentale Zustände mit Aussagegehalt ansieht. Der Überzeugte versteht in diesem Fall vielmehr nach wie vor seine Überzeugung als ein Urteil, das von ihm gefällt wird und nicht als etwas, das ihm widerfährt. Er hält an seinen, so verstandenen Überzeugungen gegenüber Anfechtungen fest. Lebensweltliche Überzeugungen treten unter diesen Umständen als Gewissheiten in einen Gegensatz zu wissenschaftlichem Wissen. – Das Wort »Gewissheit« verstanden als Abwesenheit von Zweifeln an der Wahrheit einer Aussage, an der Berechtigung einer Aufforderung oder an der Aufrichtigkeit einer Bekundung, wobei die Aussage, Aufforderung oder Bekundung dem, der nicht zweifelt, bekannt ist. 3. Man stößt auf eine dritte Erklärung für die Unbeeinflussbarkeit von lebensweltlichen Überzeugungen, wenn die Blickrichtung umgekehrt wird. Bisher sah ich lebensweltliche Überzeugungen bezogen auf wissenschaftliches Wissen, sei es in Form der Bezogenheit von erklärungsbedürftigen Phänomenen auf wissenschaftliche Erklärungen, sei es in der Form der epistemischen Qualifikation als wissenschaftlich erklärbare, unvermeidliche Illusionen. Man kann aber auch umgekehrt wissenschaftliches Wissen auf lebensweltliche Überzeugungen beziehen und den Gedanken fassen: Der Erwerb wissenschaftlichen Wissens bzw. die Bildung wissenschaftlicher Wissensansprüche zehrt von lebensweltlichen Überzeugungen. Diese lebensweltlichen Überzeugungen haben den Status von Präsuppositionen wissenschaftlichen Wissens. Sie können von diesem Wissen nicht korrigiert, mithin erschüttert werden, weil sie von ihnen vorausgesetzt werden.

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Ich glaube, dass die eingangs genannten lebensweltlichen Überzeugungen diesen dritten Status von Präsuppositionen haben oder ihn zumindest beanspruchen dürfen. Entsprechend bin ich festgelegt auf die Meinung, dass die zweite Statusbestimmung falsch ist. Ich will aber die These, bestimmte lebensweltliche Überzeugungen hätten den Status von Präsuppositionen, nur für den Fall von wissenschaftlichem Wissen über das intentionale Verhalten von Personen vertreten. Zur Stützung dieser These werde ich kurz ein Beispiel für die wissenschaftliche Erklärung intentionalen Verhaltens von Personen diskutieren. Daran anschließend will ich eine mögliche Konsequenz die These bedenken: Folgt daraus, dass gewisse lebensweltliche Überzeugungen den Status von Präsuppositionen für wissenschaftliches Wissen haben, dass sie als Gewissheiten statt als Wissen angesehen werden müssen? Meine Antwort wird »nein« lauten. Es sind somit vor allem drei Thesen, für die ich im Folgenden Argumente geben will: 1. Gewisse lebensweltliche Überzeugungen haben erkenntnismäßig den Status von Präsuppositionen für wissenschaftliche Erklärungen des intentionalen Verhaltens von Personen. 2. Sie haben nicht bloß den Charakter von arationalen Gewissheiten. 3. Sie sind Kandidaten für ein Wissen über Eigenschaften und Fähigkeiten, ohne die wir uns unverständlich werden würden und ohne die wir unfähig werden würden, unsere soziale Lebensweise fortzusetzen. Zu diesem Wissen gehört unter anderem die Kenntnis von Fähigkeiten, Zugang zu Geistigem zu bekommen, wie es zum Beispiel Handlungen sind.

6) Ein Fallbeispiel: »Oxytocin erhöht das Vertrauen zu Menschen.« Das Beispiel ist ein Fall für eine naturalistische Handlungserklärung. Es gehört zu den zahlreichen Experimenten, die Forschergruppen aus dem Feld der Neuroökonomie seit einigen Jahren durchführen.14 In einem sogenannten Vertrauensexperiment bildete man aus 120 Testpersonen zwei gleich große Gruppen. In beiden Gruppen sollte das Maß der Bereitschaft von sogenannten Investoren geprüft werden, sogenannten Treuhändern Kapital zu überlassen. Jede der beiden Großgruppen zu sechzig Personen umfasste also Investoren und Treuhänder. Den Mitgliedern der ersten

14

Vgl. nur H. Gintis/S. Bowles/R. Boyd/E. Fehr (Hg.), Moral Sentiments and Material Interests. The Foundations of Cooperation in Economic Life, Cambridge (Mass.) 2005; Colin Camerer/ George Loewenstein/Drazen Prelec, Neuroeconomics: How Neuroscience Can Inform Economics, in: Journal of Economic Literature 43(2005), S. 9–64. Kritisch: Mark S. Peacock/Michael Schefczyk (Hg.), Ernst Fehr on Human Atruism, in: Analyse und Kritik 27 (Dezember 2005).

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Gruppe wurde das Neuropeptid Oxytozin verabreicht, und zwar in der Darreichungsform eines Nasensprays. Das sind die Mitglieder der Oxytozingruppe. Den Mitgliedern der zweiten Gruppe wurde ein Placebo gegeben. Sie bildeten die Placebogruppe. Das hauptsächlich relevante Ergebnis war nun, dass unter den ›gedopten‹ Investoren in der Oxytozingruppe eine erheblich größere Zahl bereit war, ihren Treuhändern mehr Kapital zur nicht-sanktionierbaren Verwendung zu überlassen – erheblich größer im Vergleich zu den ›nicht-gedopten‹ Investoren aus der Placebogruppe. Die Mitglieder der Oxytozingruppe von Investoren zeigten ein größeres Vertrauen in die Treuhänder, indem sie stärkere Vorleistungen erbrachten – mehr Kapital überließen – als die Mitglieder der Placebogruppe von Investoren. Das Fazit des Experiments wird vom Titel des Aufsatzes in der Zeitschrift Nature angezeigt: »Oxytozin erhöht das Vertrauen zu Menschen.« (»Oxytocin increases trust in humans«.15) Damit wird bündig eine biochemische Ursache als erklärender Grund an die Stelle vertrauter, lebensweltlich fundierter Erklärungen gesetzt – an die Stelle von Erklärungen wie die, dass Leichtgläubigkeit, also ein laxer Umgang mit Maximen der Überzeugungsbildung zu höherem Vertrauen in andere führe, oder dass ein größerer sozialer Mut oder gar die Naivität am Werk sei, auf die bindende Kraft einer Vorleistung zu setzen. Die Schlussfolgerung des Experiments wird zwar meines Erachtens von den berichteten Daten nicht eindeutig gestützt, weil die Autoren nicht genau zwischen Vertrauen und Risikobereitschaft unterscheiden. Vertrauen von A zu B ist die Bereitschaft von A, zu handeln mit der Meinung, dass dieses Handeln eine Handlungsgelegenheit für B schafft oder bewahrt und dass B nicht bereit ist, die Gelegenheit zum Nachteil von A zu nutzen, dass also B die Nutzung dieser Gelegenheit zum Nachteil von A unterlassen wird. – Risikobereitschaft von A in Hinsicht auf B ist hingegen die Bereitschaft von A, zu handeln mit der Meinung, dass dieses Handeln eine Handlungsgelegenheit für B schafft oder bewahrt und dass B bereit ist, diese Gelegenheit zum Nachteil von A zu nutzen. Es kann sein, dass A dann anders als im Fall eines Vertrauens zu B mit dem Mute der Verzweiflung handelt oder in banger Hoffnung, dass B doch nicht die Gelegenheit zum Nachteil von A nutzen wird. Aber auf diesen Punkt einer Verwischung des Unterschiedes zwischen Risikobereitschaft und Vertrauen kommt es mir an dieser Stelle nicht an. Wichtiger ist hier, am Fall einer anerkannten naturwissenschaftlichen Forschung über intentionales Verhalten von Personen den epistemischen Status lebensweltlicher Überzeugungen als Präsuppositionen bestätigt zu sehen. Das Forschungser15

Michael Kosfeld, Markus Heinrichs, Paul J. Zak, Urs Fischbacher, Ernst Fehr, Oxytocin increases trust in humans, in: Nature 435 (2 June 2005), S. 673–676.

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gebnis nimmt nämlich auf der Ebene des Explanandums und des Explanans lebensweltliche Überzeugungen in Anspruch. Das Erklärungsbedürftige ist das höhere Vertrauen, das die Investoren gegenüber ihren Treuhändern in der Oxytozin-Gruppe zeigten – im Vergleich zur Placebo-Gruppe. Vertrauen kann Vorleistungen motivieren. Das ist aus Sicht der Wissenschaftler im vorliegenden Vertrauensexperiment der Fall. Denn es ist die Rede davon, dass die Investoren den ersten Schritt in einer sozialen Interaktion machen müssten, die eine für beide Seiten vorteilhafte Kooperation der Gewinnsteigerung etablieren soll, und dass für die Treuhänder die Psychologie der Reziprozität relevant sei.16 Um zu dem hier wesentlichen Argument hinzuführen, müssen knapp einige sprachliche Bedeutungen und damit bestimmte sachliche Unterschiede erläutert werden. Sie betreffen die Rede von »Vertrauen« und von durch Vertrauen motivierte »Vorleistungen«. »A erbringt eine Vorleistung gegenüber B« bedeutet so viel wie (1) A tut bzw. unterlässt etwas mit einer bestimmten Meinung, wobei diese Meinung von A (2) –(5) beinhaltet: (2) A glaubt, dass in Folge seines Tuns B eine Handlungsgelegenheit bekommt. (3) A glaubt, dass B diese Handlungsgelegenheit zu beiderlei Vorteil, zum Vorteil von A und B, nutzen kann. (4) A glaubt, dass B die von A geschaffene Handlungsgelegenheit auch zum Nachteil von A nutzen kann. (5) A glaubt, dass B diese Handlungsgelegenheit nicht zum Nachteil von A nutzen soll (oder sollte). Die fünfte Bedingung ist nötig, um »eine Vorleistung erbringen« von »ein Opfer bringen« zu unterscheiden. Ein Opfer erbringen heißt etwas tun, von dem man überzeugt ist oder gar weiß, dass es einem einen Nachteil einbringt. Eine Vorleistung erbringen bedeutet demgegenüber nicht, etwas tun, von dem man überzeugt ist oder gar weiß, dass es einem einen Nachteil einbringt. A hat Vertrauen zu B, wenn A glaubt, dass B die Handlungsgelegenheit nicht zu seinem Nachteil nutzen wird. 16

»[…] investors have to make the first step […] In contrast, the trustees can condition their behaviour on the basis of the investor’s actions. Thus, the psychology of trust is important für investors, whereas the psychology of strong reciprocity27 is relevant for trustees.« (Kosfeld u. a., Oxytocin increases trust in humans, a. a. O., S. 675, 1. Spalte, 1. Absatz.) – »[…] investors’ behaviour […] is also likely to be driven by the motive to increase the available amount for distribution between the two players.« (Ebd., S. 675, 2. Spalte, 2. Absatz.)

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Um sein Explanandum identifizieren zu können, muss der Experimentator im Labor wissen oder ›sehen‹, dass der Proband A, der Investor, Vertrauen bekundet, indem er eine Vorleistung gegenüber B, dem Treuhänder, erbringt. Er muss unter anderem ein Verständnis davon haben, dass aus A’s Sicht B etwas unterlassen soll. Der Experimentator muss also einen Sinn für das in den Augen von A Gesollte haben. Da er die Situationswahrnehmung von A übernimmt, übernimmt er auch die Sicht von A, inklusive dessen Meinung, dass B etwas gegenüber A unterlassen soll. Der Forscher im Labor akzeptiert also eine der genannten lebensweltlichen Überzeugung, nämlich, dass Menschen Adressaten eines Sollens sein können. Er muss das, um das Erklärungsbedürftige überhaupt angeben zu können. Ein Einwand drängt sich sogleich auf: Die Forscher müssen die lebensweltlichen Überzeugungen doch nur insoweit akzeptieren, als diese eben Teil des Explanandums sind. Sie akzeptieren wohl auf der Ebene der Beschreibung des erklärungsbedürftigen Phänomens gewisse lebensweltliche Überzeugungen. Etwas Ähnliches tun ja auch Sinnesphysiologen, die optische Täuschungen untersuchen. So werden diese beispielsweise die Beschreibung akzeptieren, die ein Wahrnehmungssubjekt von seinen, schon erwähnten, wechselnden visuellen Wahrnehmungen einer unterschiedlich beleuchteten Oberfläche gibt. Auf der Ebene des Explanans sprechen die Sinnesphysiologen dann aber nicht mehr die Sprache des erlebende Wahrnehmungssubjekts. Entsprechend, so der Einwand, geben die Vertrauensforscher im Labor auf der Ebene ihrer Erklärung die lebensweltliche Beschreibungssprache auf. Diese Trennung einer Beschreibungssprache von einer Erklärungssprache lässt sich im Fall der Erklärung intentionalen Verhaltens von Personen aber nicht bewerkstelligen. Auch beim Explanans sind lebensweltliche Überzeugungen im Spiel. Im vorliegenden Experiment ist das Erklärende der gravierende Unterschied bei der Oxytozin-Konzentrationen im Gehirn der Probanden. Der unterschiedliche Oxytozingehalt erklärt, warum das Vertrauen der Investoren in der Oxytozingruppe erheblich größer war als das Vertrauen der Investoren aus der Placebogruppe. Die Idee bei dieser Erklärung ist, so weit ich sehe, dass das Hormon Oxytozin so etwas wie eine schwache soziale Furcht, eine Abneigung oder Aversion gegen andere, abbaut und die Annäherungsbereitschaft zu anderen erhöht. Allerdings verlangen die experimentell gefundenen Daten eine Spezifikation der erklärenden Ursachen. Über diese Spezifikation kommt eine lebensweltliche Überzeugung zum Zuge, und zwar bei den erklärenden Naturwissenschaftlern. Neben dem schon erwähnten, gravierenden Unterschied im intentionalen Verhalten zweier Gruppen von Investoren gab es noch ein Ergebnis, das die

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Treuhändergruppen betraf. Diejenigen Testpersonen, die die Rolle von Treuhändern übernommen hatten und die ebenfalls Oxytozin einnahmen, handelten nicht anders im Vergleich zu den ›nicht gedopten‹ Treuhändern in der Kontrollgruppe (in der Placebogruppe). Damit schien ein Prinzip verletzt zu sein, nämlich das Prinzip: »Gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen bei gleichen Randbedingungen«. Denn wenn das Hormon Oxytozin bei den gedopten Investoren einen Unterschied gegenüber den nicht-gedopten Investoren ausmacht, dann muss es auch einen Unterschied im intentionalen Verhalten zwischen gedopten Treuhändern und nicht-gedopten Treuhändern bewirken. Das tat es nicht. Darum stellte sich die Frage: Warum bewirkt die gleiche biochemische Ursache – eine höhere Oxytozinkonzentration im Gehirn – bei den ›sozial gedopten‹ Investoren ein verändertes intentionales Verhalten, nicht aber bei den ebenfalls ›sozial gedopten‹ Treuhändern‹? In der Antwort der Vertrauensforscher wird interessanterweise auf die verschiedenartigen Handlungssituationen der beiden Akteursgruppen hingewiesen.17 Die Randbedingungen waren andere, und diese Randbedingungen werden als unterschiedliche Handlungssituationen in einer sozialen Interaktion verstanden. Im Unterschied zu den Treuhändern mussten die Investoren die Initiative ergreifen, eine soziale Beziehung herzustellen, in der zu beiderseitigem Vorteil Investor und Treuhänder kooperieren. Die Initiative hatte eben die Form einer Vorleistung. Das Oxytozin, das in der kausalen Erklärung angeführt wird, mindert – so die These – die Furcht oder Abneigung, mit einer solchen Initiative zu scheitern. Die Treuhänder hingegen hatten nichts zu befürchten und empfanden auch keine Furcht. Denn sie konnten ja nicht sanktioniert werden. Die Furcht oder Abneigung der Investoren war aber nicht einfach die Furcht, die einen bei einem Spiel mit hohem Risiko, sei es am Rouletttisch, an der Börse oder auf der Überholspur der regennassen Autobahn vielleicht ergreift.18 Das zeigte ein Kontrollexperiment. In diesem sogenannten Risiko-Experiment wurden die leibhaftigen Treuhänder durch einen Risikogenerator ersetzt, der das gleiche Verlustrisiko für die Investoren erzeugte wie die Treuhänder. Merkwürdigerweise zeigten die gedopten und die nicht-gedopten Investoren in diesem Fall keinen Unterschied in ihrer Bereitschaft, ihr Geld zu investieren oder nicht zu investieren. Das Oxytocin bewirkte nichts, kein erhöhtes Vertrauen,

17

»We hypothesize that the differing effect of oxytocin on the behaviour of investors and trustees is related to the fact that investors and trustees face rather different situations. Specifically, investors have to make the first step; they have to approach the trustee by transferring money. In contrast, the trustees can condition their behaviour on the basis of the investor’s actions.« (Ebd., S. 675, 1. Spalte, 2. Absatz.) 18 Hierfür war eine Diskussionsbemerkung von Felicitas Krämer hilfreich.

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keine größeren Vorleistungen. Das wurde damit erklärt, dass in diesem Fall kein sozialer Gegenüber existierte, sondern eben nur eine Maschine.19 Die kausale Wirksamkeit und Unwirksamkeit wird in der wissenschaftlichen Erklärung des Fallbeispiels an bestimmte unterschiedliche Randbedingungen gebunden, die mit der sozialen Furcht oder Abneigung der Probanden zusammenhängen. Die Wissenschaftler arbeiten in dieser Erklärung mit einem Verständnis von sozialer Furcht bzw. Abneigung, das diese emotionalen Zustände nicht bloß biologisch charakterisiert (z. B. durch beschleunigten Herzschlag, Starreverhalten, Ausschüttung von Stresshormonen, Schmerzunterdrückung, eine Amygdalaaktivität, repräsentiert im Arbeitsgedächtnis usw.). Die soziale Furcht wird vielmehr durch ihren kognitiven Gehalt spezifiziert und ist gut aristotelisch mit einem Gedanken desjenigen verbunden, der Furcht empfindet. In diesem Gedanken stecken bestimmte lebensweltliche Überzeugungen. Der Gedanke ist die schlichte Vorstellung, dass der Gegenüber, der sogenannte Treuhänder Gründe pro und contra hat. Er hat einen Grund, das Vertrauen des Investors zu missbrauchen und zu betrügen.20 Denn er kann sanktionsfrei agieren und ohne eigenen Schaden eigennützig handeln. Und der Gegenüber des Investors, der Treuhänder, hat aus Sicht des Investors einen Grund, das nicht zu tun – das Gebot, Vertrauen nicht zu missbrauchen. (Das Gebot kann auch ein Klugheitsgebot sein, nicht leichtfertig Kooperationsvorteile zu verspielen.) In diesem Gedanken stecken zumindest zwei lebensweltliche Überzeugungen. Erstens die Überzeugung, dass Personen über einen Spielraum intentionalen Verhaltens verfügen, den sie auch durch das Erwägen von Gründen erschließen (entdecken und nutzbar machen). Und zweitens die Überzeugung, dass Personen den Status haben von Adressaten normativer Erwartungen – hier der normativen Erwartung, Vertrauen nicht zu missbrauchen. (Dass man Vertrauen nicht missbraucht, muss nicht heißen, dass man Vertrauen erwidert. Man kann es auch unterlassen, Vertrauen zu missbrauchen, indem man den angesonnenen Eintritt in eine Kooperation zurückweist, im Wissen um die Verpflichtung, die man damit eingehen würde.)

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»[…] the investor’s risk in the risk experiment is not generated through a social interaction.« (Ebd., S. 674, 2. Spalte, 3. Absatz). 20 In einem anderen Aufsatz wird mit Blick auf die hier diskutierte Studie von Ausbeutung (»exploitation) gesprochen und von der Abneigung von A, ausgenutzt bzw. ausgebeutet zu werden. Es ist nicht normativ neutralisiert lediglich von einer Furcht vor Enttäuschung prognostischer Erwartungen die Rede. Siehe den Aufsatz von drei Autoren der Oxytozin-Studie: Ernst Fehr/Urs Fischbacher/Michael Kosfeld, Neuroeconomic Foundations of Trust and Social Preferences: Initial Evidence, in: American Economic Review 95 (2005), S. 346–351: Oxytozin (=OT) »might also overcome the ›natural‹ fear of being exploited by others in a social dilemma. […] Thus, it seems possible that OT affects subject’s exploitation aversion.« (S. 350, 1.Spalte, 2. Absatz.)

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Die soziale Furcht, auf die das Hormon Oxytozin kausal einwirkt, ist von einem Urteil abhängig, das seinerseits in diesen lebensweltlichen Überzeugungen wurzelt. Die erklärenden Naturwissenschaftler übernehmen in ihrer Erklärung dieses Verständnis von Furcht, das damit verbundenen Urteil und die präsupponierten lebensweltlichen Überzeugungen. Sie schreiben diese Überzeugungen nicht bloß den Probanden zu, sondern sie teilen diese Überzeugungen, indem sie sich vorbehaltlos in ihrer Erklärung auf diese Überzeugungen stützen. Um die Diskussion des Fallbeispiels zusammenzufassen: Die erörterte Erklärung eines verschiedenartigen Handelns von Personen gegenüber anderen Personen rückt augenscheinlich von üblichen, lebensweltlichen oder volkspsychologischen Erklärungen ab. Sie führt keine Gründe, sondern biochemische Ursachen an. Aber sowohl auf der Ebene des Erklärungsbedürftigen als auch auf der Ebene des Erklärenden können wissenschaftliche Erklärungen des intentionalen Verhaltens von Personen offenkundig nicht ohne gewisse lebensweltliche Überzeugungen auskommen. Das erhärtet die These, dass diese Überzeugungen jedenfalls auch den epistemischen Status von Präsuppositionen wissenschaftlichen Wissens in gewissen Gegenstandsbereichen haben. Naturalistische Anhänger der Fodorschen These von der Unersetzbarkeit Spezialwissenschaften21 wie zum Beispiel der Psychologie durch die Physik oder die Neurobiologie akzeptieren mitunter bereitwillig diese These. Aber im Verein mit einer anderen These ist diese These von dem Status lebensweltlicher Überzeugungen als Präppositionen vielleicht nicht ganz so theorieneutral. Ich meine die These, wonach etwas, das eine unverzichtbare erklärende Leistung in einem Gegenstandsbereich erbringt, etwas ist, das in diesen Gegenstandsbereich auch eine kausale Leistung erbringt oder das zumindest ein fundamentum in re und nicht bloß in mente hat.22 Wenn man diesen Realismus der Erklärung akzeptiert, dann kann man lebensweltliche Überzeugungen nicht mehr so einfach instrumentalistisch als explanatorisch nützliche Mittel auffassen, wie es eine Lesart der Fodor-These von den »Special Sciences« nahelegt. Der Gehalt dieser Überzeugungen scheint etwas in der Realität einzufan21

J. Fodor, Einzelwissenschaften. Oder: Eine Alternative zur Einheitswissenschaft als Arbeitshypothese, in: Dieter Münch (Hg.), Kognitionswissenschaft. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a. Main 1992 sowie J.Fodor, Special sciences: Still autonomous after all these years, in: Philosophical Perspectives 11 (1997), S. 149–163. 22 Jaegwon Kim nennt diese These die These vom explanatorischen Realismus (»explanatory realism«): »a realist concept of explanation holds […] that an explanation is correct […] in virtue of there obtaining ›in the real world‹ a certain determinate relationship between the explanandum and what is adduced as an explanation of it.« (Kim, Mechanism, purpose, and explanatory exclusion, in: ders., Supervenience and Mind, Cambridge 1993, S. 256.)

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gen, und die Überzeugungen scheinen den Charakter von Erkenntnissen zu haben.

7) Sind lebensweltliche Überzeugungen arationale Gewissheiten? Die Frage, die ich zum Schluss aufwerfen möchte, ist die nach einer Konsequenz aus dem Gesagten. Folgt aus dem präsuppositionellen Status bestimmter lebensweltlicher Überzeugungen, dass sie arationale Gewissheiten sind? Die Frage lässt sich durch die Variation eines Wittgensteinschen Gedankens intuitiv erfassen. »Wenn das Wahre das Begründete ist« schreibt Wittgenstein in Über Gewißheit, »dann ist der Grund weder wahr noch falsch.«23 Entsprechend: Wenn wissenschaftliches Wissen etwas präsupponiert, dann ist das Präsupponierte weder Wissen noch Irrtum. Würde das stimmen, dann würden lebensweltliche Überzeugungen mit dem Status von Präsuppositionen zwar nicht in einen ausschließenden Gegensatz zu wissenschaftlichem Wissen treten. Aber sie wären eben blosse Gewissheiten im Unterschied zu Wissen. Und das vertrüge sich auch nicht gut mit einer nicht-instrumentalistischen Lesart von lebensweltlichen Überzeugungen als Erkenntnissen. Man könnte diese Schlussfolgerung mit einem Argument von Julian NidaRümelin kritisieren. Nida-Rümelin hält es für ein cartesianisches Vorurteil, legitime Wissensansprüche an unfehlbare Aussagen zu binden, die zwingende Gründe für Überzeugungen liefern.24 (Solche unbezweifelbaren Aussagen sind beispielsweise Konstatierungen von Bewusstseinstatsachen, weil das Haben von cogito-Gedanken mit dem Erfülltsein ihrer Wahrheitsbedingungen zusammenfällt.) Die rechtfertigende Basis für legitime Wissensansprüche liegt diesem Vorurteil gemäß in Aussagen, die als notwendig wahr erfasst werden können. In Aussagebereichen, in denen es keine solche Aussagen gibt, bleiben die Wissensansprüche ungedeckt und also illegitim. Nur unfehlbar Gewusstes kann letztlich Wissensansprüche legitimieren. Aber die von mir erwogene Schlussfolgerung, in der lebensweltliche Gewissheiten wissenschaftlichem Wissen gegenübergestellt werden, arbeitet nicht mit einer infallibilistischen (»certistischen«) Prämisse. Sie setzt lediglich voraus, dass Wissen und legitime Wissensansprüche an Begründungen gebunden sind. Begründungen sind Zurückweisungen vernünftiger Zweifel, wobei nicht jeder denkbare Zweifel schon ein vernünftiger (=sinnvoller) Zweifel ist. Die Begründungen müssen deshalb nicht so stark sein, dass sie jeden auch nur denkbaren Zweifel ausräumen können. 23 24

L. Wittgenstein, Über Gewißheit, Frankfurt a. Main 1970, § 205, S. 59. Julian Nida-Rümelin, Demokratie und Wahrheit, München 2006, S. 28.

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Man könnte die Schlussfolgerung, gewisse lebensweltliche Präsuppositionen der Wissenschaften vom Menschen hätten keinen Wissensstatus, auch damit kritisieren, dass sie eine psychologische mit einer semantischen Eigenschaft verwechselt. Die lebensweltlichen Voraussetzungen sind – so der Einwand – nur in psychologischer Hinsicht Überzeugungen, eben arationale Gewissheiten. Aber sie haben keinen repräsentationalen, wahrheitsfähigen Gehalt. Sie sind nicht Überzeugungen über etwas, sondern stabile, schwer erschütterbare Einstellungen gegenüber etwas und jemandem. Es ist deshalb unsinnig zu sagen, sie seien Überzeugungen von schlechterer epistemischer Qualität und eben kein Wissen. Bei dieser Überlegung, die dem Projektivismus von Simon Blackburn in der Ethik ähnelt,25 wird aber eines unklar: Kann es noch eine Einsicht geben, die zur Einnahme dieser stabilen Einstellungen rational motiviert? Wenn nicht, dann kann die Änderung lebensweltlicher Gewissheiten nicht als eine Revision oder als ein Lernen, sondern nur noch als ein faktischer Wandel gedacht werden, so wie sich bisweilen ein Flussbett verändert.26 Wenn man diese weitergehende Konsequenz vermeiden will, dann sollte man auch etwas anderes zu verhindern suchen. Man sollte sich darum bemühen, die Konsequenz zu blockieren, dass für lebensweltliche Überzeugungen mit einem präsuppositionellen Status für wissenschaftliches Wissen (über intentionales Verhalten) kein Wissensanspruch erhoben werden kann.27 – Was für ein Wissensanspruch könnte das aber überhaupt sein, der mit lebensweltlichen Überzeugungen der genannten Art verbunden ist? Eine Vermutung ist, dass für lebensweltliche Überzeugungen ein Wissen über gewisse Tatsachen der sozialen menschlichen Existenzweise beansprucht werden darf. Die Aussagen, die diese Tatsachen konstatieren, schreiben uns Eigenschaften und Fähigkeiten zu, ohne die wir uns unverständlich werden würden in dieser sozialen Existenzweise und ohne die wir unfähig werden würden, unsere soziale Lebensweise fortzusetzen. Zu diesen Fähigkeiten zählen auch Fähigkeiten, einen Zugang zu Geistigem zu bekommen. Mit »geistig« meine ich nur so viel wie das Attribut für eine Aktivität, für die gilt: Die Aktivität ist erstens ein Respondieren auf etwas, wobei dieses Respondieren an Maßstäben des Richtigen und Falschen beurteilt wird. Zweitens ist das Beurteilen Teil der Aktivität selbst und wird nicht von außen an sie herangetragen. Drittens wird diese Aktivität verständlich im Lichte der

25

Ruling Passions, Oxford 1998. Wissen und Irrtum sowie Lernen gehören zusammen – Lernen verstanden als eine Überzeugungsänderung, die vormals gute Gründe für den Irrtum zulässt. 27 Vgl. a. Jürgen Habermas, Edmund Husserl über Lebenswelt, Philosophie und Wissenschaft, in: ders., Texte und Kontexte, Frankfurt a. Main 1991, S. 42 f. 26

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Reaktionen auf die Erfüllung solcher Maßstäbe. Kurz, für geistige Entitäten sind Normativität, Selbstorganisation und eine bestimmte Art von Verstehbarkeit charakteristisch. So sind beispielsweise Handlungen in einem unverdächtigen Sinn etwas Geistiges. Um eine Handlung als Handlung zu erkennen, muss man ihren Grund kennen. Das soll nicht besagen, dass eine Handlung stets überlegt ist. Es soll nur besagen, dass Körperbewegungen, mit denen Handlungen ausgeführt werden, einen rechtfertigenden Grund haben. Und »Körperbewegungen haben einen rechtfertigenden Grund« bedeutet so viel wie: Sie haben den Status, etwas Gesolltes zu sein. Sie realisieren eine Absicht, eine Intention. Da eine Handlungsintention die Erfolgsbedingungen für die Handlung angibt,28 haben Körperbewegungen den Status, Erfüller von Erfolgsbedingungen für Handlungen zu sein. Diese Eigenschaft, einen normative Status zu haben, ist übrigens der erklärende Grund dafür, dass man eine Handlung weder mit bestimmten Körperbewegungen noch mit der disjunkten Reihe von bestimmten Körperbewegungen identisch setzen kann, dass also Handlungen nicht mit Ereignissen oder Disjunktionen von Ereignissen zusammenfallen.29 Um auf unserer Laborbeispiel zurückzukommen: Der Investor stellt dem Treuhänder Geld zur Verfügung. Er tut das im vertrautesten Fall, indem er rechteckige, bedruckte Papierstücke auf dem Tisch in die Reichweite des Treuhänders schiebt, seine Hände zurückzieht und sich auf seinem Stuhl zurücklehnt, vielleicht begleitet von den Worten »Bitte sehr!«. Die genannten Körperbewegungen realisieren die Bedingungen dafür, dass eine Handlung, nämlich Geld zur Verfügung zu stellen, erfolgreich ausgeführt wird. Man muss die Absicht kennen, in der der Investor seine Hände auf dem Tisch hin- und herbewegt, also die Erfolgsbedingungen des Handlungsversuches. Und man muss den Status dieser Körperbewegungen kennen, nämlich die gesollten Erfolgsbedingungen zu erfüllen. Ohne diese Kenntnisse können die beobachteten Körperbewegungen gar nicht aus dem Strom an Bewegungen und Gescheh-

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Vgl. John Searle, Intentionality, Cambridge 1983, S. 10 ff.; dt. Intentionalität, a.a.O, S. 26 ff. 29 Die Gleichsetzung von etwas Geistigem mit einer disjunkten Reihe von etwas Physischem wird unter anderem erörtert von J. Kim, Supervenience as a philosophical concept, in: ders., Supervenience, a. a. O., S. 151 f. – Vgl. a. Louise Antony, Who’s afraid of disjunctive properties?, in: Philosophical Issues 13 (2003), S. 1–21, insbes. S. 9 ff. Zu Anthony vgl. a. Sydney Shoemaker, Physical Realization, Oxford 2007, S. 45–53, 79–87. Soweit ich bislang sehe, wird das von mir gegebene Argument gegen eine Gleichsetzung von Handlungseigenschaften (oder von Handlungsprädikaten) mit einer disjunkten Reihe von Vorkommnissen (oder von physikalistischen Prädikaten) hier nicht beeinträchtigt. In der angegebenen Diskussion ist nur sehr abstrakt von mentalen Eigenschaften oder Prädikaten die Rede.

Lebensweltliche Gewissheit versus wissenschaftliches Wissen?

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nissen herausgegriffen und konfiguriert werden zur Ausführung einer Handlung. Die lebensweltliche Überzeugung, dass keine Handlung ohne präsumtiv rechtfertigenden Grund ist, fungiert als Mittel, um zu so einem simplen Fall von Geistigem, wie es eine Handlung ist, Zugang zu finden. Natürlich teilen die Wissenschaftler im Labor bei ihren Beobachtungen ganz selbstverständlich diese Überzeugung. Aber diese Überzeugung passt nicht gut zusammen mit einer wissenschaftlichen Sicht, in der Handlungen mit physischen Geschehnissen und Gründe mit biologisch funktionalen Handlungsdispositionen gleichgesetzt werden. Das Beispiel des Verstehens von Handlungen soll nur die generelle Vermutung stützen, wonach bestimmte lebensweltliche Überzeugungen Kandidaten sind für ein Wissen über Geistiges und insbesondere für ein Wissen über Zugangsbedingungen zu Geistigem. Damit sie erfolgreiche Kandidaten sind, müssten sie aber Anfechtungen wissenschaftlicher Wissensansprüche überstehen. Solche Anfechtungen bestehen zum Beispiel in vermeintlichen Demonstrationen, dass wir uns auch bei Ausfall oder Einklammerung bestimmter lebensweltlicher Überzeugungen nicht unverständlich werden oder dass unsere Praxis nicht zusammenbricht30; oder schließlich, dass es funktionale Äquivalente gibt für die in lebensweltlichen Überzeugungen festgestellten Fähigkeiten, einen Zugang zu Geistigem zu gewinnen. Man denke etwa an Empathiepillen auf der Basis der Forschungen zu Spiegelneuronen und zum Autismus oder an die Ersetzung von Selbstbindungen als Bedingung für kooperative Sozialbeziehungen durch die Einnahme von Oxytozinpräparaten. Das ist Sciencefiction, gewiss. Der epistemologische Gedanke dahinter ist allerdings nicht fiktional. Warum müssen berechtigte lebensweltliche Wissensansprüche solche Anfechtungen abwehren können? Weil wissenschaftliche Wissensansprüche oftmals die Kontextvariation der Überzeugungsbildung am weitesten treiben. Diese Kontextvariation ist ein Qualitätstest für alle Arten von rechtfertigenden Gründen, ohne die ein Wissen über uns in unserer verwissenschaftlichen Alltagskultur nicht zu haben ist.

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Man hat wohl einige Zeit im christlichen Europa Atheisten den Status eines vereidigten Zeugen vor Gericht verweigert. Denn – so das Argument – sie hätten als Atheisten keine Furcht vor Gottes Strafe im Falle eines Meineids. Unsere Praxis der fairen Rechtsprechung ist offensichtlich nicht, wie damals vielleicht befürchtet, mit der Zulassung von Atheisten als vereidigte Zeugen zusammengebrochen. Mit einer solchen Widerlegung müssen auch die genannten lebensweltlichen Überzeugungen rechnen. – Das Beispiel führte Richard Rorty in einem Gespräch an. Töricht wie wir Lebenden bisweilen sind, habe ich versäumt, ihn nach der Quelle zu fragen. Jetzt kann er leider nicht mehr gefragt werden.