Das kommunikative Gedächtnis 340649336X, 9783406493362

Das Gedächtnis ist nicht das, wofür wir es halten. Lange Zeit dachte man, es sei ein untrügliches Archiv, eine Art Compu

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Das kommunikative Gedächtnis
 340649336X, 9783406493362

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Harald Welzer

das kommunikative Gedächtnis

eine Theorie der Erinnerung

Für Nicholas

Die erste Auflage dieses Buches erschien in broschierter Form 2002. Für die Ausgabe in der Beck'schen Reihe wurde es vollständig überarbeitet und durch ein neues Kapitel ergänzt.

1. Auflage (Beck'sche Reihe). 2005 © Verlag C. H. Beck o H G , München 2002 Umschlagentwurf: +malsy, Bremen Umschlagabbildung: © Siegrun Appelt/Ivo Apollonio Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Printed in Germany ISBN 3 406 52858 9 uww.beck.de

Inhalt I. Das kommunikative Gedächtnis II. Das Gedächtnis ist erfinderisch. Befunde aus der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie III. Lernen, sich zu erinnern - die Entstehung des kommunikativen Gedächtnisses 1. Erfahrungsabhängige Gehirnentwicklung 46

7

19 46

IV. Zusammensein mit anderen. Die Bildung des kommunikativen Gedächtnisses 70 1. Die protonarrative Sequenz 76 2. «Sleep 'cause». Die Entstehung der Sprache beim Sprechen 83 3. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses gi V. Wie man Ich wird — Zeit, Emotion und Synchronizität VI. Die Macht der Gefühle. Uber emotionale Erinnerung

Iii 125

VII. Fräulein Sinillas Gespür flir die Gefühle der anderen. Uber kulturelle R a h m e n und Schemata 152 1. Das kommunikative Gedächtnis der Familie 163 VIII. Der Stoff, aus dem die Lebensgeschichten sind

18$

I X . Versionen eines autobiographischen Gedächtnisses

207

X. Mein Gedächtnis weiß mehr als ich selbst, oder: Das kommunikative Unbewußte

222

XL Danksagung

238

X I I . Anhang Anmerkungen 241 Bibliographie 250 Personen- und Sachregister 257

I. Das kommunikative Gedächtnis In den letzten zehn Jahren hat die Neurowissenschaft, so behauptet jedenfalls Antonio Damasio, einer ihrer prominentesten Vertreter, mehr über das Gehirn und den Geist herausgefunden, als in der gesamten Geschichte der Psychologie zuvor entdeckt worden ist. Wohlgemerkt, nicht nur über das Gehirn, sondern auch über den menschlichen Geist, und diese Behauptung ist durchaus geeignet, die Geistes- und Kulturwissenschaften bis ins Mark zu erschüttern. Damasio, der neben Medizin auch Philosophie studiert hat, erhebt, wie andere Neurowissenschaftler auch, den nicht gerade bescheidenen Anspruch, die Entstehung des Bewußtseins mit Hilfe einer immer subtileren Beobachtung und Durchdringung j e nes im Durchschnitt drei Pfund schweren Organs von milchiger Farbe und weicher Masse aufklären zu können, das unter unserer Schädeldecke Dienst tut und gewiß das komplexeste organische System darstellt, das die Evolution hervorgebracht hat. Ganz zweifellos sind in den vergangenen Jahren — insbesondere mit Hilfe der sogenannten bildgebenden Verfahren, die Gehirnaktivität und damit womöglich auch Denkvorgänge sichtbar machen können — beeindruckende Befunde gewonnen worden. Man weiß inzwischen, daß in j e d e m unserer Köpfe drei- bis vierhundert Milliarden Nervenzellen, «Neu- y ronen», arbeiten — 150000 Neuronen je Quadratmillimeter Hirnrinde -, die zu neuronalen Netzwerken verknüpft sind, so daß jedes Neuron theoretisch mit bis zu 1 0 0 0 0 anderen in Verbindung stehen kann. Die Zahl der Verbindungsstellen, der «Synapsen», beläuft sich auf unvorstellbare 100 Billionen, vielleicht sind es im Einzelfall ein paar mehr oder weniger. Die faserigen Verbindungen, über die die Neuronen kommunizieren, würden aneinandergelegt eine Strecke von $00000 Kilometern ergeben; heruntergerechnet auf jeden Kubikmil-

limeter Hirnrinde sind das immer noch einige Kilometer. Dieses 1 )ickicht steuert nicht nur unsere Körperfunktionen, -aktionen und -reaktionen von der Wahrnehmung über die Handlung bis zur Erfahrung, sondern es ist auch Rir die merkwürdige menschliche Fähigkeit verantwortlich, daß wir über uns selbst und eben auch über unser Gehirn nachdenken können. Und das wirft eine wichtige Frage auf: was denn die Substanz ist, die über all die endlosen Kilometer labyrinthischer Netzwerke geschickt wird und uns selbst und damit unser Bewußtsein ausmacht, was also der Stoff ist, den die M i l lionen und Abermillionen Neuronen so emsig und kreativ verarbeiten. Sowenig dieser Stoff materiell sein kann, so w e nig genügt sich doch das Gehirn selbst - denn Gedanken sind etwas anderes als synaptische Verschaltungen, und das «Engramm», das neuronale Verschaltungsmuster, das etwa einen Vers aus dem «Faust» repräsentiert, ist nicht identisch mit dem Sinn, den wir diesem Vers beimessen. Wir wissen inzwischen, daß der neuronale Apparat unterschiedliche Systeme für die Verarbeitung von Kognitionen und Emotionen vorsieht, daß das Gedächtnis, das unser Selbst ausmacht, sich auf eine R e i h e mittels biochemischer und elektrophysiologischer Prozesse kommunizierender Hirnorgane stützt, von deren Funktion man vor gar nicht allzu langer Zeit noch nichts wußte. Wir wissen, daß unser Gehirn unterschiedliche Systeme für die Kurzzeit- und die Langzeitverarbeitung von Gedächtnisinhalten in Anspruch nimmt und daß es unterschiedliche Gedächtnissysteme Rir selbstbezogene, für wissensbasierte, für körperliche und Rir implizite Wahrnehmungen und Erfahrungen gibt. Damit wissen wir eine Menge über die Verarbeitung, aber so gut wie nichts über das Verarbeitete. Nach dem Studium der neurowissenschaftlichen Standardliteratur fühlt man sich ein bißchen wie der Besucher einer gigantischen neuen Fabrikanlage, in der sich freundliche Ingenieure alle M ü h e geben, einem die sinnreichen Funktionen jeder einzelnen Maschine en detail näherzubringen, während einen die ganze Zeit die Frage beschäftigt, ob denn das alles

wohl zur Herstellung von Panzern oder von Margarine dient. Im Grunde ist man so irritiert, daß man sich nicht einmal mehr sicher ist, ob man den Hinweis über dem Fabriktor, welchem Z w e c k das Wunderwerk dient, nur übersehen hat oder ob es ihn überhaupt gab. Wechseln wir das Szenario: Auf der Erde leben gegenwärtig etwa sechs Milliarden Menschen, die sich in unterschiedlicher j Anzahl auf fünf Kontinente verteilen, mehr als fünftausend verschiedene Sprachen sprechen, auf einige tausend Jahre je eigene Geschichte und Kultur zurückblicken, Nahrungsmittel, Sitzmöbel und, je nachdem, Raumschiffe produzieren und sich mit Hilfe einer Unzahl einzigartiger Kommunikationsmittel verständigen: Sprache, Schrift, Musik, Malerei, Tanz, Film usw. Wir wissen von Bruce Chatwin, daß es in Australien Menschen gibt, die die Topographie ihrer Welt durch jeweils besondere Gesänge markieren, daß andere M e n schen, je nach ihrer Lebensumwelt, vierzig verschiedene Formen von Schnee, Eis oder Sand unterscheiden können, und wir alle kennen das doch eigentlich sehr überraschende Phänomen, daß wir uns über ungeheuer komplexe Sachverhalte mit einem kurzen Blick in die Augen des anderen verständigen können, mit einem Blick, wie Chris Marker gesagt hat, von der Dauer einer zweiunddreißigstel Sekunde, so kurz wie ein Bild in einem Film. Und auch wenn wir als Angehörige einer bestimmten Gruppe mit einer besonderen Geschichte, Kultur und Sprache nur das wenigste von dem verstehen, was die anderen tun und warum sie es tun, so wissen wir doch, daß die entscheidenden Bedingungen menschlichen Lebens - jene, die uns von Tieren unterscheiden - Bewußtsein und autobiographisches Gedächtnis sind, und die bilden sich in Kommunikation. Es ist doch ziemlich erstaunlich, daß wir über alle Differenzen, über alle kulturellen, regionalen, sprachlichen Unterschiede hinweg prinzipiell zur Verständigung in der Lage sind, ja daß sogar die soziale Vernetzung all der Milliarden Menschen offenbar so eng ist, daß es im Durchschnitt nur sechs Personen braucht, um eine Nachricht im Medium der mündlichen Weitergabe

an eine willkürlich ausgewählte Person auf einem beliebigen Kontinent in einem beliebigen Kulturkreis weiterzugeben. Mit anderen Worten: Was die Welt im Innersten zusammenhält, ist Kommunikation, genauer gesagt das unerschöpfliche und spezifisch menschliche Potential, Netzwerke direkter und indirekter, enger und loser, naher und ferner Verbindungen herzustellen. Ich nehme an, und das werde ich in den folgenden Kapiteln zu zeigen versuchen, daß das Phänomen des menschlichen Zusammenlebens wahrscheinlich nicht minder komplex ist als die unüberschaubar komplizierte Architektur des menschlichen Gehirns, daß wir letztere aber nicht wirklich verstehen können, wenn wir davon absehen, daß die Inhalte, die dieses Wunderorgan verarbeitet, vor allem sozialer Natur sind. In den Neurowissenschaften wird irrigerweise weit überwiegend der Begriff der «Information» verwendet, wenn davon gesprochen wird, was das Gehirn ver- und bearbeitet. Aber das Gehirn hat es nur selten mit einfach gegebenen Reizen, Daten oder Werten zu tun, sondern meist mit «Informationen», die Bedeutung haben, und Bedeutungen entstehen nicht neuronal und individuell, sondern durch Kommunikation. Aus Sicht des Neurowissenschaftlers Wolf Singer hängt die Entstehung von Bewußtsein davon ab, daß Gehirne in einen Dialog miteinander eintreten können. Nach seiner Auffassung «kann ein Gehirn erst dann, wenn es zu einem solchen Dialog in der Lage ist, j e n e Erfahrungen machen, die wir mit dem Bewußtsein für das eigene Ich und die eigenen I Gefühle in Verbindung bringen, und nur dann kann sich die | Erfahrung der Ichwahrnehmung und der Subjektivität entwickeln.» 1 Mit anderen Worten: Die Entstehung von B e wußtsein ist jenseits von Kommunikation mit anderen nicht möglich, sie liegt im Dialog «zwischen mehreren Gehirnen» begründet und ist damit aus Singers Sicht rein neurobiologischen Erklärungsversuchen nicht zugänglich. Lange bevor im Kleinkindalter, mit drei oder vier Jahren, unser reflexives, selbstbezogenes Bewußtsein erwacht, hat uns das Zusammensein mit anderen mit einer Unzahl von B e d e u -

tungen über die Dinge des Lebens vertraut gemacht. Wir haben sie in der Praxis des Zusammenseins erfahren, sie werden nicht «erlernt» oder «verinnerlicht», sondern im genauen Wortsinn erlebt. Da sich sowohl die organische R e i f u n g des Gehirns als auch die Entstehung neuer Nervenzellen sowie die Etablierung ihrer Netzwerkstrukturen noch über lange Zeiträume nach der Geburt erstrecken und in Teilen lebenslang in Entwicklung begriffen sind, können wir davon sprechen, daß sich das Gehirn selbst in Abhängigkeit von sozialer Erfahrung entwickelt, formt und strukturiert. Dieses Buch beschäftigt sich zunächst mit dem Gedächtnis, wie es aus Sicht der Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie verstanden wird. Derjenige Teil der neuronalen Entwicklung, der nicht genetisch festgelegt ist - und das ist ein beträchtlicher Teil —, wird, wie ich im dritten und vierten Kapitel zu zeigen versuche, durch vielfältige Modi des Z u sammenseins mit anderen gebildet, das heißt durch nichtsprachliche und sprachliche Kommunikation. In den Neurowissenschaften wird dieser Umstand als «erfahrungsabhängige Gehirnentwicklung» bezeichnet, und hier scheint mir der Schlüssel dafür zu liegen, daß wir uns ein wirklichkeitsangemesseneres Produkt vorstellen können, das in der wundersamen Fabrik unter unserer Schädeldecke be- und verarbeitet wird: Es sind nämlich genausowenig «Informationen», die j durch die neuronalen Schaltkreise rauschen, w i e ein Telefon- ! gespräch aus den digitalen Impulsen besteht, die durch das 1 Glasfaserkabel jagen. Es sind sozial gebildete bedeutungsvolle Erfahrungen und Verständigungen, die unser Gehirn unter Vollbeschäftigung halten und sowohl unser Gedächtnis wie unser Bewußtsein entwickeln und aufrechterhalten. Die entscheidenden Operatoren bei der Bewertung von Erfahrung und Zuweisung von Bedeutung sind Emotionen — damit beschäftigt sich das fünfte Kapitel. Ausfälle und Störungen im emotionalen Verarbeitungssystem führen bei den Betroffenen zum Verlust der Fähigkeit, die Botschaften ihrer Gesprächspartnerjenseits des manifesten Inhalts zu entschlüsseln, mehr noch, sie führen oft auch zum Totalausfall von Entschei-

dungsfähigkeit: Ohne das Potential, Vorgänge emotional zu bewerten, kann man nicht intuitiv handeln, und wenn man das nicht kann, ist eine mögliche Entscheidung so gut oder schlecht wie jede andere. Es gibt dann einfach keinen Grund, die eine der anderen vorzuziehen (was Damasio ironisch als I die Grenze der reinen Vernunft bezeichnet). All dies diskutiere ich vor dem Hintergrund der zentralen Frage, wie sich unser Gedächtnis bildet, wie es arbeitet und was es verarbeitet - zunächst, wie die Neurowissenschaften, vor allem mit Blick auf das Individuum. In den Kapiteln sechs und sieben wird diese Optik erweitert. Es geht dann nämlich um die sozialen Prozesse der Erfahrungs- und Vergangenheitsbildung: Hier wird die Rolle sozialer und kultureller Schemata für die Entwicklung unseres Gedächtnisses diskutiert, und es werden anhand von Interview- und G e sprächsbeispielen soziale Prozesse der Erinnerungs- und Vergangenheitsbildung vorgestellt. Dabei zeigt sich, daß unsere lebensgeschichtlichen Erinnerungen, also das, was wir für die ureigensten Kernbestandteile unserer Autobiographie halten, gar nicht zwingend auf eigene Erlebnisse zurückgehen müssen, sondern oft aus ganz anderen Quellen, aus Büchern, Filmen und Erzählungen etwa, in die eigene Lebensgeschichte importiert werden. Das achte Kapitel schließlich kehrt zum individuellen autobiographischen Gedächtnis zurück und beschäftigt sich damit, wie sich die lebensgeschichtliche E r innerung über die Zeit hinweg verändert. Es handelt sich dabei um den Vergleich zweier biographischer Interviews mit einer Person, die ich im Abstand von elf Jahren über ihr L e ben befragt habe. In allen Kapiteln zeigt sich, soviel vorweg, auf unterschiedliche Weise, daß unser Gedächtnis, und damit unser Selbst, ein durch und durch kommunikatives Gedächtnis ist, auch wenn vor allem Angehörige des westlichen Kulturkreises zutiefst der Auffassung sind, Individuen zu sein, die autonom gegenüber und getrennt von anderen existieren. «Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im Stromkreis des geschichtlichen Lebens», hat Hans-Georg Gadamer etwas

streng geschrieben, und darauf werde ich im Schlußkapitel zurückkommen, das auch einige Gedanken dazu vorträgt, daß unser Gedächtnis mehr weiß, als wir selbst wissen, und daß j auch unser Zusammenleben und unsere Fähigkeit zur gelini genden Kommunikation auf einer Fülle von Regeln und Kompetenzen basiert, die wir mit traumhafter Sicherheit beherrschen, ohne sie zu kennen. Das Buch endet also mit einigen Gedanken über ein «kommunikatives Unbewußtes», und ich sage vorsichtshalber gleich, daß man sich darunter nichts Psychoanalytisches vorzustellen hat: Dieses Unbewußte hat nichts mit den dunklen und ominösen Tiefenschichten unserer Seele zu tun, sondern bildet ganz im Gegenteil die Grundierung für unsere bewußten Wahrnehmungen und R e f l e xionen, ist also etwas ganz und gar Alltägliches, ja eigentlich das, was Alltag, Routine, Gewohnheit überhaupt erst ermöglicht. Bevor ich aber mit all dem beginne, sind noch ein paar Worte zum «kommunikativen Gedächtnis» selbst nötig, damit verständlich wird, aus welchem Entstehungszusammenhang und in welche geistige Urheberschaft diese Begriffsverbindung gehört. Wir verdanken den Arbeiten von Aleida und Jan Assmann eine recht genaue kulturwissenschaftliche Bestimmung von Gedächtnisformen, die eine dringend notwendige D i f f e renzierung des so eindrucksvollen und faszinierenden, nichtsdestoweniger aber ziemlich unklaren Konzepts v o m «kollektiven Gedächtnis» von Maurice Halbwachs geliefert haben. Jan Assmann hat das «kulturelle Gedächtnis» zunächst definiert als «Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten E i n übung und Einweisung ansteht». 2 Diesen Sammelbegriff setzt Assmann ab v o m «kommunikativen Gedächtnis» einerseits und von «Wissenschaft» als einer hochspezialisierten Form von Gedächtnisbildung andererseits. Das «kommunikative Gedächtnis» ist Assmann zufolge gekennzeichnet «durch ein hohes Mali an Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematische Unfestgelegtheit und Unor-

ganisiertheit»3 - es lebt in interaktiver Praxis im Spannungsfeld der Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Indivduen und Gruppen. Das «kommunikative Gedächtnis» ist im Vergleich zum «kulturellen» beinahe so etwas wie das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft - es ist an die Existenz der lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrung gebunden und umfaßt etwa 80 Jahre, also drei bis vier Generationen. Der Zeithorizont des «kommunikativen Gedächtnisses» wandert entsprechend «mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit. Das kommunikative Gedächtnis kennt keine Fixpunkte, die es an eine sich mit fortschreitender Gegenwart immer weiter ausdehnende Vergangenheit binden würden.» 4 Eine dauerhaftere Fixierung der Inhalte dieses Gedächtnisses ist nur durch «kulturelle Formung» zu erreichen, d. h. durch organisierte und zeremonialisierte Kommunikation über die Vergangenheit. Während das «kommunikative Gedächtnis» durch Alltagsnähe gekennzeichnet ist, zeichnet sich das «kulturelle Gedächtnis» durch Alltagsferne aus. Es stützt sich auf Fixpunkte, die gerade nicht mit der Gegenwart mitwandern, sondern als schicksalhaft und bedeutsam markiert werden und durch «kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten» werden. 5 Merkmale des «kulturellen Gedächtnisses» sind erstens Identitätskonkretheit - d.h., es ist bezogen auf den Wissensvorrat und die konstitutive B e deutung dieses Vorrats für die Identität einer Wir-Gruppe und zweitens Rekonstruktivität: Dieses Wissen der Wir-Gruppe bezieht sich auf die Gegenwart. «Es ist zwar fixiert auf unverrückbare Erinnerungsfiguren und Wissensbestände, aber jede Gegenwart setzt sich dazu in aneignende, auseinandersetzende, bewahrende und verändernde Beziehung.» 6 Assmann zufolge existiert das «kulturelle Gedächtnis» in zwei Modi, nämlich in der Potentialität des in Archiven, Bildern und Handlungsmustern gespeicherten Wissens und als A k tualität, also in dem, was aus diesem unermeßlichen Bestand nach Maßgabe von Gegenwartsinteressen verwendet wird. Als weitere Merkmale des «kulturellen Gedächtnisses» nennt

Assmann seine Geformtheit - etwa durch Schrift, Bilder und Riten -, seine Organisiertheit - durch Zeremonialisierung oder durch Spezialisierung von Erinnerungsexperten - und schließlich seine Verbindlichkeit, d.h., es ist durch einen normativen Anspruch gekennzeichnet, der den «kulturellen Wissensvorrat und Symbolhaushalt strukturiert». 7 Vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen kommt Assmann zu j e n e m Begriff des «kulturellen Gedächtnisses», wie er seither in der Fachdiskussion verwendet wird: der «jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und - R i t e n [ . . . ] , in deren sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt».8 Soweit die mittlerweile klassische Definition. Das «kommunikative Gedächtnis» bezeichnet demgegenüber die eigensinnige Verständigung der Gruppenmitglieder darüber, was sie für ihre eigene Vergangenheit im Wechselspiel mit der Großerzählung der Wir-Gruppe halten und welche Bedeutung sie dieser beilegen. «Kulturelles» und «kommunikatives Gedächtnis» sind also nur analytisch zu trennen; in der Erinnerungspraxis der Individuen und sozialen Gruppen hängen ihre Formen und Praktiken miteinander zusammen, weshalb sich die Gestalt des «kulturellen Gedächtnisses» auch - zumindest über längere Zeitabschnitte hinweg — wandelt, indem bestimmte Aspekte ab- und andere aufgewertet und wieder andere neu hinzugefügt werden. Die Definition Assmanns ist deutlich auf die kommunikative Praxis von Gruppen und Gesellschaften bezogen und klammert vor diesem Hintergrund mit Recht die Frage aus, wie das kommunikative Gedächtnis auf der Ebene des Individuums beschaffen ist. Genau diese Frage versuche ich im ersten Teil dieses Buches zu klären, in dem es um die Entstehung, die Funktionsweise und die emotionalen Qualitäten des G e dächtnisses geht. Besonders die Entwicklungspsychologie hat in den vergangenen Jahren eindrucksvolle Untersuchungen

dazu vorgelegt, daß fiir die Herausbildung eines autobiographischen Gedächtnisses die soziale Praxis eines «memory talk» notwendig ist, die das Thematisieren vergangener Ereignisse, Erlebnisse und Handlungen im R a h m e n familialer Interaktion einübt 9 - eine Art unbewußter Praxis der Herausbildung unterschiedener Zonen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Menschen zu «geschichtlichen Wesen» macht. Dieser Prozeß findet als gemeinsame Verfertigung erlebter Vergangenheiten («conversational remembering» 10 ) eine lebenslange Fortsetzung, wobei nicht unbedingt ausdrücklich über Vergangenheit gesprochen werden muß, wenn Vergangenes vermittelt wird. Man kann sich das einfach daran klarmachen, daß z . B . bei Familientreffen über das Erzählen persönlicher Erlebnisse, etwa, wie sich die Großmutter und der Großvater kennengelernt haben, im Hintergrund der erzählten Geschichte zugleich so etwas wie ein historischer Assoziationsraum der Umstände, des Zeitkolorits, des Habitus der historischen Akteure etc. vermittelt wird. Ein großer Teil der Praxis des kommunikativen Gedächtnisses transportiert Vergangenheit und Geschichte en passant, von den Sprechern unbemerkt, beiläufig, absichtslos. Und damit sind wir wiederum bei dem, was ich das kommunikative Unbewußte nenne. Im Grunde bin ich der Auffassung, daß wir den Kern des kommunikativen Gedächtnisses, nämlich den, der in seiner Praxis selbst besteht, wissenschaftlich immer nur unzureichend und unvollständig erfassen können — ästhetische Zugänge wie literarische Autobiographien (wie etwa «Erinnerung, sprich!» von Vladimir Nabokov), Filme (wie Chris Markers «Sans Soleil») etc. kommen wegen ihrer Freiheit, ihre Überlegungen nicht belegen zu müssen, dem Phänomen des kommunikativen Gedächtnisses oft näher, als es mit den sperrigen Instrumenten der wissenschaftlichen Argumentation möglich ist. Das gilt besonders dann, wenn man sich in das Feld der unbewußten Wahrnehmungs- und Gedächtnisbildungsvorgänge hineinwagt, die sich nur sehr eingeschränkt in wissenschaftliche Begründungszusammenhänge einfügen lassen. Nehmen

Abb.i: «Papa!» (Privatarchiv des Autors) w i r zum Beispiel die Überlegung, die der Entwicklungspsychologe C o l w y n Trevarthen angestellt hat, der glaubt, daß sich bereits im Säuglingsalter beim K i n d Repräsentationen seiner Bezugspersonen herausbilden, die die Art und Weise der B e w e g u n g e n , der Körperhaltung, der Gesten dieser Personen umfassen. W i e sollte man solch eine durchaus plausible Annahme verifizieren? M a n würde damit größte Schwierigkeiten haben, denn w i r wissen ja nicht, was das Baby weiß, sondern können das nur über U m w e g e und in vorsichtiger Annäherung erschließen. U n d deshalb möchte ich diese einleitenden Überlegungen mit einer kurzen Geschichte beschließen, die mich fasziniert, seit sie geschehen ist. Vielleicht, aber da fängt mein Gedächtnis schon an, die Vergangenheit zu erfinden, vielleicht liegt in dieser Geschichte auch der erste A n stoß, dieses Buch zu schreiben. Sie geht einfach so, daß ich mit meinem Sohn Nicholas, als er vielleicht zweieinhalb Jahre alt war, Fotoalben durchblätterte. Als das oben abgebildete Foto kam, drückte er spontan seinen Z e i g e f i n g e r auf die linke Person und sagte «Papa!». Diese Identifizierung w a r richtig, nur daß «Papa» auf diesem Foto

zwanzig Jahre jünger ist, ziemlich anders aussieht als heute und obendrein nur von hinten zu sehen ist. Was also hat das Kind dazu veranlaßt, auf diesem Foto erstens überhaupt etwas Signifikantes zu entdecken und dieses Signifikante dann auch noch sicher von der zweiten Person auf dem Foto zu unterscheiden? Ich habe ihm das Bild später noch mehrmals gezeigt, das Ergebnis war jedesmal dasselbe. Kann es sein, daß das Gedächtnis des kleinen Jungen eine Repräsentation der Gesamtgestalt seines Papas gebildet hatte, die deutlich mehr als das äußere Erscheinungsbild umfaßte und die gerade darum in j e n e m zwei Jahrzehnte alten Rückenporträt w i e dererkennbar war? Sei es, wie es sei. Jedenfalls weiß unser G e dächtnis viel mehr, als wir selbst wissen, und einige Gründe dafür, warum das so ist, finden Sie in den folgenden Kapiteln.

II. Das Gedächtnis ist erfinderisch. Befunde aus der Neurowissenschaft und der kognitiven Psychologie

«Eine meiner ältesten Erinnerungen würde, wenn sie wahr wäre, in mein 2. Lebensjahr hineinreichen. Ich sehe noch jetzt mit größter visueller Genauigkeit folgende Szene, an die ich noch bis zu meinem 15. Lebensjahr geglaubt habe: Ich saß in meinem Kinderwagen, der von einer A m m e auf den Champs-Elysees (nahe beim Grand Palais) geschoben wurde, als ein Kerl mich entführen wollte. D e r gestraffte Lederriemen über meiner Hüfte hielt mich zurück, während sich die A m m e dem Mann mutig widersetzte (dabei erhielt sie einige Kratzwunden im Gesicht, deren Spuren ich noch heute vage sehen kann). Es gab einen Auflauf, ein Polizist mit kleiner Pelerine und weißem Stab kam heran, worauf der Kerl die Flucht ergriff. Ich sehe heute noch die ganze Szene, wie sie sich in der Nähe der Metro-Station abspielte. Doch als ich 15 Jahre alt war, erhielten meine Eltern einen Brief jener A m m e , in dem sie ihren Eintritt in die Heilsarmee mitteilte und ihren Wunsch ausdrückte, ihre früheren Verfehlungen zu bekennen, besonders aber die U h r zurückzugeben, die sie als Belohnung für diese — einschließlich der sich selbst zugefügten Kratzspuren — völlig erfundene Geschichte bekommen hatte. Ich mußte also als Kind diese Geschichte gehört haben, an die meine Eltern glaubten. In der Form einer visuellen Erinnerung habe ich sie in die Vergangenheit projiziert. So ist die Geschichte also eine Erinnerung an eine Erinnerung, allerdings an eine falsche. Viele echte Erinnerungen sind zweifellos von derselben Art.» Diese kleine Geschichte stammt von dem berühmten Entwicklungspsychologen Jean Piaget", und besonders seine Schlußfolgerung ist überraschend. Gewiß kommt es gele-

gentlich vor, daß wir feststellen, irgend etwas «falsch» erinnert zu haben, aber daß «echte» Erinnerungen oft mit etwas zu tun haben sollen, das wir gar nicht selbst erlebt haben, daß wir unsere Lebensgeschichte sozusagen mit Erinnerungen aus zweiter Hand ausstatten, mutet zunächst doch etwas befremdlich an. Ein Blick auf den aktuellen Stand der Gedächtnisforschung mag vielleicht Aufschluß darüber geben, w i e weit wir Piaget in seiner Überlegung folgen können. Bekanntlich hat die lange Z e i t gängige Vorstellung, Erlebnisse und Ereignisse würden im Gehirn wie in einem C o m puter gespeichert und wären — vorausgesetzt, man verfugt über die richtigen Passwords und Aufrufbefehle — aus diesem Speicher wieder abrufbar, mit der Funktionsweise des G e dächtnisses, soweit sie bis heute entschlüsselt ist, nicht allzu viel zu tun. Wie die falsche Erinnerung Piagets schon nahelegt, kann man eher davon ausgehen, daß das Gedächtnis ein konstruktives System ist, das Realität nicht einfach abbildet, sondern auPunterschiedlichsten Wegen und nach unterschiedlichsten Funktionen filtert und interpretiert. Das G e dächtnis als «constructive memory framework» 1 2 operiert mit unterschiedlichen Systemen des Einspeicherns, A u f b e w a h rens und Abrufens, die ihrerseits wieder, je nach Art und Funktion verschiedener Lern- und Repräsentationsebenen, auf unterschiedliche Subsysteme des Gedächtnisses zugreifen. Mentale Repräsentationen von Erfahrungen werden mithin als multimodale Muster der unterschiedlichen Aspekte und Facetten der jeweiligen Erfahrungssituation verstanden. Die Erinnerungsspuren oder Engramme, die die Erfahrungen im Gehirn repräsentieren, sind nun nicht — wie man lange Zeit annahm - an bestimmten Stellen des Gehirns zu finden, sondern als Muster neuronaler Verbindungen über verschiedene Bereiche des Gehirns verteilt und als solche, verändert oder unverändert, abrufbar. «Dabei wird zunächst ein Teil der Komponenten, die eine bestimmte Erfahrung konstituieren, reaktiviert, woraufhin sich dann die Aktivierung auf die übrigen konstituierenden Komponenten der Erfahrung auswei-

tet.» D Sich zu erinnern bedeutet mithin, assoziativ Muster zu aktivieren, und bei diesem komplexen Vorgang kann einiges mit dem Erinnerungsinhalt geschehen. Schon intuitiv leuchtet ein, daß dieser Prozeß der Muster-Vervollständigung so vielfältigen internen und externen Einflüssen unterliegt, daß von einer authentischen Erinnerung an die Situation und das Geschehen, die sich bei jemandem als eine Erfahrung niedergeschlagen haben, nur im seltenen Grenzfall auszugehen ist. Im Regelfall leistet das Gehirn eine komplexe und eben konstruktive Arbeit, die die Erinnerung, sagen wir: anwendungsbezogen modelliert. Allgemein, so resümiert Daniel Schacter seinen umfangreichen Uberblick über die Befunde der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung, ließe sich denn auch festhalten, daß unsere Gedächtnisse einigermaßen ordentliche Arbeit im Aufbewahren der allgemeinen Konturen unserer Vergangenheit und im Festhalten vieler Ereignismerkmale leisten, 14 daß die Präzision dieser Erinnerungsarbeit aber aus vielerlei Gründen doch arg begrenzt ist. Denn zunächst einmal ist ganz generell davon auszugehen, daß Erinnerungen mit der Zeit verblassen oder ganz verschwinden, insbesondere dann, wenn sie selten oder nie abgerufen werden, weil die neuronalen Verbindungen, die die Erinnerungen im Gehirn repräsentieren, im Fall ihrer Nichtinanspruchnahme offenbar schwächer werden und sich schließlich auflösen. Dies ist übrigens nicht zuletzt ein Grund dafür, daß sich Erinnern nicht getrennt von Vergessen diskutieren läßt. Während etwa alltägliche und routinehafte Verrichtungen von äußerst geringer Erinnerungsrelevanz sind, werden Ereignisse, die aufgrund ihrer emotionalen Bedeutung einen besonderen Aufmerksamkeitswert haben, offensichtlich gerade deswegen erinnert, weil man sie sich oft wieder «ins Gedächtnis ruft», und auch, weil man häufig über sie spricht. Dies wirft aber sofort die Frage auf, ob eigentlich Erinnern und Vergessen so klar zu scheidende Aktivitäten sind oder ob nicht das Gedächtnis prinzipiell als ein Wandlungskontinuum aufzufassen ist, auf dem weniger relevante Wahrnehmungen

Abb. 2: Scheinatische Darstellung der Beziehung zwischen Dauer von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis (Abszisse) und der Tiefe der Informationsverarbeitung (Ordinate). Gestrichelt ist noch ein «intermediäres Gedächtnis» als weitere mögliche Form zeitbezogenen Gedächtnisses dargestellt (Markowitsch 2002a, S. 86). und Erfahrungen sukzessive dem Verblassen und Vergessen anheimfallen, während biographisch bedeutsame aufbewahrt, vertieft, refiguriert, neu bewertet, kurz: verändert werden. Daneben ist zu bedenken, daß es nicht nur einen einzigen Typ von Erinnerung gibt, sondern eine ganze R e i h e verschiedener, die nach unterschiedlichen Logiken operieren und die unterschiedliche Funktionen erfüllen. Zunächst kann G e dächtnis auf einer zeitlichen E b e n e differenziert werden, in Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Während das Ultrakurzzeitgedächtnis im Bereich von Millisekunden operiert und sich vorwiegend auf die neuronalen Vorgänge etwa des Wahrnehmungssystems bezieht, bleibt das Kurzzeitgedächtnis über einige Sekunden bis wenige Minuten aktiv so lange etwa, wie Sie benötigen, eine nachgeschlagene Telefonnummer in die Tastatur einzugeben. D i e durchschnittliche Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses liegt etwa bei sieben Informationseinheiten, die «online» präsent gehalten werden

können. Das Kurzzeitgedächtnis ist weitgehend deckungsgleich mit dem in der neueren Literatur häufig anzutreffenden «Arbeitsgedächtnis», dem zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiven Teil des Gedächtnisses. 15 Alle zeitlich darüber hinausgehenden Gedächtnisfunktionen werden als Langzeitgedächtnis bezeichnet. Daneben lassen sich auf einer funktionalen Ebene unterschiedliche Gedächtnissysteme mit je verschiedenen Einspeicherungs- und Abrufmodalitäten bestimmen. «Das zerebrale System, mit dem ich lernte, einen Baseball zu treffen, ist ein anderes als jenes, mit dessen Hilfe ich mich erinnere, wie ich den Ball zu treffen versuchte und ihn verfehlte, und dieses unterscheidet sich wiederum von dem System, das mich angespannt und nervös sein ließ, als ich am Schlagmal Aufstellung nahm, nachdem ich den Ball beim letzten Mal voll an den Kopf gekriegt hatte. Es geht in allen Fällen um eine Form von Langzeitgedächtnis [ . . . ] , die aber jeweils von einem anderen neuralen Zentrum vermittelt wird.» 16 Wie der Neuropsychologe Joseph L e D o u x hier andeutet, unterscheidet die neuere neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung Typen von Gedächtnissystemen, und zwar im wesentlichen fünf, die untereinander jeweils noch differenzierbar sind (s. Abb. 3). Da die Erforschung jedes dieser fönf Gedächtnissysteme, die natürlich — wie das Beispiel von L e D o u x schon andeutet — interdependent sind, Ergebnisse hervorgebracht hat, die für das Verstehen des kommunikativen Gedächtnisses wichtig sind, hierzu ein paar Erläuterungen. Es ist eine sehr einfache Erfahrungstatsache, daß es Erinnerungen gibt, die man in vollem Bewußtsein absichtsvoll w i e der «hervorholen» und möglichst detailliert zu erinnern versuchen kann — biographische Wendepunkte, abenteuerliche Erlebnisse, einschneidende Geschehnisse, aber auch Anekdoten. Die Modi dieses «Vor-Augen-Führens» können sehr unterschiedlich sein: indem man intensiv an die entsprechenden Begebenheiten denkt, indem man sie jemandem erzählt, indem sie innerhalb einer Gruppe, die diese Erinnerung teilt,

Abb. 3: Einteilung des Langzeitgedächtnisses nach Markowitsch 2002b17

ausgetauscht wird, 1 8 indem Erinnerungsgemeinschaften w i e die Familie aus ganz persönlichen Anlässen - Hochzeitstage, Geburtstage, Jubiläen etc. - gemeinsam Ereignisse aus der Vergangenheit rekonstruieren usw. D i e Gesamtheit dieser e x pliziten, intentionalen A k t e des Erinnerns, bei denen man sich auch bewußt ist, daß man sich erinnert, bildet das episodische Gedächtnis. Es bildet die Basis dafür, daß einzelne Z u sammenhänge aus unserer Vergangenheit und unserem b i o graphischen Erleben als lebensgeschichtliche Episoden, als «meine» Vergangenheit konturiert werden können. D i e Inhalte des semantischen Gedächtnisses, das neuerdings etwas zutreffender auch als «Weltwissen» oder «Wissenssystem» bezeichnet wird, sind ebenfalls grundsätzlich bewußt v e r f ü g bar, sind aber kontextfrei und beziehen sich auf Wissensinhalte, w i e man sie in der Schule gelernt hat oder w i e sie in den beliebten Quizsendungen im Femsehen abgefragt w e r den. Es gibt aber eine vermutlich weit größere Fülle von E r innerungen, die aktiviert werden, ohne daß man sich bewußt wäre, daß man sich gerade erinnert: das Sprechen einer Sprache, das Einhalten grammatischer R e g e l n , die Fähigkeit, eine Unzahl von Zeichensystemen dechiffrieren zu können, T i s c h sitten einhalten zu können usw. - all dies sind Erinnerungen, die die Grundsemantik unserer Alltagsorientierung bilden,

ohne daß wir sie, wenn wir sie einmal gelernt haben, uns bewußt vergegenwärtigen müßten. Dieser Komplex wird als prozedurales Gedächtnis bezeichnet; er bildet ein Subsystem des impliziten, nicht-deklarativen Gedächtnisses, weil seine Inhalte allenfalls dann bewußt erinnerbar sind, wenn das G e dächtnis nicht perfekt funktioniert: wenn man also Schwierigkeiten mit den unregelmäßigen Verben in einer Fremdsprache hat, wenn man bei einem Festbankett R o t w e i n ins Wasserglas schüttet etc. Schon hier sieht man, daß die Grenzen fließend sind, denn man kann sich ja bewußt daran erinnern, w i e schwer es einem ursprünglich gefallen ist, das Spielen eines Instrumentes zu erlernen, das man jetzt jederzeit und ohne bewußte Erinnerung an einzelne Techniken beherrscht. Prozedurales, semantisches und episodisches Gedächtnis hängen also eng miteinander zusammen, und in einer hierarchischen Perspektive ließe sich gewiß formulieren, daß es ohne semantisches Gedächtnis ein episodisches nicht geben könnte: Ohne die Möglichkeit, Erfahrungen in ein konventionelles, d.h. sozial geteiltes S y stem von Regeln und R a h m e n einbetten zu können, nähme ein Erlebnis keine Gestalt im Bewußtsein an und würde nicht zu einer Erfahrung, die bewußt zu erinnern wäre. In diesem Sinne ist davon auszugehen, daß zwar auch Säugetiere (zum Beispiel Primaten) durchaus über ein semantisches Gedächtnis verfugen, d. h. auf einen Komplex erlernten Wissens zurückgreifen können, aber nicht in der Lage sind, sich dieses Wissen bewußt zu vergegenwärtigen. Sie erinnern sich, indem sie in erlernter Weise situativ reagieren, sie erinnern sich aber nicht daran, daß sie sich erinnern. Das episodische Gedächtnis scheint mithin ein menschliches Spezifikum zu sein, was mit dem neuroanatomischen Befund in Einklang zu stehen scheint, daß seine Aktivität an eine evolutionär jüngere Region des Gehirns gebunden ist, an die Region des rechten Frontallappens nämlich. 19 Die neurowissenschaftliche Unterscheidung zwischen semantischem und episodischem Gedächtnissystem liefert eine wichtige Schnittstelle zu sozialwissenschaftlichen und im engeren Sinne so-

zialpsychologischen Fragestellungen: Denn wenn man davon ausgeht, daß einerseits der Inhalt des semantischen Gedächtnisses, das «Weltwissen», gelerntes Wissen ist, also in Prozessen sozialer Interaktion erworbenes Wissen, und daß andererseits nur dasjenige Inhalt episodischer Erinnerung sein kann, was prinzipiell kommunizierbar ist, also eine soziale Formbestimmung erfahren hat, dann leuchtet einmal mehr ein, warum wir es hier mit einem Spezifikuni der menschlichen Gattung zu tun haben: weil eben nur Menschen in ein sozial dimensioniertes Universum hineinwachsen. Beim perzeptuellen Gedächtnis geht es um das Erkennen von Reizen, die einem schon mal begegnet sind. Dieses System nimmt eine Zwischenstufe zwischen den bewußten und unbewußten Formen des Gedächtnisses ein, da ein Wiedererkennen ja auch ein höchst absichtsvoller, also bewußter Vorgang sein kann. Das erkannte Objekt muß übrigens nicht identisch mit dem sein, das man schon einmal wahrgenommen hat; einige charakteristische Merkmale genügen, um eine entsprechende Zuordnung zu ermöglichen. Als erfahrungsbasiertes Gedächtnissystem stellt das perzeptuelle G e dächtnis schon eine recht komplexe Funktionseinheit dar und entwickelt sich ontogenetisch auch erst später als Primingund prozedurales Gedächtnis. N i m m t man jetzt die beiden Systeme des non-deklarativen Gedächtnisses hinzu, nämlich das prozedurale Gedächtnis und das unübersetzbare «Priming», wird die Spezifität menschlicher Bildungsprozesse noch einmal deutlicher. Als nicht-deklaratives oder implizites Gedächtnis wird allgemein die Gesamtheit der Erinnerungen bezeichnet, die einen Menschen in der Gegenwart beeinflussen, ohne daß er sich dieses Einflusses bewußt wäre. 2 0 Effekte von impliziten Erinnerungen spielen eine Rolle in Urheberrechtsprozessen, in denen es z. B. darum geht, ob jemand eine Schlagermelodie wissentlich oder unabsichtlich plagiiert hat, genauso wie in Routinehandlungen wie etwa Autofahren, dessen Beherrschung gerade darin besteht, daß man sich über die komplexen Handlungsvollzüge und das Regelwissen, das man für

eine erfolgreiche Autofahrt braucht, keine Rechenschaft ablegt. Daniel Schacter berichtet von einem hirngeschädigten Patienten, dem nahezu vollständig die Fähigkeit abhanden gekommen ist, sich an etwas zu erinnern, der nach wie vor ^p aber ein glänzender Golfspieler ist, der mit Selbstverständs^vU/ lichkeit nicht nur über die Technik und das Körperwissen, sondern auch über die zugehörigen Fachausdrücke verfügt — jeweils während des aktuellen Spiels, danach nicht mehr. Dieser Patient greift auf das Vollzugswissen zurück, das im prozeduralen Gedächtnissystem aufgehoben ist - und zwar, ohne daß ihm das in irgendeiner Weise bewußt würde. Kurz gesagt, beinhaltet das prozedurale Gedächtnis alle routinisierten körperlichen Fähigkeiten wie Radfahren, Klavierspielen, Schreiben usw. Alle diese Fähigkeiten werden zwar gelernt, ereichen aber im Unterschied zum semantischen Wissen nicht das Potential symbolischer Vermittlung. R a d - •' fahren etwa lernt man dadurch, daß einem die Füße auf die ' r ' ' Pedale gestellt und die Hände an den Lenker gefuhrt werden, daß man von einer Hand geschoben und im Gleichgewicht gehalten wird und sukzessive sein Balancegefuhl und seine muskulären und motorischen Möglichkeiten mit dem O b jekt, das einen zunächst (durch Mamas oder Papas Hand) bewegt, so perfekt synchronisiert, daß man es schließlich selbst bewegt. Was man nun allerdings tatsächlich für komplexe Operationen vollzieht, wenn man etwa «lenkt», wird man sich nie vergegenwärtigen und es demzufolge auch nicht kommunizieren können — das bleibt nicht-symbolische Praxis, prozedurales Wissen, das funktional ist und Reflexion allenfalls dann erfordert, wenn man auf die Nase fällt. Das Phänomen des «Priming» zeigt ebenfalls kein S y m b o lisierungspotential und damit auch keine reflexive Z u g ä n g lichkeit; es bezeichnet das verblüffende Phänomen, daß unser Gehirn offensichtlich auch dann permanent Reizwahrnehmungen verarbeitet, wenn wir das überhaupt nicht bemerken: also in den Randbereichen unserer Aufmerksamkeit, aber auch in Zuständen von Bewußtlosigkeit, also im Schlaf oder in der Narkose. Mit Hilfe einfacher Worterinnerungs-

tests läßt sich zeigen, daß die Erinnerungsleistungen der Testpersonen regelmäßig dann besser ausfallen, wenn sie in irgendeinem Zusammenhang zuvor schon einmal den entsprechenden Begriffen begegnet sind — und zwar ganz unabhängig davon, ob diese Begegnung überhaupt die Schwelle der bewußten Wahrnehmung erreicht hatte. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang die Kampagne von Coca-Cola aus den fünfziger Jahren, die darin bestanden hatte, bewußt nicht wahrnehmbare Filmschnipsel mit dem Firmensignet in Spielfilme zu schneiden, was in den K i n o b e suchern ein unstillbares Bedürfnis nach ebendiesem Getränk hervorrief; weniger bekannt ist der Effekt, daß sich die G e nesungschancen von postoperativen Patienten meßbar verbessern, wenn ihnen während der Narkose erzählt wird, daß ihre Operation glänzend verlaufe und sie bald wieder gesund seien. Bei narkotisierten Patienten läßt sich auch der Priming-Effekt nachweisen, wenn sie später Erinnerungstests unterzogen werden. 2 1 Daß wissenschaftliche Erkenntnisse gelegentlich auch praktische Funktionen erfüllen können, zeigt ein privates E x p e riment, das ich an dem kleinen Sohn von Freunden vorgenommen habe, der im Alter von vier Jahren eine der nicht seltenen Marotten entwickelt hatte, die auf Angst vor Kontrollverlust zurückgehen: In diesem Fall war es die Manie, zwanzigmal an einem Vormittag zur Toilette zu rennen, aus Angst, er könne sich in die Hosen machen. Solche Ängste haben die unangenehme Eigenschaft, sich zu erweitern, etwa um die Angst, daß die anderen Kinder im Kindergarten sich lustig machen werden, wenn sie (zwangsläufig) bemerken, wie oft man die Toilette aufsucht usw., woraus eine verkable Spirale sich generalisierender Ängste und damit verbundener Zwangshandlungen entstehen kann. Ich habe dieses Problem eingedenk des Priming-Effektes dadurch zu lösen versucht, daß ich ihm, während er schlief, erzählt habe, daß das Problem mit dem Pipi-Machen viel schneller vorbeigegangen sei, als man gedacht hätte, und man nun überhaupt keine Angst mehr zu haben brauche, daß es wieder aufträte usw.

Schon am Tag nach dem ersten «Besprechen» zeigte sich eine Verringerung der Pipi-Frequenz, und nach etwa einer Woche war das Problem nicht mehr existent (jedenfalls auf der Ebene des manifesten Verhaltens). Die Untersuchungen zum impliziten Gedächtnis sind deswegen aufschlußreich, weil man unbewußte Erinnerungen nicht selbst korrigieren kann, sie aber in unserer sozialen Praxis wirksam sind - was folgenreich z. B. für die Tradierung von Stereotypen und Vorurteilen ist. Bereits auf einer vorsymbolischen Ebene lernen Kinder ja, wie man sich gegenüber anderen verhält - wie man mit anderen Menschen umgeht, welche Form von Kontakt man vermeidet, wo man sich zurückhält usw. R a s sistische Einstellungen zum Beispiel basieren vor diesem Hintergrund nicht nur auf (falschen) Kognitionen, sondern können ein Ergebnis der ganz selbstverständlichen sozialen Praxis der Personen sein, mit denen das Kind aufwächst. Auf dieser Basis wird auch ohne weiteres verständlich, wieso Menschen auf einer kognitiven Ebene sich als vollkommen antirassistisch und vorurteilsfrei verstehen können, aber von Unbehagen befallen werden, wenn ein Mensch anderer Hautfarbe neben ihnen in der Straßenbahn steht. Auch das Phänomen idiosynkratischer Empfindungen — daß man an einer Person etwas nicht ausstehen kann, aber gar nicht weiß, was das genau ist — findet hier einen Erklärungsansatz. Daniel Schacter weist zu Recht ausdrücklich daraufhin, daß wir es hier mit einer unbewußten Dimension der Erinnerung zu tun haben, die dem psychoanalytischen Konzept vom U n bewußten insofern geradezu entgegengesetzt ist, als es hier nicht um unsere tiefsten Erfahrungsschichten und Konflikte geht, sondern ganz im Gegenteil um oberflächliche, alltägliche Wahrnehmungs-, Verstehens- und Handlungsprozesse. Implizite Erinnerung hat viel mehr mit routinisierten und habitualisierten Handlungs- und Verhaltensweisen zu tun, und gerade die sind es ja, die von frühkindlichen Entwicklungsphasen an prägend für die Weltwahrnehmung sind. G e nau deswegen dürften die Überlegungen zum impliziten Gedächtnis auch hilfreich für eine präzisere Vorstellung vom

kommunikativen Gedächtnis sein, denn die implizite Erinnerung ist die am stärksten sozial präformierte Art von Erinnerung, weil sie nicht-symbolisch operiert, also nicht reflexiv, und deshalb jeder subjektiven Steuerung entzogen ist. Sie ist das Produkt einer Praxis, die unterhalb der Bewußtseinsschwelle verläuft. Widerfahrnisse und Erlebnisse nehmen, wie später noch eingehender dargestellt wird, erst mit dem Spracherwerb im B e wußtsein Gestalt an als Erfahrung und Erinnerung, werden also in symbolvermittelter Interaktion geformt und werden selbst in sozialer Kommunikation wieder mitteilbar. Soziale und individuelle Erinnerung sind in diesem Sinne genauso untrennbar voneinander wie Erinnern und Vergessen. Ein Erlebnis wird erst zur Erfahrung, wenn es reflektiert wird, und reflektieren bedeutet, der Erfahrung eine Form zu geben. Diese Form kann nur sozial vermittelt sein; anders steht sie dem Individuum nicht zur Verfügung und wäre im übrigen auch nicht kommunizierbar. Es ist einleuchtend, daß die N i veaus und die Operationen der vier hier nur in allergröbster Vereinfachung dargestellten Gedächtnissysteme jeweils auch unterschiedliche Modi des Behaltens und Vergessens impli\Tzieren: Prozedurale Gedächtnisinhalte, das zeigen insbesondere Untersuchungen an hirngeschädigten Patienten, sind o f fenbar ausgesprochen resistent gegen Verluste - schwimmen verlernt man nicht. Dagegen sind semantische, in noch viel stärkerem Maße aber episodische Gedächtnisinhalte höchst verletzlich gegenüber physischen Schädigungen, aber auch gegenüber altersbedingten und psychogenen Störungen: Schon Unterbrechungen kleinster Verbindungen zwischen neuronalen Netzen können zu Totalausfällen episodischer E r innerung fuhren, während das semantische und erst recht das prozedurale Gedächtnis erhalten bleiben. Das Gefühl, über ein identisches und kohärentes Selbst zu verfügen, gründet im wesentlichen auf expliziten, episodischen Erinnerungen an Elemente der eigenen Lebensgeschichte, während die Elemente der Persönlichkeit selbst viel stärker an implizite Erinnerungen gebunden sind. 22 Dies w i e -

derum ist — wie auch im weiteren noch deutlich werden wird - folgenreich flir die Verknüpfung zwischen emotionaler E r innerung und erinnertem Ereignis - denn gerade hier kann das Gedächtnis konstruktive Verknüpfungen herstellen, die mit tatsächlichen Ereignissen nichts oder nur wenig zu tun haben. Als Beispiel sei hier nur genannt, daß auch Opfer von Extremtraumatisierungen nicht notwendigerweise das erinnern, was ihnen faktisch widerfahren ist, sondern manchmal das, wovor sie sich am meisten gefürchtet haben («greatest fear vision»). 23 Das widerspricht allerdings der oft geäußerten Vermutung, gerade traumatische Erlebnisse hätten eine ausgesprochen große Prägnanz und Präzision in der Erinnerung. Daniel Schacter geht zwar von der Möglichkeit aus, daß Erinnerungen an traumatisierende Erlebnisse gelegentlich exakter sein können als Erinnerungen an Alltagsereignisse - allerdings sind sie seiner Ansicht nach genauso anfällig für Veränderungen und Umgestaltungen. 24 Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Untersuchung von Lenore Terr, die die Erinnerung von 23 entführten und 16 Stunden festgehaltenen Schulkindern an dieses traumatisierende Ereignis untersucht hat. Terr ist der Auffassung, daß die überraschende Quote von falschen Erinnerungen der vier bis fünf Jahre nach dem Ereignis befragten Kinder auf eine verzerrte oder extrem eingeschränkte Wahrnehmung während des Ereignisses selbst zurückgeht - allerdings erinnerten sich auch jene sieben Kinder, die sich unmittelbar nach dem Verbrechen exakt an die Umstände erinnert hatten, zum späteren Untersuchungszeitpunkt genauso kreativ wie die übrigen. 25 Im Fall eines Amoklaufs in einer amerikanischen Schule, bei dem ein Kind getötet wurde, «erinnerten» sich sogar Kinder, die an jenem Tag gar nicht in der Schule waren, daran, Schüsse gehört und jemanden am Boden liegen gesehen zu fc haben. 26 Die Einflüsse auf die Erinnerung sind hier natürlich vielfältig - in beiden Fällen wird eine Rolle gespielt haben, daß die Ereignisse immer wieder ausgetauscht und erzählt wurden und eine soziale Standardisierung erreichen konnten,

die es möglich machte, daß die Schüler, insbesondere im letzten Fall, ihre «eigenen» Erinnerungen nicht mehr von denen der anderen Mitglieder ihrer sozialen Bezugsgruppe unterscheiden konnten (wobei es ja im R a h m e n eines spektakulären Ereignisses auch schmählich ist, nicht dabeigewesen und statt dessen mit Halsschmerzen im Bett gelegen zu haben). Allgemein sind übrigens die Erinnerungen von Kindern anfälliger für das Verwechseln der Umstände von Geschehnissen und der Quellen von Ereignissen, übrigens auch für k r y p tomnestische Erinnerungen, also Erinnerungen an Ereignisse, die überhaupt nicht stattgefunden haben. Dieser B e f u n d ist durch eine R e i h e von Experimenten mit Personen untermauert worden, denen in Gesprächen Erlebnisse suggeriert wurden, an die sie sich später detailliert erinnern zu können glaubten, o b w o h l sie sie faktisch nie gehabt hatten. 27 Am b e kanntesten ist inzwischen das «lost in the Shopping mall»Experiment, 2 8 in dem den Versuchspersonen eine R e i h e von Kindheitserlebnissen vorgelegt w u r d e , die zuvor von engen Verwandten berichtet worden waren. Eine der jeweils vorgelegten Episoden war allerdings frei erfunden - eine G e schichte, die davon handelte, daß die Versuchsperson als K i n d in einem Supermarkt verlorengegangen war. Im ersten Durchlauf des Experiments «erinnerten» sich immerhin 2 9 % der Teilnehmer an dieses Erlebnis, das sie freilich nie gehabt hatten. Besonders interessant an diesem B e f u n d ist, daß das konstruierte Erlebnis in weiteren Versuchsdurchläufen i m m e r detaillierter erinnert w u r d e - es w a r also zum Bestandteil der eigenen Lebensgeschichte der Probanden geworden. Ihre falschen Erinnerungen fühlten sich Rir sie offensichtlich g e nauso an w i e ihre echten. Analoge Ergebnisse fand man in Experimenten, in denen es um (erfundene) Ereignisse in einer nächtlichen Notaufnahme im Krankenhaus oder das peinliche Erlebnis ging, bei einer Hochzeitsfeier den Brauteltern Punsch über die festliche Kleidung geschüttet zu haben. 2 9 Elisabeth Loftus, die eine wichtige R o l l e in der «false m e -

mory debate» in den Vereinigten Staaten spielt, in der es im Kern um Beurteilungsmöglichkeiten für wahre und falsche Erinnerungen im Zusammenhang spät entdeckter («recovered») Kindesmißbrauchsfälle geht, flihrt das Eigenleben falscher Erinnerungen unter anderem darauf zurück, daß ein fiktives Erlebnis bei intensiver und wiederholter Vorstellung immer vertrauter wird und diese Vertrautheit dazu führt, die falsche Erinnerung mit «echten» Kindheitserlebnissen in Verbindung zu bringen - so daß die falsche Erinnerung gleichsam in das Ensemble der wahren Erinnerungen importiert und ununterscheidbar von dieser wird. Aber hier kommen wir schon auf ziemlich dünnes Eis, denn wer sagt uns außerhalb von experimentellen Situationen schon, welche unserer Erinnerungen «wahr» oder «falsch» sind? Taugt eine solche kategoriale Unterscheidung überhaupt etwas, wenn wir es mit lebensgeschichtlichen Erinnerungen zu tun haben? Erinnern Sie sich an den Fall Wilkomirski/Dössekker, der vor einigen Jahren beträchtlichen Wirbel in den Feuilletons angerichtet hat? Hier ging es um die Autobiographie einer Person, die als Kind den Holocaust überlebt hatte und diese Kindheit in einem eindrucksvollen Buch aus der Perspektive des Erwachsenen erinnerte. «Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 1948» war denn auch der authentizitätsverheißende Titel, und der Autor Binjamin Wilkomirski, der in Wahrheit Bruno Dössekker heißt, berief sich nicht zufällig auf die Wahrheit der visuellen Repräsentation des Erlebten, wenn er schrieb: «Meine frühen Kindheitserinnerungen gründen in erster Linie auf den exakten Bildern meines fotografischen Gedächtnisses und den dazu bewahrten Gefühlen - auch denen des Körpers. Dann kommt die Erinnerung des Gehörs und an Gehörtes, auch an Gedachtes und erst zuletzt die Erinnerung an Selbstgesagtes.» 30 D e r durchschlagende Erfolg von Wilkomirskis erfundener Autobiographie war wohl in hohem Maße darauf zurückzuführen, daß das Buch mit dem Import medialer Vorlagen arbeitete, die dem Leser vertraut vorkommen mußten und gerade darum die Authentizität von Wilkomirskis Schilderun-

gen zu verbürgen schienen. Daniel Goldhagen etwa betonte in seinem Klappentext zu den «Bruchstücken»: «Dieses fesselnde Buch belehrt auch jene, die mit der Literatur über den Holocaust vertraut sind.» So echt also diese autobiographischen Bruchstücke daherzukommen schienen - in Wahrheit war Bruno Dössekker 1939 noch gar nicht auf der Welt g e w e sen, und er war auch kein Holocaust-Uberlebender, sondern ein Kind, das bei Schweizer Adoptiveltern aufgewachsen war und später, unter anderem im R a h m e n verschiedener Psychotherapien und seiner obsessiven Beschäftigung mit der Holocaust-Literatur und Uberlebendenerinnerungen, eine Art Opferidentität entwickelte, offenbar in einem Maße, daß er selbst nicht mehr unterscheiden konnte, ob die «Bruchstücke», die er so identitätsnah erinnerte, nun zu seiner eigenen Lebensgeschichte gehörten oder nicht. In der Wirklichkeit des Buchmarktes gelten freilich noch immer bestimmte Redlichkeitskriterien, die Wilkomirski/Dössekker deutlich überschritten hatte; das Buch wurde vom Markt genommen, und viele seiner euphorisierten Laudatoren fühlten sich peinlich berührt. Jedenfalls zeigt dieser Fall nicht nur das persönliche Problem eines Autors mit massiven Identitätsproblemen, sondern allgemeiner, daß der Ubergang von wahren zu falschen autobiographischen Erinnerungen durchaus fließend ist. Wölfgang Hell hat die Befunde der Untersuchungen zu falschen Erinnerungen in folgender Weise prägnant zusammengefaßt: «Das Gedächtnis ist im Laborversuch durch Zusatzinformationen, Fragestellung oder Ausnutzen von Zusatzwissen systematisch beeinflußbar. In der Realität kann die Täuschung noch viel stärker sein. Eine emotionale Voreingenommenheit in eine Richtung, wiederholtes Abfragen, Suggestionen und vieles andere kann eine falsche Erinnerungauslösen, die für die Betroffenen so real wie eine richtige Erinnerung ist und die fiir die Zuhörer dieser Erinnerung durch die Lebendigkeit der Schilderung absolut glaubwürdig wirkt. Bei Kindern ist dieser Effekt noch stärker als bei Erwachsenen.» 31 Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, der im Zusaminen-

hang falscher Erinnerungen erwähnenswert ist: daß es für die «Wahrheit» des Erinnerten auf einer bestimmten Ebene unerheblich sein kann, ob die einzelnen Details der Erinnerung stimmen oder nicht. In einer klassischen Arbeit hat Ulrich Neisser am Beispiel einer Zeugenaussage zum WatergateSkandal dargelegt, daß die überzeugend detaillierten und mit exakten Zeit- und Ortsangaben versehenen Erinnerungen des Zeugen John Dean sich allesamt als falsch erwiesen, nachdem sie mit den später veröffentlichten Tonbandmitschnitten der entsprechenden Gespräche verglichen worden waren. Interessanterweise waren aber trotz der faktischen Fehlerinnerungen Neisser zufolge Deans allgemeine Schlußfolgerungen und Situationsinterpretationen weitgehend realistisch: «Es gibt immer eine tiefere Ebene, auf der er recht hat. Er hat eine akkurate Skizze der wirklichen Situation, der handelnden Personen und der Beziehungen der Leute geliefert, mit denen er zu tun hatte, und auch der Ereignisse, die hinter den Gesprächen lagen, an die er sich zu erinnern versuchte.» 32 Ahnlich ist in traumatheoretischer und psychoanalytischer Perspektive der Versuch gemacht worden, hinter einer objektiv in einem zentralen Aspekt falschen Zeugenaussage eine historische Wahrheit zu erblicken, da der Gesamtzusammenhang richtig erfaßt worden war. 3 3 Offenbar spielt die emotionale Einbettung einer erlebten Situation eine größere Rolle für das, was erinnert wird, als was in dieser Situation «wirklich» geschehen ist. Beispiele hierfür sind die sogenannten Flashbacks, die insbesondere von Vietnamveteranen als das Gefühl beschrieben werden, unmittelbar und ungeheuer plastisch in eine Situation größter Gefahr und Angst «zurück»-versetzt zu sein; das Phänomen des Flashback wird allerdings klinisch erst verzeichnet, seit es in den Beschreibungen von LSD-Konsumenten eine gewisse Verbreitung gefunden hat. 34 Fred Frankel vermutet, daß die Beziehung von Flashbacks zu Träumen - an die man sich ja übrigens auch erinnern kann - enger ist als zu wirklichen Geschehnissen. 35 Im übrigen unterliegen Erinnerungen an traumatisierende Ereignisse denselben alters- und aufbewahrungs-

spezifischen Einschränkungen wie solche an gewöhnliche Ereignisse: Daten, Situationsmerkmale, Personen, Umstände werden vertauscht, verzerrt oder ganz einfach vergessen. 36 Der generelle Befund, daß Erinnerungen eben keine abgerufenen Speicherinhalte sind, gilt auch flir traumatische Erinnerungen - wie könnte es auch anders sein? Etwas anderes ist aber in diesem Zusammenhang interessant: der Umstand nämlich, daß die emotionale Tönung eines E r lebnisses und der Situation seiner Erinnerung wichtig für die Reichhaltigkeit und Präzision des Erinnerten ist — diese «affektive Kongruenz» zeichnet etwa das Phänomen aus, das depressive Menschen «zeitweilig nur zu verdrießlichen Erinnerungen fähig zu sein scheinen. Die Tatsache, daß der Inhalt von Erinnerungen durch emotionale Zustände beeinflußt wird, wird durch die Existenz getrennter Systeme flir die Speicherung von impliziten emotionalen Erinnerungen und von expliziten Erinnerungen an Emotionen erklärbar, f . . . ] Eines der Elemente einer expliziten Erinnerung an ein früheres emotionales Erlebnis sind die emotionalen Implikationen des Erlebnisses. Die Gegenwart von Hinweisen, welche dieses Element aktivieren, erleichtert die Aktivierung des assoziativen Netzes. Relevant sind in diesem Fall die Hinweise aus Gehirn und Körper, die signalisieren, daß Sie sich in demselben emotionalen Zustand befinden wie während des Lernens. Diese Hinweise treten auf, weil die Reize, die auf das explizite System einwirken, auch auf das implizite emotionale Gedächtnissystem einwirken und dafür sorgen, daß der e m o tionale Zustand wiederkehrt, in dem Sie sich befanden, als das explizite Gedächtnissystem seine Lernaufgabe erledigte. Die Ubereinstimmung zwischen dem gegenwärtigen emotionalen Zustand und dem als Teil der expliziten Erinnerung gespeicherten emotionalen Zustand erleichtert die Aktivierung der expliziten Erinnerung.» 37 Das macht einige Beobachtungen erklärlich, die im Zusammenhang mit der Erinnerung an traumatisierende Geschehnisse gemacht wurden. Neben dem Auftreten von heftigen Erregungszuständen etwa beim Erzählen des Erlebnisses, das

die Emotion samt ihren physiologischen Begleiterscheinungen reaktiviert, sind hier etwa Phänomene wie das «weapon focussing» zu nennen, das die Aufmerksamkeitszentrierung um den höchsten und deutlichsten Punkt der Gefahr bezeichnet. Allgemein läßt sich sagen, daß der Grad der Angst in einer Situation das Maß der Verengung der Aufmerksamkeit auf einzelne Situationsmerkmale bestimmt. 38 Ein anderes Erinnerungsphänomen, das besonders bei depressiven Patienten beobachtet wurde, ist die Übergeneralisierung des emotionalen Aspektes des Erlebten, demgegenüber die Details der Situation stark zurücktreten — was, wie Schacter vermutet, schon darauf zurückzuführen ist, daß Depressive ihre Aufmerksamkeit auf j e n e Phänomene konzentrieren, die ihren negativen Erwartungen entsprechen. Das Wahrnehmungsmaterial und entsprechend seine Einspeicherung passiert also gewissermaßen einen Polarisationsfilter, der alles grau in grau erscheinen läßt. Was sich hier im Extrem zeigt, gilt in milderer Form allerdings auch für nicht-depressive Menschen: Wenn man mieser Laune ist, begegnen einem deutlich mehr widrige Umstände, als wenn man glänzend aufgelegt ist - und die Erinnerung an derlei «schwarze» Tage ist denn auch in der R e g e l ziemlich eindimensional. Solche befindensabhängige Erinnerung zeigt sich bemerkenswerterweise auch im Zusammenhang mit bewußtseinseinschränkenden Befindlichkeiten: Wenn man etwa Alkohol trinkt oder andere Drogen konsumiert, erinnert man sich im nüchternen Zustand schlecht an das, was in den entsprechenden Zuständen passiert ist - experimentell ist aber nachgewiesen worden, daß die Erinnerung präziser wird, wenn der sich Erinnernde wieder auf demselben Pegel ist! Dieses Phänomen des «State dependent retrieval» 39 scheint mir vor allem deshalb interessant, weil es den Schluß nahelegt, daß auch von einer Kongruenz zwischen sozialen U m ständen des Einspeicherns und Abrufens auszugehen ist weshalb etwa auf Kameradschaftsabenden oder HeimattrefTen eine größere Reichhaltigkeit von Erinnerungen aus dem Krieg vorfmdlich ist, als wenn im R a h m e n von Forschungs-

interviews lebensgeschichtliche Erinnerungen abgefragt werden. Dieses Phänomen verweist auf die Rolle, die Erinnerungsgemeinschaften für das Wachhalten und Fortschreiben von emotional wichtigen Ausschnitten aus der Geschichte spielen. Neben dem Phänomen der affektiven Kongruenz des Erinnerns sind noch weitere Aspekte bedeutsam für meine Ü b e r legungen: Mittlerweile gibt es gute Belege dafür, daß Streß und die damit verbundenen biochemischen Prozesse die Funktionen des Hippocampus, des zentralen Verarbeitungsorgans für die langfristige Speicherung von Gedächtnisinhalten, empfindlich stören können — woraus durchaus ein U n vermögen resultieren kann, sich an das verursachende Trauma überhaupt erinnern zu können. «Bei Menschen, die ein Trauma hinter sich haben, zum Beispiel Opfern von wiederholtem Kindesmißbrauch oder Vietnamveteranen mit postf traumatischer Belastungsstörung, ist der Hippocampus geschrumpft», schreibt L e D o u x (nach meinem Eindruck etwas übergeneralisierend). «Auch ist die Merkfähigkeit eingeschränkt, ohne daß der IQ oder andere kognitive Funktionen betroffen wären. Belastende Erlebnisse können den menschlichen Hippocampus und seine Gedächtnisfunktionen verändern.» 40 Häufiger scheint freilich der Fall zu sein, daß das traumatisierende Ereignis hinreichend Streß dafür ausgelöst hat, daß die Erinnerung an dieses Ereignis fragmentarischer ist als gewöhnlich. Gleichwohl können Aspekte des Ereignisses bewußt rekonstruiert werden, wobei bei dieser Art von Erinnerung nun aber zwangsläufig Lücken aufgefüllt werden müssen, «und die Zuverlässigkeit der Erinnerung wird davon abhängen, wieviel aufgefüllt wurde und wie wichtig die aufgefüllten Teile für den Inhalt der Erinnerung waren». 41 Die konstruktive Funktionsweise des Gedächtnisses kommt in solchen Fällen also verstärkt zum Tragen: Offensichtlich neigen wir dazu, Erinnerungslücken sofort zu schließen, indem wir Material einfügen, das anderen Erlebnissen (oder auch gänzlich anderen Quellen, die mit unserem eigenen

Leben nichts zu tun haben) entstammt. Das episodische G e dächtnis, so könnte man schlußfolgern, scheint wesentlich einem Montageprinzip zu folgen, das bedeutungshaltige Bruchstücke nach ihrem sinnstiftenden und selbstbezogenen Wert zusammenfügt. Bei traumatischen Erinnerungen zeigt sich dieses Prinzip womöglich deutlicher als im Normalfall; jedenfalls sind Schacter und L e D o u x gleichermaßen skeptisch gegenüber der Annahme, Erinnerungen an traumatisierende Ereignisse seien präziser, gar authentischer als in gewöhnlichen Fällen - es läßt sich im Gegenteil eher Beweismaterial dafür zusammenbringen, daß diese Erinnerungen hinsichtlich ihrer Authentizität größeren Beschränkungen unterliegen als Erinnerungen an weniger belastende Ereignisse. Sollte dieser Befund zutreffen, würde das bedeuten, daß Erinnerungen gerade an gefahrvolle, schreckliche und emotional belastende Situationen deutlich mehr konstruierte und montierte Bestandteile aufweisen als emotional gleichgültigere Erinnerungen. Daneben sei noch auf die Bedeutsamkeit der visuellen Repräsentanz von Erinnerungen hingewiesen: Gerade das, was einem «noch genau vor Augen steht», wovon man noch jedes einzelne Detail buchstäblich zu sehen glaubt, stattet den sich Erinnernden mit der festen Uberzeugung aus, daß das, woran er sich erinnert, auch tatsächlich geschehen ist. Erstaunlicherweise und subjektiv äußerst schwer nachvollziehbar liegt das aber nicht unbedingt daran, daß sich das Geschehen erst auf der Netzhaut und dann im Gehirn nachgerade eingebrannt hat, sondern daran, daß die neuronalen Verarbeitungssysteme für visuelle Perzeptionen und für phantasierte Inhalte sich überlappen, so daß auch rein imaginäre Geschehnisse mit visueller Prägnanz «vor den Augen» des sich Erinnernden stehen können. 4 2 Gerade hier ist die Diskrepanz zwischen der subjektiven Uberzeugung, sich genauestens zu erinnern, und dem Artefaktischen der Erinnerung am größten. So hat unlängst ein wissenschaftlicher Vortrag in Dresden für einen Eklat gesorgt: Viele alte Dresdener, die sich die Ausführungen des Historikers Helmut Schnatz zum verheerenden

Angriff auf Dresden am 13. und 14. Februar 194$ anzuhören gekommen waren, empörten sich über dessen Darlegung, daß ein wichtiger Aspekt ihrer Erinnerungen der historischen Wirklichkeit einfach nicht entsprechen konnte. Hier ging es um den Mythos, daß am 14. und 15. Februar, nach dem ersten Angriff, Tiefflieger in den Straßen Dresdens Jagd auf M e n schen gemacht hätten. Der Umstand, daß der durch den Bombenangriff erzeugte Feuersturm es britischen Tieffliegern unmöglich gemacht hätte, in die brennende Innenstadt zu fliegen, überzeugte die Zuhörer so wenig wie die akribische Analyse von Flugeinsatzplänen und Logbüchern, die keinerlei Beleg für die Richtigkeit der Dresdener Erinnerungen lieferten. Das nun wurde von den versammelten Zeitzeugen als A n griff auf ihre persönliche Erinnerung an «silbrigschimmernde Mustangjäger» und verzweifelt fliehende Menschen verstanden und löste beträchtliche Empörung aus. 43 Mittlerweile findet sich einige Evidenz dafür, daß zum B e i spiel Spielfilmszenen in autobiographische Erinnerungen montiert werden, ohne daß den Erzählern diese Adaptierungen bewußt wären. 4 4 Insgesamt muß man wohl zusammenfassen, daß die scheinbar unmittelbare Erinnerung an biographische Erlebnisse und Ereignisse als Produkte subtiler Interaktionen all j e n e r Prozesse zu verstehen ist, die am Werke sind, wenn unser Gehirn Erinnerungsarbeit leistet: Interaktionen also zwischen den Erinnerungsspuren an E r eignisse, d e m Wiedererwecken von Emotionen, dem Import «fremder» Erinnerungen, affektiven Kongruenzen und ganz generell den sozialen Umständen der Situationen, in denen über Vergangenes erzählt wird. 4 5 Oben ist ja bereits die Frage aufgeworfen worden, was emotional bedeutsame Erinnerungen hervorruft: das Ereignis selbst oder die Emotion, die mit ihm verbunden ist? Daß es auch in diesem Sinne wohl eher Erinnerungen an die E m o tionen sind, die aufbewahrt und weitergegeben werden, machen einige Untersuchungen deutlich, die sich mit dem Erinnern dramatischer Ereignisse - wie etwa an das Attentat auf John F. Kennedy — beschäftigen und die zu dem Schluß kom-

men, daß eine bemerkenswert geringe Korrelation zwischen der Akkuratheit einer Erinnerung und der Überzeugung besteht, sich an jede Einzelheit präzise erinnern zu können - ein Befund, den leidvoll geprüfte Kriminalisten ohne weiteres bestätigen können. 4 6 In einer schwedischen Untersuchung wurden j u n g e Erwachsene nach ihrer Erinnerung an die Umstände des Attentats auf O l o f Palme sechs Wochen nach dem Ereignis und dann ein weiteres Mal nach einem Jahr befragt - mit dem Ergebnis, daß die Präzision der Erinnerung in diesem Zeitraum erheblich nachgelassen hatte. 47 In einem Selbstversuch zum selben Erinnerungsgegenstand hat der dänische Psychologe Steen Larsen die Umstände des Ereignisses wie auch die Situation, in der er selbst von ihm erfahren hatte, akribisch aufgezeichnet. Einige Monate später konnte sich Larsen zwar noch gut an die meisten Einzelheiten des Attentats selbst erinnern und auch daran, daß er die Nachricht über das R a d i o beim Frühstück in der Küche gehört hatte, im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Aufzeichnung war er nunmehr allerdings davon überzeugt, nicht allein in der Küche gesessen zu haben, sondern zusammen mit seiner Frau von dem Attentat erfahren zu haben! Hier handelt es sich um einen Effekt, der offenbar auf signifikante Interaktionen zurückgeht, die später im Zusammenhang mit dem emotional bedeutsamen Ereignis stattgefunden haben und die nachträglich in das erinnerte Szenario montiert werden. Auch Larsens Erinnerungen daran, was er unmittelbar nach dem Hören der Nachrichten getan hatte, waren unzutreffend. 48 Ganz ähnlich haben Neisser & Harsch 49 festgestellt, daß Studenten, die sie 24 Stunden nach dem Challenger-Unglück interviewten, zweieinhalb Jahre später ziemlich abweichende Erinnerungen an das Ereignis und die Umstände seiner Kenntnisnahme hatten, indessen aber der festen Überzeugung waren, daß ihre falschen Erinnerungen absolut richtig waren. Dies hat, wie Schacter zusammenfaßt, wesentlich damit zu tun, daß gerade die emotionale Bedeutsamkeit des Ereignisses die Überzeugung sichert, man würde sich genau erinnern, und

diese Überzeugung wird eben dadurch unterfuttert, daß es sich hierbei um Ereignisse handelt, über die man oft - und unter anderem natürlich in den Befragungen selbst - gesprochen hat. 50 Derlei Ergebnisse werfen einiges Licht auf den Umstand, daß Zeitzeugen etwa des Zweiten Weltkriegs mit fester Überzeugung die Authentizität von berichteten Erlebnissen und Ereignissen behaupten können — «das weiß ich noch wie heute!» —, einfach deshalb, weil es sich hierbei um immer wieder erinnerte und erzählte Episoden handelt, die zudem in einen Kanon von kursierenden Geschichten eingebettet sind, die den gleichen sozial abgestützten Erzählmustern folgen. Hinsichtlich der Kommunikation von Erinnerungen ist das besonders deswegen interessant, weil ja nicht nur eine Geschichte - falsch oder richtig — erzählt wird, sondern sich über den Duktus des Erzählens die emotionale Tönung des Erlebten auch dem Zuhörer mitteilt und wiederum das Hören der Geschichte zu einem emotionalen Ereignis macht, das jenseits des inhaltlich Mitgeteilten B e deutunghat. Hinsichtlich der Authentizität bzw. vorsichtiger gesagt: der Realitätshaltigkeit von Erinnertem ist weiterhin einschränkend einerseits zu sagen, daß es lebensalter- und entwicklungsspezifisch unterschiedliche Dichten von Erinnerung gibt. Schacter spricht in diesem Zusammenhang von einem «reminiscence bump», der insbesondere in der entwicklungsbedeutsamen Phase zwischen Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter auftritt. 51 Ich würde vermuten, daß solche «bumps» in der autobiographischen Erinnerungsdichte allgemein im Zusammenhang von biographischen Transitionen, Statuspassagen und kritischen Lebensereignissen zu verzeichnen sind. 52 Daneben muß man von unterschiedlich gelagerten R a h m e n ausgehen, durch die autobiographische Erinnerungen kontextualisiert werden, die als Hierarchie von a) bedeutsamen Lebensabschnitten («als ich in Amerika gelebt habe»), b) allgemeinen Ereignissen («als ich damals Urlaub an der Ostküste gemacht habe») und c) spezifischen Einzelereignissen («als ich mit dem Segelboot gekentert bin») beschrie-

ben werden. 5 3 Wenn biographisch erzählt wird, fließen diese Ebenen ineinander und können, wiederum abhängig von der emotionalen Bedeutsamkeit des Erinnerten, zur Refiguration des berichteten Ereigniszusammenhangs fuhren. Dies verweist auf das Problem der sogenannten «Quellenamnesie», womit das verbreitete Phänomen bezeichnet wird, daß ein Ereigniszusammenhang zwar korrekt erzählt wird, der E r zähler sich aber in der Quelle vertan hat, aus der er die Erinnerung geschöpft hat — die darauf zurückgehenden Ehestreitigkeiten sind Legion. Ein berühmtes Beispiel für Quellenamnesie hat Ronald Reagan geliefert, als er mit Tränen in den Augen die dramatische Geschichte aus seiner Kriegsvergangenheit erzählte, in der ein Bomberpilot seine Besatzung zum Abspringen auffordert, nachdem die Maschine getroffen wurde. Allerdings war dabei ein junger Schütze so schwer verwundet worden, daß er die Maschine nicht verlassen konnte, worauf der heldenhafte Pilot sagte: «Macht nichts. Dann bringen wir die Kiste zusammen runter.» Einigen Journalisten fiel auf, daß Reagan sich hier keineswegs an eine «authentische» Geschichte erinnerte, sondern an eine Szene aus dem 1944 gedrehten Film «A Wing and a Prayer». 54 Ein der Quellenamnesie verwandtes Phänomen ist das der Konfabulation, also des Nachdichtens und Ausschmückens von Geschichten im Z u g e ihres wiederholten Erzählens, was mit keinerlei bewußter Absicht des Erzählers verbunden sein muß. Im Gegenteil: Gerade die «falsch» konfigurierte, aus unterschiedlichen Zusammenhängen kombinierte und aus Gründen des Unterhaltungswertes aufgepeppte, aber durch Wiederholung und erfolgreiche Kommunikation stabilisierte Geschichte kann für den Erzähler die ganz unbezweifelbare subjektive Gewißheit besitzen, eine Erinnerung zu sein, die ihm «noch genau vor Augen steht». Gerade die visuelle R e präsentanz von nur scheinbaren Geschehnissen sichert die Uberzeugung, hier über ein Stück des eigenen Lebens zu sprechen. Ausgehend von solchen Überlegungen, wird nicht nur einsichtig, wieso die besonders in Geschichtssendungen neuer-

dings sehr beliebten «Zeitzeugen» meist kunstvolle Montagen aus Landsergeschichten, Filmausschnitten und biographischen Versatzstücken zum besten geben und nicht historische Wirklichkeiten, 55 sondern auch, wieso es regelmäßig zu empörten Reaktionen von Zeitzeugen kommt, wenn sie — wie zum Beispiel im Zusammenhang mit der Wehrmachtsausstellung - mit historischen Befunden konfrontiert werden, die mit ihrer Erinnerung subjektiv nichts zu tun haben. Ein prominentes Beispiel hierfür liefert etwa der Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt, wenn er in einer Expertenrunde den anwesenden Historikern empört entgegenhält: «Sie müssen anerkennen, wenn Sie hier im Ernst Gespräche führen, daß andere Leute anderes erlebt haben, als was Sie aus Ihren Dokumenten generell herauslesen. Sonst muß ich aufstehen und den R a u m verlassen, wenn Sie mich für einen Lügner halten!» 56 Wichtig scheint mir an solchen Phänomenen zu sein, daß die erzählte Erinnerung gerade in der unmittelbaren sozialen Interaktion emotional wirksam wird und Sichtweisen auf die Geschichte erzeugt, gegen die eine auch noch so fundierte historische Faktendarstellung wenig ausrichten kann, weil diese emotional nicht in vergleichbarer Weise besetzt sein kann. Individuelle wie kollektive Vergangenheit, so kann man zusammenfassen, werden in sozialer Kommunikation beständig neu gebildet. Eine verblüffende strukturelle Entsprechung zu diesem sozialen Prozeß findet sich in einer Beschreibung des Erinnerungsprozesses auf neuronaler Ebene: Wenn man die ungeheure Komplexität der assoziativen Verbindungen im Gehirn in R e c h n u n g stellt, schreibt der Neurologe MarekMarsel Mesulam, scheint es völlig unrealistisch, davon auszugehen, daß Erinnerung ein Prozeß sei, der Dinge wirklichkeitsgetreu reproduziert: «Die Erinnerung einer Erfahrung geht auf die Aktivierung temporaler und räumlicher Muster zurück, die sich über viele Gruppen von Neuronen erstrecken. Jedes Neuron kann zu einer großen Anzahl solcher Gruppen zählen und entsprechend durch eine große Anzahl neuer Erfahrungen aktiviert werden. Jede neue Erfahrung

wird auf der Grundlage der bestehenden Erfahrungen eingeschrieben. Das heißt, jede neue Erinnerung kann durch vorangegangene Erinnerungen beeinflußt werden und bestehende Erinnerungen verändern. Das distributive Speicherverfahren des Gedächtnisses sorgt dafür, daß ein und dieselbe Erfahrung in sehr unterschiedlichen Kombinationen mit anderen Erfahrungen erinnert werden kann und jedesmal als Ergebnis vieler verschiedener assoziativer Verknüpfungen betrachtet werden kann.» 57 Das Gedächtnis ist also seiner neuronalen Struktur und Funktionsweise nach selbst kommunikativ. Im folgenden Kapitel werde ich zu zeigen versuchen, wie sich seine Organisationsstruktur in Prozessen sozialer Interaktion heranbildet und weshalb wir es auch auf der Ebene der Entwicklung des G e dächtnisses wesentlich mit einem kommunikativen Vorgang zu tun haben.

III. Lernen, sich zu erinnern die Entstehung des kommunikativen Gedächtnisses

l. Erfahrungsabhängige Gehirnentwicklung Haben Sie jemals das irritierende und fast bedrohliche Geflihl gehabt, etwas zu tun, was Sie gar nicht tun wollten? Stellen Sie sich vor, wie Sie sich auf einen Konflikt mit Ihrem Ex-Partner oder Ihrer geschiedenen Frau vorbereiten: Sie wissen schon lange, daß Ihre gemeinsamen Streitigkeiten zu nichts fuhren als zu weiteren, tieferen Verletzungen. Sie wissen, daß bestimmte Reizthemen, gewisse Worte, eine Handbewegung oder ein abschätziger Gesichtsausdruck schon genügen, um eine Eskalation in Gang zu setzen, wie sie sich schon hundertmal abgespielt hat: Eine angespannte, gereizte, aber offenbar noch kontrollierte Situation schlägt aufgrund eines scheinbar nebensächlichen Anlasses, eines «falschen Wortes» in offene Aggression um: «Geht das schon wieder los?», «Warum tust Du das?» usw. Nein, diesmal wollen Sie es anders machen. Sie wissen, daß diese Art des Streitens unter Ihrer beider Niveau ist, daß es nervenaufreibend und unwürdig ist und daß es nichts bringt. Dieses Mal werden Sie ruhig bleiben, ruhig und gelassen. Sie wissen, was kommt, und Sie werden auf keine Provokation in der Weise reagieren, wie Ihr Partner es von Ihnen erwartet. Sie werden souverän sein, auf Vorwürfe eingehen, sie abwägen und freundlich und ausgleichend sein. Sie fahren in die ehemals gemeinsame Wohnung, weil Sie noch ein paar Bücher abholen wollen, die beim Umzug liegengeblieben sind. Sie arbeiten gerade an einem Text über Erinnerung, und Sie wollen noch mal bei Nabokov dieses wunderbare Zitat nachschlagen, das Sie dem Text als Motto

voranstellen wollten. Die Atmosphäre ist überraschend locker, Sie trinken einen Kaffee mit Ihrem Partner, der sich bemüht, freundlich zu sein. Nach zehn Minuten sagt er: «Du, ich muß gleich weg, such Dir schon mal die Bücher raus.» Sie gehen ins Wohnzimmer (sieht ein bißchen fremd aus ohne die Möbel, die Sie mitgenommen haben), gehen die Reihen im Bücherregal durch. Ach, da ist ja noch der Musil, den brauch ich auch. Und die «Entdeckung der Langsamkeit», das ist auch meins. Wo ist denn bloß der Nabokov? Sie finden zwei R o mane, die brauchen Sie nicht, wo ist denn dieses verflixte «Erinnerung, sprich»? Ihr Ex-Partner kommt herein: «Bist Du soweit? Ich muß los!» — «Gleich. Weißt Du, wo der Nabokov ist? Die Autobiographie?» — «Keine Ahnung.» Sie suchen weiter. Nach weiteren fünf Minuten wird Ihr Ex-Partner ungeduldig. «Ich muß los. Kannst Du den nicht ein anderes Mal mitnehmen?» — «Nein, kann ich nicht. Ich brauch ihn jetzt. Kleinen Augenblick noch.» Der Augenblick zieht sich. Die Atmosphäre wird ein wenig angespannt. «Wo ist denn das Ding, verdammt?» Sie fragen noch mal: «Weißt Du nicht, wo es ist?» Und Ihr Ex-Partner, jetzt schon mit dem Schlüsselbund in der Hand, sagt nervös: «Keine Ahnung. Weiß nicht, vielleicht hab ich es ja auch verliehen. Oder Du hast es selbst.» Sie drehen sich um: «Du hast es verliehen? Mein Buch?» «Was weiß ich. Hättst Du es halt gleich mitgenommen. Ich muß jetzt los!» Da ist sie wieder, diese Nonchalance, die Sie schon immer zur Weißglut getrieben hat. «Hör mal, das ist mein Buch, und ich brauch es jetzt!» Eine halbe Stunde, nachdem Sie mit Ihren guten Vorsätzen an der Wohnungstür gestanden haben, werden Sie unfreundlich. Und laut. «Jetzt reicht es!» sagt Ihr Partner. Als Sie im Treppenhaus sind, schreien Sie sich schon an. Es geht um Pedanterie und Kleinkariertheit, um Ignoranz, Leichtfertigkeit und Arroganz. «Schrei mich nicht an!» brüllt Ihr Ex-Partner. «Ich schreie nicht, ich argumentiere!» brüllen Sie. Und da sind Sie beide mal wieder. Wie eingespielte Tanzpartner bewegen Sie sich im lange eingeübten Rhythmus des Streits. Ein Wort gibt das andere, eine Erregung steigert die

andere, Sie gestikulieren, drohen, fühlen sich bedroht. Ja, Sie wollten «die Bälle flachhalten», hatten sich als souveränen Gesprächspartner imaginiert, Sie wollten nett sein, und jetzt erleben Sie sich, wie Sie mit hochrotem K o p f mit diesem didaktischen Zeigefinger, den Sie selbst unerträglich finden, Beleidigungen ausstoßen, die — zumal im Treppenhaus — w e nig von der Würde erkennen lassen, mit der Sie vor 30 M i n u ten angetreten sind. Die Worte kommen «wie von selbst», sie erleben sich als Opfer ganz und gar ungerechter A n w ü r f e , und Ihr zugleich aggressives und gekränktes Benehmen treibt Ihren Partner zur Raserei. M i r geht es hier weniger um die Frage, wie es zu dieser ritualisierten Konfliktkommunikation, zum perfekt choreographierten Streit kommt — das ist das T h e m a habitualisierter sozialer Interaktion, in der die Partner die Reaktionen ihres Gegenüber schon vorwegnehmen, bevor sie sich artikulieren können, und sie gerade darum so treffsicher und zielgenau auslösen. Mir geht es um Ihr Verhalten und Ihr Gefühl in dieser Situation — daß Sie sich beinahe wie von außen wahrnehmen, während Sie das exakte Gegenteil von dem praktizieren, was Sie sich vorgenommen hatten. Ja, es kann in diesem Augenblick sogar vorkommen, daß Sie ganz genau «wissen», daß es völlig falsch und unfair ist, was Sie sagen - Sie sagen es aber trotzdem. Vielleicht verschafft Ihnen dieses Gefühl, sich «trotzdem» so zu verhalten, eine milde Form masochistischer Befriedigung, vielleicht macht es Ihnen selbst angst. Einerlei: Sie erleben Ihr eigenes Handeln als irgendwie fremd, nicht zu Ihnen gehörig, deplaziert. Was ist passiert? Eine einfache Erklärung, die im Alltag schnell bei der Hand ist, lautet, daß Sie unbeherrscht sind, konfliktunfähig, leicht kränkbar, hypersensibel. Solche Erklärungen sind tautologisch: Sie begründen Ihre Reaktionen mit Eigenschaften Ihrer Person. Sie verhalten sich so, weil Sie so sind. Aber wie sind diese Eigenschaften entstanden, wie sind Sie so geworden? Oder, weil es - wie im oben angeführten Beispiel — meist komplizierter ist, wieso verhalten Sie sich ganz anders, als Sie Ihrer Meinung nach sind?

Weil Ihre Verhaltensmuster der Unbeherrschtheit oder des Gekränktseins ein Ergebnis sozialer Erfahrungen sind, die Sie irgendwann zuvor in Ihrem Leben gemacht haben. Vielleicht mit dieser besonderen Person, mit der Sie gerade so unerfreulich streiten, vielleicht aber schon viel früher und mit Personen, die mit der augenblicklichen Situation im Treppenhaus nicht im entferntesten etwas zu tun zu haben scheinen. Vielleicht haben Sie die Erfahrung gemacht, daß Sie einem tiefempfundenen Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht am besten damit begegnen, daß Sie Ihr Gegenüber hilflos und ohnmächtig machen. Wenn Sie damit (aus Ihrer Sicht) w i e derholt erfolgreich waren, könnte sich dieses Verhalten in Ihrer Persönlichkeitsstruktur als Muster etabliert haben, das auch in Situationen aktiviert wird, in denen es in diesem Ausmaß gar nicht erforderlich, geschweige denn angebracht ist. Sie flippen beim geringsten Anlaß aus. Ihr Verhaltensmuster hat sich auf merkwürdige Weise generalisiert. Zufällig treffen Sie ausgerechnet immer auf Partner, die Sie mühelos zum Ausflippen bringen können. Kommen wir nochmal auf das Gefühl der Entfremdung zurück, das Sie befällt, wenn Sie ausflippen: Sie wenden das erlernte Verhaltensmuster an, ohne es zu wollen, ja ohne zu wissen, daß es existiert und worauf es zurückgeht (zumal es, wie Sie mit Schrecken registriert haben, gar nicht zu Ihrer Person gehört: «Sonst bin ich ja gar nicht so — er bringt mich immer dazu!»). Wir sollten zunächst klären, was sich hinter der Begriffsverbindung «erlerntes Verhaltensmuster» verbirgt — denn das Beispiel hat ja schon gezeigt, daß es hier um etwas anderes Erlerntes geht als um Wissen, das wir uns irgendwann einmal angeeignet haben. Im Gegenteil: Hier geht es um etwas Erlerntes, das wir «wider besseren Wissens» anwenden, und wir können uns kaum erklären, wo es herkommt, dieses Verhalten, das wir selbst als etwas Fremdes empfinden. In diesem Gefühl von Verunsicherung zeigt sich aber schon, daß uns ein Teil dieses «Erlernten» gar nicht bewußt ist - es kann sein, daß wir keine Ursache, keinen Ausgangspunkt dafür finden können, daß sich das Muster in der Situation aber so un-

willkürlich und präzise ausbreitet, als würde es sich um einen automatischen Ablauf handeln. Vergleichen wir diesen Automatismus des Verhaltens einmal mit anderen, viel harmloseren und erfreulicheren Handlungsabläufen wie Autofahren oder Klavierspielen. So komplex die Abläufe sind, die Sie in die Lage versetzen, ein Auto durch eine Großstadt zu bewegen oder die Goldberg-Variationen zu spielen - sie setzen eine Routinisierung voraus. R o u t i n e mäßige Abläufe haben etwas mit Erfahrung, Lernen und Erinnern zu tun - aber eben so, daß es gar nicht notwendig ist, sich an das Erlernte zu erinnern, um es anzuwenden. G e naugenommen erinnern Sie sich im Tun gar nicht daran, daß Sie sich erinnern. Die Gedächtnisforschung hat, wie schon erwähnt, hierfür den Begriff «implizites Gedächtnis» geprägt und bezeichnet damit all j e n e Aspekte unseres «prozeduralen» Wissens, unserer erlernten Fähigkeiten, deren Ausführung uns so selbstverständlich geworden ist, daß uns gar nicht mehr bewußt ist, wie die entsprechende Handlung abzulaufen hat und welche komplizierten Abstimmungen und mühsamen Übungen dafür nötig waren, den nun selbstverständlichen Ablauf sicher beherrschen zu lernen. Mehr noch: Bei vielen Vorgängen, die mit implizitem Erinnern zu tun haben (wie zum Beispiel beim Autofahren), wäre es höchst unpraktisch, sich bei der Ausführung zu vergegenwärtigen, was man als erstes, zweites, drittes zu tun hat — daran erkennt man den A n fänger, der sich konzentriert dessen bewußt ist, daß er bei einer Steigung vom dritten in den zweiten Gang zurückschalten muß, was er nach 1 5 0 0 0 Kilometern Fahrpraxis längst vergessen hat. Er macht es jetzt ganz einfach, wie automatisch. Das implizite Gedächtnis ist also auf eine merkwürdige Art vergeßlich. O f t können wir uns gar nicht mehr vorstellen, wie mühselig und kompliziert ein bestimmter Handlungsablauf zu erlernen war, den wir ohne jedes Nachdenken, mit schlafwandlerischer Sicherheit, beherrschen. Wir haben es hier mit erlernten Mustern zu tun, von denen wir vergessen haben, daß wir sie erlernt haben. Was sich beim Autofahren

und Klavierspielen als ganz gut erweist, kann beim Streiten, beim Austragen von Konflikten überhaupt, ziemlich fatal sein: Sie kommen aus Ihrem Verhaltensmuster nicht heraus. Sie können sich darüber hinaus gar nicht erklären, warum (aufgrund welchen Lernprozesses) Sie sich gerade so unmöglich verhalten. An dieser Stelle können wir einen ersten vorsichtigen Blick darauf werfen, was denn Erlerntes in diesem unbewußten bzw. unbewußt gewordenen Sinn eigentlich ist. Neurowissenschaftler würden sagen, es handle sich um ein etabliertes neuronales Verschaltungsmuster, das bei bestimmten Wahrnehmungsreizen aktiviert wird. Aber um zu klären, was das bedeutet, müssen wir ganz früh in unserer Entwicklung anfangen, vor unserer Geburt. Ein Aspekt der fötalen Entwicklung ist — neben der sukzessiven Entwicklung unserer anderen Organe - natürlich die Entwicklung des Gehirns, und zwar auf der Ebene der organischen Heranreifung wie auf der Ebene der Entwicklung einer neuronalen Verschaltungsarchitektur. Neuronen sind Nervenzellen, denen die höchst komplizierte Aufgabe zukommt, die unterschiedlichsten — körperinternen und körperexternen — Wahrnehmungsreize weiterzuverarbeiten. Sie verbinden sich — vermittelt über sehr vielfältige biochemische Ausschüttungen in ihrem Inneren — mit anderen Neuronen zu Netzwerken. An deren Verknüpfungsstellen werden elektrische Impulse «gefeuert» und so zu einer Vielzahl anderer Neuronen weiterverbreitet. Jedes Neuron hat einen Zellkörper, von dem eine Reihe faserartiger Verzweigungen, die Dendriten, und eine lange Faser, das Axon, abgehen. Die Dendriten sind die Empfänger der elektrischen und biochemischen Signale anderer Neuronen; über das Axon werden die eintreffenden Signale an andere Nervenzellen weitergeleitet. Eine zentrale Rolle bei diesem Ubermittlungsvorgang spielen die Synapsen, die Kontaktstellen der Neuronen zueinander, die erstaunlicherweise eigentlich Lücken sind. Wenn ein Neuron ein Signal empfängt, sendet es über das Axon elektri-

sehe Impulse über die Lücke h i n w e g zum nächsten N e u r o n . Dieser Vorgang ist selektiv; die Signalübertragung wird über spezielle Neurotransmitter gewährleistet. Ein Signal wird nur von solchen Neuronen empfangen, die über die entsprechenden Rezeptormoleküle für die abgeschickten Neurotransmitter verfügen. Wenn das der Fall ist, wird der Neurotransmitter «in die Lücke - den synaptischen Spalt - ausgeschüttet [ . . . ] ; er diffundiert dann schnell durch die Lücke zu der benachbarten, postsynaptischen Zelle und bindet an spezielle R e z e p t o r moleküle, die dort in die synaptische Membran eingelagert sind. Durch diese B i n d u n g verändern sich die Eigenschaften der Rezeptormoleküle in mehrfacher Hinsicht, und das führt im postsynaptischen Neuron zur elektrischen und biochemischen Aktivierung.» 5 8 Im Vorgang der B i n d u n g des Neurotransmitters (z. B. N o r a d renalin, Glutamat, Gamma-Aminobuttersäure und schätzungsweise mehr als 50 weitere) 5 9 liegt das eigentliche « G e Abb. 4: Schemazeichnung einer Nervenzelle mit Bezeichnung wichtiger Teilstrukturen. Der Zellkörper mit dem Zellkern dient vor allem den Stoffwechselprozessen der Nervenzelle, die Dendriten stellen den signalaufnehmenden Teil des Neurons dar. Das Axon leitet Informationen zu den Synapsen weiter (vereinfacht nach Markowitsch 2002a, S. 77)-

Synapse

Abb. 5: Synapse (vereinfacht nach Kolb & Whishaw 1996, S. 80,99C) dächtnis» des neuronalen Systems: D i e spezifischen synaptischen Verbindungen, die über diese Transmitter hergestellt werden, bilden Muster - «Engramme» -, die beim Wiederauftreten desselben Reizes erneut aktiviert werden. Eine neuronale Verschaltungsstruktur ist also ein Netzwerk, innerhalb dessen Informationen weitergegeben und in einem komplexen Muster abgelegt werden, das bei einem erneuten gleichartigen Wahrnehmungsreiz wieder aktiviert wird. S o fern w i r es mit Verschaltungsstrukturen zu tun haben, die nicht genetisch voreingestellt sind, sondern mit solchen, die sich durch eine Wahrnehmung, deren Einspeicherung und Konsolidierung gebildet haben, haben w i r es mit Erinnerung zu tun. D i e spezielle Verschaltungsstruktur, die zum Beispiel die Erfahrung Ihres ersten Kusses gebildet hat, bildet ein neuronales Korrelat, ein «Engramm» dieser Ihrer Erfahrung, auf die Sie zurückgreifen können — indem Sie sich lediglich

daran erinnern oder indem Sie ein weiteres Mal küssen. D i e Komplexität der auf diese Weise entstehenden Systeme ist unermeßlich. Man geht davon aus, daß auf jedes der einhundert Milliarden Neuronen im Gehirn «einige tausend bis i o o o o o Synapsen einwirken», was bedeutet, daß jedes Neuron die Informationen einer Unzahl anderer empfangen kann. Das G e hirn enthält somit schätzungsweise bis zu 100 Billionen Synapsen. 60 Soviel in aller Kürze. Man kann sich vorstellen, welcher Variantenreichtum und welche Flexibilität der Verarbeitung von Reizen gegeben ist, wenn, sagen wir, einige hundert Neuronen miteinander vernetzt sind. Wenn man nun berücksichtigt, daß sich während der vorgeburtlichen Entwicklung im Gehirn des Embryos pro Minute ca. 250000 Neuronen bilden, die umgehend ihre Tätigkeit aufnehmen, kann man sich vorstellen, mit welch ungeheuer komplexen Struktur zur Verarbeitung von Informationen Babys auf die Welt kommen. Da ein Fötus aber bereits im Mutterleib — je nach Entwicklungsstand seiner Sinnesorgane — in beträchtlichem Maße Außenwahrnehmungen, z. B. akustischer Art, macht, ist dieses bei der G e burt auf einhundert Milliarden Neuronen angewachsene Nervenbündel keineswegs unorganisiert, sondern bereits durch Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse strukturiert. N e h men wir ein Beispiel: Das Gehör des Embryos ist bereits am Ende des vierten Schwangerschaftsmonats entwickelt 61 - der Fötus kann Töne und Klänge wahrnehmen, die aus seiner unmittelbaren körperlichen Umgebung (Herzschlag, Atem, Verdauungsgeräusche), aber auch aus der Außenwelt kommen: laute Geräusche, Stimmen, Musik etc. Natürlich kann er auch die Stimme der Mutter wahrnehmen, und zwar auf einzigartige Weise: von innen. Die Frequenz und Anmutung dieser körperlichen Stimme hinterläßt schon im Fötus eine bestimmte Erinnerungsspur - was sich zum Beispiel daran zeigt, daß Neugeborene in der Lage sind, die Stimme ihrer Mutter von der anderer Menschen ohne weiteres zu unterscheiden. Und nicht nur das - sie ziehen den Klang der mütterlichen Stimme auch allen anderen Stimmen vor.

Dieser faszinierende B e f u n d bedeutet in neurowissenschaftlicher Sicht, daß sich in den Monaten der Schwangerschaft im Z u g e des Hörens bestimmter Innen- und Außengeräusche, im Laufe des Wahrnehmens, Einspeicherns und Verarbeitens solcher Reize, eine ganz bestimmte Organisationsstruktur von Neuronen im auditiven System herausgebildet hat, die gewährleistet, daß das Baby eine ganz bestimmte Stimmlage, eine ganz bestimmte Melodie, eine ganz bestimmte Tonhöhe als verschieden von anderen wahrnehmen kann. Das bedeutet, daß sich bereits im fötalen Gehini eine neuronale Repräsentation des Klangmusters der Stimme der Mutter gebildet hat, die beim wiederholten Hören aktiviert wird und mit anderen Klangmustern verglichen werden kann, die in einer anderen neuronalen Struktur repräsentiert sind oder werden. Mit anderen Worten: Schon der Fötus verfugt über etablierte und sich etablierende Netzwerkstrukturen, die Erfahrungen repräsentieren, die er im Mutterleib gemacht hat. Er kommt also, wie ich im nächsten Kapitel noch genauer ausführen werde, mit einer Reihe von aktiven Wahrnehmungs- und Differenzierungsfertigkeiten auf die Welt. Ein Neugeborenes ist weder das passive Bedürfnisbündel, als das es die klassische Entwicklungspsychologie und besonders die Psychoanalyse betrachtet hat, noch das Ensemble unbedingter und konditionierter Reflexe, die der Behaviorismus in ihm sehen wollte. Schon das Neugeborene ist ein aktiver Interaktionspartner für die Menschen seiner Umgebung, und es bringt schon bei der Geburt einiges mit, was es ihm ermöglicht, sich die Welt anzueignen. Natürlich gehen diese Fähigkeiten nicht ausschließlich auf pränatale Erfahrungen zurück: Denn seine genetische Entwicklungsbasis stellt auch eine ganze Reihe von grundlegenden Verschaltungsstrukturen bereit, die nichts mit Erfahrung zu tun haben, sondern aus Gründen des Uberlebens gewissermaßen voreingestellt sind. Es sind dies z . B . die grundlegenden Fähigkeiten, die früher als «unbedingte Reflexe» bezeichnet wurden - der Greifreflex, mit dem die Hand des Neugeborenen den gebotenen Finger umschließt, der Saugreflex usw. Daß das Neugeborene

atmen, sehen, hören, fühlen, Nahrung aufnehmen, Schmerz empfinden kann - alles dies ist nicht das Ergebnis von Erfahrung, die es im geschützten R a u m des Mutterleibs gemacht hat, sondern das Ergebnis genetischer Determinierung. Z u m Universum genetischer Determinierung grundlegender Verschaltungsstrukturen gehört aber auch die Möglichkeit, daß sich überhaupt Verschaltungsstrukturen bilden können, die nicht festgelegt, sondern erfahrungsoffen sind. «Bereits die genetisch determinierten Verschaltungen», schreibt der G ö t tinger Neuropsychologe Gerald Huether, «prädisponieren das sich entwickelnde Gehirn für ganz bestimmte sensorische Wahrnehmungen, flir eine bestimmte assoziative Verarbeitung dieser Eindrücke und flir die Aktivierung ganz bestimmter Verhaltens- und (Gefühls-)reaktionen.» 62 Wenn hier von «assoziativer Verarbeitung» die R e d e ist, bedeutet das natürlich nicht, daß der Fötus bewußt Assoziationen eines Erlebnisses mit einem anderen herstellt, sondern daß das neuronale Netzwerk selbst assoziativ organisiert ist: Die Muster der neuronalen Repräsentationen von Erfahrungen und Erinnerungen bestehen ja nicht nur aus ungeheuer vielen, sondern zum Teil auch aus weit auseinanderliegenden Verknüpfungspunkten, die sämtlich beim Abruf dieser speziellen Repräsentation aktiviert werden. Eine Abrufsituation (also das Sich-Erinnern) ist aber immer eine neue Situation, die dem vorhandenen Engramm eine neue Verknüpfung hinzufügt - was nichts anderes heißt, als daß Neuronen bzw. neuronale Verknüpfungen während des Abrufs und Einspeicherns aktiviert bzw. gebildet werden, die bislang noch nicht zu diesem speziellen Engramm gehörten. Sie assoziieren sich dazu. Das menschliche Gedächtnis funktioniert genau in diesem Sinne als «Assoziationsspeicher»: Durch neue Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse werden Neuronen oder «Gruppen von Neuronen in immer neuen Konstellationen zusammengebunden, deren gemeinsame Aktivierung dann die Repräsentation für den jeweiligen G e dächtnisinhalt darstellt. Die gleichen Nervenzellen beteiligen sich also an der Repräsentation sehr viel verschiedener

Inhalte, was sich ändert, ist lediglich die Konstellation, in der sie aktiv werden.» 6 3 Genau dieses Potential des assoziativen Wahrnehmens, Einspeicherns und Abrufens ist in diesem Ausmaß zum einen das Ergebnis einer spezifisch menschlichen genetischen Disposition, zum anderen aber auch der Ausgangspunkt dafür, daß menschliche Entwicklungsprozesse genetische Vorprogrammierungen mühelos überschreiten können: Ein großer Teil der Verschaltungsarchitektur des menschlichen Gehirns bildet sich aufgrund von Erfahrung aus - eine bestimmte Lautfolge bildet ein bestimmtes Engramm, eine Erinnerungsrepräsentation im Gehirn. Die Möglichkeit, daß und wie dieses Engramm gebildet werden kann, ist genetisch determiniert, nicht aber die Gestalt des Engramms selbst, die von der Klanggestalt der Stimme der Mutter abhängt. Ein Säugling wird — wie jedes andere Lebewesen — mit einer genetischen Prädisposition für die Entwicklungs- und Verknüpfungsmöglichkeiten seiner neuronalen Architektur geboren, aber die Gestalt, die diese Architektur annimmt, hängt sowohl von den Genen wie von Erfahrung ab: «Die Gene liefern die Information für die Organisation des Gehirns und seiner Systeme, aber die Erfahrung bestimmt, welche Gene wann und a u f w e i c h e Weise wirksam werden.» 64 Diese Sicht der Dinge führt direkt aus der Sackgasse der endlosen und unfruchtbaren Anlage-Umwelt-Debatte heraus (und macht es im übrigen überflüssig, nach den Genen weiterzusuchen, die für Alkoholismus oder Homosexualität zuständig sein sollen). Die Fähigkeit, mit Bezugspersonen zu kommunizieren, ist angeboren, d.h. genetisch bedingt, sie produziert aber interpersonelle Erfahrungen, deren neuronale Korrelate die genetische Determination sofort überschreiten. Menschliche Entwicklung ist mithin schon pränatal eine Kombination aus genetischer Prädisposition und — im weitesten Sinne — sozialer Umwelterfahrung. Das menschliche G e hirn ist einzigartig plastisch — seine Entwicklung, Reifung und Formung hängt, im Vergleich zu anderen Säugetieren, in großem Ausmaß von Einflüssen aus der Umwelt des sich ent-

wickelnden Menschenwesens ab. Dieser Umstand ist schon vor einem halben Jahrhundert von dem Zoologen Adolf Portmann erkannt worden. Er hat das erste Entwicklungsjahr des Säuglings als «extrauterines Frühjahr» bezeichnet und damit gemeint, daß Menschen - im Unterschied wiederum zu anderen Säugetieren - in dem Sinne zu früh geboren werden, als ihr Entwicklungsstand noch keineswegs ausreicht, um aus eigener Kraft zu überleben. Säuglinge sind, das ist trivial, nicht in der Lage, sich Nahrung zu beschaffen, sich zu verteidigen, davonzulaufen — sie bedürfen über einen vergleichsweise sehr langen Entwicklungszeitraum hinweg des Schutzes und der von außen kommenden Sicherstellung ihrer elementaren Lebensnotwendigkeiten. Und zwar so lange, bis ihre organische Reifung so weit fortgeschritten ist, daß sie - theoretisch - allein überleben könnten (wobei, wenn Sie kurz bei diesem Gedanken verweilen, deutlich wird, wie groß auch hier der Einfluß der sozialen Umwelt ist: Gewiß gibt es beträchtliche Unterschiede in den erforderlichen Uberlebenstechniken, je nachdem, ob die Anforderungen solche des Dschungels, der Savanne oder der Großstadt sind). Der Umstand, daß Menschen organisch zu früh, also unfertig, auf die Welt kommen, bedeutet nichts anderes, als daß in ihrer Entwicklung genetisch angelegte Ausreifungsprozesse mit sozialen Ausformungsprozessen zusammenfallen: Die organische und die soziale Entwicklung laufen gemeinsam ab — wie wir gesehen haben, schon vorgeburtlich, deutlicher aber postnatal. Und genau daraufist die menschliche Gehirnentwicklung ausgelegt: Kein anderes Lebewesen verfügt über eine vergleichbare Neuroplastizität, kein Gehirn ist bei der Geburt so unfertig wie das des Menschen, keines besitzt ein vergleichbar großes Entwicklungspotential für die Adaptierung an verschiedene und sich verändernde Umweltbedingungen. Ein menschliches Gehirn wiegt bei der Geburt nur rund ein Viertel des Gehirns eines Erwachsenen. B e i m Schimpansen, dem genetisch nächsten Verwandten, sind es immerhin 60%. Das Anwachsen der neuronalen Verschaltungen läuft ausschließlich beim Menschen noch nach der Geburt in fötaler

Geschwindigkeit und Größenordnung weiter. In jeder Sekunde entstehen unter jedem Quadratzentimeter der Gehirnoberfläche ca. 30 000 Synapsen 65 — und zwar bis etwa zum sechsten Lebensjahr. Aber dann ist noch lange nicht Schluß. Einzelne Gehirnareale und -organe kommen erst mit der Pubertät zur endgültigen Ausreifung (wie das Stirnhirn), andere (wie die Temporallappen) erst mit Abschluß der Adoleszenz. 66 Gerade diese so erstaunlich spät abgeschlossenen Entwicklungsprozesse sind offenbar notwendig für die Persönlichkeitsentwicklung, die Ausformung sicherer Selbst- und Fremddifferenzierungen und für die Entwicklung eines autobiographischen Gedächtnisses. Im übrigen finden sich zunehmend (allerdings umstrittene) Belege dafür, daß sich Neuronen lebenslang neu bilden — eine Erkenntnis, die bis vor kurzem für unmöglich gehalten wurde. 6 7 Kurz: Wir haben es beim menschlichen Gehirn mit einem außergewöhnlich lange außergewöhnlich unfertigen Organ zu tun. Was Menschen lange schon vor der endgültigen Ausreifung zu tun in der Lage sind, ja was sie schon vom Tag der Geburt an können, verdeutlicht einmal mehr die Vollkommenheit dieses Organs, des geschmeidigsten und entwicklungsfähigsten Wandlungskontinuums, das die Evolution hervorgebracht hat. In seinem Entwicklungspotential und seiner Offenheit für die formenden Einflüsse natürlicher und sozialer Umwelten liegt der Grund für den Uberlebensvorteil der menschlichen Spezies: Kein anderes Lebewesen kann sich unterschiedlichen und sich verändernden Umweltbedingungen so gut anpassen wie der Mensch. Gattungsgeschichtlich ist das ein Kennzeichen äußerster Robustheit, aber bezogen auf das Individuum gibt es kein Lebewesen, das weniger robust und überlebensunfähiger wäre als ein kleiner Mensch. Der Umstand, daß bei der menschlichen Spezies biologische und soziale Entwicklung zusammenfallen, sorgt nicht nur für seine einzigartige Entwicklungsfähigkeit, sondern auch für eine einzigartige Verletzlichkeit und Störbarkeit seiner Entwicklung. Und damit kommen wir zurück zur Entwicklung der neuronalen Verschaltungsarchitektur.

Neuronen verändern sich in der Reaktion auf äußere Reize, und die Netzwerke, in denen sie assoziiert sind, tun dies unweigerlich auch. Die neuronalen Repräsentationen einzelner Elemente der Erfahrung der äußeren Welt sind desto stabiler, je häufiger sie aktiviert werden. Durch Wiederholung des spezifischen Aktivierungsmusters entsteht so etwas wie eine sensibilisierte neuronale Reaktion: «Einmal sensibilisiert, kann die gleiche neurale Aktivierung auch durch zunehmend weniger intensive äußere Stimuli ausgelöst werden.» 68 Deshalb kann der eigentümliche Effekt entstehen, von dem eingangs — am Beispiel des Streits im Treppenhaus — die R e d e war: Eine Reaktionsweise, ein erlerntes Verhaltensmuster kann auch dann aktiviert werden, wenn ein vergleichsweise geringfügiger, aber genügend ähnlicher Auslöser vorliegt. In dem skizzierten Streit brauchten die Kontrahenten gar nicht demselben Gefühl von Kränkung oder Bedrohung ausgesetzt zu sein, das irgendwann in ihrer Lebensgeschichte ihr besonderes Reaktionsmuster darauf ausgebildet hatte - es genügt nun ein Signal, daß hier eine Kränkung oder Bedrohung vorliegen oder entstehen könnte, um das Verhaltensmuster zu aktivieren, gleichgültig, wie angemessen oder unangebracht es für die gegebene Situation ist. Weil es sich bei dem Treppenhausbeispiel um etwas vergleichsweise Harmloses und Alltägliches handelt - ein Vorgang im Rahmen nur leicht verschobener sozialer Konvention und Kontrolle —, kann auch das erwähnte Gefühl der Entfremdung dem eigenen Verhalten gegenüber empfunden werden: Man kann sich über sich selbst, d.h. über das eigene Verhalten, ärgern. Das aber bedeutet, daß noch weitere Maßstäbe zur Bewertung und R e l a tivierung des eigenen Verhaltens verfügbar sind; die Person ist nicht vollständig in ihrem Verhaltensmuster befangen. Ganz anders sieht das aus, wenn Menschen — und besonders Kinder — Erfahrungen gemacht haben, die deutlich außerhalb der Bandbreite sozial und psychisch konventioneller Erlebnisse liegen, das heißt von Erlebnissen, die erwartbar und zu bewältigen sind: Mißbrauchserfahrungen, Erfahrungen von körperlicher Gewalt und Mißhandlung, von Situationen e x -

tremer und unausweichlicher Hilflosigkeit etc. Solche traumatisierenden, also im Wortsinn verletzenden Erfahrungen hinterlassen deutliche Spuren im weiteren Leben der Betroffenen. Besonders an den psychischen Problemen zurückgekehrter Vietnam-Veteranen ist das Phänomen der sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD = post-traumatic stress disorder) deutlich geworden: Die Patienten litten an den Erfahrungen, die ihnen Situationen extremer Gewalt und Grausamkeit im Krieg vermittelt hatten, noch lange nachdem der Krieg beendet war. Sie litten - und leiden - an Schlaflosigkeit, Angstzuständen und besonders an Flashbacks, akuten Panikzuständen, die durch einen Auslösereiz aktiviert werden, der einem R e i z in der ursprünglich traumatisierenden Situation ähnlich ist oder entspricht. Z u m Beispiel kann die Fehlzündung eines vorbeifahrenden Motorrads, die dem G e räusch eines Schusses ähnelt, oder das Zerbersten einer Glasscheibe, das einem Geräuschausschnitt aus einer erlebten Kampfsituation gleicht, genau die Angst wieder auslösen, die der Betroffene in der Situation des Krieges erlebt hat. Die Reaktion erfolgt, obwohl sie angesichts des gegenwärtigen Auslösers ganz und gar unangemessen ist: D e r Betroffene wirft sich zum Beispiel sofort zu Boden, um Deckung zu suchen, und durchlebt für einen Moment (oder für eine ganze Weile) genau jene Angst aufs neue, die er seinerzeit erlebt hat. Auch hier hat die traumatisierende Erfahrung eine Sensibilisierung des Aktivierungsmusters erzeugt, gegen die der Betroffene sich durch bloßes Nachdenken nicht wehren kann. Er leidet an dem erlebten Trauma und den mit ihm verbundenen Reaktionen, oft lebenslänglich. Ich komme auf dieses Phänomen im Kapitel über emotionale Erinnerung noch einmal genauer zu sprechen. Im Augenblick geht es um das Phänomen, daß in ein entwickeltes, reifes G e hirn eine Erinnerung an einen Zustand eingebaut worden ist, der von extremer Angst gekennzeichnet ist - eine nachhaltig wirksame Erinnerung. Es hat eine «gebrauchsabhängige Internalisierung der Angstreaktion» stattgefunden, wie der K i n derpsychiater Bruce D. Perry formuliert hat. Auch das reife

Gehirn ist offen für die Etablierung neuer neuronaler Muster, die hinzukommende Erfahrungen repräsentieren. Im Fall des Traumas wird eine lebensbedrohliche Situation und die darauf antwortende Reaktion repräsentiert, die für das Uberleben wahrscheinlich funktional war. Nun kann das Besondere von traumatischen Erfahrungen darin liegen, daß sie sich bewußter Erinnerung und intentionaler Beeinflussung deswegen entziehen, weil sie im Moment ihrer Entstehung gar nicht erst in den Rir die Speicherung deklarativer Gedächtnisinhalte zuständigen Teil des Gedächtnissystems gelangen. Gleichzeitig sind sie aber präsent und verhaltensbestimmend, wenn auch auf eine dem Betroffenen nicht zugängliche Weise. Daß traumatische Erfahrungen in unser Gehirn «eingraviert» werden, ist ein besonders einprägsames Bild für diesen Sachverhalt. 69 Der größte Unterschied zwischen anderen impliziten Erinnerungen und solchen, die auf eine Traumatisierung zurückgehen, liegt in dem Umstand, das letztere nachweisbare und dauerhafte körperliche Veränderungen bei den Betroffenen hervorrufen. «The Body Keeps the Score» 70 heißt folgerichtig der Titel einer einschlägigen Untersuchung. So sind bei Personen, die unter P T S D leiden, dauerhaft erhöhte Hormonausschüttungen, erhöhte Eiweißkonzentration im Urin, aber auch auffällige Schwächungen des Immunsystems festgestellt worden. Solche körperlichen Auswirkungen können bis zur irreversiblen Schädigung des Hippocampus, einem zentralen Hirnorgan Rir die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten, gehen. 7 1 Die Sensibilisierung des durch eine traumatisierende Erfahrung entstandenen Aktivierungsmusters sorgt dafür, daß es auch dann aktiv wird, wenn de facto gar keine Gefahr vorliegt. Das macht das Problem des Patienten aus: Die Reaktion auf die traumatisierende Erfahrung, die ursprünglich, zum Zeitpunkt ihres Entstehens, eine adaptive Reaktion war, die sein Uberleben sicherte (wie das Sich-zu-Boden-Werfen), ist nun alles andere als funktional, findet aber dennoch statt. D i e ser dramatische Effekt kann durch eine (wiederholte oder

einmalige) Traumatisierung im Erwachsenenalter hervorgerufen werden: Die lebenslange Plastizität des Gehirns, seine Offenheit fiir neue Erfahrungen, reicht dafür aus, ein solches erfahrungsabhängiges, die Schädigung wiederholendes Aktivierungsmuster zu etablieren. Wenn das bei Erwachsenen der Fall ist, kann man sich ohne weiteres vorstellen, wie verheerend traumatisierende Einflüsse auf Kinder wirken: Denn hier trifft das traumatisierende Ereignis auf eine Struktur, die erst im Entstehen ist. Es wird nicht bloß eine Angstreaktion internalisiert und im Falle der Wiederholung sensibilisiert, sondern die erlebte Angst und die eigene Reaktion darauf beeinflußt die Organisationsstruktur des sich entwickelnden neuronalen Netzes selbst, ja sogar die Entwicklung der einzelnen Hirnorgane (wie des Hippocampus). Perry beschreibt das so: «Im heranreifenden Gehirn sind die undifferenzierten neuronalen Systeme entscheidend von umweit- und mikroumweltbedingten Hinweisen (zum Beispiel Neurotransmittern, zellularen Adhäsionsmolekülen, Neurohormonen, Aminosäuren, Ionen) abhängig, um ihre noch undifferenzierten, unreifen Formen angemessen organisieren zu können.» 72 Wenn im Prozeß des Heranreifens durch traumatisierende Einwirkungen die Ausschüttung des j e w e i ligen Hormons blockiert oder unterbrochen wird, kann das eine Beeinträchtigung der betroffenen Systeme insgesamt zur Folge haben: Wenn es während kritischer Entwicklungsphasen zur Störung der neurochemischen Signale kommt, die innerhalb des sich bildenden Netzwerks von Neuron zu N e u ron weitergegeben werden, können erhebliche und zum Teil irreversible «Anomalitäten oder Defizite der Neuroentwicklung die Folge» sein. Solche Anomalitäten können «(i) auf einem Mangel an sensorischem Erleben während kritischer Phasen beruhen oder — der häufigere Fall — (2) auf atypischen oder anomalen neuronalen Aktivierungsmustern infolge e x tremer Erfahrungen (zum Beispiel Kindesmißhandlung)» zurückgehen. 7 3 Natürlich kann das sich in der Entwicklung, d.h. sich in der langen Phase der Organisation seiner eigenen Struktur be-

findliche Gehirn des Kindes durch solche gravierenden Erfahrungen leichter geformt werden als das entwickelte, reife G e hirn eines Erwachsenen. «Erfahrung kann das Gehirn eines Erwachsenen verändern, flir einen Säugling und ein Kind aber stellt sie in einem ganz konkreten Sinn den Organisationsrahmen dar. Da das Gehirn in der frühen Kindheit ungeheuer plastisch (Umwelteinflüssen gegenüber offen) ist, reagiert das Kind auf Veränderungen seines Erlebens in dieser Zeit sehr empfindlich.» 74 Perry zieht daraus den Schluß, daß dies der destruktivste und zugleich am wenigsten verstandene Effekt von Kindesmißhandlung ist - die traumatisierende Erfahrung erzeugt neuronale Aktivierungsmuster, die die Organisation und A k tivität wichtiger sozialer Funktionen im heranwachsenden Kind selbst verändern, zum Beispiel die Regulation seiner Affekte, seine Fähigkeit zur Bindung, die Entwicklung von Empathie usw. Technokratisch gesprochen, finden durch die vielfältigen biochemischen Reaktionen, die eine extreme Streßsituation hervorruft (beispielsweise die gesteigerte Ausschüttung von Noradrenalin, um den Körper fluchtbereit zu machen), «Fehlanpassungen» statt: Eine Art Ubererregung der zentralen Funktionen des Nervensystems, die in der Situation der drohenden Verletzung eine adäquate körperliche R e a k tion zur Abwendung der Gefahr darstellen, generalisiert sich bei wiederholter oder fortgesetzter Traumatisierung zu einem permanenten Angstzustand. Auch das Gegenteil kann der Fall sein: Man kann einer Gefahr auch durch eine Starrereaktion begegnen und die Mißhandlung scheinbar unbeteiligt über sich ergehen lassen. Die psychische Folge dieser «Ergebungsreaktion» besteht in Dissoziation: Das Kind distanziert sich von dem, was ihm «von außen» geschieht, und konzentriert sich auf seine Innenwelt. Auch diese Reaktionsweise kann generalisiert werden, so daß ganz alltägliche, eigentlich harmlose Stressoren extreme Reaktionen der Hypererregung oder der dissoziativen Starre hervorrufen können. 7 5 Perry formuliert diese bedrückenden Befunde auf der Grundlage seiner Untersuchungen mit schwer traumatisierten Klein-

kindern und Säuglingen, wobei zu betonen ist, daß einmalige Traumatisierungen (durch einen Unfall zum Beispiel) keineswegs zu den beschriebenen Folgen fuhren müssen. Das U b e r wiegen anders gelagerter Erfahrungen kann die traumatische Erfahrung relativieren, überdecken oder verschwinden lassen. Die Wiederholung der traumatisierenden Situation, die Erzeugung wiederkehrenden extremen Stresses allerdings erzeugt die beschriebene Sensibilisierung und die verheerenden Folgen in der psychischen Organisation des Kindes und in der neuronalen Organisation seines Gehirns, die sich im schlimmsten Fall nicht mehr heilen lassen. Übrigens geht man in der Entwicklungspsychologie davon aus, daß es leichter Streß ist, der Entwicklung in einem konstruktiven Sinn ermöglicht: Die Anforderung, die durch eine neue Erfahrung, eine unbekannte Aufgabe an das Kind gestellt wird, wird dann zur Entwicklung neuer Fähigkeiten und Kompetenzen führen, wenn sie — v o m Kind allein oder mit Hilfe anderer Personen — zu bewältigen ist. Die Anforderung, die durch extremen Streß erlebt wird, führt zwar zu einer Bewältigungsreaktion, nicht aber zur Bewältigung. Gleichwohl werden die Folgen der Bewältigungsreaktion entwicklungsbedeutsam. Vor dem Hintergrund der Reaktionen auf extreme Erfahrungen können wir allgemein die Bedeutung einschätzen, die in der Erfahrungsabhängigkeit der Gehirnentwicklung liegt: Es ist das Zusammenspiel organischer, bio- und neurochemischer Vorgänge mit Faktoren aus der sozialen Umwelt des Kindes, die diese Entwicklung steuert. Dieses subtile Zusammenspiel kann man etwa daran verdeutlichen, daß Perry Fälle beschreibt, in denen sehr kleine Kinder ein traumatisierendes Ereignis sehr gut verarbeitet hatten. In manchen dieser Fälle waren aber, wie bei einem Autounfall, die primären Bezugspersonen des Kindes durch dasselbe Ereignis traumatisiert und erzeugten durch ihre eigene Angst und Übererregung in ihren Kindern eine erneute oder — wie Perry sagt — «spiegelnde» Angstreaktion. Vor dem Hintergrund solcher Fälle kann man einerseits emiessen, was es heißt, wenn - wie in

vielen Fällen von Kindesmißbrauch — eine unmittelbare B e zugsperson der Verursacher des (wiederholten) Traumas ist. Es entsteht eine Kumulation der angstauslösenden und desorientierenden Reize, die im sozialen Umfeld des Kindes gerade nicht moderiert oder gar aufgefangen, sondern verstärkt werden. Andererseits zeigen solche Fälle ganz allgemein die zentrale Rolle, die die (gelingende oder mißlingende) soziale Interaktion flir die Entwicklung der neuronalen Verschaltungsarchitektur des kindlichen Gehirns spielt: d.h. flir die Entwicklung seiner Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen und diese Wahrnehmungen angemessen zu interpretieren, zu verarbeiten und auf der Grundlage dieser Erfahrungen neue Wahrnehmungen und Deutungen zu machen und neue A n forderungen zu bewältigen. Entwicklung ist in diesem Sinne sequentiell und hierarchisch: Was an Mustern angelegt wird, bildet den R a h m e n Rir die Etablierung neuer, darauf aufbauender Muster. Diese Muster entstehen — im Verlauf der Entwicklung immer ausgeprägter — in der Interaktion zwischen den genetisch prädisponierten biochemischen und neurophysiologischen Entwicklungsprozessen und den Signalen und Informationen, die aus der Umwelt und besonders aus der Mikroumwelt des Kindes kommen. Ein wesentlicher Teil davon besteht — da das Kind unweigerlich in eine soziale Welt hineinwächst — aus interpersonellem Austausch und, später, aus intersubjektiver Erfahrung. Dieser Umstand hat den Psychiater Daniel Siegel zu der prägnanten Formulierung veranlaßt, daß menschliche Verknüpfungen neuronale Verknüpfungen formen. 7 6 Fassen wir zusammen: Das Gehirn ist ein auf erstaunliche Weise erfahrungsabhängiges Organ. Während das neuronale Netzwerk im Erwachsenenalter beständigen Veränderungen unterliegt, die aus der Verarbeitung von körperinternen und -externen Informationen hervorgehen, liefern Signale aus der Umwelt beim Säugling, Kleinkind, Heranwachsenden und noch beim jungen Erwachsenen Modifikationsanlässe für neuronale Systeme, die in Entwicklung begriffen sind. Sie wirken damit direkt auf die sich entwickelnde Organisations-

Abb. 6: Schema der Erfahrungsabhängigkeit der Gehirnentwicklung struktur des Gehirns ein und somit auf die Möglichkeiten der sich entwickelnden Persönlichkeit zur Problembewältigung und Weltaneignung. G a n z unabhängig davon, ob w i r es mit gelingenden oder mißlingenden Interaktionsprozessen zu tun haben, können w i r vor dem skizzierten Hintergrund ein einfaches Schema zur Darstellung erfahrungsabhängiger Gehirnentwicklung skizzieren (siehe Abb. 6). Bisher war viel mehr v o m Individuum und seinem Gehirn, seinem Gedächtnis und seiner Persönlichkeit die R e d e als von der sozialen Situation, in der es sich befindet. Diese Schlagseite in der Perspektive kennzeichnet den weit überwiegenden Teil der neurowissenschaftlichen Literatur, die sich mit der Entwicklung des Gehirns, des Gedächtnisses und der Persönlichkeit beschäftigt. Das ist kein Wunder, denn schon die Vorgänge, mit denen man es bei der Gehirnentwicklung eines einzelnen Menschen zu tun hat, überschreiten in ihrer K o m plexität schnell unser Vorstellungsvermögen - und schneller noch die Möglichkeiten, die diesbezüglichen Annahmen, Vorstellungen und Modelle empirisch zu prüfen. D e r Einfluß einer besonderen Interaktionssituation zwischen Mutter und K i n d auf die Strukturierung eines bestimmten Engranuns im Gehirn des Kindes (oder der Mutter) läßt sich nicht abbilden, nur erschließen. D e r schon zitierte Neurobiologe Gerald Huether hat den gegenwärtigen Entwicklungsstand unseres

Wissens um diese Einflüsse denn auch etwas melancholisch beschrieben. Er spricht von bio-psycho-sozial gebahnten neuronalen Verschaltungen, betont aber, daß die bildgebenden Verfahren, mit denen man Gehirnaktivität in unterschiedlichen Arealen und Organen des Gehirns messen kann, noch weit entfernt davon seien, «diese Bahnungsprozesse darstellen zu können. Was wir mit diesen Techniken gegenwärtig erreichen können, ist bestenfalls vergleichbar mit dem, was Luftbildaufnahmen einer Großstadt im Nebel über das Leben der Menschen in dieser Stadt aussagen. Wir können die Lage und Größe einzelner Stadtteile und die bereits besonders befahrenen Verbindungsstraßen vermessen. Mit Hilfe funktioneller Verfahren läßt sich erkennen, in welchen Regionen normalerweise mehr Betriebsamkeit herrscht und wie sich die Verhältnisse verändern, wenn mehr oder weniger gezielt in das alltägliche Getriebe eingegriffen wird. Mit Hilfe von P E T und SPECT-Verfahren läßt sich die Verteilung spezifischer (wie wir hoffen, besonders wichtiger) Komponenten aus dem Nebel hervorheben und kartieren, vielleicht auch beschreiben, wie sich dieses Verteilungsmuster nach bestimmten Manipulationen ändert. Ob die betreffende Stadt aber gut oder schlecht organisiert ist, von w e m und wohin die Haushaltsmittel gelenkt werden und was die Menschen bewegt, ihre Stadt so und nicht anders zu gestalten, darüber geben die bildgebenden Verfahren nur sehr verschwommen Auskunft.» 77 Dieser Befund ist, so melancholisch er daherkommt, gewiß richtig. Wenn es aber zutreffend ist, daß das Gehirn ein erfahrungsabhängiges Wandlungskontinuum ist, kommen wir vielleicht auch nicht sehr viel weiter, solange wir nur es selbst betrachten und nicht die Art und Weise, wie die Erfahrungen an es herangetragen werden. Für eine bessere Durchdringung des Luftbildes von der «Stadt im Nebel» könnte es hilfreich sein, genauer zu betrachten, was denn die Faktoren und Prozesse sind, die jene Erfahrungen ausbilden, deren Korrelate die neuronalen Repräsentationen sind, die das sich entwickelnde Gehirn strukturieren und prägen. Diese Faktoren

sind andere Menschen, und die Prozesse bestehen in der B e wältigung der Anforderungen, die das Zusammensein mit anderen an das Kind stellt. Der Nebel über der Stadt wird sich nur lichten lassen, wenn wir nicht nur die Ergebnisse von Interaktionserfahrungen betrachten (oder zu betrachten versuchen), sondern die Interaktionen selbst, die die Erfahrungen hervorbringen. Dafür allerdings muß das Individuum als Teil einer sozialen Figuration betrachtet werden, in der es eine aktive Rolle einnimmt und in subtiler Abstimmung mit den Handlungen seiner Bezugspersonen eine innere Welt aufbaut, indem es mit einer äußeren interagiert. Das bedeutet, das Kind (und sein sich entwickelndes Gehirn) nicht als etwas zu betrachten, das «Informationen verinnerlicht», die von außen hereinströmen, sondern daß es selbst immer schon Teil dessen ist, was es erfahrt, weil es Erfahrungen immer nur in der Relation seiner selbst zu anderen machen kann. Weil diese anderen Mitglieder einer Kultur sind und weil ihr Wissen und ihr Handeln eine Geschichte haben, gehen K i n der nicht mit «Informationen» im Sinne von Reizen und Signalen um, sondern mit Handlungen, die für sie Bedeutung haben. Die Repräsentation dieser Handlungserfahrungen kommen nicht von außen, sondern entstehen im Inneren des Kindes als - wie der Entwicklungspsychologe Daniel Stern sagt — Repräsentation der Erfahrung des beginnenden Selbst, mit jemandem zusammenzusein. «In die Innenwelt wird nichts hineingenommen. Selbst wenn der Säugling jemanden nachahmt und in diesem Moment wie der andere handelt und fühlt, wird er eine Repräsentation davon aufzubauen beginnen, wie er selbst sich, in seinem eigenen Inneren, fühlt, während er auf diese bestimmte Weise mit dem anderen zusammen ist.»78

IV. Zusammensein mit anderen. Die Bildung des kommunikativen Gedächtnisses

In der Tat haben entwicklungspsychologische Studien in den letzten drei Jahrzehnten gezeigt, daß sich bereits in den ersten beiden Lebensmonaten des Säuglings Interaktionen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen beobachten lassen — in dem Sinne, daß die Babys ihre Bewegungen und wahrscheinlich auch ihre Gefühle in Abstimmung mit den Bewegungen, Handlungen und Gefühlen deijenigen regulieren, mit denen sie zusammen sind. 79 Die Erkenntnisse, die insbesondere mit Einführung der Videotechnik im Bereich der frühen Entwicklung gewonnen worden sind, haben das Bild vom Säugling gegenüber zuvor vorherrschenden Positionen radikal verändert: Offenbar schon von Anfang an besitzt der Säugling die Fähigkeit, genau sequenziert Blicke und auch Laute mit der Mutter auszutauschen. Solche frühen Interaktionsprozesse stabilisieren und erweitern sich in wechselseitiger, höchst subtiler Abstimmung schnell zu Mustern. Die genaue Protokollierung von Mikrosequenzen früher Interaktionen in extremer Zeitlupe haben gezeigt, daß schon sehr kleine Kinder nicht als passive Reaktionsbündel aufzufassen sind, auf die lediglich «von außen» etwas einströmt, sondern als aktive Wesen, die ihrerseits Aktionen und Reaktionen der Mutter durch das Suchen oder Abwenden des Blickkontakts initiieren und beeinflussen können. Selbst kleinste Kinder sind keineswegs passive Objekte in einem amorphen Universum undifferenzierter Eindrücke (in «blooming buzzing confusion», wie William James Ende des 19. Jahrhunderts gemeint hat), sondern erstaunlich kompetente Akteure, deren Interaktionserfahrungen zunehmend ihre innere und äußere Wahrnehmung im Zusammensein mit anderen strukturieren.

Es geht hier nicht um bewußte oder intentionale Vorgänge, sondern um Aktionspotentiale, die zur basalen Ausstattung des Kindes gehören, aber wiederum durch soziale Austauschprozesse, d.h. durch Erfahrung, organisiert werden. Man wird hier, im Unterschied zu dem auf diesem Feld führenden Entwicklungspsychologen C o l w y n Trevarthen, nicht schon von einer «primären Intersubjektivität» sprechen können 80 - denn die würde eine zumindest rudimentäre Übernahme der Perspektive des Gegenübers durch das Baby voraussetzen. Aber gewiß wird man Trevarthen vor dem Hintergrund der Befunde, die ich gleich darstellen werde, darin zustimmen können, daß bereits Neugeborene mit einer «readyness for communication» auf die Welt kommen, die sie in die Lage versetzt, aktiv mit ihrer sozialen Umwelt zu kommunizieren. Schon das Neugeborene zeigt im Vergleich klare Präferenzen für menschliche gegenüber nicht-menschlichen Reizen, und zwar in unterschiedlichen Modalitäten seiner Wahrnehmung. R e d d y et al. nennen hier die Bevorzugung von Gesichtern gegenüber unbelebten oder zufälligen Mustern, des Klangs der menschlichen Stimme gegenüber anderen Tonfolgen (auch wenn diese dieselbe Tonhöhe und Intensität haben), von Muttermilch gegenüber Kuhmilch und vieles anderes mehr. Darüber hinaus werden schon in den ersten Tagen Merkmale (wie Stimme, Gesicht, Geruch) der Personen, die mit dem Kind unmittelbar zu tun hatten, den Merkmalen anderer, unbekannter Personen vorgezogen 81 — was, wie schon erwähnt, z.T. auf pränatal entstandene Aktivierungsmuster zurückgeht (wie im Fall der Präferenz für die Stimme der Mutter). Aber Neugeborene sind nicht nur erpicht auf menschliche Reize, sie scheinen auch ohne weiteres dazu bereit zu sein, bestimmte dieser Reize zu imitieren. In mehr als zwanzig Studien aus verschiedenen Ländern ist belegt worden, daß frisch geborene Babys eine R e i h e von Handlungen zu imitieren in der Lage (und willens) sind. Hier geht es um das Herausstrecken der Zunge, das Formen eines O - f ö r migen Mundes und das Hervorbringen eines A-Lautes. 82 Wohlgemerkt: Die untersuchten Neugeborenen reagierten

weder reflexartig und unwillkürlich noch zufällig und willkürlich auf die gebotenen Reize, sondern jeweils in genauer Abstimmung mit dem Experimentator (sie streckten also nicht die Z u n g e heraus, nachdem dieser ein «O» vorgemacht oder «A» gesagt hatte). Die jüngste Versuchsperson war 42 M i nuten alt, die älteste 72 Stunden. Wie Meltzoff & Moore resümieren, kann man die Antwort eines Menschen auf einen anderen nicht viel weiter zurück verfolgen: «This is the initial State.» 8 3

Meltzoff & Moore merken an, daß es sich bei diesen frühen Imitationen um Aktivitäten des Kindes handelt, die es selbst steuert. Das zeigt sich unter anderem daran, daß selbst dann, wenn das Kind durch Verabreichung eines Schnullers nicht unmittelbar mit dem Herausstrecken der Z u n g e oder dem Zeigen des « 0 » - M u n d e s reagieren kann, es in dem A u g e n blick, in dem der Schnuller entfernt wird, die Imitation zeigt, auch wenn der Experimentator dann schon wieder ein neutrales Gesicht macht. Meltzoff & Moore konnten sogar nachweisen, daß Neugeborene die Imitation wiederholten, wenn sie den Experimentator am nächsten Tag wiedersahen — ohne daß dieser das «0»-Gesicht machte oder die Z u n g e herausstreckte. 84 Trevarthen nimmt an, daß solche Fähigkeiten voraussetzen, daß Personen bereits auf irgendeine Weise zerebral repräsentiert sind — in Form eines «motorischen B i l des» der Bewegungen des anderen. 8 5 Katherine Nelson weist daraufhin, daß eine Imitation etwas anderes ist als eine bloße Kopie einer Eigenschaft oder eines Musters: Es ist die Aktivierung einer Funktion, um ein Verhalten hervorzubringen, das von einer anderen Person gezeigt worden ist. 86 Diese Aktivierung findet nicht willkürlich, sondern in Bezogenheit auf ebendiese andere Person statt — und diese Bezogenheit ist Teil der imitatorischen Anstrengung. Die dargestellten Befunde lassen jedenfalls mit einiger Sicherheit darauf schließen, daß schon extrem frühe Erfahrungen im Gehirn des Neugeborenen Repräsentationen bilden — R e präsentationen, die, wie Daniel Stern betonen würde, nicht nur den vom Experimentator gegebenen Reiz beinhalten,

sondern zugleich auch die Reaktion, die das Baby darauf gezeigt hat. Ich selbst war auf sehr anrührende Weise mit der Repräsentation einer Erinnerung eines Neugeborenen konfrontiert, als mein Sohn Nicholas einige Stunden nach seiner Geburt, die zu Hause stattfand, auf meiner Brust schlief. Dabei träumte er offenbar. Was, weiß ich nicht, aber seine Atemfrequenz und sein ganzer Körpertonus änderte sich beständig in nicht ganz rhythmischen, aber stets wiederkehrenden Wellen, und dies eine ganze Weile. Ich schlief dann auch ein und berichtete am nächsten Tag der Hebamme von diesem anrührenden Erlebnis. «Ja, das machen sie alle», sagte diese w e nig beeindruckt, «das merkt nur keiner, weil das auf den Säuglingsstationen niemand mitkriegt.» Im Schlaf hatte das Neugeborene offenbar die stärkste Erfahrung des jungen Lebens wiederholt: die sequenzierten A n strengungswellen seiner eigenen Geburt. Da ich zu diesem Zeitpunkt keinerlei Kenntnis von den Befunden der neueren Entwicklungspsychologie hatte, war ich so gerührt wie irritiert. Z w a r handelt es sich bei diesem Beispiel um den Grenzfall einer Repräsentation des Zusammenseins mit anderen — eher ist es eine Repräsentation (und wohl die zentrale) der Trennung vom anderen. A u f j e d e n Fall ist es aber eine Repräsentation, und es mag lohnend sein, einen kurzen Uberblick zu geben, was, woran und wie sich Säuglinge nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung «erinnern» können. Daniel Stern weist daraufhin, daß die Entwicklung des kleinen Kindes keineswegs kontinuierlich verläuft, sondern in kritischen, diskontinuierlichen Entwicklungssprüngen, denen sich jeweils Phasen anschließen, die offenbar der Stabilisierung neu erworbener Fähigkeiten dienen. Die zentralen Aufgaben in den ersten zwei bis zweieinhalb Monaten des Lebens betreffen die «Regulation der Trink-, Schlaf-, Wachheits- und Aktivitätszyklen». 87 Die Interaktionen zwischen Mutter und Kind — das Lächeln, der Blickkontakt, das Sprechen der M u t ter mit dem Baby — begleiten diese Aktivitäten und sind zugleich ein Teil von ihnen. Diese frühen, noch überwiegend von der Bezugsperson 88

regulierten Interaktionserfahrungen stabilisieren sich im Lauf des ersten halben Lebensjahres so weitgehend, daß das Kind eine immer aktivere Rolle in den wechselseitigen Abstimmungsspielen einzunehmen beginnt. Durch Lächeln, Blicke und Bewegungen versucht es, analoge antwortende Reaktionen des Gegenübers hervorzurufen, und die Kinder zeigen deutlichen Unwillen, wenn auf ihre Interaktionsangebote nicht eingegangen wird. Die Erwartung einer Reaktion ihres Gegenübers verlangsamt bei zwei Monate alten Säuglingen den Herzschlag, Imitation beschleunigt ihn. 89 Trevarthen betont, daß die Fähigkeit zur wechselseitig abgestimmten Interaktion ausgebildet ist, noch bevor das Kind in der Lage ist, mit Objekten in einer intentionalen Weise umzugehen. Er nennt diese Fähigkeit zur Interaktion «protokonversationell» — eine vororganisierende Form des Sprechens mit gestischen, vokalisierenden und expressiven Mitteln. Die sichere Herausbildung solcher protokonversationeller Kompetenz ist natürlich abhängig davon, daß das Kind in einer Entwicklungsumgebung aufwächst, in der seine Aktivitäten und Aufforderungen angemessen beantwortet werden - Studien mit depressiven Müttern etwa haben gezeigt, w i e sensibel Kinder auf die Nichtbeantwortung ihrer Initiativen reagieren und welche negativen Folgen mißlingende Interaktionserfahrungen für ihre weitere Entwicklung haben. Wenn die Entwicklung aber weitgehend harmonisch verläuft, gewinnen Kinder in den folgenden sechs Monaten ihres Lebens zunehmend die Fähigkeit, sich gemeinsam mit ihren unmittelbaren Bezugspersonen auf etwas Drittes — ein O b jekt, ein Ereignis, eine Person — zu beziehen. Es findet hier also ein Ubergang von «Person-Person-Spielen» zu «PersonPerson-Objekt-Spielen» statt.90 Hierbei handelt es sich insofern um ein neues, äußerst wichtiges Entwicklungsstadium, als die Fähigkeit, sich zusammen mit einer anderen Person mit etwas Drittem zu beschäftigen oder, anders gesagt, eine gemeinsame Aufmerksamkeit auf etwas Drittes zu entwickeln, eine Form der Perspektivenübernahme voraussetzt: Die Interaktionspartner richten ihr gemeinsames Interesse auf ein

Objekt und die Absicht, etwas mit ihm zu tun. Dies ist der Beginn von Intersubjektivität, denn es setzt die Fähigkeit voraus, die Absichten des anderen zu entschlüsseln. Ablesbar ist der Eintritt in diese Phase der Entwicklung an solchen gemeinsamen Bezugnahmen auf etwas Drittes («social referencing») und einer gemeinsamen Affektabstimmung. 9 1 Besonders instruktiv ist die Veränderung des gemeinsamen Spielens in der Ubergangsphase um die Mitte des ersten Lebensjahres: Während in der spielerischen Interaktion, die sich zunächst — wie beim Kitzeln und Necken - auf den Körper des Babys bezog, mittels körperlicher Abfolgen und Routinen und begleitender Vokalisierungen «geschichtenähnliche Abläufe» ausgebildet haben, wechselt die Aktivität nunmehr auf die «Verwendung von Spielzeugen in Spielen, in denen affektive Gesten und Töne mit Versuchen einhergehen, gegenstandsbezogene Anforderungen zu meistern. Spiele mit Dingen, durch die das Baby zum regulierten Austausch von Absichten und Gefühlen bewegt wird, stellen allmählich die Bereitschaft zu gemeinsamer Aufmerksamkeit und kooperativen Zielsetzungen her — und zur gemeinsamen Aushandlung solcher Zielsetzungen.» 92 Während sich in der Wir-Gruppe der Familie im Kind ein Bewußtsein vom «Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen» herausbildet, erregen fremde Personen in ihm Gefühle von Angst, Unsicherheit und Mißtrauen - das Phänomen der bekannten «Achtmonats-Angst». Deutlich wird hier, daß die Entwicklung zunehmender intersubjektiver Kompetenzen nicht losgelöst von den sich zugleich weiterentwickelnden Emotionen betrachtet werden kann — und Emotionen können wir vor diesem Hintergrund als «Regulative von interpersonellen Kontakten und Beziehungen» auffassen. 93 Ich werde im Kapitel über emotionale Erinnerung noch genauer ausführen, daß Emotionen körperbasierte Evaluationen sind, die die Repräsentationen von Erlebnissen und Erfahrungen mit positiven oder negativen Werten versehen (weshalb man überhaupt aus Erfahrung klug werden kann). An dieser Stelle ist wichtig, daraufhinzuweisen, daß primäre Emotionen,

die — wie Angst, Freude, Zorn, Ekel, Trauer — basal und universell, mithin in ihren Grundformen genetisch determiniert sind, im Prozeß der voranschreitenden interpersonellen E r fahrung Form gewinnen - und so die Gestalt jener sozialen Regulative annehmen, die Trevarthen in ihnen sieht. Wenn es zutreffend ist, daß Emotionen Evaluationen von Erfahrungen sind, die gebraucht werden, um aus diesen Erfahrungen in vielerlei Hinsicht zu lernen, dann heißt das in entwicklungsbezogener Perspektive, daß die Kriterien flir diese Evaluationen sozial geformt werden - im organisierten und organisierenden Prozeß des interpersonellen Austauschs. Dies wird zum Beispiel auch daran sichtbar, daß die Mutter im Spiel mit dem Kind immer auch deutlich macht, welche emotionalen Äußerungen des Kindes «sie als legitim und als gemeinsam teilbar betrachtet und entsprechend behandelt und welche nicht.» 94 Bislang befinden wir uns in einer vorsprachlichen Entwicklungsphase, in der aber zum einen von einer Seite (der der Mutter) unablässig gesprochen wird, zum anderen Ereignissequenzen und Handlungsabläufe erfahrbar werden, die protosprachlich organisiert sind: Sie haben einen Anfang, einen Mittelteil und einen Schluß, und sie sind in einer Art grammatischer, jedenfalls wiedererkennbarer und regelhaft ablaufender Struktur organisiert. Bevor wir auf die Ebene der Sprachentwicklung kommen, ist es sinnvoll, genauer zu betrachten, was eigentlich in den interpersonellen Vorgängen steckt, die Trevarthen «protokonversationell» und Stern «protonarrativ» nennt.

l. Die protonarrative Sequenz Die Aufmerksamkeit auf die protosprachlichen Aspekte der interpersonellen Entwicklungsprozesse beruht auf der Überlegung, daß jede Interaktionsform die Grundlage schafft, auf der jede folgende Interaktionsform aufbaut. «Das erfolgreiche Spiel von Mutter und Kind mit einem unbeleb-

teil Gegenstand etwa beruht in hohem Maße auf ständigen Umgestaltungen und Einordnungen im R a h m e n intensiver Face-to-face-Interaktionen. Und später beruht die intersubjektive Bezogenheit in hohem Maße auf der gemeinsamen Basis, die durch das gemeinsame Spiel mit unbelebten G e genständen geschaffen wird.» 95 Auf diese Weise entwickeln sich aufeinander aufbauend Interaktionsweisen, die in irgendeiner Weise im Gedächtnis des Kindes repräsentiert werden. Während auf der einen Ebene, der neurowissenschaftlichen, Modelle davon entwickelt werden können, wie sich Verschaltungsstrukturen etablieren, die durch Erfahrung organisiert sind, können auf einer anderen Ebene, der entwicklungspsychologischen, Modelle davon konzipiert werden, was diese Verschaltungsstrukturen als Repräsentationen beinhalten — und ein solches Modell hat Daniel Stern unter dem Begriff der «protonarrativen Hülle» vorgelegt, einen Begriff, den ich wenig einleuchtend und ziemlich mißverständlich finde, weshalb ich im folgenden von einer «protonarrativen Sequenz» sprechen werde. Der Begriff des «Narrativen» sollte übrigens nicht dazu verleiten, sich diese Form der Repräsentation in irgendeiner Form als sprachlich organisiert vorzustellen. Es geht hier vielmehr um Repräsentationen von nonverbalen Abläufen, deren Struktur die Basis für die spätere Herausbildung der Möglichkeit des Spracherwerbs bildet. Als Repräsentation von gelebter und erfahrener sozialer Praxis wird sie nicht nur die Erfahrung eines anderen oder eines Objekts beinhalten, sondern vielmehr die Erfahrung, die das sich entwickelnde Selbst im Zusammensein mit einem anderen macht. Eine solche R e präsentation ist zuallererst die Repräsentation eines Schemas des Zusammenseins. In Form des Modells der «protonarrativen Sequenz» (Abb. 7) versucht Stern ein solches Schema zu skizzieren: Er wählt das simple Beispiel eines hungrigen Babys, das weint und darauf wartet, daß es gestillt wird. Das Modell umfaßt einen Zeitraum, der mit dem Auftauchen der Mutter beginnt und mit dem Ergebnis des Stillens, also dem Nachlassen des Hunger-

Abb. 7: Protonarrative Sequenz (vereinfacht nach Stern 1998, S. 110) gefiihls, endet. D i e zeitliche Struktur des Auftretens der mit dieser Sequenz verbundenen G e f ü h l e des Babys sieht schematisch etwa so aus w i e in Abb. 7, w o b e i (—) das subjektive H u n g e r e m p f i n d e n bezeichnet, (- - - )den negativen A f f e k t , der durch den H u n g e r hervorgerufen wird, (- - -) die visuelle W a h r n e h m u n g der Mutter, (- . . -) den taktilen Kontakt mit der Mutter, (. . . .) die A r m - und B e i n b e w e g u n g e n des Babys. Deutlich w i r d hier z u m einen die zeitliche S e q u e n zierung des gemeinsamen Handlungsablaufs, die mit einer R e i h e sinnlicher (visueller, taktiler, auditiver, olfaktorischer usw.) R e i z e und emotionaler Zustände einhergeht. Es g e schehen also eine ganze R e i h e von D i n g e n auf ganz unterschiedlichen E b e n e n des Erlebens, die als organisierte E i n heit verschiedener perzeptueller und emotionaler M o d i im Zusammensein mit dem anderen repräsentiert werden — insbesondere dann, w e n n es sich w i e im skizzierten Beispiel nicht um einen einmaligen, sondern um einen wiederholten Vorgang handelt, der m e h r oder minder i m m e r dieselben Phasen durchläuft. Entscheidend ist hierbei, daß der Vorgang

selber und j e d e r seiner einzelnen Bestandteile im Ergebnis «Bedeutung» für das Baby hat: Jedes der interaktiven H a n d lungsmomente erzeugt ein bestimmtes Ergebnis, das auf j e der der beteiligten E b e n e n mit einem G e f ü h l einhergeht. Vor dem Hintergrund dieser Ü b e r l e g u n g e n entwirft Stern ein allgemeines Modell des Schemas des Zusammenseins mit anderen, die als E r f a h r u n g im Gedächtnis des Kindes repräsentiert wird (s. Abb. 8). D e r «emergente Moment» ist das Moment der Praxis selbst, in dem das Kind sich in irgendeiner sozialen Anforderungssituation befindet und die mit ihr verbundenen Sensationen, Affekte usw. mit Hilfe der bereits etablierten Schemata (Gefühlsgestalten, protonarrativen Sequenzen usw.) wahrnimmt. D i e Aktionen, die aus dieser Wahrnehmung resultieren, liefern im selben M o m e n t das Erfahrungsmaterial, mit dem die v o r handenen Schemata bestätigt, ergänzt und weiterentwickelt werden. In die Repräsentation der Erfahrung geht also jedesmal, nach j e d e r gelebten Erfahrung, etwas N e u e s ein; das Schema des Zusammenseins mit anderen erweitert sich beAbb. 8: Schema der Erfahrungsrepräsentation (vereinfacht nach Stern 1998, S. 124)

ständig, w o b e i sich hinsichtlich der Repräsentation von E r innerungsinhalten zunehmend unterschiedliche Bereiche ausdifferenzieren: Phantasie, bestimmte Erinnerungen an einzelne Ereignisse und autobiographische, d. h. selbstbezogene Erinnerungen. Dieses Modell ist überkomplex, weil es implizit eine Entwicklungszeitspanne von etwa sechs Jahren b e i n haltet, die sich deswegen nicht als Prozeß abbilden läßt, weil sich innerhalb des Schemas beständig alles verändert. Sterns Modell ähnelt auf verblüffende Weise viel älteren entwicklungspsychologischen Konzeptionen. Bereits Wygotski hat programmatisch formuliert, daß alles, was das K i n d macht, erfährt und verarbeitet, sozialer Natur sei: «Der Weg v o m Objekt zum Kind und v o m K i n d zum O b j e k t verläuft über eine andere Person.» 96 N o c h einige Jahrzehnte früher hatte G e o r g e Herbert M e a d eine interaktionistische E n t wicklungstheorie formuliert, die auf derselben A n n a h m e basierte: Aus rein theoretischer Perspektive hatte M e a d ein «Selbst» entworfen, in dem ein «me» als Sediment der sozialen Erfahrungen und ein «I» als Aktivierungspotential interagieren. Dieses «I» ist, w e n n man will, ein Bewegtes und B e w e gendes zugleich, sein Aktionsfeld entspricht dem emergenten M o m e n t Sterns. 97 M a n könnte Sterns Modell vor diesem Hintergrund in der folgenden Weise modifizieren:

I

emergenter Moment

gelebte Erfahrung/Handlung

Me

Schemata

repräsentierte Erfahrung

Seif

selbstbezogene Erinnungen

autobiographisches Ich

Auch aus neurowissenschaftlicher Sicht gibt es eine ganz ähnliche Überlegung: Antonio Damasio beschreibt die neuronale Grundlage des Selbst als beständige Reaktivierung zweier Formen von Repräsentationen: D i e erste Form umfaßt j e n e Fakten, die die eigene Person definieren, w o z u Damasio Vorlieben, G e w o h n h e i t e n , R o u t i n e n genauso rechnet w i e spezifische Erfahrungen, Fertigkeiten und Beziehungen sowie

Pläne und imaginäre Ereignisse. All das wird beständig reaktiviert und in genauer Abstimmung mit neuen Erfahrungen refiguriert und würde sich mit dem «nie» als Inventar der gemachten Erfahrungen durchaus decken. Die zweite Form von Repräsentationen, die mit diesem «Teil des Selbstzustands», wie Damasio das nennt, interagiert, sind Repräsentationen von Veränderungen des Körperzustands, wie sie durch Aktionen erzeugt werden. Damasio geht davon aus, «daß Subjektivität weitgehend von den Veränderungen abhängt, die während und nach der Verarbeitung von Objekt X im Körperzustand stattfinden. [ . . . ] Frühe Körpersignale — in der Evolution wie in der individuellen Entwicklung — trugen zu einem des Selbst bei. Dieser Grundbegriff lieferte das fundamentale Bezugssystem für alles, was dem Organismus zustieß, einschließlich der aktuellen Körperzustände, die fortlaufend in den Selbstbegriff eingegliedert wurden und daraufhin sogleich zu vergangenen Zuständen wurden. [ . . . ] Was uns jetzt zustößt, stößt tatsächlich einem Selbstbegriff zu, der auf der Vergangenheit beruht, auch jener Vergangenheit, die noch einen Augenblick zuvor Aktualität war. Jeden A u genblick wird der Selbstzustand wieder von Grund auf neu konstruiert. Er ist ein infinitesimaler Bezugspunkt, der so kontinuierlich und gleichbleibend rekonstruiert wird, daß sein Besitzer von diesem Wiederherstellungsprozeß nie etwas erfährt, es sei denn, die Erneuerung klappt irgendwann nicht mehr.» 98 In der Vorstellung von Damasio ist die jeweilige Aktivität immer körperlich kontextualisiert — eine bestimmte Empfindung löst einen bestimmten Handlungsinipuls aus, der seinerseits zu einer Fülle somatischer Reaktionen führt. Hier fungieren die Körper- und Gefühlszustände als bewertende Marker, die die Handlungen evaluieren und regulieren. G e nau deshalb ist Damasio der Auffassung, daß in der Interaktion der beiden skizzierten Repräsentationsformen die Wurzel von Subjektivität, also auch von Bewußtsein liegt - und an dieser Stelle sind sich die disziplinär und zeitlich so entfernten Positionen des sozialen Behavioristen Mead, des T h e -

rapeuten Stern und des Neurologen Damasio erstaunlich ähnlich. Es geht jeweils um die Frage, wie in gemeinsamer Praxis im Kind zunehmend die Fähigkeit entwickelt wird, Bedeutungen zuzumessen und zu erschließen. Die Antwort scheint darin zu liegen, daß die Interaktionen des Kindes mit seiner Umgebung selbst immer schon «Bedeutungsakte» (Jerome Bruner) sind: «Die Grundidee ist die, daß bestimmte interaktive Vorgänge direkt wahrgenommen und unmittelbar im Hinblick auf - seien es noch so primitive - Bedeutungen erfaßt werden. Diese Bedeutungen müssen nicht erst aus verschiedenen Bruchstücken konstruiert werden, sondern tauchen aus einer globalen intuitiven Einteilung der Erfahrung auf.» 99 Wenn man sich also für die Frage interessiert, was die Bedingung für die Entstehung von Bedeutungszuweisung und Sinnbildung ist, d. h. des Vermögens, Handlungen anderer zu interpretieren, wird man die Antwort in den Mikroeinheiten früher sozialer Interaktionsprozesse suchen müssen: Bedeutung (und ihre Repräsentation) entsteht im gemeinsamen Handeln, und zwar lange bevor sie sprachlich repräsentiert werden kann. Stern geht (wie Trevarthen und Bruner) davon aus, daß hier die Wurzel für intentionales Handeln liegt und zugleich die Basis dafür geschaffen wird, daß die Absichten anderer Personen und etwas später die diesen Absichten zugrundeliegenden Motive und Gefühle erschlossen werden können. Um einer späteren Diskussion ein wenig vorzugreifen, könnte man sogar sagen, daß hier Bewußtsein entsteht, im Zusammenspiel sozialer und neurologischer Vorgänge im Gehirn des sich entwickelnden Säuglings. Die neuronalen Repräsentationen des Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen sind nichts anderes als Korrelate des erwachenden B e wußtseins.

2. «Sleep 'cause». Die Entstehung der Sprache beim Sprechen Fassen wir zusammen: Strukturierte und sequenzierte gemeinsame Handlungsabläufe, die multimodal erlebt werden, etablieren im sich entwickelnden Gehirn des Säuglings Repräsentationen, die deswegen «Bedeutung» erzeugen, weil die Handlungen zu Ergebnissen fuhren, die das Baby auf irgendeine Weise fiihlt. Die verschiedenen Gefühlsgestalten, die in jeder Sequenz und in jedem Modus des Handlungsablaufs erlebt werden, machen deutlich, daß Emotionen die eigentlichen Generatoren von Bedeutung und Sinn, später von Bewußtsein sind. Erst das ermöglicht Intersubjcktivität, die Fähigkeit, die Perspektive des anderen zu übernehmen und vor diesem Hintergrund gemeinsam zu handeln. Die Basis für die später einsetzende Sprachentwicklung wird durch diesen komplexen Prozeß der zwar nicht sprachlichen, aber strukturierten Kommunikation gelegt, und die für die Sprachentwicklung notwendige Fähigkeit zur Sinnbildung wird in der Praxis dieser Form von Kommunikation erzeugt. Mit der genauen Aufschlüsselung des Vorgangs der Sprachentwicklung und seiner Funktion für die Entstehung eines autobiographischen Gedächtnisses hat sich, wie schon im zweiten Kapitel erwähnt, Katherine Nelson in intensiven Studien auseinandergesetzt. Bleiben wir einen Augenblick bei den sozialen Austauschprozessen, die den Vorgang der Sprachentwicklung ermöglichen: Nelson geht davon aus, daß wiederkehrende Handlungsabläufe (wie in der protonarrativen Sequenz) Repräsentationen davon erzeugen, wie Ereignisse allgemein ablaufen («general event reprcsentations»). Das Kind beginnt, über eine Art von «scripts» zu verfügen, die es ihm erlauben, Phasen in Geschehensabläufen vorherzusehen, zu wissen, was «als nächstes» geschehen wird, und sich antizipierend dazu zu verhalten. Eine Reihe von Studien mit Kindern, die sich in der Phase des Spracherwerbs befanden,

hat Nelson zufolge gezeigt, daß Dreijährige viel eher solche generalisierten Scripts berichten als Erinnerungen an spezifische Ereignisse, wenn sie über Vergangenes befragt werden. 1 0 0 Nelson zufolge weisen solche Befunde zum einen daraufhin, daß schon die frühesten Ereignisrepräsentationen ihrem C h a rakter nach sozial sind, zum anderen darauf, daß die Kinder Teil sozialer Handlungsabläufe sind, ohne in einem kognitiven Sinn ganz zu verstehen, was da eigentlich abläuft und worum es im einzelnen geht. Durch diese Teilhabe lernen sie aber ihre Rollen und gewinnen damit Wissen darüber, was die Struktur ihrer sozialen Mikroumwelt ist. 101 Das Kind partizipiert also an sozialen Handlungsabläufen, die gemessen an seinen Verstehensmöglichkeiten einen großen Uberschuß an Informationen beinhalten - «warum» beispielsweise etwas zuerst gemacht wird und etwas danach, ist ihm nicht zugänglich, wohl aber, daß eben das eine zuerst und das andere danach gemacht wird. Kinder sind gewissermaßen Positivisten in einem sozialen Universum von Handlungen. In diesem Universum spielt Sprache eine wichtige Rolle - als etwas, das die Handlungsabläufe unablässig begleitet, ohne daß das Kind «versteht», was oder warum etwas gesagt wird. Gleichwohl ist es selbstverständlicher Bestandteil des Scripts, daß gesprochen wird. Nelson betont, daß die Funktion der Sprache in dieser gemeinsamen Praxis darin liegt, daß bestimmte Aspekte der Vorgänge als bedeutungsvoll markiert werden («So, jetzt ist es wieder g u t . . . » usw.), und zwar in einem praktischen, noch nicht in einem repräsentationalen Sinn. 1 0 2 Das Wort «Bad» etwa wird in dieser Sicht viel eher einen Ablauf markieren, der mit dem Betreten des Raumes, dem Aufdrehen des Wasserhahns, der Wärme des Wassers, dem Kitzeln beim Waschen, dem Brennen der Seife in den Augen zu tun hat als mit dem mit Toilette, Waschbecken, Dusche, Wanne und Spiegel ausgestatteten Funktionsraum, den Erwachsene als «Bad» bezeichnen. In diesem Sinn ist die Sprache für das Kind zunächst nicht repräsentational, sondern praktisch und selbstbezogen. Wenn sich auf diese Weise eine repräsentationale Verwendung von Begriffen vor-

bereitet oder «gebahnt» wird, heißt das, daß sich episodische und semantische Gedächtnissysteme und -inhalte nicht getrennt voneinander oder gar nacheinander entwickeln, sondern lediglich zwei Ergebnisse desselben Prozesses sind. Erst im Alter zwischen drei und sechs Jahren beginnt sich Nelson zufolge die repräsentationale Funktion und G e brauchsweise von Sprache zu entwickeln: «Während frühere Formen der Sprache j e n e Bestandteile der Erfahrung markieren, die in der sozialen und kulturellen Welt des Kindes B e deutung haben, beinhaltet die wachsende [Sprach-] Fähigkeit im Vorschulalter die Möglichkeit, ganze Systeme zu konstruieren, die nicht in einer erfahrenen Wirklichkeit existieren, sondern in der sozialen Welt durch Sprache vorgestellt und repräsentiert werden.» 1 0 3 Diese konzeptuelle Weiterentwicklung legt mit anderen Worten den Grundstein für die Fähigkeit, Geschichten erzählen und kategorial und theoretisch denken zu können. Für all das muß Sprache repräsentational beherrscht werden. Nelson geht davon aus, daß erst auf der repräsentationalen Ebene des Sprachvermögens Kultur vermittelt wird, 1 0 4 womit sie, wie ich meine, die kulturelle Durchformung von Gesten, Lauten, Spielen, Liedern, Bildern usw. unterschätzt, die vorsprachlich bereits das Universum der «general event representations» ausgebildet haben (man denke nur einen Augenblick daran, daß das Wort «Bad» und die Abläufe, die es markieren, kulturell höchst spezifisch sind). Es gibt keine akulturelle R e präsentation. Aber lassen wir diesen Aspekt zunächst auf sich beruhen und verweilen noch einen Moment bei der Praxis des Spracherwerbs. In ihrer Studie «Narratives from the crib» 105 hat Nelson die Dialoge und Monologe analysiert, die ein kleines Mädchen namens Emily vor dem Einschlafen produziert. Hier findet sich ein faszinierendes Beispiel dafür, in welcher Form Kinder Sprache verwenden und wie diese Verwendung sich sukzessive verändert. Emilys Äußerungen wurden aufgezeichnet, als sie zwischen 21 und 36 Monate alt war, und es geht hier um das Wort «because», eine Konjunktion, die kausale und intentio-

nale B e z i e h u n g e n bezeichnet. Es herrscht allgemein die A u f fassung, daß Konjunktionen dieser A r t zwar relativ f r ü h im Vorschulalter gebraucht werden, die damit verbundenen l o g i schen Voraussetzungen aber noch nicht verstanden werden. 1 0 6 E m i l y (E) verwendet das Wort «because» schon in den ersten Aufzeichnungen, also im Alter v o n 21 Monaten — z u m B e i spiel im R a h m e n des folgenden Dialogs mit ihrem Vater (V): V: everyone's asleep you know Tanta's asleep and Mormor's asleep everyone is going to sleep because you know what happens in the night-time? people go to sleep at night-timc . . . E: Carl mommy sleeping V: yeah, Carl's mommy's sleeping too do you think Chris is sleeping? how about Chris? h m m m ? and Annie and Jearmie? everybody's asleep 'cause it's , . . [E Interrupts] . . . sleep because be's a litde baby.107 In dieser Sequenz verwendet Emilys Vater dreimal die Verbindung v o n «sleep» und «because». In Emilys M o n o l o g e n vor d e m Einschlafen taucht diese Verbindung in der folgenden Weise w i e d e r auf: E: Emmy went to sleep 'cause M Mor Emmy didri't go to sleep 'cause in bed Bemerkenswert ist hier, daß E m i l y die Konjunktion gerade nicht in der logischen Funktion gebraucht, in der ihr Vater sie verwendet hatte, sondern einfach die Verbindung reproduziert, die in seinen Ä u ß e r u n g e n wiederholt aufgetaucht ist und darin ein Strukturelement gebildet hat. E m i l y nun v e r wendet dieses Strukturelement nicht in einem semantischen Sinn, sondern als Muster zusammengehöriger Äußerungen, die irgend etwas mit Schlafen, Bett und den damit verbunden Ercignisfolgen zu tun haben. «Sleep 'cause» scheint also einfach ein Bestandteil des Rituals des Zubettgehens zu sein; der logische Operator «because» wird hier «falsch» gebraucht. Interessanterweise zeigt Nelsons Analyse, daß die R a t e des

semantisch falschen Gebrauchs in den folgenden Monaten deutlich absinkt: Verwendet E m i l y das Wort zunächst in mehr als zwei Dritteln aller Fälle falsch, sinkt die Q u o t e in der M i t t e des Aufzeichnungszeitraums auf 4 7 % , gegen E n d e auf 19%. Im mitderen Untersuchungszeitraum w u r d e «'cause» von E m i l y z u m Beispiel in der folgenden Weise verwendet: E: my won't go co sleep but I later 'cause my hava cold A u c h diese neue Verknüpfung läßt sich auf eine Verbindung zurückfuhren, die Emilys Vater in den allabendlichen E i n schlafverhandlungen verwendet hat: (Emily will ein Spielzeug) V: Okay you get it but be quick about it because we have to go to sleep E: Daddy (rock) me for a couple min . . . but this IS the last night because t h e n . . . «Aber» und «weil» fungieren hier, Nelson zufolge, als E l e mente eines Aushandlungsprozesses: «Aber» steht für eine A l ternative zum strikten Verbot und «weil-) für eine F o n n der B e g r ü n d u n g - und rückt damit in die N a h e seines vollen logischen Sinns: Es beginnt eine Beziehung zwischen einer Handlung und einem Urteil über diese H a n d l u n g zu repräsentieren. Am E n d e des Beobachtungszeitraums verwendet E m i l y «because» fast i m m e r richtig, oft in Verbindung mit anderen logischen Operatoren: E: actually it's Stephen's koala bear . . . 'cause it's really Stephen's as a matter o f f ä c t i t ' s Stephen's Fast erweckt es den Anschein, als w ü r d e Emily ausprobieren, welcher logische Operator die B e z i e h u n g zwischen Stephen

und seinein Koala-Bär am besten bezeichnet. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, wie sich in der Entwicklung vom zweiten zum dritten Lebensjahr der Gebrauch der Sprache von der situationsgebundenen Wiederholung eines Musters von Äußerungen hin zu einer semantisch vollen, repräsentationalen Verwendung des Wortes verändert. Faszinierend scheint mir dabei vor allem die Funktion des Überschusses an verbalem Material zu sein, das anfänglich die Ausstattung für das Formen scheinbar sinnloser Sätze und Wortverbindungen liefert. Um es ganz schlicht zu formulieren: Wenn der Vater nichts sagen würde, während er Emily ins Bett bringt, würde auch das Material nicht existieren, das Emily anfangs falsch, darauf aufbauend aber immer zutreffender verwenden kann. Das unablässige Sprechen in der sozialen Umwelt des Kindes liefert, obwohl es über weite Strecken nicht verstanden wird, ein Uberschußmaterial, das zu gegebener Zeit verwendet werden kann. Der soziale Prozeß des Selbst-im-Zusammensein-mit-anderen stellt grundsätzlich mehr bereit, als das Kind kognitiv und operativ bewältigen kann. Das wirkt aber nicht als Uberforderung und damit entwicklungshemmend, sondern äußerst produktiv: Wie das Beispiel «sleep 'cause» zeigt, eignet sich das Kind das seine Sprachkompetenz überfordernde Material an, indem es die Wortverbindung einfach trotzdem gebraucht. Sie spielt eine Rolle in seinem sozialen Universum, und als solches ist sie wirksam im Prozeß von Emilys Weltaneignung. Anders gesagt: selbst wenn Emily «'cause» falsch verwendet, hat das Wort praktischen «Sinn» für sie, und dieser Sinn erweitert sich im weiteren Fortgang des sozialen Interaktionsprozesses, bis dahin, daß er sich mit j e nem logischen Gebrauch des Wortes synchronisiert, den die anderen von ihm machen. Man sollte übrigens nicht nur den funktionalen, sondern auch den emotionalen und ästhetischen Wert des Überschusses an sprachlicher Information sehen. Es gibt in bestimmten Entwicklungsphasen offenbar wenig Faszinierenderes, als dem dunklen Sinn von Worten und Wortverbindungen nachzusinnen, die man nicht versteht, die aber Assoziationen und

Bedeutungen mitzufuhren scheinen, die fesselnd erscheinen. Vielleicht liegt das Faszinierende auch darin, daß solche Worte oder Wortverbindungen (furchterregende oder lustvolle) Emotionen mitschwingen lassen, ohne daß ihr semantischer Gehalt sich erschließen würde. Derlei «Sprachniagie» bezog sich in meinem persönlichen Fall auf das in der Radiowerbung gehörte, zugegebenermaßen unspektakuläre «Kloß der Frau Melissengeist», das mir höchst interessant erschien, o b wohl oder weil ich nicht herausbringen konnte, was damit gemeint sein sollte. Mein Freund Harry Walter, Künstler und Philosoph, berichtet über die Verbindung der Worte «Eichmann», «Fleischmann», «Neckermann», die sich für ihn im Alter von sieben Jahren dadurch ergab, daß er Adolf Eichmann auf dem Bildschirm jener Neckermann-Fernsehtruhe sah, die zu Weihnachten zugleich als Gabentisch u.a. für die dort plazierte Fleischmann-Modelleisenbahn fungierte. «Eichmann — Fleischmann - Neckermann» ergab nach seiner Schilderung eine gleichermaßen unheimliche wie unerschlossene Trilogie eines - dem Gefühl nach — prinzipiell erschließbaren Zusammenhangs. Auf solche Weise wird eine emotional kodierte und semantisch unerschlossene Bedeutung erzeugt, die ihre emotionale Qualität auch dann noch beizubehalten scheint, wenn sich später der zugehörige semantische Gehalt erschlossen hat. Deshalb bleibt ein Aspekt des Unheimlichen und Bedrohlichen an solchen Bezeichnungen auch dann erhalten, wenn das Bezeichnete kognitiv längst bewältigt ist. Insofern bewegen wir uns als Erwachsene in einer memorialen Landschaft von emotional konnotierten Bestandteilen einer Welt, die sich kognitiv erst nachträglich erschlossen hat. Solche Uberlegungen bewegen sich natürlich weit im spekulativen B e reich. Die Auseinandersetzung mit den Beobachtungsdaten der Säuglings- und Kleinkindforschung, mit den Befunden aus Mutter-Kind-Therapien und aus der Neurologie der erfahrungsabhängigen Gehirnentwicklung liefern zunächst nicht mehr als Modelle darüber, wie die sozialen Bildungsprozesse vor sich gehen könnten — «von einschlägigen B e w e i -

sen sind wir», wie Daniel Stern zu Recht sagt, «noch weit entfernt.» 108 Jedenfalls scheint der Umstand, daß erwachsene Bezugspersonen das Baby oder das Kleinkind praktisch als kompetenter behandeln, als es in Wirklichkeit ist, ein zentraler Motor seiner Entwicklung zu sein: Das Überschießende fungiert als Anregungspotential, das erst später seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt wird. Z u v o r aber etabliert es, wie die protonarrative Sequenz, Struktur, Zeitlichkeit, Regelhaftigkeit, Konstanz und damit überhaupt die Ereignisrepräsentationen, die das wachsende Weltaneignungsvermögen des Kindes hervorbringen. Auch hier zeigt sich der Vorgang der Form- und Inhaltsbestimmung der mentalen Repräsentation (und ihres neuronalen Korrelats) als durch und durch sozial. W»s das Kind im Kopf hat, worauf es zurückgreift, wenn es nach Scripts handelt, mit sich selbst oder anderen «spricht», mit der Sprache spielt, ist ein Produkt von Kommunikation. Wichtig ist dabei, das Kind als aktiven Teil des kommunikativen Zusammenhangs zu betrachten: Indem es interagiert und — w i e Emily - aus diesen Interaktionen das Material für nachspielende Monologe mit verteilten Rollen bezieht, fügt es j e weils eigene Teile in das ihm dargebotene Material ein. Dieser Vorgang funktioniert nach dem Prinzip der Montage: Die Elemente seiner Mikroumwelt, die das Kind multimodal erfährt, werden durch die aktive Hinzufügung von Beiträgen zusammengeschlossen, die dafür sorgen, daß das Kind aus dem Ganzen «Sinn machen» kann. Dieser Vorgang ist in der vorsprachlichen Entwicklungsphase weder zu beobachten noch zu messen, sondern nur zu erschließen - es wird aber an späterer Stelle anhand von Interviewmaterialien gezeigt werden, daß Kommunikation darin besteht, daß die Beteiligten an jeder Stelle der sich vollziehenden Interaktion eigenen Sinn hinzufügen, so daß (wie in der Interaktion zwischen Mutter und Kind) ein gemeinsames Ergebnis erzielt wird, das in den Beteiligten unterschiedliche Repräsentationen hinterläßt. Deshalb wird die Erinnerung an gemeinsam erlebte Situationen bei den Beteiligten immer unterschiedlich ausfal-

len: Das liegt einmal an den verschiedenen Perspektiven, die in die Situation hineingetragen werden, zum anderen aber an dem Umstand, daß die beteiligten Sprecher die Schnittstellen der gemeinsamen Kommunikation mit je eigenem Sinn versehen. Und nicht zuletzt sind es die nuanciert oder prägnant unterschiedlichen Gefühlsgestalten, in denen die Sequenzen und Turns des gemeinsamen Gesprächs erlebt werden, die dafür sorgen, daß in der Erinnerung divergierende Gestalten des gemeinsamen Erlebnisses repräsentiert werden. Bezogen auf die Interaktionen, die in der vorsprachlichen Entwicklung zwischen Mutter und Kind stattfinden, ist das viel augenfälliger als in der Kommunikation zwischen Erwachsenen, denn hier ist es ja ganz offensichtlich, daß die gemeinsame Situation ganz unterschiedliche Repräsentationen bei den Beteiligten erzeugt.

J. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß nicht nur die Gedächtnisinhalte kommunikativ gebildet werden, sondern auch die Struktur, in der diese Inhalte bearbeitet werden. Bisher haben wir uns primär mit Entwicklung in der vorsprachlichen Phase beschäftigt. Es wurde schon erwähnt, daß Kleinkinder dazu neigen, auf Nachfrage weniger einzelne Ereignisse zu berichten, an die sie sich erinnern, als generalisierte Abläufe wiederzugeben, von denen sie wissen, daß sie für gewöhnlich so und so ablaufen. Dieser Befund deutet an, daß die Kinder auf dieser Entwicklungsstufe noch keine selbstbezogenen Erinnerungen ausgebildet haben; sie können das Erlebte noch nicht in eine reflexive Beziehung zu sich selbst setzen. Ein solches Selbst ist in einem autobiographischen Sinn noch nicht vorhanden - das Kind kann nicht auf eine eigene, distinkte und kohärente Lebensgeschichte zurückblicken. Es verhält sich, wie gesagt, als Positivist in einer Welt, die so ist, wie sie eben ist.

Die Entwicklung eines autobiographischen Gedächtnisses setzt offenbar genau jenes Beherrschen der repräsentationalen Dimension von Sprache voraus, die notwendig ist, um M o tive, Absichten und Zusammenhänge in der Welt und im Handeln der Bezugspersonen jenseits der jeweils vorliegenden konkreten Situation deuten und verstehen zu können. Jenseits der konkreten Situation, das heißt auch: jenseits der Gegenwart. Um eine Vergangenheit und eine Z u k u n f t in einem autobiographischen Sinn konstruieren bzw. antizipieren zu können, muß das Kind sich aus der Befangenheit der konkreten Gegenwart und ihrer unmittelbaren Anforderungen herauslösen — und die Bedingungen dafür werden wiederum in Prozessen sozialer Interaktion hergestellt: im «memory talk», wie Katherine Nelson das nennt. Die Grundbedingung für die Erweiterung der Gegenwart um eine Vergangenheit und eine Z u k u n f t ist die Fähigkeit, sich erinnern zu können. Das klingt trivial. Aber auch das Erinnerungsvermögen entwickelt sich sukzessive, und bevor wir uns der eigentlichen Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses zuwenden können, müssen die Phasen der Entwicklung des Erinnerungsvermögens wenigstens grob skizziert werden. Natürlich sind die Repräsentationen, die Kinder im Zusammensein mit anderen gebildet haben, Erinnerungen, die sie benötigen, um ihre wachsenden Fähigkeiten der Weltaneignung (Was ist geschehen? Was geschieht jetzt? Was wird als nächstes geschehen?) zu stabilisieren und weiterzuentwikkeln. Bei den sich hier etablierenden Scripts und Routinen der täglichen Abläufe handelt es sich um Formen prozeduraler Erinnerung, über die man verfügt, ohne sich bewußt zu erinnern. Die Fähigkeit, die für explizite Erinnerungen notwendig ist - nämlich vergangene Erlebnisse mental nachzuerleben und mentale «Zeitreisen» (Endel Tulving) zu unternehmen -, ist auf der vorsprachlichen Ebene wahrscheinlich noch nicht ausgebildet. Kinder verfügen vorsprachlich noch nicht über ein episodisches Gedächtnis; ein solches beginnt sich erst im Prozeß des Spracherwerbs zu entwickeln. Gerade die Orientierung auf das strikte Durchlaufen von Scripts bzw. das

Wissen um die «richtige» Reihenfolge von Abläufen macht deutlich, daß Kinder in den frühen Phasen des Spracherwerbs auf das Abspulen der Ereignisse in einer Welt geeicht sind, die so zu sein hat, wie sie immer ist. Wer aus eigener leidvoller Erfahrung weiß, mit welcher Rigidität kleine Kinder darauf bestehen, daß Abfolge und Wortlaut einer Bildergeschichte immer wieder exakt eingehalten werden müssen, wird nachvollziehen können, daß es hier noch keineswegs um selbstbezogene, flexible und reflexive Formen des Erinnerns geht, sondern um «objektive» Formen des Erinnerns: Das So-Sein der Welt bestätigt sich darin, daß sie immer wieder so ist. Mit beginnender Sprachfähigkeit zeigt sich vorerst noch derselbe Befund. Die frühen Bezugnahmen auf Vergangenes, wie sie etwa Eineinhalbjährige leisten, beziehen sich meist auf Scripts und Routinen. Im Alter von etwa zwei Jahren beginnt sich dieses Universum des So-Seins drastisch zu verändern — indem Kinder zunehmend an verbalen Vergegenwärtigungsprozesseti in ihrer sozialen Umwelt teilzuhaben beginnen. Katherine Nelson unterscheidet, abweichend von der neurowissenschaftlichen Nomenklatur der Gedächtnissysteme, drei deklarative Gedächtnisformen. Sie differenziert zwischen generic event memory («so ist es immer»; «es gibt solche Tage» etc.), episodic memory («heute habe ich eine Flippe geschenkt bekommen») und autobiographical memory («das ist mir schon mal passiert»). Das Problem ist nun, daß man bei kleinen Kindern, wie gesagt, ohne weiteres vom frühen Vorhandensein generalisierter und etwas später von episodischen Erinnerungen ausgellen kann, daß aber autobiographische Erinnerung erst recht spät einsetzt, in aller Regel nicht vor dem dritten Lebensjahr, meist später, womit übrigens das Phänomen der sogenannten kindlichen Amnesie zusammenhängt. Nelson bemerkt mit Recht, dieser Begriff lege nahe, daß schon einmal etwas im Gedächtnis gewesen sei, was dann wieder vergessen wurde — was in etwa der Freudschen A n nahme entspricht, daß frühkindliche Erfahrungen zwar vorhanden, aber durch psychodynamische Kräfte in ein Unbewußtes verdrängt worden sind, wo sie nunmehr unterirdische

Wirkung zu entfalten beginnen. Nelson entwickelt demgegenüber eine Vorstellung, die von einer kritischen Stufe der Gedächtnisentwicklung ausgeht, die eine neue Organisationsform für das Erfahrene bzw. zu Erfahrende etabliert — ein neues Gedächtnissystem, das die Gesamtheit der Erfahrungen und Erinnerungen auf ein sich zunehmend integrierendes und hierarchisierendes Selbst zu beziehen beginnt: das autobiographische Gedächtnis. Die vorgängigen Erinnerungen fallen mithin nicht einer retrograden Amnesie zum Opfer, sondern finden keine Artikulation im R a h m e n des nunmehr dominierenden Schemas. «Autobiographische Erinnerung ist spezifisch, lang anhaltend und (normalerweise) von B e d e u tung für das Selbstsystem. Auf einer phänomenalen Ebene formt sie die eigene Lebensgeschichte. Vor der Entwicklung dieses Systems werden Erinnerungen nicht zum Bestandteil einer subjektiven Lebensgeschichte, obwohl sie natürlich auf andere Weise wichtig flir das eigene Leben sein können. Und man kann eine starke Vorstellung von seiner eigenen frühen Lebensgeschichte deshalb haben, weil man von anderen etwas darüber erzählt bekommen hat.» 109 Das grundsätzliche Problem in der Rekonstruktion des kindlichen Gedächtnisses hat seine Ursache vermutlich genau dort, wo die Reorganisation der Vergangenheit unter einem neuen Schema beginnt: Erwachsene können nämlich genau deswegen nicht so denken w i e Kinder, weil deren Erfahrungen und Erinnerungen nicht selbstbezogen verarbeitet w e r den. Bemerkenswerte Unterschiede zwischen den frühkindlichen Formen des Erinnerns und der autobiographischen Erinnerung bestehen etwa darin, daß sich Kinder oft verblüffend detailliert an zurückliegende Episoden erinnern können, und zwar insbesondere an Einzelheiten, die man selbst gar nicht wahrgenommen hatte. Daneben nehmen die allgemeinen, eher routinisiert erscheinenden Ereignisse eine relativ viel größere Rolle in ihren Berichten ein als die uns besonders hervorhebenswert scheinenden Ereignisse. Kinder sind eher an Erinnerungsbeständen interessiert, die für Erwachsene gerade unwichtig sind, wobei natürlich die noch unvollendete

Sprachkompetenz und das lückenhafte Basiswissen das Ihre dazutun, um die Schilderungen von Zweieinhalbjährigen darüber, was sie vormittags erlebt haben, vielleicht niedlich, aber insgesamt als völlig unwichtig erscheinen zu lassen. Der wichtigste Faktor dieser unterschiedlichen Bedeutungszumessung liegt aber darin, daß die Bezugssysteme für die Verarbeitung von Ereignissen und Erlebnissen unterschiedlich sind: im einen Fall ein autobiographisches Ich, das die Erfahrungen in eine selbstbezogene Matrix einordnet — in das autobiographische Gedächtnis nämlich. Im anderen Fall handelt es sich um ein weniger organisiertes, flexibleres Selbstsystem, in dem Erfahrungen zunächst zusammenhangloser, wenn man will: in ein soziales Gedächtnis eingeordnet werden. D e r Ubergang von episodischen zu autobiographischen Erinnerungen ist nämlich — so zeigt eine R e i h e neuerer Untersuchungen - eingebettet in eine Interaktionsstruktur, in der die erwachsenen Bezugspersonen auf vielfältige, aber genaue Weise die kindlichen Berichte darüber, «was geschehen ist», und vor allem, was davon berichtenswert ist, formen und bestätigen. Der entscheidende Funkt hierbei scheint in der narrativen Strukturierung der berichteten Ereignisse zu liegen: Kinder lernen im Gespräch über zurückliegende Geschehnisse nicht nur, daß die Vergangenheit im Sprechen mit anderen eine wichtige Rolle spielt, sondern auch, daß sie ihre eigenen Erinnerungen in einer genau festgelegten narrativen Struktur wiedergeben müssen: «Das Modell sozialer Interaktion | impliziert, daß Kinder lernen, wie sie ihre Erinnerungen zu formulieren haben und auf diese Weise in eine abrufbare Form bringen können.» 1 1 0 Hierzu ein Beispiel aus einem Dialog zwischen einem zweijährigen Mädchen und ihrer Mutter: M: Hat Dir die Ferienwohnung am Strand gefallen? K: Ja. Und im, im, im Wasser hat es mir gefallen. M: Im Wasser hat es Dir gefallen? K: Ja. Ich bin zum Meer gekommen. M: Zum Meer bist Du gegangen?

K: M: K: M: K: M: K: M: K: M: K:

ja. Hast Du im Wasser gespielt? Und meine Sandalen ausgezogen. Deine Sandalen hast Du ausgezogen? Und nieinen Schlafanzug ausgezogen. Und Deinen Schlafanzug ausgezogen. Und was hast Du am Strand angehabt? Mein Heißer-Kakao-T-Shirt. Ah, Dein Kakao-T-Shirt, ah ja. Und Deinen Badeanzug. Ja. Und mein Kakao-T-Shirt. Sind wir zu Fuß zum Strand gegangen? Ja. 1 "

Sequenzen w i e diese zeigen deutlich, wie bestimmte M o mente aus der Vergangenheit im Dialog als wichtig gekennzeichnet werden, w i e diese Markierungen emotionale B e wertungen bekommen («im Wasser hat es mir gefallen») und wie die Mutter immer weitere Details im Verlauf des kleinen «memory talks» hervorlockt. «Memory talk» ist eine verblüffend häufige Form des Dialogs mit Kindern, die gerade sprechen lernen. Wie das zitierte Beispiel zeigt, bilden die Äußerungen der Mutter eine Art Gerüst für die Erinnerungsarbeit des Kindes, indem sie einzelne Erinnerungen durch Wiederholung bestärken und als wichtig markieren («Zum Wasser bist Du g e gangen?») und indem die Mutter Fragen stellt, die weitere Details des Erinnerten einfordern («Hast Du im Wasser gespielt?»). Wie Nelson & Fivush schreiben, sieht «memory talk» in der frühesten Phase so aus, daß Bezugspersonen etwas erzählen, was mit einem Erlebnis des Kindes zu tun hat, und daß das Kind diese Erzählung bestätigt oder wiederholt. Ungefähr im Alter von zwei Jahren wie im obigen Beispiel beginnen die Kinder aber auch, eigene Details zu den erinnerten Geschichten beizutragen und exakter auf Fragen nach Einzelheiten zu antworten. Im Alter von drei Jahren können Kinder oft schon relativ zusammenhängende Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählen und «memory talk» selbst initiieren — was daraufhindeutet, daß sie nunmehr gelernt haben, daß dem Sprechen über vergangene Ereignisse in ihrer sozia-

len Welt eine wichtige Rolle zukommt. Wiederinn lernen die Kinder die Struktur und Funktion solcher Erinnerungsdialoge, indem sie aktiv an sozialen Situationen des Vergegenwärtigens von Vergangenem teilhaben. Patricia Miller weist unter Bezug auf Wygotski daraufhin, daß solche sozialen Situationen als eine Art «verteilten» Gedächtnisses zu verstehen sind" 2 - und das Kind wächst in eine Welt hinein, in der «conversational remembering» 1 B ein essentieller Bestandteil der sozialen Praxis ist. Wie stark die Form und der Stil des «memory talks» die Erinnerungsweise der Kinder formt, ist durch eine Reihe von Studien gezeigt worden. Fivush & Nelson unterscheiden verschiedene Grade von «Elaboriertheit» von Müttern im Sprechen über Vergangenes. D i e Mütter fragen unterschiedlich intensiv nach Detaillierungen oder zentrieren die Aufmerksamkeit auf die evaluativen, also emotionalen Aspekte des Erlebten. 114 Hier geht es darum, was die handelnden Personen wohl gedacht oder gefühlt haben, als sie das oder jenes erlebt haben — was nicht nur eine fördernde Funktion für die intersubjektive Kompetenz der Kinder hat, sondern auch eine Form des Vergegenwärtigens etabliert, in der emotionale und selbstbezogene Bewertungen des Erlebten eine wichtige Rolle spielen. Genau diese Aspekte der Elaboriertheit des «memory talk» sind entscheidend dafür, was Kinder tatsächlich erinnern, und mehr noch, wie sich ihre Erinnerungsfähigkeit ausbildet. So hat zum Beispiel eine Langzeitstudie zeigen können, daß der Stil des «memory talk» mit etwa dreieinhalbjährigen Kindern offenbar verantwortlich dafür war, an welche Episoden sich dieselben Kinder mit 5, 6 und 8 Jahren erinnern konnten. «Solche Daten zeigen klar, daß hochelaborierte Mütter sehr früh in der kindlichen Entwicklung die Fähigkeit ihrer Kinder fordern, vergangene Erfahrungen in detaillierter episodischer Form zu erinnern.» 115 Zugleich zeigen solche Geschichten, daß nicht nur der Reichtum der erinnerten Inhalte durch «elaborierte» Mütter gefördert wird, sondern daß deren Augenmerk auf die emotionalen Aspekte der berichteten Geschehnisse die Form der

Erinnerungsberichte (und vermutlich der Erinnerungen selbst) prägt. Die emotionalen Aspekte der Vergangenheitserzählung sind vor allem deshalb entscheidend Rir die Entwickhing des autobiographischen Gedächtnisses, weil sie die Form der Erinnerung von dem (positiven) Bericht über das, was passiert ist, zu der (reflexiven) Erzählung über das, wie es einem selbst dabei ergangen ist, erweitern. «Es sind die E m o tionen, die vergangene Ereignisse mit dem Selbst-Konzept verknüpfen und zu einem Teil der Autobiographie machen.» 115 Andere Studien zeigen, daß es vor allem der soziale Kontext ist, der die Erinnerung an vergangene Ereignisse wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht. Tessler &: Nelson 1 1 7 haben anhand von Ausstellungsbesuchen mit M ü t tern und Kindern zeigen können, daß die Kinder sich später nur an die Teile der Ausstellung erinnern konnten, über die gemeinsam gesprochen worden war. 1 derselbe B e f u n d zeigte sich im R a h m e n einer Fotoexkursion. Gespräche über das, was zu sehen ist, scheinen also direkt die Organisation dessen zu beeinflussen, was aus der Menge des Wahrgenommenen eingespeichert wird und später abrufbar ist. Durch das g e meinsame Sprechen bekommt das Wahrgenommene eine strukturierte und kohärente Form 1 1 8 — und diese Form scheint auch den Abruf der Erinnerung zu erleichtern. Vor dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Befunde läßt sich hier ergänzen, daß es nicht nur die strukturierende Kraft der Sprache ist, die die Erinnerung an einzelne Ereignisse fördert, sondern auch ein Phänomen, das als affektive Kongruenz von Einspeicherungs- und Abrufsituation beschrieben wird — man erinnert sich an Ereignisse besser und detaillierter, wenn die soziale Situation des Abrufs der der Einspeicherung entspricht. Bezogen auf die erwähnten Studien mit den Kindern, würde das den Schluß nahelegen, daß in der sozialen Situation des Sprechens darüber, was damals beim Museunisbesuch oder auf der Fotosafari geschehen ist, die soziale Situation abgerufen wird, in der damals über dieses oder jenes Objekt gesprochen wurde. Mithin wäre es nicht

so sehr die Sprache selbst, die den Abruf der Erinnerung determiniert, sondern die Kongruenz von Einspeicherungsund Abrufsituation. Natürlich spielt die Sprachkompetenz eine bedeutende Rolle dafür, wie reich der Austausch von Eindrücken in der jeweiligen sozialen Situation sein kann. Aber die Mischung der Einflußfaktoren - sozialer Kontext, «Elaboriertheit» der Mutter etc. - entfaltet unterschiedliche Wirkung, je nachdem, wie alt die Kinder sind und wie gut sie sprechen können. In einer Studie, die diesem Phänomen genauer auf die Spur kommen wollte, wurden die Erinnerungen von kleinen Kindern an Unfälle untersucht, die immerhin so gravierend waren, daß sie auf Notfallstationen in Krankenhäusern behandelt w u r den. Kinder im Alter v o n unter 20 Monaten konnten zu diesem Zeitpunkt nicht verbal darüber kommunizieren, was geschehen war, und zeigten zwei Jahre später keinerlei Erinnerung an das Ereignis. Im Alter zwischen 20 und 26 Monaten differierte dieser B e f u n d je nach Sprachkompetenz zum Zeitpunkt des Unfalls. Diejenigen, die zum Zeitpunkt des Geschehens älter als 26 Monate waren, konnten sich als Vierjährige recht detailliert daran erinnern. In einer vergleichbaren Untersuchung mit Vorschulkindern, die einen Feueralarm erlebten, zeigt sich derselbe Befund: Nur denjenigen, die zum Zeitpunkt des Alarms eine kohärente Geschichte darüber erzählen konnten, waren sieben Jahre später in der Lage, sich daran zu erinnern. 119 Auch hier wird man die gewiß zentrale Rolle der Sprache als Generator von Erinnerung aus Sicht der Neurowissenschaft um eine Nuance relativieren können. Auch bei Erwachsenen gilt als gesichert, daß Erlebnisse und Ereignisse, über die man mit anderen gesprochen hat, besser erinnert werden als solche, über die man sich nicht ausgetauscht hat — und dieser Befund zeigt sich desto deutlicher, je öfter ein- und dasselbe Ereignis kommuniziert worden ist (wobei es sich, wie wir wissen, im Lauf der Zeit durchaus verändert). Dem Erzähler scheint es gerade dann in allen Details «noch vor Augen» zu stehen. Auch hier ist es die soziale Kommunikation eher als

der sprachliche Reichtum, was die Erinnerung immer weiter konsolidiert. Die Rolle der Sprache für die Entwicklung der kindlichen Gedächtnisorganisation dürfte deshalb alles in allem als Ko-Faktor bei der Konsolidierung von Erinnerungen zu betrachten sein, der überhaupt ihre Wiedergabe in kommunizierbarer Form ermöglicht. Wirklich entscheidend wird Sprache in ihrer Funktion für die Ausbildung autobiographischer Erinnerungen: D e n n die Möglichkeit, etwas Erlebtes auf ein Selbst zu beziehen, dem zuvor ähnliches oder ganz anderes widerfahren ist und dem in Zukunft so etwas nie mehr oder immer wieder passieren wird, setzt ein kohärentes Ich-Gefühl voraus - und dies wird offenbar erst dann entwickelt, wenn das sprachliche Vermögen es dem Kind gestattet, sich aus der Sphäre der Konkretheit und Objektivität des So-Seins in eine Sphäre der zunehmenden Abstraktion und Subjektivität zu bewegen. Genau dafür liefert die Sprache als repräsentationales Medium, das es erlaubt, Vorstellungen, Simulationen, Gefühle zu vergegenwärtigen, die Grundlage. In diesem Sinne ist die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses ohne das Erreichen einer Stufe repräsentationaler Sprachkompetenz nicht denkbar. M a n kann zusammenfassen, daß zunehmende Sprachkompetenz und die Entwicklung des autobiographischen G e dächtnisses eng zusammenhängen und gemeinsam auf der Synchronisierung von drei Entwicklungsvoraussetzungen beruhen: • auf hirnorganischen Reifungsprozessen, insbesondere auf der Entwicklung der Wernicke- und der Broca-Regionen (die semantisches Sprachverstehen und sprachlichen Ausdruck ermöglichen), • auf dem Vorliegen einer psychischen Organisationsstufe, die Scripts und protokonversationelle Abläufe bereits sicher integriert hat und deshalb Sprache als regelhaftes repräsentationales Medium anzueignen erlaubt.

• auf einem sozialen Entwicklungskontext, der die Bezugnahme auf soziale und persönliche Vergangenheiten als essentiell markiert und in dem die kommunikativen und linguistischen Modelle für die Konstruktion einer individuellen Lebensgeschichte vermittelt werden. Sprach-, Bewußtseinsund Gedächtnisentwicklung finden Katherine Nelson zufolge also im Rahmen eines bio-sozio-kulturellen Systems statt. 1 )ie Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses scheint übrigens zu den langwierigsten Entwicklungsaufgaben des heranwachsenden Menschen zu gehören: Die Kompetenz, autobiographisch zu erzählen, wird nicht vor dem Ende der Adoleszenz erreicht. 120 Die Kriterien für eine solche Kohärenz sind wiederum sozial definiert: In unserem Kulturkreis muß eine lebensgeschichtliche Erzählung zum Beispiel persönliche B e deutsamkeit, Widerspruchsfreiheit und Plausibilität aufweisen und in ihrer linearen Struktur selbst eine Bildungsgeschichte sein, um als autobiographisch akzeptiert zu werden. Wie man sieht, ist also auch Erinnerung eine erlernte Fähigkeit — sie ist eine nicht nur alters- und entwicklungsabhängige, sondern erfährungsabhängige und damit kulturell spezifische Kompetenz. So haben interkulturell vergleichende Studien gezeigt, daß bei Befragten aus westlichen Gesellschaften die Erinnerung lebensgeschichtlich länger zurückreicht als bei Mitgliedern östlicher Gesellschaften: Flier datieren die frühesten Erinnerungen auf das 5. und 6. Lebensjahr zurück 121 - was gewiß auf unterschiedliche Vorstellungen und Relationen von Kollektivität und Individualität in den verglichenen Gesellschaften zurückzuführen ist. Wenig verwunderlich erscheint es da, wenn deutliche Unterschiede in der Form der dyadischen Kommunikation zwischen amerikanischen und ostasiatischen Müttern beobachtet werden — daß die amerikanischen Mütter zum Beispiel im Schnitt dreimal häufiger mit ihren Kindern über vergangene Dinge sprechen als ostasiatische. 122 Was immer man von solchen Befunden und ihren Interpretationen halten mag, sie zeigen in jedem Fall die Kulturabhängigkeit der Praxis des Lernens, wie und

woran man sich erinnert, und damit die kulturelle Determination des Eminems selbst. Sowohl in der entwicklungspsychologischen wie in der ethnographischen Literatur ist schon früh auf die Rolle hingewiesen worden, die kulturelle Schemata oder Modelle für die Organisation der Entwicklungsprozesse spielen. Ein ziemlich augenfälliges Beispiel ist z . B . der interkulturelle Vergleich von Schlafgewohnheiten: Während in den westlichen Gesellschaften das Kind in der Regel nicht im Bett der Eltern und nach Möglichkeit in einem eigenen R a u m schläft, weil sehr früh Wert daraufgelegt wird, daß das Kind «durchschläft» und nachts nicht dauernd «kommt», legen japanische Eltern Wert darauf, daß das Kind ein Gefühl von Interdependenz entwickelt, weshalb es besser zusammen mit ihnen in einem Bett schläft. Kenianische Mütter tragen ihre Babys nach Möglichkeit ständig, also auch bei der Arbeit, mit sich herum, womit sich ein Konzept fester Wach- und Schlafzeiten von selbst verbietet und entsprechend kein Wert auf so etwas w i e «Durchschlafen» gelegt wird. All dies zeigt eine extrem starke kulturelle Differenzierung bei einer für völlig selbstverständlich gehaltenen Alltagsroutine - und gewiß halten sowohl die japanischen wie die kenianischen oder die amerikanischen oder deutschen Mütter ihre Routinen für die einzig «natürlichen». Ähnliche Unterschiede zeigen sich bei gleichermaßen basalen Routinen wie Interaktionskonventionen und Blickkontakten, bei der Auflösung bzw. Aufrechterhaltung von Abhängigkeit usw. 123 Insgesamt wird dabei unmittelbar einsichtig, daß kulturelle Modelle eine außerordentliche B e deutung für die Praxis der Entwicklung des K i n d e s - i m - Z u sammensein-mit-anderen und entsprechend nachhaltige Wirkung auf die Herausbildung der Gestalt seines autobiographischen Gedächtnisses haben. Ganz allgemein kann man also davon ausgehen, daß das autobiographische Gedächtnis besonders hinsichtlich seines Wir-Gruppen-Bezugs höchst kulturspezifisch ausgeprägt ist. Daneben muß darauf hingewiesen werden, daß kulturelle Modelle nicht als vorgestanzte Matrizen die Selbstkonzepte

der Menschen und ihre Auffassungen von richtigem und falschem Leben und Verhalten prägen — sie müssen im R a h men konkreter, oft widersprüchlicher Aneignungen individualisiert werden. Eigentlich kann man nur in einer eher sozio- oder ethnologischen Perspektive von kulturellen Schemata und Modellen sprechen; psychologisch handelt es sich immer um individualisierte kulturelle Schemata, die die Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder prägen. Bradd Shore, ein Ethnologe, der sich in kulturvergleichender Perspektive um eine Theorie der ökologischen Gehirnentwicklung bemüht hat, die die Interdependenz biologischer und kultureller Faktoren in Rechnung stellt, nennt als Beispiel für die Transformation eines kulturellen Modells in ein individualisiertes, daß in Thailand die soziale Erwartung vorherrscht, junge Männer sollten ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Prostituierten machen. Für einen jungen Mann, der homosexuelle Neigungen verspürt, kann es eine beträchtliche Schwierigkeit darstellen, diesem kulturellen Modell zu folgen. 1 2 4 Gleichwohl wird die Lösung eines solchen Konflikts Spuren in seiner autobiographischen Entwicklung hinterlassen — auch eine konflikthafte Individualisierungeines kulturellen Modells hinterläßt die spezifische Spur eines solchen Modells. Ich werde später noch am Beispiel der klassischen Gedächtnisexperimente von Frederic Bartlett zeigen, wie sehr kulturelle Schemata die Erinnerung an Gehörtes oder Erlebtes prägen an dieser Stelle mag es genügen, darauf hinzuweisen, daß die Prozesse der Organisation von Erinnerung interkulturell recht stark variieren und daß die jeweiligen kulturellen Schemata nicht einfach als Prägestempel zu betrachten sind, die die Formen der Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsweisen der Individuen direkt bestimmen, sondern jeweils Prozesse sozialer und individueller Aneignung durchlaufen müssen, um zur selbstverständlichen Ausstattung des autobiographischen Selbst zu werden. Kulturelle Schemata und Modelle bilden aber nicht nur das Material für selbstbezogene Aneignungsprozesse und werden

auf diese Weise R a u m und Inventar des autobiographischen Gedächtnisses zugleich. Sie bilden in anderer Hinsicht auch einen großen Teil des semantischen Gedächtnisses oder des «Weltwissens», denn Kinderwachsen, wie gesagt, zunächst in eine Welt hinein, die so ist, wie sie ist: Ihre Bestandteile — w i e man wohnt, was man tut, wie es draußen auf der Straße aussieht, wer zur Familie gehört usw. — sind als Produkte gemeinsam gelebter Praxis ja auch selbstverständliches Wissen darüber, woraus die Welt zusammengesetzt ist, in die man hineingeboren worden ist. Das praktisch entwickelte Wissen über die Welt (Herdplatten können heiß sein!) ergänzt sich im Verlauf der Entwicklung um eine Fülle von kognitiven Wissensbeständen, die - wie das Wissen um Rechtschreib-, Additions- und Subtraktionsregeln — zunehmend abstrakter und theoretischer werden, also keineswegs immer einen Selbstbezug aufweisen. Einfach gesagt: Man kann wissen, daß Washington die Hauptstadt der U S A ist, ohne je dort gewesen zu sein oder auch ohne jemals jemanden getroffen zu haben, der selbst dort war. Der Zusammenhang zwischen episodischen und semantischen Gedächtnisinhalten kann sehr komplex sein: Z u m B e i spiel kann es eine wichtige selbstbezogene Erinnerung sein, jemanden zu kennen, der aus Washington stammt — und die Repräsentation dieser selbstrelevanten Erinnerung wird eine Kombination aus kognitiven und emotionalen Komponenten darstellen. Wie hier semantische Wissensbestände um emotionale, d.h. selbstbezogene und episodische Aspekte angereichert werden, so bildet das semantische Gedächtnis vielleicht überhaupt die Basis flir episodische Erinnerungen: Ohne die Möglichkeit, selbstbezogene Erfahrungen in ein sozial geteiltes System von Regeln und R a h m e n einzubetten, nähme ein Erlebnis keine Gestalt im Bewußtsein an und würde nicht zu einer Erfahrung, die zu erinnern wäre. Sie bliebe allenfalls ein Reiz, der automatisch Verarbeitungsprozesse nach sich zöge. Aus diesem Grund ist aus neurowissenschaftlicher Perspektive formuliert worden, daß das semantische und das episodische Gedächtnis in einem hierarchischen Verhältnis zueinander

stehen: Endel Tulving und Hans Markowitsch haben in diesem Sinne ein Modell der seriellen Einspeicherung von semantischer und episodischer Information entwickelt (siehe Abb. 9). Im Prozeß der Einspeicherung durchläuft die episodische, selbstbezogene Information das semantische Gedächtnissystem; die Gedächtnisinhalte können aber unabhängig voneinander aus den Systemen abgerufen werden. Tulving und Markowitsch begründen dieses Modell zum einen vor dem Hintergrund von Fallstudien mit Patienten, bei denen Funk-

Abb. 9: Beziehungen zwischen Wissenssystem und episodischem Gedächtnis. Information kann unabhängig vom episodischen Gedächtnis in das semantische Gedächtnis eingespeichert werden, muß aber durch das semantische Gedächtnis hindurch, um in das episodische gelangen zu können. Eingespeicherte und abgelagerte Information ist potentiell aus beiden Systemen abrufbar (aus: Tulving ik Markowitsch 1998, S. 200).

tionsausfälle des episodischen Gedächtnissystems zu beobachten waren, während das semantische völlig intakt schien (wobei eine Schädigung des Hippocampus die entscheidende Rolle spielt). Z u m anderen argumentieren sie entwicklungstheoretisch: «Kleine Kinder erwerben eine große Menge Wissen über ihre Welt, bevor sie sich wie Erwachsene episodisch erinnern können.» 125 Wenn sich Tulving & Markowitsch das hierarchische Verhältnis, in dem semantisches und episodisches Gedächtnis zueinander stehen, damit zu erklären versuchen, daß in entwicklungspsychologischer Perspektive die Fähigkeit zur Selbstreflexion (als Funktion des episodischen Gedächtnisses) dem Erwerb fundamentalen Wissens chronologisch und hierarchisch nachgeordnet ist, dann verfehlen sie aus meiner Sicht gerade eine Erklärungsmöglichkeit flir die Genese der spezifisch menschlichen Möglichkeit zu einem episodischen G e dächtnis. Denn in der sozialisatorischen Interaktion sind die Typen des erinnerten Wissens und der gewußten Erinnerung ja gerade nicht getrennt, da die Vermittlung von Wissen darum, w i e die Welt ist und was zu ihr gehört, einerseits praktisch darüber verläuft, daß die Mutter etwas mit dem Kind tut (und dieses mit ihr), daß dies aber eben nicht ein allein körperlicher Interaktionsprozeß ist, sondern fast immer auch von verbalen und nicht-verbalen Vokalisierungen begleitet ist. Damit will ich keineswegs sagen, daß schon der Säuglingsich auf einer Stufe symbolischen Interagierens bewegt, sondern daß in seine Erfahrung immer schon eingeht, daß er selbst Teil einer sozialen Praxis von Geben und Nehmen ist und daß diese Praxis immer eingebettet ist in symbolische und protosymbolische Ausdrucksformen w i e die Artikulation von Freude durch Lächeln und Lachen, mithin auch durch protosprachliche Ausdrucksformen, d.h. Vokalisierungen bzw., wie Mead das genannt hat, Lautgebärden. Anders gesagt: Weil die menschliche Mutter im Gegensatz etwa zu einer Elefantin permanent auch einen reflexiven Anteil in ihre Interaktion mit dem Kind einbringt, erfährt dieses ganz einfach, daß dieser Anteil mit zur Welt gehört - und das tut das Elefantenbaby

eben nicht. Daß dieses Potential an Erfahrung einer begleitenden Vokalisierung wiederum eine physiologische Ausstattungvoraussetzt, die das Elefantengehirn im Unterschied zum menschlichen eben nicht aufweist, sollte die vorangegangenen Überlegungen noch unterstreichen: Denn mit der M ö g lichkeit, ein episodisches Gedächtnis zu bilden, liegt eben auch die Möglichkeit für eine soziale Formbestimmung des Erlebens vor, und mit dieser geht in jedes Erlebnis, in jede Erfahrung des Kindes schon immer ein reflexiver Anteil ein: nicht nur, daß etwas so ist, sondern eben auch, daß es so gut, schlecht oder was auch immer ist. Wenn man sich nun die im zweiten Kapitel skizzierten fünf unterschiedlichen Gedächtnissysteme hinsichtlich ihrer Fonnbestimmung in der sozialisatorischen Interaktion vorstellt, ist es viel einleuchtender, sie als gleichzeitig emergierende Funktionen denn als sich hierarchisch und chronologisch getrennt voneinander entwickelnde Systeme zu konzipieren. Denn in der sozialisatorischen Interaktion sind ja alle vier Modalitäten gleichzeitig anwesend: Die Interaktion produziert eine Fülle von Randerscheinungen, die nicht im Z e n trum der geteilten Aufmerksamkeit stehen, aber gleichwohl perzipiert werden («Priming»), zweitens wird prozedurales Wissen wie etwa die wechselseitige Abstimmung beim Stillen und drittens perzeptuelles beim Anblicken auf einen Gleic hklang hin vom ersten Lebensmoment an vermittelt und angeeignet, viertens wird mittels der Aneignung der Regeln sozialer Interaktion bereits prototypisches semantisches Wissen vermittelt, und fünftens praktiziert die Mutter die Interaktionen mit ihrem Kind nach Maßgabe der kontrafaktischen A n nahme, dieses könnte mit ihren die Handlungen begleitenden Erklärungen und Kommentaren etwas anfangen: «So, jetzt fühlt sich mein kleines Baby aber wieder wohl!» Das Kind erlebt diese unterschiedlichen Aspekte einer G e samtgestalt von Interaktion natürlich nicht als getrennte, sondern multimodal — und gerade diese Multimodalität macht, wie schon das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, jene einzigartige Verbindung von Sozialität und Individualität

Soziale Umwelt/Interaktion

Geschlecht

Organische Hirnreifung

Abb. 10: Grundschema der Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses (Welzer & Markowitsch 2001, S. 211)

aus, die eben nur den Menschen eigen ist. Unter der A n nahme, die Gedächtnissysteme entwickelten sich in einer chronologischen Stufenfolge, müßte man erklären, wieso irgendwann das episodische Gedächtnissystem zum semantischen hinzutritt - und ein solcher Schritt käme ja in der Perspektive des Kindes auf so etwas w i e einen hyperkritischen Tag der Erleuchtung heraus, ab d e m es sich als reflexives S u b j e k t mit einer Geschichte wahrnimmt. 1 2 6 Insofern wäre es sinnvoll, ein Modell der Gedächtnisentwicklung zu konzipieren, in dem d e m autobiographischen Gedächtnis die Aufgabe zukommt, die in den unterschiedlichen Gedächtnissystemen bearbeiteten Gedächtnisfunktionen zu synthetisieren und b e ständig auf das Selbst zurückzubeziehen. Hierarchisch entwickelte Niveaus könnten innerhalb eines binnendifferenzierten autobiographischen Gedächtnissystems identifizierbar sein - w o m i t einmal mehr eine Schnittstelle zwischen N e u rowissenschaft und sozialwissenschaftlich orientierter Psychologie markiert wäre. B e v o r im nächsten Kapitel auf den prägenden Einfluß der Kultur auf das kommunikative Gedächtnis genauer eingegangen wird, sollen die Ergebnisse der vorangegangenen Diskussion in zwei Ubersichten dargestellt werden, die die biopsy-

Abb. n: Biopsychosoziales Modell der Gedächtnisentwicklung (Ausschnitt)

chosoziale Entwicklung des Gedächtnisses schematisch und nach Altersstufen skizzieren. Abb. 10 zeigt das Grundschema der biopsychosozialen Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses, während Abb. 11 die Interaktion der E n t w i c k lungs- und Reifungsschritte auf der Ebene der sozialen K o m munikation, der Gedächtnisentwicklung und der Hirnreifung darstellt. Mit einem solchen Modell können die unterschiedlichen Phasen der Gedächtnisentwicklung synoptisch abgebildet werden, womit das Zusammenwirken soziokultureller, psychischer und organischer Teilentwicklungen deutlich wird. So sind etwa um den Zeitraum kurz vor Vollendung des ersten Lebensjahres auf Hirnebene massive R e i fungsprozesse des I lippocampus und ebensolche des Stirnhirns zu beobachten, auf der funktionalen Ebene die Entwicklung eines Arbeitsgedächtnisses und verbesserter Gedächtnisleistungen, und in exakt demselben Zeitraum enstehen neue soziale Fähigkeiten (wie die gemeinsame Aufmerksamkeit und das Deuten auf Gegenstände), die mit einem entsprechenden Verhalten der sozialen Umwelt beantwortet und unterstützt werden. Vor dem Hintergrund solcher Zusammenhänge kann man begründet annehmen, daß das Arbeitsgedächtnis, das eben ein bestimmtes Niveau der Hippocampus- und Stirnhirnausreifung voraussetzt, seinerseits eine Voraussetzung für den qualitativen Entwicklungssprung der gemeinsamen Aufmerksamkeit 0 7 ist, da für diese die Fähigkeit, den Blick vom Objekt fort- und zur Mutter hinzuwenden und das Objekt dabei für eine gewisse Zeit «online» zu halten, eine notwendige Bedingung ist. Zugleich läßt sich für alle Entwicklungsstufen festhalten, daß die Bezugspersonen ihre impliziten A n nahmen über die kognitiven Kompetenzen der Kinder und ihre kommunikativen Anforderungen mit dem Erreichen neuer Fähigkeitsniveaus systematisch erhöhen («show and teil», «memory t.ilk»12*) und damit die Entwicklung des Kindes unterstützen («scaffolding»), was wiederum auf die Entwicklung der neuronalen Verschaltungsarchitektur im Hirn des Kindes zurückwirkt.

V. Wie man Ich wird Zeit, Emotion und Synchronizität Menschen würden ontogenetisch wie phylogenetisch nicht überlebensfähig sein, wenn sie nicht konstitutionell auf permanente Veränderung ausgelegt wären. Gleichwohl bleibt es immer ein und derselbe Organismus, der das Medium und das Agens dieser Veränderung verkörpert. Mit der menschlichen Spezies verhält es sich prinzipiell ebenso: Menschen können ihre famose Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umwelten deshalb realisieren, weil sie eine co-evolutionäre Entwicklungsumwelt geschaffen haben, die sie von den biologischen Vorgaben der Evolution emanzipiert hat. Diese Emanzipation wurde möglich durch zwei humanspezifische Gedächtnisfunktionen: erstens durch die Fähigkeit zum autonoetischen Erinnern, das ein Arbeitsgedächtnis mit einer gewissen Kapazität voraussetzt, und zweitens durch die Auslagerung von Gedächtnis in andere Personen, in Institutionen oder in Medien. Ein Gedächtnis, das autonoetisch, also sich seiner selbst bewußt und daher reflexiv ist, ermöglicht das Warten aufbessere Gelegenheiten, das Überstehen problematischer Situationen, das Entwickeln effizienterer Lösungen, kurz, es erlaubt Handeln, das auf Auswahl und T i m i n g beruht. Ein solches Gedächtnis schafft R a u m zum Handeln und entbindet vom unmittelbaren Handlungsdruck; es schafft genaugenommen erst jenen Unterschied zum Agieren und Reagieren, den wir als «Handeln» bezeichnen. Zweitens, und damit zusammenhängend, schafft ein reflexives Gedächtnis die Möglichkeit, Gedächtnisinhalte zu externalisieren, aus dem Organismus herauszuverlagern: Angefangen von der einfachen Markierung eines Nahrungsverstecks über die Entwicklung symbolischer Austauschformen durch sprachliche Kommunikation bis zur Herausbildung von Schriftsprachen haben Menschen ganz einzigartige Formen der Reprä-

sentation von Gedächtnisinhalten geschaffen, die zum einen Entlastung von Handlungsdruck, zum anderen die soziale Weitergabe von Erinnertem erlauben. Menschen können Informationen aufbewahren und kommunizieren; sie können sie mit der Erfindung von Schrift schließlich sogar an M e n schen weitergeben, mit denen sie räumlich oder zeitlich überhaupt nichts verbindet, womit sich ein Fundus von gespeichertem Wissen auftut, der die Beschränkungen der direkten Kommunikationen radikal überwindet. Das bedeutet die Schaffung einer Möglichkeit der kulturellen Weitergabe von Erfahrungen (Tomasello 2002), und die beschleunigt die langsame biologische Evolution mit den Mitteln des Sozialen. D a r a u f g e h t die atemberaubende und sich permanent steigernde Entwicklungsgeschwindigkeit der Evolution menschlicher Existenzformen zurück: Menschen können ihre Erkenntnisfortschritte in der Bewältigung von Umweltanforderungen über Zeiten und R ä u m e hinweg weitergeben, so daß die jeweils folgenden Generationen auf der Basis der gemachten, in soziale Praktiken überführten Bewältigungserfahrungen ihre Entwicklungsmöglichkeiten auf jeweils höheren Erfahrungsniveaus entfalten können. Um zu verdeutlichen, was damit gemeint ist und wie phylogenetische Co-Evolution und Psychogenese ineinandergreifen, können wir uns einen zentralen Aspekt der kindlichen Entwicklung anschauen, der schon Piaget fasziniert hat. Im Zusammenhang seiner Studien über die Bildung des Zeitbegriffs beim Kind hat er eine bemerkenswerte Einsicht formuliert: «Die Regulierung der Uhren beruht auf der R e g e l mäßigkeit der Naturbewegungen (...). Aber was wüßten wir von der natürlichen Chronologie ohne unser Uhrensystem?» 129 Zentral flir die Entwicklung des autobiographischen G e dächtnisses ist die Fähigkeit, distinkte Zonen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden zu können, also ein Vorher von einem Jetzt und einem Nachher differenzieren zu können. Das autobiographische Gedächtnis setzt demnach einen Zeitbegriff voraus. Für die Entstehung eines solchen Zeitbegriffs ist wiederum erforderlich, daß Erinne-

rungen einen Ich-Bezug aufweisen, was, w i e wir gesehen haben, etwa im Alter von zweieinhalb Jahren aufzutreten beginnt. Das autobiographische Gedächtnis setzt mithin ein Selbstkonzept voraus, das in R a u m und Zeit situiert ist und emotionale Markierungen von bestimmten Erlebnissen vornehmen kann. Kurz, das autobiographische Gedächtnis ist erwacht, wenn ein dreijähriges Kind davon berichten kann, daß es gestern im Kindergarten vom Stuhl gefallen ist und sich dabei wehgetan hat. Die Verfugung über einen Zeitbegriff ist also essentiell für das autobiographische Gedächtnis, aber wie das Zitat von Piaget andeutet, begeben wir uns in eine höchst merkwürdige Situation, wenn w i r über Zeit sprechen, Zeit messen, Kindern die U h r erklären oder beschreiben, wie sich Zeitbegriffe bilden. Denn Zeit ist, so objektiv sie abzulaufen und so klar definiert sie etwa als physikalische Zeit zu sein scheint, zunächst nichts anderes als ein - wie der Soziologe Norbert Elias sagen würde - menschliches Orientierungsmittel auf hohem Syntheseniveau. Es bedurfte phylogenetisch einer außerordentlich langen Entwicklungszeit, bis Menschen lineare, regelmäßige und abstrakte Zeitintervalle operationalisiert hatten, mit deren Hilfe sie zum einen Ordnung in experimentell oder direkt beobachtbare Abläufe bringen konnten und zum anderen jene enormen Synchronisierungsleistungen hervorbringen konnten, die unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichsten Funktionen an unterschiedlichsten Orten innerhalb einer einzigen temporalen Matrix zusammenschalten. Diese Synchronisierung erfordert auf Seiten der einzelnen Subjekte ein temporal organisiertes Selbstkonzept - das autobiographische Gedächtnis. Zeit ist also zunächst nichts anderes als eine Kategorie sozialer Übereinkunft. Zu ihrer heute gebräuchlichen standardisierten Form hat sie erst relativ spät gefunden; ihr eigentlicher Beginn fällt mit dem der experimentellen Naturwissenschaft zusammen. So führt etwa Galilei zur Messung von Fallgeschwindigkeiten und ballistischen Bahnen ein kontinuierliches drittes Maß ein, nämlich jene Menge Wasser, die im

Beobachtungszeitraum aus dem immer gleich groben Loch im Boden eines Eimers herausfließt, um an diesem Maßstab die unterschiedlichen Geschwindigkeiten fallender Objekte zu vergleichen. Man muß sich solche, von heute aus betrachtet, trivialen Operationen noch einmal vor Augen fuhren, um sich klarzumachen, daß die Einheiten, die wir zur Messung scheinbar objektiver Zeitabläufe heranziehen, völlig willkürlicher Natur sind und lediglich den Kriterien von Gleichförmigkeit und sozialer Standardisierung genügen müssen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Zeit ist also keineswegs etwas Objektives, weshalb genialische naturwissenschaftliche Bemühungen wie Stephen Hawkings «Kleine Geschichte der Zeit» vollständig das Thema verfehlen. Zeit ist ein historisch relativ junges, sozial erzeugtes O r i entierungsinittel, das uns eben deshalb als etwas Abstraktes und Verdinglichtes gegenübertritt, weil wir Zeit ja vor allem auch als ein Regulativ erleben, das unser Leben strukturiert und unsere Vergänglichkeit mit Nachdruck dokumentiert. Und sie tritt uns vor allem deshalb als etwas scheinbar Objektives gegenüber, weil wir in unserer eigenen Ontogenese einen Zeitbegriff gebildet haben, der sich auf etwas zu beziehen scheint, das ganz und gar unabhängig von uns existiert. An diesem Doppelcharakter der Zeit - daß sie einerseits als etwas Objektives (und zuweilen höchst Lästiges) in der subjektiven Erfahrung erscheint und daß sie andererseits gar keine ontologischc Existenz hat, sondern sozial gebildet ist - kann man sich noch einmal verdeutlichen, daß die menschliche O n t o - und Phylogenese co-evolutionär ist. Wenn auf der Ebene der Phylogenese seit etwa viertausend Jahren Zeitkonzepte entwickelt werden, die soziale Zeit zunehmend von abstrakter Zeit entkoppeln, dann bedeutet das ontogenetisch, daß diese Auffassung von Zeit immer schon Teil der E n t w i c k lungsumwelt ist, in der das Kind heranwächst. Dasselbe gilt für die Sprache und für jedes andere symbolische Orientierungsmittel, das Menschen im Z u g e der Phylogenese entwickelt haben. Insofern führt das scheinbare Paradox, von dem Piaget

spricht - daß nämlich die von Uhren repräsentierten Zeitintervalle anhand natürlicher Abläufe gebildet sind, die ihrerseits nur mit Hilfe von Uhren als solche Abläufe beschrieben werden konnten —, mitten hinein in einen Umstand, der für die menschliche Ontogenese von entscheidender Bedeutung ist, gleichwohl aber fast immer vergessen wird: daß es die von Menschen gebildeten kulturellen Symbolisierungen sind, die kleine Kinder lernen, wenn sie sich entwickeln. Dabei sind wir wieder bei der Entwicklung von Zeitkonzepten in der Ontogenese: Piaget hat in seiner klassischen Studie herausgearbeitet, daß Kinder recht lange brauchen, bis sie Zeit als jene abstrakte Meßeinheit verwenden können, die auf alle temporalen Fragen, von Kausalbeziehungen bis hin zu solchen des Lebensalters, anzuwenden ist. So sind zum B e i spiel Vieijährige nicht in der Lage, Alter als gelebte Dauer mit dem Zeitpunkt der Geburt in Zusammenhang zu bringen. Die vierjährige Ciaire etwa antwortet auf die Frage nach ihrem Alter zum Zeitpunkt ihrer Geburt, daß sie sich daran nicht erinnern könne: «Es ist zu lange her!» Die fünfjährige Jacqueline kann sich, wie sie zunächst sagt, ebenfalls nicht mehr erinnern, korrigiert sich dann aber: «Ach ja, ich war zwei Monate alt!» 00 Kinder in diesem Alter sind auch nicht in der Lage, sicher zu benennen, ob ein jüngeres Geschwister früher oder später als sie geboren ist, und sie sind sich auch keineswegs sicher, ob ein einmal gegebener Altersabstand zwischen Personen über die Zeit hinweg erhalten bleibt: Für R o m , viereinhalb Jahre alt, sind Mutter und Großmutter gleichaltrig, und sie ist der Auffassung, daß beide auch in Zukunft gleich alt bleiben w e r den. Etwas anderer Ansicht ist Jear, der zwar meint, daß sein Großvater älter als sein Vater sei, aber nicht weiß, welcher von beiden zuerst geboren ist. Auf die entsprechende Frage antwortet er: «Ich weiß nicht. Er war sofort alt, mein Großpapa.» Pti, ebenfalls im selben Alter wie R o m und Jear und derselben Auffassung, fügt eine Begründung dafür an, daß Vater und Großvater ganz offensichtlich gleichaltrig sind: «Weil sie gleich groß sind.» 0 1

Hier liegt ein Schlüssel für das kindliche Zeitverständnis: Kinder machen das beobachtete Lebensalter an der Kategorie der Körpergröße fest, und da sie wissen, daß sie selbst wachsen, sind sie der Auffassung, sie selbst würden älter, während die Erwachsenen gleichblieben. Die Kinder, das ist das B e merkenswerte, sind also durchaus in der Lage, Theorien über alterskorrelierte Zusammenhänge aufzustellen, aber weil sie über kein Konzept linear ablaufender Zeit und damit auch über keines der Dauer verfügen, entwickeln sie andere kausale Verknüpfungen als Erwachsene. Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um auf ein grundlegendes Prinzip der ontogenetischen Entwicklung hinzuweisen, das in der klassischen Entwicklungspsychologie noch nicht erkannt wurde: daß Kinder nämlich sukzessive aus j e n e m allgegenwärtigen Uberangebot von Benennungen und Kategorien jene herausfiltern, die sie je nach ihrem Entwicklungsstand für ihre Z w e c k e gebrauchen können. Wir hatten dasselbe Prinzip bereits bei dem von Kindern angewendeten Verfahren des Spracherwerbs gefunden. Auch hier hatte sich gezeigt, daß man sich den Bildungsprozeß von Kindern als einen Prozeß der Praxis und nicht einen des Aufnehmens oder Adaptierens vorstellen muß. Die O n t o genese ist gleichbedeutend mit der sich immer weiter verbessernden symbolischen, kognitiven und zeitlichen Synchronisation eines Kindes mit den anderen Mitgliedern seiner Welt. Der Schlüssel für diese Synchronisation, die auf den Ebenen der Kategorisierung, der Sprache, der Konzeptbildung etc. zugleich stattfindet, liegt in der Autobiographisierung des Gedächtnisses. Erst wenn es ein Selbst gibt, auf das die Erlebnisse, Beobachtungen, Gedanken bezogen werden können, kann die heranwachsende Person mehr und mehr mit den Personen ihrer Umgebung synchronisiert werden. Individualisierung und Sozialisierung sind also keineswegs Gegensätze, sondern fallen zusammen. Ontogenese und Soziogenese sind lediglich zwei Aspekte ein und desselben Vorgangs. D e r Clou dieses Vorgangs liegt nun aber darin, daß sich genau hier zeigt, daß Menschen sich in einer co-evolutionären Utn-

weit heranbilden. Alles, was sie sich in Praxis aneignen, sind gewissermaßen symbolische Formen auf dem neuesten Stand. Sie verwenden das Material, das ihnen ihre jeweilige Vorgängergeneration zur Verfügung stellt, und modifizieren es u m standslos, weil sie ihre Umwelt aktiv erschließen und sich eben nicht an sie adaptieren. Zeitkonzepte werden ebenso wie basale kommunikative Fähigkeiten schon vorgebahnt, indem frühe Interaktionen zwischen Mutter und Kind — etwa beim Reden oder beim Singen - durch eine präzise R h y t h misiemng strukturiert sind, die beide Interakteure einhalten. Inzwischen liegen Studien über frühe Musikalität vor, die anhand von sonographischen Aufzeichnungen nachweisen, daß schon Säuglinge in den auf sie bezogenen «Gesang» ihrer Mutter einstimmen, indem sie den rhythmischen Leerstellen ihre auf die Tonhöhe und Prosodie der mütterlichen Vorgabe abgestimmten Laute einfügen. 0 2 Auch Merlin Donald hat in seiner Theorie der Bewußtseinsentstehung auf die phylo- und ontogenetische Bedeutung der rhythmischen Abstimmung hingewiesen: «Kin Rhythmus ist ein Wahrnehmungsmuster zeitlicher Beziehungen; er kann auf einen Klang, ein Gefühl oder etwas Gesehenes zurückgehen, und er kann mit der Stimme, mit den Händen oder mit dem ganzen Körper reproduziert werden.» 1 3 3 Unser basales Gefühl für Rhythmus hat ganz offensichtlich eine organische Basis - man braucht da nur an den Herzschlag zu denken. J e der Rhythmus, der vom Kind erlebt wird, bildet eine prototemporale Sequenz, eine Vor-l3ahnung für das viel später einsetzende Zeitverständnis. An diesem Zusammenspiel von biologisch gegebenen Ermöglichungsbedingungen und coevolutionär gebildeten Entwicklungsbedingungen kann man sehen, daß die menschliche Ontogenese etwas völlig anderes ist als die Ontogenese anderer Lebewesen, und zwar deswegen, weil sie in einer völlig anderen Entwicklungsumwelt stattfindet. Die Gehirnentwicklung des Menschen ist, wie gesagt, kein autonom ablaufender biologischer Vorgang, sondern ein biologischer Prozeß, der unter sozialen und kulturellen Bedin-

gungen geformt und in sozialer Interaktion gestaltet wird. Deshalb ist jedes Kind prinzipiell auch in beträchtlichem Maße formbar, was man sich am eindrucksvollsten an folgendem Beispiel klarmachen kann: Unser Gehirn hat sich in den letzten 40 000Jahren auf der Ebene seiner hardware nicht verändert. Dies bedeutet, daß das Kind eines steinzeitlichen homo sapiens, würde es in unserer Welt aufwachsen, dieselben Fähigkeiten hätte, Jet-Pilot oder Computer-Hacker zu werden, w i e jedes andere Kind der westlichen Hemisphäre auch. Würde man hingegen aufgrund irgendeines Zeitmaschinenwunders mit der heutigen Physis in die Steinzeit hineingeboren, so würde man sich exakt im R a h m e n der kulturellen Bedingungen entwickeln, die damals herrschten, und es wäre keineswegs ausgemacht, ob man selbst derjenige sein würde, der den tiefen Teller erfindet. Dieses Beispiel zeigt sehr eindringlich, daß die Entwicklungsumwelt von M e n schen supranaturaler Art ist. In unserer adaptiven Umwelt würde das Steinzeitkind mühelos unser Zeitregime internalisiercn, während das Zeitmaschinenkind, das von heute aus in die Vergangenheit geboren würde, allenfalls zyklische Temporalkategorien erlernen würde. Das Gedankenexperiment zu einer Zeitreise zeigt zum einen, daß Zeit ein menschliches Orientierungsmittel auf niedrigerem oder höherem Syntheseniveau ist. Z u m anderen macht es deutlich, daß Orientierungsmittel wie Zeitkategorien grundsätzlich sozialer Natur sind, aber sozialisationsbedingt als objektiv erfahren werden, einfach deshalb, weil sie Teil der objektiven Entwicklungsumwelt des Kindes sind. Daraus resultiert die eigentümliche Schwierigkeit, die Piaget so paradox benannt hat. Vor diesem Hintergrund wird unmittelbar einsichtig, was das autobiographische Gedächtnis des Menschen ist. Eine coevolutionäre Entwicklungsumwelt ist zwangsläufig selbst in beständiger Veränderung; das betrifft die Lebensformen der Menschen in ihrer jeweiligen historischen und kulturellen Gestalt und damit auch die ontogenetischen Anforderungsprofile, die die jeweilige Passung zwischen denen, die schon da

sind, und denen, die dazukommen, sicherstellen müssen. Eine Spezies, die eine co-evolutionäre Entwicklungsumwelt nutzt, braucht ein Relais, das seine Mitglieder für sich erweiternde und diversifizierende soziale Gruppen anschlußfähig, «soziabel» macht. Das autobiographische Gedächtnis ist ein solches Relais, eine psychosoziale Instanz, die subjektiv Kohärenz und Kontinuität sichert, obwohl die sozialen Umwelten und mit ihnen die auf das Individuum gerichteten Anforderungen fluktuieren. Genau diese Relaisfunktion erklärt auch, weshalb w i r historisch verschiedene Niveaus der Autobiographisierung und in interkultureller Perspektive unterschiedliche Altersstufen verzeichnen können, in denen ontogenetisch die Autobiographisierung, also die Entstehung eines kontinuierlichen Selbst, einsetzt. Das autobiographische Gedächtnis ist eine biopsychosoziale Instanz, die das Relais zwischen Individuum und Umwelt, zwischen Subjekt und Kultur stellt. Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses verläuft parallel zur immer paßgenaueren Synchronisierung des sich entwickelnden Individuums zu seiner sozialen Umwelt — die Ontogenese bildet in diesem Sinne zugleich auch die S o ziogenese des Menschen. Das autobiographische Gedächtnis erlaubt nicht nur, Erinnerungen als unsere Erinnerungen zu markieren, es bildet auch die temporale Feedbackmatrix unseres Selbst, mit der w i r ermessen können, wo und wie wir uns verändert haben und wo und wie wir uns gleichgeblieben sind. Und es bietet eine Abgleichmatrix zu den Zuschreibungen, Einschätzungen und Beurteilungen unserer Person, die unser soziales Umfeld unablässig vornimmt. D e r Wunsch nach Kontinuität ist nicht nur ein individueller Wunsch; ohne Kontinuität der Identität ihrer Mitglieder könnten eine soziale Gruppe und eine Gesellschaft nicht funktionieren, weil Kooperation - die zentrale Kategorie menschlichen Daseins - nur dann gewährleistet ist, wenn Menschen verläßlich heute dieselben sind, die sie gestern waren und morgen noch sein werden.

Norbert Elias hat schon vor einem Dreivierteljahrhundert daraufhingewiesen, daß wir die Psycho- und Soziogenese des Menschen nur dann zureichend verstehen können, wenn wir den ihr zugrundeliegenden Prozeß als einen begreifen, der sich grundsätzlich und immer innerhalb einer Figuration von Menschen abspielt, die vor dem sich entwickelnden Kind da war. Dessen gesamte Entwicklung nach der Geburt hängt von den kulturellen und sozialen Handlungen und Techniken ab, welche die ihm vorausgehende Figuration co-evolutionär entwickelt hat. Diese Perspektive ist auch von so unterschiedlichen Entwicklungspsychologen wie Lev Wygotsky, Daniel Stern und Michael Tomasello eingenommen worden, die zeigen, daß Menschen nichts «verinnerlichen», wenn sie sich entwickeln, sondern daß sie im Zusammensein mit anderen praktisch lernen, was sie brauchen, um in einer gegebenen Sozialität zu funktionieren und zu einem vollwertigen Mitglied dieser Sozialität zu werden. Die Ontogenese eines beliebigen Kindes besteht also in einer doppelten diachronen Zustandstransformation: Die eine Transformation ist historisch und bezieht sich auf den Wandel der Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Erziehungsformen (und damit der Bilder und Vorstellungen, was «gut Rhein Baby» ist und wie man es zu behandeln hat); die andere Transformation bezieht sich auf das sich entwickelnde Individuum selbst und besteht in der sukzessiven Veränderung seines Verhältnisses zu den anderen und zu sich selbst — anders formuliert: in der Verschiebung der Balance zwischen interpersonalen und intrapersonalen Regulationen, zwischen Selbstzwang und Fremdzwang. Genauso wie sich auf der Ebene langfristiger historischer Transformationen Fremdzwänge in Selbstzwänge verwandeln, 134 wird die von der Bezugsperson des Kindes angeleitete Regulation seines Befindens zunehmend in intrapersonale Regulationen übergeleitet - aus Fremdregulationen werden Selbstregulationen. Ich nehme an, daß das autobiographische Gedächtnis die deklarative und reflexiv zugängliche Instanz der Selbstregulation darstellt, während die anderen Gedächt-

nissysteme die impliziten Formen der Selbstregulation aul I )auer stellen und situativ abrufbar machen. Hinsichtlich der emotionalen Entwicklung von Säuglingen, Kindern und Heranwachsenden haben die Entwicklungspsychologen Manfred Holodynski und Wolfgang Friedlmeier (2005) eine überzeugende Beschreibung vorgelegt, wie aus interpersonalen Regulierungen der Befindlichkeiten eines Kindes im Verlauf der Ontogenese intrapsychische Regulationen werden. Dabei gehen die Autoren davon aus, daß Neugeborene prinzipiell zur Kommunikation in der Lage sind, wobei ihrer Auffassung nach «Vorläufer-Emotionen» (precursor eniotions) die entscheidende expressive Rolle spielen. Ein Baby kann durch den Ausdruck seiner Emotionen kommunizieren, wie es ihm geht und in welcher Weise sein Zustand einzuschätzen ist: Es kann Ekel, Hunger, Wohlbefinden kommunizieren, weil die dazugehörigen Emotionen expressive Signale für die Bezugspersonen liefern, auf die sie reagieren können. Da die Bezugsperson - in den meisten Fällen die Mutter - nun aber nicht nur technisch das entsprechende Bedürfnis des Säuglings befriedigt, sondern ihrerseits emotional - mit Streicheln, Wiegen, Singen, Sprechen — auf das Baby reagiert, ergeben sich in der interpersonalen Situation der Fürsorge für das Kind zwei Feedbackschleifen: Z u m einen registriert das Baby an seinem Körperzustand propriozeptiv und intrazeptiv, daß etwas s i c h - vom Unbehagen zum Wohlbefinden - verändert hat, zugleich registriert es aber auch einen emotionalen Gleichklang mit der Mutter: Ü b e r das Körperfeedback werden Empfindungen ausgelöst, die dem «Gefiihlszustand der nachgeahmten Person entsprechen und dadurch vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern eine Gefühlsansteckung auslösen können». 11 - 1 Hier wird deutlich, daß die frühe Regulierungstechnik rein interpersonal v e r l ä u f t - die körperlichen Bedürfnisse des Kindes und mit ihnen die Vorläufer-Emotionen werden durch die Mutter befriedigt, und die Beziehung zwischen den beiden stellt neben den intrazeptiven Feedbackschleifen auch ein soziales Feedback bereit, daß nun

nicht nur intrapersonal, sondern auch interpersonal alles w i e der in O r d n u n g ist. Die Autoren legen ein Transformationsmodell der Emotionsregulierung vor, das durch die folgenden Phasen strukturiert ist: In den ersten beiden Lebensjahren entwickelt sich ein S y stem der interpersonalen Regulation, mit dessen Hilfe das Kind «ein differenziertes, durch Ausdruckssymbole vermitteltes Emotionsrepertoire» aufbaut und sich zugleich eine R e i h e von Bewältigungserfahrungen etablieren. 0 6 D e r regulative Prozeß ist in dieser Phase auf die Bezugsperson und das Kind aufgeteilt, was ein Wechselspiel zwischen intuitivem elterlichen Fürsorgeverhalten und der Imitationsfahigkeit des Babys sowie eine Sensibilität für Sequenzen und kommunikative und affektive Feinabstimmungen auf beiden Seiten i m pliziert. D i e Regulierung erfolgt in dieser Zeitspanne nahezu ausschließlich interpersonal, weil das K i n d noch nicht in der Lage ist, selbst etwas zu tun, was der Regulation seiner B e findlichkeit dienen würde.

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Dies geschieht erst in der zweiten Phase, im Alter zwischen drei und sechs Jahren. Mit Hilfe des sich jetzt konfluierenden Selbstkonzepts, der Möglichkeit, Befinden symbolisch auszudrücken und einer deutlich wachsenden Erwartung seines sozialen Umfelds, das Kind m ö g e sich doch «benehmen» oder «still sein» oder «artig sein», beginnt sich die «allumfassende Unterstützung durch seine Bezugspersonen zu reduzieren», und das Kind wird «sowohl zu einer IH/«personalen emotionalen Handlungsregulation als auch zu einer /»/('(personalen reflexiven Emotionsregulation fähig». 137 In zunehmendem Maße ist es auch zu Bedürfnisaufschüben in der Lage und wird sich überdies dessen bewußt, daß es Gefühle hat - was sich etwa auch darin zeigt, daß es Emotionen spielerisch simulieren kann, indem es so tut, «als ob» es traurig sei o. ä. D i e Verknüpfung der Regulation von «außen» und «innen» wird im übrigen auch daran erkennbar, daß das Kind nun mehr und mehr in der Lage ist, Handlungen zu hemmen oder zu unterlassen, w e n n es begreift, daß etwas «verboten» ist oder von den Bezugspersonen ungern gesehen wird.

In einer dritten Entwicklungsphase, die Friedinieier und H o lodynski mit dem sechsten Lebensjahr einsetzen lassen, «erfolgt ein Formwechsel der psychischen Regulationsmittel (der Ausdrucks- und Sprechzeichen), die das Kind für seine mfrapersonale Regulation einsetzt.» Das heißt: Was zuvor für einen Beobachter sichtbar war — heftiger Z o r n , große Freude, massive Verunsicherung -, wird nun zu «mentalen Ausdruckszeichen», die nach innen einen bestimmten emotionalen Z u stand signalisieren, während das Gesicht und die Körperhaltung neutral bleiben. «Es entsteht eine mentale Ebene des Ausdrucks, Sprechens und Handelns. Es entwickeln sich , d. h. Gefühle, die auf keinem Körperfeedback von realen Ausdrucks- und Körperreaktionen mehr beruhen, sondern auf deren somatosensiblen Repräsentationen.» 138 Eine vierte bzw. fünfte Entwicklungsphase wird mit der Adoleszenz bzw. dem Erwachsenenalter erreicht - wobei im Jugendalter vor allem die sozioemotionale Feinabstimmung, das heißt das Erproben der adäquatesten «Passung» der eigenen Person zur sozialen Umwelt von Bedeutung zu sein scheint, die sich im Erwachsenenalter korrigiert und stabilisiert. Alles das ist, je nach dem historischen und kulturellen Entwicklungsniveau der Gesellschaft, in der die Person heranwächst, variabel. Dieses Modell von Friedlmeier und FIolodynski, das empirisch zumindest für die Kindheitsphasen gut belegbar ist, läßt sich als direkte Illustration der grundlegenden Entwicklungsdynamik betrachten, daß in der Ontogenese aus Fremdzwängen Selbstzwänge werden. Jeder weiß, wie unreguliert, direkt und außenorientiert die emotionale Welt eines Kleinkindes ist, wie impulsiv und unberechenbar die eines pubertierenden Jugendlichen und wie gedämpft und innengeleitet die einer Person im mittleren Erwachsenenalter sein kann. Aber der besondere C l o u des Modells von Holodynski und Friedlmeier ebenso wie der theoretisch viel weiter ausgreifenden Konzeption von Elias liegt darin, daß hier der Individuationsprozeß von vornherein als ein sozialer gedacht wird: Alles, was ontogenetisch geschieht, ist ein Verlauf von der regulativen Sozialität, in der und mit der das Kind

sich entwickelt, hin zu jener Individualität, in der soziale Z w ä n g e , Restriktionen und Geflihlsregulationen in die Innenwelt verlegt sind. Die Gedächtnisentwicklung verläuft vom Sozialen hin zum Individuellen — vom Säugling und Kleinkind, das ohne episodisches Gedächtnis in einem Universum des So-Seins existiert und das die Quellen von Erinnerungen nicht unterscheidet, zum Vorschulkind, das über wachsende temporale Differenzierungen eine Situierung seines Selbst in der Zeit gewinnt und schließlich über den Spracherwerb und ein kognitives Selbst ein autobiographisches Ich wird, das die früheren und künftigen Erfahrungen in einer Lebensgeschichte integriert, die sozial und individuell zugleich ist.

VI. Die Macht der Gefühle. Über emotionale Erinnerung «Es geschah, als er Tingsryd passiert hatte und auf die Straße nach Ronneby eingebogen war. Plötzlich tauchte ein Elch vor ihm auf. Im bleichen Licht der Dunkelheit hatte er ihn nicht gesehen. Es war viel zu spät, er hatte nicht rechtzeitig reagiert, das begriff er in einem kurzen verzweifelten A u genblick, als das Kreischen der Bremsen ihm in den Ohren gellte. Er würde frontal mit dem riesigen Elchbullen zusammenstoßen und hatte nicht einmal den Sicherheitsgurt angelegt. Plötzlich jedoch drehte das Tier ab, und ehe er sich's versah, war Wallander an ihm vorbei, ohne es auch nur zu streifen. Er fuhr rechts ran und blieb ganz ruhig sitzen. Das Herz schlug wie wild in seiner Brust, er keuchte und fühlte sich schlecht. Als er sich beruhigt hatte, stieg er aus. Wieder einmal um Haaresbreite am Tod vorbei, dachte er.» Diese kurze Passage entstammt dem Kriminalroman «Die weiße Löwin» von Henning Mankell. Mankells Beschreibung des Beinahe-Unglücks seines leidgeprüften Kommissars Kurt Wallander enthält einige Elemente, die uns im Verlauf dieses Kapitels beschäftigen werden: eine lebensbedrohliche Situation, ein automatisch ablaufendes Reaktionsmuster, mehrere Dimensionen von Gefühlen, körperliche Veränderungen, selektive Wahrnehmungen, kognitive Einordnungen. Was ist hier geschehen? Wailander verliert die Kontrolle über die Situation, als plötzlich ein Elch auf der Straße auftaucht. Damit hat er nicht gerechnet, und weil er damit nicht gerechnet hat, bedeutet der Elch eine plötzliche Lebensgefahr. Wallander versucht zu reagieren, er bremst, aber er weiß, daß es zu spät ist. G e danken schießen ihm durch den Kopf: Der Bremsweg wird nicht ausreichen, er hat sich nicht einmal angeschnallt, er wird den Elch frontal erwischen. Nachdem der Elch es sich wunder-

samerweise anders überlegt hat, muß Wallander sich erstmal wieder erholen. Sein Körper ist noch ganz bei der Sache: Sein Herzschlag rast, seine Atmung ist belastet, er fühlt sich elend. Erst nachdem sich alles beruhigt hat, Wallander und sein Körper, beginnt er, eine Bewertung vorzunehmen: «Wieder einmal um Haaresbreite am Tod vorbei.» Wallander realisiert, was (nicht) geschehen ist, und ordnet es anderen Ereignissen in seinem Leben, seiner Biographie zu. Wie läßt sich das Ganze abstrakter beschreiben? Eine Person nimmt einen höchst bedrohlichen Auslösereiz (Elch auf der Straße) wahr, erlebt unmittelbar darauf eine Emotion (Furcht) in Verbindung mit einer R e i h e physiologischer Begleiterscheinungen (Erhöhung der Herzfrequenz, Übelkeit etc.) und reagiert darauf mit einer R e i h e von Abwehrhandlungen (Bremsen, Lenken). Als alles vorüber ist, ordnet er das G e schehen kognitiv ein (Bewertung). So sieht es aus, in Wallanders Augen oder besser: in Mankells Augen und sicher auch in unseren. Aber ist das tatsächlich der Ablauf, wie er sich in Wirklichkeit vollzieht? Vor mehr als hundert Jahren hat William James dasselbe Phänomen anhand einer einfacheren Situation (die heute aber selten anzutreffen ist) diskutiert: Laufen wir vor einem Bären weg, weil wir uns fürchten? O d e r fürchten wir uns, weil wir vor dem Bären weglaufen? James' Antwort fiel eindeutig zugunsten der zweiten Alternative aus: Seiner Auffassung nach erfolgt zuerst die Reaktion (Laufen) auf den Reiz (Bär), bevor die Emotion (Furcht) einsetzt. Seine Begründung sah etwa so aus, daß die Fluchtreaktion mit einer Reihe körperlicher Prozesse einhergeht (Beschleunigung des Herzschlags, Muskelanspannung, Transpiration etc.), die gefühlt werden können, also eine Empfindung hervorrufen, die im nachhinein als «Furcht» charakterisiert werden kann. Die Wahrnehmung der körperlichen Reaktion auf den R e i z und die damit verbundene Aktion fungiert also als ein Feedback, das die R e a k tion auf den auslösenden Reiz fühl- und bewertbar macht. In den Worten von Joseph L e D o u x : «Die physiologischen R e aktionen werden jeweils in Gestalt körperlicher Empfindun-

gen ans Gehirn zurückgemeldet, und die spezifische Beschaffenheit der sensorischen R ü c k m e l d u n g verleiht der j e w e i ligen Emotion ihre spezifische Qualität. D e r mentale Aspekt der Emotion, das Gefühl, ist ein Sklave ihrer Physiologie, nicht umgekehrt: Wir zittern nicht, weil w i r uns fürchten, und wir weinen nicht, weil wir traurig sind; wir fürchten uns, weil wir zittern, und wir sind traurig, weil wir w e i nen.» 139 Dieser Befund widerspricht unserer Intuition - aber vielleicht versuchen Sie einfach mal, ihre Gesichtsmuskulatur zu einem Lächeln zu bewegen oder, umgekehrt, Ihrem Gesicht einen Ausdruck tiefer Trauer oder heftigen Zorns zu verleihen, und achten Sie darauf, was Sie dabei fühlen. Sicher werden Sie nicht in ausgelassene Heiterkeit, abgrundtiefe Verzweifelung oder heilige Wut verfallen, aber die mit der physiognomischen Manipulation einhergehenden Gefühle werden Ihnen wenigstens eine leise Tendenz der Emotion vermitteln, die mit dem jeweiligen Mienenspiel verbunden ist. Die kaum bestreitbare Tatsache, daß Emotionen immer einen körperlichen Index haben, hat Antonio Damasio dazu veranlaßt, weitreichende Überlegungen zum Verhältnis von Körper, Emotion und Kognition anzustellen - so weitreichende, daß er eine Theorie der Entstehung des Bewußtseins aus diesem Verhältnis entwickeln zu können glaubt. Ich möchte zunächst Damasios Überlegungen in groben Zügen nachzeichnen, um anschließend die Frage zu diskutieren, was emotionale Erinnerung ist. Auf dieser Basis können dann einige sozialpsychologische Betrachtungen darüber angestellt werden, was Emotionen wahrscheinlich sind und welche Rolle sie für unser Gedächtnis und die Regulation unseres Verhältnisses zu uns selbst und zu anderen spielen. Es gibt eine Reihe von Emotionen, die offensichtlich - samt ihrer physiologischen Ursachen und physiognomischen B e gleiterscheinungen — in allen Kulturen und zu allen Zeiten vorkommen: Es sind dies die «primären Emotionen», die offensichtlich schon genetisch präorganisiert und keineswegs auf die menschliche Spezies beschränkt sind. Ein Küken zum

Beispiel duckt sich automatisch, wenn der Schatten von etwas Großem mit ausgebreiteten Flügeln auf es fällt. D i e Furchtreaktion erfolgt unmittelbar, und natürlich hat das Küken nicht die geringste Vorstellung davon, was ein Bussard ist, und es ist ihm auch nicht beigebracht worden, was in einem solchen Fall zu tun ist. Auch bei Menschen lassen sich unwillkürliche körperliche Reaktionsmuster beobachten, wenn etwas G e fährliches zu geschehen droht — im Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen in der frühen Kindheit war ja bereits von einer Starrereaktion die R e d e , die automatisch ausgelöst wird, um die Gefahr zu reduzieren, von einem Angreifer entdeckt zu werden. 1 4 0 Die automatische Furchtreaktion, die zur Starre oder zum Sich-Ducken führt, wird ausgelöst, ohne daß die dazugehörige Gefahr kognitiv identifizierbar wäre — es genügt, daß bestimmte Merkmale des Objekts vom Gehirn (in diesem Fall von den frühen sensorischen Rindenfeldern) verarbeitet werden und bestimmte Rückmeldungen auf diese Signale hin gegeben werden, die dann die entsprechenden biochemischen und organischen Vorgänge auslösen, die zur emotionalen Reaktion führen. Primäre Emotionen sind zunächst also nicht mehr als die B e gleitumstände von Situationen, in denen der Organismus, ob man will oder nicht, auf bestimmte Auslösereize reagiert — w o b e i sich bei Menschen (und wahrscheinlich auch bei vielen höheren Säugetieren) in Verbindung mit den dabei auftretenden körperlichen Vorgängen auch eine bestimmte Gefühlslage einstellt, wie bewußt diese auch immer sein mag. Diese Gefühlslage fungiert als Feedback für den Organismus, als Marker dafür, daß etwas Bestimmtes geschehen ist. Zu den primären Emotionen zählen nach verbreiteter Auffassung Furcht, Glück, Zorn, Ekel und Trauer, oft wird auch Überraschung dazu gerechnet — womit die Schwierigkeiten schon anfangen, denn die Bandbreite und interindividuelle Varianz des Überraschtseins läßt es doch als sehr unwahrscheinlich erscheinen, daß es sich hierbei um eine überkulturelle und überhistorische Emotion handeln könnte. Überraschung dürfte deshalb eher zu den sekundären Emotionen zu rech-

nen sein, das heißt zu den erfahrungsabhängigen emotionalen Reaktionen, zu denen beispielsweise unterschiedliche Grade von Arger, Verliebtsein etc. gehören. Alle Emotionen treten in Verbindung mit körperlichen Prozessen auf, die für das betroffene Individuum eine Situation der Gefahr, der Lust, des Verlustes usw. anzeigen, aber das ist noch nicht alles. Im Unterschied zu dem Küken, das sich vor dem Bussard duckt, bleibt es bei Menschen ja nicht bei dem bloßen Zusammenspiel von Auslösereiz, autonomer Reaktion und emotionaler Erregung, sondern es kommt noch hinzu, daß die Emotionen empfunden werden können. Mehr noch, es wird, wie Damasio sagt, die Verknüpfung zwischen dem Objekt, das die Reaktion auslöst, und dem dadurch regulierten gefühlsbedingten Körperzustand wahrgenommen. Das heißt, es existiert ein Bewußtsein darüber, was man fühlt. Wofür, könnte man nun fragen, soll das eigentlich gut sein? Damasios Antwort ist einfach: Eine Emotion, die nicht nur Teil eines autonom ablaufenden Reaktionsmusters ist, sondern zugleich die Daten für die Bewertung eines Körperzustands liefert, läßt für die nach der unmittelbaren Reaktion möglichen I landlungen eine größere Variationsbreite zu. N e ben die angeborene, präorganisierte Reaktionsweise tritt eine erworbene, erfahrungsabhängige Reaktion, die geeignet ist, einen Unterschied zwischen den Umrissen und Bewegungen eines wirklichen Adlers und der nahezu identischen Silhouette eines Kinderdrachens wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren. Daneben kann die Fähigkeit, die emotionale Reaktion zu empfinden, auch dazu dienen, Kategorien darüber zu bilden, welche Erscheinungsform des Auslösereizes als gefährlich bzw: als ungefährlich einzuschätzen ist. Mit anderen Worten: Das Empfinden einer emotionalen Reaktion bietet gegenüber ihrem bloßen unbewußten Vorhandensein einen handlungsökonomischen Gewinn und einen Überlebensvorteil - die eigene Reaktion kann bewertet werden, und aus dieser Bewertung können wiederum Schlüsse darüber gezogen werden, welches Handeln zukünftig in einer analogen Situation angebracht ist. In Damasios Worten: Wenn Sie Ihre

Emotion empfinden können, «gewinnen Sie damit eine Flexibilität der Reaktionsfähigkeit, die auf der besonderen G e schichte Ihrer Interaktionen mit der Umwelt beruht». 141 • Die primären Gefühle erzeugen in Ihnen etwas, gegen das Sie sich nicht wehren können und das vor aller Erfahrung schon da war; die Empfindung dieses Etwas aber stellt eine Verknüpfung zwischen einer angeborenen Reaktionsweise und einer Erfahrung mit dieser Reaktionsweise her - und diese Verknüpfung erlaubt es, das Reaktionsmuster von Fall zu Fall zu variieren. Nun wird aber die präorganisierte, autonome Reaktion durch die Etablierung erfahrungsabhängiger Reaktionsmuster nicht abgelöst, wie wir alle beim E r schrecken über ein Objekt merken, das gerade über uns im Fallen begriffen ist. Wir springen sofort zur Seite, um dem Ding zu entgehen — auch wenn sich gleich darauf herausstellt, daß es sich nicht um einen Stein oder einen B l u m e n topf, sondern um einen völlig ungefährlichen trockenen Schwamm oder sogar nur um einen Schatten gehandelt hat. Das präorganisierte Reaktionsmuster ist also durchaus noch in Kraft - und an Ihrem Herzklopfen merken Sie, daß Sie sich für einen kurzen Augenblick tatsächlich in Gefahr gefühlt haben. Wozu, könnte man nun fragen, dient die Beibehaltung des unflexiblen, voreingestellten Reaktionsmusters auf bestimmte Auslösereize, wenn wir doch über eine souveräne, erfahrungsbasierte Bewertungsmöglichkeit der Situation verfügen? Weil es wiederum einen Uberlebensvorteil darstellt, wenn man sich zwar gelegentlich völlig überflüssigerweise zu Tode erschreckt, zur Seite springt oder sich duckt, einem dafür aber im Fall der Fälle der Blumentopf nicht auf den K o p f fällt. Joseph L e D o u x hat auf der Basis von umfangreichen Tierversuchen herausgefunden, wieso es möglich ist, daß beide, primäre und sekundäre Reaktionsweisen in Gang gesetzt werden, und ist zu den folgenden Befunden gekommen: Bei der Verarbeitung emotionaler Reize spielt die Amygdala, ein mandelgroßes Organ in zentraler Position des Gehirns, eine zentrale Rolle.

Abb. 12: Für die Verarbeitung von emotionalen Gedächtnisinhalten wichtige Hirnregionen (modifiziert nach Squire & Kandel 1999, S. 181)

Sie gilt als wichtige Schaltstelle «für die emotionale Färbung von Wahrgenommenem und für die Verarbeitung von e m o tionalen Gedächtnisinhalten» (s. Abb. 13). 1 4 2 D i e Amygdala steuert die Abwehrreaktionen des Körpers in gefahrvollen oder auch in nur scheinbar gefahrvollen Situationen. Durch ihre Aktivierung kommt es zur Ausschüttung von Hormonen. Werden Streßhormone ausgeschüttet, w e r den unter anderem die Muskelanspannung und die Herzfrequenz gesteigert; die Ausschüttung h e m m e n d e r H o r m o n e sorgt dafür, daß zum Beispiel eine Starrereaktion eintritt. Die Amygdala empfängt Signale v o m Thalamus, einer zentralen Instanz für die Weiterverarbeitung von R e i z e n , die von den Sinnesorganen kommen. L e D o u x hat herausgefunden, daß der Thalamus seine Signale nicht nur auf direktem Weg an die Amygdala weitergibt, sondern sie zugleich auf einer Art U m leitung auch in den sensorischen Kortex schickt, in dem die höheren Gehirnfunktionen ablaufen und Vorgänge des be-

Abb. 13: Die Amygdala als zentrales Organ für die Verarbeitung von emotionalen Reizen (vereinfacht nach LeDoux 1996, S. 174)

wußten Wahrnehmens, des Abrufs von Erinnerungen etc. stattfinden. Vom sensorischen Kortex aus wird das v o m T h a lamus empfangene Signal dann wiederum an die Amygdala weitergegeben, die auf diese Weise — mit einer kurzen zeitlichen Verzögerung - nach dem ersten direkten Alarmsignal ein zweites, sozusagen schon geprüftes Signal über denselben Auslösereiz erhält. L e D o u x nennt den schnellen, direkten Weg vom Thalamus zur Amygdala den niederen und den langsameren, indirekten Weg über den Kortex den hohen Weg (s. Abb. 14). D i e Funktion dieser Parallelaktion der einbezogenen Organe beschreibt L e D o u x so: «Die direkte Bahn vom Thalamus zur Amygdala ist ein kürzerer und deshalb schnellerer Ubertragungsweg als die Bahn v o m Thalamus über die R i n d e [den Kortex, H.W.] zur Amygdala. Sie kann aber, da sie die R i n d e ausläßt, nicht von der kortikalen Verarbeitung profitieren. Deshalb kann sie der Amygdala nur eine grobe Repräsentation des Reizes liefern. Sie ist daher eine schnelle und u n g e naue Verarbeitungsbahn. Dank der direkten Bahn können w i r auf potentiell gefährliche R e i z e schon reagieren, bevor w i r uns über den R e i z ein vollständiges Bild gemacht haben. Jn gefährlichen Situationen kann das sehr nützlich sein. D e r

Nutzen hängt j e d o c h davon ab, daß die kortikale Bahn die direkte Bahn korrigieren kann.» 143 D e r Zeitunterschied in der Signalverarbeitung zwischen niederem und hohem Weg liegt bei Ratten bei etwa 12 Millisekunden, bei Menschen vermutlich doppelt so hoch — was in einer gefährlichen Situation schon ein entscheidender M o m e n t sein kann. D e r Preis flir diesen G e w i n n an Reaktionszeit ist eben, daß man sich gelegentlich ganz umsonst erschreckt. D i e Amygdala spielt also eine zentrale R o l l e bei der Verarbeitung emotionaler R e i z e , aber sie erhält Informationen nicht nur vom Thalamus und vom sensorischen Kortex, sondern auch vom Hippocampus, einem für die langfristige Speicherung und Konsolidierung von expliziten Gedächtnisinhalten wichtigen Gehirnorgan. Von hier aus werden der Amygdala Informationen gegeben, die nicht unmittelbar mit dem gegebenen sensorischen R e i z zu tun haben, sondern so etwas w i e allgemeines Wissen über den Kontext der Situation, ihre B e deutung (Gefahr/keine Gefahr) usw. enthalten. Daneben b e kommt die Amygdala auch Inputs von der rhinalen oder Abb. 14: «Niederer Weg» und «hoher Weg» bei der Verarbeitung von emotionalen Reizen (LeDoux 1996, S. 175)

Obergangsrinde, die ebenfalls an der Speicherung und am Abruf von Erinnerungen beteiligt ist, und von der präfrontalen R i n d e , die wahrscheinlich am Prozeß der Löschung von Informationen beteiligt ist, die für den Reaktionsbildungsprozeß nicht funktional sind. Die Amygdala ist also offensichtlich das Zentralorgan für die Verarbeitung emotionaler Reize und der mit ihnen zusammenhängenden Merkmale und Kontexte der auslösenden Situation. «Es ist im Grunde die Amygdala, die die emotionale Bedeutung bewertet. Wenn auslösende Reize etwas auslösen, dann hier.» 144 Fassen wir kurz zusammen: Das Auftreten emotionaler R e a k tionen ist unmittelbar gekoppelt an Auslösereize, auf die der Organismus, genauer, das für die Reizverarbeitung zuständige Gehirnsystem autonom reagiert, indem es die für die angemessene Antwort notwendigen biochemischen und elektrophysiologischen Vorgänge auslöst. Diese autonomen Abwehrreaktionen sind evolutionär sehr alt und werden bei T i e ren wie bei Menschen ausgelöst. Das Vorhandensein kortikaler Verarbeitungssysteme läßt neben autonomen Reaktionen gleichzeitig erfahrungsabhängige Reaktionsweisen zu; wenn sie so weitreichend und differenziert wie beim Menschen sind, kann nicht nur eine emotionale Reaktion erfolgen, sondern diese kann bewußt wahrgenommen werden — deshalb können wir Furcht, Ekel, Freude usw. bewußt empfinden und als wahrnehmbaren Teil unserer Befindlichkeit in das B e wußtsein unseres Selbst inkorporieren. Emotionale E m p f i n dungen sind erfahrungsabhängig und variabel - der Umgang mit gefährdenden oder verlockenden Auslösereizen bleibt nicht auf die autonome Reaktion beschränkt, sondern ist o f fen für individuelle, soziale und kulturelle Formung, weshalb vielleicht die Furchtreaktion an sich transkulturell und überhistorisch identisch sein mag, nicht aber die damit verbundene Empfindung, ihr Ausdruck und ihre Verarbeitung. Bei aller sozialer und kultureller Beeinflussung der emotionalen E m p f m d u n g u n d der daraus folgenden Verarbeitungen und Handlungen bleibt aber ein ganz zentraler Aspekt festzuhalten:

daß auch bewußte emotionale Empfindungen grundsätzlich und immer einen körperlichen Bezug haben. Es gibt keine emotionale Empfindung, die rein geistig und körperlos wäre. Wenn nun Emotionen den Status haben, die Bedeutung von Ereignissen zu bewerten, heißt das, daß unsere Einschätzungen von Situationen, in denen wir uns befinden, und die Abschätzungen der 1 Iandlungsfolgen, die daraus resultieren, keineswegs rein kognitive Vorgänge sind, sondern daß sie immerauch einen emotionalen Index haben. Wir handeln, um eine beliebte M e tapher aus der Ökoszene zu verwenden, tatsächlich immer zu einem gewissen Teil «aus dem Bauch», auch wenn wir glauben, kühle und rational abgewogene Entscheidungen zu treffen, die scheinbar aufder rein intellektuellen Abwägung gegebener Tatsachen beruhen. Diese Überlegungen werden durch Befunde an Patienten bestätigt, bei denen die Amygdala beschädigt ist. Wie anhand zahlreicher Fallbeschreibungen nachgewiesen worden ist, sind solche Patienten nach wie vor in der Lage, kognitive Operationen durchzuführen; ihre Intelligenz ist, jedenfalls nach den gängigen Testkriterien, unbeeinträchtigt, genauso wie ihre anterograden und retrograden Gedächtnisleistungen. Nur eines können diese Patienten nicht mehr so gut wie gesunde Personen: Emotionen empfinden. Die damit einhergehenden Einschränkungen beziehen sich aber nicht nur auf so vergleichsweise harmlose Folgen wie bei jenem Patienten, der aufgehört hat, sich den «Playboy» zu kaufen, weil er beim Betrachten der nackten Mädchen nichts Besonderes mehr empfindet, 1 '' 5 sie beziehen sich auch auf eine graduell unterschiedliche Einschränkung bei der richtigen Zuordnung von Gesichtsausdrücken anderer Personen — die Patienten können nicht mehr zuverlässig bewerten, ob ihr Gegenüber Freude oder Zorn, Mißtrauen oder Zufriedenheit zum Ausdnick bringt. Der Ausfall einer zuverlässigen Bewertungsinstanz flir soziale Reize führt auch dazu, daß so etwas wie eine spontane Risikoabschätzung unmöglich ist - ein unter einer Amygdalaschädigung leidender Patient wird also am Gebaren eines Gebrauchtwagenverkäufers nicht ablesen können, ob er es

mit einem guten Geschäft zu tun hat oder mit einem, von dem man besser die Fingerläßt. Daß diese Beschränkung aber insgesamt gravierendere Folgen für das eigene soziale und kommunikative Verhalten nach sich zieht als einen ärgerlichen Fehlgriff beim Autokauf, dürfte nicht überraschen: Die Patienten werden denn auch, bei aller Normalität ihrer Fähigkeiten und Umgangsformen, als merkwürdig neutral im Ausdruck und im kommunikativen Verhalten beschrieben, und erstaunlicherweise können solche Patienten auf einer Art lexikalischen Ebene «wissen», wie Freude und Trauer aussehen, aber sie können sie weder selbst empfinden noch anderen sicher zuschreiben. Wie bereits erwähnt, steht die Amygdala in beständiger Wechselwirkung mit anderen Gehirnorganen, unter anderem mit dem präfrontalen Kortex. Ein auf den ersten Blick eher harmloser Funktionsausfall an einer Stelle des emotionserzeugenden und -verarbeitenden Systems kann, wie der folgende Fall eines Patienten mit präfrontaler Schädigung zeigt, verheerende Folgen haben: Denn wenn man weder die emotionalen Signale der anderen interpretieren noch sich selbst einen Keim darauf machen kann, der eine eigene E m p f i n dung auslöst, muß das Verhalten erstens in einem sehr konkreten Sinn asozial erscheinen (und sein), und zweitens geht darüber hinaus, und das ist vielleicht noch überraschender, die Fähigkeit verloren, Entscheidungen selbst über vergleichsweise simple Alltagsprobleme zu fallen. Ein von Damasio beschriebener Fall illustriert das paradoxe Zusammenspiel von kognitiv erhaltener Alltagskompetenz und emotional schwer eingeschränkter Entscheidungsfähigkeit eindrücklich. Hier geht es um einen Patienten, der an einem eisglatten Wintertag Damasios Institut mit dem Auto ansteuerte. Heil angekommen, berichtete er auf Damasios besorgte Frage, wie die Fahrt gewesen sei, «völlig unbeteiligt», daß er seine Fahrweise eben der spiegelglatten Straße angepaßt habe, daß vor ihm aber eine Frau mit ihrem Wagen ins Schleudern geraten und im Graben gelandet sei. Der Patient ließ sich davon nicht aus der R u h e bringen und steuerte sein Fahrzeug gelassen an der U n -

fallstelle vorbei zum Institut. Am nächsten Tag wurden mit demselben Patienten Terminabsprachen getroffen; dabei standen zwei Termine zur Auswahl, die nur wenige Tage auseinanderlagen. Vor die Wahl gestellt, zählte der Patient «fast eine halbe Stunde lang» unter Zuhilfenahme seines Terminkalenders das Für und Wider der jeweiligen Termine auf: «Vorangehende Verabredungen, die zeitliche Nähe anderer Verabredungen, mögliche Wetterverhältnisse: praktisch alles, was man bei einer so simplen Frage berücksichtigen kann. Mit der gleichen R u h e , die er auf dem Glatteis und bei der Erzählung von diesem Vorfall bewiesen hatte, zwang er uns, nun einer ermüdenden Kosten-Nutzen-Analyse zu folgen, einer endlosen Aufzählung und einem überflüssigen Vergleich von O p tionen und möglichen Konsequenzen. Wir mußten uns sehr beherrschen, um uns all das anzuhören, ohne mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und ihm zu sagen, er solle nun endlich zu einem Entschluß kommen. Schließlich teilten wir ihm ganz ruhig mit, daß er zum zweiten der beiden vorgeschlagenen Tenuine zu erscheinen habe. Seine Reaktion war ebenso ruhig w i e prompt. Er sagte einfach: Da sag' ich: «Ja, glaubst 1 )u, da(5 ich mir das erkämpft hab?> Sag' ich: «Helden gibt's nicht, die sind alle tot!) Sag' ich: «Ich hab' 'n Schutzengel gehabt, daß ich die ganze Zeit durchgekommen bin! Und dann haben sie eben liir die Nahkämpfe eins nach dem anderen gesammelt! Und am Schluß haben sie Dir das Blech da hingeheftet! Und dann haste das noch gekriegt!) Sag' ich: «Das ist alles!) Sag' ich: «Aber sprich

bloß nicht von Heldentum!) Sag' ich: «Ich hab' noch nie im Leben so viel Angst gehabt, als vvenn's '11 Angriffwar, daß es mich erwischt!»» Auch diese Szene hat eine Vorlage: In «Im Westen nichts Neues» steht Paul auf Heimaturlaub vor der Schulklasse seines früheren Lehrers Kantorek, der ein glühender Patriot ist und der zunächst einmal einen Vortrag über den heldenhaften K a m p f seines ehemaligen Schülers gegen die Franzosen hält, bevor er diesen dann selbst bittet, zu den Schülern zu sprechen. Dessen Vortrag fallt 111111 aber ganz anders aus, als Kantorek sich das vorgestellt hatte, denn Paul zerstört das in der Heimat gepflegte Bild vom heldenhaften Kampf, indem er den schmutzigen Alltag im Schützengraben und im Unterstand schildert, das Sterben der Kameraden beschreibt und betont, daß das einzige, was das Überleben sichere, eben Glück sei und nicht etwa Heldentum. Dieses Modell und seine Rhetorik beinhaltet gleich mehrere Strukturelemente: zunächst nämlich, daß das Bild, daß man sich in der Heimat vom Krieg und v o m Soldaten macht («Mensch, M a x e , | . . . ] Du bist ja 'n Held!») mit der Wirklichkeit des Krieges nichts zu tun hat, daß der Soldat also mehr und anderes weiß als die Daheimgebliebenen, was ihm schließlich auch das R e c h t gibt, abgeklärt und zynisch («Helden gibt's nicht, die sind alle tot!») zu sein. D e r kleine Soldat fuhrt seinen Krieg jenseits von Romantik und Verklärung und weiß, wovon er spricht. Diese Rhetorik hat im Fall von Herrn Wieck natürlich nicht nur die Funktion, seinen vorgestellten Gesprächspartner in der Kneipe zugleich zu desillusionieren und zu beeindrucken, sondern auch seinen j u n g e n Gesprächspartner in der Situation des Interviews von einer Dialektik des Krieges zu überzeugen, die nur der Landser kennt: nämlich Sinnlosigkeit und B e w ä h r u n g in einem zu sein. M a n kann also zumindest vermuten, daß viele Elemente der biographischen Erzählungen von Herrn Wieck ihre Quelle ganz woanders haben als aus seiner Lebensgeschichte, und Herr Wieck ist damit beileibe kein Einzelfall, sondern nur ein besonders virtuoser (oder belesener) Konstrukteur seiner soldatischen Vergangenheit.

Abb. 19: Herr Wieck: «Helden gibt's nicht, die sind alle tot!» (Szenenfoto aus dem Film «Im Westen nichts Neues», Lewis Milestone, USA 1930) Manchmal verweisen die Erzähler ihre Zuhörer aber auch direkt auf Filme, um ihnen so etwas w i e einen assoziativen H i n weisreiz zu geben, w i e sie sich das Ganze vorzustellen haben: Herr Semper: «Denn wir haben ja praktisch das gleiche erlebt wie in dem Film . Daß auf der anderen Seite der Bahnschienen nachts der Amerikaner mit Megaphonen rüberrief: 5 E c o (1990), S. 65. ** Welzer (1993). 167 Elias et al. (1990). k.« i ) R . Originalgeschichte «The war of the ghosts»: O n e night two young m e n from F.gulac went down to the river to h u n t seals, and 14,1

while they were there it b o o m e foggy and calm. T h e n tliey heard war-cries, and they thought: «Maybe this is a war-party.» T h e y escaped to thc shore, and hid behind a log. N o w canoes came up, and they heard the noise of paddles, and saw one canoe Coming up them. T h e r e were five m e n in the canoe, and they said: «What do you think? We wish to take you along. We are going up the river to make war on the people.» O n e of the young men said: «I have no arrows.» «Arrows are in the canoe», they said. «I will not go along. 1 might be killed. My relatives do not know where I have gone. Dut you», he said, turning to the other, «riiay go with them.» So one of the young men went, but thc other returned h o m e . And the warriors went 011 up the river to a town on the other side of Kalama. T h e people came down to the water, and they began to fight, and many were killed. But presently the y o u n g man heard one of the warriors say: «Quick, let 11s go home: that Indian has been hit.» N o w he thought: «Oh, they are ghosts.» He did not feel sick, but they said he had been shot. So the canoes went back to Egulac, and the young man went ashore to his house, and made a fire. And he told everybody and said: «Behold I accompanied the ghosts, and we went to fight. Many of our fellows were killed, and many of those w h o attacked us were killed. T h e y said 1 was hit, and I did not feel sick.» He told it all, and then he became quiet. W h e n the sun rose he feil down. Something black came out of his mouth. His face became c o n torted. T h e people j u m p e d 11p and cried. He was dead. (Uartlett 1997 (1932), S. 65). 169

Bartlett (1997 (1932)), S. 66. Ebenda, S. 86ff. 171 Ebenda, S. 89. 172 Ebenda, S. 61, S. 93. 173 Eco (1990). 174 Gadamer (1983), S. 345. 175 Angela Keppler (1994). Der Ausschnitt ist hier verkürzt u n d nach anderen Transkriptionsregeln als im Original wiedergegeben. 176 Nach Keppler (1994), S. 173. 177 Vgl. Ebenda, S. 206. 1714 Ebenda, S. 207. 179 Die folgenden Textbeispiele entstammen dem Forschungsprojekt «Tradierung von Geschichtsbewußtsein», 111 dessen R a h m e n die Weitergabe von Vergangenheitsbildern zwischen den Genera170

tionen auf der Basis von Interviews und Familiengesprächen mit 40 Familien untersucht wurde. Das Projekt w u r d e von der Volkswagenstiftung gefördert; die Ergebnisse sind im Fischer-Taschenbuchverlag veröffentlicht worden, der die freundliche G e n e h migung zum Abdruck der hier verwendeten Beispiele und Kommentare gegeben hat (Welzer et al. 2002). m Halbwachs (1985a), S. 31. 181 Assmann (1992), S. 36. « Halbwachs (1985b), S. 209. 183 Ebenda, S. 210. B4 Ebenda, S. 224. BS Ebenda. •8A Wierling (2000), S. 47fr 187 White (1991). 188 Gergen (1998), S. 191. ®9 Goffinan (1981). 1911 Bourke (1999), S. Iöff. 191 Ebenda, S. 16, Übersetzung H.W. 192 Vgl. S. 35. 191 Bourke (1999), S. 9, Übersetzung H.W. 194 Koch (1997), S. 534195 Ebenda, S. 544. 196 Vgl. hierzu ausführlich Knoch (2001), S. 448ff. 197 Vgl. Schornstheimer (1989); Knoch (2001). 198 Knoch (2001), S. 455. 199 FAZ vom 11.11.1999, S. 49. 20 " Neisser (1981). 201 Vgl. S. 42. 202 Gadamer (1986), S. 281. 2(» Freeman (2001), S. 40. 204 Lakoff & Johnson (1999), S. ioff. 205 Goffinan (1981), S. 112. 206 Ebenda, S. 117. 207 Ebenda, S. 73. 2W Ebenda, S. 88. 209 Morin (1958), S. 28. 2 » Vgl. R u b n e r (1999), S. 32ff. 211 Singer (2000), 10. 2,2 Ebenda. 20 Ebenda.

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Personen- und Sachregister Achtmonats-Angst 75 Adoleszenz 59 Affektabstimniung 75 Aktionspotentiale 71 Aktivierungsmuster 60 Amnesie kindliche 93 retrograde 94 Amygdala 109, 130-134,136, 140,147 f., 153 Angstreaktion 63 Assmann, Aleida 13, 235 Assmann, Jan 13, 14, 170, 235 Assoziationsspeicher 56 Autobiographie 12 Axon 51 f. Bartlett, Frederic 103, 158-161, 164, 180, 185 Bedeutungsakt 82 Behaviorismus 55 Belastungsstörung, posttraumatische 38 Bewältigungsreaktion 65 Bewußtsein, erweitertes 142 Boas, Franz 159 Bourke, Joanna 187 Broca-Region 100 Bruner, Jerome 82 Chatwin, Bruce 9 Claparede, Eduard 145 f. «cognitive unconsciousness» 225 «constructive m e m o r y frameworks» 20

«conversational remembering» 16, 97, 165 «core-consciousness» 142 Damasio, Antonio 7, 12, 8ofF., 127,129,136-139,141 f., 144, 150,153,161,229 Dean, J o h n 35, 195 Dendriten 51 f. Diencephalon 236 Dissoziation 64 Donald, Merlin 117 Eco, U m b e r t o 153, 160 Elias, Norbert 113,120,123, >54, 157 Emotionen n primäre 75, 127f., 139,142 sekundäre 128, 140, 142,153 Emotionsregulierung 122 f. Engramm 8, 53, 56f. Entwicklungspsychologie 15 Erfahrung, soziale 11 Ergebungsreaktion 64 Erinnerung autobiographische 93 autonoetische i n emotionale 31, 75, 127, 146 episodische 30 implizite 29 f. kryptonmestische 32 prozedurale 92 «extended consciousness» 142 Extremtraumatisierung 31

«fälse-memory» 208 «false-memory-debate» 32 f. Feldman, Allen 185 Figurationsanalyse 154 Flashbacks 35, 61, 188 Freeman, Mark 224 Freud, S i g m u n d 93 Friedlmeier, Wolfgang 121 ff. Frühjahr, extrauterines 58

Gergen, K e n n e t h 186 G o f f m a n , Erving 157, 170,186, 227-230 Goldhagen, Daniel 34 «greatest fear vision» 31 Grönemeyer, Herbert 203

Gadamer, H a n s - G e o r g 12,161, 223 Galilei, Galileo 113 Gedächtnis autobiographisches 9, 12, 16, 59, 94f-, 98, 100ff., 110,112f., n 8 f f . , 144, !5of.,2o6f.,2i7f., 222,234 episodisches 2 4 f r , 39, 92, 104, 106 f., 124,151 implizites 28 f., 50 kollektives 13 kulturelles 13 ff non-deklaratives 26 perzeptuelles 2 4 , 2 6 , 1 4 4 prozedurales 25 ff., 30, 225 reflexives 111

109 f., 13', 133 H o e g , Peter 152, 158, 162 Holodynski, Manfred 121 ff. H u e t h e r , Gerald 56, 67 Hypothalamus 140

semantisches 24 f., 30, 104 soziales 95 Arbeits- 23 Kurzzeit- 22 Langzeit- 22 f. Ultrakurzzeit- 22 Gedächtnissystem 8, 23 autobiographisches 108 f. episodisches 26 semantisches 25 f. Gehirnentwicklung, erfahrungsabhängige 11 «general event representations» 83

Halbwachs, Maurice 170 ff. Hawking, Stephen 114 H i p p o c a m p u s 38, 62, 106,

Ich-Bezug 113 I c h w a h r n e h m u n g 10 Identitätskonkretheit 14 Information 10 Interaktion, symbolvermittelte 29 InterSubjektivität 75, 83 primäre 71 James, H e n r y 185 James, William 70, 126 J o h n s o n , Mark 225 Kennedy, J o h n F. 40 Keppler, Angela 163, 165 K e r n - B e w u ß t s e i n 1 4 2 - 155,160 Kirst, Hans H e l m u t 193 K n o c h , H a b b o 195 Kommunikation, zeremonialisierte 14 Kongruenz, affektive 36, 38, 40, 98 Kortex 109,131 präfrontaler 136, 140

LakofF, George 225 Larsen, Steen 41 Lebensereignisse, kritische 42 Lebensgeschichte 12 LeDoux, Joseph 23, 38 f., 126, 1 3 0 - 1 3 3 , ' 4 5 f . "48 Loftus, Elisabeth 32 Mankell, H e n n i n g 125 f. Marker, Chris 9, 16 Marker somatischer 138-141, 171,229 sozialer 171,180, 230 Markowitsch, Hans 22, 24, 105 f., 108 f., 110 Mead, George Herbert 80 f.,