Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung: Eine methodische Anleitung 9783666623844, 9783525623848, 9783647623849, 3525623844

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Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung: Eine methodische Anleitung
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Timm H. Lohse

Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung Eine methodische Anleitung

Vierte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht – – 3

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525623848 — ISBN E-Book: 9783647623849

Für Bettina und unsere Kinder

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-62384-4

Umschlagabbildung: © Susanne Richter 4. Auflage 2013 © 2013, 2008, 2006, 2003, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Internet: www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesetzt aus Rotis Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einführung in das Kurzgespräch . . . . . . . . . . . .

13

1. Die interaktiven Elemente des Kurzgesprächs . . .

20

1.1 1.2 1.3 1.4

. . . .

21 30 37 45

2. Die Methodik der Gesprächsführung . . . . . . . .

54

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10

Die günstige Gelegenheit Das Beziehungsmuster . . Das Konfliktkarussell . . Das „S ESAM , ÖFFNE DICH !“

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122

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3. Das schlüssige Ende des Kurzgesprächs . . . . . . . beschließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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55 61 68 75 82 87 94 100 105 111

ergebnisorientiert sich entschließen sich verbünden . sich bescheiden .

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. . . . . . . . . .

3.1 3.2 3.3 3.4

Hoffnung wahrnehmen . andocken . . . . . . . . sich ausdrücken . . . . sich erkundigen . . . . verstören . . . . . . . . beschleunigen . . . . . erzählen . . . . . . . . . Ziele formen . . . . . . Kraftquellen erschließen Lösungen erwirken . . .

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124 128 131 134

4. Das hilfreiche Kurzgespräch . . . . . . . . . . . . .

137

4.1 Vom Helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Von der Sorge um die Seele . . . . . . . . . .

137 140

5 Einblicke in die Praxis des Kurzgesprächs . . . . .

145

5.1 5.2 5.3 5.4

Im Krankenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . In der seelsorglichen Arbeit mit Gruppen . . . Im Kontakt zu Menschen mit eingeschränkter Sprachfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Rahmen pastoralpsychologischer Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der Geistlichen Begleitung . . . . . . . . . In der Telefonseelsorge . . . . . . . . . . . . . In der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit Studierenden . . . . . . . . . . . . . . . . Im Gemeindepfarramt . . . . . . . . . . . . .

161 164 168 173 178 181

Nachwort: Die Methode des Kurzgesprächs im Rahmen der Alltagsseelsorge . . . . . . . .

185

5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10

1. Das Kurzgespräch als Methode der Alltagsseelsorge . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verwurzelung des seelsorglichen Kurzgesprächs im systemischen Denken Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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145 148 152 157

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Das Karussell Jardin du Luxembourg Mit einem Dach und seinem Schatten dreht sich eine kleine Weile der Bestand von bunten Pferden, alle aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht. Zwar manche sind an Wagen angespannt, doch alle haben Mut in ihren Mienen; ein böser roter Löwe geht mit ihnen und dann und wann ein weißer Elefant. Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald, nur daß er einen Sattel trägt und drüber ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt. Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge und hält sich mit der kleinen Hand, dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge. Und dann und wann ein weißer Elefant. Und auf den Pferden kommen sie vorüber, auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge schauen sie auf, irgendwohin, herüber – Und dann und wann ein weißer Elefant. Und das geht hin und eilt sich, daß es endet, und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel. Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet, ein kleines kaum begonnenes Profil –, Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet, ein seliges, das blendet und verschwendet an dieses atemlose blinde Spiel … – Rainer Maria Rilke, 1907 –1

1 Zitiert nach: Karl Otto Conradi, Der neue Conradi, 561.

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Ansichtsseite einer Postkarte von A. Brilliant, USA. Copyright: BRILLIANT ENTERPRISE 1975.

Im Lebenskarussell erscheint die Wiederkehr des immer Gleichen wie ein unlösbares Problem. Die bewundernd betrachtende Annäherung an dieses Phänomen setzte mich auf die Fährte, die Codes des Kurzgesprächs entschlüsseln zu wollen.

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Vorwort

J

eder Mensch kommt in die Lage, einem Mitmenschen helfen zu sollen. Die Freundin, der Kollege, die Nachbarin, der Bruder, die Mutter, der Mitbewohner, die Kommilitonin sucht ein hilfreiches Gespräch und wendet sich nicht gleich an eine professionelle Person, sondern spricht eben den Freund, die Kollegin, den Nachbarn etc. an: »Kannst du mir mal helfen?« Die Bereitschaft zu helfen ist dann das eine, die Kunst zu helfen das andere. Wir alle sind als Helfende gefragt oder gefordert und werden unversehens in kurze »Nebenbeigespräche« verwickelt, in denen es weniger um Fachkenntnisse geht als vielmehr um die Hoffnung, dem Gegenüber einen Ausweg aus einer persönlichen oder betrieblichen »Sackgasse« weisen zu können. Meine ersten Erfahrungen mit Kurzgesprächen machte ich im Rahmen der gesetzlich verordneten Beratung gemäß § 218 STGB. Den ungewollt Schwangeren in einer meist ungewollten Gesprächssituation ein angemessenes Gegenüber sein zu wollen, lehrte mich, sehr genau auf den ihr eigenen verbalen und paraverbalen Ausdruck zu achten und als ihr Gegenüber möglichst ausschließlich ihr »Vokabular« zu benutzen, ohne es mit meinem »Wortschatz« zu kontaminieren. Über diese sehr einfach erscheinende methodische Brücke gelang es mir, auch mit völlig verschlossenen Frauen (im Rahmen der Zwangsberatung verständlich) ins Gespräch zu kommen. Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus dieser »Beratung« wandte ich in den Gesprächen der 1988 von mir in der Kirche Unser Lieben Frauen in Bremen eingerichteten Cityseelsorge ebenso erfolgreich an. Meine weitreichende Praxis im Kurzgespräch schriftlich zu – 9–

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fixieren, kam mir lange Zeit nicht in den Sinn. Die Darstellung der intuitiven und inspirativen Elemente des Kurzgesprächs ist im Rollenspiel einfach, in der Beschreibung jedoch schwierig, da sich Stimmlage, Mimik und Gestik nur schwer in Buchstaben fassen lassen und die rein verbale Nachzeichnung des Gesprächs im Verbatim deshalb hölzern wirken kann. Prof. Dr. Christoph Schneider-Harpprecht, mit dem zusammen ich die Ausbildungskurse »Seelsorge in 20 Minuten?« am Evangelischen Zentralinstitut bis 2003 leitete, überzeugte mich davon, dass eine schriftliche Darstellung der interaktiven Elemente und der Methoden meiner Art des Kurzgesprächs einen sinnvollen Beitrag zur Diskussion über die Möglichkeiten und Chancen der Alltagsseelsorge bieten könnte. Im Umfeld des systemischen Ansatzes habe ich meine Methodik zum Kurzgespräch entwickelt; Grundelemente der Kommunikationstheorie und Semiotik stehen dabei im Hintergrund. Diese Theorien werden im Einzelnen nicht erläutert, vielmehr nehme ich diese, soweit sie meinem Konzept des Kurzgesprächs dienlich sind, auf und verkürze sie auf die im Kurzgespräch virulenten Elemente. Durchgehend ist in meinen Ausführungen von der »ratsuchenden bzw. beratenden Person« die Rede, einerseits damit jede Leserin und jeder Leser sich in alle Personen hineinversetzen kann, andererseits um dem gewünschten Respekt vor dem weiblichen Geschlecht auch in der Schriftsprache zu entsprechen. Danken möchte ich allen Menschen, die sich mir in einem Kurzgespräch anvertraut haben; durch sie und mit ihnen habe ich gelernt, was ich in diesem Buch zusammengefasst habe. Mein Dank gilt sodann meiner Frau Bettina und meinem Freund Christoph Schneider-Harpprecht für ihre aufmunternde Ermutigung zu schreiben und ihre kritische Durchsicht des Geschriebenen. Die gute Resonanz auf das Erscheinen meines Buches veranlasst den Verlag, eine vierte Auflage herauszubringen, die sich von ihren Vorgängerinnen im Wesentlichen durch das neu hinzu gekommene Kapitel 5 unterscheidet, das einen Ein– 10–

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blick in die Seelsorge- und Beratungspraxis mit dem Kurzgespräch vermittelt. Mein Dank gilt den Trainer/innen der Arbeitsgemeinschaft Kurzgespräch, die mir ihre Beiträge zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben.

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Einführung in das Kurzgespräch

K

urzgespräche gehören zum beruflichen Alltag in helfenden Berufen und sie bestimmen in der betrieblichen und privaten Kommunikation den Ton des Miteinanders. Zur Veranschaulichung des von mir benutzten Begriffs „Kurzgespräch“ halte ich mich an meine Praxis als Seelsorger und Berater. Interessierte Leserinnen und Leser werden die Elemente des Kurzgesprächs ohne Mühe in ihrer beruflichen, betrieblichen oder privaten Praxis wiedererkennen und die von mir entwickelten Methoden auf ihr Verhalten zu übertragen wissen. Beratende Personen aus helfenden Berufen stehen Kurzgesprächen meist ambivalent gegenüber. Einerseits fühlen sie sich sicher, Gespräche zu führen, wenn diese gemäß den Regeln ihrer Aus- und Fortbildung ablaufen. Beim Kurzgespräch sind die Gegebenheiten jedoch anders: Der Zufall bestimmt Ort und Zeit des Gesprächs. Die Beiläufigkeit scheint dem Ernst des Anliegens zuwiderzulaufen. Die Einmaligkeit lässt viele ihrer Gesprächstechniken und Therapiemethoden ins Leere laufen. So werden sie andererseits unsicher. Auch wenn es keiner gern zugibt: Jetzt häufen sich die gröbsten Fehler der Gesprächsführung, die ein Scheitern des (Kurz-) Gesprächs fast unausweichlich machen: – Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste; – ein Vorschlag folgt dem andern und wird doch wieder als untauglich verworfen; – und schließlich werden gewichtige Argumente ins Feld geführt, mit deren Hilfe das „ungewollte“ Gespräch zu Ende gebracht, spitzer formuliert: abgebrochen werden soll. – 13–

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Eine postkommunikative Depression ist die unangenehme Folge. Der felsenfeste Entschluss, sich nie wieder auf solch ein Gespräch einzulassen, soll das Selbstwertgefühl dann wieder aufrichten. Zugegeben, das ist ein wenig bissig formuliert. Ernsthaft betrachtet weiß aber wohl jede beratende Person, dass sie sehr wohl in der Lage ist, im vertrauten Setting gute Gespräche zu führen. Die zufällig sich ergebenden oder einmalig verabredeten Kurzgespräche laufen jedoch irgendwie nach anderen geheimnisvollen Regeln ab, deren Kenntnis ein Scheitern möglicherweise verhindern könnte. Dieses Buch will Einblicke in die besonderen Gesetzmäßigkeiten, Möglichkeiten und Fallen des Kurzgesprächs geben. Beratende Personen könnten sich dann ermutigt fühlen, Kurzgesprächen nicht mehr auszuweichen, sondern die besondere Chance nutzen, die das Kurzgespräch für Ratsuchende bietet. Ich bin aus langjähriger Erfahrung davon überzeugt, dass diese Form der Interaktion sehr wohl auch als „Seelsorge“ bzw. „Beratung“ begriffen und ergriffen werden kann. Zunächst ein beispielhaftes Kurzgespräch: F.: „Kann ich Sie kurz mal sprechen?“ P.: „Ja, bitte, selbstverständlich“, sagt der Pastor1 mit einem freundlichen Gesicht der Gottesdienstbesucherin, die ihn beim Abschied an der Kirchentür so anspricht. Mit der linken Hand zieht er die etwa 60-jährige Frau ein wenig zur Seite. Während er die restlichen Besucher verabschiedet, flüstert sie ihm halblaut zu: „Es dauert auch nur fünf Minuten …“ Nach dem letzten Händedruck und einem kurzen Hinweis an den Presbyter, der neben ihm ebenfalls Gottesdienstbesucher verabschiedet, doch schon mit dem Kollektenzählen zu beginnen, wendet er sich ihr zu: P.: „Was, meinen Sie, Frau W., kann Ihnen in einem kurzen Gespräch mit mir weiterhelfen?“ 1 Für alle folgenden Wortprotokolle werden vereinfachende Abkürzungen eingeführt: P = Pastor/-in (bzw. Seelsorger/-in); F = Frau; M = Mann; für die ratsuchenden Personen gelegentlich der Anfangsbuchstabe des Nachnamens.

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F.: „Ich verstehe das nicht. Sie kennen doch unsere Familie. Sie haben meinen Mann beerdigt und unsere Tochter getraut. Die wohnt ja jetzt in Süddeutschland und hat ihr erstes Kind bekommen. Nun soll es getauft werden, und meine Tochter möchte nicht, dass ich dabei bin –“ P.: „Was daran möchten Sie mit meiner Hilfe verstehen lernen, Frau W.?“ F.: „Ich weiß ja, dass ich mich nach dem Tod meines Mannes viel zu stark an meine Tochter geklammert habe. Ich glaube, deshalb ist sie auch so weit weggezogen. Sie ist vor mir förmlich geflohen. Ich bin auch erst einmal bei ihnen zu Besuch gewesen. Da hab ich im Hotel wohnen müssen; in ihrer kleinen Wohnung war kein Platz. Jetzt, wo das Kind geboren ist, sind sie in eine größere Wohnung gezogen. Da haben sie auch ein Gästezimmer. Ich könnte also bei ihnen in der Wohnung schlafen. Ich glaube aber, das will meine Tochter nicht. Sie will mich auf Abstand halten.“ P.: „Wie nah dürfen Sie Ihrer Tochter kommen, ohne dass sie Sie auf Abstand hält?“ F.: „Das weiß ich eben nicht. Ich bin ja im letzten Jahr, nachdem meine Tochter ausgezogen war, zur Lebensberatung gegangen. Das hat mir gut getan. Ich habe viel begriffen, was ich falsch gemacht habe. Aber das hat mir geholfen. Ich sehe jetzt vieles aus der Vergangenheit anders, besonders die Launen meiner Tochter, mit denen sie mich bis zur Weißglut geärgert hat.“ P.: „Von der Vergangenheit können Sie jetzt ganz gut Abstand nehmen. Aber wie geht es in Zukunft weiter – mit Ihnen und Ihrer Tochter?“ F.: „Meine Tochter weiß von der Lebensberatung nichts.“ P.: „Wozu haben Sie ihr das verschwiegen?“ F.: „Meinen Sie, ich sollte ihr das sagen?“ P.: „Angenommen, Ihre Tochter wüsste, dass Sie jetzt Ihr Verhalten ihr gegenüber nach dem Tod ihres Mannes ganz anders beurteilen, dass Sie begriffen haben, was Sie alles falsch gemacht haben, wie würde sie das aufnehmen?“ F.: „Das weiß ich nicht so genau: Aber ich vermute, sie würde mir das auf jeden Fall hoch anrechnen, dass ich zur Beratung gegangen bin, dass ich mich selbst infrage gestellt habe.“ – 15–

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P.: „Das klingt so, als ob allein die Information ‚meine Mutter ist wegen ihrer Erziehungshaltung mir gegenüber zur Beratung gegangen‘ schon etwas in Bewegung bringen könnte zwischen Ihnen und Ihrer Tochter.“ F.: „Ja, das glaube ich.“ P.: „Könnte das ein erster Schritt in eine andere Richtung sein?“ F.: „Möglich. Nur, wie sag ich es ihr?“ P.: „Wie halten Sie denn jetzt Kontakt miteinander?“ F.: „Ich schreibe, und sie ruft dann an.“ P.: „Wenn Sie sich nun hinsetzen und ihr schreiben, welche Erfahrungen Sie in der Lebensberatung gemacht haben?“ F.: „Das würde, glaube ich, zu weit führen. Es würde genügen, wenn ich ihr schreibe, dass ich dort war und begriffen habe, dass ich vieles falsch gemacht habe. Und vielleicht, dass es mir Leid tut. Und dass ich mir wünsche, dass wir ein neues Verhältnis zueinander finden.“ P.: „Wollen Sie es probieren?“ F.: „Ja. Manchmal hab ich schon daran gedacht. Jetzt mache ich es auch. Danke, Herr Pastor.“ Das Gespräch dauert knapp zehn Minuten. Als beide sich verabschieden, tun sie es mit einem freundlich zugewandten, gelösten Gesichtsausdruck. Es ist ein kurzes Gespräch sowohl im Blick auf die Zeit als auch auf den Inhalt. Der Pastor nimmt das Mandat der Frau „kurz mal sprechen“ ernst, unterlässt alle möglichen Weiterungen, die von der Frau angeboten werden, verkürzt gleichsam seine Interventionen auf die Suchrichtung der Frau und vermeidet es, die Beziehung Mutter/Tochter zu problematisieren. Dabei lässt er sich von einfachen Entscheidungen leiten: – Ich bleibe im Hier und Jetzt. – Ich halte mich so eng wie möglich an das Mandat der Frau. – Ich will wissen, welches Ziel die Frau hat. – Was genau löst sich damit für sie? – Welche eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten kann sie dafür einsetzen? – 16–

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Die Gelegenheiten für solche Kurzgespräche sind vielfältig: – Den in helfenden Berufen Tätigen „widerfahren“ im Laufe eines Tages oder einer Woche beiläufige und zufällige Begegnungen auf dem Weg zur Arbeit, im Dienstgebäude, am Arbeitsplatz, auf der Straße, die oft mit dem Satz beginnen: „Gut, dass ich Sie treffe!“ o. Ä.; sodann werden kurze, einmalige Gespräche auch verabredet – meistens am Telefon. – Auch innerhalb eines eigentlich thematisch orientierten Dialogs lassen sich Passagen einfügen, die nach den Regeln des Kurzgesprächs geführt werden: etwa beim Kasualgespräch anlässlich einer Taufe, Trauung oder Trauerfeier oder während der Vorsorgeuntersuchung beim Arzt oder beim Elterngespräch wegen der Versetzung des Kindes oder bei der Festlegung der Verbindlichkeiten eines Pflegedienstes. – In langen, sich wiederholenden Seelsorge- oder Beratungsgesprächen bietet sich die hier vorgestellte Methodik des Kurzgesprächs immer dann an, wenn der Gesprächsfaden sich zu einem unentwirrbaren Knäuel verwickelt. Die Zeitdauer der Kurzgespräche ist sehr unterschiedlich; sie wird davon bestimmt, ob das Gespräch „bündig“, heißt: für beide Seiten auf gleicher Höhe abschließend war.2 Das Grundmuster der Kurzgespräche bleibt gleich: Die anfragende Person möchte einen konkreten Impuls für einen Schritt aus einer Sackgasse erhalten. Das soll mit möglichst wenigen Interaktionen3 erreicht werden. Im Reigen der verschiedenen Gesprächsformen, in denen Menschen im Dialog, in der Diskussion, im Smalltalk, im seelsorglichen oder beraterisch-therapeutischen Gespräch miteinander kommunizieren, nimmt das Kurzgespräch für die helfenden 2 Vgl. dazu Kap.1.2 „symmetrisch-solidarische Achse“. 3 Wechselseitiger Austausch von hörbaren, sehbaren und fühlbaren Informationen.

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Berufe eine besondere Stellung ein. Seine Eigenart erwächst aus der Bereitschaft der ratsuchenden Person, sich offen anzubieten, und dem Entschluss der beratenden Person, mit zielstrebigen Interaktionen zu helfen. Der von der ratsuchenden Person zum „Sichberaten“ eingeladenen oder aufgeforderten Person stehen besondere dialogische Vorgehensweisen zur Verfügung, um dieses Beratungsgespräch zu steuern. Diese kybernetische4 Funktion wird der beratenden von der ratsuchenden Person stillschweigend oder auch ausdrücklich zugestanden, da sie mit dem Auftrag: „Berate dich mit mir!“ zugleich das Mandat verbindet, aus dem steuerlosen Treiben bzw. der festgefahrenen Situation befreit zu werden. Die dialogische Steuermannskunst setzt Kennen und Können im mäeutischen Fragen, im kommunikativen Handeln, in der zukunfts- und lösungsorientierten Vorgehensweise unter Einbeziehung narrativer Elemente voraus. Dieses methodische Können lässt sich neben dem gedanklichen Erfassen nur durch ein gezieltes Training der Gesprächstechniken erwerben, und es wird der ratsuchenden Person unter der Bedingung zur Verfügung gestellt, dass diese „Kapitän“ ist und bleibt; nur so kann gewährleistet werden, dass sie nicht als „heteronomes Mängelwesen“5 ihrer einzigartigen Würde beraubt und nach den Vorstellungen eines anderen Menschen gebildet wird. Wer die interaktiven Elemente des Kurzgesprächs und die Methodik der Gesprächsführung im Kurzgespräch erst einmal zur Hand hat, wird manch ein Gespräch anders als bisher anlegen. Kurzgespräche werden nicht mehr unter der Hand zu meist missglückten oder länger währenden Beratungsgesprächen umfunktioniert. Damit entfallen frustrierende Erlebnisse auf beiden Seiten. Allein um der Psychohygiene der Helfenden willen lohnte es sich schon, die Kunst des Kurzgesprächs zu erlernen, mehr noch aber, weil diese Gesprächsform von vielen Ratsuchenden gewünscht wird. Die Nachfrage sollte 4 Hier im griechischen Wortsinn gemeint:     = Steuermannskunst. 5 Urs Thurnherr, Praktiker, 211.

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das Angebot bestimmen. Der Begiff „Kurzgespräch“ verführt bisweilen zu dem Missverständnis, es ginge um ein zeitlich kurzes Gespäch. Der Ursprung der Wortwahl „Kurzgespräch“ liegt jedoch in der Abgrenzung zu Gespächsreihen und zu der Vorstellung, ein gutes Gespräch müsse mindestens eine dreiviertel Stunde oder länger währen. Das hier vorgestellte Kurzgespäch will kurz und bündig auf die Anfrage einer ratsuchenden Person eingehen und deren Selbstorganisation so aktivieren, dass ihr ein eigenständiges Handeln möglich wird. Ein kurzes und bündiges Gespräch wird möglich, wenn Abschied genommen wird von einer an psychischen Defiziten und Fehlentwicklungen orientierten therapeutischen Gesprächsführung und stattdessen im kommunikativen Vollzug eine Wirklichkeit konstruiert wird, in der die ratsuchende Person sich wieder findet und zu handeln bereit ist. Diese Kehrtwendung kann kognitiv schnell erfasst werden, gelingt in der Praxis jedoch nur nach einem intensiven Training.

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DIE

1

INTERAKTIVEN DES

ELEMENTE

KURZGESPRÄCHS

Z

ur Methodik des hier vorgestellten Kurzgesprächs gehört als Voraussetzung die bewusste Entscheidung der beratenden Person, in diesem einmaligen Gespräch ein fass- und handhabbares Ziel zu erreichen, das bedeutet: Die ratsuchende Person soll am Ende des Gesprächs aus eigener Kraft einen ersten Schritt in eine neue Richtung gehen, bei der sie sich frei fühlt, wieder eigenverantwortlich in ihrem Leben handeln zu können. Um dieses Ziel erreichen zu können, bedarf es zunächst einer Analyse der interaktiven Elemente des Kurzgesprächs. In einem Kurzgespräch laufen die Interaktionen zwischen den Beteiligten in einer großen Dichte ab. Alles, was wechselseitig an verbalen und nonverbalen Aktionen ausgetauscht wird, ist einerseits verdichtet durch die äußeren Faktoren der einmalig günstigen Gelegenheit und der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Zeit, andrerseits durch den inneren Druck, hier und jetzt möge sich der Konflikt (jedenfalls ansatzweise) lösen. Im Folgenden unternehme ich den Versuch, die wesentlichen und wiederkehrenden interaktiven Elemente des Kurzgesprächs voneinander zu trennen, sie zu beschreiben und ihre Wirkung auf die besondere Konstellation des Kurzgesprächs zu untersuchen. Die Analyse des Gesprächs- und Beziehungssettings orientiert sich an vier interaktiven Elementen, die die Besonderheit aller Kurzgespräche durchgängig ausmachen: – die günstige Gelegenheit – das asymmetrische Beziehungsmuster – 20–

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– das Konfliktkarussell – das S ESAM , ÖFFNE DICH ! Diese vier interaktiven Elemente entfalten ihre wechselseitige Wirkung innerhalb weniger Augenblicke. Die Aktionen gehen dabei von der ratsuchenden Person aus. Die Reaktionen der beratenden Person stellen entscheidende Weichen für den Erfolg des Kurzgesprächs. Da die beratende Person unmittelbar reagiert (sie kann sich nicht nicht verhalten), ist es sinnvoll und hilfreich, das Augenmerk zunächst auf diese interaktiven Elemente des Kurzgesprächs zu richten. Die Interaktionen werden dabei in einzelne Bestandteile zerlegt, um die Wechselwirkung der Interaktionen zu verdeutlichen. Daraus ergeben sich dann mögliche angemessene Reaktionen der beratenden Person. Das alles wirkt künstlich zerdehnt, läuft aber, wenn es begriffen und eingeübt ist, so automatisch ab wie das Radfahren, wenn man es einmal kann.

1.1 Die günstige Gelegenheit Das Kurzgespräch lebt von der günstigen Gelegenheit. Kurzgespräche ergeben sich zufällig oder beiläufig. Das wiedergegebene Gespräch an der Kirchentür war halb beabsichtigt, halb nicht, auf jeden Fall war nicht vorhersehbar, ob es würde stattfinden können. „Vielleicht ergibt es sich ja beiläufig, und die Gelegenheit ist günstig, dann sprech’ ich den Pastor an“, mag die Frau gedacht haben, als sie sich zum Gottesdienstbesuch entschloss. Andere zufällige Begegnungen, die als günstige Gelegenheit für ein Kurzgespräch angesehen werden, ereignen sich auf dem Flur eines Krankenhauses oder Bürogebäudes, in der Kantine oder bei einer Gesellschaftsfeier, auf der Straße oder im Kaufhaus, aber auch im Verlauf eines sachlich-fachlichen Gesprächs. Die zufällige Begegnung wird für die Anfrage oder Behandlung des Konflikts als günstiger (hilfreicher, erfolgreicher) eingeschätzt als eine Verabredung zu einem Gesprächstermin mit der als beratungsqualifiziert angesehenen Person – 21–

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oder gar eine Verabredung zu einer Gesprächsreihe (psychologische oder seelsorgliche Beratung). Im allerersten Augenblick der Begegnung und Kontaktaufnahme ergibt sich eine Atmosphäre, die beiden das Gefühl vermittelt, sich in einem K AIRÓS 1 zu befinden: Der ansprechenden Person erscheint – die Gelegenheit günstig, – die anzusprechende Person die richtige und – die Lösung des Problems jetzt möglich. Nun ist sie hoch motiviert, ein lange im Feuer schmorendes heißes Eisen herauszuziehen und zu schmieden. Für die angesprochene Person ist das Inanspruchgenommenwerden wohltuend, denn „dafür bin ich ja schließlich da“. Außerdem spürt sie, dass ihre Kompetenz gefragt ist (das hat der inwendige Mensch gern) und hier und jetzt möglicherweise durch sie etwas Gutes werden kann. Diesem Anfang wohnt ein Zauber2 des richtigen Zeitpunkts für diese beiden Menschen inne. Diese Beurteilung der räumlichen Situation gilt es ebenso im Auge zu behalten wie die Wahl des Zeitpunkts und der Zeitdauer durch die ratsuchende Person. Denn dieser Kontext des Kurzgesprächs hilft der beratenden Person, zu erkennen, worum es jetzt geht. Das „Verstehen“ der situativen Bedingungen und Gegebenheiten ergibt sich meist schlaglichtartig aus der Frage: Wie passen dieser Ort und dieser Zeitpunkt zu der Anfrage? „Kann ich Sie kurz mal sprechen?“, sagt die Frau an der Kirchentür. Damit hat sie für sich entschieden: – hier ist es günstig, – jetzt ist es günstig und – „kurz“ ist auch günstig. 1 Der nicht wiederkehrende einmalig besondere Augenblick der Lebenszeit. 2 Vgl. Hermann Hesse: „Stufen“. Zitiert nach Karl Otto Conradi, Der neue Conradi, 669.

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Beim Abschied, nach Verlassen des geschützten Raumes, vor der Tür, im Zeitpunkt des Aufbruchs stellt sie ihre Frage und alle Aspekte dieses situativen Kontextes „passen“ zu der Anfrage der Frau und bieten sich somit dem Pastor als „diagnostisches“ Hilfsmittel an. Nicht immer ist der beratenden Person diese sich aus der Situation ergebende Evidenz3 intuitiv zugänglich. Doch durch Üben lässt sich diese Wahrnehmung schulen: Je konsequenter die beratende Person auf die situative Evidenz achtet (zunächst einmal erst im Nachhinein, dann immer zeitkongruenter), desto sicherer kann sie mit diesem „diagnostischen“ Hilfsmittel umgehen. Fast in jedem zufälligen Kurzgespräch fällt eine Bemerkung zum (günstigen) Zeitpunkt und zur Zeitdauer. Zu dieser günstigen (Ort- und Zeit-) Gelegenheit gesellt sich (durch Zufall?) auch noch eine „günstige“ Person: – „Gut, dass ich Sie treffe!“ diese schnell überhörte und dann auch übergangene Eingangsbemerkung qualifiziert die Gelegenheit zum Kurzgespräch in dreifacher Hinsicht als „günstig“: der Ort, die Zeit, die Person – alles ist stimmig! – „Sie schickt der Himmel!“ wird als Umgangsfloskel beiseite geschoben, besagt jedoch nichts Geringeres, als dass die „günstige“ Gelegenheit „gottgewollt“ ist, ihr sich also kein Mensch entziehen darf. – „Ich freue mich, dass Sie auch hier sind; ein bisschen hab’ ich damit gerechnet. Sie arbeiten doch in der Beratungsstelle der Kirche? …“ so das Präludium eines Kurzgesprächs während eines Empfangs anlässlich der Verabschiedung eines kirchlichen Würdenträgers. Die Freude der ratsuchenden Person qualifiziert Ort, Zeit und beratende Person als etwas besonders Günstiges. Die Einschätzung, dass die Gelegenheit günstig ist, wird zunächst ausschließlich von der ratsuchenden Person getroffen. 3 Vgl. dazu Hermann Argelander, Erstinterview.

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Der weitere Verlauf des folgenden Kurzgesprächs wird entscheidend davon bestimmt, ob und in welcher Weise diese Beurteilung der ratsuchenden Person ernst genommen wird. Diese steht jedoch zunächst vor der Hürde, dass ihr der situative Kontext gerade nicht als „passend“ ersichtlich ist. Im Rückgriff auf das eingangs dargestellte Kurzgespräch lässt sich unschwer ausmalen, dass dem Pastor die Situation an der Kirchentür gar nicht passte: Da waren schließlich noch etliche Gottesdienstbesucher, die auch verabschiedet werden wollten. Außerdem war er ziemlich „alle“ und sehnte sich nach Ruhe und einer Tasse Kaffee zu Hause in seinem Sessel. Und er musste letzte Kräfte mobilisieren, um sich voll auf die Frau und ihr Anliegen konzentrieren zu können. Von der beratenden Person wird die von der ratsuchenden Person genutzte „zufällige“ Situation meist als diskongruent mit der eigenen Befindlichkeit erlebt: Schließlich ist man auf einem anderen „Trip“ oder mit einer anderen Sache betraut. Die Korrektur oder Missachtung dieses Settings (meist durch Verschiebung auf einen anderen Zeitpunkt an einem anderen Ort) wird von den Ratsuchenden dann leicht als disqualifizierende Abweisung erlebt und das neue Setting nicht angenommen (Termin wird nicht eingehalten, Ort nicht gefunden), was einer entwertenden Revanche entspricht. Ein weiteres Problem bei zufälligen Kurzgesprächen ergibt sich aus der meist offenen und ungeschützten Situation. Der eigentlich notwendige geschützte Raum für ein persönliches Gespräch ist nicht vorhanden: Es gibt freiwillige und unfreiwillige Zuhörer etwa an der Kirchentür, auf dem Flur oder in einer Gesellschaft und unkontrollierbare Störfaktoren wie Lärm oder hinzukommende Dritte. Und weiter: Das zufällige Kurzgespräch ist im Zeitplan der „helfenden Person“ nicht vorgesehen. Das setzt die beratende Person unversehens unter Zeitdruck, der sich alsbald auf die Gesprächssituation übertragen kann und dann dem Gelingen des Kurzgesprächs direkt zuwiderläuft. Entgegengesetzt zur ratsuchenden Person empfindet die beratende Person eher: – 24–

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– Ein ungünstiger Moment („ich hab eigentlich gar keine Zeit …“). – Eine unpassende Gelegenheit („wozu gibt’s ein Telefon, muss die mich auf der Straße ansprechen …“). – Eine unglückliche Wahl („eigentlich bin ich ja befangen …“). Herrscht eines dieser Gefühle vor, dann wird sich die beratende Person nur widerwillig auf das Gespräch einlassen und versuchen, möglichst rasch zu einem Ende zu kommen, was dann jedoch meist gerade nicht gelingt: – Je kürzer und knapper die beratende Person reagiert, desto ausschweifender wird die ratsuchende Person agieren. – Je praktischer die beratende Person Lösungen anstrebt, desto theoretischer werden die Einwände. – Je mehr die beratende Person auf einen geeigneteren Ort und eine passendere Zeit drängt, desto mehr bescheidet sich die ratsuchende Person auf den kurzen Tipp – hier und jetzt. So wird das Kurzgespräch schließlich zu einem Fiasko für beide. Gelingt es der beratenden Person dagegen, sich mit dem einmal gewählten Setting zu identifizieren, entwickelt sich das Kurzgespräch anders. Allerdings muss sie über ihren Schatten springen und mit Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass sie sich einlässt auf Ort, Zeit und Person. Zurück zum Fallbeispiel aus der Einleitung: – Der Pastor wird an der Kirchentür angesprochen, genau dort führt er auch das Gespräch; er lädt sie also weder in die Sakristei ein, noch verabredet er mit ihr ein Gespräch in seinem Amtszimmer. – Der Pastor akzeptiert die Zeitvorgabe: „Was, meinen Sie, Frau W., kann Ihnen in einem kurzen Gespräch weiterhelfen?“; er vertagt das Gespräch nicht auf einen anderen Termin mit dem Hinweis, da sei mehr und bessere Zeit. – 25–

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– Und der Pastor akzeptiert die Personenwahl: „Was möchten Sie mit meiner Hilfe verstehen lernen?“; er hätte die Frau ja auch wieder an die Lebensberatung verweisen können. Die strikt auf die Vorgaben der ratsuchenden Person eingehenden Reaktionen ermöglichen ein Kurzgespräch, an dessen Ende Frau W. aus eigener Kraft einen ersten Schritt tun kann, bei dem sie frei aufatmet. Dieses interaktive Element erscheint „simpel“. Wer es ganz einfach anwendet, erfährt, wie „erfolgreich“ es sein kann. Für ein gelungenes Kurzgespräch ist es unabdingbar. Als günstige Gelegenheit werden von Ratsuchenden auch die einmaligen kurzen Gespräche angesehen, die gezielt gesucht und verabredet wurden. Auch bei diesen verabredeten einmaligen Kurzgesprächen (etwa in der Sprechstunde) spielt die Einschätzung der ratsuchenden Person und deren Beachtung durch die beratende Person eine entscheidende Rolle. Ähnlich wie bei den zufälligen Kurzgesprächen geht die ratsuchende Person davon aus, „Glück“ gehabt zu haben, endlich einmal die „Gunst des Augenblicks“ für sich nutzen zu können. – „Es ist ja nicht ganz leicht, bei Ihnen einen Termin zu bekommen; aber nun hat es ja geklappt. Also …“. Die Erwartung der ratsuchenden Person ist hoch: jetzt endlich! Nun kommt die Stunde der Wahrheit. Auf diese günstige Gelegenheit hat sie (lange) gewartet. – „Ich habe lange gezögert, zu Ihnen in die Sprechstunde zu kommen. Meine Freundin hat mich gedrängt: ‚Da kannst du ruhig hingehen; du brauchst nicht ’mal deinen Namen zu sagen. Alles anonym. Aber das lohnt sich!‘ hat sie gesagt. Und nun bin ich hier …“. Das Angebot der anonymen Sprechstunde wird offenbar günstig eingeschätzt, und ein „lohnendes“ Gespräch ist eine günstige Aussicht, wenn jemand festsitzt. – 26–

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– „Von der Kirche will ich nichts wissen. Gott gibt es nicht. Sonst würd’ es mir nicht so dreckig gehen!“ Ohne persönliche Anrede wird die Krankenhausseelsorgerin so von einer Patientin beim Routinebesuch auf der Station angesprochen. Diese nutzt die günstige Gelegenheit zum Angriff und erwartet, dass (im günstigsten Fall) die Seelsorgerin sich ihr stellt. Bei einem einmalig verabredeten oder gesuchten Kurzgespräch gilt ebenso wie bei einem zufälligen: Die ratsuchende Person (be-)nutzt die Gunst des Augenblicks, des Ortes und der Person. Und auch hier gilt es, diese Wahl ernst zu nehmen und sie für die Gestaltung des Kurzgesprächs zu nutzen. Die beratende Person kann und sollte bei ihrer Reaktion möglichst viele „Vokabeln“ aus der Aktion der ratsuchenden Person aufnehmen, sie gleichsam beim Wort nehmen. Das bewirkt zweierlei: x

Die ratsuchende Person fühlt sich angenommen, denn sie wird in ihrem Ansinnen nicht korrigiert;

x

die ratsuchende Person wird verstört, denn sie wird aufgefordert, sich zu öffnen, sich zu „offen“baren, und dabei die Versprachlichung ihres Anliegens neu zu sortieren.

Auf die oben wiedergegebenen Aktionen zu Beginn eines verabredeten Kurzgesprächs sind folgende Reaktionen denkbar, die vom Rand ins Zentrum führen: Aktion: „Es ist ja nicht leicht, bei Ihnen einen Termin zu bekommen; aber nun hat es ja geklappt.“ Reaktion: „Was soll denn bei diesem Termin mit mir endlich für Sie klappen?“ Aktion: „Ich habe lange gezögert, zu Ihnen in die Sprechstunde zu kommen …“ Reaktion: „Was zögern Sie hier auszusprechen?“

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Die beratende Person wird durch das Beiwerk leicht vom Kernsatz4 der ersten Interaktion abgelenkt und läuft damit Gefahr, sich zu „verlaufen“: Die ratsuchende Person wird eingeladen, ohne Umschweife „hier“ zum Kern ihres Anliegens zu kommen, denn sie hat diesen Ort gewählt. Aktion: „Von der Kirche will ich nichts wissen. Gott gibt es nicht. Sonst würd’ es mir nicht so dreckig gehen!“ Reaktion: „Und aus dem Dreck wollen Sie raus – ohne Gott und Kirche!“ Mitten im Krankenzimmer und vor den anderen Patientinnen stellt die beratende Person sich und greift da zu, wo die Patientin angreift: Die ratsuchende Person spürt ein Gegenüber in der beratenden Person, und genau das braucht sie um weiterzukommen. Diese Reaktionen sind ein bestätigendes Feedback auf die von der ratsuchenden Person als günstig eingeschätzte Zeit oder passenden Ort oder geeignete Person. Dabei wird noch kein besonderer Bezug auf das vorgebrachte Anliegen genommen, und doch hilft diese Art des Reagierens der beratenden Person, die erste Interaktion im Sinne eines zielorientierten Kurzgesprächs zu nutzen. Im Verlauf eines Gesprächs, das möglicherweise zunächst anders angelegt war (etwa als Taufgespräch oder wiederkehrendes Seelsorgegespräch), ergibt sich die „günstige Gelegenheit“ bei einem unvermittelt auftretenden Kohärenzbruch: Eben erzählte die Mutter noch, wer alles zur Konfirmation des ersten Kindes eingeladen werden sollte. Auf einmal treten ihr Tränen in die Augen, sie bricht mitten im Satz ab und sucht mit ängstlichen Augen Halt im Blickkontakt zum Pastor. P.: „Ihre Tränen, Frau K., möchten mir etwas anderes sagen –“. K.: „Mein Mann, Herr Pastor, mein Mann macht mir große Sorgen.“

4 Die Möglichkeiten, angemessen auf den „ersten“ Satz einzugehen, werden im Abschnitt S ESAM , ÖFFNE DICH ! dargestellt; vgl. Kap 1.4.

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„Darf ich Sie mal etwas ganz Persönliches fragen?“, sagt die Witwe, die der Pastor am Jahrestag der Beerdigung ihres Mannes zu Hause besucht, mitten in ihrem Erzählen von dem, was sie inzwischen wieder unternimmt: „Wird Ihnen das nicht zu viel, sich all das Leid von Menschen anzuhören?“ P.: „Ich habe begrenzt teilgehabt an Ihrem Leid, Frau X.; anfangs war es schwer für Sie, das habe ich gespürt. Jetzt …“ X.: „Ja, jetzt geht es mir wieder viel besser. Damals dachte ich: Es ist alles aus. Da war es gut, dass Sie da waren. Jetzt sehe ich die Welt mit ganz anderen Augen.“ Der Pastor hatte sich mit Herrn A. auf dem Friedhof wegen einer Grabstelle verabredet. Nach der Begrüßung folgen die Formalitäten, dann ein Geplänkel über den Filz in den politischen Parteien: „Aber damit muss man ja leben …“, kommentiert Herr A. und der Pastor nutzt die Gelegenheit und sagt: „Womit muss man denn leben, Herr A.?“ Darauf Herr A.: „Ich fühle mich wie lebendig begraben!“ Die günstige Gelegenheit kann im Kurzgespräch als interaktives Element genutzt werden. Die Bejahung dieser Gelegenheit und die Bereitschaft, sie durch bewusste Interaktionen im Sinne einer wertvollen Begegnung zu qualifizieren, liegen „in der Hand“ der beratenden Person. Die ratsuchende Person wird sie dankbar ergreifen. Denn das Beharren in der einmal gewählten „günstigen Gelegenheit“ bietet beiden Beteiligten die Möglichkeit, hier und jetzt über eine bündige Geschichte kommunikativer Koppelungen eine neue Wirklichkeit zu konstruieren.5 Die Möglichkeiten, einen Menschen gezielt zu beeinflussen, seine Wirklichkeit zu verändern, sind begrenzt durch die funktionale Geschlossenheit der Regelprozesse, die sein bisheriges Überleben sicherten, und durch die ihm zugänglichen Kräfte, selbstorganisiert und selbstreguliert Veränderungen in dem Fließgleichgewicht seiner Lebensorganisation durchzuführen. Jede „Information“ von „außen“ wird durch das komplexe System der aufeinander einwirkenden Steuerungen auf seine 5 Vgl. Kap. 1.3.

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zukünftig funktionale Verwendbarkeit geprüft und verarbeitet. In einem linearen Prozess von Ursache und Wirkung lassen sich diese Regelkreisentwicklungen nicht erfassen, vielmehr lehrt die kybernetische Systemtheorie, ausgehend von Norbert Wiener6 bis hin zu H. v. Foerster,7 das Systemverhalten als ein vielschichtiges, durch rekursive Rückkoppelungsschleifen bestimmtes zirkuläres Geschehen zu analysieren. Die Entwicklung von Strategien zu einer bestimmten Veränderung eines Systemverhaltens verabschiedet sich deshalb von kausalen Wirkungsabläufen und konzentriert sich auf die durch extrasystemische Informationen involvierten Regelkreisprozesse und der sich daraus ergebenden Wirkungen. Das Leitmotiv dieses strategischen Verhaltens fasst H. v. Foerster zusammen: „Handle so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst.“8

1.2 Das Beziehungsmuster Das Grundmuster im Beziehungsfeld des Kurzgesprächs ist asymmetrisch angelegt. – „Haben Sie ’mal einen Augenblick Zeit? Ich möchte Sie kurz ’was fragen.“ Wer fragt, will eine Antwort, die er sich selber nicht geben kann, und traut dem so Gefragten zu, dass er die Antwort weiß. – „Herr Pastor, ich brauche Geld für ’ne Fahrkarte –“. Der eine hat’s, der andere nicht. Der eine ist Bittsteller, der andere hat die Macht über Gewähren oder nicht. – „Ich brauch’ Ihren Rat, Sie sind doch Eheberaterin.“ Sie weiß sich keinen Rat mehr, was sie mit ihrer Ehe machen soll, und traut der Eheberaterin die Kompetenz zu, ihr zu helfen. Das Beziehungsmuster, in dem sich das Gespräch entwickeln soll, wird von der ratsuchenden Person gleich zu Beginn 6 Wiener, Kybernetik. 7 v. Foerster, Gewissen. 8 v. Foerster, Gewissen, 49.

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auf eine stark asymmetrische Achse verlegt: „Ein Glück, dass ich Sie treffe!“ oder „Sie schickt der Himmel!“ oder „Sie als Pastor!“ und ähnliche Einfügungen heben den Empfänger auf eine „super-up-position“: Er ist der, der (allein) helfen kann, der die nötige Kompetenz besitzt, der ausgewiesenermaßen eine anerkannte Persönlichkeit ist. Zuschreibungen dieser Art können gleich zu Beginn des Kurzgesprächs ein schwüles Klima erzeugen, das sich (wenn das Gespräch nicht wie gewünscht verläuft) leicht in einem Gewitter entladen kann. Für eine gekonnte Handhabung des Kurzgesprächs durch die beratende Person ist das Erfassen der intendierten asymmetrischen Achse in einem „komplementären Muster“ hilfreich: x

orientierungslos – wegweisend;

x

ohnmächtig – allmächtig;

x

hilfesuchend – klärend;

x

Opfer – Retter (usw.) oder einfach:

x

UP – DOWN.

In jedem Fall fühlt sich die ratsuchende Person DOWN und schiebt der beratenden Person die UP -Position zu. Die Umkehrung der Asymmetrie schafft der beratenden Person Luft: – – – –

nicht nicht nicht nicht

ich, ich, ich, ich,

sondern sondern sondern sondern

du du du du

bist der Retter; klärst; kannst alles machen; weist den Weg.

Gegenläufig zu diesem Gefälle ist von vornherein eine zweite Asymmetrie bestimmend: die ratsuchende Person ist mitten drin in dem Konflikt (also IN ), während die beratende Person OUT ist, also erst noch Kontakt sowohl zu dem Menschen als auch zu seinem Konflikt finden muss. Im Gespräch klingt das dann so:

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– „Sie müssen nämlich wissen, dass …“. Das signalisiert der beratenden Person, dass sie noch lange nicht „drin“ ist. – „Das ist eine lange Geschichte; ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“ Die beratende Person müsste noch viel tiefer in das Leben der Betroffenen eindringen, um wirklich helfen zu können. – „Sie ahnen ja gar nicht, was ich schon alles versucht habe!“ Die Warnung vor einem eilfertigen Rat ist unüberhörbar. Diese gegenläufige Asymmetrie bewirkt mit der erstgenannten eine polarisierende Dynamik, die unversehens in einen Machtkampf münden kann: – Wer ist oben (UP ), wer unten (DOWN )? – Wer versteht wirklich etwas (IN ), und wer ist ahnungslos (OUT )? Der Schlusskommentar der ratsuchenden Person, „Vielen Dank, dass Sie mir wenigstens mal zugehört haben“, oder schärfer: „Ich sehe, Sie können mir auch nicht helfen.“ umschreibt das Resultat eines solchen Machtkampfes als Niederlage der beratenden Person. Die polarisierende Dynamik dieser beiden Asymmetrien führt zu einem Ergebnis, das die ratsuchende Person bewusst nicht wollte; unbewusst hat sie es jedoch darauf angelegt: Einerseits möchte sie endlich heraus aus dem Konfliktkarussell, andererseits trägt sie unbewusst dazu bei, dass der Ausstieg scheitert. Jetzt endlich soll sich das Schicksal mithilfe der beratenden Person wenden, aber die ratsuchende Person wird unbewusst mit allen Mitteln versuchen zu beweisen, dass eine Wende nicht möglich ist. Diese Paradoxie der gegenläufigen Intentionen (Raus aus der Sackgasse, aber es gibt keinen Ausweg!) hinterlässt, wenn sie nicht erkannt und angemessen angegangen wird, bei der beratenden Person nachhaltige Verstimmungen. „Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“ Diese in der Um– 32–

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gangssprache beheimatete paradoxe Aufforderung erfasst die unbewusst doppelt asymmetrische Anlage des Kurzgesprächs durch die ratsuchende Person: „Hilf mir, aber mir ist nicht zu helfen! Ich will das eine und ‚beweise‘ dir das andere!“ Ein Entrinnen aus dieser Paradoxie bietet sich der beratenden Person durch eine gegenparadoxale Haltung, nämlich die der Umkehrung der Asymmetrien: „Ich helfe dir, aber ich kann dir nicht helfen!“ und: „Ich weiß nichts, aber ich weiß einen Weg!“ – Dadurch, dass die beratende Person standhält, also sich hier und jetzt der ratsuchenden Person zur Verfügung stellt, gibt sie zu verstehen: „Ich helfe dir!“ – Dadurch, dass die beratende Person der ratsuchenden Person die Entscheidungen überlässt, zeigt sie: „Ich kann dir nicht helfen!“ – Dadurch, dass die beratende Person sich bei der ratsuchenden Person kundig macht, offenbart sie: „Ich weiß nichts!“ – Dadurch, dass die beratende Person anscheinend immer die richtigen Türen öffnet, suggeriert sie der ratsuchenden Person: „Ich weiß etwas!“ Das lässt sich am eingangs wiedergegebenen Kirchtürgespräch veranschaulichen: – Der Pastor akzeptiert das Setting = Botschaft: „Ich helfe dir!“ – Die Frau soll entscheiden, was ihr weiterhilft, was sie verstehen lernen möchte etc. = Botschaft: „Ich kann dir nicht helfen!“ – Der Pastor erkundigt sich z.B. nach der möglichen Nähe zwischen Mutter und Tochter = Botschaft: „Ich weiß nichts!“ – Die Frau empfindet die konsequente Beschränkung auf das hier und jetzt Machbare durch den Pastor so, als ob der genau wüsste, wo es langzugehen hat = Botschaft: „Ich weiß etwas!“ Die angetragene UP -Position verlassen und aus der DOWN Position „sich erkundigen“, dabei gleichzeitig aus dem OUT – 33–

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gezielt in das IN blicken – so lässt sich im Kurzgespräch erfolgreich mit den Asymmetrien arbeiten. Das ist ein sich im Verlauf eines Gespräches wiederholendes Geschehen. Immer wieder, meist unversehens, wird der beratenden Person die UP -Position angetragen verbunden mit dem Mandat, für die ratsuchende Person zu „arbeiten“ (= Diagnose erstellen, Problem definieren, Lösungsstrategien entwickeln, Therapievorschläge unterbreiten). Denn die ratsuchende Person spürt (über kurz oder lang), dass sie „arbeiten“ muss. Das ist anstrengend, und also wird sie unbewusst versuchen, dieses „Arbeiten“ wieder der beratenden Person zuzuschieben. Mehr als einmal wird die Asymmetrie „kippen“ und die beratende Person gefordert sein, mit freundlicher Strenge zu dem hilfreichen Beziehungsmuster zurückzukehren, in dem die ratsuchende Person die kundige ist, bei der die beratende Person sich nach dem, was weiterbringen könnte, erkundigt. Die Überlegungen zum Beziehungsmuster sind abzugrenzen von dem Phänomen Übertragung/Gegenübertragung, denn in der Kürze der Begegnung werden sich die Charakteristika dieses Prozesses weder entfalten können noch kann mit ihnen sinnvoll gearbeitet werden. Wenn zwei Menschen sich begegnen, wird jedoch stets blitzartig abgetastet, wer „führt“ und wer „geführt“ wird bzw. „sich führen lässt“; wer sich dominant verhält, wer submissiv; wer das Feld eingrenzt, und wer sich darin bewegen darf und soll. Kurzgespräche sind seitens der ratsuchenden Person prinzipiell nicht symmetrisch-solidarisch angelegt. Es bedarf eines sicheren Fingerspitzengefühls seitens der beratenden Person, die komplementären Asymmetrien so geschickt zu handhaben, dass am Ende die ratsuchende Person sich selber wieder in der Hand hat und bereit ist, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Die Interaktionen der beratenden Person zielen auf die Überwindung des asymmetrisch-komplementären Beziehungsmusters im Beziehungsfeld des Kurzgesprächs. Obwohl also die ratsuchende Person unbewusst die asymmetrischen Achsen einführt, um das Helfen der beratenden Person zu aktivieren, kann ihr erst wirklich geholfen werden, wenn sich beide – 34–

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gleichwertig nebeneinander auf die Suche nach dem Ausweg machen. Diese symmetrisch-solidarische Achse ist ein wesentliches interaktives Element des Kurzgesprächs. Das Kurzgespräch sucht und findet seinen Ansatz im Sichberaten zweier gleichwertiger Menschen in einer symmetrisch-solidarischen Begegnung. Wenn Menschen sich mit ihren Alltagssorgen oder in ihren Beziehungskonflikten oder auch aus ihren Lebensängsten heraus an einen anderen Menschen wenden, um sich auszusprechen oder einfach seine Meinung oder seinen Rat zu hören, bieten sie zwar auf der Schiene „inkompetent – kompetent“ ein asymmetrisches Beziehungsmuster an, möchten aber deshalb weder entmündigt noch einer „Kolonialisierung menschlichen Denkens durch vorgefertigte, therapeutische Theorien“9 anheim fallen. Vielmehr möchten sie sich beraten, und zwar mit jemandem, dem sie sich auf Augenhöhe anvertrauen können, bei dem sie spüren und erfahren, dass sie es mit einem Menschen zu tun zu haben, der sie nicht mit den Herrschaftsinstrumenten seines theoretischen Wissens seziert. Der Ansatz der hier vorgestellten methodischen Anleitung zum Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung setzt sich grundsätzlich von psychologischen, therapeutischen und seelsorglichen Beratungsgesprächen ab, die in ihrer Gesprächsmethodik Theoriekonzepten folgen, die Defizitäres, Krankes, Gestörtes diagnostizieren, um es zu therapieren. Im Kurzgespräch begegnen sich zwei Menschen entsprechend ihrer individuellen einzigartigen Begabungen, Fähigkeiten und Ressourcen: sie stellen sich Fragen und suchen Antworten; sie versuchen, sich zu verstehen und erkennen Unterschiede; sie geraten an Grenzen und Ausweglosigkeiten und erleben den Reiz kreativer Lösungen. Sich so zu beraten bedeutet, die aufgetretenen und auftretenden Fragen, Probleme, Hindernisse und Ausweglosigkeiten so zu behandeln, dass nach mentalen, verbalen und aktionalen Möglichkeiten gesucht wird, diese zu überwinden. Je eindeutiger dabei davon ausgegangen wird und während des Gesprächsverlaufs daran festgehalten wird, dass die 9 Urs Thurnherr, Praktiker, 210.

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anfragende, ratsuchende Person alles zur Überwindung ihrer Blockade Notwendige in sich hat, und die angefragte, beratende Person alles zur Überwindung der Blockade Notwendige in dem dialogischen Gegenüber erkunden muss, desto effektiver kann und wird aus dieser Differenz zum Nutzen der anfragenden, ratsuchenden Person Erkenntnis gewonnen, die Handlungsalternativen ermöglicht. Hier handeln zwei Menschen untereinander und miteinander aus, was denkbar ist (und was nicht), was geht (und was nicht geht). Wie weit sich beide der symmetrisch-solidarischen Achse genähert haben, lässt sich „objektiv“ feststellen: Die ratsuchende Person befindet sich in einer realistischen UP-Position, wenn sie sich klar bewusst ist, mit welchen eigenen Ressourcen sie einen ersten Schritt aus ihrer Sackgasse auf ein realistisches und für sie attraktives Ziel hin machen kann. Die ratsuchende Person befindet sich in einer realistischen IN-Position, wenn sie aus dem verwirrenden Problemnebel auftaucht und – unter Ausschließen des Hundertsten und Tausendsten – eine eindeutige Problemlage, die konkret lösbar ist, erkennt. Die beratende Person befindet sich in einer realistischen UP-Position, wenn sie ihre interaktive Kompetenz überlegt und gesteuert einsetzt, um der ratsuchenden Person zu einer UP-Position zu verhelfen. Die beratende Person befindet sich in einer realistischen IN-Position, wenn sie im Hier und Jetzt das begrenzte Mandat der ratsuchenden Person aufnimmt und versucht zu erledigen.10

10 Die dafür notwendigen methodischen Vorgehensweisen werden im 2. Kapitel vorgestellt.

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Sind diese realistischen Positionen erreicht, stellt sich das Gefühl einer symmetrischen Solidarität zwischen ratsuchender und beratender Person ein. Das Kurzgespräch ist am Ziel.11

1.3 Das Konfliktkarussell Anlass für jedes Kurzgespräch ist eine ausweglose Situation. Meist hat sich die ratsuchende Person schon etliche Zeit vergeblich um einen Schritt aus der Sackgasse bemüht und ist dabei immer tiefer in einen Problemnebel geraten, der ihr nun jegliche Aussicht auf ein Entkommen verschleiert. Immer wieder werden die verschiedensten Varianten durchdacht oder in Gesprächen mit Freundinnen und Bekannten durchgegangen, ohne dass eine tatsächliche Veränderung eintritt. Auch wenn das Kurzgespräch aus einem akuten Anlass heraus gesucht wird: Die „Geschichte“ ist alt und reicht bisweilen in die Anfänge der Beziehung zwischen den Betroffenen zurück. Mit Härte und Geduld, mit Liebe und Liebesentzug hat man’s versucht, alles umsonst! Das Konfliktkarussell dreht und dreht sich ohne Ende. Gelegentlich ist es 11 Vgl. Kap. 3.

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zu einem (eigentlich nicht gewollten) Gewaltausbruch gekommen oder einer der Beteiligten reagiert mit einer schweren Erkrankung auf das nicht enden wollende Konfliktkarussell. Ob es um einen Ehekonflikt geht oder um ein Mobbing am Arbeitsplatz, ob es ein Streit unter Geschwistern wegen der Versorgung der alten Eltern ist oder das der Mutter unverständliche Verhalten der erwachsenen Tochter ihr gegenüber, ob die Prinzipien der Ordnung oder der Aufrichtigkeit diskutiert werden: „Es ist immer dasselbe. Ich kann sagen, was ich will. Es hat keinen Zweck. Ich hab schon alles versucht. Es bringt nichts!“ So oder ähnlich wird dann resümiert. Und dieses Resümee wird untermauert mit langen Beweisketten, die dem Zuhörer schlüssig darlegen sollen, dass man der ratsuchenden Person wirklich nur zustimmen kann: „Es geht wirklich nicht!“. Der Motor des Konfliktkarussells speist sich aus einer Mischung von Eitelkeit und Kränkung, von Recht haben wollen und sich ungerecht behandelt fühlen. Diese Muster der Wahrnehmung, des Erlebens und Verhaltens sind jedem Menschen vertraut und halten den Motor des Konfliktkarussells in Schwung. Die ratsuchende Person folgt dabei unbewusst einer natürlichen Tendenz zur Homöostase12: Alle für sie bislang erprobten, bewährten und gültigen Werte, Normen, Entscheidungsfindungen, Beurteilungsmuster und Handlungsmaximen sollen im Gleichgewicht gehalten werden. Jede Veränderung stört dieses Gleichgewicht. Deshalb wird der Konflikt so dargestellt, wie es für die ratsuchende Person ihrem Wunsch nach Homöostase am ehesten entspricht. Die beratende Person ist der ratsuchenden deshalb stets „unterlegen“, wenn es um die „richtige“ Wahrnehmung und Einschätzung des Konflikts geht. Denn andernfalls müsste die ratsuchende Person sich eingestehen, etwas „falsch“ gedacht oder gemacht zu haben. Mit diesem Eingeständnis jedoch stünde das bis 12 Der Begriff, der sich ursprünglich auf den durch physiologische Kreisprozesse erzielten Gleichgewichtszustand von Organismen bezieht, wird hier auf eine psychisch ausbalancierte Ausgewogenheit übertragen.

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dato gültige Selbstverständnis und die daraus sich ergebende Lebensorganisation zur Disposition. Aus dieser Tendenz zur Homöostase ergibt sich die Dynamik des Konfliktkarussells. Jeder Versuch einer noch so zarten Korrektur der Wahrnehmung und Einschätzung des Konflikts durch die beratende Person wird mit „Argumenten“ aus der bisherigen Homöostase von der ratsuchenden Person beantwortet. Die beratende Person soll die Sichtweise der ratsuchenden Person übernehmen, um zu demselben „Ergebnis“ zu gelangen. Deshalb versucht die ratsuchende Person, mit unbewussten Suggestivfragen die beratende Person mit auf das Karussell zu ziehen: – – – –

„Was halten Sie denn davon?“ „Finden Sie nicht auch, dass …?“ „Was würden Sie denn an meiner Stelle machen?“ „Meinen Sie, ich sollte härter sein/einfach nachgeben?“

Springt die beratende Person – so gelockt – mit auf das Karussell, erhöht dieses den Drehschwung, und es kommen ungeahnte Weiterungen ins Spiel, die den Schwindel verstärken. Die auf solche Fragen einsteigende Antwort provoziert die ratsuchende Person zu neuen verbalen Gedankenanstrengungen, die eigene Position zu rechtfertigen und den Beweis zu erbringen. – „Es geht nicht! Sie können mir auch nicht helfen! Aber nett, dass Sie mir zugehört haben; man muss es ja jedenfalls mal loswerden …“. – So stark die Versuchung für die beratende Person ist, in die Details des Konflikts einzusteigen, – dieses „Ergebnis“ ist voraussagbar. Bei der Darstellung des Konfliktkarussells wurde bewusst auf ein konkretes Fallbeispiel verzichtet. Denn ob da „Pferdchen“, „Feuerwehrautos“, „Kutschen“ oder „dann und wann ein weißer Elefant“13 auf dem Karussell montiert sind, ist für sein Funktio13 Vgl. Rainer Maria Rilke: „Das Karussell“.

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nieren unerheblich. Wie es angestellt, wie es (schnell, langsam oder dauerhaft) betrieben und wie es abgestellt wird, ist für den verantwortlichen Umgang mit dem Karussell wichtig. Die Metapher vom Konfliktkarussell wurde für dieses Element von Kurzgesprächen gewählt, weil es treffend veranschaulicht: x

die ratsuchende Person dreht sich im Kreis,

x

der beratenden Person wird über kurz oder lang schwindelig,

x

das nahe liegende Ziel ist: das Kreisen stoppen!

Doch so nahe liegend das Ziel ist, so schwer scheint es erreichbar. Ein immer wieder gehörter Kommentar in der Supervision von Kurzgesprächen lautet: „Es ist mir einfach nicht gelungen, die ratsuchende Person davon abzubringen, mir mehr und immer mehr zu erzählen. Sie war einfach nicht zu bremsen. Mir drehte sich schon der Kopf!“ Im Folgenden werden die Fehlhaltungen der beratenden Person analysiert. Im Umgang mit dem Konfliktkarussell gibt es drei Verbotsschilder, die von der beratenden Person unbedingt beachtet werden sollten: Stopp! Nicht an der Homöostase rütteln! Die Veränderung der Elemente der Homöostase gelingt ausschließlich der ratsuchenden Person: Sie kann die Gefahren, Ängste und Zusammenbrüche sehr genau einschätzen. Die beratende Person ist gut beraten, wenn sie die ratsuchende Person – vor den Folgen von Veränderungen im Verhalten warnt, – auf die Gefahren hinweist, die sich ergeben, wenn ein bisheriger Wert nicht mehr gelten soll, – die Ängste anspricht, die sich aus einem Bruch mit der bisherigen Selbstorganisation ergeben. – 40–

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Das steht nur scheinbar im Widerspruch zu dem erklärten Wunsch der ratsuchenden Person, den „gordischen Knoten nun endlich einmal durchzuhauen“ und sich so aus dem Konfliktknäuel zu befreien. Denn tatsächlich wird die ratsuchende Person zum einen spüren, wie genau die beratende Person auf sie „achtet“; zum andern wird ihr Mut zu machbaren Veränderungen ausgelotet: Sie bietet der beratenden Person mögliche (bisher nur im Stillen gedachte) Veränderungen an, die auf einem neuen, anderen Niveau der Homöostase sehr wohl erträglich sind. Ein Pfarrer, der vom Kirchenbetrieb die Nase voll hat und aussteigen möchte, hat während der Wachphasen der Nacht „alles schon mal durchgespielt“. Im Konjunktiv mit „könnte“, „hätte“, „würde“ entsteht eine Vision einer möglichen Alternative, in der er „gleichgewichtig“ leben könnte. Der Berater merkt sich die Sätze, so gut er kann, und bietet ihm diese dann „probeweise mal“ im Indikativ an: „Ich gehe (statt: könnte) zum Oberkirchenrat für Personalfragen (gehen). Ich (würde ihm sagen) sage ihm, dass ich mich für drei Jahre beurlauben lassen möchte, um mein damals abgebrochenes Medizinstudium zu beenden. Meine Frau (könnte ich bitten) bitte ich, wieder berufstätig zu werden, damit sie sich selbst unterhalten kann. Ich werde (würde) ein Darlehn zur Finanzierung meines Studiums aufnehmen. Wenn ich das durchstehe, habe (hätte) ich meinen Lebenstraum verwirklicht. Wie hört sich das für Sie an?“ Der Wechsel vom Konjunktiv zum Indikativ ist für diesen Pfarrer – und für viele Ratsuchende in Kurzgesprächen – eine wirksame Ernüchterung. Jetzt wird klar, ob es sich um Hirngespinste und Luftschlösser handelt oder ob eine Veränderung der Homöostase gewagt werden kann. Die ratsuchende Person ist die beste Expertin, wenn es gilt herauszufinden, ob der natürliche Wunsch zur Homöostase auch unter den veränderten Bedingungen erfüllt ist.

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Stopp! Nicht in das Problemkarussell einsteigen! Diese Warnung scheint nahe liegend und recht leicht zu befolgen zu sein. Denn wer begibt sich schon freiwillig in ein Kreisen, bei dem ihm schwindelig wird? Dem steht jedoch zweierlei entgegen: Zum einen lädt die ratsuchende Person (wie jeder gute Karussellbetreiber) mit immer neuen Werbeangeboten die beratende Person ein, sich in das Problemkarussell zu begeben; zum anderen sind Helfende geradezu fasziniert von zwischenmenschlichen Konflikten und brennen darauf, sie zu lösen, indem sie immer tiefer in die Konfliktkonstellation einzudringen versuchen, bis diese sich dem verinnerlichten Verstehensraster (Theorie) annähert oder mit ihm deckt. Dann erst (so die Vorstellung) könnten sie helfen. Das Gegenmittel für die erste Fehlhaltung besteht darin, sich im Blick auf das Problem unwissend zu stellen und einfältig nachzufragen, was die ratsuchende Person denkt und meint und erwartet, wie die beratende Person helfen soll. Die innere Einstellung der beratenden Person sollte sein: „Das Problem bearbeiten wir noch, erst einmal muss klar sein, was jetzt, hier durch mich geschehen soll.“ Die beiden ersten Interventionen des Pastors an der Kirchentür14 veranschaulichen dieses und auch den Erfolg, nicht auf das Konfliktkarussell einzusteigen: – „Was, meinen Sie, Frau W., kann Ihnen in einem kurzen Gespräch mit mir weiterhelfen?“ – „Was daran möchten Sie mit meiner Hilfe verstehen lernen?“ Das Gegenmittel für die zweite Versuchung besteht darin, sich strikt an die Vorgaben der ratsuchenden Person zu halten, keine neuen Personen oder Beziehungsgeschichten einzufüh14 Vgl. die Einführung in das Kurzgespräch.

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ren, nicht zu problematisieren und erst recht keine Deutungen anzubieten. Die innere Einstellung der beratenden Person sollte sein: „Zum Problematisieren ist jetzt weder Zeit noch Ort, also halte ich Ausschau, was gelingen kann!“ Der Pastor an der Kirchentür bleibt eng an der angebotenen Handlungsebene und den von der Frau eingeführten Personen (fragt z. B. nicht nach dem Verhältnis zum Schwiegersohn oder wie ihre Beziehung zu ihrer eigenen Mutter war etc.) und versucht herauszufinden, was dieser Frau wirklich als erster Schritt gelingen könnte. Stopp! Nicht in Einzelheiten des Konflikts vertiefen! In Kurzgesprächen wird die beratende Person bisweilen mit komplizierten Details der Problemgeschichte überschüttet und bemüht sich, möglichst viele Einzelheiten zu behalten. Das ist gänzlich überflüssig, und zwar aus zwei Gründen: Im Kurzgespräch soll der Konflikt nicht eingefühlt, verstanden und analysiert werden; es geht darum, über eine gelungene Anschlusskommunikation15 der ratsuchenden Person einen ersten Schritt auf ein wieder befreites Leben zu ermöglichen. Falls im Verlauf des Kurzgesprächs tatsächlich das Wissen um ein Detail fehlt, wird die ratsuchende Person dieses auf Nachfrage gern (auch ein zweites Mal) liefern. Die Versuchung ist jedoch sehr groß, die kreisenden Bewegungen des Gesprächs durch „gut gemeinte“ (scheinbar nahe liegende und korrespondierende) Interventionen zu evozieren.

15 Vgl. Kap. 1.4 Das „Sesam, öffne dich!“.

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Für das Drehen des Konfliktkarussells ergeben sich auf drei korrespondierenden Ebenen systemimmanente Voraussetzungen: ratsuchende Person: beratende Person: 1. „Ich bin ein Opfer.“ = „Ich bin für dich da.“ 2. „Ich stecke in einer = „Ich habe Ideen für dich.“ Sackgasse.“ 3. „Ich hab den Überblick = „Ich diagnostiziere, strukturiere verloren.“ dich.“ Die Folge davon ist das genaue Gegenteil dessen, was die ratsuchende Person sich vom Kurzgespräch erhofft, und auch

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von dem, was die beratende Person durch ihre Gesprächsbereitschaft anbieten möchte: das Kreisen des Konfliktkarussells wird verstärkt und die Homöostase bestätigt. Dabei wird die ganze Kraft der beratenden Person für überlegte Interventionen benötigt, die über sprachliche Koppelungen den Prozess der Kommunikation auf Zielkurs halten. Dieser nicht problemorientierte Ansatz basiert auf der Erkenntnis, dass ein Mensch sich über die Geschichte kommunikativer Koppelungen16 mit seinem Gegenüber seiner Wirklichkeit neu bewusst wird. Dieses neue „Wirklichkeitsbewusstsein“ erschließt ihm den Zugang zu seiner potentiellen Komplexität und ermutigt ihn, alle notwendigen Ressourcen zur Veränderung seiner Sackgassensituation zu benutzen.

1.4 Das S ESAM ,

ÖFFNE DICH !

„Als Ali Baba sich von seinem Schrecken erholt und beruhigt hatte, stieg er vom Baum herunter und ging zu der kleinen Tür hin. Dort blieb er stehen, und indem er sie betrachtete, sprach er bei sich selber: „Ob sich diese Tür, wenn ich so wie der Räuberhauptmann rufe: „SESAM, ÖFFNE DICH!“17 wohl öffnen wird oder nicht?“ Dann trat er dicht herzu, sprach diese Worte, und siehe da, die Tür sprang auf.“18

In jedem Kurzgespräch präsentiert die ratsuchende Person den Schlüssel, mit dem sich die beratende Person den Zugang zu den verborgenen Schätzen der ratsuchenden Person verschaffen kann. Es ist wie im Märchen: A LI erlauscht sich den kleinen, aber entscheidenden Satz, lässt sich von der Übermacht des Drumherums nicht beeindrucken, benutzt das Zauberwort und siehe da: Er hat freien Zugang zu dem, was in der Tiefe verborgen ist. Vor derselben Aufgabe steht die 16 Vgl. Kap. 1.4 Das „Sesam, öffne dich!“ und Kap. 2. 17 Die von Littmann gewählte Übersetzung „Sesam, öffne dein Tor!“ wurde durch die allgemein geläufige Formulierung der Zauberformel ersetzt: „Sesam, öffne dich!“ 18 Enno Littmann, Erzählungen, II, 796.

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beratende Person im Kurzgespräch: Den Schlüsselsatz erlauschen, im rechten Moment sich dicht dem Konfliktberg nähern und den Schlüsselsatz sprechen. Es tut sich eine Tür auf, und der Weg in die Tiefe ist frei. Nach kurzem Klopfen öffnet sich die Tür zum Sprechzimmer der Krankenhauspastorin, die Stationsschwester steckt den Kopf herein, sieht, dass niemand zum Gespräch bei der Pastorin ist, kommt halb ins Zimmer: S.: „Haben Sie mal einen Augenblick Zeit? Ich möcht’ nur kurz Ihre Meinung.“ P.: „Bitte.“ S.: „Ich hab’ den Eindruck, der Chef, Dr. Z., will mich loswerden. Würden Sie mir raten, zu prozessieren?“ Kurze Pause, in die hinein die Pastorin fragt: P.: „Wie kommen Sie denn auf die Idee?!“ Nun holt die Schwester tief Luft und berichtet von vielen kleinen Begebenheiten (nicht grüßen, Zettelchen auf ihrem Arbeitstisch, ignorieren bei der Visite, Bevorzugung einer jüngeren Kollegin), die sie nicht anders einzuordnen weiß, als dass der Chef sie loswerden möchte. Zunächst versucht die Pastorin, die Schwester zu beschwichtigen: Sie solle das alles nicht so hoch hängen; sie sei schließlich eine anerkannte Kraft auf der Station. Doch diese Einwände provozieren nur noch weitere Beweisketten und Schlussfolgerungen bei der Schwester, sodass der Berg immer höher wird. Bevor nun das ganze „kurze“ Gespräch ein Ende mit Schrecken nimmt, besinnt die Pastorin sich und sucht in Erinnerung nach dem Schlüsselsatz, mit dem die Schwester das Gespräch eröffnete. Dann unterbricht sie die Schwester mitten im Redefluss und sagt ihr ganz ruhig: P.: „Entschuldigen Sie bitte, Frau S.: Wozu genau brauchen Sie meine Meinung?“ Die Schwester hält inne, schaut die Pastorin mit großen Augen an, drückt die Tür hinter sich zu, setzt sich auf die Kante eines Stuhls: S.: „Frau P., Sie wissen es vielleicht oder ahnen es: Ich habe seit Anfang des Jahres ein Verhältnis mit Dr. Z.; nun will er mich nicht mehr. Aber ich kann nicht von ihm loskommen. Und wenn – 46–

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ich hier auf dieser Station bleibe, sehe ich ihn immer wieder. Das halt ich nicht aus …“ P.: „Und was an meiner Meinung ist Ihnen wichtig, Frau S.?“ S.: „Meinen Sie, dass es mir helfen würde, von ihm loszukommen, wenn ich die Station wechsle?“ P.: „Sie möchten von ihm loskommen?“ S.: „Eigentlich nicht. Ich liebe ihn noch immer.“ P.: „Wozu wollen Sie dann die Station wechseln?“ S.: „Ich glaube, wenn wir uns nicht mehr bei der Arbeit sehen, dann würden wir uns wieder besser verstehen.“ P.: „Was hindert Sie daran, das auszuprobieren?“ S.: „Sie meinen also auch, ich sollte das machen?“ P.: „Ihre Liebe zu Herrn Dr. Z. ist ungebrochen. Der gemeinsame Arbeitsplatz belastet ihr privates Verhältnis, meinen Sie. Es wäre also eine Gegenprobe: Wird Ihr persönliches Verhältnis mit Herrn Dr. Z. wieder gut, wenn sie sich bei der Arbeit nicht mehr sehen?“ S.: „Ich glaube nicht. Es ist nur ein Strohhalm, an den ich mich klammere. Er will mich nicht mehr. Und damit muss ich fertig werden – egal, auf welcher Station ich arbeite.“ P.: „Wie können Sie damit fertig werden?“ S.: „Hier ganz normal meine Arbeit tun. – Aber der Liebeskummer, der bleibt.“ P.: „Geht das denn: Hier ganz normal meine Arbeit tun?“ S.: „Ach, wenn ich nicht in alles, was von ihm kommt, etwas hineingeheimnisse, sondern es ganz nüchtern behandle – das kann ich schon!“ P.: „Bleibt der Liebeskummer.“ S.: „Meine Freundin hat mir angeboten, dass ich vorübergehend zu ihr ziehen kann. Erst wollte ich ja, dass er auszieht. Aber jetzt werd’ ich meine Sachen nehmen und zu I. ziehen. Wir kennen uns schon lange, seit der Schulzeit. Wir haben schon manches durchgestanden.“ P.: „Das hört sich gut an.“ S.: „Ja, das ist auch gut. Das werd’ ich tun. Vielen Dank, Frau P., Ihre Meinung war mir doch sehr wichtig.“

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Das S ESAM , ÖFFNE DICH ! ist in diesem Fall Meinung. Zunächst entfällt es der Pastorin. Dann besinnt sie sich, als sie schon mitten im Konfliktkarussell steckt, und spricht die Zauberformel aus. Und siehe da, die Tür springt auf! – Jetzt ist die Pastorin im Kurzgespräch angekommen und versucht nach dessen Regeln zu intervenieren: Sie akzeptiert die Modalitäten von Ort und Zeit und Person; – sie kehrt die Asymmetrie um (ich helfe dir, aber ich kann dir nicht helfen); – sie springt vom zunächst betretenen Konfliktkarussell ab (aus dem Kreiseln wird ein Weg); – sie verbündet sich mit der Hoffnung („wie können Sie damit fertig werden?“); – sie hat das S ESAM nicht vergessen (was den armen K ASIM aus dem Märchen das Leben kostete). Frau S. geht aus diesem Kurzgespräch mit dem Entschluss, zu ihrer Freundin I. zu ziehen. Dieser erste Schritt ist auf seine Machbarkeit und Attraktivität abgeklopft und für gut befunden worden. Frau S. geht nachdenklich, mit einem leicht lächelnden Gesichtsausdruck zurück auf ihre Station, Frau Pastorin P. wendet sich unbeschwert wieder ihrer unterbrochenen Lektüre zu. Das S ESAM, ÖFFNE DICH!, der Kernsatz, der Schlüssel zur Lösung im Rahmen des Kurzgesprächs wird von der ratsuchenden Person der beratenden in den ersten Sätzen angeboten. Auf den ersten Blick haben die ersten Sätze meist eher etwas Beiläufiges und gar nichts mit dem „Problem“ zu tun. Die Formulierungen wirken gestanzt und erscheinen überflüssig: Für die eigentliche Konfliktlösung können sie vermeintlich nichts beitragen. Und doch: – Der erste Satz der Krankenschwester: „Ich möcht’ nur kurz Ihre Meinung.“ enthält genau das Mandat, das die Schwester der Pastorin erteilt: Hilfe bei ihrer Meinungsbildung. – 48–

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– Der Kernsatz im Gespräch der C ITYSEELSORGE : „offen reden können“ fordert den Berater auf, darauf zu achten, dass verdeckte Karten offen gelegt werden. – Die Frau an der Kirchentür reicht dem Pastor den Schlüssel: „kurz mal sprechen“ und als er diesen in die Hand nimmt, spricht die Frau ihre Gedanken und Überlegungen aus. Die wortwörtliche Aufnahme des Schlüssels ist dabei entscheidend. Der beratenden Person ist dabei zunächst nicht klar, was sich dahinter verbirgt; doch die ratsuchende Person wird ihr den Weg weisen, indem sie nun die Konfliktdarstellung auf das Schlüsselwort hin entfaltet: Aus dem Konfliktkarussell wird schrittweise ein gerichteter Prozess. – Die Krankenschwester wird über den Begriff „Meinung“ bzw. „meinen“ aus dem Kreiseln in einen gerichteten Prozess geführt; – die Frau in der C ITYSEELSORGE über das Wort „offen“, – die Frau an der Kirchentür über „sprechen“ oder „kurz“. Das Arbeiten mit dem S ESAM , ÖFFNE DICH ! aus den ersten Sätzen ist ein spannender Prozess für die beratende Person. Das Finden und Einpassen dieses Schlüssels in das Schloss der Tür, hinter der sich der „verborgene Schatz“ der ratsuchenden Person befindet, ist zunächst ein rein hand- und mundwerklicher Akt. Diese Vorgehensweise setzt eine x

gute Findungsgabe,

x

eine präzise Merkfähigkeit und

x

sicheres Gespür für das stimmige T IMING

voraus. Trifft die beratende Person den Nagel meisterlich auf den Kopf, dann ist das weitere Werk bald getan. Denn an diesem Nagel hängend lässt sich der Konfliktknoten Griff um Griff lösen. – 49–

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In den bisherigen Beispielen war der Schlüssel meist gleich zu Beginn der Rede versteckt. Bei der Begegnung auf dem Friedhof bot Herr A. das S ESAM , ÖFFNE DICH ! erst nach einer längeren Gesprächspassage an. Voraussetzung: x

Auf Problemdefinitionen, Diagnoseschemata und Therapiestrategien gänzlich verzichten und sich stattdessen voll auf das Mandat konzentrieren, mit dem das Konfliktkarussell an die beratende Person übergeben wird (z.B. „Ihre Meinung“), oder

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sehr genau darauf hören, auf welche Art und Weise die „Sackgasse“ von der ratsuchenden Person kommentiert wird (z. B. „damit muss man leben“), oder

x

sich unbedingt wiederkehrende Wörter merken, mit denen die ratsuchende Person bei der Beschreibung ihres Konfliktkarussells operiert.

Bisweilen bedarf es mehrerer Schlüssel, um zum Tiefengeheimnis vorzudringen. Alle diese Schlüssel setzen an der Oberflächenstruktur der Sprache an, um den Zugang zur Tiefenstruktur der sprechenden Person zu erschließen. Um einen anderen Menschen teilhaben zu lassen an dem eigenen (inneren) Erleben, bedarf es zunächst einer „Übersetzung“ der inneren Wahrnehmung in einen gedanklichen und sprachbegrifflichen Code, mit dem diese Wahrnehmung erfasst werden kann, und in einem zweiten Gang der Übertragung dieser Begrifflichkeit in einen verbalen (und auch paraverbalen und nonverbalen) Ausdruck, von dem der Mitteilende annimmt, dass diese Botschaft „verstanden“ wird. Doch diese Oberfläche der Sprache kann nur sehr begrenzt das mitteilen, was in der Tiefenstruktur des einen oder anderen gemeint ist. Dennoch ist es im Kurzgespräch sehr erfolgversprechend, die von der ratsuchenden Person angebotene Oberflächenstruktur der Sprache aufzunehmen, sie nicht zu verändern, sondern sie zu benutzen, um der ratsuchenden Person den Zugang zu einem vertieften – 50–

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Selbstverständnis zu ermöglichen; daraus ergeben sich dann (oft unversehens) eigenständige Handlungsalternativen. Dabei ist das „Schlüsselwort“ ebenso hilfreich wie das sprachliche Wortfeld, in dem ein Mensch sich bevorzugt ausdrückt, oder Nominalwendungen und die nicht vollendeten Sätze.19 Dazu ein Beispiel: Der Pastor besucht eine 68-jährige Frau seiner Gemeinde im Krankenhaus, nachdem er erfahren hat, dass sie unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist. Nach einer kurzen Begrüßung: F.: „Ja, Herr Pastor, nun ist es vorbei. Da kann man nichts mehr machen.“ P.: „Wer sollte denn noch was machen?“ F.: „Ach, die Ärzte haben gesagt, da lässt sich nichts mehr machen. Ich warte nur noch darauf, dass es vorbei ist.“ P.: „Warten, dass es vorbei ist, ohne was zu machen?“ F.: „Am Liebsten würde ich ja nach Haus. Aber ich weiß nicht, ob sich das machen lässt.“ P.: „Was könnten Sie machen, um nach Hause zu kommen?“ F.: „Mein Mann müsste dann alles machen. Und ich weiß nicht, ob er das schafft.“ P.: „Das könnten Sie doch mal machen, Ihren Mann fragen, ob er das schafft.“ F.: „Er weiß sich ja gar nicht im Haushalt zurechtzufinden.“ P.: „Könnten Sie das schaffen, ihm dabei zu helfen?“ F.: „Das könnte ich schon. Aber eine Hilfe braucht er auf jeden Fall.“ P.: „Was sollte das für eine Hilfe sein?“ F.: „Bei unsern Nachbarn putzt eine Frau, ich glaub aus Polen. Die könnte man ja mal fragen, ob sie auch zu uns kommt.“ P.: „Würde Ihr Mann das machen?“ F.: „Ja, bestimmt. – Aber da ist ja auch noch meine Pflege. Die kann er nicht machen.“ P.: „Für die häusliche Krankenpflege steht Ihnen ein Pflegedienst zu, den die Kasse bezahlt. Da kommen dann regelmäßig Schwestern, die das machen.“ 19 Vgl. Kap.2.3.

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F.: „Dann lässt sich das vielleicht doch machen, dass ich nach Hause kann.“ P.: „Ich meine, das lässt sich machen. Die Frage ist, ob Sie es machen möchten.“ F.: „Ich werde es dem Arzt bei der Visite sagen, dass ich nach Hause möchte, und dass sich das machen lässt. – Ich möchte zu Hause sterben.“ P.: „Zu Hause sterben, Frau A., für diesen Wunsch können Sie noch was machen und vielleicht auch ich, wenn Sie es möchten: Ich könnte Ihren Mann besuchen und mit ihm darüber reden, wie sich das machen lässt.“ F.: „Vielen Dank, Herr Pastor, das brauchen Sie nicht. Mein Mann kommt gleich, noch vor der Visite, da werde ich mit ihm darüber reden, wie wir das machen. – Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie mir dazu Mut gemacht haben. Es ist ja nicht leicht, damit fertig zu werden, dass es nun vorbei sein soll. Aber wenn ich wieder zu Hause bin … (bricht ab und weint).20 In der schriftlichen Fixierung dieses Gesprächs erscheint die Handhabung des S ESAM , ÖFFNE DICH ! fast ein wenig penetrant. Beim Gespräch am Krankenbett wirkte die redundante Benutzung des Wortes „machen“ ganz selbstverständlich und eher beiläufig; die damit erschlossenen Inhalte beherrschten den Dialog. A LI B ABA erlauscht sich das S ESAM , ÖFFNE DICH ! aus einer sicheren Distanz. Er hat sich gleichsam auf eine Metaebene (Baum) gerettet und kann von dort aus seine Beobachtungen machen. Im Kurzgespräch verhält es sich ebenso. Ohne die sichere Distanz einer Metaebene lässt sich das Schlüsselwort nicht erlauschen. Neben der präsenten, zugewandten, direkten Begegnung ist die beratende Person gehalten, ja genötigt, sich auf eine Sonderebene des Kortex zu begeben, um von dort aus das ablaufende Geschehen zu beobachten und das kleine, wichtige Wort zu erfassen. Das ist anstrengend, lässt sich aber durch Übung aneignen.

20 Fortsetzung in Kap. 3.2.

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2

DIE METHODIK DER GESPRÄCHSFÜHRUNG

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ie Erkenntnisse aus der Analyse der interaktiven Elemente des Kurzgesprächs lassen sich in eine methodische Vorgehensweise umsetzen. Die Methodik der Gesprächsführung der beratenden Person orientiert sich dabei an den Vorund Eingaben der ratsuchenden Person. Diese hat den „Aufschlag“, die beratende Person konzentriert sich voll und ganz auf den „Return“ (wie im Tennisspiel). Gelingt der Return, kann ein offenes „Spiel“ beginnen. Dem eher zufälligen, beiläufigen oder einmaligen Gesprächswunsch, manchmal nur halb ernst, fast unverbindlich, setzt die beratende Person eine bewusste, überlegte, systematische, verbindliche und ernst nehmende Haltung entgegen. Dafür steht ihr ein Instrumentarium zur Verfügung, das den Werkzeugen eines Handwerkers vergleichbar ist: Wie ein Tischler bei seiner Arbeit Hammer, Säge, Zange, Hobel und Stecheisen benutzt, kann die beratende Person im Kurzgespräch auf standardisierte mund- und handwerkliche Instrumente zugreifen, die in diesem Abschnitt im Einzelnen vorgestellt werden: – Hoffnung wahrnehmen, – andocken, – aufschlüsseln – sich ausdrücken, – sich erkundigen, – beschleunigen, – verstören, – erzählen, – Ziele formen, – Kraftquellen erschließen, – Lösungen erwirken. – 54–

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Jedes „Instrument“ ist für eine spezifische Handhabung gedacht und dient einem bestimmten Zweck. Diese „Werkzeuge“ können gleichzeitig eingesetzt werden, jedoch wird auf eine bestimmte Äußerung der ratsuchenden Person in einem bestimmten Augenblick des Kurzgesprächs eine dieser Gesprächshaltungen das „Instrument“ der Wahl sein und im Vordergrund stehen: Also, nicht einfach der Reihe nach, sondern ein jedes zu seiner Zeit und oft in schnellem Wechsel! Die Reihenfolge der schriftlichen Darstellung lässt zwar eine chronologische Abfolge vermuten, in der die Werkzeuge im Kurzgespräch zum Einsatz kommen, sie ergibt sich aber lediglich aus der Notwendigkeit, sie klar voneinander zu unterscheiden.

2.1 Hoffnung wahrnehmen Ohne das Element der Hoffnung gibt es keine Kurzgespräche. Die Motivation der ratsuchenden Person, in diesem Augenblick und an diesem Ort genau diese Person anzusprechen, um einen Weg aus der Sackgasse zu finden, ist getrieben und gesteuert von der Hoffnung: „So komme ich weiter!“ Wie viel Hoffnung die ratsuchende Person in das Kurzgespräch setzt, lässt sich für geübte Augen, gespitzte Ohren und feinsinnige Gefühle an den verbalen, den nonverbalen und paraverbalen Äußerungen1 eines Menschen wahrnehmen. Die verbalen Äußerungen sind von Fall zu Fall unterschiedlich und an die Gedanken- und Sprachwelt der ratsuchenden Person gebunden. Beim Element „Hoffnung“ gilt die Aufmerksamkeit den nonund paraverbalen Botschaften der ratsuchenden Person. Die folgende Beschreibung der Kunst dieser Wahrnehmung2 beschränkt sich auf die wesentlichen Aspekte, die beim Element „Hoffnung“ im Kurzgespräch wiederkehren und in der Kürze der Zeit augenfällig aufgenommen werden können:

1 Nähere Ausführungen dazu im Kap. 2.2. 2 Vgl. dazu John O. Stevens, Wahrnehmung.

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die Kopfhaltung, der Blickkontakt, die Gestik der Hände, die Nähe, die Stimmlage.

Ein Mensch, der auf etwas hofft, bewegt seinen Kopf. Die ersten Worte spricht die ratsuchende Person erhobenen Hauptes; oft ist die Kopfhaltung auffällig gerade, bisweilen ist der Kopf leicht in den Nacken geneigt, als ob mit dieser Haltung eine weitere Sicht gewonnen werden könnte. Auch wenn die ratsuchende Person während der Schilderung des Konfliktkarussells gesenkten Hauptes dasitzt, wird sie immer dann, wenn sie ihrer Hoffnung Ausdruck verleihen möchte, den Kopf aufrichten. Sehr hilfreich ist das unbewusste Kopfnicken bzw. Kopfschütteln als Bestätigung bzw. Ablehnung dafür, ob sich die ratsuchende Person auf einem hoffnungsvollen Weg befindet. Die beratende Person sollte in diesen unbewussten Bewegungen der ratsuchenden Person unmissverständliche Signale dafür erkennen, ob die Hoffnung zu grünen beginnt. Offene Augen sind der Spiegel einer Seele, die hofft. Dem Blickkontakt kommt neben der Kopfhaltung große Bedeutung zu, zumal er im Kurzgespräch (und sei es nur für Sekunden) gleich zu Beginn direkt gesucht wird. Ob traurig oder verzweifelt, resigniert oder erschöpft – die Augen der ratsuchenden Person halten intensiv Ausschau, ob sie in den Augen der beratenden Person Anzeichen dafür finden können, ob ihre Hoffnung in diese Person, an diesem Ort, zu dieser Zeit gerechtfertigt ist. Da sowohl Augen (-fältchen) als auch Mund und Stirn sehr viel über die innere Haltung eines Menschen aussagen, ist diesem nonverbalen Interaktionsfeld besondere Beachtung zu schenken: wechselseitig wird abgelesen, ob es Grund zur Hoffnung gibt. Handbewegungen unterstreichen die intendierten Absichten. Die Hände können krampfhaft Halt aneinander suchen, einfach im Schoß liegen oder (bei einer stehenden Begegnung) – 56–

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schlapp an den Armen hängen – unversehens fangen sie an, nach etwas Imaginärem zu greifen, wie nach einem Strohhalm oder als ob sie etwas packen möchten. Ratsuchende Personen greifen z. B. nach oder auch an den Arm der beratenden Person, als ob sie sich an ihre „letzte“ Hoffnung klammern. Auch die ratsuchende Person wird manches „begreifen“, wenn die Hände der beratenden Person sprechen und sich nicht vor Berührungen scheuen. Der Pastor an der Kirchentür z.B. fasst die Frau am Arm und führt sie an einen Platz neben sich; da weiß und fühlt die Frau schon mal, dass sie am rechten Ort ist. Ein hoffender Mensch sucht die Nähe eines Mitmenschen. Besonders bei Kurzgesprächen im Stehen fällt auf, dass ratsuchende Personen die ungeschriebenen Gesetze der Distanz zwischen zwei Menschen nicht mehr respektieren, sondern eine Nähe suchen, die signalisiert: „Hoffentlich kommst du mir nah und hilfst mir.“ Bei Gesprächen im Sitzen wird dies häufig mit dem Oberkörper ausgedrückt, der dann (über das Maß) der beratenden Person zugeneigt wird. Wenn die beratende Person sich selbst in ihrem Oberkörper beweglich zeigt, wird das unterbewusst oder unbewusst als Hinweis entschlüsselt: An dieser Stelle gibt es Anlass zu hoffen, dass etwas in Bewegung kommt. Die Frau an der Kirchentür blieb räumlich sehr nahe beim Pastor stehen – gleichsam in seinem Beziehungsfeld. Stimmlage und -lautstärke stimmen überein mit der momentanen Stimmung. Ist die ratsuchende Person hoffnungsvoll gestimmt, aus dem Gespräch etwas für sich gewinnen zu können, wird sie – trotz des Dilemmas, in dem sie steckt – erstaunlich fest und frisch ihre Stimme erheben. Der Wechsel der Stimmlage und – intensität wird unbewusst von der Ambivalenz zwischen „hoffen“ und „verzagen“ gesteuert. Mit ganz leiser Stimme brachte die Frau an der Kirchentür ihr Ansinnen vor. Das „Es dauert auch nur fünf Minuten …“ war geflüstert. Am Ende des Gesprächs hatte sie ihre Stimme wiedergefunden. Die Beachtung dieses Stimmlagenwechsels ist wichtig. Klingt die Stimme der ratsu– 57–

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chenden Person leise und verzagt, befindet sie sich eher nicht auf dem „richtigen“ Weg aus dem Dilemma, und also gilt es für die beratende Person, nach einem anderen Weg Ausschau zu halten. Grundsätzlich gilt im Kurzgespräch für alle Beobachtungen aus dem non- und paraverbalen Bereich: Das Wahrnehmen der non- und paraverbalen Botschaften ist wichtiger als ein unmittelbares Feedback darauf zu geben! Ein voreiliges Feedback auf eine unbewusste Äußerung richtet im Kurzgespräch mehr Schaden an, als dass es hilft. Die ratsuchende Person fühlt sich ertappt, wird vorsichtig und verschließt sich. Erst am Ende des Kurzgesprächs kann ein behutsames Feedback auf eine non- bzw. paraverbale Äußerung die Motivation zum „ersten Schritt aus der Sackgasse“ unterstützen. Auf der verbalen Ebene wird die Hoffnung als konstitutives Element des Kurzgesprächs durch hohe Kooperationsbereitschaft induziert. Im Unterschied zu längerfristigen Beratungen, wo zu Beginn des Gesprächs durchaus langes Schweigen herrscht, ist die ratsuchende Person im Kurzgespräch meist überaus gesprächsbereit, gibt willig alle gewünschten Auskünfte, verweist auf zurückliegende Anstrengungen, die zur Lösung des Konflikts unternommen wurden, und suggeriert damit der beratenden Person: „Ich bin zwar ein hoffnungsloser Fall, aber irgendwie auch wieder nicht, jedenfalls, wenn du die Hoffnung nicht aufgibst und mich jetzt nicht hängen lässt!“ Mit der Wortwahl der Anrede wird deutlich, wie viel Hoffnung die ratsuchende Person auf das Gespräch setzt: – „Du als meine beste Freundin!“ – „Ich möchte Sie etwas fragen, Herr Pastor …“ – „Sie haben als Arzt doch schon mit vielen Patienten gesprochen.“

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Mit der jeweiligen Qualifizierung verbindet sich eine ganz bestimmte Hoffnung auf Hilfe. Die beratende Person ist gut beraten, wenn sie die Hoffnungsinduktion der ratsuchenden Person nüchtern als etwas Lebensnotwendiges an- und aufnimmt. Sich mit der Hoffnung auf ein wieder befreites Leben zu verbünden, ist eine große Stärke des Kurzgesprächs. Dieses Verbünden geschieht neben der oben beschriebenen nonverbalen und paraverbalen Interaktion auf der verbalen Ebene insbesondere dadurch, dass die beratende Person den Begriff „hoffen“ (etc.) sprachlich einführt oder aufnimmt und in operationale Schritte umsetzt. Das Einbringen des Elements Hoffnung durch die ratsuchende Person hebt das Kurzgespräch aus dem üblichen Rahmen sowohl der „normalen“ als auch der „professionellen“ Gespräche heraus. Gesucht und gewünscht wird ein offenes, direktes Gespräch von Mensch zu Mensch. x

Kein „Smalltalk“,

x

kein oberflächliches „nach-dem-Munde-Reden“ und auch

x

keine Beschwichtigungsformeln

sind im Kurzgespräch gefragt. Auch geht es jetzt nicht um ein (ansatzweise) therapeutisches Gespräch oder psychologisierende „Seelenfieselei“3. F.: „Ich brauche einen Menschen, mit dem ich offen reden kann,“ sagt die Frau dem Berater mit fester Stimme frei ins Gesicht, nachdem sie in der C ITYSEELSORGE Platz genommen hat. Der Berater schaut ihr eine kurze Weile ruhig in die Augen: B.: „Reden, frei von aller Verlogenheit –?“ F.: „Ich habe mich, meine Kinder und meinen Mann lange genug belogen. Jetzt will ich Schluss damit machen!“

3 In der niederdeutschen Mundart gebräuchlicher Ausdruck für wichtigtuerisches, aber unprofessionelles psychologisieren.

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B.: „Wie oft haben Sie sich das schon vorgenommen?“ F: beugt sich vor, legt beide Hände flach auf den Tisch, sieht den Berater fest an und sagt dann langsam und betont: „Das ist wahr.“ Dann sackt sie auf den Stuhl zurück, vergräbt ihr Gesicht in ihren Händen, schüttelt den Kopf, hebt den Kopf langsam wieder an, fährt sich mit den gespreizten Fingern durchs Haar und sagt, jetzt etwas weicher und leiser, aber klar: F.: „Ich will da raus: Und ich hoffe, Sie können mir dabei helfen.“4 Die Hoffnung, zum Menschsein zurückzufinden, knüpft sich für diese Frau an die Hoffnung, auf einen Berater zu treffen, der ihr als Mensch begegnet. Hoffnung gehört zur charakteristischen Atmosphäre von Kurzgesprächen. Die ratsuchende Person induziert sie, indem sie meist auf eine konkrete Veränderung ihrer Lebensumstände „hofft“. Die Desillusionierung dieser erhofften wundersamen Veränderungswünsche eröffnet zugleich den Raum, sich positiv mit der Hoffnung zu identifizieren, dass eine andere, eben menschliche Form des Lebens möglich ist.5 Diese Art, auf etwas zu hoffen, was man nicht sieht und doch daran glaubt, hat ihre tiefe Wurzel im Glauben des Jesus von Nazareth; der Apostel Paulus hat das in seinem Brief an die Römer trefflich beschrieben: „Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.“ 6

4 Fortsetzung Kap. 3.3. 5 Vgl. Kap. 4.2. 6 Neues Testament, Römerbrief Kap. 8,24 f.

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2.2 andocken In der Raumfahrt ist das Andocken ein überaus präzises, behutsames Ankoppelungsmanöver. Die Passstellen der Raumstation müssen von der Raumfähre millimetergenau angesteuert und getroffen werden, dann kann die Raumfähre an der Raumstation andocken und der Austausch von Menschen und Material wird möglich. Das Andocken beim Kurzgespräch ist ein ähnlich präzises Ankoppelungsmanöver. Die ratsuchende Person bietet die genauen Passstellen an. Die beratende Person steuert diese, nachdem sie sie erkannt hat, behutsam an und bemüht sich, passgenau anzukoppeln. An der Intensität des dann möglichen Austausches lässt sich die Präzision des Andockens erkennen. Die Passstellen wurden schon im ersten Kapitel über die interaktiven Elemente des Kurzgesprächs beschrieben: – Bleiben im Hier und Jetzt der günstigen Gelegenheit, – Eingehen auf das asymmetrische Beziehungsmuster und – Handhabung des Schlüsselsatzes S ESAM , ÖFFNE DICH !. Für die Methodik der Gesprächsführung im Kurzgespräch gilt zunächst eine einfache Regel: Die ratsuchende Person bietet der beratenden Person die Passstellen mit großer Geduld wiederholt an, so dass die beratende Person immer wieder eine Chance erhält anzukoppeln. Die beratende Person sollte, sobald sie das S ESAM , ÖFFNE DICH ! erfasst hat, diesen Schlüssel mit liebevoller Redundanz als einem Mix aus meist geringer Variation und manchmal penetranter Repetition unbedingt ihre Aufmerksamkeit schenken. Dazu einige Beispiele: Ganz zu Beginn des Kurzgesprächs fällt die Bemerkung: „Es ist alles so schwer.“ Im Verlauf des Gesprächs kehrt das Wort „schwer“ wieder. Etwa bei der vierten Wiederkehr des Wortes „schwer“ bemerkt die beratende Person die redundante Benutzung des – 61–

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Wortes „schwer“. Nun dockt sie an, indem sie die ratsuchende Person mitten im Redefluss des Konfliktkarussells unterbricht: „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbreche. Mir geht Ihr Wort „schwer“ nicht aus dem Kopf. Was bedeutet das für Sie?“ „Sie als Eheberaterin kennen sich doch aus,“ so oder ähnlich der einleitende Satz der ratsuchenden Person. Die Eheberaterin geht darauf nicht ein. Erst als die ratsuchende Person erneut auf die Erfahrung der Eheberaterin anspielt, dockt sie unvermittelt an dieser Passstelle an: „Worin habe ich als Eheberaterin Ihrer Meinung nach mehr Erfahrung als Sie?“ In einer Warteschlange, etwa vor der Theaterkasse, kommt es zu einem Kurzgespräch: „Na, dass ich Sie hier treffe! Ich wollt Sie schon immer mal anrufen wegen unserer Tochter. Die will nicht mehr zum Konfirmandenunterricht zu Ihnen.“ Der Pastor reicht dem Vater die Hand zum Gruß, die linke legt er dem Vater an den Oberarm und schiebt /zieht ihn so ein wenig aus der Warteschlange. Eine weitere aktive Möglichkeit des Andockens erschließt sich der beratenden Person durch folgende Methode: Die beratende Person erkennt zwar die angebotene Passstelle sogleich, kann diese jedoch nicht so schnell nutzen, weil die ratsuchende Person ungebremst in das Konfliktkarussell einsteigt. Nun wartet die beratende Person zunächst ab, legt sich eine für die Passstelle geeignete Formulierung zurecht, und nach wenigen weiteren Sätzen unterbricht sie die ratsuchende Person mit der gebotenen Höflichkeit und steuert die Passstelle unmittelbar an. Mit einem erleichterten (dankbaren) Gesichtsausdruck lässt die ratsuchende Person von ihrem Konfliktkarussell ab und nutzt die sich öffnende „Luke“. Herr K. geht nach der Einladung zum Gespräch forschen Schrittes vom Warteraum der C ITYSEELSORGE in das Besprechungszimmer. Dort rückt er sich energisch den Stuhl zurecht, setzt sich und legt gleich los: – 62–

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K.: „Es ist zum Kotzen! – Entschuldigen Sie bitte, Herr Pastor, das sagt man nicht, aber es ist so. Ich bin es leid. Irgendwann ist das Maß voll! – Also: Ich hab meine Frau geschlagen. Ihr richtig eine geknallt. Ich! Ich, der ich keiner Fliege etwas zuleide tun kann! Es ist absurd. Aber ich habe es getan. Ich bin noch ganz aufgeregt. Es ist passiert, als ich von der Arbeit nach Hause kam, heute so um fünf (jetzt ist es etwa halb sieben). Ich komm zur Haustür rein – wieder dasselbe Chaos auf dem Flur. Ich guck zur Küche rein: Kein Essen, der Abwasch steht rum. Ich komm ins Wohnzimmer: Da sitzt meine Frau vor der Glotze, mit den Kindern, Chipstüte in der Hand, Colaflasche auf dem Tisch. Und was sagt sie mir: ‚Was?! Ist es schon fünf?!‘ grinst mich an: ‚Du kriegst dein Essen schon – reg dich ab!‘ Und peng, da hab ich ihr eine geschallert, auf der Hacke kehrt und weg war ich. Und ich will Ihnen was sagen, Herr Pastor, als ich wieder draußen war, da ging’s mir irgendwie gut. Hab mich gleich wieder ins Auto gesetzt, zurück in die Stadt, runter zur Weser und hab tief Luft geholt. Dann ist mir alles noch mal durch den Kopf gegangen. Sie wissen ja gar nicht, wie oft ich mit meiner Frau schon versucht habe zu reden. Aber gebracht hat das letztlich nichts! Fürs Erste ist sie einsichtig und verspricht, dass sie sich bessern will. Aber irgendwie kann sie das nicht. Es dauert keinen Tag, dann ist sie wieder in ihrem alten Schlendrian. Sie ist eben ein verwöhntes Einzelkind. Ihre Mutter hat ihr alles nachgeräumt, und ihr Vater hat sie vergöttert. Zu Hause brauchte sie nichts zu tun. Sie schwebte wie auf einer Wolke. Als wir uns kennen lernten, das war im ersten Semester in X., das war Liebe auf den ersten Blick. Wir sind eigentlich auch gleich zusammengezogen. Ich hatte ’ne kleine Dachbodenwohnung. Billig und groß genug für uns beide. Sie hatte ein Zimmer in einer WG. Aber da gab es auch schon immer Ärger, weil sie ihren Teil nicht einbrachte und alles liegen ließ. Ich hab ihr alles nachgeräumt. Das hat mir nichts ausgemacht. Und irgendwie fiel das in der kleinen Wohnung auch nicht so auf, das war ja oft nur ein Griff: ’nen Becher wegstellen oder ihre Wäsche in den Korb werfen. Und außerdem war ich total verliebt und wollte sie auch verwöhnen. Später hab ich’s dann oft geschluckt und – 63–

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nichts gesagt. Aber als die Kinder kamen, da wurde es richtig schlimm.“ P.: „Jetzt ist das Maß voll, und Sie möchten mal alles auskotzen –“ K.: „Auskotzen, das ist das richtige Wort!“ P.: „Was wird sein, wenn Sie sich ausgekotzt haben?“ K.: „Dann bin ich stocknüchtern. Und das brauch ich –“ P.: „um –?“ K.: „Ja, um –, um –, na so geht es jedenfalls nicht weiter. Und mit der Ohrfeige ist das alles mit einem Schlag vorbei!“ P.: „Und, – wie geht es weiter?“ K.: „Das weiß ich noch nicht.“7 Gewaltanwendung und Missbrauch sind nicht nur untaugliche, sondern vor allem strikt abzulehnende Konfliktlösungsstrategien. Gerade wenn und weil der Pastor für die moralische Brisanz des Verhaltens dieses Mannes, der seine Frau ohrfeigt, sogleich in hohem Maße sensibilisiert ist, darf er sich in seiner Wahrnehmung für die Möglichkeiten, bei diesem Mann anzudocken, nicht einschränken lassen. Das Anliegen des Mannes ist das Leitmotiv für den Pastor, für das er seine offene, wahrnehmende Grundhaltung aktiviert, ohne sich von seiner ethischen Überzeugung blockieren zu lassen. Die Einsicht des Mannes in sein Fehlverhalten erleichtert es dem Pastor, so offen auf den Mann zuzugehen.8 Ob das Andocken gelingt, entscheidet die Art und Weise, wie behutsam und entschlossen die beratende Person sich diesen Angeboten aktiv nähert. In ihrer Haltung und Bereitschaft, da zu sein, zuzuhören und sich einzugeben, kann die beratende Person deutlich machen, dass sie gewillt ist: x

entschlossen zur Ruhe beizutragen,

x

behutsam Nähe anzubieten,

7 Fortsetzung in Kap. 3.1. 8 Bei Missbrauchsdelikten wie Vergewaltigung oder Inzest sind für mich die Grenzen der offenen Akzeptanz enger gezogen.

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x

dunkle Tiefen zuzulassen,

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einfache (machbare) Lösungen anzustreben und

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auf Großartigkeit zu verzichten.

Dieses aktive Vorgehen im Kurzgespräch steht im Gegensatz zu einer sich selbst zurücknehmenden und die ratsuchende Person mit ihren Empfindungen in den Vordergrund stellenden Gesprächshaltung. Die ratsuchende Person nimmt jedoch diese Aktivitäten der beratenden Person sehr genau wahr und würdigt sie mit einer erhöhten Kooperationsbereitschaft, bisweilen auch mit einem unmittelbaren Feedback am Ende des Gesprächs. Ein Gespräch aus der C ITYSEELSORGE : Eine Frau etwa Anfang bis Mitte vierzig, lässt sich fast auf den Stuhl fallen, schaut sich kurz um und spricht dann mit wässrigen Augen den Pastor an: F.: „Ich bin ganz durcheinander. Ich weiß eigentlich nicht, was ich will …“ Kurze Atempause. P. beugt sich leicht vor, blickt F. weiter in die Augen, doch bevor P. etwas sagen kann, F.: „Vor einem Monat bin ich ausgezogen. Mein Mann –“ bricht ab, senkt den Kopf und beginnt leise in sich hineinzuweinen. P.: Mit ruhiger warmer Stimme, noch ein wenig weiter vorgebeugt: „Was bringt Sie so durcheinander, dass Sie nicht mehr wissen, was Sie wollen?“ F.: hört auf zu weinen, schaut weiter auf ihre Hände im Schoß, scheint nachzudenken. Dann nach einer kleinen Weile schaut sie auf und sagt betont klar (sortiert): F.: „Ich wollte diesen Mann. Unbedingt. Er hat sich meinetwegen scheiden lassen. Aber ich wollte mich nie von einem Mann schlagen lassen!“ P.: „Was Sie eigentlich wollen –“ weiter kommt P nicht, dann fällt F ihm ins Wort F.: „Ich will mich nicht aufgeben!“ wie ein langsam, mit Überlegung gesprochener Glaubenssatz kommt das aus ihrem Munde. – 65–

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P.: „Das ist aber offensichtlich leichter gesagt als getan?“ F.: „Ja, entweder gebe ich mich auf oder meinen Mann.“ P.: „Etwas Drittes gibt es nicht?“ F.: „Die Fußtritte waren das Letzte. Vorher hat er mich schon geohrfeigt und mich oft übel angepöbelt. Tiefer kann ich nicht sacken.“ P.: „Deshalb sind Sie ausgezogen. – Was bringt Sie jetzt durcheinander?“ F.: „Wie man sich so täuschen kann. Ich wollte es einfach nicht wahr haben. Jahrelang geht das schon so. Immer alles mit dem Mantel der Liebe zudecken.“ P.: „Wenn Sie auf den Mantel der Liebe verzichten, was bleibt dann?“ F.: „Eben nichts. – Die nackte Haut.“ P.: „Das ist mehr als nichts.“ F.: „Das ist mein Leben. Und das will ich aus dem Scherbenhaufen retten.“ P.: „Wie wollen Sie das machen?“ F.: „Bislang hab ich gezögert, die Scheidung einzureichen. Der Arzt hat mir alles attestiert. Meine Freundin sagt, ich könnte die Scheidung sofort haben. Sie nannte mir auch eine gute Anwältin. Ich hab nur gezögert, weil ich geglaubt habe, ich darf die Hoffnung nicht aufgeben.“ P.: „Ich will mich nicht aufgeben, haben Sie mir gesagt. Wenn Sie die Hoffnung aufgeben, geben Sie dann sich auf?“ F.: „Das hat mich so durcheinander gebracht. Ich hab mir immer wieder gesagt: Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben! Aber da liegt der Fehler: nicht um jeden Preis. Und der Preis war und ist zu hoch.“ P.: „Welche Hoffnung möchten Sie denn um keinen Preis aufgeben?“ Die Augenfältchen lächeln und ihr Mund schmunzelt. F.: „Ich hoffe, ich habe noch ein paar Jährchen zu leben.“ Nicht alle nonverbalen Signale (noch weniger das Paraverbale) lassen sich in einem Verbatim angemessen wiedergeben. Dennoch lässt auch die schriftliche Wiedergabe des Gesprächs aus der C ITYSEELSORGE Folgendes erkennen: – 66–

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– P. lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern trägt vielmehr aktiv dazu bei, dass F. zur Ruhe kommt und in die Lage versetzt wird, wieder Ordnung in ihr Durcheinander zu bringen; – P. mischt sich ein und kommt ihr nahe, ohne sie zu bedrängen, so dass F. mit P. reden kann wie mit einem befreundeten Menschen; – P. interessiert sich nicht für oberflächliche Details, sondern achtet auf die tief liegenden Beweggründe; – P. zieht den komplexen Problemkreis in einfache Linien aus und prüft, ob die Pläne von F. in ihrer Realität machbar sind; – P. tut nicht so, als kenne er der Weisheit letzten Schluss. Der Wille zu Ruhe, Nähe, Tiefe, Einfachheit und zum Normalen vermittelt der ratsuchenden Person: Die beratende Person will sich auf mich einlassen, mir zuhören, „mir helfen“. Unbewusst spürt sie: Meine Passstellen werden behutsam angesteuert. Und nach dem Andockmanöver wird sogleich die Luke geöffnet. Es ist methodisch hilfreich, seitens der beratenden Person im Kurzgespräch so vorzugehen. Um andocken zu können, nimmt sie sich mit ihren Anschauungen, ihren begründeten Wertvorstellungen, ihren ethischen Grundsätzen zurück, lässt sich durch z. B. „Gewalt“ nicht schocken und auf juristische oder moralische Positionen treiben, sondern bleibt offen für das, was die ratsuchende Person bewegt. Verrücktheiten der Lebensorganisation – wie absurde Ordnungsforderungen oder absonderliche Sexrituale – verleiten dazu, sich abzugrenzen oder spürbar zu distanzieren und so ein Andocken zu verhindern. Im Kurzgespräch zeigen Menschen sich bisweilen schonungslos offen; es bedarf dann der Mobilisierung aller guten Kräfte, um behutsam und gekonnt auf die ratsuchende Person zuzugehen, sie zu „berühren“, das offenbarte „Heikle“ ohne Scheu anzufassen. Menschen haben manchmal Angst, einen Krebs- oder Aidskranken zu berühren: Sie könnten sich anstecken, befürchten – 67–

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sie – zu Unrecht – und berauben sich und den Kranken der heilsamen Erfahrung von Nähe. Eine Infektionsgefahr bei anderen Übeln besteht ebenso wenig, aber das Versäumnis anzudocken hinterlässt schmerzhafte Enttäuschung.

2.3 sich ausdrücken Sich ausdrücken will gelernt sein. Für Menschen in helfenden Berufen gilt in besonderer Weise, dass sie darauf achten, sich verständlich auszudrücken. Zu den Ausdrucksformen des Menschen gehören insbesondere seine verbalen (Wörter), nonverbalen (Körpersprache) und paraverbalen (Stimme) „Botschaften“. Die Wörter, die beim Sprechen gewählt werden, um dem Empfänger eine „Botschaft“ mitzuteilen, sind in der Buchstabenzusammensetzung willkürlich gewählt und erhalten ihre Bedeutung erst durch den gesellschaftlich-kulturellen Traditionskonsens über diese Buchstabenkombination. Dass die Buchstabenkombination t-i-s-c-h verstanden wird als ein Gebilde, das eine Platte und Beine hat, scheint selbstverständlich und ist doch nur dadurch zu verstehen, dass in der deutschen Sprache hierüber eine traditionelle Übereinkunft besteht. Ob der Tisch rund oder eckig, hoch oder niedrig, drei- oder vierbeinig, alt oder neu ist und aus Holz, Metall oder Plastik gefertigt wurde, bleibt offen, solange nicht weitere Wörter zur Spezifizierung des Tisches ausgesprochen werden. Mit der Buchstabenkombination f-r-i-e-d-e-n oder l-i-e-b-e meinen Menschen, sich klar ausgedrückt zu haben, und provozieren dennoch bisweilen schwere Missverständnisse. Zu dem gesellschaftlichen konsensuellen Verständnis eines Wortes (Oberflächenstruktur) tritt die persönliche Erfahrung mit dem Begriff (Tiefenstruktur). Um wirklich zu begreifen, was mit dieser verbalen Botschaft ausgedrückt werden soll, bedarf es eines tieferen Verständnisses der Gefühle und Bewertungen, die mit den Wortgebilden von der sprechenden Person verbunden werden. Bemerkenswert dabei ist, – 68–

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dass jeder Mensch in seiner Ausdrucksweise bei der Auswahl von Verben, Adjektiven und Nomen Präferenzen setzt: Entweder werden Begriffe bevorzugt aus dem Bereich x

des Sehens und Schauens (visuelle Repräsentationsebene); oder

x

des Hörens und Lautens (auditive Repräsentationsebene); oder

x

der Bewegung und des Empfindens (kinästhetische Repräsentationsebene); oder

x

des Riechens und Schmeckens (olfaktorische Repräsentationsebene).9

Die verbale Verständigung ist eher gewährleistet, wenn die gleiche Repräsentationsebene unter den Gesprächsteilnehmern gewahrt bleibt. Die Körpersprache kann und soll die verbale Botschaft verständlicher machen: das strahlende Gesicht (Mimik), die weit geöffneten Arme (Gestik) und das fröhliche Herumhüpfen (Körperhaltung) einer Person verstärken die Botschaft: „Ich freue mich!“ und erleichtern mir zu begreifen, wie ausgelassen fröhlich dieser Mensch ist. Das Empfinden der f-r-e-u-d-e wird umgeformt in einen Körperausdruck, der in unseren Breiten auch ohne die verbale Botschaft eindeutig decodiert werden kann. Diese nonverbalen Kommunikationsformen bedürfen keines konsensuellen Prozesses, sie werden uns – in der Wiege liegend – vorgemacht und wachsen bzw. verkümmern mit dem fortschreitenden Leben. Lediglich im Bereich der Gestik und Körperhaltung sind in unterschiedlichen Kulturkreisen anerzogene Unterschiede wahrnehmbar. Das d-a-n-k-e wird z. B. in Indien mit einer anderen Körperhaltung und Gestik unterstützt als bei uns. 9 Vgl. dazu Richard Bandler/John Grinder, Metasprache.

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Die Stimme gehört unverwechselbar zu einem Menschen und auch seine Fähigkeit, die Stimme zu heben oder zu senken, laut oder leise zu reden, sie zittern zu lassen oder zu grölen, sanft oder hart, bestimmt oder verwaschen zu sprechen. Mit unserer Stimme stellen wir Vertrautheit her oder schaffen Distanz; mit ihr signalisieren wir Interesse oder Gleichgültigkeit. Diese paraverbalen Fähigkeiten können logopädisch trainiert werden. Schauspielende Menschen werden wegen ihrer paraverbalen Bandbreite bewundert: Klang, Volumen, Vibration und Intensität wechseln in wenigen Sekunden und unterstreichen die verbal verdichtete Botschaft. Diese drei Modalitäten (Wörter, Körpersprache, Stimme – verbaler, nonverbaler, paraverbaler Ausdruck) stehen dem Menschen zur Verfügung, wenn er sich so ausdrücken möchte, dass er von seinem Gegenüber verstanden wird. Je größer die Kongruenz von verbalem, non- und paraverbalem Ausdruck ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es nicht zu Missverständnissen kommt: Strahlen, Arme ausbreiten, hüpfen und eine helle Stimme decken die Botschaft: „Ich freue mich!“ Diskongruenzen innerhalb dieser Modalitäten erfordern Erklärungen oder provozieren Deutungen. Sagt mir ein Mensch mit leiser Stimme (den Blick zum Boden gerichtet) und herabhängenden Schultern: „Ich freue mich!“, stimmt irgendetwas nicht. So ist die Botschaft von mir nicht eindeutig zu entschlüsseln, denn die Körpersprache widerspricht der verbalen Äußerung. Mit „Botschaft“ wird das bezeichnet, was die ratsuchende Person der beratenden Person mitteilen will, und ebenso das, was die beratende Person „sagen“ möchte. Doch das, was „drinnen“ empfunden und gedacht wird, bedarf einer „Übersetzung“ in einen verbalen, nonverbalen und paraverbalen Ausdruck, um als Botschaft gesendet werden zu können. Dieser Übersetzungsakt ist grundsätzlich unvollkommen und meist auch mehr oder minder fehlerhaft.

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Es bedarf einer dreifachen Konzentration bei der beratenden Person, wenn sie in einem Kurzgespräch die Missverständnisse möglichst minimieren und das Verstehen maximieren will: x

Auf die Unstimmigkeiten und Unvollkommenheiten der Botschaft der ratsuchenden Person achten,

x

sich selber möglichst stimmig und vollständig ausdrücken, also klar und innerhalb der drei Ausdrucksmöglichkeiten kongruent und

x

die verbale Repräsentationsebene der ratsuchenden Person „benutzen“.

Das hört sich komplizierter an, als es in Wirklichkeit ist. Die ratsuchende Person „sendet“ zunächst eine meist unvollständige Botschaft. Nimmt die beratende Person diese möglichst (wort-)wörtlich auf und fragt in der Sprache der ratsuchenden Person nach dem Fehlenden, sind beide bereits auf dem Weg, sich besser zu verstehen und unnötiges Missverstehen zu vermeiden. Einige Veranschaulichungen aus den bisherigen Beispielen: „Sie will mich auf Abstand halten.“ – „Wie nah dürfen Sie Ihrer Tochter kommen, ohne dass sie Sie auf Abstand hält?“ „Das weiß ich eben nicht“ antwortet die Frau an der Kirchentür10 zunächst, um sich dann ihre Schritte der Annäherung an ihre Tochter zu vergegenwärtigen. „Ich habe mich, meine Kinder und meinen Mann lange genug belogen. Jetzt will ich Schluss machen!“ „Wie oft haben Sie sich das mit dem ‚Schluss machen‘ schon vorgenommen?“11

10 Vgl. die Einführung in das Kurzgespräch. 11 Vgl. Kap. 2.1.

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Die Frau beugt sich vor, legt beide Hände flach auf den Tisch, sieht den Berater fest an und sagt dann langsam und betont: „Das ist wahr.“ „Jetzt Schluss machen“ – was heißt das im Fall dieser Frau konkret? Die Frage des Beraters bringt die Frau dazu, sich zu offenbaren. „Ich möchte nur kurz Ihre Meinung.“12 Nach einer Zwischenrunde fragt die Krankenhauspastorin: „Wozu genau brauchen Sie meine Meinung?“ und setzt damit einen Prozess in Gang, der die Krankenschwester auf die Spur zu ihrem Status, ihren Zielen und ihren Möglichkeiten bringt. Im Kurzgespräch werden von den ratsuchenden Personen Kürzel („auf Abstand halten“, „Schluss machen“, „Ihre Meinung“) verwendet, die beiläufig scheinbar Selbstverständliches ausdrücken, das nicht hinterfragt zu werden braucht. Diese Kürzel aufzunehmen und sie zu „knacken“, ist die Aufgabe der beratenden Person. Und es ist selten eine „taube Nuss“ dabei, denn: Die ratsuchende Person – akzeptiert diese Form als Hilfe, sich auszudrücken; – wird nachdenklich hinsichtlich ihrer Wirklichkeit; – korrigiert selbstständig ihre Scheinwahrheiten und -wirklichkeiten; – wird motiviert, selber zu arbeiten. Und die beratende Person – drückt aus, dass sie ernsthaft dabei ist; – interagiert auf derselben Ebene wie die Ratsuchende (kein Gurugehabe); – überanstrengt sich nicht (es bleibt beim Gespräch, keine psychologisch-therapeutischen Theorien); – verhilft zu verständlicher Kommunikation (keine pastoralen Worthülsen, kein „Psychojargon“). 12 Vgl. Kap. 2.6.

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Jede ratsuchende Person spricht ihre Sprache. M ARTIN L UTHER folgend sollte die beratende Person der ratsuchenden aufs Maul schauen und deren Sprache aufnehmen. So bewahren sich beide davor, abzuheben und auf einer Metaebene „über“ das Problem oder „über“ beteiligte Personen zu reden. In ein solches Gespräch fließen über kurz oder lang Sprachbegriffe der beratenden Person ein, die dieser aus ihrer „Theorie und Praxis“ geläufig sind. Manche ratsuchenden Personen haben im Laufe der verschiedenen Kontakte mit der Psychoszene eine Fülle von Worthülsen verinnerlicht und zur perfekten Sekundärsprache entwickelt. Die ratsuchende Person soll x

von allgemeinen Formulierungen (Floskeln) zu den für sie besonderen eigenen Ausdrücken finden;

x

unvollständige Sätze und Bezugsrahmen sinnerhellend ergänzen;

x

von verhärteten Sachbegriffen wieder zu begreifbaren Lebensabläufen zurückkehren.

Deshalb kommt der beratenden Person (sicherlich nicht nur) im Kurzgespräch ein besonderes Wächteramt zu. Dazu ein Beispiel: „Sie schickt der Himmel!“ Das ist so eine dahingeworfene Floskel, könnte man meinen. Außerdem ist der Bezugsrahmen unvollständig, denn wer schickt von welchem Himmel zu wem auf welcher Ebene? Und was bedeutet schon der Sachbegriff „Himmel“? Die beratende Person kann diese Floskel aufnehmen und darauf achten, dass das Verstehen vertieft wird, z.B.: P.: „Welche himmlische Mission soll ich bei Ihnen erfüllen?“ F.: „Ach, ich stecke in einer unmöglichen Situation. Und ich glaube, keiner kann mir da helfen.“ – 73–

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P.: „Es sei denn, der Himmel?“ F.: „Ja, ein Wunder müsste geschehen.“ P.: „Mit einem himmlischen Wunder würde was in Ihrer Situation wieder möglich werden?“ F.: „Dass ich mit meinem Mann wieder reden kann. Aber seit er diese andere Frau kennen gelernt hat, machen wir uns nur noch Vorwürfe, zanken und schreien – auch vor den Kindern.“ P.: „Was müsste denn dieses himmlische Wunder verändern?“ F.: „Am Liebsten natürlich, dass sich diese Frau in Luft auflöst. Aber das ist Quatsch. Denn auch dann wäre bei uns nicht alles wieder in Ordnung, so wie früher.“ P.: „Also, was müsste dieses himmlische Wunder verändern?“ F.: „Ach, mit einem Wunder ist es nicht getan –“ P.: „Ich sag’s mal etwas anders: Was wäre denn wunderbar?“ F.: „Ja, wunderbar wäre, ich weiß aber nicht, ob er dazu bereit ist, ich wünsch mir, dass wir – mein Mann und ich – uns mal in Ruhe aussprechen.“ P.: „Was meinen Sie genau damit: in Ruhe aussprechen?“ F.: „Ich bin mit Vielem unzufrieden, und ich glaube, er auch. Aber ausgesprochen haben wir das nicht, das ist mein Gefühl. Das hat angefangen, als ich zum dritten Mal schwanger wurde. Er wollte das nicht, hat mir aber die Entscheidung überlassen. Ich habe das Kind bekommen, aber da ist irgendwie der Faden zwischen uns gerissen.“ P.: „Das liegt offenbar viel weiter zurück als die Geschichte mit dieser Frau?“ F.: „Ja, ja, die hat damit gar nichts zu tun.“ P.: „Wie könnten Sie herausbekommen, ob Ihr Mann zu einer Aussprache über den gerissenen Faden bereit ist?“ F.: „Könnten Sie ihn nicht mal fragen, Herr P.?“ P.: „Was ist anders, wenn ich ihn frage, als wenn Sie ihn fragen?“ F.: „Sie sind irgendwie neutral als Pastor. Mein Mann schätzt Sie, auch wenn er nur selten zum Gottesdienst geht. Und wenn wir uns bei Ihnen treffen könnten, wäre das auch ein neutraler Ort.“ P.: „Neutral bedeutet, dass ich auf keiner der beiden Seiten stehe. Wenn ich Ihren Mann anspreche, komme ich von Ihrer Seite. Wie könnten Sie Ihren Mann dazu bewegen, zu einer Aussprache über den gerissenen Faden zu mir zu kommen?“ – 74–

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Pause F.: Wenn ich ihm sage, dass ich nicht über die Frau mit ihm bei Ihnen reden möchte, sondern über den Faden, der zwischen uns gerissen ist, wird er – glaub ich – kommen. P.: „Gut, sprechen Sie Ihren Mann an, ob er zu einem Gespräch über den zwischen Ihnen gerissenen Faden bei mir und mit mir bereit ist. Wenn ja, rufen sie mich bitte beide gemeinsam an, um einen Termin zu verabreden. F.: Danke. Vielleicht geschieht ja ein Wunder.“ Es ist methodisch hilfreich, seitens der beratenden Person auf das „Sichausdrücken“ zu achten. Die ratsuchende Person wird reden, wie ihr „der Schnabel gewachsen“ ist. Die beratende Person wird auf diese Äußerungen sorgsam zu achten haben, da sie in ihrer Auswahl, in ihren Fehlstellen, Verallgemeinerungen und Kürzeln „Botschaften“ für den Empfänger vermitteln, die nur „richtig verstanden“ sein wollen. Außerdem wird die beratende Person ihr eigenes Encoding genau bedenken, konzentriert auf ihre Wortwahl achten und ihr non- und paraverbales Instrumentarium bewusst einsetzen. Je überlegter und zugleich sparsamer sich die beratende Person äußert, desto „kürzer“ wird das Kurzgespräch; denn manche unbedachte Äußerung verführt die ratsuchende Person in ausschweifendes Kreiseln.

2.4 sich erkundigen Die Fragetechnik des „Sicherkundigens“ ist der Mäeutik 13 des S OKRATES entlehnt. Dabei wird das für selbstverständlich Gehaltene infrage gestellt, Scheinwissen durch Hinterfragen entlarvt und im Dialog ein Weg zu klarer (Selbst-) Erkenntnis gesucht. In seiner philosophischen Schule praktizierte S OKRATES diese Fragekunst, um so seinem Gegenüber zu Wissen und eindeutigen Begriffen zu verhelfen und zu dem Eingeständnis: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Je weiter meine Erfahrun13 Aus dem Griechischen = Hebammenkunst.

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gen im Kurzgespräch fortgeschritten sind, desto deutlicher wurde mir, dass die mäeutische Fragekunst einen hilfreichen Dialog im Kurzgespräch (mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten) initiiert. Der mäeutische Ansatz ist dabei ein gutes Lehrstück für die beratende Person. Denn durch diese Fragetechnik empfängt sie Botschaften im Code der ratsuchenden Person und überwölbt diese nicht mit ihrer eigenen Begrifflichkeit. Mäeutisches Fragen im Kurzgespräch zielt nicht auf die Erhebung von Fakten und Zusammenhängen für die Erstellung einer Diagnose, die für ein therapeutisches Handeln unerlässlich ist. Diagnostizieren im Kurzgespräch gerät leicht zur „Kurpfuscherei“, da weder ein angemessenes zeitliches noch ein räumliches Setting gegeben ist. Dagegen eröffnet ein bewusstes interagierendes Verhalten, das sich nicht an dem diagnostischen Weltbild der beratenden Person, sondern an den augenblicklichen Äußerungen der ratsuchenden Person orientiert, eine prozesshafte Entwicklung, die nicht von einer „Diagnose“ beherrscht wird, sondern deren Herr oder Herrin die ratsuchende Person bleibt. Zunächst eine Zusammenstellung der Strukturen dieser Fragetechnik. Entscheidende Voraussetzung für ein gekonntes mäeutisches Vorgehen ist die innere Haltung der beratenden Person: Ich bin Geburtshelfer. Die Aufgabe ist es, durch gezieltes Eingreifen, eine „Geburt“ bei der ratsuchenden Person zu ermöglichen. Womit die ratsuchende Person schwanger geht, ist dabei unklar: – Ob es eine normale oder komplizierte Geburt wird, – ob mit einem „Mädchen“ oder „Jungen“ oder einer „Mehrlingsgeburt“; – ob mit einem „gesunden oder fehlgebildeten Embryo“, – ob neues Leben wird, oder Mutter und Kind nicht überlebensfähig sind. Die gekonnte Anwendung geburtshelferischer Techniken ist gefragt. Die mäeutische Fragetechnik hat eine der ratsu– 76–

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chenden Person dienende Funktion; sie soll dazu eingesetzt werden, dass die ratsuchende Person zu dem kommt, was in ihr steckt (und nicht, um der beratenden Person eine Diagnose zu ermöglichen). Was dabei herauskommt, soll der ratsuchenden Person zu einer funktionalen Selbstorganisation verhelfen. Ich bin unkundig und will mich kundig machen. Die ratsuchende Person weiß und kann mehr als ich; ich weiß nichts über ihre Nöte, nichts über ihre Fähigkeiten, nichts über ihre Behinderungen. Ich weiß nicht einmal, wozu sie mich braucht. Das „Ver-rückte“ dabei ist, dass die ratsuchende Person die beratende als kompetenter und kundiger annimmt, andernfalls würde sie sich nicht an gerade sie gewandt haben. So erwecken die Erkundungsfragen einerseits bei der ratsuchenden Person den Anschein, als würden sie aus der Kompetenz und dem Wissen der beratenden Person heraus zu einem bestimmten Zweck gestellt, sie sind jedoch andererseits ausschließlich an der unpräzisen Äußerung der ratsuchenden Person orientiert (verlaufen also nicht nach einem anamnestischen „Plan“). Ich will keine Problemanalyse. Grundsätzlich gilt es zu vermeiden, dass sich die Interaktionen darauf konzentrieren, die für das Verstehens- und Deutemuster der beratenden Person notwendigen Informationen auszutauschen. Mit dieser Art zu kommunizieren wird beabsichtigt, eine Diagnose zu erstellen und daraus folgend ein therapeutisches Vorgehen zu entwerfen. Damit wird das Kurzgespräch zu einem übel verkürzten Therapie- oder Beratungsgespräch umfunktioniert. Ratsuchende sind dabei unbewusst fleißige Helfer; denn sie ahnen mit einem siebten Sinn, was die beratende Person „braucht“, um als therapeutische Beraterin kompetent wirken zu können. Im Kurzgespräch werden keine Probleme analysiert, sondern nach einem ersten machbaren Schritt aus dem Dilemma, in dem die ratsuchende Person meint festzusitzen, gesucht: Sie definiert das Problem, das ihr zu schaffen macht, der beratenden Person obliegt es „ledig– 77–

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lich“, die vorgelegte Definition auf ihre Stringenz hin zu erkunden. Ich meine es gut. Sich erkundigen setzt ein wohlwollendes Interesse am Leben des Gegenübers voraus. Wer sich nach der Gesundheit, dem Fortgang der Arbeit, der Familie oder dem Lebensgefühl eines anderen Menschen erkundigt, zeigt diesem sein Mitgefühl und in dieser Zuwendung, dass sein Gegenüber ihm ernsthaft wichtig ist. Die ratsuchende Person wird, wenn sich die beratende Person bei ihr erkundigt, sehr genau spüren, wie ernst sie genommen wird oder ob sie nur ausgefragt wird. Werden die mäeutischen Fragen „richtig“ gestellt, spürt die ratsuchende Person sehr bald, dass die „Beantwortung“ für sie mit Arbeit verbunden ist, die ihre Selbsterkenntnis vertieft und ihre selbstschaffenden Kräfte stärkt. Neben diesen Grundstrukturen lassen sich folgende methodische Anregungen zur mäeutischen Fragetechnik geben: Mit W-Fragen Differenzen erkunden oder kreieren. Zur Erläuterung ein simpel konstruiertes Beispiel: „Ich habe Probleme …“ gesenkter Kopf, schlaffe Körperhaltung, leise Stimme. – „Welche Probleme genau?“ Aufforderung, selber aktiv zu definieren. – „Womit haben Sie Probleme?“ Aufforderung, Bezüge herzustellen. – „Woher wissen Sie, dass Sie Probleme haben?“ Aufforderung, sich zu hinterfragen. – „Wie merken Sie Ihre Probleme?“ Aufforderung, alle Sinneswahrnehmungen ernst zu nehmen. – „Was machen die Probleme mit Ihnen?“ Aufforderung, aus dem Statischen ins Dynamische zu wechseln. – 78–

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Die hier konstruierte Reihe von W-Fragen verdeutlicht, wie die ratsuchende Person angeregt werden kann, sich zu differenzieren, dabei selber mehr Klarheit zu gewinnen und gleichzeitig die beratende Person kundig zu machen. Auch die „wieso/weshalb/warum“-Fragen fangen mit „W“ an. Diese drei W-Fragen sollten strikte gemieden werden. Denn sie laden die ratsuchende Person nicht zum kreativen Differenzieren ein, sondern entlocken ihr meist ein vielfach durchdachtes und auch durchgekautes Rechtfertigungsgebäude und festgezurrte Begründungszusammenhänge. Deshalb: Keine „wieso/weshalb/warum“-Fragen stellen. Dieser Ansatz lädt dazu ein, rückwärts gewandt an der nicht veränderbaren Vergangenheit herumzutüfteln. Angenommen, die Antwort der ratsuchenden Person auf eine der obigen „W-Fragen lautet: „Ich glaube, mein Mann liebt mich nicht mehr.“, dann lassen sich weitere W-Frage anschließen: – – – – –

„Woran merken Sie, dass Ihr Mann Sie nicht mehr liebt?“ „Womit bestärkt er Ihren Glauben?“ „Wozu brauchen Sie die Liebe Ihres Mannes?“ „Wann spüren Sie die fehlende Liebe Ihres Mannes?“ „Wie ist dieser Glaube in Ihnen entstanden?“

Keine dieser W-Fragen ist die einzig mögliche oder richtige. Fingerspitzengefühl (wie bei der Geburtshilfe) und eine positive Identifikation mit der ratsuchenden Person steuern die angemessene Wortwahl und den treffenden Tonfall der beratenden Person. Aus den bisherigen Gesprächsprotokollen zitiere ich einige mäeutische Fragen, mit denen ich zumindest die angemessene Wortwahl veranschaulichen kann, der (schriftlich nicht wiedergebbare) Tonfall gehört aber dazu. – 79–

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In dem beispielhaften Kurzgespräch, das an der Kirchentür stattfand,14 geben vier „W-Fragen der ratsuchenden Person die Anregungen, sich auf die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten zu besinnen: – „Was möchten Sie mit meiner Hilfe verstehen lernen, Frau W.?“ – „Wie nah dürfen Sie Ihrer Tochter kommen, ohne dass sie Sie auf Abstand hält?“ – „Wozu haben Sie ihr das Wissen verschwiegen?“ – „Wie halten Sie denn jetzt Kontakt miteinander?“ Daraufhin entfaltet Frau W. jeweils ihr „Wissen“ über ihre differenzierte Wahrnehmung der Beziehung zu ihrer Tochter und entdeckt eine Handlungsalternative als „ihre“ Lösung. Bei der Zufallsbegegnung 15 mit einer Frau gelingt es dem Pastor mithilfe seiner mäeutischen Fragen, dass die ratsuchende Frau sich ihrer himmlischen Fantasien entledigt und der Realität klar ins Auge schaut: – – – –

„Welche himmlische Mission soll ich bei Ihnen erfüllen?“ „Was müsste dieses Wunder verändern?“ „Was meinen Sie genau damit: in Ruhe aussprechen?“ „Wie könnten Sie herausbekommen, ob Ihr Mann zu einer Aussprache über den gerissenen Faden bereit ist?“

Die Krankenhauspastorin16 wird als kompetente Autorität von der Schwester um Weisung gebeten, da sie sich unsicher fühlt und befürchtet, sie könne einen Fehler machen. Beharrlich und zunächst fordernd, dann jedoch zunehmend behutsam hilft die Krankenhauspastorin mit ihren mäeutischen Fragen der Schwester, das zur Welt zu bringen, womit sie „schwanger geht“: – „Wie kommen Sie denn auf die Idee?“ – „Wozu brauchen Sie meine Meinung?“ 14 Vgl. die Einführung in das Kurzgespräch. 15 Vgl. Kap. 2.3. 16 Vgl. Kap. 1.4.

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– „Was hindert Sie daran, das auszuprobieren?“ – „Wie können Sie damit fertig werden?“ Mit mäeutischem Fragen will die beratende Person kein Faktenwissen ansammeln, sondern die ratsuchende Person anleiten, ihre Erfahrungen, Erkenntnisse und Erlebnisse so zu verknüpfen, dass sie von sich aus entdeckt, wie es für sie weitergehen könnte. Manchmal spürt die ratsuchende Person unbewusst, dass dieses mäeutische Vorgehen sie von ihrer „Geschichte“ abbringt, sie zu neuen, anderen Überlegungen und Verknüpfungen „nötigt“ und ihr „eigenes Arbeiten“ abverlangt. Wiederum unbewusst wehrt sie sich dagegen, indem sie die Frage der beratenden Person „übergeht“ und einfach weitermacht in „ihrer“ Geschichte. Wer anfänglich mit guter Miene dieses „böse Spiel“ mitmacht und sich in die „Geschichte“ verwickeln lässt, kann die Entdeckung machen, dass eine liebevolle, im Tonfall aber bestimmte, wortwörtliche Wiederholung der W-Frage meist schon beim ersten, gewiss aber beim dritten Mal den gewünschten Erfolg zeitigt: Die ratsuchende Person kehrt zur Arbeit zurück. Nicht immer setzt die beratende Person mit der Wortwahl oder der Richtung ihrer mäeutischen Frage richtig an. Die ratsuchende Person stutzt und reagiert leicht verwirrt: „Was möchten Sie Ihrer Frau mal ungeschminkt ins Gesicht sagen?“ fragt die beratende Person den Mann, der sich in der Cityseelsorge zum ersten Mal traut, über sein Leiden unter seiner dominanten Frau zu sprechen. M. schaut den Cityseelsorger mit großen Augen an und zieht die Stirn in Runzeln, bringt jedoch kein Wort hervor. P.: „In Ihrem Innern haben Sie viele Sätze gegen Ihre Frau gesprochen und dann unausgesprochen abgelegt. Welchen Vorwurf möchten Sie mir anvertrauen?“ Daraufhin erzählt der Mann von einem immer wiederkehrenden Satz: M.: „Lass mich doch mal ausreden!“

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Es gibt eine Falle, in die die beratende Person beim „Sicherkundigen“ tappen kann: die einfühlend gemeinte Kommentierung der verbalen, non- und paraverbalen Äußerungen der ratsuchenden Person. Eine Intervention wie: „Sie wirken sehr bedrückt.“ dient der Bestätigung der Gefühlslage der ratsuchenden Person und sucht deren Zustimmung. Dieses mag in einem anderen therapeutischen Zusammenhang gewollt und notwendig sein, führt im Kurzgespräch jedoch in eine emotionale Abhängigkeit, deren Verarbeitung in diesem Setting nicht möglich ist. Deshalb: Keine Bestätigung eigener Eindrücke, Einschätzungen, Empfindungen „einfordern“. Dadurch wird die ratsuchende Person auf „schwarz“ oder „weiß“ festgelegt oder muss der beratenden Person das Gegenteil beweisen. Es ist methodisch hilfreich, sich im Kurzgespräch zu erkundigen. Dieser Erkundungstrip soll für die ratsuchende Person (nicht für die beratende) etwas hervorbringen, das vergleichbar ist dem neugeborenen Menschen bei der Entbindung. Wie die Hebamme die Gebärende bei der Wehentätigkeit des Geburtsvorganges mit wiederkehrenden liebevoll fordernden Ermunterungen und Aufforderungen assistiert, so ist die beratende Person eingeladen, mit beharrlicher Repetition und fantasiereicher Variation die Ratsuchende auf dem Weg aus der Sackgasse zu begleiten. Diese Form von gekonnter Redundanz stärkt das Vertrauen der ratsuchenden Person in sich selbst.

2.5 verstören Wer versucht hat, TANGRAM-Figuren zu legen, weiß, wie wichtig es für die Lösung einer Spielaufgabe ist, die einzelnen Puzzleteile nochmals zu „verstören“, um zu neuen Lösungsansätzen zu kommen, auch wenn man meint, der bisherige Lösungsweg sei der einzig mögliche und richtige gewesen. – 82–

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Die ratsuchende Person entfaltet der beratenden Person meist in komplexer Weitschweifigkeit, was alles bei der Lösung des anstehenden Problems bedacht werden muss und wie dabei vorzugehen sei. Dieses lösungsstrategische Denken der ratsuchenden Person führt jedoch zwangsläufig in Sackgassen. Das Mittel der „Verstörung“ ist ein geeignetes Werkzeug, die einzelnen „Bauteile“ des Konfliktkarussells durcheinander zu bringen und so der gewissermaßen konsternierten ratsuchenden Person einen Impuls zu geben, diese neu auf eine andere Lösung hin zu sortieren. Ein Student kommt in die Sprechstunde des Pastors. Er setzt sich (wider Erwarten) so, dass er nicht zum Fenster hinaussehen kann, sondern nur den Pastor im Blickfeld hat. St.: „Es ist nichts Schlimmes“, sagt er lächelnd. Dann, nach kurzer Pause: „Ich muss mich nur mal besinnen.“ P.: „Worauf müssen Sie sich besinnen?“ St.: „Ich habe mich im letzten Oktober zum Staatsexamen gemeldet und bin jetzt (August) fertig. Noch habe ich meinen HiwiJob und ab dem Wintersemester die Zusage eines Promotionsstipendiums.“ P.: „Was daran ist schlimm?“ (das Weglassen des „nichts“ verstört das Puzzleteil „schlimm“) St.: „Schlimm ist, dass ich nicht weiß, was ich will.“ P.: „Dieses ‚ich weiß nicht, was ich will‘ – was ist schlimm daran?“ St.: „Ich weiß genau, was ich will, nur das passt nicht zueinander!“ P.: „Wie soll was zueinander passen?“ St.: „Ich lebe in zwei Welten: hier die intellektuelle in der Uni und dort meine kleine heile Welt mit meiner Freundin. Die arbeitet als Physiotherapeutin. Und beide Welten halte ich fein säuberlich auseinander: Meine Kolleginnen und Kollegen an der Uni wissen nichts von meiner Freundin, die halten mich für’n Single. Da hab ich noch nie erwähnt, dass ich mit einer Freundin zusammenlebe. Das wage ich nicht. Ich denke, dann bin ich nicht mehr so interessant für die. Und meine Freundin passt nicht in diesen intellektuellen Kreis.“ – 83–

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P.: „Was nötigt Sie, diese beiden Welten passig zu machen?“ St.: „Meine Freundin will, dass wir heiraten und ein Kind haben – nun, wo ich mein Examen bestanden habe. Komischerweise möchte ich das irgendwie auch. Ich brauche diese bürgerliche Welt; sie gibt mir den Halt, sonst würde ich abdrehen, mich total in eine vergeistigte Welt versteigen.“ P.: „‚Es ist nichts Schlimmes‘, sagten Sie.“ (wieder beabsichtigte „Rück-Verstörung“) St.: „Eigentlich ja nicht, aber ich befürchte Schlimmes.“ P.: „Was denn?“ St.: „Entweder Uni oder meine Freundin –“ P.: „Oder Sie haben den Mut, etwas anderes, etwas Neues zu wagen. Vielleicht ist es nichts Schlimmes?“ sagt der Pastor und lächelt den Studenten an. Dieser erwidert das Lächeln, öffnet die bis dahin zusammengelegten Hände, dreht sie nach außen und sinniert mehr für sich: St.: „Komisch, was ist daran wirklich schlimm? Ich hab es einfach noch nie gewagt. Ich weiß ja gar nicht, wie die wirklich reagieren. Für meine Freundin und mich war es bisher überhaupt nicht schlimm, dass ich in der Uni meine eigene Welt hatte. Und wie der Arbeitskreis das aufnimmt, werd’ ich ja sehen. Das Privatleben spielt da ja eigentlich keine Rolle.“ P.: „Was spielt denn eine Rolle?“ St.: „Hauptsächlich mein Ehrgeiz und mein Stolz. Und der Stolz meiner Eltern auf ihren akademisch gebildeten Sohn. Alles Erziehung. Und das geht soweit, dass ich meine, dem Uni-Arbeitskreis eine Akademikerin als Freundin präsentieren zu müssen. Und nur von daher schäme ich mich, zu meiner Freundin zu stehen. Im Grunde ist das wirklich schlimm.“ P.: „Wissen Sie jetzt, was Sie wollen?“ St.: „Ich weiß jetzt erst mal, womit ich mich wirklich auseinandersetzen muss.“ Wie das Gespräch dann weiterging, wird im folgenden Abschnitt „Ziele formen“ (2.8) wiedergegeben. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Methode der Verstörung wird veranschaulicht:

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– Die „verkehrte Benutzung“ der ersten Bemerkung der ratsuchenden Person („Es ist nichts Schlimmes.“) als S ESAM , ÖFFNE DICH ! ist ein hilfreiches Instrument, um die ratsuchende Person zu verstören und zu nötigen, neue Ordnung zu schaffen; – die beratende Person fährt möglichst oft dazwischen und stört, um die ratsuchende Person davor zu bewahren, ihr Gedankenkarussell einfach abzuspulen; – einfache Verstehensfragen fordern die ratsuchende Person auf, ihre Gedanken zu sortieren. Die Systematik des bisherigen lösungsstrategischen Denkens der ratsuchenden Person wird so gestört, dass diese – vielleicht konsterniert oder auch irritiert – innehält, zugleich aber in sich den Impuls verspürt, die Bausteine des scheinbar fixierten Gedankengebäudes neu zu sortieren, um so zu einem ganz anderen Gebilde zu gelangen. Besonders bei generalisierenden (Vor-)Urteilen, Meinungen und Behauptungen ist diese Vorgehensweise hilfreich. Ein Beispiel zur Veranschaulichung: „Mein Mann trinkt.“ „Was trinkt Ihr Mann?“ „Wein“ „Zwei oder drei Flaschen am Abend?“ „Nein, soviel nun auch nicht. Aber jeden Abend sein Gläschen.“ „Was stört Sie daran?“ „Wenn er sich ins Bett legt, schläft er gleich ein und schnarcht.“ „Und?“ „Ich glaube, mein Mann hat kein Interesse mehr an mir.“ Die genaue Erkundung des Getränks und die (maßlose) Übertreibung bringen die Frau auf den Boden der Realität hinsichtlich des Abusus und ordnen den Zugang zur eigentlichen Anfrage. Jede überziehende Übertreibung verstört. Die ratsuchende Person wird ihre unpräzise pauschalierende Mengenangabe – 85–

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realistisch korrigieren. Zugleich aber bricht damit die einmal gebildete Meinung (Vorurteil) und die daraus abgeleitete „Welt-Sicht“ in sich zusammen und der Kopf wird frei für das Wesentliche. Zeitangaben wie „nie“ und „immer“ gehören ebenso dazu wie die Platzhalter „alles“ und „nichts“. Zwei kleine Veranschaulichungen: A.: „Noch nie bin ich auf die Idee gekommen …“ P.: „So etwas zu denken ist Ihren grauen Zellen strikt untersagt!“ A.: „Nein, natürlich nicht. Ich steck’ da in einem Rollenmuster …“ Oder: M.: „Alles bleibt an mir hängen!“ B.: „Es gibt also überhaupt nichts, was Ihr Mann/ihre Frau tut?“ M.: „Nein, so mein ich das nicht. Ich möchte gern, dass …“ Die kategorische Verschärfung der Verneinung (im ersten Beispiel) und die bewusst übertriebene Verstärkung der Generalisierung (im zweiten) lösen das T ANGRAM -Puzzle in seine Bestandteile auf und bieten damit die Gelegenheit, x

die Einzelteile für sich genau zu betrachten und

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diese in eine neue Ordnung zu bringen.

Ein anderer Ansatz, die ratsuchende Person zu verstören, bietet sich der beratenden Person in der Erkundung der Ausnahme vom beklagten Regelfall. „Mein Mann trinkt.“ „Gibt (Gab) es irgendeine Zeit, wo er nicht trinkt (getrunken hat)?“ Oder: „Noch nie bin ich auf die Idee gekommen …“ „Vielleicht gibt’s eine Ausnahme?“ – 86–

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Oder: „Alles bleibt an mir hängen.“ „Außer –?“ Das Erkunden der Ausnahme (ver-)stört die Eindimensionalität der Sichtweise der ratsuchenden Person. Außerdem bietet sich in der Ausnahme möglicherweise ein Ansatz zur Veränderung der konfliktträchtigen Verhaltensweise.17 Das Adjektiv „verstört“ hat in unserer Sprache eine Bedeutungsrichtung zum Verwirrtsein begleitet vom Gefühl, fassungslos verloren zu sein. Das kann und soll nicht die Absicht eines Kurzgespräches sein. Das methodische Vorgehen des „Verstörens“ zielt darauf, dass die ratsuchende Person von sich aus eine bestimmte Fassung ihrer Lebensorganisation aufgibt und sich selbst eine neue Fassung gibt. Es ist methodisch hilfreich, im Kurzgespräch zu „verstören“. Wer dieses Handwerkszeug benutzen möchte, – braucht den Mut, sich irgendein Einzelteil herauszugreifen und Unordnung zu stiften; – und er braucht das Vertrauen, dass sich alles schon wieder fügen wird. Mut und Vertrauen speisen sich aus dem entschiedenen Willen der beratenden Person, hier und jetzt mehr von einer anderen Lebensweise zu provozieren und weniger vom immer gleichen Vergeblichen zuzulassen.

2.6 beschleunigen Die meist nur begrenzt zur Verfügung stehende Zeit und auch die Einmaligkeit des Kurzgesprächs legen es nahe, alle Ge17 Vgl. Kap. 2.8; 2.9; 2.10.

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danken, Interaktionen und Gesprächsabläufe zu beschleunigen, die diese Akzeleration vertragen. Zunächst sei nochmals daran erinnert, dass die ratsuchende Person durch die Wahl des Ortes und des Zeitpunktes sowie mit Bemerkungen wie „Darf ich Sie kurz mal sprechen.“ von sich aus das Element der Schnelligkeit in das Gespräch einbringt. Das Empfinden der beratenden Person, dass es mit der Zeit vorn und hinten nicht stimmt, verführt diese oft zur Ungeduld und auch zu groben Fehlern hinsichtlich einer angemessen beschleunigten Gestaltung des Kurzgesprächs. Nimmt sie dagegen den Auftrag, die Anfrage kurz und knapp zu erledigen, an und auch ernst, legt sich ihr die Überlegung nahe, mit welchen Methoden die beratende Person den Ablauf des Kurzgesprächs beschleunigen kann. Bei der kritischen Reflexion meiner Kurzgespräche in der Schwangerschaftskonfliktberatung sowie in der C ITYSEELSORGE begleiteten mich folgende Fragen: – Welche Interaktionen nehmen Tempo raus, welche bringen Tempo rein? – Welche Einzelheiten, die die ratsuchende Person vorbringt, sind wirklich notwendig? – Welche Wege führen auf kürzestem Weg zum Ziel? – Wie lässt sich die ratsuchende Person auf dieser Spur halten? – Wie bremse ich, wie lasse ich auslaufen? – Wie lässt sich ein Strom eindämmen, der auszuufern droht? – Gibt es eine Form der Strukturierung, die der ratsuchenden Person nicht schadet? Diese Beobachtungen verdichteten sich auf ein Phänomen: Das Feedback als Rückantwort auf eine erfolgte Leistung kann einen Veränderungsprozess beeinflussen, und zwar kann es die betreffende Person bestärken, ihre Haltung zu verändern oder völlig neu zu gestalten, sie aufzugeben oder beizubehalten.

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Der beratenden Person stehen beim Feedback verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Das Feedback kann x

Scham, Schuldgefühle und Angst auslösen oder

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Hoffnung, Zuversicht und Selbstvertrauen,

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es kann zur Erstarrung oder Bewegung beitragen,

x

selbstschaffende Kräfte wecken oder

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Hilflosigkeit verbreiten.

Die beratende Person kann dabei x

unterstützend (supportiv) oder fordernd (konfrontativ) vorgehen,

x

sie kann das Feedback locker oder verdichtet geben,

x

unmittelbar oder verzögert,

x

konsequent oder inkonsequent,

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zufällig oder mit organisierter Überlegung.

Eine besondere Form des Feedback besteht darin, eine Veränderung des Status quo im Blick auf ein „Organisationsmodell“ der Zukunft zu initiieren. In diesem Fall sollte man besser von einem Feedforward18 sprechen; denn die Rückmeldungen (der beratenden Person) beziehen sich auf zukünftig zu erbringende „Leistungen“ (der ratsuchenden Person). Eine Veranschaulichung: Der Status quo einer Frau: Sie ist ungewollt schwanger. Ein Organisationsmodell der Zukunft trägt sie in sich und kann es auch äußern: unabhängig von ihren Eltern in einer eigenen Wohnung mit einem Mann und Kind(-ern) leben. Wie diese Frau sich ihrer (fiktiven) zukünftigen Lebensform nähern kann und ob überhaupt, das kann durch das Feedback der beratenden Person auf die erst noch 18 Vgl. dazu Robert Rosen, systems.

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zu erbringenden „zukünftigen Leistungen“ der ungewollt schwangeren Frau zielstrebig eruiert werden: – Was und – wie wird sie – unter Zuhilfenahme welcher Ressourcen (eigene und fremde), – wann, – welche Schritte unternehmen, – welche Aufgaben meistern, – welche Anstrengungen leisten, um das zukünftige Organisationsmodell Wirklichkeit werden zu lassen? Für dieses Feedforward stehen der beratenden Person grundsätzlich dieselben Modalitäten zur Verfügung wie beim oben beschriebenen Feedback. Der Unterschied besteht allein darin, dass ratsuchende und beratende Person sich in einem fiktiven Raum und in einer fiktiven Zeit bewegen. Auffallend ist, dass die Dynamik der Interaktionen sich auf dieser fiktiven Ebene erheblich beschleunigt. In diesem gleichsam schwerelosen Operationszustand werden kleinräumige Lösungsmodelle alsbald verlassen, Sackgassen schnell erkannt, Wesentliches vom Unwesentlichen getrennt. Der rote Faden tritt deutlich hervor, wird erkannt, aufgenommen und kann weiter gesponnen werden. Dazu ein Beispiel aus der Sprechstunde der Beratungsstelle: Aus der Nachbarstadt (etwa 60 km entfernt) hat sich eine Frau und Mutter von vier Kindern angemeldet, weil sie – wie sie am Telefon mit Tränen unterdrückender Stimme sagte – „mit den Kindern nicht mehr fertig werde.“ Frau R. ist gut vierzig Jahre alt und hat ihre Heimat im Bildungsbürgertum. Zu Beginn des Gesprächs in der Beratungsstelle berichtet sie wie ein unaufhörlich sprudelnder Wasserfall: – von ihrer glücklichen Ehe, – ihrem gutmütigen und in sich ruhenden Mann (Arzt), – den ausreichenden und schönen Wohnverhältnissen, – 90–

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– ihrer Dankbarkeit, dass alle Kinder gesund (nicht behindert) seien, – und sie eigentlich doch rundum zufrieden sein könnte – und alles gut und schön wäre, – wenn nur sie nicht immer wieder ausrastete, – zickig zu den Kindern würde, – diese unkontrolliert anschriee, – völlig überzogen reagierte aus nichtigen Anlässen – – aber sie sei eben überfordert, – wolle – das habe sie in mehreren Therapien erarbeitet – ein Kindheitstrauma damit kompensieren, dass sie alles ganz perfekt machen möchte, – eben auch eine „perfekte Mutter“ sein, – die jedes Kind nach seinen Begabungen optimal fördere … Hier falle ich (B.) Frau R. ins Wort, als sie eine Sekunde lang Atem schöpft: B.: „Welches Ihrer Kinder möchten Sie fördern?“ R.: „Also, der Älteste und auch die Jüngste machen mir keine Probleme …“ Ich unterbreche Frau R.: B.: „Bitte Frau R.: Welches Ihrer Kinder möchten Sie fördern?“ R.: „Amelie, die Zweite, macht mir große Sorgen. Das ist ein so begabtes Kind. Die steckt voller Ideen. Den ganzen Tag kann sie sich beschäftigen. Nie hat sie Langeweile. Immer wieder fallen ihr neue Dinge ein, die sie interessant findet. Gut, sie verabredet sich auch ’mal mit anderen, aber nicht so häufig wie die anderen Kinder. Christian z. B., der Älteste, der ist jetzt 13 Jahre alt, der ist schon fast selbstständig –“ Wieder gehe ich dazwischen: B.: „Frau R.: Wie möchten Sie Amelie fördern?“ R.: „Amelie hat Probleme mit der Mathematik. Das Rechnen fällt ihr schwer. In der letzten Arbeit hat sie eine 6 geschrieben. Das war auch für sie ein kleiner Schock. Sie will ja auch mit mir üben. Aber wenn ich sie ‚rankriegen‘ will, gibt’s immer Diskussionen und Streit. Das ist wie mit dem Üben für die Flöte und Geige. Die Musiklehrerin sagt, sie sei musikalisch hochbegabt. Ich finde das auch. Sie soll jeden Tag nur eine Viertelstunde mit – 91–

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jedem Instrument üben. Das will sie auch. Und wenn sie dabei ist, kann sie oft nicht aufhören. Aber wenn ich nicht dahinterher bin, wird daraus nichts. Und immer kriegen wir uns deshalb in die Wolle.“ B.: „Wie wird das anders?“ R.: „Ich müsste ruhig bleiben.“ B.: „Angenommen, es gelingt Ihnen, ruhig zu bleiben, was wird dann anders?“ R.: „Amelie –, Amelie –“ B.: „Was wird Amelie machen?“ R.: „Amelie wird mich groß angucken.“ B.: „Was sieht Amelie?“ R.: „Eine heitere Mutter. Ja, ich bleibe heiter.“ B.: „Sie werden eine heitere Mutter, wenn Sie ruhig bleiben. Wie wird das möglich, dass Sie ruhig bleiben?“ R.: schweigt nachdenklich B.: „An was denken Sie jetzt, Frau R.?“ R.: „Wie ich ruhig werde.“ B.: „Worauf können Sie zurückgreifen, um ruhig zu werden?“ R.: „Ich bin einmal nur mit Christian und Amelie in den Flusswiesen spazieren gegangen. Da waren so viele Blumen. Amelie konnte sich nicht satt sehen. Ich hab sie laufen lassen. Zuerst ist sie von einer Blume zur anderen gerannt. Ich hab mich ins Gras gesetzt und zugeschaut. Und nach einer Weile kam sie mit einem kleinen Strauß zu mir. Vier oder fünf hat sie ausgesucht – von den vielen. Da war ich ganz ruhig.“ B.: „Amelie laufen, suchen, pflücken und schenken lassen. Und Sie sitzen auf der Erde, schauen zu und werden ganz ruhig. Woher wird die Ruhe bei Ihnen kommen, wenn Sie zu Hause sind?“ R.: „Aber, wenn ich Amelie lasse, wird sie weder Rechnen, noch Flöten, noch Geige spielen üben.“ B.: „Wie werden Sie ruhig, Frau R., um Amelie zu lassen?“ R.: „Hinsetzen und zuschauen, was sie macht.“ B.: „Sie setzen sich also hin und schauen zu, was passiert. Und dann?“ R.: „Dann sehe ich, was daraus wird. Ob sie von sich aus übt oder nicht.“ – 92–

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B.: „Und was wird sein, wenn sie nicht zum Üben kommt?“ R.: „Dann werde ich mit Amelie noch mal ruhig darüber reden, was sie will.“ B.: „Mit Amelie noch mal ruhig reden, was sie will. Mal sehen, welche Blumen sie pflückt und Ihnen schenkt.“ R.: „Das ist ein schönes Bild.“ B.: „Das Bild macht sie ruhig und heiter.“ R.: lächelt und nickt mit dem Kopf. „Es ist ruhig und schön, und ich erinnere mich gern daran.“ Mit einer „Als-ob-Fiktion“ lässt sich eine Fantasiereise zu einem gewünschten Ziel antreten. Mit der Annahme, das (zukünftige) Ziel sei schon erreicht, öffnet sich eine von einschränkenden Faktoren befreite Welt, in der selbsthelfende Kräfte sich entfalten können. Die beratende Person initiiert den Prozess des Beschleunigens (Feedforward ) und forciert ihn, indem sie x

das Mandat eng fasst („Welches Ihrer Kinder …“),

x

das Problem auf einen einfachen Nenner bringt („Sie werden eine heitere Mutter, wenn Sie ruhig bleiben.“),

x

die fiktive Raum-Zeit-Ebene öffnet („Angenommen, es gelingt Ihnen …“),

x

Ab- und Auswege konsequent verhindert („Bitte Frau R., welches Ihrer Kinder …“),

x

das Tempo der Fantasiereise erhöht („Und dann …“).

Ein therapeutisches Gespräch mit Frau R. sucht und findet andere Ansätze und Methoden. Im einmaligen Kurzgespräch kann mithilfe des Feedforward die Vision eines wieder befreiten Lebens aufblitzen und durch bewusste Beschleunigung so viel Raum im Bewusstsein der ratsuchenden Person besetzen, dass zumindest die Hoffnung auf eine Verwirklichung (aus eigener Kraft oder mit begleitender Hilfe) entsteht.

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Es ist methodisch hilfreich, im Kurzgespräch zu beschleunigen. Die im Kurzgespräch einmalig und nur begrenzt zur Verfügung stehende Zeit kann mithilfe der Beschleunigung optimal genutzt werden. Der Wechsel von der Kreisbewegung in einen gerichteten Prozess wird von der ratsuchenden Person als wohltuend erlebt, und sie freut sich, wenn sie auf der „Geraden“ zügig vorankommt. Die beratende Person trägt die Verantwortung dafür, dass die Beschleunigung das Maß des Zumutbaren nicht übersteigt; die ratsuchende Person wird jedoch von sich aus darauf achten, dass sie das Tempo zur rechten Zeit herausnimmt. Eine weitere Möglichkeit der Entschleunigung wird im folgenden Kapitel dargestellt.

2.7 erzählen Frau R., die „perfekte Mutter“ aus dem letzten Gesprächsprotokoll erzählt die Geschichten ihres Lebens. Mit Spiegelstrichen gleichsam die Überschriften dieser Geschichten aufgelistet: „Von der glücklichen Ehe“ bis zu „Jedes Kind nach seinen Begabungen optimal fördern“. Mit und in diesen Erzählungen bietet Frau R. mir ihr Leben an, – wer welche Rolle einnimmt, – wie die Beteiligten sich verhalten, – nach welchen Regeln sich das Leben „abspielt“. Damit die Überschrift der Geschichte und die Geschichte der Überschrift entspricht, wird Frau R. die Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse ihres Lebens so ordnen und ins Gespräch einbringen, dass alles stimmig ist. Zum Vergleich: Zum Titel eines Märchens (z.B. „Hänsel und Gretel“) lässt sich nur eine bestimmte Geschichte erzählen. Und umgekehrt gehört zu der Erzählung von den Kindern, die von ihren Eltern im Wald ausgesetzt werden, der Titel: „Hänsel und Gretel“. Kinder, wenn sie das Märchen wiederholt erzählt bekommen, achten sehr genau darauf, dass nichts verfälscht wird. Es muss alles genau stimmen. – 94–

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Einen Schritt weiter folgt daraus: Damit Frau R. jetzt und auch in Zukunft die Geschichten ihres Lebens „wahrheitsgetreu“ erzählen kann, wird sie sich nach den vorgegeben Konstituenten der Geschichte verhalten. Oder andersherum: Verhält sie sich anders, wird sie die Geschichte (incl. Überschrift) umschreiben19 „müssen“, beziehungsweise: Wenn sie die Geschichte (incl. Überschrift) anders erzählt, hat sie die Chance, sich anders zu verhalten. Die (Problem-)Geschichten, die Menschen erzählen, folgen einem Leitthema und sind zugleich eine Vorgabe für zukünftiges Verhalten, es sei denn, sie werden von dieser Geschichte befreit: Ratsuchende Menschen erzählen den beratenden Personen ihre Geschichten in der unbewussten Absicht, dass ihnen geholfen wird, x

sie umzuschreiben,

x

sie anders zu erzählen,

damit ihnen ein anderes Leben möglich wird. Im Kurzgespräch ist darum das operativstrategische Umgehen mit dem „Erzählen“ ein viel versprechender methodischer Ansatz. In dem Fallbeispiel aus dem vorigen Kapitel dient Frau R. das Leitthema „perfekte Mutter“ als Vorgabe für ein wiederkehrendes Verhaltensmuster, das Frau R. selbst als äußerst problematisch empfindet, ohne sich davon lösen zu können. Im Verlauf des Gesprächs wird dieses Leitthema umgeschrieben in „heitere Mutter“. Frau R. kann in diesem Fall eine vergessene Geschichte aus der Schatztruhe ihrer Erinnerungen hervorholen („Blumenwiese“) und bekommt damit eine andere Vorgabe für ein Verhaltensmuster ihrer Tochter Amelie gegenüber. Das Gefühl des Versagens („zickig“), das die Geschichten zum Thema „perfekte Mutter“ begleitet, tritt zurück zugunsten eines entspannten Glücksgefühls: „Das ist 19 Vgl. dazu Richard Bandler/John Grinder, Reframing.

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ein schönes Bild“. Auf diesem Nährboden kann ein alternatives Verhalten wachsen, sich (hoffentlich) tief verwurzeln und das Thema „perfekte Mutter“ zurücktreten lassen. Die Fortsetzung des Gesprächs mit Frau R.: B.: „Wie kommt die ruhige und heitere Mutter von der Blumenwiese in die X-Straße Nr.0?“ R.: denkt nach. B.: „Erfinden Sie einfach mal eine Geschichte ‚von der heiteren Mutter‘ und erzählen Sie sie mir.“ R.: zögert, dann: „Da muss ich ganz woanders anfangen.“ Frau R. wählt den Augenblick des Mittagessens, wenn alle Kinder aus der Schule und auch das Jüngste aus dem Kindergarten wieder im Hause sind. Sie distanziert sich zunächst von ihrer Z ERBERUS 20-Rolle am Hauseingang, in der sie darauf achtete, – dass jedes Kind seine Schuhe und den Ranzen an Ort und Stelle bringt, – dass nacheinander von den Ereignissen in Schule und Kindergarten berichtet wird, – dass alle mit gewaschenen Händen am Tisch sitzen, ehe sie das Essen aufträgt usw. – eben eine Geschichte unter dem Leitthema: „Perfekte Mutter“. B.: wirft zwischendurch ein: „Die Geschichte von einer ‚perfekten Mutter‘“. R.: „Von der ‚Heiteren‘ erzähle ich gleich.“ Frau R. braucht erst mal den Abstand von der problematischen Rolle, die sie wie eine Außenstehende beschreibt, um in diesen frei gewordenen Raum die andere Geschichte hinein zu fantasieren: – sie verlegt ihre Präsenz von der Haustür in die Wohnküche, 20 In der griechischen Mythologie der Name des Unterwelthundes, der als strenger, unfreundlicher Türhüter das Tor zum Hades bewacht.

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– sie steht nicht, sondern sitzt, – sie kontrolliert nicht, sondern hört zu, – und sie reglementiert nicht hektisch, sondern wartet ruhig ab. Der neue Rahmen, in den sie die „heitere Mutter“ malt, ist der Geschichte „Blumenwiese“ entnommen. Neben den mit guten Lebensgefühlen verbundenen Erinnerungsbildern, deren Wiederaufleben beim Erzählen wesentlich zur Entschleunigung21 und damit zur Entkrampfung der ratsuchenden Person beiträgt, kann die beratende Person noch andere Wege in die Erzählwelt der ratsuchenden Person erschließen. Im einmaligen Kurzgespräch den Zugang zu diesen Erzählgeschichten zu finden, ist nicht ganz leicht. Der Impuls dazu geht stets von der beratenden Person aus. Jeder Mensch verwahrt in sich „Lieblingsgeschichten“, die sein Leben oft von klein auf begleiten: x

Kinderreime oder -lieder,

x

Märchen oder Erzählungen der Erwachsenen,

x

Gedichte, Texte, Filme und Fotos,

x

Gemälde, Träume und Geschichten aus dem Leben

gehören zu diesem Schatz der Lieblingsgeschichten, die unter einem bestimmten Leitthema abgespeichert und abrufbar sind. Auf Vollständigkeit kommt es der ratsuchenden Person dabei (meist) nicht an, ebenso wenig auf Detailtreue, es sei denn, diese dient der besonderen Akzentuierung des Leitthemas: – Ist das Leitthema gefunden, unter dem sich das „Konfliktkarussell“ dreht (etwa: „perfekte Mutter“), kann die beratende Person direkt danach fragen: „Fällt Ihnen zu 21 Vgl. dagegen Kap. 2.6.

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diesem Thema irgendeine Geschichte, ein Lied oder ein Märchen (Buch, Film etc.) aus Ihrer Kindheit oder Jugend ein?“ – Ist der beratenden Person zum Leitthema der ratsuchenden Person eine „Geschichte“ eingefallen, kann die beratende Person diese direkt anbieten: „Mir fällt ein Märchen (ein Gedicht, ein Lied, ein Film etc.) dazu ein …“. Jetzt gilt es jedoch, sehr genau in den verbalen und nonverbalen Reaktionen der ratsuchenden Person zu „lesen“, ob diese damit etwas anfangen kann (etwa die „Geschichte“ der eigenen Gewichtung entsprechend erzählt). Eine ratsuchende Frau hat von dem Kinderlied „Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal saßen einst zwei Hasen“ nur Folgendes als merkenswert für ihre Lieblingsgeschichte der Kindheit behalten: „Also, da sind zwei Hasen, die fressen ganz friedlich ihr Gras. Dann kommt ein Jäger. Aber irgendwie schießt er vorbei. Jedenfalls, und das ist mir wichtig, heißt es am Ende: ‚liefen sie von dannen‘.“ Daraus ergibt sich ihr wichtiges Leitthema: „Frieden – Gefahr – Rettung“ (Auch der friedlichste Mensch lebt in Gefahr, kann sich aber retten, wenn er sich auf seine eigenen Kräfte besinnt.“). Mit diesem begrifflichen und gefühlsmäßigen Rahmen hatte die Frau bereits mehrere schwierige Lebenssituationen bewältigt. Nun, im Scheidungsprozess, den ihr Mann nach ihrem Seitensprung angestrengt hat, fühlt sie sich ihm wie auf einem Präsentierteller zum Abschuss preisgegeben. Die „Wiederbelebung“ ihrer „alten“ Geschichte ermutigt sie, sich auf ihre eigenen Kräfte zu besinnen. Dem erwachsenen Mann kommt aus seiner Jugendzeit nur der Refrain der Ballade „John Maynard“ von T HEODOR F ONTANE als Lieblingsgeschichte dieser Zeit in den Sinn: „Aushielt er, bis er das Ufer gewann, Er hat uns gerettet, er trägt die Kron, Er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn.“

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Sein Leitthema: „Ich tue alles, um geliebt zu werden!“, und indem er das aussprach, distanzierte er sich von dem ihn einengenden Rahmen, in dem er bis zur Selbstaufgabe bereit war zu dienen. Biblische Geschichten, die auch von ratsuchenden Personen zu einem großen Teil erinnert werden, werden oft ohne Texttreue mit wenigen Pinselstrichen auf eine bestimmte Pointe hin entworfen: – Trennung ist hilfreich. (Trennung der Brüder Abram und Lot22) – Sich rückwärts orientieren heißt: erstarren. (Die Erzählung von Lots Errettung23) – Leben ist mehr als arbeiten. (Vom reichen Kornbauer24) – Chance zum Neuanfang. (Vom verlorenen Sohn25) Bei diesen Erzählungen kommt es wie bei anderen Texten, Bildern, Metaphern, Sprichwörtern und auch Traumerzählungen darauf an, sie strategisch für den Entwurf eines veränderten Verhaltens einzusetzen, und zwar – entweder, um das festgefahrene Problemlösungsverhalten zu destruieren – oder um eine alternative neue Lösungsstrategie zu etablieren. Das Kurzgespräch bietet weder Raum noch Zeit, mit diesen „Geschichten“ therapeutisch umzugehen. Der strategische Einsatz dieser erzählerischen Bildelemente zielt darauf, die ratsuchende Person aus ihrem logisch-argumentativen linkshemisphärischen Hirndenken zu befreien und ihre analog narrative rechtshemisphärische Hirnarbeit zu aktivieren. Das führt augenblicklich zu einer sichtbaren körperlichen Entspannung und einer spürbaren Entkrampfung der grauen Hirnzellen. Mit dem erzählenden Moment tritt das Lächeln ins Gesicht. 22 23 24 25

Altes Testament, 1. Buch M OSE , Kap. 13. Altes Testament, 1. Buch M OSE , Kap. 19. Neues Testament, Lukasevangelium, Kap. 12. Neues Testament, Lukasevangelium, Kap. 15.

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Es ist methodisch hilfreich, im Kurzgespräch Raum fürs „Erzählen“ zu schaffen. Das wohltuende Element der Entschleunigung vermittelt das Gefühl der Entlastung. Erzählen ereignet sich in einem Zustand des Schwebens, der Schwerelosigkeit und erschließt analoge Sichtweisen und fördert symbolische Lösungen.

2.8 Ziele formen Das Kurzgespräch ist nach vorn auf ein in naher Zukunft liegendes Ziel gerichtet. Deshalb wird die beratende Person nicht problematisieren, sondern die ratsuchende Person anhalten, mit ihr erreichbare und lohnende Ziele zu formen. Bei den bisherigen Fallbeispielen ist klar erkennbar geworden, dass die beratende Person sich hoch konzentriert aktiv in das Gespräch einmischt. Beim zielorientierten Vorgehen beginnt für sie eine harte Kleinarbeit; denn mit Klarheit und Schärfe wird die beratende Person behutsam darauf achten, dass der Problemnebel sich nicht verdichtet, sondern klare Konturen erkennbar werden. Zunächst die Fortsetzung des Gesprächs mit dem Studenten, der zwischen der Freundin und der Welt der Universität hinund hergerissen ist:26 Der Student äußert: „Ich weiß jetzt erst mal, womit ich mich wirklich auseinandersetzen muss.“ Mit dieser Aussage benennt er ein Ziel, auf das er in Zukunft zugehen muss. Nicht klar ist jedoch, – – – – – –

ob er darauf zugehen will, wie er das angehen will, ob es für ihn attraktiv ist, das Ziel zu erreichen, wann er sich auf den Weg machen will, ob er das leisten kann und was er davon hat, wenn er das Ziel erreicht.

26 Vgl. Kap. 2.5.

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Es ist die Aufgabe der beratenden Person, dieses als Ziel im Sinne dieser offenen Fragen zu formen. Es gibt hierfür viele Wege, um „nach Rom“ zu kommen; der im Folgenden wiedergegebene ist nur einer unter diesen: P.: „Sie sagen: ich muss!“ St.: „Ja, das steht an. Immer öfter stößt mir auf, dass mir dieser anerzogene Dünkel im Weg steht.“ P.: „Gut, es steht an. Was werden Sie tun?“ St.: „Eine Therapie kommt für mich nicht infrage!“ Dieses negativ formulierte Ziel wendet die beratende Person positiv: P.: „Was kommt für Sie infrage?“ St.: „Ein Freund von mir hat mal eine zweiwöchige Gruppentherapie – irgendwo in der Heide – gemacht.“ P.: „Gruppentherapie in der Heide – was gefällt Ihnen daran?“ St.: „Also erstmal, dass es nicht hier in der Stadt ist. Man weiß ja nie. Und dann – in der Gruppe; in der Uni arbeiten wir ja auch im Team, da kann man gut voneinander lernen. Und – ich könnte es mir leichter einrichten: einfach zwei Wochen raus. Und nicht ein- oder zweimal in der Woche zu einer Therapiesitzung.“ P.: „Das sieht so aus, als ob alles für ‚Gruppentherapie in der Heide‘ spricht. Was steht dagegen?“ St.: „Im Grunde nichts. Na, ich weiß nicht, was das kostet. Ob die Kasse das übernimmt?“ P.: „Werden Sie die Gruppentherapie nur machen, wenn die Kasse zahlt?“ St.: „Mein Freund hat – glaub ich – 2000 Mark dafür bezahlt. Ich hab etwas angespart, aber das ist ein ganz schöner Happen –“ Die Bereitschaft, 2000 Mark für dieses Ziel einzusetzen, wächst, wenn das Ziel für ihn klar und attraktiv ist; deshalb: P.: „Was haben Sie davon, wenn Sie Ihre 2000 Mark dafür einsetzen?“ St.: „Wenn die Gruppentherapie mir hilft, dann tut mir das Geld nicht Leid.“ P.: „Wozu soll die Gruppentherapie Ihnen helfen, damit Sie Ihr Geld gern dafür hergeben?“ – 101–

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St.: „Dass ich mich nicht so in meinen Ehrgeiz verkrampfe, –“ P.: „-, sondern?“ St.: „Locker werde, wie wenn ich mit meiner Freundin zusammen bin. So möchte ich auch in der Uni sein. Dann wär’ das mit meiner Freundin kein Problem mehr.“ P.: „Wollen Sie’s riskieren?“ St.: „Ich denke, ja.“ P.: „Wann?“ St.: „Mein Freund sagte mir, die Kurse finden einmal im Vierteljahr statt. Da kann ich ihn fragen.“ P.: „Ist das schlimm?“ St.: lächelt, schaut (ein wenig verschmitzt) den Pastor an: „Nein, nein! Keine Sorge. Vielen Dank!“ Im Kurzgespräch wird der Blick nicht auf das Problematisieren gerichtet, sondern es wird konzentriert ein Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen ein einfaches, machbares und anregendes Ziel geformt wird, das in der nächsten überschaubaren Zeit verwirklicht werden kann. Dabei liegt es wesentlich bei der beratenden Person, die ratsuchende Person dazu anzuhalten, mit ihr gemeinsam dieses Ziel zu finden und zu formen. Zwei Grundhaltungen erleichtern der beratenden Person ihre zielgerichtete Vorgehensweise: Der Versuchung widerstehen, sich ins Problem zu vertiefen. Den Willen haben, dass etwas vorankommt. So wird von vornherein klargestellt, dass das Kurzgespräch nicht ein beliebiger Schwatz ist, sondern ein ernsthaftes Arbeitsgespräch, das von beiden Beteiligten Aufmerksamkeit und Kraft fordert. Diese aufmerksame Arbeit lässt sich konkretisieren: Die Ziele, die von ratsuchenden Personen benannt werden, sind zu Beginn des Kurzgesprächs (zu) weit gesteckt: – „Ich möchte weg von zu Hause.“ – „Ich will wieder ein freier Mensch sein.“

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Was bedeutet nun konkret für diese ratsuchende Person: – Weg von zu Hause. Oder: – Ein freier Mensch sein? Bis dieses Ziel erreicht wird, sind eine Reihe anderer Schritte zu kleineren Zielen zu machen. Diese kleineren Ziele müssen nicht nur konkret erkannt und benannt werden, sondern auch in eine auf das weite Ziel hin führende Reihenfolge gebracht werden: Weg von zu Hause = eigenes Geld, eigene Wohnung, eigene Einrichtung. Freier Mensch = Lösung von Bindungen: Ehepartner, Familie, Arbeitsstelle, Freunde, Freundinnen. Jetzt stellt sich heraus, ob die weit gesteckte Zielvorstellung realistisch und umsetzbar ist. Die Arbeit an den „kleinen“ Zwischenschritten zum „großen“ Ziel hin setzt einen Rekalibrierungsprozess27 in Gang, der die ratsuchende Person weiterbringt: x

Wichtiges von Unwichtigem,

x

Mögliches von Unmöglichem,

x

Zentrales von Marginalem trennen und neu bewerten.

Im Verlauf dieses Prozesses wird der Weg von Scheinzielen zu den wirklichen Zielen immer kürzer, und die ratsuchende Person bescheidet sich im Kurzgespräch mit einem ersten, für sie umsetzbaren und attraktiven Schritt. Das weit gesteckte Ziel ist damit nicht als „falsches“ Ziel enttarnt, sondern behält als Fernziel durchaus seine Berechtigung. Aus einem „Weg von zu Hause“ wird in einem Kurzgespräch mit einem Studenten, der noch bei seinen Eltern wohnt, „Meine Wäsche selber machen“. 27 Eigtl.: Ein Werkstück in seinem alten Maß umbrechen und auf ein genaues neues Maß bringen.

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Dieses Umbrechen und Einrichten auf ein passendes Maß bedarf einer kritischen, zugleich aber stets freundlichen Führung der beratenden Person, da die ratsuchende Person meist unsicher ist hinsichtlich einer realistischen Einschätzung ihrer Ressourcen und Handicaps.28 Durch maßgenaues Feilen an dem, was der ratsuchenden Person möglich und was für sie lohnend ist, verhindert zielorientiertes Arbeiten, dass ungenau und unsauber gearbeitet wird. Die ratsuchende Person wendet sich ja gerade an die beratende Person, um aus dem „Pfuschen“ und „Weiterwursteln“ herauszukommen. Eine wesentliche Hilfe für die beratende Person besteht darin, keine negativ formulierten Ziele zuzulassen, sondern ausschließlich positiv gefasste Ziele gelten zu lassen. Ratsuchende Personen wissen zunächst oft nur, was sie nicht wollen, und kleiden deshalb ihre Ziele in ein negatives Gewand29: – „Schlimm ist, dass ich nicht weiß, was ich will.“ – „Eine Therapie kommt für mich nicht infrage!“ Dabei weiß der Student sehr wohl, was er will, und findet, was für ihn infrage kommt. Hinter einem „Ich will nicht mehr“ verbirgt sich die Kehrseite: „Ich will …“; was genau, das lässt sich erkunden. Gleiches gilt für den häufig in Kurzgesprächen wiederkehrenden Ausspruch: „Ich kann nicht mehr.“ Jetzt liegt es an der beratenden Person herauszufinden und -zuarbeiten, wozu genau die ratsuchende Person noch imstande ist. Beim Formen von Zielen ist seitens der beratenden Person mit großer Sorgfalt darauf zu achten, dass sie nicht dem „Splitter-Balken-Syndrom“30 anheim fällt. Angenommen eine beratende Person hat die eigene Scheidung wie eine Befreiung aus entwürdigender Knechtschaft erlebt, wird sie möglicherweise eine in ihrer Trennungsentscheidung zögernde ratsuchende Person zudringlich zum Handeln ermuntern. 28 Vgl. Kap. 2.10 29 Siehe Kap. 2.5. 30 Neues Testament, Matthäusevangelium Kap. 7,3: Jesus: „Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“

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Der Gefahr des Eintragens eigener Wert- und Zielvorstellungen unterliegen beratende Personen besonders, wenn die Zeit drängt und die beratende Person das Kurzgespräch baldmöglichst beenden möchte. Gelingt es der beratenden Person, zusammen mit der ratsuchenden ein erreichbares und befriedigendes Ziel zu formen, ist ein wesentliches Ziel des Kurzgesprächs erreicht. Darum ist es methodisch hilfreich, seitens der beratenden Person im Kurzgespräch zielorientiert vorzugehen. Hat ein Mensch ein Ziel vor Augen, das für ihn attraktiv und realisierbar ist, befördert dieses sein Gefühl: „Es lohnt sich für mich zu leben.“ Dieses Ziel macht andere Lebensabläufe für ihn wieder sinnvoll, vertreibt Leere, Lähmung und Lustlosigkeit und erfüllt ihn mit Inhalt, Aktivität und Lebensfreude.

2.9 Kraftquellen erschließen Im plattdeutschen Idiom gibt es treffende bildliche Veranschaulichungen menschlicher Fehleinschätzungen der Wirklichkeit, so z. B.: Wenn use Katt een Koh weer, dunn harrn wi meer Melk.31 In Gedanken spuken fantastische Lösungen durch den Kopf und werden auch noch ernsthaft ausgesprochen und diskutiert, obwohl sie außerhalb jeden Realitätsbezuges sind. Mit einem Lottogewinn lassen sich paradiesische Welten zaubern. Aber ein Apfelbaum trägt nun mal keine Birnen. Wenn in einem Kurzgespräch Ziele geformt und Lösungen erarbeitet werden, gehört es zum methodischen Vorgehen der beratenden Person, die Kraftquellen der ratsuchenden Person genau zu erkunden, um nicht fahrlässig zu handeln. Denn verändern kann eine ratsuchende Person in ihrer Lebensweise nur etwas mit dem, was sie hat und kann und wozu sie von sich aus fähig und in der Lage ist. Dieses weite Feld lässt sich in überschaubare Sektionen gliedern, die der beratenden Person 31 „Wenn unsere Katze eine Kuh wäre, dann hätten wir mehr Milch“.

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das Erkunden der Kraftquellen erleichtern können. In unsystematischer Reihenfolge unterscheide ich folgende Kraftfelder: Materielle Ressourcen Menschen organisieren ihr Leben, weil sie Zeit und Geld haben, im Besitz einer Wohnung sind, einer Arbeit nachgehen, angemessene Kleidung tragen und sich ausreichend ernähren können – oder auch nicht. Soziale Ressourcen Menschen entfalten ihr Leben in ihrer Familie, mit ihren Freundinnen und Freunden, im Kontakt mit ihren Nachbarn und Arbeitskollegen, im Beziehungsnetz eines Vereins und im Umgang mit ihnen fremden Menschen – oder auch nicht. Weltanschauliche Ressourcen Menschen entscheiden sich in ihrem Leben aufgrund von Werten, die sie im Verlauf ihres Lebens verinnerlicht haben, orientieren sich an Welt- und Lebensanschauungen, die ihnen tradiert wurden oder die sie sich im Diskurs angeeignet haben; sie stehen zu ihrer politischen Überzeugung und achten darauf, dass ihr Verhalten weitgehend mit ihrem Selbstbild übereinstimmt – oder auch nicht. Kognitive Ressourcen Menschen entwickeln ihr Leben, indem sie ihre Begabungen nutzen, um Kulturtechniken und Bildung zu erwerben, um einschätzen zu lernen, was ihnen Erfolg oder Misserfolg bringt, und um den Aufwand abzuwägen, was ein bestimmtes Verhalten sie kostet und wozu es ihnen nützt – oder auch nicht. Emotionale Ressourcen Menschen erfahren in ihrem Zusammenleben mit anderen, welche Bedeutung Gefühle für die Tragfähigkeit von Beziehungen haben und welche Kraft vom Wahrnehmen und Ausdrücken dessen, was gefühlt wird, ausgeht – oder auch nicht.

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Kommunikative Ressourcen Menschen sind in der Lage, klar und verständlich auszudrücken, welche Gedanken und Gefühle sie in sich tragen, und ebenso genau darauf zu hören und einzugehen, was ihr Gegenüber bewegt – oder auch nicht. Selbstorganisatorische Ressourcen Menschen haben eine Einstellung zu dem, was ihr Körper zu leisten imstande ist: was ihrer Gesundheit, ihrem Lebensalter, ihrem Geschlecht entspricht; sie wissen, ihr Leben in Ordnung zu halten – oder auch nicht. Geistig spirituelle Ressourcen Menschen sind in ihrem Leben offen für geistig spirituelle Anregungen und Erfahrungen, vertrauen dem Mut des Glaubens, der Ruhe des Meditierens, der Stärkung im Gebet und der Heilkraft der Handauflegung und des Segens – oder auch nicht. Es geht darum, das für jeden Menschen individuell geltende und vorhandene Maß der Kraftquellen zu erkunden und heraus zu finden, in wieweit diese aktiviert werden können, um dem Konfliktkarussell zu entkommen und ihrem Leben wieder eine Richtung zu geben. Bei einem Anruf eines Landwirts (etwa Mitte 40) erfährt die Pastorin: L.: „Ich habe eine Frage an Sie, Frau Pastorin.“ P.: „Ja, bitte.“ L.: „Also, mein Rücken ist hin. Sie wissen, ich hab damit schon länger zu tun. Als ich gestern aus dem Melkstand kam, konnte ich mich kaum noch bewegen.“ Nun folgt eine lange und ausführliche Schilderung all dessen, was er nicht mehr kann: – Keinen Traktor mehr fahren, kein Futter vorgeben, keine Kälber mehr füttern (also keine landwirtschaftliche Arbeit mehr verrichten). – 107–

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– Den Hof könne er auch nicht verkaufen, denn das sei schließlich seine Altersversicherung. Die Kosten für Hilfskräfte wirft der Hof nicht ab. Außerdem sei dieser Hof seit Generationen im Familienbesitz. – Aber keines seiner Kinder würde den Hof übernehmen wollen. – Was seine Frau wolle, wisse er nicht. Sie möge seine Klagen schon lange nicht mehr hören. Ein ruhevolles Gespräch über die Zukunft des Hofes sei mit ihr nicht möglich. Sie könne ja schließlich nicht auch noch seine Arbeit tun. Das würde sie nicht durchstehen. Es ist nahe liegend, dass die beratende Person zunächst und auch vor allem von der ratsuchenden Person auf erschöpfte Kraftquellen verwiesen wird; in dem geschilderten Fall scheint der Faden nicht abreißen zu wollen. Der Hinweis auf die erschöpften Ressourcen zeugt einerseits davon, – dass (in diesem Fall) der Landwirt sehr wohl seinen intakten Verstand zu nutzen weiß, um seine Lage nüchtern und genau einzuschätzen. – Es liegt andererseits auf der Hand, dass die Pastorin behutsam und auch bestimmt prüft, ob er seine Lage „sauber“ evaluiert, das heißt: Mit dem einmal gewählten negativen Vorzeichen nicht den ganzen Saldo ins Minus drückt. – Und schließlich gibt diese Auflistung von erschöpften Kraftquellen noch keine Auskunft darüber, auf welche Ressourcen der Landwirt noch zugreifen kann. Kraftquellen erschließen, erfordert eine geduldige Kleinarbeit, da die ratsuchende Person vor die Generalklammer ihrer Wahrnehmung ein Minuszeichen setzt. In der Auflösung der Klammer liegt der Weg zur Lösung. P.: „Das sieht ja so aus, als ob alles Mist ist und überhaupt nichts mehr geht.“ interveniert die Pastorin. L.: „Mit dem Rücken habe ich mir schon viel zu lange etwas – 108–

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vorgemacht. Wenn ich nicht bald als Bauer aufhöre, gehe ich noch vor 50 am Stock. Das sagt auch mein Orthopäde.“ Aus dieser Antwort entnimmt die Pastorin, dass die körperlichen Ressourcen de facto aufgebraucht sind und fragt dann: P.: „Was können Sie denn überhaupt noch arbeiten mit diesem Rücken?“ Nun erzählt der Bauer ihr von seiner Idee, nach einer Umschulung bei einem landwirtschaftlichen Handelsbetrieb als Vertreter tätig zu werden. Diesen Bericht unterbricht die Pastorin mit gezielten Fragen nach den dafür nötigen Ressourcen: – – – – – – – – – –

„Wer bezahlt die Umschulung?“ (materiell) „Wie wird seine Frau dazu stehen?“ (sozial) „Was wird man im Dorf über ihn sagen?“ (sozial) „Wo und wie wird er wohnen, wenn er den Hof aufgibt?“ (materiell) „Welche Gefühle werden ihm dabei helfen?“ (emotional) „Wie wird er über sich denken, wenn er Handelsvertreter ist?“ (weltanschaulich32) „Womit kann er seine Entscheidung gegenüber seiner noch lebenden Mutter rechfertigen?“ (weltanschaulich) „Als wie lernfähig und -willig schätzt er sich ein?“ (kognitiv) Wird er wortgewandt genug sein? (kommunikativ) „Worauf könnte er sich denn verlassen, wenn er diesen Schritt unternimmt?“ (emotional spirituell)

Der Landwirt offenbart nun der Pastorin die beim bisherigen Saldieren unterschlagenen „Aktiva“, entdeckt versteckte Depots, die lange nicht mehr angerührt waren, und fängt an, sich auf sein Können zu besinnen. Das führt die Pastorin zu dem Einwurf: P.: „Sie haben mich angerufen, weil Sie eine Frage an mich haben. Welche Frage?“ 32 Wie er auf Grund seiner Sozialisation die „Welt“ anzuschauen und zu bewerten gelernt hat.

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„Eigentlich haben Sie mir die schon beantwortet“, sagt der Landwirt, und die Pastorin lässt es tunlichst bei dieser Einschätzung, auch wenn sie nur Fragen gestellt hat. Im Falle des Landwirts waren die körperlichen Ressourcen (Rücken) so erschöpft, dass sie für die bisherige Lebensorganisation nicht wieder zu regenerieren waren, aber andere taten sich auf. Ratsuchende Personen beklagen – den Verlust einer Betätigung („früher hab ich so gern Klavier gespielt“) oder – das Nachlassen einer Aktivität („lesen“, „spazieren gehen“, Sport treiben“) oder – das Versiegen einer Kraftquelle („meditieren“, „im Chor singen“, „Theater besuchen“). Da gilt es zu klären, ob und wie sich diese lebensnotwendigen Ressourcen regenerieren können und was genau dazu unternommen werden müsste. Aus der eigenen Lebenserfahrung vermag die ratsuchende Person meist sehr anschaulich zu erzählen, wie sie mit sich selbst umgegangen ist, um wieder zu Kräften zu kommen. Die beratende Person sollte sich das ausführlich „erzählen“33 lassen. Denn in diesen Erzählungen entfaltet die ratsuchende Person (meist mit einem gewissen Stolz und hellen Augen) ihr Leben, wie es aussieht, wenn es frei von dem gegenwärtig bedrängenden Dilemma ist. In diesen Erzählungen erfährt die beratende Person dann auch, was so alles in der ratsuchenden Person an Ressourcen steckt und kann sich mit leichtem positiven Konnotieren34 mit dem Leben verbünden, das wieder befreit aufatmen möchte. Es ist methodisch hilfreich, im Kurzgespräch ressourcenorientiert vorzugehen. Trotz des begrenzten Rahmens eines Kurzgesprächs macht es Sinn, sich ruhevoll die Zeit zu nehmen, um sich um die Lebenskräfte eines Menschen zu küm33 Vgl. Kap. 2.7. 34 Entlehnt aus dem Mittellateinischen = Mitbezeichnung, Nebenbedeutung; hier: Beigewichten.

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mern. Denn der erste und alle weiteren Schritte auf einem anderen Weg erfordern von der ratsuchenden Person Kraft, die allein sie aufzubringen hat, wenn sie nicht im gleichen Dreh weitermachen will. Menschen, die in einem Dilemma stecken, neigen dazu, ihre Ressourcen und Handicaps nicht mehr realistisch einzuschätzen. Deshalb gehört es zu den verantwortungsvollen Aufgaben der beratenden Person, sehr sorgsam zu recherchieren und erschlossene Kraftquellen nicht sinnlos auszubeuten. Etwa anderthalb Jahre nach einem Gespräch in der C ITYSEELSORGE schrieb eine ratsuchende Frau eine Briefkarte mit einem kurzen Dankesgruß und folgendem Text auf der Vorderseite: Die Dürre zwang meinen Baum, tiefer und tiefer die Wurzeln zu treiben. Wusste er, dass Brunnen, nie versiegende, unter ihm strömten? Bevor seine Krone welkte, seine Zweige verdursteten, die Farbe der Blätter erblich, erreichten sie lang ersehnte Adern des Lebens.

2.10 Lösungen erwirken Jeden Morgen um 5 Uhr kam der Jüngste, inzwischen schon fast fünf Jahre alt, die Treppe herunter, ging auf das der Tür am nächsten stehende Bett der Mutter zu, verlangte nach einer Nuckelflasche warmer Milch und legte sich dann zur Mutter ins Bett. Gute Worte und harte Drohungen hatten daran nichts – 111–

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ändern können; irgendwann würde es sich wohl geben, meinte die Mutter. Dann musste die Mutter wegen eines kleinen operativen Eingriffs für eine Woche in die Klinik. Wie würde der Sohn reagieren? Könnte man ihm das zumuten? Würde er Schaden nehmen an seiner Seele? Im Gespräch in der C ITYSEELSORGE wurde ein Plan geschmiedet: Die Mutter solle sich von allen drei Kindern verabschieden, ohne den morgendlichen Ritus zu erwähnen. Ihr Bett bliebe dann einfach leer; die Nuckelflasche – mit Kräutertee gefüllt – solle der Vater auf den Küchentisch stellen; am frühen Morgen solle der Vater von seinem Bett aus den Kleinen sachlich und freundlich darauf hinweisen, wo seine Flasche zu finden sei. Nach drei Tagen solle der Vater anrufen und kurz berichten: Der Sohn hat am ersten Morgen unschlüssig vorm leeren Bett gestanden, ist auf den Hinweis des Vaters in die Küche und mit der Flasche wieder in sein Bett gegangen. An den folgenden Morgen ist er nicht mehr ins Schlafzimmer gekommen, sondern hat sich nur die Flasche aus der Küche geholt. Der zweite Teil des Plans ging davon aus, dass der Sohn nach der Rückkehr der Mutter wieder ins alte Muster verfallen würde. Die Eltern sollten die Betten tauschen und der Vater dem Sohn wiederum freundlich und sachlich sagen: „Du weißt doch, die Flasche steht in der Küche.“ Nach knapp 14 Tagen holt sich der Sohn die Flasche nur noch vom Küchentisch. Über „das Problem“ wurde seit Beginn der Umsetzung des Plans nicht mehr geredet. In einem Nebensatz des Mannes erfährt der C ITYSEELSORGER, dass das Sexualleben der Eheleute sich zur Freude beider wieder belebt hat. Das bisherige Lösungsverhalten des Elternpaares konzentrierte sich auf das Ablösungsproblem Mutter-Sohn und das Rivalitätsproblem Vater-Sohn. Das Gespräch in der C ITYSEELSORGE beschäftigte sich ausschließlich mit der Veränderung des Lösungsverhaltens; die Problemfelder „Ablösung von der Mutter“, „Erziehungshaltung der Eltern“, „Störung des Sexuallebens der Ehepartner“ wurden nicht thematisiert.

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Lösungen erster und zweiter Ordnung P AUL W ATZLAWICK 35 unterscheidet zwischen Lösungen erster und zweiter Ordnung. Lösungen erster Ordnung versuchen eine festgefahrene Situation durch zielgerichtetes Verhalten auf eben diesen „Knoten“ zu verändern, z.B.: M.: „Wenn meine Frau härter wäre, dann würde der Sohn nicht mehr kommen (und auch unser Sex besser).“ F.: „Wenn mein Mann mehr Verständnis für mich als Mutter hätte, dann würde sich das Problem mit dem Sohn von allein lösen.“ Diese wechselseitige Zielfixierung auf einen Lösungsweg verunmöglicht eine befriedigende Lösung. Das „Es-so-lösenwollen“, also die angestrebte Lösung wird dabei selbst zum Problem. Lösungen zweiter Ordnung verändern das Lösungsverhalten. Von einer Metaebene wird dieser Lösungsansatz auf Lösungen erster Ordnung angewendet, verändert diese indirekt und macht sie meist überflüssig, z.B.: Der C ITYSEELSORGER kümmert sich nicht um den Ablösungsprozess zwischen Mutter und Sohn; er lässt sich auch nicht auf das gestörte Sexualleben der Eheleute ein, obwohl insbesondere der Mann beim ersten Gespräch wiederholt darauf hinweist. Die Ortsabwesenheit der Mutter ermöglicht eine Lösung zweiter Ordnung: – Was ist zu tun, wenn die Mutter nicht da ist? – Wie geht der Vater auf das Trinkbedürfnis des Sohnes ein? – In welchem Bett soll der Vater liegen? Das leere Bett eröffnete eine Metaebene, von der aus eine Lösung zweiter Ordnung das fixierte Lösungsverhalten erster Ordnung ad absurdum führte.

35 Vgl. dazu Paul Watzlawick u.a., Lösungen.

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Problemlösungsstrategien Im Laufe des Lebens eignet sich jeder Mensch spezifische Problemlösungsstrategien an, die er mehr oder minder erfolgreich auf neue Konflikte anzuwenden versucht. Um die persönlichkeitsspezifischen Problemlösungsstrategien zu erkennen und zu verstehen, bieten sich unterschiedliche Theorien an. Vier gängige Sichtweisen werden kurz dargestellt: – – – –

die die die die

individuelle Lerngeschichte, psychosexuelle Persönlichkeitsentwicklung, psychobiologische Stresstheorie und Metaprinzipien menschlicher Organisationsformen.

Diese Ansätze sind untereinander theoretisch nicht kompatibel, sie können sich aber wechselseitig ergänzen. Wenn die beratende Person sie zur Hand hat, kann sie die ratsuchende Person anregen, sich anderen als der bisher bevorzugten Vorgehensweise beim Lösen von Konflikten probeweise zu öffnen. Die individuelle Lerngeschichte eines Menschen wird nach der Theorie des Behaviorismus36 entscheidend von dem „Erfolg“ und der „Belohnung“ geprägt, den ein bestimmtes Verhalten für diesen Menschen zeitigt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass das ins Verhaltensrepertoire aufgenommen wird, was sich bei Konfliktlösungen bewährt hat. Eine Geschichte zur Veranschaulichung unter dem Motto: „Was Hänschen gelernt hat, kann Hans im Schlaf“. Hans K. begegnet auf dem Empfang anlässlich seiner Amtseinführung als Leiter einer Beratungsstelle einer Mitarbeiterin der T ELEFONSEELSORGE , Frau W., die sich ihm als Freundin seiner früheren Grundschullehrerin zu erkennen gibt, um ihm folgende Begebenheit zu erzählen: Frau W. hatte der Freundin von dem bevorstehenden Empfang für Hans K. am Telefon erzählt, woraufhin die Lehrerin ihr sagte: „Du, den kenn ich aus X., du weißt, wo wir als Flüchtlinge nach 36 Vgl. dazu Burrhus Frederic Skinner, Verhalten.

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dem Krieg gelandet waren. Ich war damals in dem Dorf Lehrerin, und Hans K. war mit seiner Mutter und fünf Geschwistern auch dort eingewiesen worden. Einmal verletzte Hans sich an der Hand, sie blutete stark, und wir hatten kein Verbandsmaterial in der Schule; also schickte ich ihn nach Hause. Auf diesem Nachhauseweg begegnete er zunächst einer Mutter, die sich um ihn kümmerte, ihn tröstete, ihm auch etwas zusteckte, aber seine Wunde nicht versorgen konnte. Er traf eine zweite und dann weitere, die sich alle liebevoll um ihn kümmerten. Für den Fünfminutennachhauseweg brauchte er fast eine Stunde. Erzähl ihm die Geschichte und frag ihn, ob er sich noch daran erinnert.“ Dem war nicht so, aber Hans K. fiel dazu ein, dass es ihm bis heute keine Mühe bereitet, bei Frauen einen mütterlichen Impuls zu wecken, oder andersherum: Im Konfliktfall versteht es Hans aufs Trefflichste, warmherzige Hilfe zu mobilisieren. Die psychosexuelle Persönlichkeitsentwicklung formt nach der tiefenpsychologischen Theorie je nach der Persönlichkeitsstruktur ein eher typisch schizoides oder depressives oder zwanghaftes oder hysterisches Agieren und Reagieren. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die traumatischen Erfahrungen während der psychosexuellen Entwicklung im späteren Verhaltensrepertoire wiederholt werden und die Konfliktlösungsstrategien der betreffenden Person einschränken.37 – Menschen mit einer schizoiden Persönlichkeitsstruktur sind zutiefst verunsichert, Beziehungen klar definiert zu erleben; sie neigen dazu, eindeutige Positionen zu vermeiden, um einer möglicherweise drohenden Bestrafung für eventuelles Fehlverhalten in der Beziehung zu entgehen. Ihre Strategien im Lösungsverhalten sind deshalb davon bestimmt, Beziehungspositionen offen zu halten. Mit ihrer äußerst geschickten verbalen Kommunikationsfähigkeit sind sie eigentlich dauernd damit beschäftigt, sich zu distanzieren – von Menschen und von Konflikten (auch ihren eigenen). 37 Vgl. Fritz Riemann, Grundformen.

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– Depressiv veranlagte Personen unterliegen einem Harmoniezwang, der sie zu meist ungedeckten „Ja“-Schecks verleitet, wobei das wieder einschränkende „aber“ innerlich stets bereitliegt. Kritische Einwände zu ihrem Verhalten werden leicht als Entwertung oder Schuldvorwurf verstanden und empfunden. Ihre Strategien im Lösungsverhalten sind bestimmt von Aggressionsvermeidung; sie neigen zu schnellen (hingepfuschten) Kompromissen, wirken oft überangepasst und können schlecht mit ihren eigenen Kräften umgehen – Zwanghafte Menschen sind in ihren Gedanken und Verhaltensweisen vorwiegend damit beschäftigt, ihre irrationalen Ängste in den Griff zu bekommen: verbissen ringen sie in kleinen Bereichen, wo ein Durcheinander auch nur ansatzweise droht und darum gründlich „ausgemistet“ werden muss, um pedantische Ordnung. Ihre Strategien im Lösungsverhalten sind davon bestimmt, alles und jedes gründlich zu analysieren, ohne jedoch einen roten Faden zu finden. Sie operieren umständlich aufgrund ihrer skrupulösen Ambivalenz und kommen oft nie zu einem Ende. – So übertrieben, spektakulär und auch provokatorisch eine hysterisch organisierte Person ihr Leben auf der Bühne des Lebens zu inszenieren versteht, so fehlt ihr doch die ungebrochene Ganzheit; sie wirkt bei längerem Kontakt mal so und mal so und deshalb irgendwie nicht authentisch und bisweilen auch manipulativ. Ihre Strategien im Lösungsverhalten dienen weitgehend allein dem Zweck, im Mittelpunkt zu stehen oder anerkannt zu sein. Da ihre eigene innere Position nicht klar bestimmt ist, können sie nicht wirklich verhandeln; sie neigen eher dazu, die eigentlichen Konflikte zu annullieren, Probleme zu tabuisieren, Sündenböcke zu suchen, sich auf jeden Fall nicht festlegen zu lassen. Die Stresstheorie beschreibt die psychobiologische Antwort auf Stress als FIGHT - FLIGHT -R EAKTION . Angriff oder Flucht sind – 116–

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die persönlichen Bewältigungs- und Lösungsstrategien auf wahrgenommene „Bedrohung“ (Herausforderung). Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die für die Selbsterhaltung und Erhaltung der Spezies notwendigen emotionalen Verhaltensweisen mittels des autonomen Nervensystems aktiviert werden.38 Wird aufgrund der hirnphysiologischen Reaktionen vorrangig die „fight“-Route gewählt, wird die Person umgangssprachlich gern als „Kämpfernatur“ bezeichnet, womit lediglich die Herangehensweise an die Konfliktlösung beschrieben ist. Greift die Kämpfernatur zu Beschimpfungen oder Tätlichkeiten als Lösungsverhalten, vergrößert sich der Konflikt, statt dass er einer Lösung zugeführt wird. Der „flight“-Typ wird im Konfliktfall zu vermitteln versuchen, sich selber zurücknehmen, deeskalieren wollen; er neigt dann eher zum Herunterspielen und Beschwichtigen und wird auf diesem Weg den Konflikt nicht wirklich lösen, sondern trägt oft zur seiner Perpetuierung bei. Metaprinzipien menschlicher Organisationsformen Noch ein anderer gedanklicher Ansatzpunkt ist hilfreich: Die Metaprinzipien, nach denen Menschen ihr Leben und ihr Verhalten organisieren. Unabhängig von seiner persönlichen Lerngeschichte, seiner Persönlichkeitsstruktur und seiner psychobiologischen Programmierung wird jeder Mensch sich so verhalten, dass er – sein Überleben sichert: Die „geschlagene“ Frau aus dem obigen Beispiel39 kämpft ums Überleben. Ihr Wertesystem brachte sie an den Rand des für sie Erträglichen. – seinen Vorteil in einer Auseinandersetzung wahrt: Die verliebte Krankenschwester40 sucht einen Lösungsweg, der sie möglichst nicht benachteiligt. – auf dem Weg der geringeren Unlust wandelt:

38 Vgl. James B. Ashbrook, Soul. 39 Vgl. Kap. 2.2. 40 Vgl. Kap. 1.4.

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Der Student41 wägt ab, wie er am „billigsten“ zu einer Therapie kommen kann. Als oberstes Prinzip gilt das Sichern des Überlebens, dann der eigene Vorteil, schließlich die geringere Unlust. Diese hierarchische Ordnung hilft der beratenden Person zu erkennen, wie ernst die Lage für die ratsuchende Person ist. Bei der Erarbeitung von Lösungsstrategien kann die beratende Person sich an diesen Organisationsprinzipien der ratsuchenden Person deshalb hilfreich orientieren. Geht es der ratsuchenden Person darum, ein geringeres Maß an Unlust im Lebensablauf zu empfinden, ist die Arbeit für die beratende Person weniger anstrengend, als wenn es um schwerwiegende Benachteiligung oder um lebensentscheidende Fragen geht, die es zu lösen gilt. Das individuelle Lösungsverhalten wird darüber hinaus durch die Kommunikationsstrukturen im Sozialsystem verstärkt oder blockiert. – Streitende Paare offenbaren der beratenden Person meist schon nach wenigen Interaktionen, wie sehr sie sich wechselseitig in dem „mitgebrachten“ Lösungsverhalten verstärken oder aber: Die Lösungsstrategie der einen Person wird nicht zugelassen und schon im Ansatz unterdrückt. – Überbehütende Haltung von Eltern blockieren eigenständige Entwicklungen bei ihren Kindern nach dem Risiko von Versuch und Irrtum oder sie provozieren übermäßiges Protestverhalten in Konflikten. – Falsch verstandene bemäntelnde Nächstenliebe hindert kirchengemeindliche Gremien, offen und ehrlich miteinander zu reden und sich in einer kämpferischen Auseinandersetzung Lösungswege zu erarbeiten. 41 Vgl. Kap. 2.8.

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Der gesetzte Zielrahmen eines kirchengemeindlichen Gremiums, das mich um Supervision bat, lautete: „Wir regeln alles einmütig.“ Daraus resultiert, dass nur ein entsprechender Pool von Lösungsansätzen zur Verfügung steht, z.B.: – Dissens wird nicht offen ausgesprochen, sondern stillschweigend geschluckt. – Mehrheitsentscheidungen sind ein Sakrileg und fallen als Lösungsweg aus. Die Kenntnis der unterschiedlichen Lösungsstrategien und ihrer implizit intendierten Ziele hilft der beratenden Person, im Problemnebel der ratsuchenden Person nicht die Orientierung zu verlieren. Auch die Fixierung auf ein bestimmtes Lösungsmuster lässt sich so auflösen. Denn bei der Erkundung dessen, was die ratsuchende Person für sich als ein machbares und attraktives Ziel erkennen kann, wird die beratende Person alsbald auf fixierte Lösungsmuster stoßen, die der ratsuchenden Person ein alternatives Verhalten schwer machen oder gar verunmöglichen. Bei dem Prozess, „andere“ Lösungen zu erwirken, fallen der beratenden Person zwei Aufgaben zu. Sie hilft der ratsuchenden Person: x

sich selbst die Unwirksamkeit ihres bisherigen Lösungsverhaltens einzugestehen und zu erkennen, dass sie alle dem gleichen Strickmuster folgen (also Lösungen 1. Ordnung sind), und

x

an der Suche nach einer wirksamen Lösungsstrategie (wider die augenscheinliche Erfahrung der ratsuchenden Person) festzuhalten, obwohl sie das bisherige Lösungsverhalten der ratsuchenden Person für das eigentliche Problem hält (also nach einer Lösung 2. Ordnung Ausschau zu halten).

Die erste Aufgabe setzt bei der beratenden Person die Kunst der mäeutischen Gesprächsführung42 voraus. Mit immer neuen, 42 Vgl. Kap. 2.4.

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erkundenden „W-Fragen werden die bisher beschrittenen Lösungswege auf ihren Erfolg / Misserfolg hin abgetastet, bis die Erkenntnis eintritt: „Ich weiß, dass ich keine Lösung weiß.“ Die ratsuchende Person hat die „Spreu vom Weizen getrennt“. Nicht die beratende Person verkündet aus ihrer distanzierten Position die Unwirksamkeit des bisherigen Lösungsverhaltens. Die zweite Aufgabe setzt bei der beratenden Person die Kunst einer paradoxen Haltung voraus: „Es ist Ihnen wirklich nicht zu helfen, aber ich bin bereit, Ihnen zu helfen!“ Während meiner Kindheit in einem nordfriesischen Dorf beobachtete ich, mit welchem Trick die Bauern ihre zum Schlachten bestimmte Sau auf den Wagen brachten: Sie packten die Sau beherzt an ihrem Schwanz und zogen kurz und entschieden nach hinten, dann ließen sie los, und die Sau sauste auf den Wagen. Diese Nordfriesische Schweineschwanzmethode lässt sich (mit Abstrichen) auf das Kurzgespräch übertragen, wenn es darum geht, Lösungen zu erwirken: Je entschiedener die beratende Person betont, dass offensichtlich keine Lösungsaussicht besteht, desto wahrscheinlicher wird die ratsuchende Person die bisherige (fixierte) Lösungsroute verlassen und mit einem „Sprung nach vorne“ ganz woanders zur Lösung ansetzen. Der beratenden Person kommt dabei gelegentlich eine Hilfestellung zu: Die Lösungen erster Ordnung bewegen sich überwiegend auf dem Niveau der direkten Lösung. Die „perfekte Mutter“ sucht nach Wegen, wie sie die Erziehung ihrer Kinder planerisch perfekt gestalten kann. Erst die symbolische Lösung befreit sie aus dieser Lösungsfixierung: das Erinnerungsbild der Blumenwiese. Es ist methodisch hilfreich, im Kurzgespräch Lösungen erwirken zu wollen. Dieser Entschluss orientiert sich eng an den Erwartungen der ratsuchenden Person, die das Gespräch sucht, um sich gelöst und befreit dem Leben zuwenden zu können. Die beratende Person verzichtet auch hier auf das Problematisieren und bindet stattdessen die ratsuchende Per– 120–

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son mit ihren Fähigkeiten, Erfahrungen und Möglichkeiten in die gemeinsame Arbeit ein. Auf eine Lösung hinzuwirken, entspricht dabei meist dem anfänglich erteilten Mandat der ratsuchenden Person. Darum lohnt es sich für die beratende Person, sich das Mandat (und nicht die Einzelheiten des Problems) zu merken, um – falls das Mandat erledigt ist – das Kurzgespräch auch zu beenden.

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DAS DES

D

3

SCHLÜSSIGE

ENDE

KURZGESPRÄCHS

as einmalige Kurzgespräch ist in seiner Dauer nicht festgelegt.

Eine Therapiesitzung oder Beratungsstunde währt vertragsgemäß etwa 45 bis 50 Minuten. Die Länge der Begegnung im Kurzgespräch wird von der Erledigung des Mandats bestimmt, das die ratsuchende Person der beratenden übertragen hat. „Haben Sie ’mal einen Augenblick Zeit? Ich möchte Sie kurz ’was fragen.“ Ist die kurze Frage beantwortet, ist das Mandat erledigt und das Gespräch zu Ende.1 „Ich möchte nur kurz Ihre Meinung,“ sagt die Krankenschwester zur Pastorin, und nach 10 Minuten heißt es dann: „Ihre Meinung war mir doch sehr wichtig.“ Mit dieser Bemerkung verlässt die Krankenschwester das Zimmer.2 „Ich bin ganz durcheinander. Ich weiß eigentlich nicht, was ich will …“. Das so begonnene Gespräch in der C ITYSEELSORGE führt die Frau im weiteren Verlauf zu der Erkenntnis: „Die Hoffnung nicht aufgeben – nicht um jeden Preis“. Damit war für die ratsuchende Frau das Gesprächsmandat erledigt; als der Cityseelsorger noch weiter machen will, würgt sie ihn ab und beendet das Gespräch.3

1 Vgl. die Einführung in das Kurzgespräch. 2 Vgl. Kap. 1.4. 3 Vgl. Kap. 2.2

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Um zu einem schlüssigen Ende zu kommen, braucht die beratende Person ein Wissen darüber, welches Mandat ihr übertragen wurde. Dieses Mandat zu erkennen, fällt bisweilen schwer, da es sich entweder in den Eingangsfloskeln verbirgt und deshalb leicht überhört wird oder sich erst im Verlauf des Gesprächs durch mäeutisches Intervenieren eruieren lässt. Dass Kurzgespräche für beide Seiten unbefriedigend enden können, ist eine gängige Erfahrung aller, die sich auf diese Gesprächsform einlassen. Am deutlichsten wird die Unzufriedenheit, wenn beide kein Ende finden können und das Gespräch scheinbar endlos fortgehen könnte, sofern nicht eine der beiden beteiligten Personen das Entwirren des Konfliktknäuels aufgibt und den gordischen Knoten zerschlägt. Dieses gewaltsame Abbrechen ist auf beiden Seiten von Unmutsgefühlen begleitet und kann insbesondere bei der ratgebenden Person zu nachhaltigen Verstimmungen führen. Wer lässt sich gerne sagen: „Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben, aber helfen können Sie mir auch nicht; da muss ich wohl selber durch.“ Oder, nachdem die beratende Person ihre Ungeduld kaum noch zügeln kann: „Ich sehe, Sie haben keine Zeit mehr. Ich wollte Sie gar nicht so lange aufhalten, entschuldigen Sie bitte. Ich dachte nur, Sie könnten mir einen Rat geben.“ Und umgekehrt: Welche ratsuchende Person merkt nicht die Absicht hinter folgenden „Angeboten“ der ratgebenden Person und ist verstimmt: „Es tut mir Leid. Ich muss jetzt weiter. Kommen Sie doch in meine Sprechstunde oder rufen Sie mich an, dann können wir einen Termin vereinbaren.“ Auch der das Kurzgespräch beendende Verweis: „Sie sollten sich mal an eine Eheberatungsstelle wenden.“ wird eher als Platzverweis decodiert. Deshalb ist es hilfreich und erforderlich, sich mit den Inhalten, den Strukturen und Formen eines schlüssigen Endes des Kurzgesprächs auseinanderzusetzen und nicht unschlüssig darauf zu hoffen, dass es schließlich schon irgendwie zu Ende gehen wird.

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3.1 ergebnisorientiert beschließen Die inhaltlichen Ergebnisse des Kurzgesprächs erschließen sein Ende. Das einmalige Kurzgespräch ist ergebnisorientiert. Die ratsuchende Person nutzt eine Begegnung, einen Augenblick oder auch das Angebot eines einmaligen Gesprächs in der C ITYSEELSORGE oder Sprechstunde, um zu einem konkreten Ergebnis zu kommen, das ihr hilft, sich aus der bedrängenden Konfliktlage zu befreien. Ob sich im Verlauf eines kurzen Gesprächs in dieser Hinsicht etwas ergibt, hängt zum einen von der Methodik der Gesprächsführung der beratenden Person ab, zum andern von dem kreativen Potential der ratsuchenden Person. Was sich im Verlauf eines Kurzgesprächs ergibt, lässt sich festmachen an der Differenz zum Status quo ante: x

Konnte das Konfliktkarussell gestoppt werden?

x

Konnte das Drehmoment in eine lineare Bewegung gelenkt werden?

x

Konnte ein erreichbares, attraktives Ziel gefunden werden?

x

Konnte die ratsuchende Person sich auf ihre Kraftquellen besinnen?

x

Konnten Lösungen 1. Ordnung aufgegeben und eine Lösung 2. Ordnung gefunden werden?

x

Konnte eine symbolische Lösung angeboten und akzeptiert werden?

x

Konnte eine andere Sicht oder Anschauung entdeckt werden?

x

Konnte das asymmetrisch-komplementäre Beziehungsmuster zugunsten eines symmetrisch-solidarischen überwunden werden?

Unterschiede zum „vorher“, also zum Beginn des Kurzgesprächs sind die Bausteine für ein schlüssiges Ende des Kurz– 124–

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gesprächs. Nicht alle Differenzen müssen fein säuberlich benannt und aufgezählt werden. Die Konzentration auf die wesentliche Andersartigkeit hilft der ratsuchenden Person zu spüren, dass es von nun an „anders“ weitergehen kann. Das Gespräch zwischen dem Mann, der seine Frau geohrfeigt hat und sich nun in der C ITYSEELSORGE beim Pastor mal so richtig auskotzen will,4 entwickelte sich folgendermaßen und ging dann so zu Ende: P.: „Und wie geht es weiter?“ K.: „Das weiß ich noch nicht.“ P.: „Was müssen Sie wissen, damit es weitergeht?“ K.: „Ich müsste wissen, ob es Sinn macht, mit meiner Frau noch mal in Ruhe über alles zu reden. Ob sie das überhaupt noch will. Na, und wie gesagt, ob das überhaupt möglich ist zwischen ihr und mir. Dass wir so miteinander reden, dass da was bei rumkommt.“ P.: „Zwei Ziele schweben Ihnen vor: Will meine Frau überhaupt noch mit mir reden? Und: Ist ein Gespräch, das zwischen uns etwas verändert, überhaupt möglich?“ K.: „Beides hängt irgendwie zusammen –“ P.: „Angenommen: Ihre Frau ist bereit mit Ihnen zu reden – können wir uns ja mal denken. Und angenommen: Ihre Frau sitzt hier auf dem freien Stuhl mit uns am Tisch: Wer wird als erste(r) etwas sagen wollen?“ K.: denkt nach, windet sich, sucht Blickkontakt zum Pastor, dann: „Früher, also vor der Ohrfeige, da wäre das klar gewesen. Aber jetzt? – Ich möchte mich natürlich vorneweg erst mal für die Ohrfeige entschuldigen. Aber irgendwie wirkt das komisch, so förmlich, verstehen Sie? Und wenn es wirklich mit uns beiden weitergehen soll, müssen wir ganz ehrlich zueinander sein.“ P.: „Und was sagen Sie, wenn Sie ganz ehrlich sind zu Ihrer Frau?“ K.: „Ich will so nicht mehr mit dir weiterleben.“ 4 Vgl. Kap. 2.2.

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P.: „Sondern wie? –“ K.: „Ich brauche ein gewisses Maß an Ordnung und Verlässlichkeit.“ P.: „Also: Ich will, dass du ordentlich und verlässlich bist, so wie ich.“ K.: „Klingt hart, ist aber ehrlich.“ P.: „Wie oft haben Sie schon versucht, ihr das verständlich zu machen?“ K.: „Sie haben recht, das kann ich vergessen. Das bringt gar nichts.“ P.: „Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss sich der Prophet zum Berg aufmachen …“ K.: „Ja, und das ist die Frage, ob ich das will.“ P.: „Unter welchen Umständen wird sich das für Sie lohnen?“ K.: „Na, ich möchte schon, dass unsere Familie zusammenbleibt. Ich liebe unsere Kinder. Und ich liebe auch meine Frau!“ P.: „Was wird es Ihnen erleichtern, sich von Ihrem Glauben an eine gewisse Ordnung und Verlässlichkeit zu verabschieden?“ K.: „Vielleicht ist das gar nicht so schwer. Wissen Sie, manchmal hab ich schon gedacht: Setz dich doch einfach dazu und fang nicht gleich an zu meckern. Setz dich dazu und komm erst mal an. Lass die Kinder kommen. Lass die Frau kommen. Die kommen schon. Lass dich einfach aufs Sofa fallen und streck alle viere von dir. Mal sehn, was dann kommt. Irgendwie wird’s schon weitergehen.“ P.: „Also, der Ordnungsapostel kann auch ganz anders. Schön. – Und: die Ohrfeige –?“ K.: „Ich fahr jetzt nach Haus. Und dann werd ich sehn. Und wenn sie mich ’reinlässt, werd ich weitersehen: wie sie mich ansieht. Und wenn – verstehen Sie: Ich kann ihr das ansehen, wie sie denkt – und wenn ich sehe, dass sie mir verzeihen will, dann find ich auch die richtigen Worte. Und dann will ich ihr erzählen von meinem Besuch hier bei Ihnen und vom Berg und dem Propheten.“ P.: „O.K.“ K.: „Danke. Und: auf Wiedersehen!“

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Das Ende dieses Kurzgesprächs in der C ITYSEELSORGE erschließt sich aus dem, was sich im Verlauf des Gesprächs ergeben hat: – das Karussell von Vorwürfen, Rechtfertigungen und wechselseitigen Kränkungen wird verlassen; – der Mann verlässt seinen Standpunkt und bewegt sich auf seine Frau zu; – alle viere von sich strecken – ist für den Mann ein erreichbares und attraktives Ziel; – im Gesicht seiner Frau wahrnehmen können, was in ihr vorgeht, und die richtigen Worte finden können, sind wichtige Ressourcen, auf die der Mann zurückgreifen kann, falls es mit seiner Frau weitergeht; – die Lösung liegt nicht mehr darin, dass der Mann die Anpassung der Frau einfordert; – das Bild vom Berg und dem Propheten ließ den Knoten platzen; – die (für beide) entwürdigende Szene ist nicht mehr nur das Ende, sondern (möglicherweise) der Anfang einer lebbaren Beziehung. Es ist methodisch hilfreich, das Kurzgespräch ergebnisorientiert zu beschließen. Dabei fällt es der beratenden Person zu, kreierte Differenzen klar zu benennen und machbare Alternativen herauszustellen. Das mit der „Differenz“ verbundene veränderte Verhalten gilt es nicht einzufordern, sondern zur Disposition zu stellen, ob die ratsuchende Person sich darauf einlassen will und wird. Die anfängliche Anfrage (Mandat) lässt sich in Verbindung setzen zu dem, was sich im Verlauf des Kurzgesprächs „ergeben“ hat; so lässt sich das Kurzgespräch „ergebnisorientiert“ beschließen.

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3.2 sich entschließen Die ratsuchende Person vermag sich aus dem Kurzgespräch zu lösen, wenn sie sich zu einem ersten Schritt in eine andere Richtung entschlossen hat. Deshalb wird die beratende Person sorgsam darauf zu achten haben: Geht der erste Schritt x

in eine für die ratsuchende Person richtige Richtung;

x

ist er für sie angemessen, d.h.: weder zu groß, noch zu klein, vor allem aber attraktiv;

x

vermag er sich aus ihren (auch neu erschlossenen) Kraftquellen zu speisen;

x

motiviert er sie zu weiteren Schritten in diese Richtung?

„Da kann man nichts mehr machen.“ – Das war der Schlüsselsatz der unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Frau; die verzagte Frau entschließt sich nach wenigen Sätzen, die dem Pastor den Zugang zu ihr über das Wort „machen“ erschließen, zum aktiven Handeln. Eigentlich könnte das Gespräch damit enden, denn die Frau weiß ihre Richtung, unternimmt angemessene Schritte, die sie trotz ihrer schweren Erkrankung zu leisten imstande ist und wird ihr Werk auch schrittweise vollenden. Doch sie bricht ab und weint, und damit wird deutlich: Das ist noch kein schlüssiges Ende des Kurzgesprächs. Der Pastor zieht einen Stuhl heran, setzt sich ans Bett und nimmt die Hand der Frau: P.: „Frau F., Sie haben vieles gemacht in Ihrem Leben. Nun rüsten Sie fürs Letzte. Und dann kommen die Tage und Stunden, wo Sie nichts mehr machen können als zu warten, dass das Ende kommt.“ F.: „Davor hab ich Angst. Nicht vor den Schmerzen. Die Ärzte sagen: Ich brauch keine Schmerzen zu haben; es gibt gute Mit– 128–

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tel dagegen. Ich denke, das ist Morphium. – Ich hab auch keine Angst vor dem Tod. Es weiß ja keiner, wie es dann ist. Das kann ich gut in Gottes Hände geben. Ich weiß, dass alles in seiner Hand ist. – Nein: Ich hab Angst vor dem Sterben. Wie wird das bloß sein?“ – P.: „Was macht Ihnen dabei besonders Angst?“ F.: „Dass ich keine Luft mehr kriege.“ P.: „Ja, so wird es sein: Wenn wir sterben, hören wir auf zu atmen. Mit seinem Odem haucht Gott uns das Leben ein, und wir atmen. Und wenn wir sterben, zieht er seinen Odem zurück, und wir hören auf zu atmen.“ F.: „Das ist schön, dass Sie das so sagen, Herr Pastor. Dass wir atmen, das macht Gott. Und auch, wenn wir nicht mehr atmen. –“ P.: „Der erste Atemzug der Menschen und auch i(I)hr letzter liegen in Gottes Hand, Frau F.“ F.: „Danke.“ P. bietet Frau F. an, Gott für das Atmen im Gebet zu danken. Dann verabschiedet P. sich und kündigt einen Hausbesuch an, sobald Frau F. wieder zu Hause ist. Zum Handeln entschlossen sein darf nicht mit (über-)eifrigem Aktionismus verwechselt werden. Die Handlungsebenen der krebskranken Frau verlagern sich von der äußeren Lebensgestaltung in die innere Lebens(-ende-)bewältigung. Die Bereitschaft des Pastors, sich auf beide Ebenen einzulassen, zeigt die Möglichkeiten eines Kurzgesprächs am Krankenhausbett auf. Der Entschluss, sich aus den Grübelschleifen zu lösen und nun – zaghaft und zögerlich oder guten Mutes – zur Tat zu schreiten, wird für die beratende Person meist ersichtlich durch den Körperausdruck der ratsuchenden Person: – Sie richtet sich auf; – sie erhebt den Blick; – ihre Stimme wird fest.

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Lebensimpulse werden freigesetzt, und die beratende Person tut gut daran, sich nicht durch ein (zwar richtiges, aber doch) störendes Feedback einzumischen, sondern den Weg freizumachen, damit diese sich unbehindert entfalten können: aufbrechen Die beratende Person führt die Aufbruchsbewegungen der ratsuchenden Person synchron und in den Körperbewegungen möglichst identisch durch. loslassen Die beratende Person belässt es bei dem Schlusskommentar der ratsuchenden Person, ohne es zu verstärken oder zu korrigieren. entlassen Die beratende Person akzeptiert das von der ratsuchenden Person gewählte Abschiedsritual und ahmt es nach. Wer in Kurzgesprächen geübt ist, weiß, dass hier weniger mehr ist. Die oft ungeahnte menschliche Dichte im Kurzgespräch ist eine Intimität auf Zeit, aus der sich die ratsuchende Person leichter zu lösen vermag als die beratende. Denn die ratsuchende Person strebt neuen Ufern zu, während die beratende Person zurückbleibt – erschöpft von der Anstrengung, dem Menschen ein Mensch geworden zu sein. Es ist methodisch hilfreich, wenn die beratende Person darauf hinwirkt, dass die ratsuchende Person sich entschließt. Folgende Fragen legen sich nahe: – Wozu werden Sie sich entschließen? – Welcher Entschluss steht bei Ihnen fest? – Was werden Sie als Nächstes tun? Ein verbal klar ausgedrückter Entschluss, der auch intermodal kongruent ist, ist ein probater Maßstab dafür, ob und was in dem Kurzgespräch „erfolgt“ ist. Der nüchtern festgehaltene Erfolg ermutigt die ratsuchende Person, den Entschluss auch umzusetzen.

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3.3 sich verbünden Die ratsuchende und die ratgebende Person sind im Kurzgespräch für eine begrenzte Zeit zu Bündnispartnern gegen das sich unermüdlich drehende Konfliktkarussell geworden. So ist es schlüssig, wenn sie am Ende ihren Pakt förmlich besiegeln. In jedem Kurzgespräch präsentiert die ratsuchende Person (unbewusst) das Dilemma des „gefangenen“ Lebens. Im Verlauf des Gesprächs erkunden die beiden Beteiligten Wege und Möglichkeiten, das gefangene Leben wieder zu befreien. Je deutlicher beide es spüren, dass es tatsächlich (entgegen aller Erfahrung der ratsuchenden Person) – ein lohnendes Ziel (weil: klein, realisierbar, attraktiv), – eine Lösung von den Fesseln und auch – die dafür notwendigen Ressourcen gibt, desto näher kommen sie sich als menschliche Wegbegleiter auf Zeit. Sie werden zu gleichwertigen Bündnispartnern ganz im Sinne der prophetischen Verheißung, die uns im Jeremiabuch überliefert ist, dass im neuen Bund den Menschen das Gesetz Gottes ins Herz gegeben ist und dann keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren wird.5 Die Erkundungstour auf dem Weg in ein wieder befreites Leben macht aus den Beteiligten eine verschworene Gemeinschaft: Beide sind x

gleich berechtigt,

x

gleich wichtig und

x

gleich gefordert.

Auf der symmetrisch-solidarischen Achse fühlen beide sich als gleichberechtigte Menschen. 5 Altes Testament, Jeremia Kap. 31,34.

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In die C ITYSEELSORGE kommt eine Frau mit dem Anliegen: F.: „Ich brauche einen Menschen, mit dem ich offen reden kann.“6 Sie hofft, einen Verbündeten zu finden, mit dem sie aus ihrem Beziehungsdilemma entkommen kann: „Ich will da raus. Und ich hoffe, Sie können mir dabei helfen.“ B.: „Woraus soll ich Ihnen helfen?“ F.: „Es ist ein einziges Lügengebäude. Eine scheinheilige Heimlichtuerei.“ B.: „Erzählen Sie mir bitte, was ich unbedingt wissen muss, um diese Überschriften zu verstehen: ‚Lügengebäude‘, ‚Heimlichtuerei‘.“ F.: „Eigentlich ganz einfach: Ich hab seit Jahren eine Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann. Ich verheiratet, zwei Kinder; er verheiratet, drei Kinder. Unser Haus grenzt an ein Parzellengebiet. Deren Parzelle liegt gleich hinter unserm Haus. Die sind zwar etwas älter und haben schon erwachsene Kinder. Unsere gehen jetzt grade erst alle zur Schule. Wir haben, als wir unser Haus dort neu bauten, von Anfang an einen guten nachbarschaftlichen Kontakt zueinander gehabt, uns hier und da ausgeholfen, mal auch einen Abend miteinander verbracht. Na, und dann fing es an: erst mit kleinen zärtlichen Berührungen. Daraus wurde dann immer mehr. Ich bin immer zu Hause, er kam öfter mal allein zur Parzelle. Na, und den Rest können Sie sich denken. – Mein Mann und seine Frau haben bis heute nichts davon gemerkt. Ich hab mir viele Male vorgenommen, Schluss damit zu machen. Aber wenn er dann da ist, kann ich nicht anders und mache wieder mit.“ B.: „Wie stellen Sie sich das ‚Schluss machen‘ vor?“ F.: „Ehrlich gesagt: überhaupt nicht. Immer erst hinterher, dann hab ich ein schlechtes Gewissen meinem Mann und meinen Kindern gegenüber. Dann mal’ ich mir aus, was wäre, wenn das aufflöge. Alle würden wie aus den Wolken fallen. Und es würde beide Familien zerstören. Und für uns beide – da gibt es keine Zukunft. Darüber reden wir auch nicht. Die will ich nicht, er sicher auch nicht. Es ist nur der erotische Reiz, der uns magisch anzieht.“ 6 Fortsetzung aus Kap. 2.1.

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B.: „Welcher Gegenzauber wird diese Magie bannen können?“ F.: „Gegen Liebe ist kein Kraut gewachsen, sagt man ja so. Aber, ich sag Ihnen: Mit Liebe hat das nichts zu tun. Es geht uns nur um Sex.“ B.: „Wo finden wir das Kraut gegen dieses Verlangen nach Sex, wenn es das denn gibt?“ F.: „Verlangen nach Sex, das haben Sie gut gesagt. Denn bei dem Mann stille ich mein Verlangen nach Sex – ganz offen, so wie ich will und es mir Spaß macht. Bei meinem Mann halte ich mich zurück. Schon immer. Er ist sehr zärtlich, aber –“ B.: „Ich biete Ihnen eine Vision an und lade Sie ein, sich einen Augenblick darauf einzulassen: Angenommen, ihr sexuelles Verlangen wird von ihrem Mann gestillt …“ F.: „Das hab ich mir schon manchmal ausgemalt, und ich weiß, dann ist Schluss mit dem heimlichen Sex. Aber …“ B.: „Hat es irgendwann einmal einen Ansatz von fröhlichem oder gar wildem Sex zwischen Ihnen und Ihrem Mann gegeben?“ F.: „Bevor wir zusammengezogen sind, da haben wir die verrücktesten Ideen gehabt, wie und wo wir uns lieben könnten. Da hatten wir keine Hemmungen.“ B.: „Wie können Sie da wieder hinkommen?“ F.: schmunzelt, schaut ein wenig verschmitzt aus den Augen und sagt: „Einmal – das muss ich Ihnen erzählen – bei seinen Eltern, da durften wir nicht in einem Zimmer zusammenschlafen, bevor wir verheiratet waren – da sind wir in den Keller gegangen und dabei haben wir ein ganzes Regal umgestoßen. Peinlich, peinlich – alle wussten Bescheid, aber keiner hat was gesagt. Aber schön war’s trotzdem. Und jetzt, nach zwölf Jahren Ehe: im Schlafzimmer das, was erlaubt ist, und auf der Parzelle das, was verboten ist.“ B.: „Und wer stellt jetzt diese Regel auf?“ F.: „Ich weiß nicht; es hat sich einfach so ‚eingeregelt‘, wenn Sie so wollen.“ B.: „Wer kann die Regel außer Kraft setzen?“ F.: „Wir beide – mein Mann und ich. Vielleicht müsste ich ihn einfach mal im Keller verführen. Das mein ich nicht wörtlich, Sie verstehen schon.“ B.: „Wie realistisch ist das?“ – 133–

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F.: „Ich muss es ausprobieren. Einfach machen. Ja, einfach machen.“ B.: „Gut. Einfach machen.“ F.: „Ja.“ Die Frau erhebt sich, schaut dem C ITYSEELSORGER klar an, reicht ihm die Hand, sagt: „Danke!“ und geht. Der Berater erwidert ihren festen Händedruck zum Abschied, nickt ihr lächelnd zu, bleibt stehen und lässt sie allein zur Tür herausgehen. Es ist methodisch hilfreich, sich am Ende eines Kurzgesprächs mit der ratsuchenden Person zu verbünden. x

Ein bewusst fester Händedruck wirkt wie ein Handschlagvertrag, das gemeinsam Erarbeitete umzusetzen.

x

Ein langer, tiefer Augenblick vergewissert beide der Aufrichtigkeit.

x

Eine Handauflegung auf die Schulter ermutigt, den zwar schweren, aber anderen Weg zu gehen.

x

Ein Gebet oder eine Segnung bindet ein in die Gemeinschaft der Heiligen, stärkt das Vertrauen in Gottes liebende Fürsorge.

Wenn die Wege sich nach einem einmaligen Gespräch trennen und die Wahrscheinlichkeit äußerst gering ist, sich je wieder zu begegnen, helfen Bündnisgesten, den Weg allein fortzusetzen: Wer sich verbündet, fühlt sich solidarisch mit seinem Mitmenschen – ob er nun Ratsuchender oder Beratender ist.

3.4 sich bescheiden Um zu einem schlüssigen Ende zu finden, ist es für die beratende Person entscheidend, sich bescheiden zu können auf das begrenzte Mandat, das ihr übertragen wurde. Explizit überträgt die ratsuchende Person in ihren ersten Sätzen beim – 134–

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Kurzgespräch der beratenden Person einen konkreten Auftrag, z. B.: „Ich brauche Ihren Rat. Mir wird zum Monatsende betriebsbedingt gekündigt. Ich weiß nicht mehr weiter.“ Implizit überträgt die ratsuchende Person mit dieser Anfrage der beratenden Person das Anliegen: „Zeig mir, wie ich weitermachen kann. = Hilf mir, eine Lösung zu finden.“ Deshalb ist es im Kurzgespräch für die ratgebende Person angebracht, nicht problem-, sondern lösungsorientiert vorzugehen. Damit verzichtet sie auf theoretische Konzepte, die die gegenwärtige Konfliktlage in ihrer Komplexität verstehbar machen. Sie bescheidet sich vielmehr mit der einfachen Vorgehensweise, ob und wie es der ratsuchenden Person gelingen kann, sich mit eigenen Kräften aus der Sackgasse zu befreien. Der Verzicht auf Diagnosemodelle bringt es mit sich, dass die ratsuchende Person eine defizitorientierte Vorgehensweise, die der Erhärtung ihrer Diagnose dient, aufgibt und sich mit einer ressourcenorientierten Erkundungstour bescheidet. Gesucht wird das Andere, das eine Veränderung ermöglicht, und nicht das Gleiche, wodurch das Gefühl der Hilflosigkeit und Unfähigkeit verstärkt wird. Die beratende Person verbündet sich mit den Lebensanteilen, die die ratsuchende Person in der Hoffnung bestärken, „weitermachen“ zu können. Es geht im Kurzgespräch nicht um „Heilung“ und in diesem Sinn um „Therapie“. Die beratende Person bescheidet sich damit, dass die ratsuchende Person wieder handlungsfähig wird für einen ersten bescheidenen Schritt auf ein weiterführendes Ziel hin. Nicht die „Ganzheit“ der ratsuchenden Person steht im Vordergrund der Bemühungen der beratenden Person, sondern der Impuls, die selbsthelfenden Kräfte der ratsuchenden Person zu innervieren. Die beratende Person bescheidet sich mit der Rolle des Wegbegleiters: „Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.“7 Statt dass die beratende Person 7 Neues Testament, Matthäusevangelium Kap. 5,41.

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sich mit der Aura eines Wunderheilers (Gurus) umgibt, steht ihr nach einer kurzen, mühseligen und alle Kräfte fordernden Wegstrecke der Schweiß auf der Stirn. Und der Dank für die geleistete Arbeit kommt bisweilen erst nach Jahren auf einer Postkarte ins Haus geflattert.8 Es ist methodisch hilfreich, sich im Kurzgespräch zu bescheiden. Denn diese so verstandene Bescheidenheit ermöglicht es der beratenden Person, trotz eines (vielleicht) überfallartigen Beginns eines Kurzgesprächs, das unter Zeitdruck steht und die beratende Person mit der Komplexität des offenbarten Problem zu erschlagen droht, ruhig und bedächtig und entschieden zu handeln. Das Weniger auf der einen Seite gibt ihr auf der anderen Seite ein Mehr an Möglichkeiten im Hier und Jetzt. Wenn das Wenige zum Wesentlichen wird, bekommt das Kurzgespräch einen tiefen Gang, der menschliches Nahesein zu der beglückenden Erfahrung verdichtet, dass es sich lohnt, miteinander zu reden, zu kommunizieren.

8 Vgl. Kap. 2.9.

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DAS

4

HILFREICHE

KURZGESPRÄCH

4.1 Vom Helfen

E

inem Menschen in Not zu helfen, versteht sich von selber. Das gilt für alle in der christlichen Wertetradition sozialisierten Menschen des Abendlandes, auch wenn die Verwurzelung in der biblischen Überlieferung immer weniger bekannt ist. Der barmherzige Samariter 1 ist das allen vertraute Synonym für diese von jedem in die Gesellschaft integrierten Mitglied stillschweigend erwartete Haltung; unterlassene Hilfeleistung ist ein Straftatbestand. Je weiter sich diese Helferhaltung von ihrer religiösen Verortung in der von Gott geforderten Verantwortung für die Mitgeschöpfe entfernt, desto stärker entwickelt sie sich entweder – in die Perversion des Helfersyndroms2 oder – in das sich ausufernd diversifizierende professionelle Helfertum.

Menschen, die signalisieren und sich anbieten, dass sie ständig bereit und willens sind zu helfen, erliegen aufgrund einer psychischen Fehlentwicklung dem Helfersyndrom. Ihr habituelles Verlangen, ihren Selbstwert mittels ihrer Helferhaltung zu bestätigen, kann im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung ausarten:

1 Neues Testament, Lukasevangelium Kap. 10,25 ff. 2 Vgl. dazu Schmidtbauer, Helfer.

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– Die Bedürfnisse anderer zu befriedigen beherrscht das Selbstkonzept. – Sie fühlen sich wohl, wenn sie Verantwortung für einen Mitmenschen übernehmen dürfen. – Bis zur körperlichen und seelischen Erschöpfung stellen sie sich in den Dienst anderer. – Mangelnde und auch ausbleibende Anerkennung für ihre Helferbereitschaft wird mit der Selbstrechtfertigung annulliert, lediglich verkannt zu sein. Die am Helfersyndrom leidenden Menschen können sich über eine psychotherapeutische Behandlung von ihrem Helferheldentum lösen. Mit gekonntem professionellen Helfertum lässt sich Geld verdienen: Ärzte und Advokaten wussten das schon immer; Priester hatten ihren meist nicht geringen Anteil am gottgeweihten Opfer. Aus »dem Arzt« sind inzwischen ärztliche Fachrichtungen hervorgegangen. Hinzu kommen die diversen psychotherapeutisch ausgebildeten Helfer. Bei »den Juristen«, »den Pastoren«, »den Lehrern«, »den Krankenschwestern« usw. sieht es ähnlich aus. Je präziser die hilfesuchende Person ihr Defizit zu benennen weiß (oder ihr diagnostiziert wird), desto klarer lässt sich ein helfender Profi mit entsprechender Gebührenordnung bzw. Gehaltsstufe zuweisen. Gefragt sind die Kompetenz und die berufsständische Qualifizierung (und nicht die Seele), und beides hat seinen Preis. Ein hilfesuchender Mensch hat meist ein untrügliches Gespür dafür, ob die ihm helfende fachlich qualifizierte Person ein Mensch »mit Seele« ist – oder nicht. Abgetastet wird dieses in dem Rand- und in dem Zentralbereich der Begegnung. Die biblische Überlieferung verortet das »Helfen« im Schöpfungswirken Gottes: Dann sprach Gott, der Herr: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.«3 3 Gen. 2, 18, zitiert nach der Einheitsübersetzung

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Zur Entfaltung seines Mensch-Seins braucht der Mensch ein hilfreiches Gegenüber, das ihm ent-spricht, das mit ihm spricht. Dieses Sprechen führt den Menschen aus seinem Allein-sein und -bleiben heraus und ermöglicht ihm, sich und sein Gegenüber als geselliges Wesen zu erleben mit alledem, was dieses ausmacht: Freud und Leid, Angst und Mut, Hoffnung und Verzweiflung, Lust und Langeweile. So wird das wechselseitige (Ent-)Sprechen zur Geburtsstunde des seelisch-empfindenden Menschen. Zur physischen Grundausstattung tritt die psychische Lebenskomponente jedoch nicht aus heiterem Himmel, sondern dazu verhilft das ent-sprechende Gegenüber. Alle Menschen machen die Erfahrung, dass dieses Gegenüber durchaus nicht immer hilfreich ist: die in der Genesis auf diesen gottgewollten Anfang folgenden menschlichen Fortsetzungen zeichnen ein düsteres Bild des zerstörerischen Potentials, das der homo soziologicus imstande ist zu entfalten. Aber ebenso wird die biblische Überlieferung nicht müde, den Anspruch zu behaupten, dass auf dem Miteinander-Sprechen der Segen menschlicher Geselligkeit ruht, die nach Gottes Willen wahres Mensch-Sein erst ausmacht. Ein Segen sollst du sein!4 Nach dem Desaster der Sintflut spricht Gott dieses Mandat Abram zu, dem Urvater eines sich um Gott gesellenden Volkes. »Ein Segen, dass es dich gibt!« oder einfach: »Ein Segen, dass du da bist!« Menschen, denen diese Worte aus dem Herzen quellen, haben ganz unmittelbar den Segen des hilfreichen Gegenübers im (Ent-)Sprechen eines Menschen erfahren. Blinde, Lahme, Taube, Sprachlose, Krüppel, Kranke, Verachtete, Hilflose, Geschändete und Gefolterte finden in Jesus von Nazareth dieses segensreiche Gegenüber – meist, so wird es uns überliefert, in kurzen, einmaligen Begegnungen mit ihm: sie kehren zurück in die Geselligkeit des Gottesvolkes und empfinden dankbar den Wert ihres schon für verloren gehaltenen Lebens.

4 Gen. 12, 2, zitiert nach der Einheitsübersetzung

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4.2 Von der Sorge um die Seele Der Anlass für ein Kurzgespräch ist bei der ratsuchenden Person die gefühlsmäßige Erkenntnis, sich in einer Sackgasse festgefahren zu haben. Das Anliegen, sich deswegen an ein hilfreiches Gegenüber zu wenden, um eine befreiende Wegweisung zu erhalten, ist vordergründig; hintergründig schwingt mit, auf diesem Weg wieder zu einem seelischen Wohlbefinden zu gelangen. Der weitergehende Auftrag an die beratende Person lautet also: »Sorg dich (auch) um meine «Seele»!« Der beratenden Person wird zugetraut, dass sie darum besorgt ist, der ratsuchenden Person zu helfen, sich wieder psychisch ausgeglichen zu fühlen. Dieser Anspruch, der ratsuchenden Person eine lebbare Balance zwischen »leiblichem« und »seelischem« Befinden zu besorgen, ist ein natürliches, kreatürliches Verlangen. Jede Störung dieses auf die Ganzheitlichkeit des Menschen zielenden Gleichgewichts wird von Menschen aller Zeiten und Kulturen als schmerzlich und das eigene Leben und die Gemeinschaft gefährdend erlebt. Darum greift eine Beseitigung des leiblichen Störfaktors (Krankheit, Arbeitslosigkeit, Beziehungsverlust, Gewalt) zu kurz, wenn die beratende Person nicht auch die Heilung des seelischen Schadens (Hoffnungslosigkeit, Vereinsamung, Lebensunlust, Bedeutungsverlust) im Blick hat. Wer sich auf Kurzgespräche einlässt, wird verwundert die Erfahrung machen, wie unmittelbar offen die ratsuchende Person sich auf diesen ganzheitlichen Aspekt ansprechen lässt, ja angesprochen werden möchte. Dieser Anspruch verbindet sich nicht mit der Profession der helfenden Person, sondern mit deren Bereitschaft und Art, sich Zeit zu nehmen, sich zuzuwenden, aufmerksam auf die sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen der ratsuchenden Person zu achten und sich über den vordergründigen Anlass hinaus des hintergründigen Anliegens direkt und selbstoffenbarend anzunehmen. Dabei gehe ich davon aus, zwischen »Seelsorge« einerseits und fachlich qualifizierter »Beratung« (z.B. Paar- oder Schwangerschaftskonfliktberatung) oder andererseits professioneller – 140–

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»Heilbehandlung psychischer Erkrankungen« (Psychotherapie) sauber und eindeutig zu unterscheiden. Durch die enge Anlehnung von Seelsorgekonzepten5 an Psychologie, Psychoanalyse und anderer Psychotherapiekonzepte orientiert sich die Seelsorgeausbildung und -praxis tendenziell an Krisen-, Konflikt- und Persönlichkeitsanalysen 5 Exkurs: Ein Streiflicht zum Verständnis von ›Seelsorge‹. Nach Plato (428–348 v. Chr.) hat Sokrates seine Mitbürger angeregt, auf die   « « zu achten, weil die Seele des Lebens im Gegensatz zur körperlich-leiblichen Existenz unsterblich sei. Diese dualistische Sichtweise menschlichen Seins verleiht der ›Seel-Sorge‹ ihr besonderes Gewicht gegenüber der ›Leib-Sorge‹. Hippokrates (460–370 v. Chr.) nennt in seiner Auflistung therapeutischer Maßnahmen das Gespräch an erster Stelle: »Was das Wort nicht heilt, das heilt das Kraut. Was das Kraut nicht heilt, das heilt das Eisen (= Messer), was das Eisen nicht heilt, das heilt das Feuer (=Fieber). Was das Feuer nicht heilt, das heilt der Tod (= übrig bleibt die vom kranken Körper geheilte Seele). Seelsorge ist bis heute durchaus in säkularen Bereichen anzutreffen (alle Formen von Psychotherapien, Meditationen, Ayurveda, Yoga, Körperübungen). Papst Gregor I. überträgt in seiner »regula pastoralis« den griechischen Begriff in die lateinische Form »cura pastoralis« (nicht: cura animarum!) und verknüpft damit die »Seel-Sorge« mit dem Hirtenamt (lat. «pastor»). In den Erwartungen und Sprachformulierungen wird demzufolge »SeelSorge« bis heute oft eng verbunden mit dem theologisch gebildeten «Amtsträger»: Pastor, Pastoraltheologie, Poimenik, pastoral care, clinical pastoral training/education. Die »Pastoral« der röm. kath. Kirche umfasst als cura animarum generalis alle geistlichen Dienste (des «Hirtenamtes»), während sich die protestantischen Kirchen in der cura animarum specialis auf den Einzelnen im persönlichen Gespräch konzentrieren. Dem kerygmatischen Ansatz der verkündigenden Seelsorge (Thurneisen, Asmussen) tritt mit der Seelsorgebewegung (Niederlande) seit Anfang der 1960-er Jahre die therapeutische oder auch edukative Seelsorge entgegen. Die sich daraus entwickelnde Pastoralpsychologie rezipiert psychologische, psychoanalytische und andere psychotherapeutische Konzepte (Scharfenberg/Stollberg/Winkler/Morgenthaler). Besonders die nicht-direktive personenzentrierte Gesprächsführung (Rogers, Tausch) entspricht dem induktiven Vorgehen der Seelsorgebewegung mit ihrer Forderung einer Grundhaltung der Empathie, des Akzeptierens und der Wiedergabe emotionaler Erlebnisinhalte («spiegeln»). vgl. dazu: Jürgen Ziemer, Art. Seelsorge. ii. Geschichtlich, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 7. Hrsg. v. Hans Dieter Betz u.a. Tübingen 2004, Sp. 1111–1114.

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und deren Behandlung. Dabei geraten sie unversehens an die Grenzen ihrer Kompetenz oder sind als solche kaum noch von Psycho-Konzepten zu unterscheiden. Die Gesprächsführung der psychologischen und psychotherapeutischen Seelsorge stehen mit ihren inhaltlichen und zeitlichen Anforderungen im krassen Widerspruch zur pfarramtlichen Realität: Das notwendige therapeutische Setting kann nicht vorgehalten bzw. angeboten werden. Die Folge: die cura animarum specialis verkümmert in belangloser Geschwätzigkeit oder unterbleibt schlicht im pfarramtlichen Alltag, da die (im Vergleich zu einer langfristigen psychotherapeutischen Ausbildung meist in Schnellkursen) erlernten Psycho-Methoden praktisch nicht umgesetzt werden können, außer evtl. in besonderen Funktionspfarrämtern nach entsprechender langjähriger Weiterbildung Die Wahrnehmung der Menschen in der Gemeinde lenkt die Aufmerksamkeit der Seelsorgenden auf Alltagssituationen, in denen ihnen – ex- oder implizit – wiederholt die Bitte oder gar die Forderung angetragen wird: »Sorg dich um mich (= um meine Seele)!« Dabei geht es für die anfragende Person um eine durch das Gespräch mit der seelsorgenden Person vermittelte/erfahrbare Horizonterweiterung, in der Leben wieder bejaht wird. Wesentliche Voraussetzung für diese »alltägliche« Seelsorge ist zum einen die Bereitschaft der angesprochenen Person, sich der inneren und äußeren Sprache der anfragenden Person anzupassen, in der diese sich bis jetzt mit sich selbst verständigt hat. Das ›Sich-sorgen-um-die-Seele‹ erfährt die anfragende Person zum einen daraus, wie sorgsam die angesprochene Person mit der geäußerten Sprache ihres inneren Dialogs umgeht. Die Methoden des bündigen Kurzgesprächs bieten die Hilfestellung für das ›Funktionieren‹ eines seelsorglichen Dialogs. Zum anderen orientiert sich das seelsorgliche Gegenüber dabei an einem Menschenbild, in dem Mensch-Sein ausge– 142–

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richtet ist auf eine Zukunft, die von Gottes Liebe durchdrungen ist und in der das ihm geschenkte Leben liebevoll zur Entfaltung kommt. Das Proprium christlicher Seelsorge wird dann erfahrbar, wenn ›Seelsorgen‹ als ein pneumatisches Geschehen konzipiert und von der Liebe Gottes zum Menschen inspiriert und innerviert ist. Christlich Seelsorgende glauben, dass allein die geistvolle Art Gottes, auch restlos entwertetes Menschenleben zu lieben, einen Menschen inspirieren kann und wird, sich einem Lebensentwurf und -vollzug wieder zu nähern, mit dem dieser Mensch ewig leben wird6. Seelsorgende, die sich am Menschenbild Jesu orientieren, sind daran interessiert, dass Menschen im seelsorglichen Dialog wieder zu einer Übereinstimmung ihres Lebensvollzugs mit der geistlichen Bestimmung ihres Lebens finden. Der Dialog von Mensch zu Mensch wird durchdrungen vom Dialog Gott – Mensch. Es geht also um konkrete Gestaltung des zukünftigen Lebens: Mensch zu sein, den Gott geschaffen, berufen und durch Jesus auf die Spur des ewigen Lebens gesetzt hat, das hier und jetzt beginnt. Dabei geraten zunächst die Verwerfungen dieses MenschSeins in den Blick der Selbsterkenntnis. Das Erkennen dieser Verwerfungen – bis hin zu dem »Scherbenhaufen« eines total gescheiterten Lebens – erfährt seine besondere Tiefe im Licht der Gotteserkenntnis durch das Hören auf das Wort Jesu, das auch den Menschen selig spricht, der am Leid seines »verdammten« (fragmentierten) Lebens zerbricht. Wo dies geschieht, machen Menschen eine Evidenzerfahrung, die präsentisch als Rettung vom Tod ins Leben erlebt wird und Anteil gibt an der Fülle des göttlichen Lebens. Gesprächsmethoden (»-techniken«) und auch die seelsorgliche Haltung können diese Evidenzerfahrung nicht herbeizwingen: sie stellt sich ein und ist ein Geschenk des göttlichen Geistes. Das weist Seelsorger/innen auf den Pilgerweg, ihre Bedürftigkeit anzuerkennen und sich auf Gott hin zu öff-

6 Vgl. Mk. 10, 21; Mt. 9, 2 +6; Joh. 6, 11u. ä.

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nen. Und es lehrt sie, sich konsequent auf das zu bescheiden, was wesentlich ist. Es liegt an ihnen, dazu beizutragen, dass größtmögliche Klarheit und Einsicht für die anfragende Person entsteht. Es gilt, in einer bestimmten aktuellen Situation der anfragenden Person einen Impuls im inneren Dialog zu geben, was zu tun ist, damit – sofern der Geist Gottes im Vollzug dieser einmaligen Begegnung wirkt – ihre Lebensführung (wieder) zusammenklingt mit der göttlichen Bestimmung. Unser Leben ist ohne die Herausforderung und Infragestellung durch andere, ohne diese Erschütterung unserer Selbstharmonie nicht das, wozu es fähig ist. Gott sei es gedankt, der christlich Seelsorgende beruft, befähigt und ermutigt, durch Jesus Christus und seinen Heiligen Geist sich den schmerzhaften Beziehungsfragmenten des Gegenübers zuzuwenden, mit ihm zu fühlen und sich zu freuen, zu vertrauen und zu lieben. Christliche Seelsorge ereignet sich – um Gottes Willen – alltäglich in wachsamer, sich selbst zurücknehmender, zartliebender Aufmerksamkeit und Bereitschaft, für andere dazu sein. Die Kunst des Kurzgesprächs ist dabei eine hilfreiche Dienerin der Seelsorge.

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EINBLICKE IN DIE PRAXIS DES K URZGESPRÄCHS

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m zu veranschaulichen, wie das Kurzgespräch in verschiedenen Bereichen der Seelsorge und Beratung wirksam eingesetzt werden kann, habe ich Mitarbeiter/innen der Arbeitsgemeinschaft Kurzgespräch1 gebeten, mir Beiträge für die 4. Auflage dieses Buches zur Verfügung zu stellen. Bei der Zusammenstellung geht es nicht um Vollständigkeit oder irgendeine Form der Gewichtung der Anwendungsbereiche für das Kurzgespräch, sondern um die freundliche Bereitschaft, etwas zum Kurzgespräch zu schreiben.

5.1 Im Krankenhaus Krankenhausseelsorger sind gut ausgebildet für einfühlende und klärende Gespräche auch bei längeren Begleitungen. Doch die inzwischen sehr kurze Patienten-»Liegedauer« (durchschnittlich 5–6 Tage, schwere Krankheitsbilder natürlich länger) und die entsprechend hohe Fluktuation braucht zusätzlich einen Seelsorgeansatz, der schnell umschalten kann auf einmalige Gesprächskontakte und Kurzbegleitungen und situationsfokussiert ist. Es braucht die Fähigkeit der Seelsorgerin, methodisch zwischen langen Begleitungen, typischen Kurzgesprächen und Elementen des Kurzgesprächs mitten in längeren Begleitungen hin und her zu pendeln – und dies alles in interessierter, respekt- und humorvoller und dabei authentischer Zuwendung dem Gesprächspartner gegenüber.

1 Nähere Angaben zu den Autorinnen und Autoren unter www.kurzgespräch.de/Mitarbeiter/innen

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Haltung, Elemente und Methoden des Kurzgesprächs im Sinne dieses Buches passen zu ganz verschiedenen »settings« im Klinikalltag – vor allem natürlich zu Situationen »zwischen Tür und Angel« mit Patienten, Angehörigen und Mitarbeiterinnen besonders dort, wo die Seelsorgerin schon zumindest flüchtig bekannt und etwas einschätzbar ist. Beispiele: Angehörige auf der Intensivstation – »Ich habe Sie hier schon öfter gesehen. Ich habe da mal eine Frage …« Ich bleibe stehen, wende mich zu und suche den Blickkontakt: »Welche Frage haben Sie im Blick.« Pflegekräfte einer anderen Station sagen, als ich zufällig vorbeikomme: »Gestern hätten wir Sie mal gebraucht!«, und ich reagiere: »Wozu brauchen Sie mich heute.« Der Konflikt, die Belastung von gestern und oft auch die selbst gefundenen Lösungen können geschildert, gewürdigt und wenn nötig noch einmal im Licht des neuen Tages neu reflektiert werden. Viele methodische Elemente des Kurzgesprächs lassen sich gut in den diversen settings des Klinikalltags einsetzen – vor allem die Fähigkeit des genauen sprachlichen Andockens, Beachten der sprachlichen »Wortfelder«, Schlüsselworte und vor allem das mäeutische Fragen. Das gilt neben den Gesprächen mit Patienten sowohl für die Begleitung Ehrenamtlicher im Krankenbesuchsdienst oder die Gestaltung von Klinikfortbildungen als auch für die Moderation ethischer Fallbesprechungen zwischen Ärzten, Pflegenden und Angehörigen, wenn die weitere Behandlung eines Patienten strittig ist. Beispiele: Ein Teilnehmer einer Fallbesprechung drückt sich so aus: »Wir stecken fest«. Ich setze den Impuls: »Wohin möchten Sie sich bewegen.« Das kann einen gemeinsamen Suchprozess erleichtern: Weil ich mich sprachlich in dem für mein Gegenüber ge– 146–

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wählten und deshalb »passenden« Wortfeld andocke, ich kein ihm »fremdes« Wort einbringe, kommen wir uns auf der Ebene der Sprachverständigung näher. Der mäeutische Frageimpuls eröffnet einen freien Raum des Nachdenkens. Beim Verabschieden an der Kapellentür spricht eine Frau, die immer mal wieder von außerhalb zu den Klinik-Gottesdiensten kommt, die Pfarrerin an: »Hilft es Verstorbenen, wenn man für sie betet?« Die freundlich-behutsame Reaktion modifiziert Schlüsselworte: »Wofür beten Sie«. In der Antwort schält sich das ambivalente Verhältnis zur verstorbenen Mutter heraus, Schuldgefühle, sie »geistere« noch rum, sei nicht im Himmel angekommen. Auch eine Therapie habe der Tochter nicht geholfen, Frieden zu finden. Mit freundlicher Redundanz setze ich nochmals an: »Wofür beten Sie.« »Ja, dass ich meinen Frieden finde.« Eine Krisensituation wie das Krankenhaus ist eine Verstörung der gewohnten Balance. Diese kann eine unbewusste Bereitschaft erzeugen, sich positiv stören zu lassen, um eine neue Balance zu finden. Wenn dann ein unbekannter Seelsorger auftaucht, kann das wie eine »günstige Gelegenheit« aufgefasst und der Kairos genutzt werden. Beispiel: Mein etwas flapsiger Kontaktversuch zu einem betagten Patienten öffnet unversehens eine Tür in seine Biografie: »Was haben Sie denn angestellt, dass Sie hier gelandet sind?« – »Wollen Sie das wirklich wissen?« Ich merke, dass ich einen heiklen Punkt berührt habe, nicke tapfer: »Ja«, und vermute eher eine bedrohliche Krankheitsgeschichte. Da erzählt er, dass er Jude sei und wie er die Shoah überlebte. »Überleben anstellen« ist das Schlüsselwort unseres Gesprächs. Beim zweiten Kontakt beichte ich ihm, wie peinlich im Nachhinein mir meine flapsige Eingangsbemerkung war. »Wieso? Ich erzähle das ja nicht jedem!« – 147–

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Mir wird deutlich, dass mein Anfangssatz andockte an seinem offenen Gesicht, vielleicht sogar lud ein Schalk im Blick dieses alten Mannes mich ein, ins Fettnäpfchen, nein besser: in sein Leben zu treten. Ein Patient (P) auf der Palliativstation, der Seelsorger (S) hat sich ihm gerade vorgestellt. P: »Ich gucke oft durch mein Fenster auf die Kirche … Komisch, dass die Kirchen (! ) mich in meinem Leben so begleiten!« S: »Wohin begleiten Kirchen Sie.« P erzählt vom Kindheitsdorf: »Wir wohnten direkt gegenüber dem Friedhof, als Kinder haben wir darauf gespielt!« S kehrt zurück: »Wohin begleiten Kirchen Sie.« P: »Die taucht auf. – Immer wieder. Was das bedeutet, weiß ich noch gar nicht!« Pause »Ich bin gar kein Kirchgänger … Komisch. Die Kirche geht immer mit!« Nachdenkliches Schweigen mit Blick auf den Kirchturm. S: »In der Kirche ist Gott zu Hause.« Langes Schweigen. P nickt: »Danke, dass Sie gekommen sind.« Dies Kurzgespräch geht in die Tiefe, ohne schwer zu wirken: Die Begegnung zeigt eine Konzentration auf das Schlüsselwort »Kirche«. S nimmt angesichts der lebensbedrohlichen Situation (unheilbare Krankheit) Hoffnungszeichen wahr. Die »Kurzgeschichte« erzählt von der anderen Wirklichkeit, über die nachzudenken sich lohnt, und dass Hoffen nicht vergeblich ist. Klaus Harzmann-Henneberg

5.2 Mit Kindern und Jugendlichen Kinder und Jugendliche gehen nicht unbedingt freiwillig und gern zur Schulsozialpädagogin oder zum Schulseelsorger. Oft werden sie geschickt: von der Lehrerin, von den Eltern. – 148–

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Kinder und Jugendliche möchten sich souverän zeigen, anstehende Probleme selbst lösen, Kontrolle über ihr Leben haben. Eine wesentliche Entwicklungsaufgabe des Kindes- und Jugendalters besteht darin, eigenständig zu werden. Zur Beratung gehen (zu müssen), bringt Kinder und Jugendliche in die paradoxe Lage, einerseits eigenständig sein zu wollen und anderseits genau das im Moment nicht zu vermögen, Hilfe zu benötigen und darüber auch noch mit einem Erwachsenen sprechen zu müssen. Das Kurzgespräch überwindet diese paradoxe Situation, indem es das Kind, den Jugendlichen in Ruhe darin begleitet, sich auf sich selbst zu besinnen und eine eigene passende Lösung zu finden. Dadurch erlangt das Kind/der Jugendliche wieder Handlungsfähigkeit und Autonomie. Der Tonfall, die Mimik und Gestik (der beratenden Person) machen die Musik im Gespräch, das gilt auch besonders bei Kindern und Jugendlichen: Der ruhige Gesprächsfluss, die gesenkte Stimme am Ende des Satzes, der wohlwollende Blick, ein Zwinkern vermitteln dem Kind und Jugendlichen: Ich nehme dich ernst, ich interessiere mich für deine Frage, ich traue dir zu, dass du herausfindest, was dir hilft, und das dann auch umsetzt. Wortreiche Einlassungen, schnelles und insistierendes Fragen mit entsprechender Gestik, Vorhaltungen und Ratschläge bewirken genau das Gegenteil und verstärken die Unterlegenheitsgefühle von Kindern und Jugendlichen. Drei Beispiele: 1. Im Kurzgespräch von Alexander (A) mit der Sozialpädagogin (S) wird das »Geschickt-werden« überwunden und ein eigenes Mandat definiert. A: »Mein Lehrer hat gesagt, ich soll mal bei Ihnen vorbeikommen.« S: »Was sagst du.« – 149–

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S erkundet Alexanders Anliegen, bietet ihm Gelegenheit, sein Mandat für das Gespräch zu definieren, aus der Fremdbestimmung herauszukommen. A: »Ja, ich weiß auch nicht, ich komm’ halt’ grad nicht so mit, ich bin halt faul.« A sagt etwas über sein »Problem«. S: »Anhalten, damit du wieder grad mitkommst.« S greift die Sprache Alexanders auf, nimmt das doppelte »halt«, wandelt es in »anhalten« und formt das implizit benannte Ziel »mitkommen« ins Positive. A: lächelt – grinst – zeigt eine entspannte Mimik. S. »Anhalten – mitkommen –« S entnimmt der Mimik, dass sie ins »Schwarze« getroffen hat. Bringt redundant die beiden Schlüsselwörter nochmals. A.: »Ich muss halt mehr lernen.« Das »muss« verrät den/die fremden Auftraggeber, das »mehr« die Unverbindlichkeit. S: »Was willst du lernen.« S verwandelt das »muss« in »willst«, um die eigenständige Motivation zu stärken. A: »Ich müsste halt nicht mehr ganz so faul sein …« A windet sich. S: »Was ist faul an dir, A.« S nimmt »faul« auf, weil das Wort wieder auftaucht und möglicherweise einen Ansatzpunkt bietet zum »Gesunden«, und meidet die konjunktivische Redeweise. A: »…, dass ich zu lange am Computer abhänge.« A.s Einsicht ist schon die halbe Miete. S: »Was daran ist faul, A.« S bewertet nicht, sondern überlässt das A. A: »Computerspielen ist schon cool; ich mach’s halt zu lange.« A steht vor der eigenen Lösung. Jetzt stellt sich die Frage, ob S bei der Umsetzung des »zu lange« in die richtige Länge noch behilflich sein soll. S: »Wann spürst du: Halt, das ist lang genug Computer gespielt.« S reicht A nochmals das »halt« und funktioniert es um in ein Haltesignal. – 150–

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A: »Ich hab’s schon mal mit einem Wecker probiert. War nichts. Ein Freund von mir hat sich ’ne Zeitschaltuhr eingebaut …« In der Konkretisierung des Ziels und dessen Umsetzung bleibt S ruhig und zäh, lässt nicht locker, bis Alexander genau für sich heraus gearbeitet hat, was er wie tun wird. 2. Beim Kurzgespräch führt das sprachliche Andocken in den freien Raum; das Eingehen auf das »Problem« in die Sackgasse. Die Sozialpädagogin (S) begegnet Karina (K) im Schulhausflur. K hat im vergangenen Schuljahr die Abschlussprüfung nicht bestandenen. K: »Ich bin aus dem Unterricht ’raus gegangen, ich weiß nicht, was mit mir los ist.« S: »Wovon willst du dich lösen, K.« K: »Eigentlich ist gar nichts Schlimmes passiert. Ich komm nur nicht von den Gedanken los, dass es wieder so wird, wie im letzten Schuljahr.« S: »Wie wirst du diese Gedanken los – außer, dass du den Unterricht verlässt.« K: »Ich komme meistens gut mit. Wenn ich auf meine Noten schaue, brauche ich keine Angst haben.« S: »Wo notierst du dir deine Noten.« K: »Eigentlich habe ich die alle im Kopf. Ich kann sie mir alle vorsagen.« (lächelt) S knüpft sprachlich an dem »Kommentar« der K. an und wandelt das »los« in »lösen«. Sie lädt Karina ein, sich ihrer selbst zu vergewissern. Dadurch gelingt es Karina, das lähmende Schreckensgespenst »Angst« zu zähmen und zu ihrer Kompetenz zurück zu finden. Sie entscheidet sich unmittelbar, wieder in den Unterricht zu gehen.

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3. Im Kurzgespräch zielorientiert zu arbeiten heißt zugleich, den Blick nach vorne zu richten. Das sprachliche Mittel der Wahl ist dabei der Indikativ Futur. Mariella lebt als Einzelkind bei ihrer alleinstehenden Mutter, die alkoholgefährdet ist. M: »Ich halte es daheim nicht mehr aus. Meine Mutter ist einfach keine richtige Mutter.« S: »Woran wirst du dich halten, Mariella.« S steigt nicht ein in die Klärung möglicher Versäumnisse der Mutter in der Vergangenheit und deren Alkoholproblem, sondern lädt Mariella dazu ein, ihre gegenwärtigen Möglichkeiten auf ihre Zukunftsfähigkeit realistisch zu erkunden. M: »Ich möchte ins betreute Wohnen, da sagt mir jemand, wo es lang geht, dann krieg ich das auch mit der Schule wieder besser hin.« S: »Da wirst du den richtigen Halt finden.« S nimmt das »keine richtige« auf und dreht die Medaille um: »richtig« M: »Ja, das glaube ich.« S: »Wie wird das werden.« Das Öffnen des Zukunftsraumes ermöglicht es Mariella, ihr Ziel klar zu entfalten: M: »Die Schwester einer Freundin, eigentlich ihre Halbschwester, die lebt in einer betreuten WG und findet es ganz gut dort. Die ist zum Jugendamt gegangen und …«. Andrea Ebel

5.3 In der seelsorglichen Arbeit mit Gruppen Der Begriff »seelsorgliche Arbeit mit Gruppen« umfasst Besinnungstage, Einkehrwochenenden und Oasentage, die von kirchlichen Trägern offen angeboten oder in der Gemeinde für besondere Gruppen durchgeführt werden. Dabei finden Kurzgespräche im engeren Sinn eher am Rande, z.B. in Pausen oder vor und nach dem gemeinsamen Essen statt. Bei die– 152–

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sen Besinnungszeiten wollen die Teilnehmenden im Getriebe ihres Alltags, aber auch in Krisen- und Umbruchzeiten, innehalten, um wieder zu seelischem Wohlbefinden zu gelangen. Das seelsorgliche Mandat lautet: »Biete mir eine Gelegenheit, um Kraft zu schöpfen, und neue Impulse, damit ich wieder gestärkt in meinen Alltag zurückkehren kann!« Als konkrete Erwartungen an diese Tage werden geäußert: »innehalten und zur Ruhe finden«, »wieder mehr in Kontakt zu sich selbst kommen«, »sich mit anderen über Lebenserfahrungen austauschen«, »sich auf Wesentliches besinnen«, »eine neue Sicht auf aktuelle und zurückliegende Erfahrungen finden«, »den eigenen Glauben stärken«, »gestärkt in den Alltag zurückkehren«. Diese unterschiedlichen Erwartungen können mit Elementen des Kurzgesprächs sowohl in den »Einheiten« als auch bei Gesprächen am Rande erreicht werden: »Innehalten und zur Ruhe finden« Eine erste Entschleunigung des Lebenstempos bewirkt die Leiterin, indem sie selber langsam und ruhig spricht und mit Pausen den Teilnehmenden Zeit zum Nach-denken bietet. Dazu kommt die Bereitschaft, sich auf Kurzgespräche am Rande einzulassen: Du bist da, Zeit ist da, meine ganze Aufmerksamkeit gehört dir allein, ich höre dir zu und werde mit dir reden. Ein Beispiel: Nach einer inhaltlichen Einheit, als alle zum Essen gehen und die Leiterin im Gruppenraum noch aufräumt, spricht eine knapp 60-jährige Teilnehmerin (T) die Leiterin (L) an. T: Wissen Sie, auf der Arbeit komme ich mir vor wie im falschen Film. Da geht es nur noch darum, möglichst viel zu verkaufen, selbst wenn es Ramsch ist. Früher war das noch ganz anders … L: Wo kommen Sie im richtigen Film vor. T: Im richtigen Leben – da geht für mich nicht alles ums Geld. – 153–

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Aber im Geschäftsleben ist das, was mir wichtig ist, nicht richtig. L: Das richtige Leben und das Geschäftsleben – Wie richten Sie das. T: Ich will doch die Kunden richtig beraten und gute Ware verkaufen, damit sie zufrieden sind. Dann habe ich ein richtig gutes Gewissen, versteh’n Sie? Es geht mir um mein Gewissen. L: Wie richten Sie das für sich ein: das gute Gewissen. T: Wie weiß ich noch nicht. Aber dahin will ich kommen! In diesem Kurzgespräch wird mit dem Schlüsselwort »richtig« das erschlossen, was für das Lebensgefühl der Teilnehmerin einen hohen Wert hat und nicht um des lieben Geldes willen geopfert werden soll. »Besinnung auf Wesentliches« Dieses Bedürfnis entspringt dem Wunsch, »neue Sichtweisen auf aktuelle und zurückliegende Lebenserfahrungen« zu gewinnen. Durch Arbeiten mit Bildern, Metaphern und Symbolen werden auf ganzheitliche und intuitive Weise neue Sinnzusammenhänge und Tiefendimensionen erschlossen. So eröffnen sich neue Verstehensräume, die dem analytischen und logischen Denken bisher verschlossen blieben. Beispiele: Dass ein »Labyrinth« kein Irrgarten ist, sondern ein einziger Weg, der durch viele Windungen letztlich immer zur Mitte führt, verstört oft die bisherige Sichtweise eines Labyrinths. So eröffnet sich ein neuer Verstehenshorizont für den eigenen Lebensweg: Manche Wendepunkte können nun im Nachhinein als weiterführend akzeptiert werden und das Vertrauen für den weiteren Weg wächst. Der auf Besinnungstagen gern angebotene Umgang mit den Symbolen »Quelle« (als Bild für Ressourcen) und »Wüste« (als Bild für Alltags- und Krisenzeiten) erfordert Mut, sich auf die Tiefe der bösen und guten Lebenserfahrungen einzulassen. – 154–

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Bilder und Symbole, die neue Perspektiven ermöglicht haben, begleiten die Einzelnen oft noch lange im Alltag und durch Krisenzeiten. Besonders, wenn das Symbol individuell kreativ gestaltet und als anschauliche Erinnerung mit nach Hause genommen wird, berichten ehemalige Teilnehmer, wie viel Kraft sie daraus noch nach Jahren geschöpft haben. »gestärkt in den Alltag zurückkehren« Kraft zu schöpfen für den Alltag, verbindet sich eng mit dem Thema einer Besinnungszeit: »Erschließe Deine Kraftquellen!« Nach einer Einführung in die mögliche Vielfalt persönlicher Kraftquellen, beispielsweise: Denken, Gefühle, Beziehungen, Materielles, Selbstorganisation, Weltanschauung und Spiritualität, führen zusätzliche mäeutische Impulse weiter und tiefer: »Und was steckt noch in mir. Woraus habe ich früher Kraft geschöpft. Womit habe ich schon einmal geliebäugelt.« Diese Anregungen bewirken, dass die Person über das aktuell genutzte Potential hinaus denkt. Durch solche Impulse zur Einzelbesinnung entsteht »mehr Kontakt zu sich selbst« und viele staunen anschließend über die Vielzahl ihrer schlummernden Kraftquellen. Einzelne Ressourcen werden nun auf ihre tatsächliche Nutzbarkeit im Alltag überprüft. Aufgrund dieser Erfahrungen geraten neue Ziele in den Blick. Es lohnt sich, deren Umsetzbarkeit im Alltag zu stärken, und zwar in gegenseitiger solidarischer Beratung: eine teilnehmende Person nennt ihr Ziel und eine andere bespricht mit ihr, wie dieses Vorhaben konkret realisiert werden kann und ob es wirklich attraktiv für sie ist. Ein Gesprächsbeispiel: Eine 35-jährige Frau (F), allein erziehend mit zwei Kindern im Grundschulalter, spricht mit der Leiterin (L) über eine neu entdeckte Ressource: F: Ich möchte in meiner Wohnung einen Ort haben, an den ich – 155–

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mich zurückziehen kann, an dem ich mich wohl fühle, wo mich keiner stört … Ja, das wünsche ich mir sehr: einen Ort, an dem ich mal ungestört bin, wo keine Spielsachen herumliegen wie im Wohnzimmer, wo ich in Ruhe eine Tasse Tee trinken kann … L: Wo verortest du dich, um dich wohl zu fühlen. F: Ins Schlafzimmer, das benutze ja nur ich allein zum Schlafen. Da kann ich es mir gemütlich machen … ein schönes Bild an der Wand … Ich könnte es auch neu streichen! … Vielleicht passt ja noch ein bequemer Sessel hinein … Die Kinder werden sich wundern, wenn ich umräume! Und wenn ich ein Schild an die Tür hänge: »Bitte nicht stören!«? L: Was genau mutest du dir zu. F: Neu streichen – das ist mir zu aufwändig … Aber ein paar schöne Urlaubsfotos an die Wand. Und ein Sessel. Das muss ich ausmessen. L: Wie wohl wirst du dich fühlen. F: Am Freitagmorgen, da habe ich frei und die Kinder sind in der Schule. Da kann ich anfangen. Erstmal: messen … In diesem Gespräch wird darauf geachtet, dass jeder Schritt auf dieses Ziel hin sich ganz nah an den konkreten Alltagsbedingungen orientiert und wirklich machbar ist. Unter diesen Voraussetzungen wird das Mandat erfüllt, nämlich »gestärkt in den Alltag zurückkehren«. »den eigenen Glauben stärken« Eine Stärkung des eigenen Glaubens erfahren die Teilnehmenden, indem sie sich existentiell mit Personen biblischer Geschichten identifizieren. Dazu werden Bibeltexte in wenigen Sätzen zielstrebig auf das Thema hin erzählt, das sich aus den Wahrnehmungsebenen und Worten der Teilnehmenden in vorangegangenen Gesprächen ergeben hat. Ein Beispiel: Hagar in der Wüste (Gen 16, 1–14): Eine Frau in verfahrener Situation flüchtet sich in die Wüste. Dort wird sie gefunden und ihr wird – trotz allem – Zukunft zugesprochen. – 156–

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Das ist für Hagar wie eine lebendige Quelle. Sie nennt den Ort »Quelle des Lebendigen, der nach mir schaut.« So erzählt, können die Teilnehmenden sich direkt auf ihre »Wüste« und »ihre Zukunft« und ihre »Hoffnung auf Zuspruch« einlassen. Nach einer solchen Erfahrung kann Gott erkannt werden als einer, der nach dem einzelnen Menschen schaut, weil er gelingendes Leben für jeden will. Elemente des Kurzgesprächs in der seelsorglichen Arbeit mit Gruppen sind für mich praktische Hilfen, die TeilnehmerMandate zu erfüllen. Die eigene Kompetenz im Kurzgespräch ist das eine; das andere ist mir ebenfalls wichtig: auf die Ressourcen der teilnehmenden Menschen und das Wirken Gottes in menschlichen Begegnungen zu vertrauen. Claudia Simonis-Hippel

5.4 Im Kontakt zu Menschen mit eingeschränkter Sprachfähigkeit Teilnehmende an Ausbildungskursen zum Kurzgespräch vermuten oft, die Methoden des Kurzgesprächs können nur »funktionieren«, wenn auch beim Ratsuchenden ein hoher Grad von Ausdrucksfähigkeit vorhanden sei. Das ist nicht der Fall: – Der Anspruch an sprachliche Ausdrucksfähigkeit besteht in Bezug auf die ratgebende Person: sie hat sich – kreativ – auf die Sprache der ratsuchenden Person (auch der mit eingeschränkter Sprachfähigkeit) einzustellen, um ins Gespräch zu kommen. – Menschen mit eingeschränkter Sprachfähigkeit kommen dann zu Wort, wenn sie sich bei ihren Worten genommen fühlen. Ich möchte das anhand von zwei Erfahrungsfeldern deutlich machen: – 157–

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– Zuwanderer mit begrenzten Deutschkenntnissen im Strafvollzug – Menschen, die an ihrer Demenz leiden. 1. Zuwanderer mit begrenzten deutschen Sprachkenntnissen im Strafvollzug Über viele Jahre war ich als Superintendent Beiratsmitglied in einer Justizvollzugsanstalt, in der Langzeitstrafen ›abgesessen‹ wurden. Die meisten Insassen sind im Besitz eines deutschen Passes, sind aber nur begrenzt der deutschen Sprache mächtig. Im Kontakt mit diesen Menschen gilt es: – sich strikt an deren Wortschatz orientieren, – Substantive und Verben (ohne Hilfsverben) aneinander fügen, – keine komplexen Satzgefüge bilden – Auslassungen und absolute Komparative vermeiden und – auf die vorsichtige Redeweise im Konjunktiv (hätte, würde, könnte, wäre) verzichten. Es gilt die einfache direkte Sprache. Beispiele: Ein russland-deutsches Gemeindeglied (G) hat um ein Gespräch mit mir (S) gebeten und zeigt mir die schriftliche Einladung zum Gemeindefest seiner Gemeinde; dort heißt es: »Wir würden uns freuen, wenn Sie am Gottesdienst am … um … und am anschließenden Gemeindefest teilnehmen würden …« G fragt mich verunsichert: »Wollen die, dass ich da komme oder nicht?!« Bei einem Gespräch mit einem Insassen (I) eröffnet dieser das Gespräch mit dem Seelsorger (S): I: Gut, dass du kommst! – Wie geht’s? S: Geht gut. – Was geht für dich.? I: Das mit dem X. (Justizbeamter) geht gar nicht! S: Was geht da nicht.? – 158–

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I: Mit der Post. S: Was ist mit der Post.? I: Ich krieg Post erst nach zwei Tagen. S: Und? I: Das geht nicht! S: Wie geht es dann.? I: Ich gehe zu X. und sage: geht so nicht mit der Post. S: Wann gehst du zu X.? I: Ich morgen in Sprechstunde gehe … S denkt: Ja, so kann das gehen. 2. Menschen, die an ihrer Demenz leiden Sehr viele Menschen, die an Demenz erkrankt sind, erleben ihr Leben defizitär, weil sie schon länger ahnen und dann auch wissen: – mein Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht mehr; – meine Sprachfähigkeit, die ich hatte, steht mir nicht mehr zur Verfügung. Jedes gut gemeinte Gespräch mit diesen Menschen gerät in die Gefahr, ihnen schmerzhaft erfahrbar zu machen: Kommunikation ist zwar gewollt, kann aber aufgrund der vorhandenen Defizite nicht befriedigend stattfinden. So können z.B. Fragen, die Interesse am Leben des Demenzkranken zeigen sollen, leicht das Gegenteil bewirken: Wenn Gedächtnis und Sprachfindung versagen, führen sie in die Blockade und damit in die Sprachlosigkeit, die als demütigende Pein empfunden wird. Deshalb bietet es sich für die seelsorgende Person (S) an, die Sprachreste des an Demenz erkrankten Menschen (D) aufzunehmen, sie spielerisch zu erweitern und nur das tatsächlich Erinnerte zu verstärken.

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Ein Beispiel: D: Du kommst mir gerade recht! S: Was kommt dir gerade recht mit mir? Statt die möglicherweise unbeantwortbare Frage zu stellen: »Woran denkst du dabei?« Der Antwortimpuls mit fast genau denselben Wörtern lässt D die Freiheit, so zu antworten, wie es ihm recht ist: – »Schön, dich zu sehen.« – »Es kommt sonst keiner.« – »Gerade habe ich Zeit.« – »Bei mir ist nichts mehr richtig.« Oder ähnlich. Im Gespräch mit Dementen (D) kann es helfen, den ins Stocken geratenen Gesprächsfluss in Gang zu bekommen mit einem bekannten Liedvers oder einer Gedichtzeile oder einer gängigen Redewendung. Vertraute sprachliche Zusammenhänge, vom Seelsorger (S) angeboten, können im reduzierten Hirn Rudimente des Langzeitgedächtnisses zum Klingen bringen, das Gesicht strahlt auf und D kann stolz bezeugen: »Das kenne ich auch.« Und das peinliche Schweigen nach einem Fadenriss der Kommunikation ist überwunden. Beispiel: Unvermittelt sagt D nach einer kleinen Pause und mit etwas verlorenem Blick: »… ich weiß nicht …« S: »Gott sei Dank, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.« – oder: S: »Da fällt mir ein Lied ein: Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …« – Und wenn D sich darauf einlässt, mag S sich vorsichtig weiter tasten: »Was wissen Sie.«? So wird die gewiss eingeschränkte Kommunikation zu einer gemeinsamen Suchbewegung, in der es keinen Gewinner und keinen Verlierer gibt. – 160–

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Mein Gegenüber spürt dagegen etwas für ihn Entscheidendes: Jemand spricht mit mir. Ich bin (noch) gemeinschaftsfähig. Ich werde nicht auf meine Mängel behaftet, nicht mehr für würdig befunden, dass man mit mir redet, und deshalb links liegen gelassen. Ich finde noch zu meiner Sprache und werde verstanden. Das mitzuerleben, ist – im wahrsten Sinne des Wortes – wunderbar! Hans König

5.5 Im Rahmen pastoralpsychologischer Supervision Supervision ist im Gegensatz zum einmalig konzipierten Kurzgespräch ein Prozess. Themen lassen sich im Laufe der Sitzungen verfolgen, vertiefen, verknüpfen. Die eine Person leitenden Handlungsmuster lassen sich herausarbeiten. Eine Situation aus dem Berufsalltag ist hinsichtlich der verschiedenen Ebenen beleuchtbar.2 Durch Perspektivwechsel wird es den Supervisandinnen/Supervisanden möglich, Handlungsalternativen zu entdecken. Dazu sind auch Interventionen nötig, die andere Ebenen ins Gespräch bringen. Wo es in der Supervision um das persönliche Erleben der Supervisanden geht, um Fragen der persönlichen Deutung sowie um Selbstklärungen, ist die Methode des Kurzgesprächs außerordentlich hilfreich, mehr noch, das Konzept leistet, was die Dialogtheorie mit »Suspending«, »Voicing«, »Listening« und »Respecting« als Kompetenzen guter Supervisor/ innen beschreibt.3 Die situativen Bedingungen des Kurzgesprächs kehren sich im Kontext von Supervision nahezu um. Das Setting der Supervision entspricht einem Kontrakt: Ort, Zeitpunkt, Dauer, Themenkreise stehen fest. Niemand braucht die Gunst einer Stunde abzupassen, um den Supervisor mit seinem Anliegen 2 Person, Profession, Funktion, Organisation, Klientel. So Rappe-Giesecke, Supervision für Gruppen und Teams, S. 12 3 So bei Rappe-Giesecke, Supervision für Gruppen und Teams, S. 26

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zu »überfallen«. Dennoch erlebe ich manchen Auftakt einer Supervisionssitzung dem Beginn eines Kurzgesprächs gleich. Ein Beispiel: Noch bevor ich das Anliegen des Supervisanden (S) erkunden kann, fällt er quasi mit der Tür ins Haus, sprudelt mir (H) eine komplizierte Situation mit vielen Beteiligten entgegen und schließt mit: S: »Was würden Sie mit Ihrer Kompetenz mir raten?« H: »Worüber werden Sie sich jetzt kompetent mit mir beraten.« S: »Ich sitze zwischen allen Stühlen. Da will ich raus!« Weil S sich von der konkreten Arbeit mit dieser Supervisorin etwas verspricht (eigene Erfahrungen, persönliche Empfehlungen anderer oder »der gute Ruf«), werden ihr Kompetenzen zugeschrieben und sie wird mit Erwartungen konfrontiert. Insofern ist ein deutlich asymmetrisches Up-Down Gefälle beschrieben. Andererseits ist S hinsichtlich seiner beruflichen Situation, seiner Problemkonstellation, seines Problemverhaltens, aber auch seiner Ressourcen in einer In-Position, H weiß noch von nichts, ist im Out. Bemerkenswerter Weise stellt sich zu Beginn jeder Sitzung ganz leicht das Up-Down Gefälle und die In-Out Asymmetrie ein, mit dem Risiko, dass Supervisoren »anspringen« und zu arbeiten beginnen, vor allem, wenn Details schon bekannt sind. Das Konfliktkarussell saust auch in Supervisionen verlockend im Kreis. Die Versuchung, sich in Problemkonstellationen hineinziehen zu lassen und kräftig an Lösungen zu arbeiten, ist groß. Am Ende bleibt ein erschöpfter Supervisor zurück, und der Supervisand bedankt sich nach dem Motto: »Schön, dass ich das alles mal erzählen konnte«, Unterton: »Aber jetzt weiß ich auch nichts Neues«. Es entlastet unmittelbar, sich nicht das Problem zu Eigen zu machen, sondern sich auf das Gegenüber zu fokussieren und auf dessen sprachliche Ausdrucksformen, um zu neuen Gedanken zu gelangen.

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Ich benütze gern das Schlüsselwort. Nicht nur am Anfang der Sitzungen, sondern immer dann, wenn wir uns festgefahren haben und ich mich orientierungslos frage: »Worum geht es hier eigentlich?« rekapituliere ich das bisher Gesagte und suche in meinem Wortgedächtnis das mögliche Schlüsselwort der Supervisandin. Finde ich es, geht das Gegenüber meist ganz ohne Zögern darauf ein. Das führt unmittelbar zu einer Entschleunigung, ja beinahe zu einem Aufatmen. Dazu ein Beispiel: Die Supervisandin »mäandert« in Überlegungen, ob ihr eine halbe Stelle passen könnte und ob sie dort wohl ständig werden könne und ob die Gemeinde sie dann nähme, da viele ja gar keine so junge Kollegin wollten, und benutzt dabei wiederholt das Verb »hören«. Darauf H: Bei alledem, was Sie jetzt ausgebreitet haben – worauf hören Sie.» S: »Ich höre, dass ich mir das gut überlegen soll.« H: »Das hören Sie von anderen. Worauf hören Sie.« S: (ganz ruhig) »Ob das wirklich was für mich ist, mit 50 %.« H: »Was hören Sie da in sich.« S zählt eine Reihe positiver Dinge auf, dann S: »Ich höre auch: Verlier nicht den Alltag!« H: »Worauf hören Sie, um im Alltag zu gewinnen?« S: »Ich brauch Bodenhaftung.« H: »Wie bleiben Sie auf dem Boden.« S: »Mein Freundeskreis muss erreichbar sein. Ich darf nicht allein sein und grübeln. Ich brauch Pfeiler im Umkreis und eine gut strukturierte Arbeit.« H: »Wenn Sie auf all das genau hören, was sagen Sie dann.« S: (überlegt eine Weile, dann ganz entschieden) »Ich will eine 75 % Stelle.« Damit konnte S gut in das anstehende Personalgespräch gehen. Ein Schlüsselwort (hier: hören) aufzunehmen, erlebe ich als besonders ertragreich. Seine Anwendung bewirkt oft auch ein Moment der »Verstörung«: das vertraute Gedankenkarussell wird gestoppt – die Gedanken bekommen eine Richtung – 163–

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Noch ein kleines Beispiel zum Schlüsselwort, das mit einem gemeinsamen Lachen endete: S: »Morgen muss ich mit dem Personalreferenten sprechen. Ich hab’ Sorge, da untergebügelt zu werden.« H: »Wie bügeln Sie sich für das Gespräch auf.« S: (nach kurzer Besinnung) »Ich weiß: Ich muss nicht auf irgendeine Stelle gehen. Ich muss mich morgen nicht entscheiden. Ich hab noch ein halbes Jahr Zeit – zum Bügeln.« Das Mäeutische Fragen – orientiert an der Sprache des Gegenübers – ist als behutsames, aber stetiges Mitgehen auf dem Weg zu einer Klärung enorm hilfreich: Das gestaltbare Terrain lässt sich erkunden, indem man es fragend abschreitet und auf seine Begehbarkeit prüft. Mit dem Selbstverständnis als »Hebamme« fühle ich mich als Supervisorin wohl: Das Gegenüber wird – wie eine Gebärende – angehalten, selbst Lösungen zur Welt zu bringen, die es jeweils als eigenes »Kind« annehmen und ressourcenkompatibel großziehen kann. Jede Supervisionssitzung hat einen geordneten Abschluss. Häufig lautet meine Schlussintervention: »Was nehmen Sie heute für sich mit?« Hilfreich finde ich, wenn ich dazu am Ende nochmals an das Mandat des Anfangs andocken kann wie im ersten oben erwähnten Fall: »Welchen kompetenten Rat haben Sie sich heute gegeben?« Sabine Habighorst

5.6 In der Geistlichen Begleitung »Adam, wo bist du.« G (1. Mose 3, 9) Das erlösende Handeln Gottes am Menschen beginnt mit einer Frage. Natürlich weiß, der biblischen Erzählung zufolge, Gott genau, wo der Mensch sich befindet. Wenn Gott fragt, will er nichts wissen, sondern bewirken, dass der Mensch – die Verantwortung für sein Handeln übernimmt, – sein in die Krise geratenes Leben ordnet und – letztlich sein Leben jenseits von Eden gestaltet. – 164–

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Insofern ist diese erste Frage Gottes an den Menschen ein mäeutischer Impuls, das Leben zu fördern4. So wird Gott selbst zum Lebensbegleiter seiner Menschen, die er mit der Würde und dem Anspruch der Gottesebenbildlichkeit ausgestattet hat. Die Ausbildung in ›Geistlicher Begleitung‹ der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) soll Menschen dazu befähigen, andere in ihrem Wunsch nach Vertiefung ihrer Gottesbeziehung zu begleiten. Im Fokus der ›Geistlichen Begleitung‹ steht das Lebensgespräch zwischen Gott und Mensch. Menschen werden dabei begleitet, ihr Leben im Licht des christlichen Glaubens zu bedenken und die eigene Lebenssituation glaubend zu erschließen. Der Begleiter/die Begleiterin übernimmt den Dienst, dieses Gespräch zu unterstützen und zu fördern, und im Sinn der Unterscheidung der Geister auf Erkenntnisse und Irrwege aufmerksam zu machen.5 Obgleich geistliche Begleitgespräche in der Regel verabredet und über einen längeren Zeitraum geführt werden, bietet die dem Kurzgespräch zu Grunde liegende Haltung der beratenden Person ein gutes Handwerkszeug für das Gelingen dieser Gespräche: – die Wertschätzung der Lebens- und Glaubenskompetenz des Gesprächspartners; – das mäeutische Fragen als Hoffnung weckende und Leben erschließende Kommunikation; – die Ressourcen-, Ziel- und Lösungsorientierung; – das Andocken an der Sprache der begleiteten Person; 4 Die Frage der Schlange (1. Mose 3, 1) »Ja, sollte Gott gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?« ist hingegen ein gelungenes Gegenbeispiel: Der Gebrauch des Konjunktivs, das vorangestellte »Ja« und die folgende Verneinung (nicht essen) bewirken im Menschen keine Klärung, sondern vollenden die diabolische Verwirrung, die bei Adam zum Kontrollverlust über sein Handeln beiträgt. 5 Geistliche Begleitung ist ihrem Selbstverständnis nach eine gelebte »Erschließungsspiritualität«. (vgl. hierzu: H.-F. Rabus/Heidi Abe: Geistliche Begleitung und Pastoralpsychologie, in: D. Greiner u.a. Geistlich Begleiten – Eine Bestandsaufnahme Evangelischer Praxis, Leipzig 2011, S. 106)

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– das »strategische Erzählen« biblischer (und anderer) Geschichten mit der hilfreichen Möglichkeit, Leben im weiten Horizont der biblischen Zukunfts- und Hoffnungsgeschichten zu begreifen.

Beispiele: 1. Der Musikstudent (M.) suchte über einen längeren Zeitraum Geistliche Begleitung, in welcher er seine Gottesbeziehung und Gebetspraxis reflektieren wollte. Als Jugendlicher gehörte er einem Kreis fundamentalistisch geprägter Christen an. Hier fühlt sich M. nicht mehr zu Hause. Während des Begleitprozesses ergab sich das folgende Gespräch mit der Geistlichen Begleiterin (B.): M: »Früher habe ich fest an Gott geglaubt. Heute zweifle ich, ob das alles stimmt.« B: »Woran halten Sie sich heute fest.« G M: »Ja, mein Gefühl ist das eine – der Verstand das andere …« B: »Fühlen – verstehen – was festigt Ihren Glauben.« G M: »Mein Verstand übertönt mein Gefühl.« B: »Wo kommt Ihr Gefühl zum Klingen?« M: »Ich brauche einen Ort zum Beten und Schweigen. In der Stille kommt das Denken zur Ruhe. Dann fühle ich, was mir der Glaube bedeutet.« B: »Wo bleibt das Verstehen.« G M: »Hm, in der Stille fühle ich mich Gott näher – da sind die zweifelnden Gedanken leiser. Und ich verstehe, dass es beim Glauben nicht allein um Wissen geht. Ich will fühlen, dass ich Gott vertrauen kann.« B: »Wie früher …« M: »Ja, wie früher. Und doch auch nicht. Es ist mir schon wichtig, auch auf meinen Verstand zu hören.« – B: »Was hören Sie von Ihrem Verstand.« G M: »Der sagt mir, dass Zweifeln zum Glauben dazugehört.« B: »Woran glauben Sie ganz fest.« G – 166–

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M: (lacht): »Ich erinnere mich an meinen Konfirmationsspruch: Es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Glauben.» 2. Frau W. ist Diakonin. Sie ist eine von fünf Teilnehmerinnen an Einzelexerzitien. Diese bieten an drei Tagen (Freitag – Sonntag) die Gelegenheit für je ein einstündiges Gespräch mit der Begleiterin der Exerzitien (B.). Frau W. nutzt die Gelegenheit, die Klage über ihr »missglücktes Leben« zum Ausdruck zu bringen. Sie erzählt vom Unfalltod ihrer ersten großen Liebe, von psychischen Problemen, Krankheiten und von Schwierigkeiten im Beruf. Sie könne nach allem, was sie erlebt hat, nicht einmal mehr weinen. Frau W. endet ihren Lebensbericht mit dem Satz: W: »Und Gott schweigt dazu! Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass Er mich hasst!« B. schaut Frau W. ruhig und freundlich an: »Wie sagen Sie Gott, was mit Ihren Gefühlen los ist.« G W: »Wenn ich damit anfange, kommen nur Klagen und Vorwürfe. Sie denkt eine Weile nach, dann: »Geht denn das?« B: »Die Psalmen der Bibel sind voller Klagen. Jesus klagt mit einem Psalmwort: »Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«« G W: »Meinen Sie, ich kann Gott meine Klagen aufschreiben?« Die Geistliche Begleiterin macht Frau W. den Vorschlag, sich Zeit zu nehmen und einen an Gott gerichteten Klagepsalm zu formulieren. Als biblisches Beispiel liest die Begleiterin langsam Psalm 22 vor. Frau W. hört aufmerksam zu – immer wieder nickt sie beim Hören der Klagen mit dem Kopf: »Ja, so geht es mir auch.« Den ganzen Nachmittag über bleibt sie auf ihrem Zimmer – nachts brennt lange das Licht. Am nächsten Tag liest sie der Begleiterin ihren langen und bewegenden Klagepsalm vor. Immer wieder steigen ihr beim Lesen die Tränen in die Augen. Am Ende weint sie still. B: »Was sagen Ihre Tränen« – 167–

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Frau W: »Die Tränen tun mir gut. Beim Schreiben hatte ich endlich einmal wieder das Gefühl, dass ich Gott nicht egal bin.« B: »Im Psalm hat auch jemand diese glückliche Erfahrung gemacht: »Gott, Du sammelst meine Tränen in deinem Krug; ohne Zweifel zählst Du sie.«« (nach Ps. 56,9) Andrea Richter

5.7 In der Telefonseelsorge Seelsorge am Telefon stellt eine Herausforderung in mehrfacher Hinsicht dar: – Der Gesprächspartner wird ausschließlich über das Ohr, das Organ des Hörens, wahrgenommen. Nonverbale Äußerungen stehen nicht zur Verfügung. Durch die elektronische Übertragung gehen zusätzlich Informationen auf paraverbaler Ebene (Tonlage, Stimmung) verloren.6 Dieser kommt für das Verstehen jedoch zentrale Bedeutung zu. – Durch das offene Angebot ist nicht klar, was anrufende Personen unter Seelsorge und Beratung verstehen und ob sie überhaupt Seelsorge und Beratung suchen. Eine Vorklärung findet nicht statt, sondern das Gespräch beginnt unmittelbar. – Das niedrigschwellige Angebot, jederzeit, von jedem beliebigen Ort, ohne Voranmeldung, aus der Anonymität heraus anrufen zu können und den Kontakt jederzeit abbrechen zu können, bedeutet eine erhöhte Anforderung an Aufmerksamkeit für die Telefonseelsorgerinnen und Telefonseelsorger (im ff. »ts«) und erhöht oft subjektiv den Druck, Verantwortung für das Gelingen des Gespräches zu übernehmen.

6 Die Qualität der Übertragung von Tonfrequenzen differiert nach Anschlussart (analog oder digital), nach der Telefonanlage vor Ort und bei Anrufen im Mobilfunk je nach Sendebereich.

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Die Beschreibung der günstigen Gelegenheit in Kapitel 1.1 trifft weitgehend auf den situativen Kontext der TS zu: Anrufende (im ff. ›A‹) wollen: – jetzt und hier, – so und nicht anders, – von dieser (gerade Dienst tuenden) Person gehört werden und eine persönliche Resonanz erleben. Der Anrufende bestimmt Ort, Zeit und Umstände des Gespräches und kommt direkt zur Sprache. Durch keinen anderen Wahrnehmungskanal oder »Dritte« soll das Hören und Reden gestört werden. Die Seele des Anrufenden spricht sich aus: sie verschafft sich Gehör, formuliert sich selbst und hofft durch die Resonanz eines menschlichen Gegenübers, sich selbst wieder zu finden. TS bietet die Chance in einem weitgehend störungsfreien Raum, zu sich zu kommen.7 Die Konzentration und Fokussierung auf das gesprochene Wort im zielorientierten Kurzgespräch erscheint mir als besonders geeignet für die Seelsorge am Telefon. Vorrangig ist für mich die Aufmerksamkeit für den ersten Satz vor der Ausbreitung des »Problems«: Beispiele: A: »Bei der Telefonseelsorge sind Sie doch verschwiegen –« TS : »Was werden Sie nicht länger verschweigen?« Aus der Anfrage an TS wird A zu einem Reflexionsprozess angeregt und zum Mit-arbeiten geführt. 0der: A: »Kann ich mit Ihnen über alles reden?« TS : »Was genau werden Sie mit mir besprechen.« G 7 Das freie Assoziieren, der innere Dialog, der vertiefende Meditationsprozess soll nicht gestört werden durch ein Gegenüber. Deshalb saß nach Freud der Therapeut hinter der Couch. Das Gespräch vor Gott geschah in der kath. Kirche im Beichtstuhl mit dem Priester hinter einem Gitter, bzw. Vorhang. TS wurde oft verstanden und gesehen in der Tradition der (Ohren-)beichte.

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A wird um eine Präzisierung gebeten, was eine Verschleierung seines bestimmten Anliegens verhindert und ein zielgerichtetes Fortschreiten ermöglicht. Oder: A: »Sie können mir wahrscheinlich auch nicht helfen.« TS : »Was scheint Ihnen eine wahre Hilfe zu sein.« G Durch den einfachen mäeutischen Impuls wird A. als verantwortlicher »Kapitän« wieder ins Boot geholt. Würde TS auf den Eingangssatz mit Aufforderungen und Einladungen reagieren, es doch einmal miteinander zu versuchen, ist das Ende absehbar: »Ich habe gleich gewusst, dass Sie mir auch nicht helfen können«. In den Anfangssätzen liegt das Mandat und die Chance eine symmetrisch – solidarische Beziehungsebene herzustellen. So wird einer »Manipulation« durch A gewehrt, die häufig auf Seiten von TS -Mitarbeiter/innen beklagt wird, die voraussagbar zu einem schließlich ergebnislosen und beiderseits enttäuschenden Gesprächsende führt. Jeder mäeutische Impuls gleich zu Beginn des Gesprächs erfordert Mut. Ein besonderes Beispiel: A.: »Können wir mal quatschen?« TS : »Welcher Quatsch wird uns im Gespräch beschäftigen?« Der Anrufer legt auf. TS erschrickt im ersten Augenblick, ist verunsichert, ob diese spontane Reaktion nicht zu weit gegangen sei, den Anrufer vor den Kopf gestoßen haben mag. Aber TS ist sicher, dass die eigene Reaktion ohne Ärger, ganz ruhig, sogar interessiert gewesen sei, sich vom Wort habe leiten lassen. Noch in der gleichen Schicht ruft derselbe Anrufer wieder an. »Das war gut mit «Quatsch». Wissen Sie, mir ist in diesem Augenblick klar geworden …« In den beiden letzten Beispielen wurden schwierige Verben in der Anfrage auf der Beziehungsebene (helfen, quatschen) in Substantive umgeformt (Hilfe, Quatsch). Damit werden sie ob– 170–

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jektiviert dem A. als Gegenstand der weiteren Bearbeitung präsentiert. Der umgekehrte Vorgang, die Auflösung der substantivischen Redeweise in Verben, ist im Regelfall hilfreich, besonders wenn A ein Anliegen statisch, feststellend als »Problemanzeige« zur Sprache bringt. Eine Auflösung in verbale Redeformen führt dann aus dem Erstarrt-sein in ein Geschehen, in einen Handlungsprozess. Beispiel: Eine jugendliche Anruferin: »Meine Freundin hat Liebeskummer!« Jugendliche sprechen direkt ohne Umschweife. Zugleich testen sie sowohl die eigene Fähigkeit »Heikles« anzusprechen, als auch die Beziehung zu TS . TS ist unsicher (aufgrund des Tonfalls: kindlich fragend, provokativ forsch, begleitendes Kichern, Lachen?, aufgrund unklarer Hintergrundgeräusche: z.B. weitere Stimmen). TS achtet auf die intermodale Kongruenz bei sich und spricht langsam, entschleunigt, nachdenklich den mäeutischen Impuls: TS : »Sich um die Liebe kümmern – wie geht das?« Die Frage nach dem »Kümmern um die Liebe« verstört. Erfahrungsgemäß löst sich die Ambivalenz der Testsituation unmittelbar auf: – Die Umwandlung von Kummer in »kümmern« führt zu einem Gespräch, aktiv das Partnergeschehen zu durchdringen. – Das Gespräch wird beendet, weil ein weiteres Bedenken nicht gewollt ist – aus welchen Gründen auch immer. Vermieden ist in jedem Fall das Gefühl bei TS , nur im vorläufigen Geplänkel geblieben zu sein oder veralbert worden zu sein oder der vermuteten Ernsthaftigkeit des Anliegens nicht gerecht geworden zu sein. Mäeutische Impulse setzen den Mut zur Tiefe bei TS voraus.

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Beispiel: A: »Ach, ich suche irgendeinen Halt. Sie sind doch von der Kirche!« TS : »Was hält Sie bei der Kirche.« G A: »Nicht mehr viel.« TS : »Was ist das Wenige, das Sie noch hält.« G A: »Die Hoffnung, dass ich endlich meinen Frieden finde.« TS : »Womit hoffen Sie Frieden zu schließen.« G A: »Mit dem frühen Tod unseres Sohnes.« TS : »Was wird Ihnen Frieden geben.« G A: »Ich war so unzufrieden mit der Trauerfeier in der Kirche. Für mich war da kein gutes Wort dabei.» TS : »Frieden – in einem guten Wort – « G A: »Ja, ein gutes Wort –« Im Weiteren gibt A die Richtung vor, in der sie ein gutes Wort zu finden hofft. TS hilft bei der »Wortfindung«. Manche Anrufende sprudeln wortgewaltig aus sich heraus. Der Versuch, sich alles zu merken, ist zum Scheitern verurteilt. Im Vertrauen darauf, dass der Wortfluss ein Schlüsselwort an die Oberfläche spülen wird, bietet die Chance, das Gespräch auf den Punkt bringen. Beispiel: A hat ein Haus gekauft, eine Familie gegründet, mittlerweile drei Kinder, startet in der Karriere durch, hat aber jetzt eine knackige Frau kennen gelernt. Das Wort knackig benutzt A wiederholt in seinem Redeschwall. Dann die Äußerung: A: »Mein ganzer Lebensplan bekommt einen Knacks.« TS : »Wie diese Nuss jetzt knacken.« G A hält inne, dann: »Ja, die werde ich wohl knacken. Danke.« Und legt auf. Wilfried Lenzen

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5.8 In der Schule »Kann ich Sie mal kurz sprechen?« Viele kennen diese Frage, und die damit verbundenen Gespräche zwischen Tür und Angel, mit Schüler/innen, mit Kolleg/innen, mit Eltern. Oft ganz unpassende Situationen. Keine Ruhe, keine Zeit. Manchmal drehen sich die Gespräche im Kreis. Dauern viel länger als man eigentlich Zeit hatte. Und hinterher dann leider oft das Gefühl: ›So richtig helfen konnte ich ja nicht.‹ Oder: ›So ein Berg von Problemen – da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll.‹ Diese Gespräche kurz und bündig zu führen, erscheint ideal. Jedoch: Das Kurzgespräch in der Schule steht vor besonderen Herausforderungen: Der Schullalltag ist eng getaktet, selbst die Pausen sind voll gestopft mit Absprachen; dann die Pausenaufsicht und »schnell noch was kopieren«; der Klassenraum laut und wuselig, das Lehrerzimmer unruhig und der Schulhof oft chaotisch. Hinzu kommen weitere Hürden: Lehrerinnen und Lehrer sind spezialisiert darin, auf Fehler zu achten und diese zu korrigieren. Und sie sind sehr geübt im Ratschläge geben, Vorschläge machen, »Lösungen wissen«. Oft werden sie genau deshalb angesprochen. In der Tat haben sie im Gespräch mit Schüler/innen und zum Teil auch mit Eltern einen auf den schulischen Alltag bezogenen Erfahrungsvorsprung. Manchmal können Lehrerinnen und Lehrer aufgrund gegenteiliger Erfahrungen nicht darauf vertrauen, dass die Schüler/innen ihren eigenen Weg finden werden. In dieser Situation erscheint die langsam erkundende mäeutische Methode des Kurzgesprächs, das ruhige Abwarten, wenn der Schüler ins Nachdenken gekommen ist, das Vertrauen in die Ressourcen der Ratsuchenden, schwer umsetzbar. Schwer heißt aber zugleich auch: es ist schon umsetzbar – mit Anstrengung und Übung.

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Ein Beispiel Tim (T), 3. Klasse, war zum Schulleiter (SL ) einer Grundschule geschickt worden, um eine Auseinandersetzung, die sich an diesem Vormittag in der Schule abgespielt hatte, zu klären. Nach der Aussprache wird T vom SL vermahnt und die Beiden verabschieden sich. SL will sich wieder seinen Papieren zuwenden, aber T geht noch nicht, sondern ergreift die »günstige Gelegenheit« und sagt: T: »Kann ich Ihnen noch etwas erzählen?« SL : »Hm …« (ist gedanklich bei seinen Papieren). T: … SL : (merkt jetzt, dass T auf etwas wartet und wendet sich ihm mit voller Aufmerksamkeit zu) »Was willst du mir erzählen.« G T: … (setzt sich). »Ich weiß ja, dass ich Scheiße gemacht habe.« SL : (wartet ab) T: »Ich hab aber auch nie Ruhe.« SL : (ruhig und mit Pausen) »Wozu hast du nie Ruhe.« G T: »Alle zerren immer an mir herum.« SL : »Wer zerrt immer an dir herum.« G T: »Mama und Papa. Die streiten sich immer. Ich stehe immer dazwischen. Und Papa glaubt immer nur seiner Freundin. Neulich hat sie Wasser in mein Bett gekippt und gesagt, ich hätte ins Bett gemacht. Und dann hat sie meinen Nintendo weggenommen. Den will ich wieder haben.« SL : »Wo möchtest du in Ruhe steh’n.« G T: »Ich möchte in Ruhe mit Papa sein.« SL : »… in Ruhe mit Papa … wann ist das.« G T: »Weiß nicht. (…) Papas Freundin ist ja immer da. – Außer mittwochs vielleicht. Da muss sie länger arbeiten. Aber mittwochs bin ich bei Mama.« SL .: »Mittwochs zu Papa. Ohne die Freundin. Endlich Ruhe haben. Mit wem musst du darüber reden.« G T: »Mit Mama. Und mit Papa.« SL : »Mit wem redest du zuerst.« G

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T: »Mit Mama.« SL : »Was erzählst du deiner Mama.« G T: »Dass ich nicht mehr bei Papa übernachten will. Und dass ich nur in Ruhe mit ihm alleine sein will. Und dass das nur mittwochs geht.« Wenige Tage später kommt T erneut und berichtet SL , dass seine Mutter sich auf eine Neuregelung der Besuchszeit eingelassen hat. In einem zweiten Gespräch wird das Gespräch mit dem Vater vorbereitet. Oft ist es so, dass ein Lehrer, eine Lehrerin sich in den Augen der »Ratsuchenden« bewährt hat, und deshalb als Gesprächspartner gewählt wird: Hier ist einer, der ist interessiert an uns Schüler/innen. Hier ist eine, die hört zu und ist fair. Diese »günstige Gelegenheit« wird unter den Schüler/innen kolportiert und im Bedarfsfall gern ergriffen. Bei Elterngesprächen ist es ähnlich. Eine Mutter ergreift die »günstige Gelegenheit« am Elternsprechtag, weil sie weiß: Da ist ein Mensch, die Klassenlehrerin meines Sohnes, die kennt ein paar unserer Probleme zu Hause. Und sie ist freundlich zu meinem Sohn (obwohl der anstrengend ist). Und sie war jetzt und auch in den vorherigen Gesprächen mir zugewandt und souverän, die versteht etwas von ihrem Beruf. In den ersten 5 Minuten geht es um David, Schüler der 6. Klasse, ein – für die Klassenlehrerin und die Mutter – anstrengendes Kind, weil er sehr unruhig und unkonzentriert ist. Es geht um Davids Leistungen in der Schule und um sein Verhalten. Das Gespräch über David ist beendet, da sagt die Mutter: »Ich musste inzwischen wieder aufhören zu arbeiten.« Die Klassenlehrerin (K) nimmt sich noch ein paar Minuten Zeit, bis die nächsten Eltern kommen, sie sammelt ihre Kräfte und wendet sich hoch konzentriert der Mutter (M) zu. K: »Worauf müssen Sie hören, Frau M.« G M: »Mein Chef hat gesagt: So geht das nicht mit mir. Ich bin zu oft krankgeschrieben.« K: »Wie hört sich das für Sie an.« G – 175–

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M: »Er hat ja Recht. Ich bin nicht richtig bei der Arbeit und ich bin nicht richtig zuhause.« K: »Wie wird es richtig für Sie.« G M: »Ich bin zu früh zurück in die Arbeit. Da sind ja noch die beiden Kleinen. Mit drei Kindern zuhause und Arbeiten – das geht nicht. In zwei Jahren vielleicht.« Gern wird von Schüler/innen die günstige Gelegenheit nach der Unterrichtsstunde genutzt. Sven (S) fragt den Lehrer (L) nach der Stunde, ob er ihn noch mal sprechen könne, wenn die anderen draußen sind. L: »Ja.« (und wartet ab) S: »Ich habe solchen Stress mit meiner Mutter. Die meint immer, ich lerne nicht genug. Aber ich kann das nicht.« L: »Was genau kannst du nicht.« G S: »Ich hab in Mathe und Englisch eine 5 im Zeugnis gehabt.« L: »Was kannst du.« G S: »Deutsch ist ok, die Nebenfächer auch, aber Mathe und Englisch, das ist mir zu schwer. Ich habe schon seit einem Jahr Nachhilfe, aber ich schaff das einfach nicht.« L: »Was schaffst du, S.« G S: »Ich möchte zur Realschule. Die schaff ich, glaube ich.« Der Lehrer wird nun mit dem Schüler diese Idee prüfen, ob sie angemessen ist und wie die Umschulung dann konkret umgesetzt werden kann. Für viele Lehrerinnen und Lehrer ist es mühsam, ihre Wahrnehmungsfilter zu verändern: – auf die Sprache der Ratsuchenden achten (und nicht in erster Linie auf das Problem), – sich auf die Ressourcen konzentrieren (und nicht auf die Defizite), – in die Zukunft blicken (nicht auf die Vergangenheit), – auf einen kleinen ersten Schritt vertrauen und sich von den »großen Lösungen« zu verabschieden. – 176–

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Doch die Mühe lohnt. Viele Lehrer/innen entdecken im Kurzgespräch die andere Haltung, die andere Perspektive: – Ein wichtiges Augenmerk des Kurzgesprächs in der Schule liegt auf dem aktivierenden Moment, das mit dem Nachdenken über einen guten mäeutischen Impuls beginnt. Tipps und Ratschläge bringen nichts, weil der Schüler, die Schülerin nicht selbst aktiv wird; sie werden nicht angenommen und nicht umgesetzt. – Veränderungen, erste Schritte sind nur möglich mit dem, was der Schüler an Ressourcen hat. Oft ist allerdings der Zugang zu den Ressourcen verschüttet. Hier führen mäeutische Impulse oft zu einem ertragreichen Nachdenken. – Einmal als Lehrer/in am »eigenen Leib« zu erfahren, wie unterschiedlich der gleiche Inhalt einer Frage klingen und wirken kann, je nachdem, wie sie formuliert und dann betont wird, verändert die eigene Perspektive sofort. Ein Lehrer beschrieb es so: Wird die Frage schnell und fordernd gestellt und hebt sich die Stimme am Ende, fühle ich mich klein. Wird die Frage ruhig und langsam gestellt und senkt sich die Stimme, darf ich nachdenken, und das macht mich stärker. – Wenig Zeit haben für ein Gespräch und Entschleunigen im Gespräch muss kein Widerspruch sein, sondern kann Hand in Hand gehen. Auch in der Hektik des Schulalltags kann die innere Haltung, ein ruhiges und ernsthaftes Gespräch zu führen, mein Gegenüber ins Nachdenken bringen. Gerade engagierten, wohlmeinenden Lehrer/innen hilft die Haltung: Ich kann nicht, muss nicht und werde auch nicht die Probleme anderer Menschen »lösen« können; vielmehr bringt meine Rolle als »Hebamme« mein ratsuchendes Gegenüber zu eigenen Lösungen. Das wirkt für viele Lehrer/innen wie eine Er-»Lösung« und stärkt ihr Engagement, gute Wegbegleiter ihrer Schüler/innen zu sein. Britta Möhring – 177–

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5.9 Mit Studierenden Studieren ist kompakter, strukturierter und berufsbezogener geworden. Die Studierenden stehen heute unter größerem Prüfungs- und Zeitdruck als die Generationen davor. »Eigentlich wollen wir, dass die Uni so etwas ist wie ein allwissender Freund, der … sieben Jahre älter ist als wir. Einer, der uns klar sagt: Mach doch das. Mach das lieber nicht … Wir wollten Anleitung, Struktur, Führung …«.8 Welche Chancen hat hier das Kurzgespräch, das doch von der symmetrisch-solidarischen Kommunikation lebt und nicht allwissende Ratschläge erteilt? Kontakte zwischen Studierenden und mir als Studentenpfarrer reichen von kurzen, einmaligen Begegnungen über Verbindungen durch mehrere Monate und Semester bis hin zu bleibenden Kontakten per Mail oder Telefon auch Jahre nach dem Studienabschluss. Drei Beispiele: 1. Renate (R), eine Studentin in den ersten Semestern, erzählt mir (B) von bevorstehenden Klausuren und ihren Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. R: »Ich weiß nicht, was ich machen soll.« B: »Was wissen Sie genau.« R: »Es ist alles so sinnlos, was danach kommt.« B: »Was wird danach kommen.« R: »Na ja, eine Familie? Kinder? Und einen Beruf. Ja, ich stelle mir vor, ich bringe jemandem etwas bei.« (Sie wirkt plötzlich lebendig und interessiert.) Ja. Jemandem etwas beibringen. Das mache ich gern! Jetzt schon beim Lernen mache ich das.» B: »Wie lernen Sie.«

8 Hartung, M., Schmitt, C, Die netten Jahre sind vorbei. Schöner leben in der Dauerkrise, Frankfurt 2010, 54 f. Die Autoren sind Redakteure bei der »Zeit« und untersuchen die Generation der 20–35-Jährigen.

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R: »Ich treffe mich mit Claudia und Moritz. Wenn ich da dranbleiben könnte, dann schaffe ich das. Ich hab’ schon alle möglichen Prüfungen geschafft!» B: »Wie schaffen Sie die nächste Klausur.« R entwickelt einen konkreten Tagesablauf. Am Ende des Gesprächs vereinbaren wir, dass sie mir, wenn sie möchte, jeden Tag per Mail eine kurze Rückmeldung gibt über das, was sie sich vorgenommen hat; ich werde ihr antworten. R besteht die nächste Klausur, dann auch die bis zum Semesterende noch anstehenden Prüfungen. Kommentar: Die Ausrichtung auf ein zunächst noch weit entferntes Ziel (Familie, Kinder, Beruf) wurde im Gespräch zu einem naheliegenden, konkreten, realistischen Ziel: R entdeckt ihre Ressourcen neu, und der erste Schritt wird attraktiv für sie. 2. Die Lösung vom Elternhaus gehört zu den persönlichen Umbruchphasen, in denen ich junge Menschen begleite: Die neuen Lebenserfahrungen des Studiums kollidieren mit alten Gewohnheiten und Erwartungen. Mike (M) studiert gerade im Ausland und kommt einige Tage an seinen bisherigen Studienort zurück. Wir treffen uns zufällig im Foyer der Universität zwischen zwei Vorlesungen. Nach kurzer Begrüßung sagt er: M: »Ich werde heute Abend dann bei meiner Mutter übernachten. Das wird wieder sowas.« B: »Was wird wieder so.« M: »Ach, es ist immer dasselbe. Der passt das nicht, was ich mache. Das kommt dann immer ’raus, wenn wir reden.« B: »Wo willst du ’rauskommen.« M: »Gute Frage. Ha! Tja, was will ich? Ich will, dass sie mich einfach so lässt.« B: »Worauf wirst du dich einlassen.« M: »Hm.« (schweigt, sieht mich erwartungsvoll an.) Lange Pause M: »Na ja. Ich müsste mich auf eine ehrliche Auseinandersetzung einlassen. Ihr widersprechen: Ja, Mutter, ich weiß, das passt dir nicht, wie ich jetzt so bin und lebe. Da kann ich nichts – 179–

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ändern. Aber so ist es eben. Ich komme und gehe, wann ich es will.« B: »Angenommen, du wirst dich auf eine Auseinandersetzung mit deiner Mutter eingelassen haben, was kommt dann.« M: »Dann, (er lacht erleichtert auf) genau: Dann werd’ ich gut schlafen.« Neben den beharrlichen Anstößen, tiefer nachzudenken ermöglicht die lange Pause, in der ich mich bewusst nicht äußere, dass Mike sich auf seine Ressourcen besinnen kann. 3. Freundschaften sind für Studierende sehr wichtige Werte.9 Darum ist auch das Scheitern einer Freundschaft eine wirklich einschneidende Erfahrung. Ich schreibe Annette, einer begeisterten Sängerin und Klavierspielerin, die das Studium bereits beendet hat, eine kurze Mail zum Geburtstag. Sie schreibt am nächsten Tag zurück: »Eigentlich geht’s mir gar nicht so gut, aber das ändert sich hoffentlich wieder. Steve und ich haben uns gerade nach über sechs Jahren Beziehung dafür entschieden, dass es besser ist, getrennte Wege weiter zu gehen. Verstandesmäßig ist das wahrscheinlich richtig, aber es fühlt sich wirklich bescheuert an. Naja, so hab ich wieder etwas mehr Zeit für andere Dinge. « Ich schreibe zurück: »Hallo Annette, du schreibst von ›getrennten Wegen‹ und ›weitergehen‹. Mitten in den bescheuerten Gefühlen. Da fällt mir der Paul Gerhardt und sein Lied ein: › … der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann‹.« Annette antwortet wenige Minuten später: »Ich habe die ganze Sache nur Michaela erzählt. Und sie schlug heute Nachmittag vor, im Sommer zusammen in Schottland wandern zu gehen.

9 A.a.O. S 193. Dies entspricht auch den deutschlandweiten Untersuchungen des Konstanzer Bildungsforschers T. Bargel. Die meiste Wertschätzung unter den Grundwerten der Studierenden erhält der Wert »Freundschaft«.

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Das klingt doch schon ’mal nach einem sehr guten Weg. Gruß und danke für die schnelle Antwort.« Das »analoge« bildhafte Angebot (statt einer »digitalen« Problemanalyse) in diesem Kurzgespräch per Mail ermöglicht es Annette, in ihrem zukommenden Leben den Klang eines »sehr guten« Weges wahrzunehmen. Karl Menger

5.10 Im Gemeindepfarramt Durch das »Kurzgespräch« bin ich für die Sprachebene meiner mir gegenüber sitzenden GesprächspartnerInnen sensibilisiert worden. Jenseits von Beratungsgesprächen dient mir die an der Sprache des anderen anknüpfende Vorgehensweise auch beim Kasualgespräch. Aus Anlass einer bevorstehenden kirchlichen Trauerfeier kommt es meist zu einem einmaligen intensiven Gespräch. Ich konzentriere mich darauf, die Angehörigen in ihren verschiedenen Ausdrucksweisen wahrzunehmen und achte auf das, was konkret geäußert wird. Die Wörter, die sie für ihre innere Bewegung benutzen, werden zur Basis, den Angehörigen in ihrer Sprache nahe zu bleiben. Ein Beispiel: Ein Mann hatte seine Mutter lange gepflegt. Nach dem Tod der Mutter fand er trotz der Zuwendung seiner Frau keinen richtigen Weg ins eigene Leben zurück. Im Beerdigungsgespräch sagte er unvermittelt: »Ich fühl mich wie in einem Loch.« Dem bibelkundigen Mann bot ich mit wenigen Strichen die Erzählung von Josef in der Zisterne an und endete: »Wie werden Sie aus dem Loch kommen.« Er schüttelte langsam den Kopf und deutete damit an, dass er den Weg nicht sähe. Da sagte seine Frau: »Joseph bekam Hilfe von außen. Die haben ihn am Seil herausgezogen.« Der Mann erhob sein Haupt und musste für einen kurzen Moment schmunzeln. Dann wurde er wieder ernst und erzählte von seiner tiefen Traurigkeit und sagte schließlich: – 181–

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»Noch möchte ich im Loch bleiben. Später dann, vielleicht in ein paar Monaten, dann möchte ich hier raus.« Er benannte Orte außerhalb ihres Wohnortes, die für beide attraktiv seien, und es entwickelte sich ein Urlaubsplan, der sich ein paar Monate später realisieren sollte. Sich an den Worten des Gegenübers zu orientieren bewahrt mich und vermutlich viele andere davor, allzu eilfertig »behilflich« sein zu wollen: Eine junge Frau (G) aus der Gemeinde rief mich an und sprach über eine belastende Situation in einer Gemeindegruppe, von der Spannung in der Gruppe und von Anfeindungen gegen sie. Trotzdem habe sie nach Wegen gesucht weiterzumachen, ohne ihre eigene Wut zu zeigen. G: »Ich bin voller Wut. Es wühlt mich sehr auf.« P: »Was wühlt die Wut in Ihnen auf.« G: »Ich habe nicht gelernt, mit meiner Wut umzugehen. Sie kocht dann über.« P: »Was genau kocht über?« G: »…, dass ich diesen Weg nicht gut finde. Nein, dass ich zu feige bin, für meinen Weg zu kämpfen!« P: »Wie kämpfen Sie für den Weg, den Sie gut finden.« G entwickelt einen realistischen Plan, wann und wie sie den anderen Teilnehmenden die eigene Sichtweise darstellen will. Es wird G Überwindung und Kraft kosten, es zu lernen. Ihre angestauten Energien in eine befriedigende Entwicklung einzubringen. Es gibt zahlreiche Anfragen im Pfarramt, bei denen Menschen sich wünschen, jemand möge ihnen zuhören und sie ohne Ratschläge und ohne Wertungen begleiten. Die Haltung des Seelsorgenden im Kurzgespräch ermöglicht den Ratsuchenden, erste eigene Lösungsschritte zu finden. Die Ratsuchenden tragen den Denk- und Handlungsweg bereits in sich und lassen sich durch mäeutische Impulse sanft leiten, um Klarheit für sich zu gewinnen.

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Nach einem Seminar kam ich endlich nach Hause. Ich saß im Sessel und wollte nur ein paar innere Bilder des Tages sortieren. Das Telefon klingelte – eine unliebsame Störung zu dieser Zeit und in meiner Verfassung, dennoch nahm ich ab: B: »Kann ich Dich mal um einen Rat fragen?« Ehe ich antworten konnte, musste ich mir die Sorge einer Mutter (B) um ihr Verhalten ihrer Tochter (T) gegenüber anhören. B wollte wissen, wie ich an ihrer Stelle handeln würde. B: »Ich weiß nicht, ob ich T das Geld geben kann. Es gehört ihr, aber ich habe Angst, dass sie es zum Kauf von Dingen einsetzt, die ihr schaden.« P: »Was ängstigt dich.« B: »Wie ich es mache, mache ich es falsch – das ängstigt mich. Vorenthalten kann ich ihr das Geld nur mit einer Lüge, und das ist hinterhältig von mir. Und gebe ich es ihr, kauft sie sich vielleicht ein Moped und verunfallt. Und dann mache ich mir Vorwürfe. Jetzt sag du mal, was ich machen soll.» P: (ruhig und stark entschleunigt) »Was machst du mit T, ohne dich zu ängstigen.« B: (schweigt, denkt offensichtlich nach) »Da hast du Recht: Wir machen eigentlich nichts mehr zusammen. T macht eigentlich alles allein. Ich mach nichts mehr mit ihr – außer so das Übliche. Und irgendwie macht mir das Angst.» P: »Was wirst du mit T machen, das dir und ihr eigen ist.« B: »Reden. Früher haben wir viel geredet. Über alles. Als sie ihren ersten Freund hatte, hörte das auf. Nicht plötzlich. Ganz langsam». P: »Worüber wirst du mit T reden und worauf willst du hören.« B: »Das mit dem Geld steht da nicht an. Gewiss nicht. Ob T mit mir reden will? Ich weiß es nicht. Aber ich will es versuchen. Danke. Das war ein guter Rat. Und entschuldige bitte, dass ich dich so spät noch angerufen habe.» Ich gebe zu, es bedurfte großer Anstrengung und hoher Konzentration, in diesem Telefongespräch den »Dreh« zu kriegen. – 183–

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Es gelang mir mithilfe verschiedener Methoden des Kurzgesprächs, allen voran dem Andocken an dem sprachlichen Ausdruck meines Gegenübers. Dann aber auch ließ ich mich nicht in die Ratgeberrolle drängen, sondern gab dem Gespräch über das Wort »machen« die Drift, die es B ermöglichte, ihren Gedanken so zu folgen, dass sich aus einem Wirrwarr von Angst, Schuld und Verantwortung eine klare Haltung entwickelte. Diese mäeutische Haltung ließ B zu einem Entschluss kommen, den sie für sich als »meinen« Rat verbuchte. Manchmal gibt es diese bündigen, stimmigen, geisterfüllten Momente. Michael Juschka

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Nachwort: Die Methode des Kurzgesprächs im Rahmen der Alltagsseelsorge

D

er Entwurf „Das Kurzgespräch. Eine methodische Anleitung.“ geht von der Überzeugung aus, dass es möglich ist, in kurzer Zeit ein Gespräch zu führen, das dem Auftrag der Seelsorge gerecht wird, in einer spezifischen Lebens-, Krisenoder Konfliktsituation christliche, befreiende Hilfe zur Lebensgestaltung zu leisten. Ein solches Ansinnen widerspricht anscheinend den Grundsätzen der beratenden Seelsorge, scheint aber auch quer zu neueren Konzepten der Seelsorge als geistlicher Begleitung oder Führung zu stehen. Sie alle heben hervor, wie wichtig es sei, Seelsorge als Prozessgeschehen zu begreifen, in dem beide Gesprächspartner eine Beziehung eingehen, die sich über mehrere Begegnungen hin erstreckt und sich zur mittel- oder längerfristigen pastoralen Begleitung oder Therapie ausdehnen kann, in der möglichst auch eine Art Kontrakt über die zentrale Thematik und die Ziele der Gespräche geschlossen wurde. Es ist allgemein bekannt, dass sich diese ideale Seelsorgesituation häufig nicht mit der Praxis der Seelsorge deckt. SeelsorgerInnen werden, zumindest in den protestantischen Kirchen Westeuropas, relativ selten aufgesucht. Wenn es zu einem Beratungsgespräch kommt, dann bleibt der Kontakt – übrigens auch in den Beratungsstellen – nicht selten ein einmaliges Geschehen. Ob in der Gemeinde, im Krankenhaus, in diakonischen Heimen, Gefängnissen, im Rahmen der pastoralen Begleitung von Seeleuten oder Urlaubern – es überwiegen kurze, informelle Begegnungen. Viele Gespräche am Krankenbett dauern zehn oder zwanzig Minuten. SeelsorgerInnen werden innerhalb eines alltäglichen Kontextes angesprochen: beim Händeschütteln nach dem Gottesdienst, auf der Straße, beim Einkauf an der Käsetheke, auf einem Fest, – 185–

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am Rande eines Seminars, auf dem Flur des Krankenhauses oder Altenheims. Es entwickelt sich ein eher zufälliges Gespräch, das ebenso schnell verebben kann, wie es aufkam. Es hat einen eher sporadischen, oder, wie beim Geburtstagsbesuch, einen formalen Charakter: man besucht, um zu gratulieren, man trifft sich zufällig, man kommt mal vorbei. Die Themen sind nicht geplant, der Gesprächsverlauf völlig ungewiss. Ziele sind nicht offensichtlich vorgegeben und werden auch kaum in einem verbalen Kontrakt verabredet. Das Gespräch kann jederzeit durch äußere Störungen unterbrochen oder unmöglich gemacht werden. Dennoch kommt es unversehens zu bedeutsamen Momenten der Begegnung. Ein existenziell wichtiges Thema wird vorsichtig angesprochen, etwas, das dem oder der Gesprächspartnerin vielleicht schon lange auf der Seele lastete. Verborgene Gefühle schimmern durch und brechen sich Bahn. Bedürfnisse, Hoffnungen, Zweifel können wahrgenommen und ausgesprochen werden. Man erinnert sich an wichtige Grundsätze, Werthaltungen und Bekenntnisse. Stärkende Erlebnisse werden erinnert, wichtige Bezugspersonen kommen ins Spiel, neue Möglichkeiten werden überlegt. Die Gesprächspartner entwickeln Perspektiven, stärken, trösten, konfrontieren und kritisieren einander. Man kann sich körperlich berühren, spricht durch Mimik und Gestik. Man erinnert sich an biblische Erzählungen, an Aussagen christlicher Weisheit, an Metaphern des Glaubens, die zu denken geben – und manchmal spricht einer ein Gebet. Kurz: Die ganze Bandbreite menschlicher Kommunikation kann offensichtlich im Rahmen einer solchen zerbrechlichen Minimalstruktur menschlicher Begegnung zum Tragen kommen und Früchte tragen. Die Frage ist darum nicht, ob in solchen Begegnungen Seelsorge stattfindet. Die Frage ist vielmehr, ob und wie wir die Seelsorge in Kurzgesprächen, die den Seelsorgealltag bestimmen, gestalten können. Allerdings machen viele immer wieder die Erfahrung, dass sie in diesen kurzen Gesprächen nicht weiterkommen. Das systemisch orientierte Seelsorgeverständnis stellt Instrumente zur Verfügung, die es haupt- und ehrenamtlichen SeelsorgerInnen erlauben, Kurzgespräche so zu gestalten, dass – 186–

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das seelsorgliche Anliegen einer Lösung näher gebracht werden kann. Dadurch wird es möglich, die durch Gottes Gnade eröffneten neuen Lebensmöglichkeiten im Rahmen von Alltagsgesprächen in einer theologisch verantwortlichen und kommunikativ wirksamen Art und Weise zur Geltung kommen zu lassen.

1. Das Kurzgespräch als Methode der Alltagsseelsorge Die bisher vorgetragenen Überlegungen bewegen sich in der Nähe der Richtung der „Alltagsseelsorge“ die in den letzten Jahren in kritischer Auseinandersetzung mit der beratenden Seelsorge und der Seelsorgebewegung entwickelt wurde. Für unseren Zusammenhang wichtig sind drei tragende Elemente dieser Richtung, die, trotz gewisser innerer Widersprüche, in der gegenwärtigen Diskussion miteinander verbunden werden: Die Kritik am Defizitmodell des Helfens, der Abschied der Seelsorge von hoher Therapie und hoher Theologie, die Orientierung der seelsorglichen Kommunikation an den sozialen Anforderungen an die pastorale Profession. Wie verhält sich ein Seelsorgeverständnis, das für das Erlernen und die Pflege von Kurzgesprächen im Seelsorgealltag eintritt, dazu? H ENNING L UTHER 1 hat die Orientierung der Seelsorge am „Defizitmodell des Helfens“ infrage gestellt, weil es ein Machtgefälle in der Beziehung von Helfer und Ratsuchendem etabliert und das Defizit perpetuiert. Die Seelsorge, so L UTHER, kennt nur Betroffene, die in Krisen und Konfliktsituationen solidarisch sind. Für ihn steht christliche Seelsorge quer zur „Alltagssorge, die auf Wiedereingliederung, Realitätsertüchtigung und Anpassung“ abzielt. „Seelsorge schafft Freiheit“, weil sie den Alltag kritisch „in den Horizont lebensschaffender und lebenserneuernder Möglichkeiten“ stellt. Sie orientiert sich an der Grenzsituation, vor allem an Sterben und Tod, da diese 1 Henning Luther, Religion, 231. 232. 239.

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die Brüchigkeit der „selbstverständlich eingespielten Lebenswelt“ erfahrbar macht. Damit wird Seelsorge faktisch jedoch auf die Grenzsituationen beschränkt. L UTHER kann nicht zeigen, wie die Möglichkeit des Andersseins in Alltagssituationen zum Tragen kommt. Soll dies gelingen, kann kritische Seelsorge eben keine bloße Alternative zur Alltagssorge sein. Wenn alle betroffen sind und füreinander SeelsorgerInnen, dann scheint jedes methodische Vorgehen ausgeschlossen. Kippt mit der Alltagsorientierung also auch die Methodik des Seelsorgegesprächs und damit die Möglichkeit, Seelsorge zu lernen? Dieses Problem wird auch in E BERHARD H AUSCHILD s2 weiter ausgeführtem Entwurf einer radikal interaktiven Alltagsseelsorge deutlich. In der Analyse von Geburtstagsbesuchen überprüft er empirisch, ob und wie im Alltag „intensive Seelsorge“ geschehen kann. Dabei zeigt sich, dass Seelsorge sich im Alltag in einer Form vollzieht, die im Vergleich zu „den hohen Idealen der Therapie und Theologie unterscheidbar anders“ ist. Es geht um Alltagstheologie, in der beide Seiten sich „am Kalkül alltagspraktischer Vorsorge“ orientieren, wenn etwa das Thema angegangen wird, ob der Pfarrer die betagte Dame, die er zum Geburtstag besucht, eines Tages beerdigen wird. Es geht auch um „Alltagstherapie“, das heißt, um kleine Schritte des Ansprechens von Schwierigkeiten und Problemen, um „Ambivalenzdarstellung“ im Rahmen von rollenspezifischen, alltagssprachlichen Interaktionsmustern, um Selbsttherapie, Momente, in denen die Gesprächspartner eigene Lösungen und Wege finden. Für H AUSCHILD steht Alltagsseelsorge als eine dritte Form neben der hohen Theologie und Therapie, deren grundsätzliche Berechtigung sie nicht in Frage stellt, deren Ansprüche sie jedoch verendlicht. Die Alltagsseelsorge wird damit zu einem Bereich, der sich der Steuerung durch eine Methodik der Gesprächsführung und durch die Orientierung an für die Seelsorge grundlegenden theologischen Konzepten entzieht. Das zeigt sich deutlich in H AUSCHILD s These 2 Eberhard Hauschild, Seelsorgebewegung, 264. 270.

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einer „radikal interaktiven Seelsorge“, mit der er die Alltagsseelsorge fortschreibt und versucht, einen interkulturellen und interreligiösen Ansatz der Seelsorge zu finden, der für unterschiedliche theologische Grundannahmen und eine Vielfalt von kulturell bestimmten Praktiken offen ist. Dabei kommen Zweifel, hinsichtlich der Perspektive der Alltagsgestaltung. H AUSCHILD scheint letztlich davon auszugehen, dass der Alltagsdiskurs die kommunikativen Instrumente zur Verfügung stellt, um in der jeweiligen Gesprächssituation „Gemeinsamkeit“ und „Übereinstimmung“ herzustellen? Was aber, so könnte man überspitzt fragen, gibt es methodisch dann noch zu lernen im Fach Seelsorge? Diese Frage beantwortet I SOLDE K ARLE 3 auf dem Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Professionstheorie mit dem Hinweis auf die berufsethisch kommunikative und die theologische Sachkompetenz des pastoralen Berufes. Seelsorge ist, unbeschadet der Möglichkeiten der Gemeinde zur freien religiösen Kommunikation, als spezifische Aufgabe der pastoralen Profession anzusehen. Sie zeichnet sich wie die anderen klassischen Professionen der Mediziner und Juristen durch den Bezug auf gesellschaftlich relevante, anspruchsvolle Sachthematiken aus. Zu erlernen gilt es deswegen die aus den sozialen Erwartungen an die pastorale Berufsrolle ableitbare professionsethische und kommunikative Kompetenz. Es gilt, ein vor Ort erreichbarer, verlässlicher, glaubwürdiger, zur Übernahme von Verantwortung bereiter Gesprächspartner zu werden, der in überkomplexen, existenziell verunsichernden Situationen die Verantwortung übernehmen kann und dessen Sache es ist, das Wort Gottes zu verkündigen. Dazu gehört es, „kommunikative Kunstregeln für die vielen verschiedenen Begegnungssituationen und Kontaktsteuerungsmöglichkeiten des Gemeindelebens zu entwickeln“, nämlich in erster Linie Takt, Güte und Höflichkeit“, die „von grundlegender Bedeutung für das Entstehen von Vertrauen“ sind. Die genauere Bestimmung der Kunstregeln, an denen sich die seelsorgliche 3 Isolde Karle, Kompetenz, 508. 514. 515. 523.

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Kommunikation ausrichten soll, bleibt offen. So geht es um die Einübung eines sozial erwartbaren kommunikativen Stils, der mit Talent und Intuition entwickelt werden soll, nicht aber um eine methodisch reflektierte Vorgehensweise oder um die Fokussierung auf ein theologisch begründetes Ziel. Dieser Entwurf bleibt hinter den in der Seelsorge- und Beratungsausbildung bereits erreichten Möglichkeiten zurück, methodisch kompetente Kommunikation zu erlernen. Das Modell des seelsorglichen Kurzgesprächs geht darüber hinaus und macht es sich zur Aufgabe, auf die häufigen Alltagsgespräche methodisch und von einem theologischen Leitgedanken her gestaltend einzuwirken. Die Kurzzeitseelsorge steht damit zwischen beratender Seelsorge und Alltagsseelsorge. Sie entdeckt im Gespräch mit der systemischen Therapie, insbesondere der Kurztherapie kommunikative Instrumente, die helfen, gerade die informellen Gespräche sinnvoll zu gestalten, den Bedürfnissen der GesprächspartnerInnen entgegenzukommen und die befreiende Botschaft des Evangeliums zur Sprache zu bringen. Die Methode des Kurzgesprächs will zwischen „Spezialisten“ und „Laien“ eine Brücke bauen und die Beteiligung der Gemeindeglieder an der Seelsorgearbeit stärken, indem sie ihnen das Handwerkszeug zur Verfügung stellt, das auch die professionellen SeelsorgerInnen benutzen. Der theologische Leitgedanke ist, Menschen aufgrund der Rechtfertigung allein aus Glauben zu helfen, ihr Leben in der Gemeinschaft selbst verantwortlich zu gestalten. Das Kurzgespräch will ihnen dabei einen ersten Schritt weiterhelfen. Es geht darum, in kleine Münze umzusetzen, was es heißt, dass der Mensch als Person durch die rechtfertigende Gnade Gottes konstituiert wird, wie M ARTIN L UTHER in der D ISPUTATIO DE H OMINE sagt. Die Rechtfertigung als Sprachgeschehen macht den Menschen erkennbar als immer schon von dem göttlichen Du Angesprochenen, der nur darum ein individuelles Selbst zu sein vermag, weil er durch den Zuspruch dieses Du anerkannt wird. Dieser anerkennende Zuspruch bezieht sich, so die paulinische Rechtfertigungslehre, auf das Leben als neues Geschöpf, das in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi be– 190–

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gründet ist und an dem der von Gott Angesprochene teilhat. Es geht also um die Möglichkeit eines neuen Selbstseins als Gottes Geschöpf, das im Glauben angenommen wird und als Leben in endlicher Freiheit gestaltet werden kann und soll. Der Zuspruch der Freiheit impliziert die Verantwortung zur Gestaltung des Lebens als Selbst, das stets auf andere bezogen ist und darum auch ihnen gegenüber zur Antwort und Verantwortung verpflichtet ist. Der Mensch wird durch den Zuspruch des neuen Lebens als Wesen qualifiziert, das ein Leben als freies Geschöpf von sich aus nicht erreicht hat und stets verfehlt, solange es dem Ruf des göttlichen Du nicht entspricht, als Sünder. Kurzzeitseelsorge baut auf die Möglichkeit des neuen Lebens, das Gott schenkt, und bewegt sich in einem Raum der Hoffnung auf die Zukunft dieses Lebens. Sie soll dadurch konkret werden, dass Menschen, die in Problemen gefangen sind, Mut zur Zukunft fassen und einen Schritt weitergehen können. Ermutigung und Trost sind für sie eben so kennzeichnend wie die konfrontierende Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun und die parakletische ethische Orientierung des Handelns.

2. Die Verwurzelung des seelsorglichen Kurzgesprächs im systemischen Denken Das seelsorgliche Kurzgespräch greift Einsichten des systemischen Denkens auf, die zu einem Perspektivwechsel in der Psychotherapie und in den letzten Jahren auch in der Seelsorge geführt haben. Wichtig ist hier vor allem die lösungsorientierte Kurztherapie S TEVE DE S HAZER s, die Ansätze von W ATZLAWICK s Arbeitsgruppe am Mental Research Institute in Palo Alto weiterentwickelt. Ich will den Bezug zum systemischen Ansatz an zwei zentralen Themen zeigen: der Verständigung und der Veränderung oder dem Wandel des Verhaltens. Systemisches Denken beruht auf einem epistemologischen Wechsel, der das Ganze eines biologischen oder sozialen Systems und das Zusammenspiel seiner Teile in den Blick nimmt. – 191–

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Individuen und menschliche Gruppen werden im Rahmen einer Kybernetik zweiter Ordnung als autopoietische Systeme gesehen, die sich durch die Interaktion mit der Umwelt organisieren und strukturieren. Sie sind nach innen und nach außen relativ abgeschlossen und mit der Umwelt durch die Kommunikation verkoppelt. Das bedeutet, dass sie innere Prozesse und das, was von außen auf sie zukommt, zunächst als Beobachter wahrnehmen. Sie haben keinen unmittelbaren Zugang zu sich selbst oder zur Umwelt. Die Wahrnehmung selbst ist eine komplexe Leistung des Beobachters, in der Umweltreize nach internen Regeln ausgewählt und sinnhaft verarbeitet werden. In sozialen Systemen – und menschliche Individuen sind wahrnehmbar nur als Teil von sozialen Systemen – ist Sinn die Kategorie für die Verarbeitung der Impulse aus der Umwelt. Wahrnehmungen sind Wirklichkeitskonstruktionen, in denen ein Einzelner oder eine Gruppe von Anfang an als Interpreten in komplexen Zeichenprozessen tätig sind, aufgrund eigener Vorerfahrungen und durch diese festgelegter Maßstäbe für das, was wichtig und unwichtig erscheint und was das Beobachtete bedeuten kann. Auf dieser Basis verhält sich das System dann zu seiner Umwelt und wird von anderen Systemen beobachtet. Für die Hermeneutik des Gesprächs bedeutet dies, dass wir grundsätzlich nicht davon ausgehen können, dass die beiden Gesprächspartner sich unmittelbar verstehen. Sie müssen die Verständigung erst erarbeiten, und dies ist ein gemeinsamer Prozess, in dem sich jeder seine Sicht und Deutung der Wirklichkeit vor dem anderen ausdrückt. Dass die Verständigung gelingt, ist letztlich unverfügbar, theologisch gesprochen, ein Geschenk des Heiligen Geistes, der, wie es die Pfingstgeschichte zeigt, die Verständigung der bleibend verschiedenen Menschen wirkt. Die Kommunikation von in sich relativ abgeschlossenen Systemen setzt voraus, dass diese miteinander verkoppelt sind so etwa wie zwei Tänzer, die sich beim Walzer mit ihrem Körper auf die Bewegungen einstellen – und dennoch tanzt, genau besehen, jeder für sich. Bei der Kommunikation wird eigentlich keine Information übertragen. Vielmehr bildet jeder aufgrund seiner Wahrnehmung eine Deutung der Situa– 192–

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tion. Und dennoch entsteht etwas Gemeinsames. Man kann ein Gespräch dann vergleichen mit einem Tennisspiel: Einer hat den Aufschlag, der andere stellt sich in seiner Replik darauf ein und schafft eine Lage, auf die sich der Erste nun wiederum einstellen muss. Viele, oft unberechenbare Umweltfaktoren, Sonne, Regen, Wind, der Beifall des Publikums etc. wirken auf das Spiel ein. Letztlich wird es aber von den beiden Spielern als die gemeinsame Realität, die sie jetzt verbindet, geschaffen. Wie das Spiel, so ist das Gespräch die gemeinsame Wirklichkeit, die von den Gesprächspartnern geschaffen wird und die sie jetzt verbindet. Kurzgespräche leben davon, dass sich hier Gesprächspartner, die zu verschiedenen Systemen gehören, verkoppeln und ein gemeinsames Spiel beginnen, in dem ernste Fragen und Themen angesprochen und bearbeitet werden können. Das systemische Denken stellt die tief verwurzelte Überzeugung in Frage, dass die Veränderung des Verhaltens in der Regel ein langwieriger Prozess sei. Gilt jedoch, dass unsere in der Sozialisation erworbenen Verhaltensmuster eine jeweils aktuell im Spiel der Interaktion neu erzeugte gemeinsame Wirklichkeit sind, dann können sie sich ändern, wenn die Interaktionssituation, also das Spiel sich verändert. Andere Mitspieler, andere Spielregeln, ein anderes Spielfeld, andere Rahmenbedingungen können dazu nötigen, sich neu und anders zu verhalten. Ein drei Jahre alter Junge, der neu in den Kindergarten gekommen ist, schafft es nicht, sich von seiner Mutter zu lösen, die ihn dort morgens hinbringt. Weil er weint, wenn sie gehen will, bleibt sie länger dort, was ihm den Abschied noch schwerer macht. Als jedoch eines Tages der Vater den Jungen in den Kindergarten bringt, weil die Mutter verhindert ist, gelingt es dem Kleinen schnell, die Tränen herunterzuschlucken und mit den anderen Kindern zu spielen; denn für seinen Umgang mit dem Vater gelten offenbar andere Regeln als für die Mutter. Man hat dies als eine Lösung zweiter Ordnung4 bezeichnet. Sie versucht ein Problem nicht durch „mehr desselben“, also durch eine Wiederholung oder 4 Vgl. dazu Paul Watzlawick u.a., Lösungen.

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Verstärkung der bisher angewandten Lösungsansätze anzugehen, sondern setzt eine Ebene höher an und verändert den Lösungsweg. Im Gespräch können Lösungen zweiter Ordnung erarbeitet werden. Die Interaktion im Gespräch selbst kann z. B. durch die Veränderung von Kommunikationsregeln eine Verhaltensänderung bewirken. P ETER B UKOWSKI berichtet vom Gespräch eines akut suizidalen Mannes mit dem Seelsorger. Als dieser merkt, dass es ihm nicht gelingt, den Mann von seiner Absicht abzubringen, fällt ihm die Geschichte vom Feigenbaum ein. Er erzählt, wie Jesus einmal an einem Feigenbaum vorbeigekommen ist, den sein Besitzer abhacken wollte, weil er keine Früchte brachte. Jesus sagte zu dem Besitzer: „Gib ihm noch ein Jahr. Wenn er dann keine Früchte bringt, kannst du ihn abhacken.“ Der suizidale Mann ist von dem Satz berührt. „Er murmelte ihn einige Male vor sich hin. Dann wiederholt er ihn laut – und sagt dann …: „Ein guter Satz“ und beginnt die Lösung für den Feigenbaum auf seine Situation zu übertragen. Die akute suizidale Einengung der Wahrnehmung ist überwunden. Das Ergebnis des Gesprächs ist eine Vereinbarung, dass der Mann sich noch eine Frist gibt und mit dem Seelsorger weitere Kontakte vereinbart, um mit ihm über seine Lebenssituation zu sprechen.5 Durch die Erzählung wechselt der Seelsorger auf das Gebiet der analogen, metaphorischen Kommunikation, die eine Identifikation des Suizidalen mit dem Feigenbaum und die Anwendung des Lösungsvorschlags Jesu für den Feigenbaum auf das eigene Leben erlaubt. Die Veränderung des Kommunikationsmodus hat in sehr kurzer Zeit den Wandel des Verhaltens im Sinne einer Lösung zweiter Ordnung ausgelöst. Der Mann kommt einen Schritt weiter. Genau dies ist die besondere Chance und die Aufgabe des seelsorglichen Kurzgesprächs. Es macht ernst mit der Möglichkeit des Andersseins und rechnet damit, dass Interaktionssysteme und damit auch die Menschen, die in sie eingebunden sind, sich auch kurzfristig ändern können. Sein Ziel ist es, den Gesprächspartner in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit einen Schritt 5 Peter Bukowski, Bibel ins Gespräch, 58.

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weiterzuführen. Dabei kann es sich auf historische Vorbilder berufen: die kurzen Dialoge des synoptischen Jesus etwa oder die Seelsorge der Wüstenväter aus der Frühzeit des Mönchtums. Der hier vorgestellte Ansatz befindet sich also in guter Gesellschaft. Christoph Schneider-Harpprecht

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Literaturhinweise

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Täglich Leben Beratung und Seelsorge Die Reihe für alle in der Beratung Tätigen

Maria Dietzfelbinger Trennungsberatung

Volker Drewes Abschied vom Leben

Beratung von Paaren, die auf Trennung und Scheidung zugehen 2010. 124 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-67004-0

Beratung von Angehörigen Sterbender 2010. 138 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-67010-1

Paare, die auf Trennung oder Scheidung zugehen, brauchen besondere Unterstützung. Wie können ehrenamtliche und professionelle BeraterInnen ihnen helfen und sie begleiten?

Ingeborg Volger / Martin Merbach Die Beziehung verbessern Beratung von Paaren, die unter ihrer Kommunikation leiden 2010. 138 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-67003-3 Paargespräche erfordern besonderes Fingerspitzengefühl. Dieser Einblick in die konkrete Beratungspraxis bietet einen kompakten Einstieg in die Thematik.

Wenn sich die ganze Aufmerksamkeit auf den Sterbenden richtet, treten die Bedürfnisse der Angehörigen in den Hintergrund. Dabei brauchen gerade auch sie Hilfe und Beratung in dieser schwierigen Situation.

Volker Drewes Der Eingriff Beratung vor und nach einer Operation 2010. 133 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-67007-1

Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel Unfall als Krise Beratung von Menschen nach einem traumatischen Erlebnis 2011. 139 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-67006-4

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Täglich Leben Beratung und Seelsorge Die Reihe für alle in der Beratung Tätigen Rüdiger Haar Eltern unter Druck

Rüdiger Haar Rites de Passage

Beratung von hilflosen und überforderten Eltern 2010. 135 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-67012-5

Beratung und Seelsorge an den Lebensübergängen 2012. 136 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-67016-3

Brauchen Kinder starke Eltern oder Spielgefährten? Den richtigen Stil zu finden, ist nicht leicht. Rüdiger Haar gibt Orientierung zur Beratung.

Rüdiger Haar bietet wichtige Informationen für die Beratungstätigkeit im Umfeld von Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung und Co.

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Meinolf Peters Leben in begrenzter Zeit

Beratung von jungen Menschen in einer Identitätskrise 2010. 129 Seiten mit 1 Abbildung, kartoniert ISBN 978-3-525-67005-7

Beratung älterer Menschen 2011. 160 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-67011-8

Eine der großen Aufgaben des Jugend- und frühen Erwachsenenalters ist die Entwicklung der eigenen Identität. Dabei bedarf es nicht selten unterstützender Beratung, die inneren und äußeren Ansprüche an die eigene Persönlichkeit in Einklang zu bringen.

Meinolf Peters schildert die Grundlagen und die Praxis der psychosozialen Beratung älterer Menschen.

Hans-Günter Schoppa Verlust des Arbeitsplatzes Beratung von arbeitslosen Menschen 2010. 142 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-67009-5 Lang andauernde Arbeitslosigkeit stellt eine tiefgehende Belastung dar.

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