Das Kognos-Prinzip: Zur Dynamik sich-selbst-organisierender wirtschaftlicher und sozialer Systeme [1 ed.] 9783428459896, 9783428059898

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Das Kognos-Prinzip: Zur Dynamik sich-selbst-organisierender wirtschaftlicher und sozialer Systeme [1 ed.]
 9783428459896, 9783428059898

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HELMUTH

BLASEIO

Das Kognos-Prinzip

Volkswirtschaftliche

Schriften

Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Β r o e r m a n n

Heft 364

Das Kognos-Prinzip Zur Dynamik sich-selbst-organisierender wirtschaftlicher und sozialer Systeme

Von

Dr. Helmuth Blaseio

DUNCKER & HUMBLOT/

BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Blaseio, Helmuth: Das Kognos-Prinzip: zur Dynamik sich-selbst-organisierender wirtschafte u. sozialer Systeme / von Helmuth Blaseio. — Berlin: Duncker und Humblot, 1986. (Volkswirtschaftliche Schriften; H. 364) I S B N 3-428-05989-1 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Gedruckt 1986 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany I S B N 3-428-05989-1

To meet the challenge before us our notions of cosmology and of the general nature of reality must have room in them to permit a consistent account of consciousness. Vice versa, our notions of consciousness must have room in them to understand what it means for its content to be „reality as a whole". Böhm

Inhalt 0. Einleitung 1. Komplexe Systeme 1.1 1.2 1.3 1.4

Komplexität sozialer Systeme Komplexität als verknüpfte Vielfalt Komplexität dynamischer Entwicklung Symmetriebetrachtung

2. Formale Sprachen 2.1 Die formale Umarmung 2.2 Wie logisch ist die Logik? 2.2.1 Logik der Gleichzeitigkeit 2.2.2 Subjektlose Logik 2.3 Die Struktur der Mathematik, der Wissenschaft von den Strukturen 2.3.1 Mengen theoretische Grundlegung 2.3.2 Mathematische Strukturen 2.3.3 Dynamik 2.4 Metatheorie 2.4.1 Reduktionismus 2.4.2 Sprache und Form 2.4.3 Reflexive Formen 2.4.4 Strategien der Tabuisierung 2.4.5 Meta-Mathematik 2.5 Symmetriebetrachtung 3. Mathematik der Evolution

9 19 19 20 22 29 30 30 32 36 40 44 44 51 61 69 69 71 74 79 81 87 89

3.1 Der Anspruch moderner formaler Methoden 89 3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen 90 3.2.1 Nichtlinearc Geometrien der System-Zustandsräume in der Katastrophentheorie 90 3.2.2 Dynamische Beschreibung 96 3.2.3 Dissipative Strukturen und Synergetik 98 3.2.4 Zur Anwendbarkeit der Theorien 108 3.3 Vage Prädikate 115 3.3.1 Die Fuzzy-Set-Theorie 115 3.3.2 Nutzen 118 3.3.3 Ähnlichkeit 121 3.3.4 Wahrscheinlichkeit 123 3.3.5 Fuzziness 127 3.4 Symmetriebetrachtung 134

8

Inhalt

4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik 4.1 Die Entsprechung von Subjekt und Zeit 4.2 Das formal-analytische Paradigma der Neoklassik 4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion 4.3.1 Schumpeter 4.3.2 Kirzner 4.3.3 Boland 4.3.4 Hayek 4.3.5 Röpke 4.3.6 Georgescu-Roegen 4.3.7 Shackle 4.4 Symmetriebetrachtung 5. Das Kognos-Prinzip 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

Das Subjekt als teilnehmender Beobachter Erkenntnis des Neuen Orientierung in der Zeit Objekt, Information und Struktur als Ergebnis des Erkennens Der komplementäre Zirkel Die Funktion des Zirkels 5.6.1 Die Integration der Dichotomien 5.6.2 Zirkuläre Grundlegung 5.7 Alternative Theorien der Selbstorganisation 6. Aspekte des Zirkels 6.1 Ordnung und Chaos 6.2 Sozialwissenschaft als polykontexturale Wissenschaft 6.3 Systemimmanente Logiken Literaturverzeichnis

136 136 137 155 156 158 162 164 171 175 183 190 191 191 194 196 200 210 215 215 224 228 231 232 244 252 263

0. Einleitung „... meine Absicht war, ... daß ich ein theoretisches Modell von dem Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung in der Zeit zu konstruieren versuchte, oder vielleicht deutlicher, daß ich die Frage beantworten wollte, wie das wirtschaftliche System die Kraft erzeugt, die es unaufhörlich verwandelt." Schumpeter 1 „Ich empfand es deutlich, ... daß innerhalb des wirtschaftlichen Systems eine Energiequelle besteht, die aus sich selbst heraus jedes Gleichgewicht stören würde, das erreicht werden könnte. Wenn dies so ist, dann muß es auch eine rein ökonomische Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung geben, die sich nicht nur auf äußere Faktoren verläßt, die das Wirtschaftssystem von einem Gleichgewicht zum anderen treiben." Schumpeter 2

Die Fragestellung, die in der vorliegenden Arbeit diskutiert wird, entspricht derjenigen, die schon Schumpeter seinem zuerst 1911 erschienen Werk „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" zugrunde gelegt hatte. Obwohl sie somit schon alt ist, hat sie nicht nur nichts an ihrer Aktualität eingebüßt, sie stellt sich heute sogar drängender als je zuvor. Damit ging offenbar Schumpeter s im Vorwort zur ersten Auflage geäußerte Hoffnung nicht in Erfüllung: „Darüber hinaus wünsche ich nicht mehr, als daß diese Arbeit sobald wie möglich überholt und vergessen werde."

Die Gründe für die ungebrochene Aktualität liegen einmal in der Wirtschaft selbst. Ihre Entwicklung verläuft ungebremst, in vieler Hinsicht sogar dynamischer als zu Zeiten Schumpeter s. Triftiger sind die Gründe, die sich aus der Situation der Wissenschaft ergeben. Bis heute wird von der orthodoxen Theorie 1

Schumpeter , aus dem Vorwort zur japanischen Ausgabe der „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung", 1952, S.XXII. 2 A.a.O. S.XXIII.

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0. Einleitung

kein dem Unternehmer und dem wettbewerblichen Marktprozeß adäquates Bild gezeichnet. Gelegentlich ist in Anbetracht der gegenwärtigen wissenschaftlichen Situation sogar von desolatem Zustand {Kirzner), Mißbehagen und Unzufriedenheit (Kirzner, Röpke), von Krise {Davidson, Kr is toi) oder Irrelevanz und Hilflosigkeit {Röpke) der herrschenden Theorie die Rede. Analysiert man die Neoklassik als herrschende Lehre zur Ökonomie auf ihren empirischen Gehalt hin, dann stößt man auf formale, strukturell weitgehend geschlossene, meist deterministisch und daher ahistorisch ausgelegte Modelle, in denen Gleichungen das autonome Subjekt ersetzt haben. Es scheint gar, als habe bei manchen Fragestellungen die Wissenschaft mehr die Suche nach geeigneten formalen Kunstwelten, passend zu abstrakten Theoremen, geleitet, als die Suche nach Aussagen, die einen Orientierungsbeitrag in der Welt leisten können. Die formale Sozialwissenschaft ist nach meiner Überzeugung an einem Punkt, an dem sie sich zunehmend in immer irrelevantere Fragen verstrickt — statt nach Lösungen für drängende Probleme wird mehr und mehr nach Problemen für mögliche Lösungen gesucht. Der Elfenbeinturm, der der Wissenschaft hierbei aus ihrer Tätigkeit erwächst, ist die Methode selbst, der sie sich verschrieben hat — so sehr verschrieben, daß oftmals der Verdacht aufkommt, als wäre die formale Stringenz der Aussagen und nicht ihr Inhalt Maß ihres Wertes. Auch hier allerdings hat sich an der grundlegenden Situation seit Schumpeter nichts geändert. Schon damals schrieb er 3 : „Für das jedoch, worauf es beim Verständlichmachen der Entwicklung oder des historischen Ablaufs ... ankommt, für das Herausarbeiten der Momente, die ... einen Ablauf bestimmen — was man in einem engeren Sinn als die spezifische Aufgabe des Wirtschaftssoziologen oder Nationalökonomen gegenüber dem historischen Ablauf und als Entwicklungstheorie bezeichnen könnte —, leistet die ökonomische Theorie der Problemreihe Wert-Preis-Geld nichts."

Angesichts des Stands der Diskussion kann weder — wie Schumpeter in seinem Wunsch zum Ausdruck bringt — von einer Überholung seiner Gedanken noch gar von einer Lösung der von ihm aufgeworfenen Problemstellungen gesprochen werden. Jedoch wurde die Thematik einer Theorie der Entwicklung von Autoren der Österreichischen Schule aus der gleichen sowie der nachfolgenden Generation Schumpeter s in vielen Punkten bereichert. Zu nennen sind hierbei vor allem L.\.Mises, F.A.V .Hayek sowie Kirzner und Lachmann. Ihr Beitrag besteht vor allem darin, daß der Prozeßcharakter des Marktes in aller Deutlichkeit herausgearbeitet wurde und, daß menschliches und nicht roboterhaftes Handeln sowie der Prozeß des Wissenserwerbs entwicklungsbestimmend sind. Die stärksten Impulse in neuerer Zeit sind sicher von Shackle ausgegangen, der zwar noch in enger Verwandschaft zur Österreichischen Schule steht, ihr aber mit seiner konsequent subjektivistischen Position nicht mehr ganz zuzurechnen ist.

3

A.a.O. S.91.

0. Einleitung

Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit besteht nun nicht darin, die Reihen der Kritiker aufzufüllen. Es ist zwar notwendig, an einigen Stellen zur Erläuterung abstrakter Ergebnisse diese auch im Sinne der Kritik einzusetzen. Das Hauptaugenmerk liegt jedoch im Entwurf einer Theorie der Entwicklung, die Entwicklung als historischen Neuerungsprozeß sowohl versteht als auch erfahrbar machen kann, ohne dabei der Eleganz der theoretischen Analyse abzuschwören. Abgesehen von der mit der Österreichischen Schule geteilten Auffassung, daß Unternehmertum und wettbewerblicher Marktprozeß die dominierenden endogenen Quellen der wirtschaftlichen Entwicklung sind, bildet den entscheidenden Ausgangspunkt der Überlegungen die Überzeugung, daß sich das Problem der Entwicklung grundlegend von allen anderen wissenschaftlichen Problemstellungen unterscheidet. Während gewöhnlich nach Sachverhalten, einer Systematik oder nach funktionellen Zusammenhängen gefragt ist, bezieht sich das Entwicklungsproblem auf das Phänomen des Werdens von Sachverhalten, Systematiken und Funktionen selbst. Folglich kommt als Lösung keinerlei Mechanismus, auch nicht stochastischer Natur, in Frage. Gäbe es nämlich einen solchen Mechanismus, dann müßte man weiter nach dem Werden desselben fragen und stünde so wieder am Beginn der Fragestellung 4. U m es auf einen kurzen Nenner zu bringen: Strukturbildung kann keinesfalls selbst ausschließlich Struktur sein.

Jeder andere Ansatz, der dem Versuch erläge, die Entwicklung von Form selbst auf Form zu reduzieren, ginge am eigentlichen Problem vorbei. Das entscheidende Merkmal der Entwicklungsproblematik ist demzufolge, daß die zugrundeliegende Fragestellung, gegenüber Fragestellungen mit strukturellem Hintergrund, einer gänzlich anderen Kategorie zuzuordnen ist. Allein aus dieser Bedingung gegenüber einer Theorie der Entwicklung — ohne die geforderte Kategorie schon genauer bestimmen zu können — lassen sich bereits wichtige Schlußfolgerungen ziehen: — Einmal ist danach wirtschaftliches und soziales Verhalten nicht vollständig auf logisches Handeln reduzierbar, denn dadurch würde die Entwicklung bereits der Struktur anheimfallen 5. — Zum anderen können Marktphänomene nicht ausschließlich als logische Konsequenzen systematischer Beziehungen erklärt werden, sie sind zu einem guten Teil gerade auch im Entstehen systematischer Beziehungen, ds.h. in Strukturbildung begründet.

4 Ich bin der Überzeugung, wenn die Welt ein Uhrwerk wäre, dann hätte man den Mechanismus schon längst erkannt. Es verbliebe dann allerdings die Fragestellung zu klären, wieso der Mechanismus sich selbst erkennen konnte, und ob er nicht eben dadurch sich selbst transzendiert hätte, d.h. schon wieder ein anderer geworden wäre. 5 Vgl. auch Kap.2.

12

0. Einleitung

Eine weitere Bedingung einer Theorie der Entwicklung folgt aus der Autonomie der betrachteten wirtschaftlichen und sozialen Systeme. Die Entwicklung ist danach nicht als Fremdorganisation erklärbar, gesteuert von außen, also vergleichbar der Art und Weise eines Programms, sondern erfolgt aus innerem Antrieb und autonomer Selbsteinschätzung heraus. Als Konstrukteur dieser Systeme muß die Konstruktion selbst angesehen werden. Systeme dieser Art bezeichnen wir als "sich-selbst-organisierende Systeme" und ihren Entwicklungsprozeß als Selbstorganisation. Auch Schumpeter deutet Entwicklung in seiner Darstellung wirtschaftlicher Dynamik als Ausdruck autonomen Geschehens; er schreibt z.B. von „... der ökonomischen Evolution als eines besonderen durch das ökonomische System selbst erzeugten Prozesses" 6. Während aber bei Schumpeter der Schwerpunkt der Überlegungen mehr auf der Charakterisierung der ökonomischen Prozesse als „selbstorganisierend" liegt, steht in der vorliegenden Arbeit die bislang vernachlässigte abstrakte Analyse dieser Prozesse im Vordergrund. Insofern wird hier nicht exakt die gleiche Fragestellung verfolgt. Statt „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" würde das Thema zum Vergleich eher „Theorie der Entwicklung am Beispiel wirtschaftlicher und sozialer Prozesse" lauten. Es ist Hayeks verdienstvoller Beitrag zur Analyse der Selbstorganisation, in vielen Aufsätzen 7 daraufhingewiesen zu haben, daß ein volles Verständnis des Marktprozesses erst eine Klärung des Phänomens der Entstehung und Ausbreitung von Wissen voraussetzt. Zum erstenmal — und wohl auch als erster — äußert Hayek diesen Gedanken, mit dem er zentral am Erklärungsdefizit formaler Analysen rührt, in dem 1936 gehaltenen Vortrag „Wirtschaftstheorie und Wissen"; so z.B. in der Bemerkung: „Tatsächlich wird meine wesentliche Behauptung die sein, daß die Tautologien, aus denen die formale Gleichgewichtsanalyse in der Wirtschaftstheorie im wesentlichen besteht, nur insoweit in Aussagen verwandelt werden können, die uns irgend etwas über die Kausalzusammenhänge in der realen Welt sagen, als wir imstande sind, in diese formalen Sätze bestimmte Behauptungen darüber einzusetzen, wie Wissen erworben und vermittelt wird." 8

Ausgehend von Hayeks Ansatz ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur Beobachterkonzeption des zum autonomen Aufbau kognitiv zugänglicher Umwelten befähigten Individuums, mit der wir das traditionelle Bild des homo oeconomicus — von Hayek 9 treffend als das „Hausgespenst in unserem Schrank" bezeichnet — im Kapitel 5 im Sinne der Autonomiezumessung ergänzen. 6

Schumpeter , 1952, S.XXIII. Z.B. Hayek (14) „Wirtschaftstheorie und Wissen", Hayek (8) „Die Verwertung des Wissens in der Gesellschaft", Hayek (4) „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" etc. 8 Hayek (14), S.49, vgl. auch S.64, 65 und 67. 7

9

Hayek (14), S.65.

0. Einleitung

Eine Grundvoraussetzung der vorliegenden Arbeit ist schließlich, daß sie selbst, da sie ja auch aus einer Entwicklung hervorgegangen ist, nicht letzten Endes zum Gegenbeispiel ihres eigenen Inhalts wird. Es ist nach meinem Verständnis die härteste Kritik, der die formale Ökonomik ausgesetzt ist, daß ihre Modelle in einer Welt, die dem von ihr gezeichneten rationalen Weltbild entspricht, niemals hätten entstehen können 10 . Mindestbedingung ist also, daß die Konzeption der Entwicklung nicht ihr eigenes Entstehen konterkariert. Als Hauptschwierigkeit eines Theorieansatzes zur autonomen Entwicklung erwies sich nicht die Suche nach Beispielen entsprechender Entwicklungen, auf deren Vorhandensein ja ein Großteil der Kritik insbesondere der Österreichischen Schule an modelltheoretischen Analysen gründet. Vielmehr bestand das Problem darin, autonome Entwicklung (Strukturbildung) von rein strukturellen 11 Phänomenen (Struktur) abzugrenzen und ihr gegenseitiges Verhältnis zu klären. Es galt, Spuren nicht rein struktureller Entwicklungsphänomene zu finden, die als Anknüpfungspunkte für die theoretische Analyse von Selbstorganisation, Autonomie und historischer Dynamik dienen konnten. Auf der Suche nach solchen Anknüpfungsmöglichkeiten stößt man häufig auf den Komplexitätshinweis. D.h. viele Analysen enden, sobald sie sich einem wachsenden Strukturreichtum gegenübersehen, mehr oder weniger abrupt mit dem Komplexitätsargument. Über die pauschale Zurechnung eines Erklärungsdefizits zu der Komplexität des Gegenstandsbereichs entsteht leicht der Eindruck, daß einer Fortsetzung der Analyse mit gleichen Methoden im Prinzip nur das Phänomen der „großen Zahl" entgegensteht. Komplexität wirkt so als Schleier, der z.B. mit dem Wandel im Sinne der Selbstorganisation auch Phänomene ganz anderer Qualität als solche, die mit dem Problem der großen Zahl verknüpft sind, verbirgt. Zugleich besteht die Gefahr, Komplexität als Vorwand oder Schutzbehauptung zu verwenden, mit der die Defizienz dem Gegenstandsbereich nicht adäquater Analysemethoden oftmals gegenüber Kritik gerechtfertigt werden kann. Die qualitative Kennzeichnung der Komplexität sich-selbst-organisierender Systeme liegt als Problemstellung dem ersten Kapitel zugrunde. Daneben wird auch ein Kriterium entwikkelt, das angibt, unter welchen Bedingungen die Dynamik sich-selbst-organisierender Systeme von der Methode her explizit Berücksichtigung finden muß. Interessanterweise bezieht sich dieses Kriterium nicht allein auf den Gegenstandsbereich, sondern schließt auch den Beobachter desselben mit ein. Aus der damit verbundenen Modifikation des Komplexitätsverständnisses resultiert schließlich die Forderung, daß zur theoretischen Erfassung der Evolution sozialer Systeme andere Wege als zur Beschreibung „biologischer" oder „physikalischer" Evolution begangen werden müssen.

10 11

Vgl. zur Begründung Kap.2. Gemeint ist Struktur im Sinne des formalen Strukturbegriffs (vgl. Kap.2).

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0. Einleitung

Interessanterweise finden sich die meisten Spuren nicht rein struktureller Entwicklung gerade in der Mathematik, also dort, wo die Struktur gewissermaßen zuhause ist. Ein Grund dafür ist, daß die der Mathematik zugeschriebene Rolle der Exaktheit und Nachvollziehbarkeit des Gedankenganges sich erfreulicherweise auch dann bestätigt, wenn es darum geht, die Grenzen ihrer Methode auszumachen. Eben weil sie Exaktheit per se verkörpert, lassen sich auch die Grenzen rein struktureller Analyse ziemlich genau lokalisieren. Hat man obendrein nachgewiesen, daß formale Darstellung und Autonomie sich gegenseitig ausschließen, so kann aus jeder lokalisierten Grenze, die im Kontext formaler Sprachen negativ zu deuten wäre, im Hinblick auf die Gestaltung einer Theorie autonomer Entwicklung ein konstruktiver Hinweis gewonnen werden. Auf das Erklärungsdefizit formaler Darstellungen gegenüber evolutionären Prozessen wurde zwar gelegentlich in meist globaler Form schon verwiesen 12, bislang fehlt aber eine genaue Analyse, in der die Ursachen dieser Defizienz herausgearbeitet sind. Erst die entsprechende Kenntnis kann eine exakte Grundlage zu einer weitergehenden Theorie autonomer Entwicklung liefern. In Kapitel 2 wird dazu zunächst der Aufbau des Formalismus bis hin zu heutigen Anwendungsformen unter besonderer Berücksichtigung der logischen Fundierung skizziert. Es zeigt sich hierbei, daß gerade das Hauptmotiv der Logik, das Identitätspostulat, der Entwicklung von Autonomie im formalen Kontext im Wege steht. Letztlich erweist sich die Idee der Axiomatik als ein unüberwindbares Hindernis zur Erfassung autonomer Dynamik. Im Ergebnis erscheint so die dem Formalismus zugrundeliegende Logik als ein Monument der Gleichzeitigkeit und Subjektlosigkeit. Versucht man dennoch Selbstorganisation oder Autonomie formal umzusetzen, kommt es neben einer reduktionistischen Dynamik zu teilweise bizarren Effekten, deren bekannteste sich in den logischen Paradoxien manifestieren. Weniger bekannt, aber viel entscheidender, ist der Versuch, die historische Entwicklung der Mathematik selbst (speziell der Arithmetik) in formale Gesetzmäßigkeit einzubinden und damit zu überwinden. Resultat dieses Versuchs ist der Gödelschc Unvollständigkeitssatz, dessen Voraussetzungen, Idee und Bedeutung für unsere Fragestellung ebenfalls in Kapitel 2 entwickelt werden. Als Konsequenz aus diesen Überlegungen folgt nicht, daß die Idee der formalen Darstellung für Probleme evolutionärer Dynamik vollkommen obsolet wird. Die Mathematik abzulehnen, hieße zugleich, die Existenz von Struktur und Ordnung zu verleugnen; die Mathematik aber andererseits für universell zu erklären, hieße wiederum, das Entstehen der Ordnung und damit der Mathematik selbst zu bestreiten. Als dementsprechend zentrales Ergebnis werden wir daher in Kapitel 2 begründen, daß Mathematik zwar eine wichtige und in einem gewissen Sinne auch unverzichtbare, aber keinesfalls universelle Sprache ist.

11 Vgl. z.B. Georgescu-Roegen oder Shackle ; zu einer genaueren Besprechung siehe Kap.4.3.

0. Einleitung

Die Analyse in Kapitel 3 soll die abstrakten Ergebnisse des vorangehenden Kapitels an modernen Ansätzen aus der angewandten Mathematik explizieren. Besprochen werden zunächst Ansätze zur Strukturbildung, als deren am weitesten entwikkelte Formen heute die „Katastrophentheorie", begründet von Thom, die „Theorie dissipativer Strukturen", begründet von Prigogine , und die „Synergetik", begründet von Haken, angesehen werden können. Die Analyse, die aufgrund der engen strukturellen Verwandtschaft der Ansätze inhaltlich parallel geführt werden kann, zeigt neben der Bestätigung der Argumente aus Kapitel 2, wie die reduktionistische Tendenz formaler Ansätze schon zur Nachbildung relativ elementarer Prozesse in außerordentliche Kompliziertheit mündet. Das Hauptproblem liegt jedoch darin, daß jeder solche formale Ansatz die möglichen Strukuturen, die sich über die beschriebenen Prozesse herausbilden können, bereits in seinen Anfangsbedingungen als Möglichkeiten implementieren muß. Im Kontrast dazu stehen, nach der hier vorgestellten Sichtweise, die „sich-selbst-organisierenden Systeme" den Möglichkeiten und Alternativen, die sie wahrnehmen, nicht im Sinne einer objektiven, realen, lediglich subjektiv verborgenen Verfügbarkeit gegenüber, sondern sie werden — gleichsam im Moment der Wahrnehmung — durch eben diese autonom generiert. Das bedeutet, daß — im Sinne des in Kapitel 1 modifizierten Komplexitätsverständnisses — die autonome Dynamik sozialer Systeme jenseits der Reichweite der besprochenen Theorien liegt. Im Anschluß an diese eher formalen Überlegungen wird kurz auf zwei ökonomische Aufsätze eingegangen, die konträr zum Ergebnis unserer Besprechung die neuen Strukturbildungstheorien als den Beginn eines grundlegenden Paradigmenwandels auch in den Sozialwissenschaften interpretieren. Der zweite zu besprechende Theorietyp betrifft die Operationalisierung unbestimmter Prädikationen. Fuzzy-reasoning (oder Fuzzy-set-Theorie) ist ein relativ junger formaler Ansatz, der vage Prädikate einer präzisen formallogischen Argumentation zuzuführen versucht. Auf einzelne Prädikate beschränkt, insbesondere auf Nutzen und Wahrscheinlichkeit, gibt es solche Versuche schon längst, doch haben sie jeweils zu keinen endgültigen Resultaten geführt. Durch Ausnutzung der strukturellen Äquivalenz zu den angesprochenen Detailansätzen werden die dortigen Erfahrungen zugänglich für eine Analyse der Theorie des Fuzzy-reasoning. Umgekehrt lassen sich die abstrakten Aussagen zur Theorie wieder auf die Detailansätze reflektieren und diesbezüglich verwerten. Obwohl im Vergleich zu den Strukturbildungstheorien eine scheinbar völlig andere Thematik vorliegt, wird man in der Analyse unbestimmter Prädikationen auf analoge Denkfiguren geführt — Denkfiguren, die als eine Art reflexive Zurückwendung auch schcui das Bild der Diskussion in den Kapiteln 1 und 2 prägen. Im letzten Abschnitt von Kapitel 3 wird, unter Verwendung der reflexiven Figuren, eine alternative Theorie zur Begründung vager Prädikate

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0. Einleitung

konzipiert, die deren prinzipielle Eignung für eine formal-logische Argumentation in Frage stellt. Kapitel 4 setzt sich ausschließlich mit ökonomischen Aspekten der Selbstorganisationsproblematik auseinander. Selbstorganisation tritt im ökonomischen Kontext vor allem unter den Gesichtspunkten Unternehmertum, Wettbewerb, Marktprozeß, Wachstum und der modelltheoretischen Repräsentation der Zeit auf. Da letztlich alle Gesichtspunkte auf Veränderung hinauslaufen und diese unmittelbar mit der Subjekt- und Zeitdarstellung korreliert ist, wird das gesamte Kapitel unter die Überschrift „Zeit und Subjekt in der Ökonomik" gestellt. Gestützt auf die Ergebnisse zur Defizienz formaler Sprachen, kann gezeigt werden, daß die vorherrschende, inhaltlich geführte Kritik an der formalanalytisch geprägten Hauptströmung der ökonomischen Lehre, d.h. an der Neoklassik, im wesentlichen nur die Symptome, nicht aber die Ursachen der Mängel erreicht. Die Ursachen liegen danach nicht in inhaltlich zu suchenden Mängeln der Theoriefindung begründet, sondern ergeben sich vielmehr als immanente Wesensmerkmale der Methodik. Bezugnehmend auf die in Kapitel 2 abgeleitete Defizienz formaler Sprachen kann so die vorherrschende Kritik in nur einem, auf den Formalismus verweisenden Argument konzentriert werden. Als problemauslösender Zusammenhang im Hintergrund erweist sich die bislang ungelöste Grundlagenkrise formaler Sprachen, die sich gewissermaßen metastasierend in alle formal inspirierten Sozialwissenschaften fortsetzt und dort ihr Unwesen treibt. Im Anschluß an die Überlegungen zur Neoklassik folgt die Besprechung einiger Autoren, die, aufbauend auf eigenen Konzeptionen, sich mit der Zeitproblematik im weitesten Sinne auseinandergesetzt haben, und die damit (nicht nur im Sinne der Kritik) außerhalb des Rahmens der formal-analytischen Ökonomik stehen. Obwohl die Schwerpunkte in den einzelnen Arbeiten zum Teil recht unterschiedlich gesetzt sind, läßt sich dennoch eine gewisse Systematik unter dem Aspekt der Zeitproblematik durchhalten. Unbeschadet der sich bei der Besprechung implizit ergebenden tieferen Einbettung der vorliegenden Fragestellung in ökonomische Zusammenhänge, bleibt jedoch vorrangiges Ziel der Diskussion das Aufspüren möglicher Anknüpfungspunkte zu einer Theorie „sich-selbstorganisierender Prozesse". Neben den Arbeiten von Schumpeter und Hayek erweist sich dabei vor allem die Lektüre der Arbeiten von Shackle als sehr wertvoll. Insbesondere deutet sein konsequenter Subjektivismus schon an, daß es gerade metaphysische Realitätsvorstellungen sind, die das Verständnis autonomer Prozesse erschweren. Nicht zuletzt aus Hayeks Überlegungen zur Rolle des Wissenserwerbs, auf die schon weiter oben verwiesen wurde, ergibt sich, daß eine Theorie der Selbstorganisation wenigstens implizit auch immer eine Theorie des Beobachters sein muß. In konsequenter Entwicklung dieser These wird so das Kapitel 5 von einer

0. Einleitung

beobachteradäquaten Neuinterpretation der in neoklassischen Welten auf meist mechanistische, reduktionistische und deduktive Weise erfolgten Auslegung des Robbinsschen Ökonomisierers eingeleitet. Die Analyse ökonomischen Verhaltens in nicht wohlstrukturierten Situationen zeigt aufgrund dieser Interpretation Merkmale, die sie als weitgehend formal nicht zugängliche Zielsetzung ausweisen. Allerdings ist das Beobachterkonzept zu unhandlich, um über die angesprochene Neuinterpretation hinaus weitere Antworten im Hinblick auf die Selbstorganisationsproblematik zuzulassen. In den folgenden Abschnitten werden daher die bis dahin in der Diskussion gefundenen Anknüpfungspunkte, die Spuren der Autonomie, zueinander in Beziehung gesetzt, bis das sich aus den einzelnen Fragmenten ergebende Bild auf eine, für einen weitergehenden Ansatz erfolgversprechende Fragestellung weist. Der sich daraus ergebende Ansatz folgt aus dem Informationskonzept, das ausgehend vom Shannonschen Ansatz, bei dem menschliche Kommunikation nur in einer bis auf Rudimente verkürzten Form erscheint, über Interpretationen von C.F.w.Weizsäcker und anschließend E.v. Weizsäcker schrittweise entwickelt wird, bis es auf der letzten Stufe in das in dieser Arbeit als Lösung vorgeschlagene Kognos-Konzept mündet. Eine erste Analyse weist das Konzept als offenbar nicht axiomatisch und nicht weiter reduzierbar aus, sie zeigt zudem eine kontextübergreifende Komplementarität auf, über die, quasi als erste Anwendung, bestimmte Dichotomien, die das vorherrschende, disjunktive Weltbild prägen, einer Synthese zugeführt werden können. Interessanterweise tritt sowohl in den Merkmalen des Kognos-Prinzips als auch in der Herleitung wiederholt die zirkuläre Denkfigur der Selbstbeschreibung oder Selbstreflexion auf, die auch schon die Argumentation der Kapitel 1 bis 3 maßgebend begleitet hatte. Es scheint, je weiter man in die Problematik der Selbstorganisation eindringt, desto mehr lösen sich jeweils die Konturen der Subjekt-ObjektDichotomie auf, bis man schließlich, wenn alle Schemen verschwunden sind, unvermittelt immer wieder nur sich selbst gegenüber steht. Abschließend zu Kapitel 5 erfolgt ein kurzer Vergleich des neuen Konzepts mit alternativen Ansätzen zur Selbstorganisation. In Kapitel 6 schließlich wird die anwendungsbezogene Diskussion durch eine erweiterte Interpretation der mit dem Kognos-Prinzip verbundenen Komplementarität wieder aufgenommen. Es folgt hieraus, daß durch das Gegensatzpaar Chaos-Ordnung eine Illusion von Alternativen der Entwicklung vermittelt wird. In der Interpretation menschlichen Orientierungsverhaltens über das Kognos-Prinzip zeigt sich, daß dieses seiner Natur nach weder zu dem einen noch zu dem anderen Extrem führt, sondern daß es vielmehr in eine evolutionäre Balance einmündet, die man in einem formal zu rechtfertigenden Sinne weder als Gleichgewicht noch als Ungleichgewicht bezeichnen könnte. Nach ein paar Beispielen zu mehrkontexturalen Phänomenen, zu denen z.B. auch das „prisoner's dilemma" gehört, schließt die Arbeit mit einem Erklärungsansatz zum Phänomen der Eigendynamik mancher sozialer Systeme. Verant2

Blaseio

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0. Einleitung

wortlich für die Eigendynamik sind danach vormals nicht sinnvoll interpretierbare zirkuläre Strukturen, die in der dem Kognos-Prinzip folgenden Auslegung als systemimmanente Logiken identifiziert werden — Logiken, die die Systementwicklung einerseits kanalisieren und andererseits in einer Art katalytischer Beeinflussung auch beschleunigen können. Erwähnt werden muß noch ein Experiment, mit dem die vorgeschlagene Lösung in Kapitel 5 zirkulär mit der hinführenden Argumentation verbunden werden soll. Es wurde bereits daraufhingewiesen, daß die Arbeit selbst nicht im Widerspruch zu ihrem Inhalt stehen darf. Da sie selber auch einen „sich-selbstorganisierenden Prozeß" abbildet, kann der Gedanke dahingehend erweitert werden, daß die inhaltlich auf das Lösungskonzept hinführende Argumentation zugleich zur Bestätigung der Lösung dient. Damit wird der Versuch unternommen, die Argumentation simultan objekt- und metasprachlich zu führen 13 . Zur Entflechtung und besseren Nachvollziehbarkeit der Gedankenführung werden entsprechende Überlegungen unter dem Titel „Symmetriebetrachtungen" den Kapiteln 1 bis 4 hintangestellt. Diese Überlegungen werden für den Leser erst nach der Lektüre von Kapitel 5 relevant. Sie ergänzen die Zusammenfassungen der Einleitung in einer für den Versuch spezifischen Weise, indem einmal auf wichtige Symmetrien — sofern nicht schon im Text geschehen — hingewiesen wird und zum anderen Wege zur Zurückführung der Argumentation auf Symmetrieüberlegungen aufgezeigt werden.

13

Wiederum tritt hier übrigens die Figur der Selbstbeschreibung auf.

1. Komplexe Systeme 1.1 Komplexität sozialer Systeme Zur Vermittlung von Komplexität stehen prinzipiell drei Wege offen: — Die Standardform der Vermittlung besteht in der gewöhnlichen Erklärung und Beschreibung, z.B. in der Ausdifferenzierung des Begriffs in die ihn charakterisierenden Dimensionen und in der Angabe signifikanter Kriterien. Wir bezeichnen eine solche Anfertigung eines „Explanans" als Weg A. — Statt der Beschreibung kann auch ein passendes Beispiel gesucht werden, welches in selbstevidenter Weise die wesentlichsten Merkmale der Komplexität erkennen läßt. Das Explanans wird hierbei, d.h. im Weg B, durch einen möglichst markanten Vertreter aus der vom Explanandum aufgespannten Systemklasse ersetzt. — Schließlich können im Weg C die ersten beiden Wege ineinander verschränkt werden. Das bedeutet hinsichtlich der Komplexität, daß die Beschreibung selbst komplex wird, d.h. daß sie äußerlich — also hinsichtlich Stil, Sprache, Ausdruck, Umfang bzw. allgemeiner Form — mit fortschreitender Analyse alle diejenigen Merkmale annimmt, die sie inhaltlich als aus der Analyse hervorgehende Kennzeichen der Komplexität identifiziert. Form und Inhalt zeigen sich dabei in ständiger wechselseitiger Ersetzung, sie interferieren gewissermaßen — das Explanans wird integraler Teil des Explanandums 1 . Diese Überlegung zur Methode der Darstellung, die zunächst wie Spielerei anmutet, geht als charakteristisches Kennzeichen der Komplexität sozialer, selbstorganisierender Systeme in die Unterscheidung zur Komplexität nicht autonomer Systeme ein. Die Frage nach diesem Unterschied ergibt sich unmittelbar aus der Verwendung des Begriffs „Komplexität" 2 . Dabei darf die 1 Gelegentlich nimmt die Beschreibung der Komplexität in der Literatur tatsächlich komplexe Züge an, vgl. z.B. Röpke, 1977, S.l 1 bis S.87. Die Gefahr einer solchen, hier nur zu Demonstrationszwecken verwendeten Konstruktion, liegt darin, daß das Explanans hinter dem Explanandum verschwindet, daß man gewissermaßen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. 2 Die Differenz zwischen der Komplexität sozialer und nichtsozialer Systeme wird auch bei Röpke, 1977, und Hayek (6) diskutiert. Neben der Eigenkomplexität der Beschreibung bei Röpke (vgl. Fußnote 1) treten noch andere Probleme auf. Röpke betont zwar den evolutionären Charakter sozialer Systeme, sein dazu entwickelter Begriff der „interaktionalen Komplexität" ist aber z.B. nach der Definition auf S.12 auch auf Computer anwendbar. A n anderer Stelle (S.l3) ordnet Röpke mit Bezugnahme auf Popper den 2*

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1. Komplexe Systeme

Komplexität sozialer Systeme, z.B. der sich unter Leistungs-Konkurrenz organisierenden Marktsysteme als trivial vorausgesetzt werden. Weit weniger trivial ist dann allerdings die sich anschließende Frage, was die Bezeichnung eigentlich ausdrückt. Komplexe Systeme gibt es schließlich auch in technologischen und naturwissenschaftlichen Zusammenhängen, ohne daß man deshalb von vergleichbaren Systemen sprechen könnte. Die Antwort darauf läßt sich in einer zentralen, die ganze weitere Arbeit prägenden These formulieren: Der Schlüssel zum Verständnis des Unterschieds ist die Fähigkeit sozialer Systeme zur Selbstorganisation bzw. ihre Autonomie. Infolge der Autonomie ist das Verhältnis sozialer Systeme zur Komplexität durch gänzlich andere Funktionen gekennzeichnet. Während technologisch-naturwissenschaftliche Systeme Komplexität nur verkörpern, wird Komplexität in sozialen Systemen gleichermaßen verkörpert, erzeugt und erkannt 3 .

Damit schließt sich der Kreis zum eingangs überlegten Gedankenspiel. Eine Beschreibung von Komplexität gemäß dem Darstellungsweg C vermittelt ein Bild des in der These angesprochenen Inhalts, denn eine solche Beschreibung ist ebenfalls Ausdruck sowohl der Verkörperung, des Erzeugens als auch des Erkennens von Komplexität. Bei genauerer Analyse 4 zeigt sich, daß Weg C paradoxe Züge aufweist. Damit stoßen wir zum erstenmal auf ein Phänomen, welches im Laufe der Arbeit immer wieder auftritt, daß nämlich die Thematisierung der Autonomie in unserem Sprachraum oftmals in sprachlich paradoxe, wenngleich — wie wir zeigen werden — inhaltlich keineswegs sinnlose Zusammenhänge einmündet. Für die weitere Diskussion der Komplexität autonomer Systeme ist es notwendig, zunächst erst den Begriff „Komplexität" etwas ausführlicher anhand von Definitionen zu entwickeln.

1.2 Komplexität als verknüpfte Vielfalt Verknüpfte Vielfalt oder besser vielschichtige, verwickelte Verknüpfung bietet sich als erste Interpretation des Komplexitätsbegriffs an, da diese Deutung sich unmittelbar aus der lateinischen Wurzel „complectere" ableiten läßt. Innerhalb dieses Rahmens bewegen sich auch die auf den Aspekt der Vielfalt konzentrierMenschen zwischen Wolken und Uhren gemäß der Taxonomie Zufall/Notwendigkeit ein. Ich glaube nicht, daß damit die Charakteristik evolutionärer Systeme schon erfaßt ist (vgl. auch Röpke, 1977, Fußnote 29, S.43). Zu den Vorstellungen von Hayek vgl. weiter unten Kap. 1.2. 3 Letztlich wurde natürlich auch der Begriff selbst erst von sozialen Systemen geprägt. 4 Die begrifflichen Voraussetzungen zur Analyse paradoxer Systeme werden in Kap.2 bereitgestellt.

1.2 Komplexität als verknüpfte Vielfalt

21

ten Definitionen von Ashby 1 und Stachowiak 2. Auch Hayek 3 schließt sich der Interpretation über Vielheit an, für ihn ist das Kriterium die Mindestzahl der Elemente des Musters, aus der ein Einzelfall des Musters bestehen muß, um sämtliche charakteristischen Eigenschaften der betreffenden Klasse von Mustern aufzuweisen. Gestützt auf diese Definition identifiziert Hayek 4 sodann als Kriterium für den Unterschied in der Komplexität gesellschaftlicher und physikalischer Phänomene die Anzahl der zur Charakterisierung der Phänomene notwendigen Variablen. Danach sind die gesellschaftlichen Phänomene komplexer, da sie im Vergleich zur Mechanik eine ungleich höhere Anzahl von Variablen zur Beschreibung erfordern. In Hayeks Maßsystem werden — wie wir meinen in unzulässiger Weise — äußerst ausdifferenzierte Systeme auf eine zu einfache Gleichungsmetapher reduziert. Die sich daraus ergebende Quantifizierung wird weder der Physik, noch gesellschaftlichen Systemen und auch nicht dem sich zwischen beiden ergebenden Unterschied gerecht. Einmal läßt sich Physik nicht auf Mechanik reduzieren 5, zweitens könnten in seiner Sichtweise gesellschaftliche Systeme mit Computern verwechselt werden und drittens werden qualitative Differenzen, wie etwa die Fähigkeit zur Selbstorganisation, vollkommen ausgeblendet. Vor allem läßt sich aus Hayeks Standpunkt kein Hinweis auf eine veränderte Methodologie der Sozialwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften ableiten, der über das Anzahlenproblem hinausginge. In der Tat fordert Hayek 6 in der Folge dann auch als Konsequenz der Anzahlendifferenz für die Sozialwissenschaften den Übergang von der arithmetisch-konkreten zur algebraisch-abstrakten Beschreibung. Fatalerweise führt diese Einschätzung zur Illusion, daß die Differenz vorhandener Ansätze allein im Versagen gegenüber der Quantität liege. Man meint, daß man das Kernproblem bereits erkannt habe und die qualitative Struktur des Ansatzes nicht weiter hinterfragt werden müsse. Die Erfassung und Beherrschung der Komplexität wird so als Frage des quantitativen Aufwands hingestellt — ein Schleier der Quantität legt sich vor jeden weiteren qualitativen Fortschritt in der Analyse komplexer Systeme7.

1

Ashby, 1974, z.B. S.l84 ff. zur Vielfalt. Dem Komplexitätsverständnis von Ashby schließt sich auch Röpke an (vgl. Röpke, 1977, S.21). 2 Stachowiak, 1969, S.199. 3 Hayek (6), S.12. 4 Hayek (6), S.12 f. 5 Die Physik hat im Gegenteil das mechanistische Weltbild als erste auch wieder verlassen. C.F.v.Weizsäcker schreibt z.B. (1977, S.580): „Die kybernetischen Modelle beschrieben das Leben mit der objektivistischen Denkweise der klassischen Physik; die schon geschehene Einführung des Subjekts in der Quantentheorie stand beziehungslos neben ihnen." 6

Hayek (6), S.l5 ff. Der Schleier der quantitativen Vielfalt verdeckt vor allem die Komplexität des Subjekts bzw. die Komplexität autonomer Subjekte. 7

22

1. Komplexe Systeme

Differenzierter sind die Definitionen zur Komplexität von Klaus (1969), Kühne (S.28) oder Czayka (S.41), die über die Anzahl der Elemente hinaus die Reichhaltigkeit der Verknüpfungen, d.h. die Anzahl der zwischen den Elementen bestehenden Relationen zur Bestimmung heranziehen. Maßgebend für die Komplexität ist danach die Anzahl der Inzidenzen bestimmter Charakteristika auf der Ebene der „Objekte" oder der „Relationen". Außer der einem offensichtlichen Realismus entspringenden Objektebene, gibt es nur noch die generalisierte Relationenebene, in der zwischen Beziehungen, Beziehungen von Beziehungen etc. nicht weiter unterschieden wird. Die Entwicklung und hierarchische Staffelung der Abstraktionsebenen und ihre Beziehung zur Komplexität bleibt leider 8 noch unbeachtet.

1.3 Komplexität dynamischer Entwicklung Die Kennzeichnung über verknüpfte Vielfalt erfaßt erst das statische Moment komplexer Systeme. Der dynamische Aspekt wird im folgenden anhand der drei Komponenten Kausalität, Irreversibilität und Selbstorganisation (bzw. autonome Strukturbildung) diskutiert. Kausalität Bewegungen verbinden Entwicklungszustände, die man sich als Momentaufnahmen dynamischer Prozesse vorstellen kann. Zur vereinfachten Diskussion der Dynamik wird zunächst das abstrakte Konzept des Zustandsraums eingeführt, das aus dem Phasenraum der Physik abgeleitet ist. Gegeben sei ein beliebiges System, etwa eine Firma. Ordnet man jeder Eigenschaft, die das System hat, und die es noch erlangen kann, eine Dimension des Zustandsraums zu, dann erscheint das System als genau lokalisierter Punkt in diesem Raum. Da wir nicht nur an der Verortung, sondern auch am Werdegang des Systems interessiert sind, nennen wir eine Dimension des Zustandsraums Zeit und erhalten damit jede Systementwicklung als Linie im Raum, die sogenannte Trajektorie. Entwicklungen verlaufen oftmals nicht regellos, sondern gehorchen Gesetzen, die als Kausalrelationen bekannt sind. Kausalität bedeutet dabei, daß ein System, sobald es den exakt gleichen Anfangsbedingungen unterworfen wird, jedesmal die gleiche Entwicklung nimmt. Die Trajektorie wiederholt sich, oder anders formuliert, gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen. Der kausale Zusammenhang garantiert einerseits, daß sich etwas wiederholt, daß es eine Invariante gibt, nämlich die Ursache-Wirkungs-Relation, während er anderer8 Über die Problematik der Entwicklung der Abstraktionsebenen käme man auf die Thematisierung der Abstraktion und damit mittelbar auf die Selbstorganisation (vgl. Kap.4.2 sowie Kap.5 und 6).

1.3 Komplexität dynamischer Entwicklung

23

seits eine Nicht-Wiederholung einschließt, z.B. die Veränderung oder Bewegung eines Systems von A nach B.

Trajekforie Ζustandsraum

Abb. 1-1

Allerdings ist das Kausalgesetz in der obigen Formalisierung nur von theoretischem Interesse 1, da exakt gleiche Anfangsbedingungen weder festgestellt noch hergestellt werden können. Dagegen stehen nicht nur die schon thematisierte Komplexität der Vielfalt, sondern zudem prinzipielle Grenzen der Beobachtbarkeit und schließlich auch die historische Einmaligkeit jeder Situation. Wir gestehen damit nach Schrödinger (1979, S.56) ein, daß uns die Welt nur einmal gegeben ist und niemals genau in denselben Zustand zurückkehrt. Relevanz gewinnt das Kausalitätsprinzip in einer erweiterten Formulierung, der sogenannten „starken Kausalität", nach der ähnliche Ursachen ähnliche Wirkung haben 2 .

Abb. 1-2

1

Die empirische Relevanz solcher Gesetze wäre gering, da jede mißlungene Verifikation einer Kausalität auf die eventuell nur leicht veränderten Anfangsbedingungen geschoben werden könnte. 2 Gilt die starke Kausalität nicht, dann bedeutet das geometrisch, daß Systeme mit fast gleichen Anfangsbedingungen, die zunächst eng benachbart in einem Volumenelement des Zustandsraums lokalisiert sind, schließlich einen beliebig großen Abstand einnehmen können. Die Trajektorien eines Zustandsraumteils können so mit der Zeit über den ganzen Raum verschwimmen, sie vergessen gleichsam die ursprüngliche Nachbarschaft der Anfangsbedingungen. Schon sehr einfache Systeme gehören in diese Klasse der „mischenden Systeme". Ein sehr bekanntes, physikalisches Beispiel ist das Drei-Körper-Problem, dessen dynamisches Verhalten durch die sogenannte Poincaré-Katastrophe charakterisiert ist.

24

1. Komplexe Systeme

Für Systeme, die linearen Gleichungen in Zustandsräumen mit euklidischer Geometrie genügen, sind beide Kausalitätsformen trivialerweise äquivalent. Besonders wenn nichtlineare Bewegungsgleichungen auftreten, ist die Situation wesentlich komplizierter. Je nach Randbedingungen und Systemtyp usw. gehorcht die Dynamik dann entweder der schwachen oder der starken Kausalität. Gegebenenfalls können sogar beide Bedingungen einander alternierend ablösen3 bis hin zu geradezu chaotischem Verhalten 4 . Der Typ des Systemverhaltens wird dabei auch ganz wesentlich von der Geometrie des Zustandsraums mitbestimmt 5 . Nichtlineares Verhalten ergibt sich oftmals durch Rückkopplung (feed-back), d.h. wenn das System auf seinen eigenen (vergangenen oder gegenwärtigen) Zustand rekurriert (z.B. dx/dt = ax). Die Charakteristik der Rückkopplung in formaler Beschreibung ist dabei die strikte Gesetzmäßigkeit, d.h. das System reagiert gewissermaßen programmiert und nicht spontan oder gar reflektiert. Vergleichen wir die Überlegungen zur Kausalität mit der Komplexität der verknüpften Vielfalt, so zeigt sich insbesondere in der Zustandsraumdarstellung, daß mit der Einbeziehung einer von kausalen Ursache-WirkungsRelationen determinierten Dynamik noch kein neues Moment hinzugewonnen wurde 6 . Es ergeben sich wieder Elemente und Verknüpfungen, die Elemente sind diesmal die Situationen und die Verknüpfungen die Kausalrelationen — es bleibt bei der Komplexität der verknüpften Vielfalt. Irreversibilität Reversibel ist ein Prozeß, wenn er grundsätzlich genauso gut umgekehrt verlaufen könnte, d.h. wenn die zugehörigen Trajektorien nicht gerichtet sind. Was durch eine dynamische Entwicklung entstanden ist, kann dann durch eine invers gerichtete Entwicklung wieder rückgängig gemacht werden. Reversibel sind z.B. die dynamischen Gleichungen der Mechanik, allerdings wird schon in der Thermodynamik über die Einführung des Zufalls die Irreversibilität oder die Richtung des Zeitpfeils eingeführt. Das herausragendste Resultat dazu ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, das Gesetz von der Entropiezunahme in geschlossenen Systemen. Die Irreversibilität sozialer Systeme kann einfach gezeigt werden: Reversibilität bedeutet Umkehrung, d.h. Wiederholung eines Anfangszustands. Nun verfügen aber alle sozialen Akteure über Gedächtnis, d.h. sie können Wiederholungen entdecken und folglich fällt ihnen eine Rückkehr in den Ausgangszustand auf (dies muß sogar bemerkt werden, wenn Reversibilität nachweisbar sein soll). Die Feststellung der Reversibilität würde diese aber, auf das 3 4 5 6

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

dazu ausführlicher Kap.3.2. zu chaotischem Systemverhalten Deker/Thomas, Kap.3.2. hierzu Kap.2, insbesondere Kap.2.3.3.

1983, oder Haken, 1982.

1.3 Komplexität dynamischer Entwicklung

25

Gesamtsystem bezogen, gleichzeitig unmöglich machen, da eine solche Feststellung nicht zum Anfangszustand gehören kann. M i t anderen Worten: Die Entdeckung von Wiederholungen durch den Akteur mit Gedächtnis zerstört mit der Reversibilität zugleich eine andere Möglichkeit der Wiederholung 7 . Nach dieser Argumentation ist es der soziale Akteur in seiner Rolle als lernender Beobachter, der die Irreversibilität, die Zeitrichtung bzw. — wie wir später noch ausführlicher begründen — die historische Zeit einführt 8 . Selbstorganisation Eine Konsequenz der auf verknüpfter Vielfalt gründenden Komplexität ist das Problem der unvollständigen Erfassung aller relevanten Merkmale eines Systems. Die genauen Gründe des Beschreibungsdefizits müssen dabei nicht immer identisch sein, die Vielfalt kann die Raum-, Mittel- oder Zeitrestriktion des Beobachters übersteigen, die analytischen Hilfsmittel mögen nicht genügen oder irgendeine andere Restriktion kann eintreten. Welche Restriktion auch immer im Einzelfall wirksam wird, allein ihr Auftreten gibt der Interpretation zur Komplexität eine ganz neue Wendung. Komplexität ist dann nicht einfach nur gegenstandsorientiert als Kennzeichen irgendeines Objektbereichs zu verstehen. In einem neuen und bislang weithin unbeachteten Aspekt zeigt sich Komplexität mindestens ebensosehr als eine den Beobachter kennzeichnende Eigenschaft. Komplexität verweist auf die Grenzen des Orientierungsvermögens seitens des Beobachters. Das Prädikat „komplex" ist damit zu einem guten Teil immer auch Selbst-Prädikation, d.h. Selbstbeschreibung des Beobachters. Über statistische Methoden, Rationalitätsunterstellungen und andere Plausibilitätsargumente kann der sich in der Komplexitätseinschätzung äußernden Orientierungsproblematik zum Teil erfolgreich begegnet werden. Darüber hinaus helfen das Erkennen von Gesetzen oder Zusammenhängen, sowie vereinfachende Annahmen im Sinne der Ceteris-paribus-Klausel oder die Verwendung strukturstabiler Abbildungen zur Abstraktion in analytisch leicht zugängliche Modellwelten, die Orientierung aufrecht zu erhalten bzw. neu zu gewinnen. Dem drohenden Orientierungsverlust wird Orientierungsverhalten zur Reduktion von Komplexität auf ein beschreibbares Maß entgegengesetzt. 7

Der Begriff „Wiederholung" nimmt eine entscheidende Rolle in unserer Argumentation ein. Insbesondere können über diesen Begriff Wechselwirkungen verschiedener Abstraktionsebenen für die Anschauung erfahrbar gemacht werden (vgl. hinsichtlich der Begriffe dazu genauer Kap.5 und 6). Aufgetreten sind diese Wechselwirkungen bereits einmal in dem sich in der Form wiederholenden Inhalt über die Komplexität (Weg C), dann bezüglich der Kausalität und schließlich auch hinsichtlich der Irreversibilität. In Verbindung mit der Autonomie des Subjekts bildet das abstrakte Prinzip der Wiederholung bzw. der Symmetrie den Kern des später eingeführten Kognos-Konzepts. 8

Mit der Bezugnahme auf lernende Beobachter ist somit bereits das AutonomieArgument verwendet worden.

26

1. Komplexe Systeme

Soziale Systeme sind dabei nicht einfach komplex, sie reagieren vielmehr selbst autonom auf Komplexität, speziell auf ihre Eigenkomplexität, durch komplexitätsreduzierendes Orientierungsverhalten. Hieraus ergeben sich drei wichtige Konsequenzen: a) Komplexität markiert die Schnittstelle zwischen Orientierungsverlust und Orientierungsbestreben. Neben der Kennzeichnung des Gegenstandsbereichs und den Angaben zum Beobachter zeigt Komplexität zudem einen Aufforderungscharakter, der auf die zur Erhaltung der erfolgreichen Beobachter-Umwelt-Interaktion notwendige Komplexitätsreduktion verweist. Komplexität läßt sich unter diesem Aspekt als Handlungs- oder Orientierungsimperativ verstehen. b) Spezifisch autonomes Verhalten im Kontext der Komplexität äußert sich sowohl in der Beobachtung der Komplexität als auch im komplexitätsreduzicrcnden Orientierungsbestreben als Reaktion darauf. Beide Verhaltensweisen sind Ausdruck der Selbstorganisation 9. Hinzuzufügen ist, daß die Komplexitätsreduktion im Außenverhältnis zugleich die Steigerung der Eigenkomplexität des organisierenden Systems bewirkt 1 0 . Im Ergebnis erhalten wir das schon zu Anfang postulierte Erkennen, Verkörpern und Erzeugen (positiv und negativ!) der Komplexität in sozialen Systemen durch eben diese. c) Ein Verständnis dynamischer Komplexität im Sinne der Strukturbildung muß hinsichtlich komplexer sozialer Systeme auch der sich-selbst-organisierenden Komponente Rechnung tragen. Eine entsprechende Definition würde etwa lauten: Komplexe soziale Systeme sind Systeme, in denen komplexitätsreduzierende Elemente auftreten. Wieder ergibt sich ähnlich dem Darstellungsweg C eine in der Sprachform „paradoxe" 11 Konstruktion, in der diesmal das Definiendum im Definiens erscheint. Die paradoxe Sprachform kann dabei als Selbstbeschreibung charakterisiert werden. Wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, erweist sich die Selbstbeschreibung als eine zentrale Denkfigur zur Analyse der „sich-selbstorganisierenden Dynamik" autonomer Systeme. In ausgeprägtester Form findet sich die Komplexitätsreduktion in der Wissenschaft selbst. Sie erarbeitet Orientierungsvorgaben, mit denen vormals 9 Selbstorganisation entsteht in dieser Perspektive als Reaktion auf die Herausforderung der Komplexität. 10 Es zeigt sich hier eine eigentümliche Ambivalenz, nach der autonomes Verhalten im Sinne der Selbstorganisation zugleich, je nach Kontext, komplexitätssteigernd und reduzierend wirken kann.Ausführlich wird diese Ambivalenz in Kap.5 und besonders in Kap.6.1 diskutiert (zur Komplexitätszunahme durch Evolution vergleiche etwa Jantsch). 11 „Paradox" wird hier nicht im Sinne von „einen Widerspruch enthaltend" verwendet, sondern im Sinne der Analogie zu den gleichermaßen die Typentheorie verletzenden Sprachkonstruktionen der logischen Antinomien. Vgl. hierzu ausführlich Kap.2.4.

1.3 Komplexität dynamischer Entwicklung

27

aus Komplexitätsgründen Unzugängliches erfahrbar wird. Während Technik und Naturwissenschaften ihren Gegenstandsbereich als lediglich komplexitätsverkörpernd und damit nicht selbst als komplexitätreduzierend behandeln können, muß diese Komponente der Selbstorganisation gegenüber sozialen Systemen berücksichtigt werden. Nach diesen Vorbereitungen läßt sich eine der zentralen Thesen dieser Arbeit wie folgt formulieren: Diejenigen Sozialwissenschaften, die vom formal-analytischen Paradigma geprägt sind und dieses nach außen repräsentieren (z.B. die Neoklassik in der Ökonomik), reduzieren Komplexität gerade dadurch, daß sie von der Fähigkeit ihres Gegenstandsbereichs zur Komplexitätsreduktion 12 abstrahieren 13 . Die spezifische Reduktion, die jegliches, nicht zufallige autonome Verhalten erfaßt, ist dabei eine notwendige Folge des formalanalytischen Ansatzes 14 .

Wir greifen abschließend die Frage auf, unter welchen Bedingungen die den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen eigene Methode der Komplexitätsreduktion den Anforderungen nicht mehr genügt, bzw. unter welchen Bedingungen die Selbstorganisation notwendigerweise in die Analyse Eingang finden muß. Aus der Frage ergibt sich unmittelbar: Die naturwissenschaftlich-technische Form der Analyse genügt, solange Selbstorganisation nicht auftritt oder in der Darstellung durch Fremdorganisation ersetzt werden kann. Das ist immer dann der Fall, wenn die möglichen Umstände, die das zu beschreibende System im Laufe seiner „Geschichte" einnehmen kann, dem Beschreibenden vorher bekannt sind und damit von vornherein in den die Beschreibung aufnehmenden Zustandsraum implementiert werden können. In unserer Terminologie bedeutet das: Vernachlässigung der Selbstorganisation ist jeweils dann möglich, wenn die Komplexität des Gegenstandsbereichs auf Komplexität der verknüpften Vielfalt reduziert werden kann. Ein so beschriebenes System ist danach niemals wirklich kreativ, sondern es wählt entweder willenlos (programmiert) unter den im Zustandsraum dargebotenen Alternativen, oder es wird, gesteuert etwa von einem Zufallsprozeß, zwischen diesen Alternativen umhergetrieben. Das System wiederholt sich folglich — es wiederholt die Möglichkeiten, die im Zustandsraum festgeschrieben sind. Ist das zu beschreibende System ein soziales System, so muß der Modellkonstrukteur die Ideen und Erfindungen des zu beschreiben12 Diese These wird später, so etwa in Kap.4.2 und 5.1 etwas verallgemeinert wieder aufgegriffen. Der Terminus „Komplexitätsreduktion" wird dabei unter „Abstraktion" subsumiert. 13 Röpke, 1977, S.2, wirft der Neoklassik global „Abstraktion von der Komplexität der Wirklichkeit" vor. Da jede Wissenschaft und überhaupt jedes Orientierungsverhalten erst über komplexitätsreduzierende Abstraktionen denkbar wird (vgl. genauer Kap.5), wendet sich Röpke s Vorwurf ohne genauere Spezifikation damit gegen das Denken überhaupt. 14 Vgl. dazu die ausführliche Begründung in Kap.2 sowie Kap.4.2.

28

1. Komplexe Systeme

den Systems im Modellraum vorwegnehmen. Er beraubt 15 gewissermaßen das modellierte System seiner Kreativität. Gewöhnlich ist diese Vorwegnahme nur in sogenannten wohlstrukturierten Situationen, in denen die Randbedingungen die Alternativen genauestens festlegen, möglich. In allen anderen Fällen scheitert die Vorwegnahme in der Regel an der Komplexität des Gegenstandsbereichs. Als Faustregel ergibt sich: Die Reduktion des Gegenstandsbereichs auf die Komplexität der verknüpften Vielfalt, und damit die Abstraktion von der Selbstorganisation im Sinne einer Vorwegnahme der Möglichkeiten 16 , ist, abgesehen von Sonderfallen, immer dann problematisch, wenn die Komplexität des Gegenstandsbereichs hinsichtlich der Größenordnung vergleichbar mit der des Beobachters ist. Wir nennen irreduzible Komplexität dieser Art relativistische Komplexität. Die prinzipielle Verweigerung der Thematisierung der Selbstorganisation würde, da sie die Erfassung aller Möglichkeiten für sich in Anspruch nähme, einen überlegenen, gottähnlichen Forscher implizieren, der selbst immer außerhalb des zu beschreibenden Systems stehen müßte. Relativistische Komplexität ist im Kontext sozialer Systeme die Regel, besonders plastisch wird dies im Falle von Selbstbeschreibungen, in denen die Eigenkomplexität des Beobachters sich selbst gegenübertritt. Es ist kaum anzunehmen, daß der Beobachter seine eigenen Ideen vorwegnehmen bzw. sich kreativ seiner eigenen Kreativität berauben kann. Die Wahl einer relativistischen Konzeption trägt dem Umstand Rechnung, daß die Zugehörigkeit des Gegenstandsbereichs zu einer bestimmten Komplexitätskategorie von der Komplexität des Beobachters bzw. seinem Beschreibungspotential mit-determiniert wird. Ähnlich wie in der relativistischen Mechanik Raum und Zeit auf das Koordinatensystem des Beobachters bezogen sind, wie sich Vergangenheit und Zukunft im Standpunkt des Beobachters berühren, wird jetzt auch die Komplexität des Gegenstandsbereichs auf den Beobachter, d.h. auf sein Beschreibungspotential hin relativiert. In den Mittelpunkt der Analyse zur Selbstorganisation rückt somit immer mehr der autonome Beobachter. Hinsichtlich der Komplexitätsthematik zeigt sich dies einmal in seinem Auftreten als beobachteter Beobachter, also als komplexitätsreduzierender Teil des Gegenstandsbereichs, und zum anderen zugleich als Beobachtender des Gegenstandsbereichs mit seiner in die Komplexitätseinschätzung desselben eingehenden Funktion.

15

Hieraus erklärt sich, daß offenbar erst die „Objekte" als Subjekte akzeptiert werden, deren Kreativität nicht mehr vorwegnehmbar ist. 16 Es zeigt sich (vgl. Kap.2), daß die Differenzierung der Komplexität in zwei Kategorien und das damit verbundene Eingeständnis, die Möglichkeiten sozialer Systeme nicht alle vorweg erfassen zu können, keine vorübergehenden Kompromisse sind, sondern daß die Annahme einer vollständigen Theorie aller Möglichkeiten schon von der Konzeption her in sich widersprüchlich ist.

1.4 Symmetriebetrachtung

29

1.4 Symmetriebetrachtung Ein erstes Symmetriemotiv gibt die Aufgabenstellung selbst wieder: Verbesserung der Symmetrie zwischen theoretischen Beschreibungen autonomer sozialer Systeme und der Erfahrungswirklichkeit.

Die Diskussion in der Einleitung und im ersten Abschnitt von Kapitel 1 zeigt jedoch, daß ein solcher Symmetriegewinn an anderer Stelle einen Symmetrieverlust nach sich zieht — man kann gewissermaßen von einem Symmetriewechsel sprechen. Der Symmetrieverlust entsteht durch die Einbeziehung autonomer Dynamik, die die Aufgabe der strukturellen Beschreibungsinvarianz erfordert. Letztere ist Ausdruck der Ausblendung historischer Zeit, wir sprechen daher von Zeitsymmetrie. Die Charakteristik der Komplexität sozialer Systeme, als nicht nur Komplexität verkörpernd, führt auf ein Muster, das sich im eingangs skizzierten Gedankenspiel wiederfindet. Innerhalb dieser Symmetrie (Wiederholung) erscheint zudem erstmals das wichtige Symmetrieprinzip der Selbstbeschreibung, das wir im folgenden mit Selbstreferenz bezeichnen. Kennzeichen der Komplexität verknüpfter Vielfalt ist die Zeitsymmetrie. Gezeigt wird dazu, daß diese Symmetrie auch dem Komplexitätsverständnis von Hayek zugrundeliegt (sich wiederholt). Im Übergang zur Komplexität dynamischer Systeme tritt hinsichtlich der Kausalität zunächst wieder Zeitsymmetrie auf, zugleich gibt die Kausalität aber auch ein Beispiel zum Symmetrie Wechsel ab. Während Zeitsymmetrie und Symmetriewechsel bei der Kausalität noch nebeneinander bestehen, erweisen sich beide Symmetriekategorien in den Betrachtungen zur Irreversibilität als unvereinbar. Gerade das Erkennen der Zeitsymmetrie führt zum Bruch derselben — Symmetriewechsel löst Zeitsymmetrie ab. In den abschließenden Überlegungen zur Komplexität in Verbindung mit Selbstorganisation steht besonders die Symmetriefigur der Selbstreferenz im Vordergrund (vgl. z.B. die Komplexitätsdefinition). Dies gilt auch für die etwas kompliziertere Konstruktion zur These im Zusammenhang mit der Komplexitätsreduktion. Nach dieser These wird ein zur Beschreibung autonomer Vorgänge notwendiger Symmetriewechsel zur Selbstreferenz durch die Abstraktion von der Selbstreferenz vermieden. Die Abstraktion dient dabei der Aufrechterhaltung der Illusion von der strukturellen Zeitsymmetrie autonomer sozialer Systeme. Ganz ähnlich setzt sich die Feststellung relativistischer Komplexität aus einem durch Selbstreferenz eingeleiteten Symmetriewechsel von der Zeitsymmetrie zur Selbstreferenz zusammen.

2. Formale Sprachen 2.1 Die formale Umarmung „Ich glaube: Alles, was Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens überhaupt sein kann, verfallt, sobald es zur Bildung einer Theorie reif ist, der axiomatischen Methode und damit mittelbar der Mathematik." D. Hilbert 1 „ I t is clear that economics, if it is to be a science at all, must be a mathematical science." W. St. Jevons 2

In der Tat, wenn man die seitenlange Chronik des Eindringens der unterschiedlichsten mathematischen Teildisziplinen in die Ökonomik in der Aufstellung von Arrow und Intriligator 3 liest, dann mutet es fast vermessen an, noch über die Anwendbarkeit der Mathematik in den Sozialwissenschaften zu schreiben. Allerdings scheint es nicht nur der aus einer überlegenen Methode erwachsene Erfolg zu sein, der das Vordringen der Formalwissenschaften beflügelt. Nicht nur der tatsächliche Fortschritt, allein schon die Nähe zur Mathematik als über jeden Zweifel erhabenen Garant wissenschaftlich akzeptierter Denkweise4, verleiht Glanz. Zudem befreit die Aura der Exaktheit die Wirtschaftswissenschaft vom Zwang, ihre Ergebnisse und deren Verwertbarkeit zu rechtfertigen 5. Mithin erweist sich die formale mathematische Analyse als der bequemste Weg zum Erfolg 6 . Nach Morgenstern 7 gilt, daß dort, wo das exakte Denken mit der Mathematik einmal eingehakt hat, es immer verblieben ist, und man niemals erleben wird, daß ein Zurückdrängen der exakten Methoden erfolgt. Morgenstern geht in seiner Polemik sogar so weit, daß er Denken mit Mathematik identifiziert, er 1 2 3 4 5 6 7

Hilbert, S.415. W.St.Jevons, 1911, S.3. Arrow/Intriligator, S.l ff. Vgl. Katouzian, S.l65 ff.; Katouzian widmet dieser Frage ein ganzes Kapitel. Vgl. Wagner, S.97. Vgl. Katouzian. Morgenstern, 1976 (2), S.390.

2.1 Die formale Umarmung

31

also den nicht mathematisch arbeitenden Sozialwissenschaftler als Gegner des Denkens abstempelt, wörtlich 8 : „Thus opponents of mathematics would have to banish thinking from economics altogether. (One is almost tempted to say that they have not even induced it anyway)"

Zweifellos denken Mathematiker. Es ist aber eine andere Frage, ob das Ergebnis dieses Denkens, die Mathematik, selbst wiederum das Denken beschreibt (vgl. Kap. 2.3.2). Was ist, wenn der mathematischen Darstellung prinzipielle Grenzen gesetzt sind? Wenn Mathematik zwar Teil der Wirklichkeit, aber die Wirklichkeit niemals (im Sinne einer exakten Beschreibung) Teil der Mathematik sein kann? M i t welcher Berechtigung könnte angenommen werden, daß sich aus dem Kontext der Mathematik Wissen über den Gegenstandsbereich der Sozialwissenschaften ziehen läßt 9 ? Eine solche Berechtigung ist zweifellos der unbestreitbare Erfolg, den der Einsatz formaler Kalküle in den sogenannten „soft sciences" gezeigt hat. Eine andere zieht Morgenstern aus der Behauptung, daß durch die Logik keine Aussage über die Welt getroffen wird, daß die gänzlich aus der Logik ableitbare Mathematik daher völlig neutral zu allen Wissenschaften im gleichen Verhältnis steht und durch den Gebrauch der Mathematik keinerlei sachfremde Elemente in eine Sozialwissenschaft hineingetragen werden 10 . Beinahe inhaltsgleich schrieb auch schon Jevons 11 : „The symbols of mathematical books are not different in nature from language; they form a perfected system of language, adapted to the notions and relations which we need to express. They do not constitute the mode of reasoning they embody; they merely facilitate its exhibition and comprehension."

Hier irren Morgenstern und Jevons. Zwar trifft die Logik selbst noch keine Aussage über die Welt, dies ändert sich aber sofort bei der Anwendung. In diesem Falle müssen die Axiome des formalen Kalküls ihre Entsprechung im Anwendungsbereich finden. Sofern nicht überprüfbar, unterstellt die Verwendung eines Formalismus jedenfalls diese Entsprechung —jeder Formalismus ist somit in der Anwendung normativ. Wie im folgenden gezeigt wird, impliziert schon das Hauptmotiv der Logik, das Identitätspostulat, eine Weltanschauung, die man eigentlich nur als Spezialfall der Wirklichkeit, wie ihn besonders Teile der Physik und anderer exakter Wissenschaften repräsentieren, akzeptieren kann. Versteht man z.B. Mathematik in einer möglichen Interpretation als Wissenschaft von den Strukturen, dann ist Mathematik sicherlich berechtigt, einen gebührenden Platz in bezug auf die Beschreibung beliebiger Strukturen zu beanspruchen. Sucht man aber nach einem Verständnis hinsichtlich des Entstehens der Strukturen, will man beispielsweise die Evolution der Mathema8 9 10 11

A.a.O. S.393. Vgl. auch Schmeikal. Morgenstern, 1976 (2), S.392 u. S.393. W.St Jevons, 1911, S.5.

32

.

o m l e Systeme

tik selbst verstehen, dann wird man notwendig mit der Mathematik Schiffbruch erleiden. Die Morgensternsche Behauptung kann in einer evolutorischen Welt nicht aufrechterhalten werden. Durch die Anwendung von Formalismen wird dem Gegenstandbereich die dem Formalismus inhärente Weltsicht aufgeprägt, welche sich von den Axiomen bis hin in die neuesten Entwicklungen fortsetzt. Dies zu zeigen erfordert aber auch eine Umorientierung hinsichtlich der gewohnten Maßstäbe und Kriterien. Man kann keinen exakten Beweis erwarten, daß es absolute Exaktheit in der sogenannten Realität nicht gibt, man kann aber zeigen, daß solche Erwartungen zu Paradoxien im ursprünglichen Kontext führen. In diesem Zusammenhang wird die Feststellung Morgensterns wieder aktuell, daß die Ökonomik sich durch eine logische Nachlässigkeit auszeichnet12. Allerdings nicht in dem von Morgenstern verstandenen Sinne, daß die Ökonomik sich mehr an den Ergebnissen der Logik und Mathematik orientieren müsse, sondern daß es an einer fundierten kritischen Einstellung zur Logik und den darauf aufbauenden formalen Kalkülen mangelt 13 .

2.2 Wie logisch ist die Logik? „Der Formalismus, den die Philosophie neuerer Zeit verklagt und geschmäht (hat) und der sich in ihr selbst wieder erzeugte, wird, wenn auch seine Ungenügsamkeit bekannt und gefühlt ist, aus der Wissenschaft nicht verschwinden, bis das Erkennen der absoluten Wirklichkeit sich über seine Natur vollkommen klar geworden ist." Hegel 1

Die Titelfrage ist scheinbar eine Tautologie, denn sofern „Logisches" durch die Logik definiert ist, sind alle Inhalte der Logik zweifellos logisch. Gehört die Logik aber zum Inhalt der Logik? — Schon hier entstehen Probleme. Wir wollen aber nicht vorgreifen und daher zunächst einen anderen Zugang wählen. Logisch denken heißt richtig denken. Wie oft denken wir aber logisch, wenn wir denken? Kann man etwa im Zusammenhang mit einem Gedicht von „richtigem 12

Vgl. Kap. 2.4 und 3.3. Morgenstern, 1963, S.43. Ähnlich vermerkt Katouzian, S.l71, die unkritische Einstellung: „The irrational uncritical and authoritarian elevation of mathematical economics is prone to the very serious danger which we have discussed." 1 Hegel , 1970, S.22. 13

2.2 Wie logisch ist die Logik?

33

Denken" sprechen? Wahrscheinlich ist die Frage weder mit Ja noch mit Nein beantwortbar, das Gedicht ist eher über einen dritten Weg, unabhängig von „wahr" und „falsch", entstanden. Vergleichsweise ist die Logik, jedenfalls was die Begriffe „wahr" und „falsch" angeht, noch einfach und geordnet — ist deswegen aber die Logik selbst schon wahr? M i t diesen einleitenden Überlegungen soll kein Feldzug gegen die Logik vom Zaun gebrochen werden, die Logik ist eine faszinierende Erfindung des menschlichen Geistes und verdient als solche eher Bewunderung als Kritik. Es muß aber die Frage nach der Rolle der Logik gestellt werden, oder: Inwieweit hat der implizite Inhalt der Formalsprachen das wissenschaftliche Denken usurpiert? Die Verwendung der Logik 2 und anderer, auf ihr aufbauender Kalküle, als einer möglichen Art zu denken, bedarf der Rechtfertigung. Keinesfalls müssen umgekehrt, wie es heute in den Sozialwissenschaften manchmal der Fall zu sein scheint, abweichende Ansätze sich gegenüber den „exakten" formalen Methoden rechtfertigen. Voraussetzung einer solchen, gemäßigten Haltung ist natürlich, daß der Wissenschaftsbegriff nicht einfach auf die Forderung nach einer „exakten" und „wahren" Erklärung der Welt verkürzt wird. Wir wissen erst, ob die Welt exakt erklärbar ist, wenn wir eine vollständige und exakte Beschreibung zur Verfügung haben. Das heißt aber nichts anderes, als daß wir exakte Kenntnis davon haben, daß unser Wissen über mögliche Exaktheit unexakt ist. Die Forderung nach Exaktheit kann daher, auf einen vagen Gegenstandsbereich bezogen, die Aufforderung zur Unwahrheit implizieren und vice versa (ausführlicher in Kap.3.3). Wissenschaft sollte daher als Orientierungshilfe verstanden werden, deren Orientierungsvermögen von jedem Anwender allein beurteilt und verantwortet werden muß. Sofern es sich dabei um rein formale Welten handelt, deren Grenze und Struktur bis auf Widerspruchsfreiheit beliebig definiert werden kann, ist die Verantwortbarkeit des Orientierungsvermögens kaum mehr als eine bloße Floskel. Die erschlossenen Wege, Zusammenhänge und Ergebnisse lassen sich über Beweise aus den Bausteinen des formalen Kalküls herleiten; die freie Definierbarkeit der Bausteine im Verein mit der exakten Einordnung der Herleitung der Ergebnisse in die Kategorien „wahr" oder „falsch" schließen die Verantwortbarkeit 3 aus dem Kontext der formalen Welt aus und beschränken sie auf den erweiterten Kontext der Beschäftigung mit eben diesen formalen Welten. Anders aber, wenn formale Welten als Modelle sogenannter realer oder besser beobachtbarer Zusammenhänge eingesetzt werden. Hier muß wenigstens die behauptete Isomorphic zwischen den Grundvoraussetzungen des Formalismus und der Beobachtung vom Modellkonstrukteur verantwortet werden.

2 3

3

Wir unterscheiden nicht zwischen Logik und Logistik, der mathematisierten Logik. Im Sinne einer Eigenverantwortung, also insbesondere sich selbst gegenüber.

Blaseio

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Die Grundvoraussetzungen der Logik 4 sind im Satz der Identität, des Widerspruchs und dem Satz des ausgeschlossenen Dritten festgeschrieben. Im einzelnen heißt das: Identität A = A (oder) A impliziert A Jedes Ding ist mit sich selbst identisch, insbesondere jeder Begriff behält in einem zusammengehörigen Denkakt seine Bedeutung. Verbot des logischen Widerspruchs

(principium

contradictionis)

nicht (A und (nicht A)) Es ist prinzipiell ausgeschlossen, daß ein Sachverhalt und sein Gegenteil zugleich bestehen. Satz des ausgeschlossenen Dritten (tertium

non datur)

A oder (nicht A) Ein logischer Sachverhalt trifft entweder zu oder nicht, d.h. symmetrisch zu oben: es ist prinzipiell ausgeschlossen, daß weder der Sachverhalt noch sein Gegenteil bestehen. Die übliche Kritik an den ontologischen Annahmen dieser Fundamentalsätze entzündet sich am tertium non datur. Z. B. gibt es in der Mathematik ungeklärte Probleme wie etwa die Vermutung der Existenz ungerader, vollkommener Zahlen. Das sind Zahlen, die gleich der Summe ihrer echten Teiler sind. Ein anderes Problem stellt die Goldbachsche Vermutung dar, wonach sich jede gerade Zahl als Summe zweier Primzahlen darstellen lasse. Nach dem tertium non datur existiert zu diesen Behauptungen entweder mindestens ein Gegenbeispiel oder die Aussagen sind wahr. Da die Probleme sich auf unendliche Gesamtheiten beziehen und möglicherweise nie entschieden werden können, wird von den Kritikern (z.B. Brouwer, Poincaré etc.) diesen Aussagen zunächst ein dritter, gewissermaßen ein IndifTerenzwert zugeordnet 5. 4

M i t Logik ist die klassische, zweiwertige Logik gemeint, die hier analog zu Günther (2), S.367, als synonym zu den gebräuchlichen Bezeichnungen „traditionelle", „ontologische", „aristotelische" Logik verstanden wird. Die angesprochene Zuordnung ist Standard in nahezu jeder Abhandlung zur Logik. Wir geben daher als Quelle einfach einen Auszug aus dem philosophischen Wörterbuch nach Schischkoff (1982, S.413) wieder: „Logik, die Fähigkeit richtig, d.h. eben logisch zu denken. Diese Richtigkeit basiert auf den vier Grundsätzen des Denkens: Î. Satz der Identität, 2. Satz des Widerspruchs, 3. Satz des ausgeschlossenen Dritten, 4. Satz des zureichenden Grundes." Letzterer ist für unsere Überlegungen zum Formalismus unerheblich und wird daher nicht weiter berücksichtigt. 5 Vgl .Becker, 1959, S.125ff., Becker, 1927, S.494ff., Bourbaki, S.50 ff., und Stegmüller, S.438 f.

2.2 Wie logisch ist die Logik?

35

Eine weitere Möglichkeit ergibt sich durch die Einführung einer unendlichen Skala von Modalitätsgraden analog den Wahrscheinlichkeitswerten, die sich auf zukünftige, kontingente Aussagen beziehen6. Auffallend ist, daß die zusätzlichen Werte jeweils zwischen „wahr" und „falsch" gesucht werden, was bildlich, wenn man entsprechend der Booleschen Algebra die Wahrheitswerte mit 0 und 1 identifiziert, den möglichen Positionen auf dem Einheitsintervall entspricht. Von der Suggestion, die Logik auf diesen Zwischenraum hin auszudehnen, ist z.B. Günther 7 frei, der einige weitere Alternativen vorstellt. Deren Darstellung würde hier aber zu weit führen. Die Beschäftigung mit dem tertium non datur darf aber nicht den Blick auf das eigentlich dominierende Prinzip der Identität verstellen. Daß dieses das thematische Leitmotiv der Logik darstellt, und die nachfolgenden Prinzipien demgegenüber nur interpretierende Funktionen einnehmen, ist klar von Günther 8 erkannt und herausgestellt worden. Mit dem Identitätsprinzip wird die Thematik des Seins als Objekt des Denkens fixiert, und dieses Denken muß gemäß den beiden nachfolgenden Prinzipien eindeutig (principium contradictionis) in den von der Identität aufgespannten Rahmen des Seins und des NichtSeins (tertium non datur) eingelagert sein. Eine Verletzung des zweiten oder dritten Prinzips, wie in den oben angesprochenen Erweiterungen der klassischen Logik, führt infolge der strukturellen Verbundenheit der Prinzipien 9 zur Aufweichung des Identitätsprinzips — ein sich selbst gleiches oder identisches Sein hat schwerlich Platz für modales oder indifferentes Sein. Die Frage nach der Seins-Einordnung kontingenter Ereignisse, deren reale Manifestation erst in der Zukunft durch den historischen Prozess entschieden wird, verweist somit nicht einfach auf dritte Werte und ist damit systemkompatibel im Sinne einer möglichen Erweiterung. Durch sie wird vielmehr das System als solches hinterfragt und von daher kann sie auch nur systemübergreifend beurteilt werden. Eine Antwort auf diese und analoge Fragen kann auf den kurzen Nenner konzentriert werden: die klassische Logik ist eine Logik des Seins und als solche zeit- und subjektlos. Dabei handelt es sich nicht um zwei getrennte Merkmale, sondern um verschiedene Perspektiven ein und desselben Merkmals; die Logik ist zeitlos, weil sie subjektlos ist und vice versa. Wir diskutieren zunächst das Verhältnis von Zeit und Identität.

6

Vgl. die Logik von Lukasiewicz. Siehe Günther (1), (2), (4). 8 Günther (2), S.366. Ebenso schreibt z.B. Wilden, 1972, S.122: ,The rule about identity is the sole sufficient and necessary condition of any digital logic." 9 Zur gegenseitigen Bedingtheit der Prinzipien vgl. Müller, S.71 ff. 7

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2.2.1 Logik der Gleichzeitigkeit Alle Dinge unter dem Himmel entstehen im Sein, das Sein entsteht im Nichtsein. Laotse, Vers 40

Alles, was mit sich identisch ist, gehört zum Sein — das ist. Alles, was diese Bedingung nicht erfüllt, gehört zum Nicht-Sein. Eine Veränderung dieser Konstellation ist innerhalb der Logik nicht möglich, da diese Veränderung von ihrem Wesen her als „das nicht identisch bleibend sich Verändernde" die Identität verletzen würde. Der Unbedingtheitsanspruch dieser Zuordnung zu Sein und Nicht-Sein wird durch die beigeordneten Prinzipien unterstrichen. Im principium contradictionis ist jede Vermittlung Jeder Kompromiß ausgeschlossen. Eine wahre Aussage kann nicht zugleich identisch sein mit einer Aussage, die nicht wahr ist. Das tertium non datur sichert obendrein die Universalität der Aufteilung; der durch die Identität aufgespannte Rahmen von Sein und NichtSein kennt kein „außerhalb", das eine dritte Alternative, jenseits von Sein und Nicht-Sein aufnehmen könnte. Er ist abgeschlossen in dem Sinne, daß er die ganze Welt dem Sein zuordnet, wobei das evtl. nicht Zuordenbare automatisch dem Nicht-Sein und damit dem Undenkbaren zufallt. Das Sein ist sich in aller Form und Ausprägung identisch, es wird nicht, sondern es ist an und für sich, d.h. es wird womöglich entdeckt, aber es ist objektives Sein, unabhängig von einer Entdeckung. Das bedeutet nicht, daß es nicht möglich ist, in diesem Sein Bewegung zu interpretieren. Das bedeutet aber eine Bewegung, die als Bestandteil des Seins sich selbst identisch ist, das heißt aber unveränderlich, invariant, eine Bewegung, die niemals entstanden ist, sondern sich in immer sich selbst gleichen Wiederholungen reflektiert. Eine jede autonome Veränderung aus dem Sein heraus verletzt die Identität, sonst wäre die damit verbundene Bewegung wie das Modell eines Planetensystems gleichförmig zeitloses Sein, im Widerspruch zur Annahme der Veränderung des Seins. Eine autonome Veränderung aus dem Sein heraus ist somit Veränderung des Seins selbst und des ihm gleichgestellten Prinzips der Identität — eine solche Veränderung transzendiert das Sein. Nun ist die Logik des Seins trotz dieser Herausforderung durch das unleugbare Erleben der Veränderung (in) unserer Erfahrungssphäre nicht am Ende. Zwar ist „alles, was ist" ex definitione Bestandteil des Seins einer daseienden Objektivität, aber dennoch ist nicht alles Sein. Die Zweiwertigkeit erlaubt es, das Undenkbare im Sein der Sphäre des Nicht-Seins zuzuordnen. Es ist eine eigenartige Landschaft des Denkens, die diese rigorose Spaltung hervorruft—das Denken macht sich selbst zum Undenkbaren. Wenn, wie zuvor gezeigt, die autonome Veränderung des Seins dieses transzendiert, dann verkörpert Veränderung Nicht-Sein, wohlgemerkt Veränderung, die dann jegliche Identität entbehrt. Das ist eine reine, absolute Bewegung, die in keiner Phase Gegenständliches, das als solches beschreibbar wäre, beinhaltet. Was jenseits aller Beschreibbarkeit liegt, das Undenkbare 10 , das braucht allerdings

2.2 Wie logisch ist die Logik?

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nicht zu beunruhigen, denn wie soll es sich bemerkbar machen, wenn es nur jenseits des Denkens erfahren werden kann. Dieser etwas polemische Schluß kann jedoch keineswegs befriedigen, birgt er doch die beunruhigende Konsequenz, daß auch das allem originärem Wandel verlustige Sein monströse Züge annimmt 1 1 . Es ist das absolute Sein, daß alleinig Wahres beinhaltet, und dieses teilt mit jenem die Absolutheit, denn in jeder „entstandenen" Veränderung würde es dem Nicht-Sein anheimfallen. Absolut ist auch die Objektivität des Seins. Denn wäre es nicht jeder Erfahrung ein Apriori, dann müßte es die Erfahrung als Kategorie historischer, das heißt originärer Veränderung im Widerspruch zur Identität beinhalten. Wie schon im Ausschluß der Veränderung nahegelegt, ist Sein auch zeitlos, denn historische Zeit relativiert alle Absolutheit. So verschwindet die Zeit genau wie Subjektivität, Veränderung u.a. im Unfaßbaren des Nicht-Seins 12 . Was dem Sein bleibt, ist unwandelbarer, determinierter Raum, der selbst wiederum das wahre, objektive Sein in sich aufnimmt. Es scheint, als reproduziere sich die Zweiwertigkeit ausgehend von der klassischen Seins-Logik in den dichotomen Fragmenten 13 Raum-Zeit, StatikDynamik, Objektivität-Subjektivität, Determinismus-Chaos etc. und etabliere so das in unserer Kultur vorherrschende bipolare Denken. Die Natur der logischen Zerspaltung legt ein entkoppeltes Weltbild einer deterministischen Seinssphäre umgeben von einem unvorstellbaren, überbegrifflichen Nicht-Sein nahe — das Bild einer von einem metaphysischem Gott geordneten Welt drängt sich geradezu auf. Die Vorstellung eines unbewegten Seins und eines sich absolut verändernden anderen widerspricht allerdings gänzlich der Erfahrung. Weder die Dinge noch die Begriffe bleiben konstant — alles fließt (Heraklit). M i t konstanten 10 Man müßte allerdings fragen, ob das nicht schon eine Beschreibung ist, was auf eine der Antinomie von Berry ähnliche Situation führen würde. Eine Beschreibung der Antinomie von Berry findet sich z.B. bei Quine, 1973, S.l86; vgl. auch Kap.2.4. 11 Vgl. z.B. C.F.ν.Weizsäcker, 1977, S.361: „Die Logik kann als eine Folge von Definitionen des Absoluten aufgefaßt werden." A.M.K.Müller, 1974, S.321: „... daß die Logik von den zeitlos, also immer gültigen Beziehungen zwischen Strukturen handelt." Hegel, S.217: „Denn die Zahl ist eben die gänzlich ruhende, tote und gleichgültige Bestimmtheit, an welcher alle Bewegung und Beziehung erloschen ist und welche die Brücke zu dem Lebendigen der Triebe, der Lebensart und dem sonstigen sinnlichen Dasein abgebrochen hat." 12 Einzig der seltsame strukturelle Verwandtschaftsgrad der Begriffe „Zeit", „Subjektivität", „Veränderung" etc. über die Kategorie des Nicht-Seins liefert ein bedenkenswertes Ergebnis, das nicht sofort der unmittelbaren Erfahrung widerspricht. 13 Der Zusammenhang zwischen Zeit, Subjekt und Dynamik wird im folgenden noch mehrfach erläutert. Zur Problematik der Dichotomien und ihrer Integration siehe Kap. 5.6.

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Begriffsbedeutungen, wie sie in der Logik unterstellt werden, könnten wir nur Kombinationen des schon Dagewesenen denken 14 . Auch ein Wissen apriori, wie es absolute Objektivität erfor/iern würde, konnte bisher niemand zwingend nachweisen. Die Logik spricht von Dingen, die vermöge der Identität als Gruppen von Eigenschaften klar voneinander getrennt sind. Weder läßt sich nach heutiger Erkenntnis ein ausgedehnter noch ein ausdehnungsloser homogener Körper denken 15 , ein völlig isolierter Körper hätte prinzipiell keine beschreibbaren Eigenschaften mehr 1 6 , Raum und Zeit bilden ein untrennbares Kontinuum, und Materie entpuppt sich als Eigenschaft des Raumes. Kurzum, die mit der Idee des Seins verbundenen Begriffe haben sich zu anderen, mit dieser Idee inkompatiblen Inhalten, entwickelt. Wir wollen trotzdem versuchen, ein denkbares Bild der Logik zu entwerfen, um ihren Einfluß weiter zu verstehen. Ein zeitloses, von originärer Veränderung freies Sein läßt sich als präsentischer Abdruck der Welt begreifen, eine Art Schnappschuß, der eine räumliche Konfiguration mit völliger Gleichzeitigkeit 17 des Konfigurierten zeigt. Damit der Abdruck denkbar oder verfügbar wird, darf er selbst nicht von der Augenblicklichkeit sein, die er abbildet. Wir müssen annehmen, daß er bzw. seine Gleichzeitigkeit sich ganz im Sinne der logischen Denkweise zeitlich identisch wiederholt, quasi als ein Seins-Raum, der perlenschnurartig in der Zeit identisch reflektiert wird. Entsprechend erscheint er in der vertrauten, verallgemeinerten Form, in der er eine stetige, invariante Existenz parallel der reellen Zeitachse erhält. Wir werden sehen, daß sich dieses Bild ganz mit der formalwissenschaftlichen Modelldarstellung deckt. Das so skizzierte, logische Sein kann natürlich, wie aus der vorangegangenen Erörterung hervorgeht, keinesfalls ein zureichendes Verständnis der Welt vermitteln, sondern muß eher als ein Schatten derselben interpretiert werden. Im Gegensatz zur Projektion im mathematischen Sinne, die mit Ausnahme des Dimensionsverlustes durchaus informationserhaltend sein kann (wie z.B. die schräge Projektion des Würfels), verbirgt der Schatten die Farbe, die äußere Struktur und nivelliert die innere Konsistenz — er wirkt informatioiisreduzierend und -verändernd. Die Reduktion der sich entwickelnden „Wirklichkeit" auf einen dinghaften, vom Werden entblößten Raum hat auch in der Literatur, z.B. bei GeorgescuRoegen, Shackle (vgl. jeweils Kap.4) oder Whitehead ihren Widerhall gefunden. So schreibt z.B. Whitehead 18: 14

Vgl. C.F.ν. Weizsäcker, 1977, S.361. Ersteres würde eine unendlich schnelle Wirkungsausbreitung und letzteres unendliche Feldstärken erfordern (vgl. Böhm, S.l30). 16 Heisenberg, 1931, S.182. 17 Von den Schwierigkeiten, Gleichzeitigkeit zu definieren, wird hier abgesehen. Aus der begrenzten Wirkungsausbreitungsgeschwindigkeit zog Einstein den Schluß, daß für zwei getrennte Ereignisse keine absolute Gleichzeitigkeit definiert werden kann (Vgl. auch Heisenberg 1931, S.174). 15

2.2 Wie logisch ist die Logik?

39

„ I m Großen und Ganzen bestätigt die Geschichte der Philosophie Bergsons Vorwurf, daß der menschliche Intellekt ,das Universum verräumlicht'; das heißt, daß er dazu tendiert, das Fließen außer acht zu lassen und die Welt im Sinne statischer Kategorien zu analysieren.

U m einem Mißverständnis vorzubeugen muß gesagt werden, daß wir uns in dieser Analyse nicht gegen die Verräumlichung der Welt als solche wenden, wir sehen diese vielmehr als eine den Intellekt definierende Notwendigkeit an (vgl. Kap.5). Was jedoch keinesfalls unterschlagen werden darf, ist die Tatsache, daß eben diese Verräumlichung selbst wiederum Phänomen des Werdens und des Prozeßcharakters der Welt ist, und daß dieses Phänomen zugleich die Subjekthaftigkeit der Welt zum Ausdruck bringt, die in Analysen sozialer Zusammenhänge nicht einfach weggedacht werden darf. Die Segmentierung durch das Identitätspostulat in Verbindung mit der Zweiwertigkeit in Sein und Nicht-Sein, läßt letzteres als Destillat aus reiner Bewegung, absoluter Zeit und Subjektivität völlig unzugänglich, ja unvorstellbar werden, während im Sein beschreibbare Objektivität auskondensiert, beschreibbar in einer absoluten, unwirklichen Präzision. Es ist offensichtlich eine ungleiche Aufteilung. Während der eine Teil sich quasi verflüchtigt, indem er als Undenkbares unsichtbar wird, erlangt der andere ein umso schärferes Profil und zieht somit als einzig Denkbares die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Die klassische Logik wirkt so wie ein Sprachobjektiv, das vermöge des Identitätspostulats unverrückbar auf einen Bereich, das Sein fokussiert ist. Der Gewinn an Schärfe und Plastizität, den das Sein erfahrt, geht zu Lasten der Umgebung, die nun völlig konturlos erscheint. „The purpose of Newspeak was not only to provide a medium of expression for the world-view and mental habits proper to the devotees of Ingsoc, but to make all other modes of thought impossible. ... a thought diverging from the principles of Ingsoc should be literally unthinkable ..." 1 9 Orwell (Nineteen Eighty-Four, S.241) „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Wittgenstein

(Tractatus 5.6) 20

„Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern ist eine Grenze der Welt." Wittgenstein (Tractatus 5.632)

18

Whitehead, , 1981, „Prozeß und Realität", S.387. Man versuche einmal, sich auszudrücken, ohne dabei Begriffe zu benutzen, die die Vorstellung von Existenz implizieren , wie „geben", „haben" oder „sein". 20 Vgl. zur Macht der Sprache über das Denken etwa die diesbezüglichen Ausführungen von Hayek (8), S.80. 19

40

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2.2.2 Subjektlose Logik Seltsam ist und schier zum Lachen, daß es diesen Text nicht gibt wenn es keinem Blick beliebt ihn durch sich zum Text zu machen. Christian Morgenstern, S.279.

Es würde weder uns noch eine an sich seiende Objektivität in irgend einer Weise belasten, wäre uns der Begriff „objektiv" absolut fremd, so daß wir keine irgendwie geartete Vorstellung von diesem Begriff hätten. Der Umstand jedoch, daß wir uns mit dem Begriff Sein beschäftigen, und uns sogar im Besitze eines Erkenntniszugangs zu diesem wähnen, löst eine Kette von Problemen aus. Wie kann unsere Erkenntnis selbst in die Gegenständlichkeit von Sein und NichtSein eingeordnet werden? Eine Eingliederung in das Sein würde unmittelbar den Tribut unserer Autonomie nach sich ziehen, denn das Postulat der Identität bleibt nur in einer deterministischen, von Anbeginn vorbestimmten und festgelegten Erkenntnis unverletzt. Wenn alles mit sich identisch ist, dann ist eine Wahrnehmung keine Wahrnehmung mehr, sondern ein mit sich Geschehenlassen, ein Aufgehen in den umfassenden objektiven Seinsplan. Erkenntnis ohne Autonomie, d.h. ideenlos und ohne originäre Veränderung, geht nicht nur gegen unser Selbstverständnis als „Homo sapiens", sondern widerspricht in erster Linie all unserer Erfahrung. Offensichtlich steht also in dieser Sicht das Erkennen, das Subjekt oder der Beobachter außerhalb des Seins. Es ergibt sich damit die uns gewohnte Sicht der wissenschaftlichen Beschreibung. Zur Wahrung der Objektivität, die das Sein kennzeichnet, ist das Bild der Welt frei von Systemen, die in der Lage sind, sich ihrerseits ein Bild von der Welt zu machen — der störende Beobachter ist aus dem Beobachteten ausgeschlossen21. Sollte aber dennoch gelegentlich, wie in den Sozialwissenschaften, der Einschluß von Subjekten in das Beschriebene unumgänglich geworden sein, dann handelt es sich um entseelte Automatenwesen, die all das objektiv Beschreibbare, das die Identität bewahrt, ausmachen. Sie besitzen einen Leib, Form, Namen, Kleider, sie bestehen aus physiologischen Wechselwirkungen, haben Motive, Nutzen und einen Verstand mit objektiver Rationalität — kurzum, sie haben alles mitgenommen, was sich mit der Identität verträgt. Draußen „vor dem Tore des Seins" verbleibt der autonome Beobachter. Allerdings ist er, wie wir eben gesehen haben, nicht mehr ganz er selbst, sondern 21

Vgl. Schrödinger ,1959, S.29 ff. z.B.: „... daß ein einigermaßen zufriedenstellendes Weltbild bloß erreicht worden ist, um einen hohen Preis, nämlich so, daß jeder sich selbst aus dem Bild ausgeschlossen hat, indem er in die Rolle eines unbeteiligten Beobachters zurückgetreten ist." Vgl. auch zur Einbeziehung des Beobachters in die Definition ökonomischen Verhaltens in Kap.5.1.

2.2 Wie logisch ist die Logik?

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reduziert auf ein entdinglichtes Gespenst. Ganz Geist und Seele22 erleidet er ein erbärmliches Schicksal. Draußen, jenseits des Seins, das heißt nirgends anderswo als im Nicht-Sein, dort wo schon Zeit und reine Veränderung oder pures Werden hausen, dorthin verschlägt es jetzt auch das nackte Bewußtsein. Die reine Originalität, absolute Freiheit und völlig entfesselte Idee, die mit diesem assoziiert werden könnten, sind aber wiederum das „totaliter aliter" des NichtSeins, unbeschreibbar, unvorstellbar, unfaßbar — wie gehabt. Das Denken hat sich selbst zum Undenkbaren zerdacht. M i t unserer Erfahrung hat das, wie ich meine, nichts zu tun. Die reine schöpferische Idee, die absolute Freiheit jenseits aller Struktur und Grenzen ist eher eine monströse Idealisierung mit dem Zweck, das Schöpferische ganz zugunsten einer objektiven Realität zu eliminieren. Durch den Zwang zur totalen Objektion, wie er in den Prinzipien der Logik festgelegt ist, wird alles, was ist, zur Struktur; Subjekt und Werden als Antipoden des Seins bleiben extramundan. Selbst wenn wir den seltsamen Gedanken aufnehmen, daß der Beobachter die Welt des Seins grundsätzlich wie ein ungebetener Gast unauffällig von außen observiert, so ist doch diese Beobachtung niemals ganz wechselwirkungsfrei. Vermöge dieser unvermeidbaren Wechselwirkungen ist aber der Natur der Sache nach eine eindeutige, dem Identititätsprinzip genügende Beschreibung des beobachteten Gegenstandes nicht mehr möglich, und die gewohnten Beschreibungskategorien wie „Kausalität" verlieren ihren vertrauten Sinn 2 3 . Tatsächlich gewinnen wir unser Weltbild durch autonome Individuation der Objekte, mit denen wir vermittels Beobachtung und Erfahrung wechselwirken, wobei wir uns selbst als Bestandteil des Erfahrbaren verstehen können. Wir sind weder Objekte noch reine Subjektivität, weder völlig frei noch unfrei, weder außerhalb noch innerhalb der Welt, wir sind Welt. Die Welt der Objekte wird erst durch unsere Objektion denkbar, das heißt durch die Entdeckung von irgend etwas, das zeitlich, räumlich oder sonst irgendwie invariant scheint, sie ist untrennbar mit uns verbunden, wir sind Teil von ihr und mit der Objektion, Beobachtung, Erkenntnis und dem Weltbild als Objekt ist sie Teil von uns. Nichts ist an und für sich, es gibt nur Bekanntes, alles andere wird. Unterwerfen wir uns aber den ontologischen Bedingungen einer Subjekt- und zeitlosen Logik des Seins, geben wir gleichzeitig unser natürliches Selbstverständnis auf und müssen nach metaphysischen Wurzeln fragen — Fragen, die infolge der ihnen vorgegebenen Richtung sich nur in frucht- und haltlosen Spekulationen verlaufen können. 22

Vergleichsweise schreibt Hegel, S.577: „...; wenn Ich Seele genannt wird, so ist es zwar auch als Ding vorgestellt, aber als ein unsichtbares, unfühlbares usf., ..." 23 Die Rolle der Wechselwirkungen ist hier sinngemäß zitiert nach C.F.v. Weizsäcker, 1977, S.525.

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Sucht man ein Fazit dessen, was sich aus den Grundpostulaten der Logik folgern läßt, so gilt: Die Logik des Seins ist vermöge der Abstraktion von Zeit und Subjekt 24 keine Idee des Denkens, sie ist eine Idee des Gedachten.

M i t der Erörterung der drei Basisannahmen über das Denken, die der Logik an den Anfang gestellt sind, kann eine eingehende Diskussion der Logik allenfalls beginnen. Die Logik ist reich gegliedert, angefangen vom Aussagenkalkül, als System von Gesetzen und Prozeduren, die die Beziehungen von nichtanalysierten Aussagen zueinander regeln, über den Prädikatenkalkül, der die vorher nicht beachtete Struktur der einzelnen Aussagen analysiert, den Klassenkalkül und seinen Problemen der Abstraktion, bis hin zu Sonderformen wie Modallogiken. Eine so weitgehende Diskussion ist jedoch hier nicht notwendig. Die wichtigsten ontologischen Prämissen, die zur Charakterisierung formaler Sprachen notwendig sind, lassen sich, wie gezeigt, schon aus dem Prinzip der Identität im Verein mit dem ausgeschlossenen Widerspruch und dem tertium non datur ableiten. Der Grund liegt in der hierarchischen Sonderstellung der Aussagenlogik, die Ausgangspunkt des formalen Denkens ist, und so mit ihren Prinzipien jeglichen Formalismus dominiert. Lukasiewicz schreibt hierzu 25 : „Die grundlegende logische Disziplin ist der Aussagenkalkül. Auf dem Aussagenkalkül sind die anderen logischen Disziplinen aufgebaut, insbesondere der Prädikatenkalkül und auf der Logik wiederum beruht die ganze Mathematik. Der Aussagenkalkül ist somit die tiefste Grundlage aller deduktiven Wissenschaften."

Es wäre ein großes Mißverständnis, würde man die in 2.2.1-2 erfolgte Charakterisierung der klassischen Logik als Subjekt- und zeitlos, dahingehend interpretieren, als folge hieraus unmittelbar die Falschheit der zugrundeliegenden Prinzipien. M i t der Einordnung in die Kategorien „wahr" und „falsch" hätte man dainit gerade wieder die Zweiwertigkeit akzeptiert, die ja eben durch das Ergebnis abgelehnt werden soll. U m dem sich abzeichnenden Zirkel zu entgehen, ist es notwendig, die ganze bipolare Welt, die sich aus den Dichotomien im An9chluß an die Zweiwertigkeit ergibt, als fragwürdig zu erkennen 26 . 24 Auf die Subjektlosigkeit der Logik vefweist insbesondere Günther (1), S.96 u. S.l 09; (4), S.77, oder auch Howe/v.Förster. 25 Lukasiewicz , S.82, vgl. a. S.99 sowie Günther (4), S.93, und Günther (1), S.102. Lukasiewicz (1878-1956) war ein einflußreicher Logistiker polnischer Nationalität, der die mehrwertige Logik begründete sowie Untersuchungen über das Aussagenkalkül (zusammen mit Tarski) und die Grundlagenproblematik veröffentlichte. 26 Natürlich findet diese Einsicht ihre Grenzen in der Sprache, sowohl der wissenschaftlichen wie der Umgangssprache, die mit den Begriffen „Sein", „Wahrheit" und der Zweiwertigkeit so durchtränkt sind, daß es nicht gelingt diese Grenzen von heute auf morgen zu überwinden. Das muß man auch nicht, da die klassische Logik und die auf sie gründenden Kalküle in den meisten Belangen ihre Orientierungstauglichkeit und damit ihre Berechtigung bewahren.

2.2 Wie logisch ist die Logik?

43

Fragwürdig nicht im Sinne von „falsch", sondern fragwürdig im Sinne von „nützlich". Die klassische Logik mit ihren absoluten Formen einer daseienden Objektivität stand erfolgreich Pate, die dingliche Welt der Naturwissenschaften zu begreifen; in einer sozialen Welt, in der kein Beobachter einen wirklich äußeren Standpunkt einnehmen kann, sondern immer nur innen ist, in der das Neue, d.h. der Wandel nicht mehr vernachlässigt werden kann, ist die klassische Logik als Maßstab zwangläufig zu klein geworden. Die klassische Logik verliert ihre Funktion als Orientierungshilfe, es mangelt ihr gewissermaßen an Symmetrie zu unserer sozialen Erfahrungswelt. Natürlich ist dieser Funktionsverlust nicht exakt beweisbar. Ein Beweis würde durch die Hintertür das Denken wieder in die dichotome Zweiwertigkeit einbinden und das wäre ebenso widersinnig wie exakt beweisen zu wollen, daß es keine absolute Exaktheit gibt. M i t dem Verzicht auf „falsch" und „wahr" und stattdessen der Beurteilung einer Hypothese über die Einschätzung des durch sie erlaubten Orientierungsvermögens kommt unvermittelt auch die zu Anfang erwähnte Verantwortlichkeit wieder ins Spiel. Soziales Handeln muß verantwortet werden, es ist niemals a priori ausschließlich richtig oder falsch, und für die Sozialwissenschaft gibt es kein „außerhalb", sie ist immer auch soziales Handeln. An dieser Stelle könnte auch der Vorwurf des Solipsismus entstehen. Wenn die reine Objektivität der Realität nicht mehr akzeptiert wird, dann wäre, so der mögliche Tadel, nichts außer den eigenen Bewußtseinsinhalten wirklich. Allerdings gilt auch hier, wie in den obigen Zusammenhängen, daß der Vorwurf mit den angebotenen Antwortmöglichkeiten (ja oder nein) im klassischen Bereich verharrt und somit eher eine Falle darstellt. Der Solipsismus kann nur vor dem Hintergrund des Festhaltens am Realismus entstehen und gedacht werden, damit kann ein solcher Vorwurf nicht positiv oder negativ beantwortet werden, sondern er muß als unsinnig zurückgewiesen werden. (Weniger abstrakt zeigt sich das in der Frage „Prügeln sie Ihren Hund noch, oder haben Sie endlich aufgehört damit?", die einen ebenfalls vor unakzeptable Alternativen stellt.) Der Vorwurf ist somit selbst das Problem, das er behauptet. Es geht gar nicht um die Frage, ob es eine objektive, vom Beobachter unabhängige Existenz gibt — „subjektive Existenz" als Alternative dazu scheint mir in sich widersprüchlich zu sein —, es geht längst um das „es gibt" der Frage, das heißt jedoch nichts anderes als um den Existenzbegriff selbst. Deutlich wird der paradoxe Zusammenhang auch in der Frage, ob es „das Geben" gibt? Jedwede Antwort, ob ja oder nein, akzeptiert das Gegebensein, und jede Antwort unterwirft sich deshalb, weil sie die Frage akzeptiert, den ontologischen Alternativen der Frage; die Frage kann somit in der Kontextur von Sein oder Nicht-Sein keine Antwort finden.

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Die mit der strikten Zweiwertigkeit verbundene Trennung in Sein und NichtSein, Existenz und Nicht-Existenz impliziert auf der anderen Seite aber auch die Forderung nach einem exakten, subjektunabhängigen Nachweis eben solcher Kategorien. Dieser Anspruch kann jedoch bezeichnenderweise nicht eingelöst werden, die Realität wird als zugehörig zu den letzten, unerklärbaren Dingen erklärt, oder es entstehen Konstruktionen, die ungeachtet des Identitätsprinzips das Subjekt in das Sein, das damit nicht mehr das der klassischen Logik sein kann, mit aufnehmen. Zum Beispiel: Cogito ergo sum {Descartes) Verum ipsum factum (Giambattista

Vico)

Esse est percipi (Berkeley)

2.3 Die Struktur der Mathematik, der Wissenschaft von den Strukturen 2.3.1 Mengentheoretische Grundlegung Schon aus dem im letzten Abschnitt angeführten Zitat von Lukasiewicz geht hervor, daß die Mathematik letztlich auf dem Fundament der Aussagenlogik aufgebaut ist. Wir brauchen dabei nicht so weit zu gehen wie Morgenstern 1, der die Mathematik als Teil der Logik auffaßt, es genügt für unsere Betrachtung, daß die Logik eine unbedingt notwendige Voraussetzung jeder Mathematik ist 2 . Das bedeutet, daß jede mathematische Aussage, die an irgendeiner Stelle die Logik verletzt, automatisch falsch ist. Allerdings zeigte es sich diesbezüglich im 19. Jahrhundert, daß die Logik im damaligen Entwicklungsstadium nicht in der Lage war, die meisten mathematischen Beweisschritte zu rechtfertigen. Die Mathematik benützt ein viel reichhaltigeres System an Schlußregeln. Diese Erkenntnis löste eine Phase der Formalisierung und Erweiterung der Logik aus, die die Vervollständigung der zu Tage getretenen Lücken zum Ziel hatte. Resultat dieser Entwicklung, die mit den Namen Boole, Frege , Schröder, Russell und Whitehead verknüpft ist 3 , war die von Morgenstern so bezeichnete „new logic" 4 . Damit war nun eine enge Verbindung zur Mathematik geschaffen, die über die schon angesprochene Forderung nach logischer Widerspruchsfreiheit 1

Morgenstern, 1976, S.390, 393 und 394. Es handelt sich hierbei um eine FregeRussellsche These, die nicht allgemein in der Mathematik anerkannt wurde (vgl. Nagel/ Newman , S.46 f. oder Becker, S.462 f.). Eine Darstellung der logizistischen Grundlegung der Mathematik findet sich bei Carnap , 1931 (1), S.91 ff. 2 Vgl. Frey, S.49 ff. 3 Vgl. Nagel/Newman, S.41 ff., Stegmüller, S.430 ff. 4 Morgenstern, 1976, S.389.

2.3 Die Struktur der Mathematik

45·

hinaus auch erlaubte, Teile der Mathematik mit rein logischen Mitteln zu definieren. Den eigentlichen Dreh- und Angelpunkt zwischen Mathematik und Logik bildet der Klassenkalkül bzw. die Mengenlehre 5, die von Cantor begründet wurde. Ein Hauptanliegen der Mengenlehre ist die Frage nach der Extension der Abstraktionsform Vy λ A χ (xeyF(x)), d.h. welche Aussageformen Klassen bestimmen beziehungsweise welche Klassen im Sinne der logischen Widerspruchsfreiheit existieren 6. Z.B. wird durch die Aussageform „x verhält sich rational" die Menge all derjenigen χ bestimmt, die ein rationales Verhalten an den Tag legen. Die naheliegende Annahme, daß jede Aussage eine Menge bestimmt, die logisch widerspruchsfrei ist, hat sich allerdings als nicht haltbar erwiesen; das Gesetz der Abstraktion (auch das Komprehensionsgesetz genannt) gilt nicht. Bevor wir in Kapitel 2.3.4 auf die sich ergebenden Antinomien näher eingehen, wollen wir von diesem Problem absehen und zunächst die naive Cantorsche Mengendefinition zugrundelegen: „Unter einer Menge verstehen wir jede Zusammenfassung M von bestimmten, wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die Elemente von M genannt werden) zu einem Ganzen." (Cantor, 1895)

Gewöhnlich macht man keinen Unterschied zwischen der Cantorschen Mengenvorstellung und dem gemäß der Abstraktionsform abgeleiteten Begriff. Es ist jedoch bemerkenswert, daß Cantor explizit auf den Beobachter in seiner Definition Bezug nimmt, indem er von Objekten der Anschauung und des Denkens spricht. Ohne diese Bezugnahme, und die gängige Mengenvorstellung nimmt keine Notiz vom Beobachter, entsteht der Eindruck, daß unsere Vorstellungen als von uns völlig losgelöstes und unabhängiges Wissen in irgendeiner Form von zugreifbarer Information existieren könnten 7 . Der Mengenbegriff erlaubt zu vielen Bereichen der Logik und Mathematik einen eleganten, weil auf einen Begriff zurückgeführten Zugang. Z.B. wird der Menge der Dinge, die unter ihn fallen. So lassen sich Prädikate als Korrelate von Mengen und Zahlen 8 , ebenso wie Relationen 9 , als Mengen von Mengen interpretieren, eine Darstellung, die damit auch den wichtigen Funktionsbegriff umfasst. Durch den Mengenbegriff werden somit eine ganze Anzahl von 5 Klassen und Mengen bildeten ursprünglich Synonyme, aufgrund des Auftretens von Antinomien wurden den Begriffen später von v.Neumann unterschiedliche Bedeutungen zugewiesen (vgl. Bourbaki, S.47). 6 Quine, 1973, S.2. 7 Zur Unabhängigkeit des mathematischen Wissens vgl. z.B. Stolzenberg. Wir wollen diese Frage hier nicht weiter reflektieren, da unsere Sprache zu sehr mit dem Existenzbegriff verwoben ist, um an dieser Stelle eine Behandlung zu erlauben, die nicht sofort in der Schublade des Solipsismus endet. 8 Quine, 1969, S.299, Lorenzen, S . l l . 9 Quine, 1973, S.43 ff.

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Umfang (die Extension) eines bestimmten Eigenschaftsbegriffs definiert als die Symmetrien geschaffen, die die Verwandtschaftsbeziehungen vieler bisher beziehungslos nebeneinander verwendeter Begriffe aufzeigen (vgl. insbes. Kap.2.3.2). Die mathematische Darstellung kann infolge dieser Symmetrien wesentlich gestrafft werden, jedoch haben die Symmetrien nicht nur Funktion, sie selbst sind etwas unvermeidlich Neues, was wiederum Gegenstand der mathematischen Betrachtung sein kann. Allerdings ist der Mengenbegriff nicht ohne Tücken, abgesehen von den schon erwähnten und später zu besprechenden Antinomien, treten Verständnisprobleme auf, wenn nicht mehr nur endliche Mengen betrachtet werden. Viele Teilmengen einer unendlichen Menge sind nicht kleiner als das Ganze (z.B. die positiven geraden Zahlen als echte Teilmenge der natürlichen Zahlen). Wie soll man verstehen, daß eine Menge ausdehnungsloser Punkte eine ausgedehnte Strecke bildet. M i t den unendlichen Gesamtheiten geriet der Existenzbegriff erstmals in ernste Gefahr. Wie kann man von der Existenz einer Menge reden, von der man nicht jedes Element aufzeigen kann? Die Kritik mündete in die von Brouwer begründete Schule der Intuitionisten (auch Realisten oder Konstruktivisten), die den Realitätsbegriff mit einer nach ihrer Meinung intuitiv akzeptablen Interpretation in seinem Gehalt bewahren wollten, indem nur noch Konstruierbares zugelassen werden sollte. Nach dieser Meinung gab es nichts Aktual-Unendliches sondern nur Potentiell-Unendliches, beispielsweise existieren nicht alle unendlich vielen natürlichen Zahlen an sich, sondern es gilt lediglich, daß man zu jeder natürlichen Zahl einen Nachfolger angeben könne. Ebenso werden reelle Zahlen als Vorschriften konvergenter Folgen rationaler Zahlen interpretiert 10 . Die intuitionistische Kritik muß hauptsächlich vor dem psychologischen Hintergrund des Festhaltens an einem intuitiv gefestigten Realitätsbegriff gesehen werden. Wie die von Cantor 11 entgegengehaltene Bemerkung, daß nämlich auch die größeren endlichen Zahlen nicht mehr „uno intuito" aktuell zu denken seien, zeigt, ist die von den Intuitionisten gezogene Grenze eher als willkürlich zu beurteilen. Überhaupt erstaunt es, daß der kritische Begriff der „Unendlichkeit" relativ spät zum Diskussionsgegenstand wurde. Die normale Auffassung Existenz mathematischer Objekte (wie z.B. Zahlen) ist, daß sie ohne Anfang Ende zeitlos und immerdar sind, ganz im Sinne folgender Bemerkung Quine 12 :

erst der und von

„Die Grundvorstellung von Klassen besagt eher, daß sie von Anbeginn an da sind."

10 Zum Intuitionismus vgl. z.B. Becker, 1959, S.125 ff., Stegmüller, Bourbaki, S.49 ff. 11 Genaues Zitat bei Becker, 1927, S.529. 12 Quine, 1973, S.176, vgl. auch A.M.K. Müller, 1974, S.307.

S.434 ff., oder

2.3 Die Struktur der Mathematik

47

Jeder andere Standpunkt wäre auch kaum mit dem Identitätspostulat zu vereinbaren. Jedes solche Objekt wiederholt sich demnach identisch in jedem Zeitpunkt — die Unendlichkeit markiert somit bereits den Anfang aller Mathematik. Aber wenn sich das mathematisch logische Ding dergestalt über den Satz der Identität als sich infinit Wiederholendes, als unbegrenzte, identische Spiegelung an sich selbst (X = X) oder ewiglich Zugängliches konstituiert, dann ist das Unendliche der Mathematik derselbe Konstitutionsprozeß, der auf eben diese zeitlosen Dinge angewandt und von daher keine andere Aporie als die Zahl und das Element selbst ist. Ebenso wie das traditionell Transfinite sind auch Zahl und Element in ihrer Unendlichkeit nicht über Konstruktion unmittelbar zugänglich, bei beiden muß diese irgendwann abgebrochen werden, beidemal kann „unendlich" nur im Sinne einer Idealisierung verstanden werden. Folgt man dieser zeitlichen Interpretation, die das Identitätspostulat nahelegt, dann wird das Unendliche, zeitlos sich Wiederholende zum eigentlichen, charakteristischen Wesen der Mathematik und folgendes Zitat von Becker 13 kann damit erst seine volle Bedeutung erlangen: „Die Mathematik ist die Methode, das Unendliche durch das Endliche zu beherrschen."

Wenn ein Element etwas ist, das sich zeitlich identisch wiederholt, oder wiederholt identisch zugänglich ist, dann besitzt es etwas, das auch jede Menge auszeichnet, denn diese besteht aus Elementen, die deswegen eine Menge bilden, weil sich bei allen ein oder mehrere, die Menge über Aussagen kennzeichnende Charakteristika wiederholen. Es läge nahe, auf den Begriff Element zu verzichten und den Mengenbegriff so zu definieren, daß er mit dem Objektbegriff zusammenfällt und sich nur auf Wiederholungen stützt. Die Diskussion der weitreichenden Konsequenzen einer solchen verallgemeinerten Diskussion würde hier allerdings zu weit führen 14 . M i t der Erschütterung des Existenzverständnisses ging eine Infragestellung der Annahme einher, daß Mathematik apodiktische Wahrheiten verkörpere, wie zum Beispiel folgende Bemerkung bei Bourbaki 15 zeigt: „Die Mathematiker sind immer davon überzeugt gewesen, daß sie Wahrheiten oder wahre Aussagen beweisen. Eine solche Überzeugung kann offensichtlich nur gefühlsmäßiger oder metaphysischer Art sein; sie zu rechtfertigen, ja selbst ihr einen Sinn zu geben, der keine Tautologie ist, bedeutet das Gebiet der Mathematik zu verlassen..."

Eine Lösung der Krise 1 6 , die auf eine Überprüfung des Existenzbegriffs hätte hinauslaufen müssen, ist nie erfolgt, stattdessen wurden Strategien ersonnen, die 13

Becker, 1927, S.759. Wir nehmen den Gedanken, Objekte über Wiederholungen zu definieren, in Kap.5 als zentrale Überlegung wieder auf, allerdings ohne dabei allzu ausführlich auf mathematische Konsequenzen einzugehen. 15 Bourbaki, S.21. 16 Daß es sich hierbei tatsächlich um eine schwerwiegende und langandauernde Krise handelt, wird auch noch aus Kap.2.4 deutlich werden. 14

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eine Umgehung der Probleme erlaubten. Während man zunächst vermied, das Aktual-Unendliche explizit zu verwenden 17 , ist es heute üblich, die mathematischen Aussagen in Implikationen einzukleiden, d.h. die Grundaussagen oder die Axiome sind weiter nichts als Vereinbarungen 18 , Vordersätze von Implikationen, deren Wahrheitsgehalt nicht mehr hinterfragt zu werden braucht. Der Wahrheitsbegriff solcher Systeme ist somit reduziert auf Widerspruchsfreiheit 19. Während die Mathematik so die Annahme der ontologischen Herausforderung durch einen Rückzug verweigern konnte, trifft diese nun die nächststehenden Disziplinen, d.h. diejenigen, die sich die Mathematik als Hilfswissenschaft zunutze machen. Das Existenzproblem ist also offenbar nur abgewälzt und wird bei der Anwendung mathematischer Methoden wieder voll präsent, speziell bei der Identifikation der mathematischen Systemstruktur mit den sogenannten realen Inhalten. Die Tatsache, daß die den Existenzbegriff in Frage stellende Grundlagenkrise der Mathematik in den anwendungsorientierten, insbesondere den Sozialwissenschaften kein Echo fand, rächt sich nun. Dies äußert sich z.B. in dem seltsamen Zustand, daß mathematisch orientierte Analysen einen Bonus hinsichtlich wissenschaftlicher Wahrheitsfindung zuerkannt bekommen, beruhend auf der Überzeugung, daß Mathematik immer noch den Hort apodiktischer Wahrheiten darstellt, und nicht wissend, daß dieser Hort längst nur noch Mengen konsistenter Leerformeln und idealisierter Objekte beherbergt. Resultat sind formale Theorien menschlichen Verhaltens, wie man sie etwa in der neoklassischen Schule der Ökonomik findet, die zwar in sich widerspruchsfrei und geschlossen sind, deren Ergebnisse sogar mathematisch bewiesen werden können, und die von daher gegen jede Kritik, die sich auf die formale Denkweise eingelassen hat, immun sind, die aber dennoch das befremdende Gefühl hinterlassen, daß durch sie zwar alles Mögliche beschrieben sein mag, nur nicht das Historische, sich Entfaltende, das besonders das menschliche Verhalten auszeichnet. Es ist offensichtlich nicht nur soviel Wissenschaft in der Erkenntnis, wie in ihr Mathematik ist. Eine zeitgerechte Thematisierung der Grundlagenkrise der Mathematik hätte vielleicht zu einer Relativierung des Existenz- und Wahrheitsbegriffs auch in den Sozialwissenschaften geführt, eine kritischere Einstellung zum Formalismus und eine intensivere Diskussion des Subjekt- und Zeitbegriffs wären möglicherweise die Folge gewesen. Das Festhalten am platonischen Realismus der klassischen Mathematiker, die jegliche Entität ihrer formalen Welt für unabhängig und objektiv streng lokalisiert im nicht mehr hinterfragbaren Viergestirn „wahr — falsch" und „existent — nicht-existent" hielten, muß durch den Sozialwissenschaftler als 17

Vgl. Bourbaki, S.39. Z.B. Rapoport, 1980, S.17. 19 Vgl. Becker, 1927, S.469 und Frey, S.l21 zum Existenzbegriff mathematischer Systeme. 18

2.3 Die Struktur der Mathematik

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eine unzumutbare Einschränkung erkannt werden. Menschen haben nur wenig mit den idealisierten Objekten der formalen Sprachen gemein. Aus der Tatsache, daß Mathematik ein Produkt der Menschen ist, darf nicht mit Morgenstern geschlossen werden, daß der Mensch und sein Verhalten als Produkt der Mathematik beschrieben werden könne. Jeder Anspruch einer Theorie, objektive Realität darzustellen, ist immer auch Aufforderung, alternative Ansätze zu bekämpfen, ist Herrschaftsanspruch. Die intuitionistische Alternative ist demgegenüber kein Ausweg, im Gegenteil: in Sorge, daß der Wahrheitsbegriff durch unendliche Gesamtheiten und ähnliches ausgehöhlt würde, führte der intuitionistische Ansatz hauptsächlich zu einer Einschränkung der Mathematik 2 0 . Der platonische Himmel blieb unbeschadet21, er wurde nur ein Stück kleiner und spiegelt weiter die Unterwerfung unter ein metaphysisches Wahrheits- und Existenzverständnis wieder. Die hier vertretene Haltung ist, daß man sich von dem Unbedingtheitsanspruch, der von der klassischen Logik ausgeht, befreien muß, d.h. daß dort, wo die Grundlagen der Logik nicht ausreichend gesichert werden können, ihr Wert relativiert werden muß. Es sollte nicht der Ansatz, der den massivsten Anspruch erhebt, akzeptiert werden, sondern derjenige, der nach Meinung des Verwenders die beste Orientierung erlaubt. Die Frage, ob Aktual-Unendliches existent sein kann, ist danach genauso irrelevant wie die Frage, ob die Zahl π oder ein „Zerberus" existiert, oder ob überhaupt etwas existiert. Wohlgemerkt, die Möglichkeit der Existenz wird nicht abgestritten, schließlich kann man sich ja in vielen Situationen mit dem Existenzbegriff hinlänglich orientieren. Lediglich die Existenzfrage wird als sinnlos zurückgewiesen, solange es kein hieb- und stichfestes Verfahren gibt, welches die Existenz von überhaupt irgendetwas beweisen kann. Ein jeder, von jenseits der Konvention hereinbrechender logischer Zwang kann bislang nur metaphysisch begründet werden. Dies entspricht der Wittgensteinschen 22 Sicht, nach der es schlechthin keine uns auferlegte objektive Notwendigkeit im mathematisch-logischen Sinne gibt. Es zeigt sich, daß auch hier grundlegendes ökonomisches Gedankengut, wie das der freien, zielgerichteten Wahl des Individuums, zum Tragen kommt. So gilt als Konsequenz obiger Überlegung, daß jede gedankliche Konstruktion von ihrem Verwender statt aufgrund metaphysischer Zwänge nach dem ökonomischen Kriterium ihrer Orientierungsleistung hin subjektiv ausgewählt werden muß 2 3 . Ob endlich, transfinit, objektiv, subjektiv, logisch, paradox oder 20

Siehe Bourbaki, Kap.l. Ähnlich wird den Intuitionisten von Wittgenstein verborgener Piatonismus vorgeworfen ÇStegmüller, S.691). 22 StegmüUer, S.686. 23 Natürlich findet Orientierung nicht nur im wissenschaftlichen Kontext statt. Sie erfolgt polykontextural, es ist daher natürlich, wenn bei ausreichendem öffentlichen Druck bzgl. eines Weltbildes sich der Wissenschaftler mit einem dem traditionellen Weltbild kompatiblen Ansatz hinsichtlich seiner Karriere besser orientieren kann. 21

4

Blaseio

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sonstwie, nichts ist danach zum Undenkbaren erklärt. Auch die unkonventionellste mathematische oder nicht-mathematische Konstruktion darf somit in den Wettstreit um Anerkennung treten. Natürlich muß auch diese hier vorgestellte Haltung sich ihrem eigenen Orientierungsmaßstab stellen, auch sie ist revidierbar. Das zeigt aber auch gleich die Vorteile dieser Haltung: Wissenschaft verliert ihren metaphysischen Absolutheitscharakter, sie wird revidierbar und verantwortbar. Revidierbar wird sie, indem der verwendete Maßstab auf sich selbst anwendbar ist, die Orientierbarkeitsregel kann selbst auf Orientierungsvermögen hinterfragt werden — Rückkopplungen (Rückbezüglichkeiten) sind damit zugelassen, es gibt kein einer unumstößlichen Verfassung entsprechendes Äquivalent mehr. Verantwortbar wird Wissenschaft, da nun ihre Ergebnisse als auf Entscheidungen beruhend aufgefaßt werden — Entscheiungen, bestimmte Darstellungen etwa im Sinne einer Lebensregel als notwendig und sinnvoll zu erachten. Die Möglichkeit, sich auf unabhängig von einem, als unumstößlich objektiv daseiend behauptete Tatsachen zu berufen, fällt ersatzlos weg. Die Verantwortung bleibt beim Wissenschaftler und landet weder bei irgendeinem Gott noch bei der sogenannten Realität 24 . M i t dem Verzicht auf die Berufungsinstanz ist gleichzeitig aber auch ein Gewinn an Freiheit verbunden, so wie Freiheit und Verantwortung meist miteinander gekoppelt sind; es gibt keine „objektiven" Tatsachen mehr, denen notwendig alles andere unterworfen werden muß — der Herrschaftsanspruch des Wissens über den Wissenschaftler verschwindet. Auf Mathematik bezogen findet sich eine ähnliche Haltung bei Wittgenstein 25, nach der bei jedem einzelnen Beweisschritt eine neue Entscheidung getroffen werden muß, ob die fragliche Anwendung einer bestimmten Regel als eine korrekte anerkannt werden soll oder nicht.

24

Verantwortung trug selbst der formal arbeitende Wissenschaftler auch bisher, allerdings nur hinsichtlich der Tatsache, daß er formale Wissenschaft betreibt. Hinzu kommt nun auch die Verantwortung für den Inhalt. Verantwortung ist damit nicht im Sinne einer Haftbarkeit gemeint, sondern als Verantwortung gegenüber dem Leben, wie man sie beispielsweise bei der Erziehung trägt. 25 Zitiert bei Stegmüller, S.689. Zur Wittgensteinschen Mathematik siehe Stegmüller, S.673 - 695.

Philosophie der Logik und

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2.3.2 Mathematische Strukturen „We have not yet adapted our mental pre-dispositions to Gödel's discovery." Shackle , 1972, S.121. Die weite Verbreitung mathematischer Methoden, die heute in nahezu allen Wissenschaften anzutreffen ist, darf nicht auf eine einseitig gerichtete Invasion, die, ausgehend von der reinen Mathematik all die anderen Bereiche überschwemmte, zurückgeführt werden. Wesentlicher Faktor, wenn nicht der entscheidende überhaupt, ist die über Rückkopplung, das heißt aus dem Erfolg bestehender Anwendungsformen erwachsende Nachfrage nach neuen mathematischen Methoden. Bedingt durch diese wechselseitige Befruchtung hat sich bis heute eine Unzahl von mathematischen Teildisziplinen entwickelt, deren Vielfalt ihrerseits die Entwicklung übergeordneter Ordnungsschemata ins Leben rief. Als ein solches dient die heute übliche axiomatische Darstellung, die es trotz der angesprochenen Vielfalt erlaubt, allgemein von mathematischen Strukturen zu sprechen und darüberhinaus einige, für das Verhältnis von Mathematik zu Subjekt und Zeit aussagekräftige Charakteristika herauszulösen. Wir wollen dazu in Fortsetzung der Ausdrucksweise des letzten Abschnittes als erstes Ziel versuchen, die Mathematik als Orientierungshilfe und die mathematische Kunst als Orientierungsversuch zu verstehen. Probleme und natürlich auch Problemlösungen entstehen häufig in ganz speziellen, oftmals isolierten Zusammenhängen, so daß die Fragestellungen oder auch die Ergebnisse nur in diesem speziellen Kontext zur Geltung kommen. Man kann sich zur Illustration etwa einen Briefträger denken, dem sich das Problem stellt, seinen Auslieferungsbezirk durch einen Weg kürzester Länge zu versorgen. Es ist denkbar, daß dieser Briefträger seine irgendwie herausgeknobelte Lösung auf eine Anfrage hin als spezifisches, nur im Kontext seiner Berufsausübung gültiges Ergebnis präsentiert. Möglich ist aber auch, daß er, auf wissenschaftliche Anerkennung bedacht, auf alle für die Beschreibung von Problem und Lösung nicht notwendigen Informationen verzichtet. Das heißt, er hat davon abstrahiert und ist damit von seinem Einzelproblem auf die Betrachtung der Menge aller zu seinem Einzelproblem äquivalenten Fragestellungen übergegangen. Durch diese Abstraktion wird es nun möglich, eventuell vorhandene Symmetrien auszunützen, wobei mit Symmetrie die Tatsache gemeint ist, daß sich das Problem in äquivalenter Form in anderen Kontexten wiederholt. In unserem Fall zeigt sich, daß die Müllabfuhr, die Lagerverwaltung, der Handlungsreisende (Travelling-salesman-Problem), das Militär beim Nachschub oder die Katastrophenversorgung, die Warenauslieferung und viele andere mit analogen Problemen zu kämpfen haben. Wir können nur vermuten, 4*

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wieweit unser Briefträger abstrahiert hat. Sollte er eine graphentheoretische Darstellung 26 gewählt haben, dann dürfen wir annehmen, daß er seine geistigen Ressourcen sehr wirkungsvoll eingesetzt hat, indem er durch diese Gestaltung die größtmögliche Anzahl an Symmetrien für seine Lösung verfügbar macht. An diesem Beispiel kann unmittelbar die Funktion der Mathematik als Orientierungshilfe eingesehen werden. Durch sie werden Problemlösungen auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau präsentiert und damit einem möglichst großen Anwenderkreis zugänglich gemacht; ihr Wesen ist somit aus einem Ökonomieprinzip heraus erklärbar. Außerdem zeigt sich, daß von daher Inhaltsleere nicht das Problem sondern Ziel und somit auch Kennzeichen der Mathematik ist. Natürlich muß man nicht Briefträger sein, um Mathematik treiben zu können, es ist ebenso möglich, von vornherein seine Fragestellungen auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau zu fixieren, das heißt l'art pour l'art zu betreiben und die Symmetrien, die zur Anwendung führen, andere suchen zu lassen27. Das führt uns unmittelbar auf die abstrakte, axiomatische Darstellungsweise, in der sich die Mathematik 28 heute präsentiert, und die es auch erlaubt, eine grobe Klassifikation vorzunehmen. a) Grundlage jeder mathematischen Betrachtung ist eine Menge Ω. b) Auf dieser Menge werden Relationen definiert. c) Die Relationen werden durch Axiome näher spezifiziert. Zu a): Die Menge Ω kann unendlich sein und es gelten die im Abschnitt 2.3.1 getroffenen Aussagen über Mengen. Insbesondere wird also über ihren Werdegang nichts ausgesagt, man muß sie sich entsprechend dem Zitat von Quine als seit jeher gegeben und sich den Forderungen der Logik folgend als identisch unwandelbar in der Zeit wiederholend vorstellen. Eine Existenz dieser Mengen ist nicht notwendig, da man, wie in Kapitel 2.3.1 skizziert, alle Aussagen in Implikationen einbetten kann, was die Existenzfrage auf den Anwendungskontext beschränkt bzw. zurückdrängt. Inhaltlich haben die Menge und ihre Elemente keine Bedeutung, das heißt insoweit ist diese Darstellung noch abstrakter als beispielsweise die gewohnten Vorstellungen von Geometrie, die hiernach bereits eine inhaltliche Interpretation darstellen. Wir wollen dennoch eine Vorstellung damit verbinden, die das bisher verwendete Bild des sich identisch zeitlich wiederholenden Etwas anschaulicher 26

Zur Graphentheorie und dem Problem des Briefträgers vgl. z.B. Noltemeier. Durch diese Abkopplung entsteht eine nicht ganz unproblematische Eigendynamik. Es ist möglich, wie wir noch sehen werden, unendlich viele Leute unendlich lange mit Mathematik zu beschäftigen, ohne an eine Grenze zu gelangen. Glücklicherweise ist diese Dynamik nur schwach ausgeprägt, da nicht sehr viele für diese Beschäftigung zu gewinnen sind. Wir werden daher das Problem der Eigendynamik erst wieder später, im Zusammenhang mit Bürokratien, Organisationen und ähnlichem aufgreifen. 28 Vgl. Bourbaki oder Frey. 27

2.3 Die Struktur der Mathematik

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macht. So etwas Unwandelbares entspricht ziemlich exakt der intuitiven Vorstellung von Raum, als immer da-seiend und unveränderlich. Mathematik kann unter diesem Aspekt als Wissenschaft der abstrakten Räume, die durch die Mengen Ω repräsentiert sind, verstanden werden. Besonders anschaulich wird diese Vorstellung, wenn als Menge Ω der bekannte dreidimensionale euklidische Raum R 3 zugrundegelegt wird. Die abstrakte Verwendung des Raumbegriffs mag insbesondere auch gerechtfertigt erscheinen, wenn man die übliche Interpretation des Raumes als basale existenzielle Kategorie etwas von ihrem Absolutheitsanspruch ablöst und den Raum mehr gemäß seinem Orientierungsvermögen einordnet, oder mit Einstein 29 : „Actually time and space are modes by which we think and not conditions in which we live."

Zu b) und c): Über die Relationen und die sie spezifizierenden Axiome wird dem zugrundeliegenden Raum beziehungsweise der Menge Ω eine Struktur aufgeprägt. Dabei können die Relationen, wie in Kapitel 2.3.1 ausgeführt, selbst als Mengen von Teilmengen von Ω interpretiert werden. Die Struktur entsteht dann dadurch, daß die Relationen gewisse Mengen von Teilmengen in Ω auszeichnen. Zum Beispiel ist die Funktion Y = Exp X eine zweistellige Relation, die in der Schreibweise ((X),(X,Y)) als Menge von Teilmengen charakterisiert werden kann. Im wesentlichen werden in der Mathematik drei Typen von Strukturen gebildet 30 : i)

Algebraische Strukturen, die Gegenstand der Algebra sind, entstehen auf einer Menge, wenn in ihr Verknüpfungen wie Multiplikation oder Addition definiert werden. Unter Hinzuziehung neuer Mengen können auch äußere Verknüpfungen wie das Skalarprodukt erzeugt werden. Mögliche Axiome sind zum Beispiel die Forderungen nach Assoziativität, Kommutativität und der Distributivität der Verknüpfungen. Typische algebraische Strukturen bilden Gruppen, Ringe, Körper, Moduln oder Vektorräume.

ii) Von einer topologischen Struktur spricht man, wenn in Ω eine Menge von Teilmengen ausgezeichnet wird, die bezüglich der beiden Relationen Vereinigung und Durchschnitt bestimmte Bedingungen erfüllt. M i t der abstrakten Konstruktion der Topologie wird der Stetigkeitsbegriff der Analysis verallgemeinert. iii) In den Sozialwissenschaften besonders verbreitet sind Überlegungen zu Mengen, die eine Ordnungsstruktur, vermittelt durch eine Ordnungsrelatiuon (z.B.: „ > " ) , aufweisen. Entsprechende mathematische Disziplinen sind Spieltheorie, Präferenztheorie (Wohlfahrtstheorie oder Entscheidungstheorie). 29 30

Forsee, „Albert Einstein ', S.81; vgl. auch Einstein, S.35ff., S . l l l , S.140. Vgl. ζ. B. die Darstellung bei Frey.

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Häufig trifft man auch zusammengesetzte Strukturen an, deren Axiomatik durch eine Kombination aus den Grundstrukturen gebildet ist. Zum Beispiel beruht die Analysis der reellen Zahlen auf allen drei Grundstrukturen, sie ist infolgedessen komplexer als Algebra oder Topologie. Für all diese Strukturen gilt, daß sie nur dann mathematisch sinnvoll sein können, beziehungsweise die aus ihnen gezogenen Schlüsse Geltung besitzen, wenn sie widerspruchsfrei sind 3 1 . Die axiomatische Darstellung in der gezeigten Form schließt gleichzeitig den Systembegriff der Kybernetik mit ein. Danach besteht ein System aus einer Menge Ω, wobei Ω sich als das kartesische Produkt zweier Mengen M und Ν darstellen läßt (Ω = M * N ) , und einer Teilmenge S in Ω, die die Input-OutputRelation erklärt 32 . Die Elemente von M können dabei als Input und die von Ν als Output gelesen werden, während die Relation die Zuordnung des Inputs zum Output erklärt. Nachdem wir vorhin die Funktion der Mathematik als Orientierungshilfe bei Orientierungsversuchen in „konkreten" Zusammenhängen gedeutet haben, ist es nun möglich, die Schaffung der Mathematik selbst als Orientierungsversuch zu interpretieren. Der Orientierungsversuch erfolgt dabei in den skizzierten abstrakten Räumen, deren Eigenschaften durch den Wissenschaftler analysiert und beschrieben werden. Die Vorgehensweise des Wissenschaftlers ist dabei analog zu der des Briefträgers, allerdings abstrahiert der Wissenschaftler noch weiter, seine Ausgangsbasis befindet sich schon auf einem Abstraktionsniveau, das für unser Beispiel vom Briefträger bereits das höchste war. Die Funktion des Abstraktionsprozesses bleibt aber genau dieselbe, statt einer Unzahl von Einzellösungen beziehungsweise Einzelbeschreibungen, sucht der Wissenschaftler Klassen von Lösungen und weitergehende Zusammenhänge, kurzum, er versucht, sich eine Höchstzahl von Symmetrien zunutze zu machen, wobei die Symmetrien selbst wieder Gegenstand von Untersuchungen sein können, bei denen wiederum übergeordnete Symmetrien die Orientierung leiten usw. Da diese Darstellung des Orientierungsverhaltens der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Argumentation dieser Arbeit ist, wollen wir ihn noch weiter vertiefen und durch Beispiele illustrieren. Als der mathematische Aspekt der Wiederholung erweist sich der Symmetriebegriff. Da die zeitliche Wiederholung, sieht man von der Möglichkeit der impliziten Darstellung einmal ab, infolge des logischen Prinzips der Identität schon absolut vorausgesetzt wird, bleibt nur noch die räumliche Wiederholung, eben die Symmetrie im allgemeinsten Sinne zu untersuchen. Dabei wird die zeitliche Invarianz beziehungsweise die Wiederholung nicht nur bezüglich des zugrundegelegten abstrakten Raumes vorausgesetzt, sondern auch neu bewiese31

Der Beweis der Widerspruchsfreiheit ist nicht trivial. Er ist nur in einigen Fällen und dann oft nur unter Einschränkungen geglückt (vgl. Bourbaki oder Nagel/ Newman). 32 Vgl. z.B. Pichler, Hall/Fagen oder Kulla.

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ne Theoreme und gezeigte Zusammenhänge werden gemäß dem Identitätspostulat als unveränderlich und als schon immer dagewesen interpretiert; Mathematik wird nach dieser, der Logik folgenden Vorstellung, nicht geschaffen sondern entdeckt. Der Mathematiker durchwandert gleichsam einen Himmel voller Symmetrien (analog dem Planonischen Ideenhimmel), von dem er die seinem Geist zugänglichen pflückt und in Theoreme faßt. Der intuitive Symmetriebegriff fußt auf der geometrischen Vorstellung. Zum Beispiel lassen sich bei dem abgebildeten Kubeoktaeder eine Anzahl von Symmetrieachsen und Ebenen denken, so daß durch bestimmte Drehungen an den Achsen, beziehungsweise Spiegelungen an den Ebenen der Körper invariant hinsichtlich Form und Position gelassen wird. Wir können auf die Symmetrieachsen, Punkte oder Flächen bei der Beschreibung verzichten, es genügt die genaue Angabe der Drehungen oder Spiegelungen, die entsprechenden Achsen und Flächen ergeben sich dann automatisch als Eigenräume (das sind die Punkte, die auf sich selbst abgebildet werden) der Drehungen oder Spiegelungen. Drehungen und Spiegelungen sind Abbildungen, Funktionen (-» Relation, Menge) und damit erhalten wir schon den abstrakten, auf der räumlichen Wiederholung beruhenden Symmetriebegriff, den wir hier zugrundelegen. Es sind die Abbildungen, die Symmetrien vermitteln oder auch nachweisen, denn der charakteristische Grundzug einer Abbildung ist, daß eine abstrakte Beziehungsstruktur, die in einem Objektbereich verkörpert ist, nachweisbar auch zwischen den Objekten eines anderen Gebietes (dies kann auch das gleiche Gebiet sein) gilt. Eine Abbildung stellt eine strukturinvariante Beziehung zwischen zwei Objektbereichen her 33 , die Symmetrie ist dann die Wiederholung eben dieser Struktur in den Objektbereichen. Im Falle des Kubeoktaeders gibt es 48 verschiedene Abbildungen, die das Gebilde invariant hinsichtlich Form und Position lassen. Diese 48 Abbildungen, die die von uns betrachteten Symmetrieeigenschaften des Körpers beschreiben, kann man selbst wiederum als Menge Ω auffassen, der bezüglich der Hintereinanderausführung der Abbildungen eine Verknüpfungsstruktur aufgeprägt ist. Wir erhalten somit eine endliche (Automorphismen-)Gruppe, so daß wir für die weitere Untersuchung auch alle bezüglich endlicher Gruppen bekannten Symmetrien (Ergebnisse) aus der Algebra hinzuziehen können (dies als typischer Abstraktionsprozeß, der zu immer neuen Symmetrien auf immer höheren Abstraktionsebenen führt). Je nach der invariant zu lassenden Struktur verwendet man andere charakteristische Abbildungen, so etwa die Homöomorphismen, die die Stetigkeit der Abbildungen in der Topologie erhalten, die holomorphen Abbildungen der Funktionentheorie, die verknüpfungstreuen Homomorphismen der Algebra usw. Insbesondere lassen sich die verschiedenen Typen von Geometrien (z.B. metrische, affine und projektive Geometrie) als Invariantentheorien gewisser Abbildungsgruppen verstehen 34. 33 34

Nagel/ Newman zum Abbildungsbegriff S. 66ff. Vgl. dazu Klein.

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Dem Sozialwissenschaftler vertrauter sind zum Beispiel die Skalierungsverfahren, wie sie etwa in der Wohlfahrtstheorie verwendet werden. Auch der Skalierungstyp kann durch die Funktionenmenge charakterisiert werden, die die Skalierungsform invariant läßt. Die Ordinalskalierung wird durch die Menge der monotonen Transformationen (z.B. Y = X 3 ) , die Intervallskalierung durch die linearen Transformationen (Y = a*X + b mit a > 0) und die Kardinalskalierung durch Ähnlichkeitstransformationen der Form a*X mit a > 0 bewahrt. Die die Symmetrien definierenden Transformationsmengen bilden wiederum selbständige Gruppen, deren Symmetrieeigenschaften Gegenstand der Algebra sind. Durch Abbildungen vermittelte Symmetrien finden auch häufig Eingang in Beweise, indem bestimmte Probleme auf andere, eventuell zugänglichere zurückgeführt werden. So kann etwa die Frage, welche natürlichen Zahlen sich als Summe zweier Quadratzahlen darstellen lassen ( X 2 + Y 2 = N), durch den Übergang auf den erweiterten Zahlenring (Ζ υ | / m ) wegen (X + Y ) / - l ) * ( X - Y j / - l ) = X 2 + Y 2

auf das Problem der Faktorenzerlegung zurückgeführt werden. Ein weiteres Beispiel liefert etwa die Erklärung des gemeinsamen Höhenschnittpunkts eines Dreiecks (Figur a in Abb. 2-2). Durch den Übergang zur Figur b entsteht das äquivalente und leicht lösbare Problem des gemeinsamen Schnittpunktes der drei Mittelsenkrechten. Wir wollen nun versuchen, das bisher in diesem Abschnitt Besprochene in einen ökonomischen Kontext zu überführen. Ziel des mathematisch arbeitenden Wissenschaftlers ist es, wie wir gezeigt haben, abstrakte Räume zu untersuchen und zu beschreiben. Aus zweieilei Gründen ist es dabei erforderlich, daß der Wissenschaftler Kenntnis über möglichst viele Symmetrien mit einem Minimum an Redundanz erwirbt. Einmal sind die Symmetrien selbst Eigenschaften der

2.3 Die Struktur der Mathematik

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Figur a

Abb.2-2

Figur b

Räume und von daher notwendige Bestandteile einer Beschreibung. Zum anderen ermöglicht die Kenntnis und Nutzung der Symmetrien, wie schon aus der bisherigen Diskussion hervorgeht, eine dramatische Verkürzung des Beschreibungsaufwandes. Allein durch das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten bei einem Dreieck kann aus der Angabe z.B. der Eckpunkte auf die Höhen, Mittellinien, Schwerlinien, Winkelhalbierenden, Fläche, Umfang, Winkel, Inund Umkreisradius, Lage des Höhenschnittpunktes, des Schwerpunktes, des Inund Umkreismittelpunktes, Radius des Feuerbachschen Kreises usw. gefolgert werden, ohne diese im einzelnen jeweils angeben zu müssen. Eine gute Beschreibung wird daher möglichst viele Symmetrien zu erfassen versuchen, sie wird dem begrenzten Zeithorizont des Beschreibenden Rechnung tragend die gefundenen Symmetrien weitestgehend nutzen, das heißt aber nichts anderes als Redundanz vermeiden 35 — eine gute Beschreibung tendiert damit auch immer in Richtung einer Minimalbeschreibung. Bringen wir an dieser Stelle die Vorstellungen des ökonomischen Verhaltens als „optimale Allokation von Ressourcen im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel" 3 6 mit ein, dann ergibt sich im mathematischen Kontext: Die optimale Allokation der geistigen Ressourcen bei der Beschreibung abstrakter Räume erfolgt über ein Orientierungsverhalten, das sich um die Entdeckung 37 möglichst vieler Symmetrien 38 (Redundanzen) bei gleichzeitig möglichst optimaler Ausnutzung derselben bemüht. 35 Hier spielt ein vermutlich fundamentaler Zusammenhang mit hinein: Redundanz vermeiden bedeutet nämlich, Wiederholungen oder in anderen Worten Symmetrien vermeiden. Orientierungsverhalten (im Beschreibunskontext) ist somit das Bestreben, Symmetrien zu finden und zu nutzen mit dem Zweck, ein Neuauftreten von Symmetrien zu vermeiden (in der Beschreibung). Ein fast paradoxes Ergebnis, auf das wir an geeigneter Stelle noch einmal eingehen wollen. 36 Vgl. etwa Rob bins, S.l 6: „Economics is the science which studies human behaviour as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses." 37 Genauso berechtigt wäre es, statt Entdeckung „Erfindung" oder „Erarbeitung" einzusetzen. 38 Es gibt bei der Tätigkeit der Beschreibung keine Gewißheit, Symmetrien erarbeiten zu können. Die Beschreibung abstrakter Räume ist daher von Natur aus durch Unsicherheit gekennzeichnet.

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Wie im folgenden als zentrales Ergebnis gezeigt wird, kann das Orientierungsverhalten zur Erarbeitung der Mathematik selbst, welches in obiger Interpretation ökonomisches Verhalten darstellt, nicht formalisiert werden. U m dieses Ergebnis sukzessive herleiten zu können, sei dazu ein abstrakter Raum vorgegeben auf dem die elementare Arithmetik entwickelt werden kann. Wir gehen dabei zunächst vom aktuellen Wissensstand der Arithmetik (S) aus und fragen, ob es mit diesem Wissen gelingen kann, das ökonomisch optimale Verhalten eines fiktiven Wissenschaftlers (W) formal zu beschreiben, dem die Aufgabe gestellt ist, die Arithmetik bis zu diesem aktuellen Stand zu entwickeln. Angenommen W kennt ebenfalls die Arithmetik und befindet sich somit auf dem Wissensstand S, dann reduziert sich seine Aufgabe auf die Darstellung von S. Für uns geht es dann darum, formal einen optimalen Beschreibungspfad zu entwickeln, auf dem W durch eine möglichst weitgehende Nutzung der Symmetrien Redundanzen vermeiden kann. Ich sehe keinen zwingenden Grund, warum dies nicht möglich sein soll 3 9 , zumal das vollständige Wissen um S es uns erlaubt über S einen abstrakten Raum Ω zu konstruieren, in dem sich das Problem als gewöhnliche Optimierungsaufgabe stellt. W könnte in diesem Fall durch einen Automaten ersetzt werden, eine Subjektproblematik träte nicht auf. Schwieriger wird es schon, wenn wir kein Wissen S bei W (unvollständige Information) voraussetzen und von ihm erwarten, daß er die uns bereits bekannten Symmetrien erst entdeckt. Erforderlich wäre in diesem Fall ein Algorithmus, der nicht nur die Symmetrien auf die Axiome zurückführen kann (gefordert ist damit Entscheidbarkeit, und diese ist in dem beschränkten Raum S auch gewährleistet), sondern diese sogar entdecken kann und das Ganze auch noch effizient durchführt. Der kritische Punkt liegt im Symmetrienentdecken (Mustererkennung). Da uns als außenstehenden Beobachtern die Symmetrien in S aber bekannt sind, will ich es nicht ausschliessen, daß vermöge dieses vollständigen Wissens es gelingen könnte, einen formalen Apparat (Algorithmus) zu konstruieren, der das gestellte Problem meistert; dieser Apparat wârê dann ebenfalls in der Lage, W zu ersetzen — auch hier also möglicherweise noch keine Subjektproblematik 40 . Als dritte und letzte Komplikation sei die Restriktion aufgehoben, daß der Wissenschaftler W sich nur in dem beschränkten, uns bekannten Wissensraum S aufhalten darf. Dies entspricht der natürlichen Lebenssituation, in der wir uns jederzeit bewegen, nämlich, daß ein jeder zu jeder Zeit Wissen erwerben kann, welches sich von dem eines jeden seiner Beobachter unterscheidet; es entspricht dem autonomen Verhalten. Das überraschende Resultat 41 , das wir jetzt als 39

Natürlich konnten auch Schwierigkeiten auftreten, das müßte im Einzelfall geprüft werden, in unsèrer Argumentation ist dies jedoch irrelevant. 40 Die Frage, was passiert, wenn W bei der Erfüllung seiner Aufgabe Symmetrien entdeckt,"die außerhalb von S liegen, und die ihm ein eventuell noch effizienteres Vorgehen erlauben, wurde bei der Überlegung nicht berücksichtigt.

2.3 Die Struktur der Mathematik

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Konsequenz des Gödehchen Unvollständigkeitssatzes erhalten, besagt, daß es nun nicht mehr möglich ist, das ökonomische Verhalten von W formal zu beschreiben. Zunächst könnte man meinen, das liegt an unserem mangelhaften Wissen bezüglich der Arithmetik, und durch die Einnahme eines fiktiven Standpunktes, in dem quasi aus der Perspektive von Superintelligenzen eine vollständige Arithmetik angenommen wird — analog wie in der allgemeinen Gleichgewichtstheorie 42 ein vollständiger Möglichkeitsraum (Alternativen, Güter, Preise, Präferenzen...) vorausgesetzt wird —, könnte dieser Mangel geheilt werden. Erstaunlicherweise zeigt nun Gödeh Resultat, daß eine solche Annahme auf unauflösbare Paradoxien führt. Die Arithmetik kann nicht widerspruchsfrei als vollständig gedacht werden, sie ist prinzipiell unvollständig 4 3 , oder um das Resultat des Kapitels 2.2, nämlich, daß die Logik eine Idee des Gedachten und nicht des Denkens sei, wiederaufzunehmen: Die Arithmetik kann nicht widerspruchsfrei als Gedachtes gedacht werden. Die Arithmetik ist immer auch ein noch zu Denkendes — sie ist inhärent historisch, obwohl oder gerade weil sie eine Beschreibung des Ahistorischen, d.h. des Gesetzmäßigen ist 44 . Es kann daher keine formale Beschreibung unseres Problems geben, denn es ist keine Menge Ω denkbar, auf die die Arithmetik eineindeutig (bijektiv) abgebildet werden könnte (was hinsichtlich S noch möglich war), es fehlt die Grundlage, auf der der Formalismus aufgebaut werden könnte, es fehlt der abstrakte Raum Ω. Anschaulich gesprochen, wäre etwas der Menge aller Mengen (Raum aller Räume) Analoges notwendig, eine solche Konstruktion führt jedoch auf einen logischen Widerspruch. Aus einem leicht veränderten Standpunkt betrachtet erweist sich der Wissenschaftler als Grund des Dilemmas. Vermöge seiner Tätigkeit erhält die Arithmetik einen evolutionären und damit historischen Charakter 45 , vermittels dem sie sich jeder formalen Restriktion auf einen Raum Ω irgendwann entziehen kann. Zu Formalisierung wäre ein Raum Ω notwendig, in dem man nicht nur, wie gehabt, Symmetrien entdecken kann, sondern der selbst ein Symmetrien erarbeitendes Element (nämlich W) enthält. Dadurch würde aber das Identitätspostulat, dem der Raum Ω unterliegen muß, verletzt 46 . 41

Wir nehmen an dieser Stelle lediglich auf das Ergebnis dieses Satzes Bezug und interpretieren die Bedeutung in mehrererlei Hinsicht, der Satz selbst wird in Kap.2.4 genauer vorgestellt. 42 Zum Beispiel Debreu, „Werttheorie", 1976. 43 Auch die Vorstellung unendlicher Mannigfaltigkeiten, wie sie etwa als unendlich dimensionaler Güterraum in der Gleichgewichtstheorie verwendet werden kann, genügt nicht. 44 Zum letzteren vgl. besonders Kap.5. 45 Die Arithmetik, obwohl eine elementare mathematische Disziplin, erfüllt in ihrem axiomatischen Aufbau schon gewisse Mindestanforderungen, die eine kreative Entfaltung erlauben.

60

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Die im Identitätspostulat wurzelnde Restriktion jeder Omegakonstruktion erweist sich auch als kritische Schwachstelle aller formalen Beschreibungen in den Sozialwissenschaften. Die Symmetrien sind in diesen Konstrukten alle schon entdeckt oder werden als entdeckte angenommen. Solche formalen Überlegungen erfassen nur die Ausnutzung der Symmetrien und damit nur eine Komponente des ökonomischen Verhaltens 47 , die andere, entscheidende aber wird verschleiert, nämlich, daß die Ausnutzung von Symmetrien erst ihr Entdecken voraussetzt. Solange unsere Automaten auf dem Formalismus der klassischen Logik beruhen, werden sie deshalb W in seiner Arbeit niemals ersetzen, da sie nur mit entdeckten Symmetrien operieren können. Die Tatsache, die durch die GcWe/sche Entdeckung bewiesen wird, und zwar, daß das kreative Verhalten des Menschen sogar in einem sehr „mageren" Gebiet (nämlich der Arithmetik) niemals konsistent als vollständig geschehen gedacht werden kann, erweist nicht nur die Einseitigkeit und letztlich auch Unhaltbarkeit der Versuche, soziales Geschehen endgültig in formalen Kalkülen einfangen zu wollen, diese Tatsache weist zugleich darüberhinaus, sie verlangt nach weitergehenden Methoden, in denen unsere Logik nur noch als Spezialfall erscheint. Durch einen erneuten Wechsel des Standortes ist es möglich, noch eine weitere Interpretation der Situation zu erlangen. Die Vorgehensweise in diesem Kapitel kann in einem Satz auf folgende Kurzformel gebracht werden: Gefragt ist nach der formalen Beschreibung der ökonomischen Interpretation der Entwicklung der Mathematik. Die geforderte Beschreibung ist somit metasprachlich gegenüber dem Objektbereich der Mathematik oder in anderen Worten, der Formalismus müßte Objekt und Metasprache zugleich sein können. Nun zeigt aber gerade das Unvollständigkeitstheorem von Gödel, daß dies nicht möglich ist, in einer Interpretation von Frey 48 : „Es kann somit keinen Logikkalkül geben, der es erlaubte, daß alle Aussagen über ihn in ihm formalisierbar wären. 4'

46 Dies ist, wie wir in Kap.2.4 noch genauer zeigen werden, das entscheidende Argument, das die Grenzen des Formalismus identifiziert. Sein und Nicht-Sein geraten hier unwillkürlich in Konflikt. 47

Vgl. z.B. Smale, S.289: „...in the main model of equilibrium theory, say as presented in Gerard Debreu's theory of value, economic agents make one lifelong decision, optimizing some value. With future dating of comodities, time has almost an artificial role." A.M.K. Müller , 1972, S.241, schreibt: „Es fehlt schlechterdings zur Zeit jede Grundidee, wie man die Fähigkeit des menschlichen Bewußtseins zur gedanklichen Assoziation mit den Möglichkeiten des Computers wissenschaftlich simulieren könnte." Daran dürfte sich in der Zwischenzeit kaum etwas geändert haben, die späte Bekehrung von H.A. Simon (vgl. Kap.4) ist dafür die beste Bestätigung. 48 Frey, S.55.

2.3 Die Struktur der Mathematik

61

Es tritt also in unserer Fragestellung ein Moment der Reflexion, der Selbstbeschreibung 49 (Selbstreferenz) auf, das jeden formalen Ansatz scheitern läßt. Wie wir noch genauer (Kap. 2.4) zeigen werden, ist die Ursache wiederum in der Verletzung des Identitätspostulats zu finden. Die natürliche Umgangssprache ist keinerlei derartigen Restriktion unterworfen, sie ist Objektsprache und zugleich sich selbst und allen formalen Sprachen gegenüber Metasprache. Insofern ist die Umgangssprache nicht der Logik unterworfen, sie ist reichhaltiger; sie ist im Gegenteil sogar die unabdingbare Prämisse dafür, daß Logik entwickelt werden kann und nicht umgekehrt (vgl. dazu genauer in Kap. 2.4). Aus den genannten Gründen muß der Versuch der Mathematik, den historischen Prozeß in die Gesetzmäßigkeiten der Symmetrien zu binden, letztendlich als unvollendbar scheitern. Er scheitert daran, daß er selbst Teil des historischen Prozesses wird, den er an die ahistorische Gesetzmäßigkeit binden will. Es ist der Versuch eines modernen Sisyphus, der im Erkennen jeder neuen Symmetrie eine Asymmetrie erzeugt.

2.3.3 Dynamik Die Dichotomie Statik-Dynamik ordnet die Welt in das sich Bewegende, zeitlich Verändernde und das Bewegungslose, d.h. invariante andere. Beide Begriffe sind nicht isolierbar, der eine setzt trivialerweise immer zugleich das Wissen um den anderen voraus, sie ergänzen sich ähnlich komplementär wie „Subjekt" und „Objekt". Die Unterscheidungscharakteristik Bewegung - NichtBewegung gibt als Ursprung der Dichotomie die Physik, speziell die Mechanik zu erkennen. Sie ist das Fundament der modernen theoretischen Physik und wurde durch Galilei und Newton begründet. In der Nationalökonomie wurde das Konzept der Dynamik erstmals von St. Mill 50 eingeführt; es bezeichnet heute eine Analyse, die ausdrücklich auf die zeitliche Entwicklung eines Sachverhalts Bezug nimmt. Ziel der Diskussion im vorliegenden Abschnitt ist es, über abstrakte Symmetrieüberlegungen, d.h. insbesondere über die Einordnung in die bisher erarbeiteten Gedanken, zur Klärung der Relevanz des formalisierten 51 Dynamikkonzepts bezüglich der Erfassung zeitlicher Entwicklung beizutragen. Die Notwendigkeit eines Konzepts zur Erfahrung und Darstellung zeitlicher Entwicklung für die Sozialwissenschaften wird an dieser Stelle vorausgesetzt 52. 49 Wir werden diese Selbstbeschreibungen wiederholt antreffen, vgl. z.B. zur Diskussion über vage Prädikate in Kap.3.3, oder Kap.5. Selbstbeschreibungen lassen sich analog zu der in Kap.l beschriebenen Situation sehen, in der sich die Komplexität selbst gegenübertritt. 50 Nach Ott, S.l4. 51 Das Attribut „formalisiert" dient hier lediglich der Betonung, da die Definition dynamischer Modelle i.d.R. die Formalisierung mit einschließt (z.B. Zwicker, S.22). 52 Vgl. Kap.4.

62

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o m l e Systeme

Dadurch ist es möglich, den für die Sozialwissenschaften zwar ungewohnt hohen, hier jedoch wegen der Allgemeingültigkeit (Symmetrie) und Übersichtlichkeit zweckmäßigen Abstraktionsgrad beizubehalten. Ausgangspunkt der Charakterisierung formaler Dynamikdarstellung bildet das in Kapitel 2.3.2 definierte, abstrakte System (X,Y,S) 5 3 , wobei S eine Teilmenge des kartesischen Produkts X * Y ist und die Systemstruktur repräsentiert 5 4 . Das System ist genau dann geschlossen, wenn X = Y und genau dann ausschließlich offen, wenn die Mengen X und Y disjunkt sind, d.h. falls kein Teil des Outputs auch als Input auftritt 5 5 . Der Übergang zur allgemeinsten Form eines zeitabhängigen, dynamischen Systems erfolgt einfach durch Erweiterung des statischen Systems zu einer Systemfamilie (X(i),Y(i),S(i)) mit iel. Die Indexelemente i aus der Menge I stehen stellvertretend für die Menge der Systemzeitpunkte. Der Begriff Familie ist dabei eine Erweiterung des Folgenbegriffs, der erforderlich ist, falls die Indexmenge I eine größere Mächtigkeit als die der natürlichen Zahlen besitzt. Da wir in der Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheiden, ist es notwendig, daß auf I eine Ordnungsrelation definiert ist (z.B. „ > " - „größer als" bzw. „später als"). Je nachdem, ob auf I eine vollständige oder unvollständige Ordnungsrelation erklärt ist, handelt es sich dabei um ein deterministisches oder stochastisches, dynamisches System. Indem stochastische Systeme genau eine vollständig geordnete Teilmenge aus I auswählen, realisieren sie genau einen von mehreren möglichen zeitlichen Verläufen. Man kann an der Form des allgemeinsten dynamischen Systems bereits erkennen, daß durch die Bezugnahme auf die Zeit kein qualitativ neues Element in den formalen Apparat aufgenommen wurde. Indem Ω als kartesischer Produktraum über alle Mengen X(i) und Y(i) mit der durch die Relationenfamilie aufgeprägten Struktur interpretiert wird, zeigt sich, daß der Bereich abstrakter Räume in dem in Kapitel 2.3.2 definierten Sinne nicht verlassen wurde. Es handelt sich offenbar bei dynamischen Systemen um spezielle Räume Ω, bei denen zusätzlich zu einer über Relationen induzierten Struktur bestimmte, durch ein Indexsystem geordnete Teilmengen ausgezeichnet sind. Die Qualität der Zeit ist somit keine immanente Eigenschaft der formalen Darstellung, sondern sie erscheint einzig und allein in der inhaltlichen Interpretation 53

Fassen wir X * Y als Ω auf, dann erhalten wir unsere ursprüngliche Darstellung. Statt einer einzigen Relation S kann man ohne weiteres zu einer Familie von Relationen erweitern. 55 Es wird bewußt auf eine weitergehende Einführung in die systemtheoretische Darstellungsweise verzichtet. Einmal, weil man sie mittlerweile als allgemein bekannt voraussetzen darf, zum anderen, weil für die hier angestellten metatheoretischen Überlegungen die Kenntnis weniger Grundkonzepte ausreicht. Weitergehende Literatur zur Systemtheorie sind etwa Beckmann, Hall/Fagen, Klaus, Kulla oder Pichler, wobei Bechmann die Systemtheorie vor ökonomischem Hintergrund einführt und den Begriffsapparat entsprechend ausdifferenziert. 54

2.3 Die Struktur der Mathematik

63

von Räumen. Zum Beispiel wird in der allgemein verbreiteten Darstellung 56 im ( n + l)-dimensionalen reellen Zustandsraum die Zeit mit einem reellen Zahlenbereich des Produktraumes identifiziert. Ein zeitlicher Ablauf erscheint hierin als kontinuierliche Aneinanderreihung von n-dimensionalen Hyperflächen einer Konstellation des (n +l)-dimensionalen Zustandsraums. Die Reduktion der Zeit auf eine Raumdimension löst das Beschriebene in eine Ansammlung von Objekten auf, die sich den formalen Bedingungen der klassischen Logik unterordnet. Daran ändert sich nichts, wenn man zu der obenerwähnten stochastischen Beschreibung übergeht. Der Raum Ω wird durch die Auszeichnung unterschiedlicher, vollständig geordneter Teilmengen in I lediglich mit mehr Struktur angereichert. Es ergibt sich zum Beispiel ein Ereignisbaum wie nach der Erweiterung der ökonomischen Gleichgewichtstheorie durch das Konzept der Unsicherheit bei Debreu (Kapitel 7, 1976, S.l 19 ff.).

3

3

2

Abb.2-3 CDebreu, 1976, S.l20)

Die Unsicherheit kann sich allerdings in der formalen Beschreibung nur auf die Unsicherheit über das Eintreffen der Ereignisse erstrecken, nicht jedoch auf die Menge und Art der möglichen Ereignisse. Das statistisch Mögliche ist der Bereich der Zukunft, der in der Gegenwart schon präsent ist. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn eine Theorie aller Möglichkeiten oder Alternativen wenigstens theoretisch denkbar wäre. Eine solche Annahme ist jedoch, wie in Kapitel 2.3.2 schon angesprochen und in Kapitel 2.3.4 noch näher erläutert wird, in sich widersprüchlich. Es zeigt sich wieder einmal, daß ein Formalismus das Entstehen von Neuem nicht erfassen kann; in der Dynamik drückt sich das dadurch aus, daß die Zeit auf eine Raumdimension reduziert wird 5 7 . 56

Z.B. die allgemeine Gleichgewichtstheorie nach Debreu, 1976. Die Einsicht, daß Zeit in formaler Darstellung dem Raum gleichgestellt wird, findet auch in der Ökonomie, wenn auch nicht allgemein rezipiert und akzeptiert (vgl. Kap.4), ihren Wiederhall; vgl. z.B. Hicks 1976, Georgescu-Roegen 1971, Shackle , Mises u.a. Die 57

64

.

o m l e Systeme

Eine nähere Betrachtung der allgemeinsten dynamischen Darstellung (X(i),Y(i),S(i)) zeigt, daß ein solches indiziertes System nicht notwendig genauere Aussagen über den Zeitablauf im Sinne einer Bewegung erlaubt. Der Ablauf kann vollkommen unkorreliert, chaotisch sein, wie durch folgende Vorstellung verdeutlicht wird. Man kann sich die indizierten Systemzustände als Bilder eines Films denken, die einzelnen Bilder müssen aber nichts miteinander zu tun haben — für den Betrachter entsteht dann ein chaotischer Eindruck, eine Art weißes Rauschen. Der Spielraum dieser allgemeinen Darstellungsweise ist sehr groß, mit ihr kann jede Art historischer Entwicklung (ex post!) dargestellt werden (solange Objekte darin vorkommen), auch wenn überhaupt keine Ordnung oder kein kausaler Zusammenhang auszumachen sind. Bestes Beispiel für einen derartigen historischen Vorgang ist die BrouWersche Wahlfolge 58 , in der jede neu hinzugefügte Zahl aus einem Akt historischer Entscheidung hervorgeht, ohne daß auf die bisherigen Zahlen Bezug genommen werden muß. Der Mangel an Gesetzmäßigkeit ist der Grund, weshalb von einigen Autoren (z.B. Kulla, Czayka, Zwicker) das allgemeine System (X(i),Y(i),S(i)) noch nicht als dynamisch bezeichnet wird, Zwicker (S.23) beispielsweise spricht stattdessen von einem historischen System. Aus dem historischen System entsteht ein dynamisches im Sinne des Vorkommens von Bewegungen, sobald zwischen den Systemzuständen aufeinanderfolgender Zeitpunkte eine invariante Verknüpfung etabliert werden kann. Dies bedeutet aber nichts anderes, als daß eine Symmetrie erkennbar sein muß, daß sich etwas im Zeitverlauf invariant wiederholt. Gemäß den Ergebnissen des vorigen Abschnitts kann durch Ausnutzung einer solchen Symmetrie die Darstellung wesentlich gestrafft werden, z.B. braucht bei der Beschreibung der Wurfparabel nicht jeder einzelne Systemzustand (X(i),Y(i),S(i)) für sich beschrieben werden, da die Bewegungsgesetze ein kausale Abfolge gewährleisten. Die Einzelangabe der Systemzustände ist jedoch trotz eines gesetzmäßigen Zusammenhangs noch notwendig, falls der zu erklärende endogene Systemzustand ausschließlich durch (verzögerte und unverzögerte) Variablen bestimmt wird, die nicht Verzögerungen der zu erklärenden Variablen sind, d.h. falls das System feedback-frei ist (z.B. bei der Konsumhypothese C(t) = a + b*Y(t - l ) ) 5 9 . Einsicht ist keineswegs neu, wenn auch vielleicht bislang weitgehend unbeachtet. So schreibt etwa Hegel in der „Phänomenologie des Geistes", S.44: „Der Stoff, über den die Mathematik den erfreulichen Schatz von Wahrheiten gewährt, ist der Raum und das Eins. Der Raum ist das Dasein, worein der Begriff seine Unterschiede einschreibt als in ein leeres, totes Element, worin sie ebenso unbewegt und leblos sind. Das Wirkliche ist nicht ein Räumliches, wie es in der Mathematik betrachtet wird; mit solcher Unwirklichkeit, als die Dinge der Mathematik sind, gibt sich weder das konkrete sinnliche Anschauen noch die Philosophie ab." 58 Zur Brouwerschen Wahlfolge und zum mathematischen Intuitionismus siehe Becker, 1927, S.658 ff. Die Brouwersche freie Wahlfolge trägt in sich kein Prinzip, das sie durch ständig wiederholte Anwendung derselben Regel in unbegrenzte Zustände brächte. Jede Wahl ist eine schöpferische Tathandlung. 59

Vgl. dazu auch „kaskadierende Systeme" Zwicker S.280 ff.

2.3 Die Struktur der Mathematik

65

Bewegungsgesetze lassen sich erst dann aufstellen, wenn keine zeitvariablen exogenen Größen auftreten, d.h. es dürfen nur Parameter vorkommen. Ihre unter Ausnutzung der Symmetrie komprimierte Darstellung erfolgt meist über Differenzen- oder Differentialgleichungen. Der Unterschied zwischen Differenzen· oder Differentialgleichungen ist für unsere Überlegungen unerheblich 60 , beide verkörpern das gleiche Prinzip, einmal für zeitdiskrete und das andere Mal für zeitkontinuierliche Systeme (I abzählbar oder I überabzählbar). Die Gleichung C(t) = a + b* Y(t) + c*C(t - 1 )

bzw. (C(t) - C(t - 1 ))/l = a + b*Y(t) + (1 - c)*C(t - 1 ) geht z.B. für A t - > 0 i n dC/dt = a + b*Y(t) + (1 - c)*C(t)

über. Charakteristisches Merkmal aller Bewegungsgleichungen ist das Feedback, das durch den Einfluß verzögerter Realisationen endogener Variablen (Input) auf die aktuellen Werte dieser Variablen (Output) selbst entsteht. An der einfachen Differenzengleichung der Konsumfunktion C(t) = a + b*C(t - 1 ) kann das Prinzip bereits demonstriert werden. Positives Feedback besteht, wenn das Anwachsen der verzögerten endogenen Größe C(t - 1 ) einen Einfluß auf das weitere Wachstum der endogenen Größe ausübt (in diesem Fall für b>0). Analog führt negatives Feedback zu einem gegenläufigen Effekt des Inputs auf den Output (b 1 herrscht Wachstum über alle Grenzen und für b < - 1 alternierende Explosion. Ungestörte Wachstumsprozesse sind aber selten, in der Regel findet man gleichzeitig verstärkende und limitierende Faktoren vor 6 1 , wie sie z.B. in folgender logistischer Differentialgleichung zur Beschreibung biologischer oder sozialer Wachstumsprozesse (Populationsdynamik, Stadtentwicklung usw.) auftreten: dx/dt = a*x - b*x 2

mit a,b > 0

60 Durch einfache stochastische Erweiterung erhält man aus diesen Gleichungen stochastische Differential- (Differenzen-) Gleichungen bzw. stochastische Prozesse. Insbesondere gehen Differenzengleichungen 1. Grades in Markov-Prozesse über (Zur Definition stochastischer Prozesse vgl. z.B. Fahrmeir). Von besonderem Interesse sind Differentialgleichungen, die sich aus der Überlappung einer deterministischen mit einer stochastischen Differentialgleichung ergeben. Beispiel ist etwa die von einem weißen Rauschen gestörte Trajektorie eines dynamischen Systems. Solche Gleichungen treten im folgenden in Kapitel 3.2 bei der Besprechung dissipativer Strukturen auf. 61 Weitergehende Erörterungen solcher Fragen finden sich z.B. bei Beckmann, Haken 1982, Kulla, Prigogine 1979 und 1981, Rosen usw.

5

Blaseio

66

2. Formale Systeme

Trotz der scheinbaren Einfachheit der Ausgangsgleichung erlaubt die Lösung x(t) = (a*C*exp(a*t))/(l - b*C*exp(a*t))

eine Vielzahl von Bewegungen, angefangen von der Gleichgewichtsannäherung über den Grenzzyklus bis hin zu einer Art Chaos 62 . Der Systemkalkül läßt sich über die hier vorgestellten Grundelemente hinaus nahezu beliebig ausdifferenzieren und den unterschiedlichsten Aufgabenstellungen (vgl. z.B. Kulla) anpassen; eine Tatsache, die den grundsätzlichen Vorteil abstrakter Darstellung nochmals unterstreicht. Beckmann (S.l37 fT.) z.B. unterscheidet neun verschiedene Typen dynamischer Systeme. Er diskutiert auch die Beschränkung des mathematisch-strukturellen Systemkalküls auf die syntaktische Sprachebene und greift eine Fülle weiterer Beziehungen auf, die für die praktische Anwendung relevant sein könnten. Die Liste solcher Überlegungen soll hier weder wiederholt noch in ähnlicher Form weitergeführt werden. Gegenstand sollen vielmehr die von Beckmann (S.241) noch als unüberwunden empfundene Zeitproblematik und die Reduktion des Untersuchungsbereichs auf ein Objekt sein, die sich in der fehlenden Ausdrückbarkeit der Reflexion äußert. Dabei kann es jedoch nicht darum gehen, im Sinne Beckmanns „Zeit zu formalisieren", denn das hieße, das NichtSein gemäß unseren Überlegungen zur Logik dem Sein einverleiben, was in sich widersprüchlich wäre. Wir betrachten dazu das Grundmuster jeder dynamischen Bewegungsdarstellung, die Rekursivität: „... this is the essence of recursion — something being defined in terms of simpler versions of itself, instead of explicitely." 63

Der Rekursionsbegriff ist noch etwas allgemeiner als der Begriff des Feedbacks, die zeitliche Interpretation der geordneten Indexmenge I ist z.B. nicht notwendig vorausgesetzt. Eine berühmte rekursive Funktion vertreten die Fibonacci-Zahlen, die man über folgende Rekursionsvorschrift erhält: F(n) = F ( n - l ) + F(n-2)

64

Eine neue Fibonacci-Zahl erhält man jeweils durch Addition der beiden jüngsten Zahlen. Der entscheidende Kern jeder rekursiven Funktion und damit jeder mathematischen Dynamik-Darstellung ist nun, daß es immer eine oberste Ebene absolut invarianter Vorschriften wie derjenigen zur Erzeugung der Fibonacci-Folge gibt. Die Dynamik ist damit nur scheinbar, nur über die inhaltliche Interpretation entstanden. Die absolut invarianten Vorschriften der obersten Hierarchie erzwingen einen letztlich vollkommen deterministischen 62

Vgl. z.B. Prigogine/ Stengers, 1981, S.185 f. Hof stadter, 1979, S.l 52. 64 Bei H of stadter, 1979, S.l 34, ist eine anschauliche geometrische Rekursion zur Herleitung der Fibonacci-Zahlen angegeben. 63

67

2.3 Die Struktur der Mathematik

Verlauf 65 . Sie erzwingen ebenso, daß, wie zu Beginn des Kapitels gezeigt, grundsätzlich ein Raum Ω angebbar ist, in dem die Bewegung für immer verbleibt 66 , in dem die Bewegung zur fertigen Figur und damit zum bloßen Objekt erstarrt ist. Dynamik ist dann die filmartige Hintereinanderreihung geeigneter Schnitte durch eben solch ein Objekt. Die folgende Konstruktion kann die Problematik verdeutlichen. Es seien ein Anfangswert x(0,l) gegeben und eine rekursive Vorschrift f(l,l), die es erlaubt, zu diesem Anfangswert gemäß der Vorschrift immer neue Werte zu bilden. Einer echten oder f(5,l) f(4,l) f(3,l)

f(2,l) f(l,l) x(0,l) Abb.2-4

besser evolutionären Dynamik würde es entsprechen, wenn auch f ( l , l ) einer Entwicklung unterliegen würde. Also bilden wir einen Operator f(2,l), der die Entwicklung von f ( l , l ) bestimmt. Nun ist f(2,l) wieder absolut invariant, was sukzessive zur Bildung weiterer Operatoren f(3,l), f(4,l) usw. Veranlassung gibt (vgl. Abb. 24). Im Ergebnis landet man wieder bei der Brouwerschen Wahlfolge, da jeder neue Folgenwert Resultat einer neuen subjektiven Entscheidung wird; die Einführung immer neuer Operatoren hat demnach nur illustrativen Wert. Für die Darstellung reflexiver Dynamik genügt es somit nicht, wie Forrester 67 lediglich geschlossene Systeme anzustreben (boundary across which nothing flows), die nur endogene Variable (bis auf den Test-Input) enthalten. Es müßten sich auch die Vorschriften (Funktionen, Relationen, Operatoren) endogen aus dem Modell entwickeln lassen. Dies Problem wird offenbar übersehen, denn nach Zwicker 68 wird in den System-Dynamics-Modellen davon ausgegangen, das Mentalmodell des Entscheiders zum Ausdruck bringen zu können. Zur adäquaten formalen Erfassung selbstorganisierender evolutionärer Systeme, wie sie von jeder sozialen Einheit repräsentiert werden, würde man erwarten, daß der Formalismus auch die höheren Invarianten, in unserem Beispiel die f(i,l), aus sich heraus entwickeln könnte. Die Invarianten, die 65

Hall!Fagen schreiben dazu (S.83): „The terms ,static4 and ,dynamic4 are always in reference to the system of which the equations are an abstract model. Abstract mathematical and/or logical relationships are themselves always timeless.44 66 Vgl. Schmeikal, 1981, S.608: „ I f a formal theory of some evolutionary process is developed, the system dynamics will always stay within the framework that has been presumed.44 67 68

5'

Nach Darstellung von Zwicker, A.a.O. S.517.

S.515 ff.

68

2. Formale Systeme

bislang von außen, vom entscheidungtreffenden Subjekt zu einer Art Koordinatensystem69 des Denkens (vgl. Abb.2-4) zusammengetragen wurden, hätten sich aus dem System selbst herauszubilden; die formalen Koordinatensysteme des Denkens müßten quasi zirkulär auf sich zurückgewendet werden, indem die neuen Vorschriften aus den vorhandenen Strukturen entwickelt würden, wobei deren eigene weitere Entwicklung dann wiederum auch von diesen neuen Vorschriften beeinflußt wäre usw. 70 Der Formalismus müßte somit auch die ihm nicht als Möglichkeiten vorgegebenen Symmetrien, z.B. die f(i,l), von sich aus erarbeiten können, und genau dies kann er nicht. Dazu müßte der Formalismus ein Wissen über seine eigene Bildungsvorschrift entwickeln können, er müßte die Fähigkeit zur Selbstreferenz, d.h. zur Selbstbeschreibung besitzen. Selbstreferenz führt im formalen Kontext, wie in Kapitel 2.4 ausführlich gezeigt wird, zu Paradoxien. Autonomie bleibt der formalen Analyse verschlossen, denn Autonomie bedeutet originäre Veränderung und steht damit im Widerspruch zum Identitätspostulat 71 . Die Überlegungen zur Rekursivität gelten zugleich auch für alle Computer, denn die Theorie der rekursiven Funktionen 72 ist die Basis aller Berechnungen, sie entspricht der Theorie aller möglichen Algorithmen 73 . Die Maschinen liefern Antworten auf Fragen, indem sie Schritt für Schritt arbeiten, wobei jeder Schritt durch einprogrammierte Regeln exakt bestimmt wird. Die Regeln entsprechen dabei den Vorschriften, die die rekursiven Funktionen (vgl. weiter oben) definieren. Auf Computer umgemünzt kann das Ergebnis der Überlegungen zu den rekursiven Funktionen durch folgendes Zitat von Brillouin 74 ausgedrückt werden: „Active thinking has been done by the designers of the machine and is done by the staff of scientists using the machine. Creative thinking is not to be found in the machinery itself."

Dennoch ist es etwas vereinfacht, zu sagen, daß Computer nur das können, was man ihnen befiehlt. Wir wissen nämlich aufgrund der Geschwindigkeit der 69

Salopp ausgedrückt, um die bildhafte Vorstellung zu unterstützen. Es gilt jedoch, daß rekursive Funktionen einer bestimmten Ordnung niemals Argumente in einer rekursiven Funktion niedrigerer Ordnung sein dürfen (vgl. Ghose oder Kleene). Der mathematischen Darstellung sind hier Grenzen gesetzt (vgl. Kap.2.4). 71 Vgl. genauer Kap.2.4. 72 Natürlich werden in dieser Theorie die rekursiven Funktionen formal strenger definiert (vgl. z.B. bei Kleene, Loeckx oder Paul), dies ändert jedoch nichts bezüglich unserer Überlegungen anhand der skizzierten Grundeigenschaft. In Kap.2.3.4 wird die angesprochene Restriktion am Beispiel des Haltetheorems noch einmal aufgegriffen. 73 Die rekursive Aufzählbarkeit nach Kleene ist äquivalent der „normierten Vollformalisierung" nach Lorenzen, der „Berechenbarkeit" nach Gödel, der „kombinatorischen Definierbarkeit" nach Rosser, der „Λ,-Definierbarkeit" von Church , der „Berechenbarkeit" nach Turing und der „Algorithmentheorie" nach Markov . Für einen Teilbeweis siehe Loeckx, vgl. auch Lorenzen und Becker, 1959. 74 Brillouin, S.165. 70

2.4 Metatheorie

69

Maschine in der Regel nicht das Ergebnis im voraus, sondern kennen lediglich den abstrakten Raum, in dem das Ergebnis sich befinden muß. Auf der anderen Seite können wir der Maschine keine beliebigen Befehle erteilen, z.B. können wir ihr keine Erfindung befehlen. Das Spektrum ist begrenzt durch das, was sich über rekursive Vorschriften erfassen läßt. Die Dynamik unterliegt, wie die Diskussion gelehrt hat, denselben Beschränkungen, die von der Logik ausgehend sich über alle formalen Systeme erstrecken. Sie behandelt ihren Gegenstandsbereich als eine objekthafte Welt, die sich nach ewigen Gesetzen wie ein Planetensystem (oder die Wirtschaft in der allgemeinen Gleichgewichtstheorie) bewegt. Etwas anderes wäre auch höchst verwunderlich, denn wie sollte aus der totalen Unveränderlichkeit im Bannkreis des Identitätspostulats (umgangssprachlich: dem Zahlenfriedhof) urplötzlich, allein aus komplizierter Anordnung, autonome Bewegung erwachsen! Selbstorganisation und Reflexivität als Kennzeichen der Subjekte sozialer Systeme lassen sich daher mit Hilfe formaler Kalküle, die auf der klassischen Logik beruhen, nicht angemessen ausdrücken. Es ist schließlich zu fragen, ob dem mathematischen Formalismus in den Sozialwissenschaften nicht eine falsche Rolle zugewiesen wird, ob die Mathematik nicht auch wie ein Versprechen angenommen wird, das zu halten sie niemals imstande ist. Wenn mit Jonas 75 gilt, daß „... die Naturwissenschaften entstehen, als die Natur zum Objekt wird, die ökonomische Theorie entsteht, als der Mensch zum Subjekt wird ...", dann muß es nachdenklich stimmen, wenn für beide Disziplinen vom Prinzip her derselbe formale Apparat hinreichende Beschreibungen liefern soll.

2.4 Metatheorie 2.4.1 Reduktionismus Sobald man von einem bestimmten Erfahrungsbereich sprechen kann, kann dieser zumindest teilweise auch einer formalen Beschreibung unterzogen werden. Alle Erfahrung ist immer auch mit der Bewußtwerdung von Struktur (Invarianz, Wiederholung) gekoppelt und da die Mathematik als die Lehre von den formalen Strukturen in abstrakten Räumen angesehen werden kann, bietet sie sich zunächst als Beschreibungssprache der erkannten Struktur des Erfahrungsbereichs an. Von einer formalen Beschreibung kann deshalb gesprochen werden, weil die mathematische Darstellung sowohl bezüglich der Elemente, als auch der Relationen (Struktur) auf die inhaltliche Deutung verzichtet; Gegenstand der Betrachtung wird ausschließlich die Form. Andererseits bedeutet mathematische Beschreibung aber auch immer den Versuch, den Erfahrungsbe75

Jonas, S.221.

70

2. Formale Systeme

reich an die Bedingungen des Formalismus anzupassen, Bedingungen, wie sie in den vorangegangenen Abschnitten diskutiert worden sind. Angenommen, wir wollen einen sozialen Bereich durch ein formales System ausdrücken. Dieser Bereich sei zum Beispiel dadurch gekennzeichnet, daß die in ihm auftretenden Aktivitäten durch ein interdependentes Verhalten vieler sozialer Gruppen und Organisationen geprägt sind. Für den Beschreibenden liegt es dann nahe, einen abstrakten Beschreibungsraum (-menge) zu wählen, in dem unter anderem die genannten Akteure, das heißt die Verbände und Organisationen, als Punkte (Elemente der Mengen) erscheinen. M i t der Entscheidung für einen bestimmten abstrakten Raum ist allerdings ein weitgehender Verzicht hinsichtlich der Beschreibungsfreiheit verbunden. Denn nach dem Identitätspostulat der Logik müssen die Elemente, die Menge selbst und die durch die Relationen der Menge aufgeprägte Struktur gegenüber der Beschreibung unveränderlich sein. Bezüglich unseres Beispiels und dem gewählten Darstellungsraum bedeutet diese Festlegung jedoch eine unzumutbare Einschränkung. Die Elementarakteure, in unserem Fall vertreten durch Verbände und Organisationen, unterliegen nämlich selbst einem nicht vernachlässigbarem Wandel. Der Beschreibungsansatz ist demzufolge nicht aufrechtzuerhalten, ohne das Identitätspostulat zu verletzen, ohne daß der gewählte Raum logisch inkonsistent würde. Damit scheitert ein derartiger Ansatz jedoch nicht grundsätzlich. Als Ausweg bietet sich eine reduktionistische Systemerweiterung an. Man wählt danach die Elemente (Punkte) des abstrakten Raumes genügend klein — genügend, das heißt, bis die Annahme der Invarianz dieser Elemente aller Wahrscheinlichkeit nach höchstens einen unbedeutenden Einfluß auf den Beschreibungsverlauf hat. In unserem Beispiel wählt man etwa einzelne Individuen statt Verbände. Sollte sich aufgrund der Systemerweiterung die analytische Erfassung des Erfahrungsbereichs als zu schwierig erweisen, wird in der Regel die Problematik in der Komplexität der Vielheit 1 vermutet und nicht in dem grundsätzlichen Unvermögen originäre Veränderung abzubilden. Eben dieses Unvermögen ist aber der Grund, daß überhaupt eine Systemerweiterung vorgenommen werden muß. Formalismen weisen somit eine inhärente Tendenz zum Reduktionismus auf, mehr noch: Reduktionismus und Formalismus bedingen einander. Wenn in den gewählten Erfahrungsbereichen immer logische Atome gefunden werden können, die den genannten Forderungen nach Invarianz hinreichend entsprechen, muß der formale Weg selbst nicht in Frage gestellt werden; der Erfahrungsbereich kann dann durch die formale Beschreibung genügend approximiert werden. Nicht immer jedoch ist der reduktionistische Weg der Systemerweiterung zweckmäßig. Das logische Atom in der theoretischen Ökonomik (speziell der allgemeinen Gleichgewichtstheorie) wird durch das allgemeine Wirtschaftssub1

Z.B. Rapoport, 1968 (1), S.XV ff.

2.4 Metatheorie

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jekt repräsentiert. Ein normales Subjekt verändert sich aber autonom (nicht zuletzt deswegen spricht man ja auch von einem Subjekt). Es gewinnt neue Erkenntnisse, wechselt seine Einstellung, macht Erfindungen und erwirbt Erfahrungen. Im Wege der reduktionistischen Systemerweiterungen müßte daher das Subjekt z.B. durch Bündel von Nervenzellen, Motivkonglomerate ersetzt werden. Eine Theorie wirtschaftlicher Zusammenhänge, in der Zellen, Motive, Triebe und ähnliches statt der Subjekte auftauchen, würde sich aber ziemlich sonderbar ausmachen. Als Ausweg aus dem Dilemma erweist sich in so einem Fall zum Beispiel die Annahme vollständiger Information, mittels der die das Subjekt kennzeichnenden Veränderungen eliminiert werden können. Der autonome Wandel der Elemente wird dabei durch spezielle Anforderungen an die Raumstruktur verhindert, indem Erfahrungen, Wissen, Erfindungen usw. bereits als endgültig vorausgesetzt werden. Wie wir sehen werden, gibt es schließlich noch Fälle, bei denen die reduktionistische Systemerweiterung grundsätzlich scheitert.

2.4.2 Sprache und Form U m Erfahrungen kommunizierbar zu machen, wird man sich sinnvollerweise einer Sprache bedienen, die die spezifische Struktur der Erfahrung möglichst eindeutig wiedergibt. Das heißt aber, daß schon die allerersten Erwägungen den Gebrauch formaler Sprachen nahelegen, beziehungsweise den Gebrauch der Mathematik, die eben das gesuchte Paradigma der Exaktheit, Gewißheit und Eindeutigkeit verkörpert. Die Mathematisierung der Wissenschaften wäre demnach nur eine Konsequenz elementarer ökonomischer Überlegungen. Dies gibt Anlaß zu der Frage, ob es nicht überhaupt sinnvoll wäre, zu versuchen die Umgangssprache solange zu normieren und zu standardisieren, bis sie vollständig in formale Kalküle aufgegangen ist 2 . Kann unsere Umgangssprache somit vielleicht als ein bloßes evolutionäres Zwischenspiel begriffen werden, eine Sackgasse, aus der uns der Formalismus wieder herausführen kann? Liegt die Zukunft vielleicht in den digitalen Maschinen heutiger Konzeption, die irgendwann die Evolution weiterführen werden? Solche und ähnliche Fragen können mit einem klaren Nein beantworten werden. Der Grund dafür liegt nach C.F.w. Weizsäcker 3 darin, daß ein jeder Versuch, einen Teil der Sprache präzise und eindeutig zu identifizieren, schon den Gebrauch der natürlichen Sprache impliziert, auch soweit diese nicht eindeutig ist. Weder Begriffe noch Axiome sind aus sich heraus schon eindeutig und präzise, sie können lediglich vor dem Hintergrund der natürlichen Umgangssprache als solche vermutet werden. 2 Das Argument, daß die Welt dann gefühlskalt würde, ist mir hier zu dünn, selbst wenn es irgendwo einen richtigen Kern haben sollte. Was spricht denn dagegen, daß man Gefühle ähnlich wie Musik digitalisieren kann? 3 C.F.v.Weizsäcker, 1971, S.56.

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2. Formale Systeme

Das Arbeiten mit formalen Kalkülen bedingt das Beherrschen der logischen Schlußregeln. Diese Schlußregeln sind aber immer in der Umgangssprache formuliert. Nach Frey 4 setzen daher alle Logikkalküle ein Residuum der natürlichen Sprache voraus, sie sind nicht völlig von der Umgangssprache ablösbar. Damit sind aber alle nur denkbaren Formalsysteme notwendigerweise eingebettet in eine solche Umgangssprache. Bestimmte Begriffe lassen sich innerhalb formaler Sprachen überhaupt nicht definieren; dazu gehören nach Ergebnissen von Tarski insbesondere die Begriffe „wahr" und „falsch" 5 . Der Wahrheitsbegriff für einen Kalkül setzt zu seiner Definition einen umfassenderen Kalkül voraus, und der Wahrheitsbegriff für letzteren einen noch umfassenderen etc. Zwar kann man damit stets einen Wahrheitsbegriff für Kalküle gewinnen, nie aber für die natürliche Sprache selbst; andererseits kann man aber die Kalküle nur erklären, indem man die natürliche Sprache benützt und dabei ständig voraussetzt, daß man in ihr wahre Sätze von falschen in irgendeinem., praktisch hinreichenden Umfang unterscheiden kann 6 . Die Begriffe, die nicht innerhalb einer formalen Sprache definierbar sind, lassen sich durch ihren reflexiven Charakter (vgl. Abschnitt 2.3.2) kennzeichnen. Das Prädikat „wahr" wird beispielsweise in einer Aussage in designierender Funktion bezüglich einer anderen Aussage verwendet. Die Aussage „die Aussage A ist wahr" drückt das Ergebnis einer Reflexion über die Aussage A aus, die Aussage A wird vorausgesetzt. Das Prädikat „wahr" erscheint also in Aussagen, die auf andere, bereits vorhandene bezogen sind. Solche Aussagen, die sich auf andere beziehen, sind Aussagen einer Metasprache, während diejenigen, auf die diese Aussagen bezogen sind, einer Objektsprache zugerechnet werden 7 . In der Metasprache werden die Regeln fixiert, die in der Objektsprache verwendet werden. Bezüglich eines Formalismus ist die natürliche Metasprache zunächst immer die Umgangssprache, nach dem oben Gesagten ist die Umgangssprache diejenige Metasprache, aus der jede beliebige Objektsprache entwickelt wird. Zu jeder formalen Objektsprache kann man auch eine formale Metasprache und ebenso eine formale Meta-Metasprache entwickeln. Die oberste Metasprache bleibt jedoch immer die Umgangssprache, sonst entsteht ein unendlicher Regreß. Gegenüber der Umgangssprache ist somit jeder Formalismus eine Objektsprache, eine Bezeichnung, die zugleich darauf hindeutet, daß die Funktion der Objektsprache die Objektivierung der Erfahrung ist 8 . 4

Frey S.52 und 54. Genauso schreibt A.M.K. Müller, 1972, S.209: „Die Umgangssprache hat stets die Priorität vor jeder formalisierbaren Sprache, denn eine solche läßt sich gar nicht anders definieren als mit Hilfe der Umgangssprache." 5 Vergleiche C.F.V.Weizsäcker, 1971, S.59 und Frey, S.51. Siehe insbesondere auch weiter unten. 6 Gemäß C.F.v.Weizsäcker, 1971, S.59. Man beachte die unvermeidliche Zirkularität! 7 Zu Definition der Objekt- und Metasprache vergleiche z.B. Stegmüller, S.413 ff., Beckmann, S.l41 ff.

2.4 Metatheorie

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Zwischen Formalsprache und Umgangssprache ergeben sich bereits aufgrund dieser knappen Typisierung wichtige Unterschiede. Der hierarchisch klar gestaffelte Aufbau formaler Sprachen, die jeweils Aussagen über den in der Hierarchie nächst niedrigeren Formalismus erlauben, verweist auf eine offene Systemstruktur in dem Sinne, daß die Hierarchie der Metaebenen der Formalsprachen prinzipiell unbegrenzt ist. Ähnlich wie bei den natürlichen Zahlen läßt sich jeweils ein Nachfolger konstruieren. Ganz anders die natürliche Sprache, die einen geschlossenen, eher holistischen Aufbau offenbart, denn sie ist sowohl Objektsprache als auch zugleich ihre eigene Metasprache. Deutlich wird das in diesem Satz, den ich soeben hinschreibe und auf den ich mich nur beziehen kann, weil er zugleich beide Ebenen umfaßt und nicht nur diese, denn durch den Hinweis, daß die Sätze der obigen Diskussion sich sowohl auf alle Formalismen und die Alltagssprache beziehen, ist er diesen Sätzen und der Umgangssprache gegenüber aus der Metasprache und bezüglich der Formalismen aus der Meta-Meta...-Sprache, der Meta°°-Sprache. Die Ausdrucksstärke eines beliebigen Formalismus hinsichtlich evolutionärer Prozesse läßt sich nun sehr leicht abschätzen, wenn man den Formalismus, etwa die Mathematik, als sich evolutionär entwicklendes System begreift, was er zweifellos auch ist. Dann nämlich kann man die Frage, ob Mathematik evolutionäre Systeme beschreiben kann, am besten damit beantworten, daß man untersucht, welche Aussagen die Mathematik über sich selbst machen kann. Genau darin sind aber den Formalismen nach den Ergebnissen von Tarski (siehe oben), Gödel, Church , Russell u.a., die wir gleich noch näher erläutern werden, grundsätzliche Grenzen gesetzt; es lassen sich, wie wir gesehen haben, nicht einmal alle dazu notwendigen Prädikate widerspruchsfrei definieren. Nach Frey 9 gilt allgemein: „Das entscheidende Charakteristikum aller formalisierten Kalküle besteht darin, daß in solchen Formalsprachen nicht über diese selbst gesprochen werden kann."

Demzufolge kann Mathematik ein soziales System beziehungsweise die Gesellschaft, die eben diese Mathematik kreiert hat, auch niemals hinreichend (im Sinne der Orientierung) abbilden. Das dem formalen Denken als Thema korrespondierende Sein der klassischen Logik schließt sich selbst gegenüber allem Denken aus: es ist allem Denken ein objektiver und damit nicht selbst denkender Realzusammenhang, oder: „Das Thema der klassischen Logik ist reflektionsloses Sein, das unfähig ist, sich ein Bild von sich selber zu machen." Günther 10 8

Vergleiche Frey, S.l28 ff. Frey, S.52. 10 Günther, S.l09; vgl. auch ein inhaltlich analoges Zitat von Hegel bei Günther (2), S.376. 9

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2. Formale Systeme

2.4.3 Reflexive Formen Es ist genau die Reflexivität, die wir in obigen Abschnitten durch das Schließen der Koordinatensysteme des Denkens oder mit der sich selbst gegenüberstehenden Komplexität, in der die strikte Subjekt-Objekt-Trennung aufgehoben ist, umschrieben haben, die die Grenzen der formalen Ausdrucksfahigkeit markiert. Die Schwierigkeiten mit der Definition des Wahrheitsbegriffs unter dem man gewöhnlich „adaequatio rei et intellectus", das heißt unmittelbare Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein versteht 11 , treten zum Beispiel dann auf, wenn das Sein aufgrund der Reflexivität der Aussage nicht mehr widerspruchsfrei im Sinne der Logik gedacht werden kann. Eine Aussage A ist wahr genau dann, wenn der von A behauptete Sachverhalt stimmt. Soweit bewegen wir uns noch voll im Rahmen der Definition „adaequatio rei et intellectus". Was aber, wenn wir für A „das Behauptete ist unwahr" einsetzen? Der Satz lautet dann: Die Aussage „das hier Behauptete ist unwahr" ist wahr, wenn das hier Behauptete unwahr ist.

Offensichtlich führt diese Konstruktion innerhalb der gewohnten logischen Kategorien zum Kollaps. M i t den oben erläuterten Begriffen der „Objektsprache" und der „Metasprache" läßt sich die Situation leicht erläutern: Die objektsprachliche Aussage „das hier Behauptete ist unwahr" hält sich nicht an die Spielregeln, wonach sie sich der Meta-Aussage unterzuordnen hat, sie greift selbst auf den Metasatz über, sie ist gegenüber demselben Gegenstand Objektund Meta-Aussage zugleich — ein Zirkel entsteht 12 . Es folgt, wie bereits erwähnt, daß der einem Formalismus zugehörige Wahrheitsbegriff wegen seines metasprachlichen Charakters innerhalb dieses Formalismus nicht definiert werden kann. Zudem gilt nach einem auf Tarski zurückgehenden Ergebnis 13 , da die Umgangssprache immer zugleich sich selbst gegenüber Objekt- und Metasprache ist, daß für die natürliche Sprache eine eindeutige Wahrheitsdefinition überhaupt unmöglich ist. Ähnliche Probleme würden bei einer Diskussion der Eindeutigkeit des Eindeutigkeitsbegriffs auftreten. Es wird nun unmittelbar einsichtig, daß Formalismen durch reflexive Konstruktionen wie derjenigen zum Wahrheitsbegriff, überfordert sind. Wie weiter oben besprochen, können formale Aussagen immer in Implikationen 11 Vergleiche z.B. C.F.Y. Weizsäcker, 1971, S.57 f. und Günther, S.379 (2). Man beachte vor allem die erneut zentrale Funktion des Symmetrie- oder Wiederholungsgedankens, wie sie im Begriff „adaequatio" zum Ausdruck kommt. 12 Dieser Zirkel ist äquivalent zu der in Kap.2.3.3 geforderten geschlossenen Organisation rekursiver Funktionen, die durch strikte Ordnungsrelation zwischen Funktion und Argument ausgeschlossen ist. 13 Vergleiche C.F.w.Weizsäcker, 1971, S.59.

2.4 Metatheorie

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eingekleidet werden, was diese nicht zuletzt vor der Auseinandersetzung mit der sogenannten Realität bewahrt. Letztlich taucht aber gerade dieses Problem in den reflexiven Konstruktionen wieder auf, indem der Vordersatz, die „wenn"Komponente, den gewohnten Charakter verliert. Vergegenwärtigen wir uns dazu nochmals den Satz zum Wahrheitsbegriff. Das „dann" des Hintersatzes greift, selbst zur Meta-Aussage geworden, in das „wenn" des Vordersatzes ein und transformiert dieses in seinem Inhalt, so daß infolge des veränderten Vordersatzes sich auch der Hintersatz verändert und dieser wiederum ... Die mögliche und logisch notwendige Identität des Vordersatzes wird für den Hintersatz zweifelhaft, im logischen Sinne kollabiert das System. Bevor wir die bereits eingeleitete Interpretation reflexiver Strukturen vertiefen, zunächst noch ein paar Beispiele, durch die ein breiterer Zugang zu diesen ungewohnten Formen möglich wird. Reflexive Strukturen 14 , wie die zum Wahrheitsbegriff gebildete, sind schon seit dem Altertum bekannt. Die wohl berühmteste ist das Paradox des Epimenides, sie handelt von dem Kreter, der behauptet, daß alle Kreter lügen. Logisch betrachtet, spricht der Kreter genau dann die Wahrheit, wenn er lügt. In seiner konzentriertesten Fassung lautet das Epimenides-Paradox einfach „ich lüge". Paradoxien, die nicht, wie die von Zeno mit seiner Schildkröte, die der schnelle Achilles nicht einholen kann, mit den heutigen Kenntnissen gelöst werden können (bei Zeno genügt z.B. die Grenzwertbildung), werden von Quine 15 Antinomien genannt. Antinomien sind Paradoxien, die logische Selbstwidersprüche innerhalb scheinbar vernünftiger Schlußweisen hervorrufen. Sie haben wegen der Selbstwidersprüche übrigens alle einen reflexiven Charakter. Auf eine solche Antinomie führt z. B. das Prädikat „heterologisch" (Gre//wgs-Paradox). Eine Eigenschaft heißt „heterologisch", wenn die durch das Wort bezeichnete Eigenschaft diesem Wort nicht selbst zukommt. Zum Beispiel ist das Wort „kurz" nicht heterologisch, denn das Wort „kurz" ist selbst kurz, während jedoch die Prädikate „lang", „unaussprechlich" oder „glitzernd" heterologisch sind. Ist nun aber das Prädikat „heterologisch" selbst heterologisch? Angenommen nicht, dann kommt die durch das Wort ausgedrückte Eigenschaft diesem nicht zu, dann muß es aber heterologisch sein. D.h. gemäß dem tertium non datur dürfen wir nur noch annehmen, daß „heterologisch" heterologisch ist, mit dieser Annahme stoßen wir aber auf einen erneuten Widerspruch. In der Mathematik traten die Antinomien zuerst in der Mengenlehre auf, zunächst bei Cantor , der sich die Frage stellte, ob es eine größte Menge gibt, die „Menge aller Mengen". Diese Menge müßte alle ihre Teilmengen als Element enthalten und wäre somit zumindest gleich mächtig der Menge aller Teilmengen von sich selbst. Dies steht aber im Widerspruch zu einem von Cantor selbst 14

Eine gute und leicht verständliche Darstellung verschiedener Paradoxien findet sich bei Quine, 1962. 15 Ebenda, S.201.

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2. Formale Systeme

bewiesenen Ergebnis, daß nämlich die Kardinalzahl der Menge von Teilmengen einer Menge stets größer ist, als die der Menge selbst. Wesentlich bekannter noch ist die Antinomie von Russell, der das Gesetz der Abstraktion (auch Komprehensionsgesetz) in seiner weitesten Fassung mit der Entdeckung zu Fall brachte, daß es keine Menge gibt, die all diejenigen Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten. Die Nachricht von dieser Antinomie schlug in der Fachwelt wie eine Bombe ein. Von Frege z.B. wird bei Quine 16 der Ausspruch „arithmetic totters" überliefert. Eine vereinfachte Fassung der Russellschen Antinomie ist die bekannte Paradoxie des Barbiers, der alle diejenigen rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Wenn er sich selbst rasiert, dann rasiert er sich nicht, und wenn er sich nicht rasiert, dann... Damit wurde erst eine kleine Auswahl der bisher bekannten Antinomien angesprochen; sie genügt aber schon, um das immer wiederkehrende Prinzip der negativen Reflexion zu erläutern. In den Antinomien tritt eine neue Art der Wiederholung auf, bzw. eine neuartige Symmetrie, die wir bei den bisherigen Überlegungen vernachlässigen konnten. Während gewöhnlich die Wiederholung nur im Objektbereich auftritt und daher im objektivierenden Sinne als Element oder auch Struktur formal erfaßt werden kann, weil nämlich die Erfassung selbst diesen Bereich nicht tangiert 17 und gewissermaßen außerhalb steht, begegnet uns nun ein inhaltlicher Sachverhalt, zwar ebenfalls wiederholt, aber in einem nicht auf einen Objektbereich reduzierbaren Zusammenhang. Im Gegensatz zum Feedback bei den rekursiven Funktionen, das durch jeden einen Regelkreis nach festen Gesetzen steuernden Automaten repräsentiert wird, entspricht den Antinomien ein „Automat", der sich selbst ein- und ausschalten oder sich selbst weiterbauen könnte. Hier werden durch die Symmetrien unterschiedliche Informationsniveaus verknüpft. Der Kreter erscheint sowohl als beobachtendes Subjekt, der einen, nach seiner Aussage sich zeitlich wiederholenden Sachverhalt (alle Kreter lügen) wiedergibt, gleichzeitig ist er aber selbst Teil des von ihm behaupteten Tatbestandes. Analog ist die Menge aller Mengen kein, auf einen gewöhnlichen Gegenstand hinweisender Begriff, derart, daß man im weitesten Sinne von einem Abstand zwischen der Menge, dem Definiendum und ihren Elementen, dem Definiens sprechen könnte, denn die Menge aller Mengen müßte sich selbst enthalten 18 . Die weiter oben eingeführte Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache läßt sich bei den Antinomien nicht mehr einwandfrei aufrechterhalten; Objekt16

Ebenda, S.206. Man beachte die Analogie zur Unschärferelation der Quantenphysik, vergleiche auch Kap.3.3 . 18 Damit ist die Menge aller Mengen nicht allein durch die Komplexität der Vielheit ausgezeichnet, welche sich automatisch über die ungeheuere Elementezahl einstellt, Komplexität entsteht zusätzlich durch die inhärente Reflexivität des Ausdrucks. 17

2.4 Metatheorie

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und Metabereich werden miteinander verschränkt. Wenn wir ähnlich wie bei Russell 19 von einem verallgemeinerten Subjektbegriff ausgehen, indem die Teile in einem sprachlichen Zusammenhang, die logische Orte verkörpern, von denen Aussagen über andere Teile des Zusammenhangs innerhalb desselben gemacht werden (können), als Subjekte angesehen werden, dann können wir auch sagen, daß die eindeutige Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt verloren gegangen ist. Besonders natürlich erscheint diese Interpretation in der Antinomie von Epimenides. Der Kreter macht nicht wie gewöhnlich eine Beobachtung als Außenstehender, er ist selbst in den Beobachtungsraum involviert, er ist nicht nur Beobachter sondern auch Beobachteter und damit Partizipierender, er ist Subjekt und Objekt zugleich. Bei den bisher diskutierten Entdeckungen von Symmetrien oder Wiederholungen, die Teil eines Objektbereichs waren, konnte es nur deswegen nicht zu einer Verletzung der klassischen Logik kommen, weil es immer möglich war, den Entdecker als einen außenstehenden Beobachter zu verstehen, der ein Objekt entdeckt, ohne daß der Beobachtungsraum selbst dadurch gestört wurde. Das Ich ist danach immer das, was der Welt gegenüber steht, sie vielleicht vom Verstehen her begründet, das sich jedoch immer selbst aus dem empirischen Bereich ausnimmt. I m Extremfall erscheint so das Ich in Gestalt des Laplacesehen Dämons 20 der Physik, eine fiktive Intelligenz, welche in einem gegebenen Augenblick alle Determinanten des Universums, seien es Massenkräfte oder strukturelle Zusammenhänge auf einmal erfassen und analysieren kann, welche somit in der Lage wäre, die Entwicklung des Universums sowohl in die Vergangenheit wie in Zukunft hinein zu überblicken. In dieser Beschreibung des Dämons wäre der Reduktionismus auf die Spitze getrieben, die Elemente der Welt wären die Atome 2 1 , das letzthin Unteilbare und für immer Beständige; weiters wäre die Kreativität zu einem streng rationalen Prozeß verkümmert; die Welt wäre Sein und der Dämon Nicht-Sein; die Welt wäre eine maschinenhafte Tautologie und der Dämon stünde notwendig außerhalb, außerhalb von all dem, dem überhaupt ein Ort zukommen kann. In jenen, vordem der Reflexion objektiv vorgegebenen, irreflexiven Realzusammenhang tritt nun mit der neuen Qualität der Symmetrie in den Antinomien die Reflexion selbst als Bestandteil ein — eine völlig neue Situation entsteht. Die Veränderung kann jetzt nicht mehr entsprechend der Subjekt-Objekt-Trennung aus dem Beobachtungsfeld weggeleugnet werden. Bezieht sich eine Aussage auf sich selber (z.B. Paradox des Epimenides), so wird sie mit ihrem Entstehungszusammenhang und damit dem sie treffenden Subjekt konfrontiert, ohne aber die von der klassischen Logik geforderte, extramundane Position einnehmen zu können. 19 20 21

Russell, Einführung in die mathematische Philosophie, S.l58 f. Vgl. Prigogine , 1981, S.81 ff. Nicht im physikalischen Sinne.

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2. Formale Systeme

Nehmen wir etwa einen Beobachter in einem sozialen Zusammenhang, der eben diesen Zusammenhang beschreibt. Unvermeidlich transformiert er diesen Zusammenhang im Zuge der Beschreibung; im Partizipieren erwirkt er eine originäre Veränderung. Ein anderes Beispiel ist eine Prognose, von der bekannt ist, daß sie nach Veröffentlichung in den zu prognostizierenden Kontext hineinwirken wird. Das Zutreffen der Prognose erfordert, daß sie ihr eigenes Wirken richtig abschätzt, Prognose und Wirkung müssen synchronisiert sein, die Wirkung wird zum Element der Prognose. Jede mögliche Ausformung der Prognose kann eine anderes Resultat hervorrufen, es können aber auch mehrere Eigenwerte auftreten. Letztlich ist kaum abschätzbar, ob die Prognose einen self-destroying oder self-fulfilling Charakter entfalten wird, insbesondere wenn man zusätzliche Subjekte innerhalb des Kontextes berücksichtigt, die möglicherweise ebenfalls eigene Prognosen erstellen. Reflektiert gar die Logik auf sich selbst, dann stellt sie sich ihren Grundannahmen gemäß selbst in den Rahmen des Seins, aber gerade dieses Stellen transzendiert und sprengt den im Sein intendierten Raum. Im Ergebnis erhalten wir, daß das dem formalen Denken korrespondierende Sein der klassischen Logik in der Reflexion auf sich seine Identität verliert, d.h. es ist gerade das Hauptmotiv der Logik, das den Blick auf die reflexiven Zusammenhänge des zeitlichen Werdens verstellt. Das Auftreten der neuen, sich über mehrere Abstraktionsebenen erstreckenden Symmetrien, definiert einen neuen Beschreibungszusammenhang, in dem nicht nur das Erkannte und Gedachte einem äußeren Erkennenden gegenüber steht, sondern das Erkennen selbst integraler Bestandteil des zu Beschreibenden wird (vgl. a. Kap. 6.3). Nach Hegel ist dies die totale Reflexion als Reflexion-insich der Reflexion-in-sich und anderes 22. Ein so starkes Aufsehen erlangen viele der Antinomien erst über die eingeschaltete Negation (z.B. die Antinomien von Epimenides, Greiling oder Russell). Hätte der Kreter behauptet, alle Kreter sagen die Wahrheit, so würde man diese Behauptung lediglich als etwas eigenartig empfinden. Die Negation aber macht aus der originären Veränderung gleich eine totale Verkehrung des gesamten Sachverhalts, und im Sinne des Gleichzeitigkeitsverständnisses vom Sein (vergleiche Kap.2.2.1) wird diese nicht mehr als Veränderung, sondern als Verletzung des prinzipium contradictionis interpretiert.

22

Günther, (2), S.370.

2.4 Metatheorie

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2.4.4 Strategien der Tabuisierung U m die wissenschaftliche Reaktion auf die Antinomien nachvollziehen zu können, muß man wissen, daß die Sätze der Logik als Notwendigkeitsbehauptungen 23 verstanden werden. Das heißt die Lehrsätze eines Logiksystems müssen im Gegensatz zu denen eines anderen Axiomensystems bei allen Interpretationen bezüglich jedes nicht leeren Gegenstandsbereichs gelten oder mit anderen Worten, es ist keine Welt möglich, in der sie nicht gelten. Infolgedessen konnte das Auftauchen der Antinomien in den Formalsprachen nur bedeuten, daß ein diese ausschließendes Regelsystem gesucht wurde; ein Überdenken der Logiksysteme selbst, war durch den von ihnen erhobenen Unbedingtheitsanspruch ausgeschlossen. Es gibt verschiedene Vorschläge zur Vermeidung von Antinomien, die bekanntesten hiervon werden vertreten durch das Prinzip der Trennung verschiedener Sprachebenen und von der Typentheorie. Das Prinzip der Trennung verschiedener Sprachebenen verlangt die strikte Auseinanderhaltung von Objekt- und Metasprache. Die Zuordnung von Aussagen zu diesen Sprachebenen muß dabei von Fall zu Fall getroffen werden und hängt von der Relation ab, in der die betrachteten Aussagen zueinander stehen. Die Einhaltung der Trennung sichert, daß innerhalb einer Formalsprache niemals Aussagen über die Formalsprache selbst getroffen werden. Eine solche Trennung ist auch in der Umgangssprache relevant. Man macht sich meist nicht klar, daß ohne die Trennung z.B. in der Menge der Nicht-Studenten eben auch die Klasse der Studenten als Element auftreten könnte, da diese Klasse zweifelsfrei kein Student ist. Die andere bislang noch nicht angesprochene Strategie zur Vermeidung paradoxer, reflexiver Aussagen ist die Typentheorie von Russell 24 aus dem Jahre 1908, deren Hauptintention die Einschränkung des Abstraktionsgesetzes auf konsistente Klassen ist. Dieses zunächst recht umfangreiche Regelwerk präsentiert sich heute in einer verbesserten und wesentlich vereinfachten Form, als die sogenannte „Einfache Typentheorie" 25 : Zum Typ 0 gehören die Gegenstände (Individuen) des Denkens. Zum Typ 1 gehören die Klassen, deren Elemente vom Typ 0 sind (also die Eigenschaften der Gegenstände oder auch die Aussagen über die Gegenstände) und zum Typ η + 1 gehören die Klassen, deren Elemente vom Typ η sind, also die Eigenschaften der Eigenschaften vom Typ n. Objekte jedes Typus (außer dem ersten) sind die Klassen von Objekten des vorangegangenen Typus. Die Hauptregel der Typentheorie besagt, daß jeder Begriff zu einem bestimmten Typus gehört und nur auf Ausdrücke niedrigerer Typen mit Sinn bezogen werden kann. 23 24 25

Vgl. Essler, S.l82 und 187. Russell, 1973. Die Beschreibung folgt den Darstellungen von Quine, 1973 und Carnap , 1931, S.95 ff.

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2. Formale Systeme

Bezeichnenderweise verletzt schon die Regel selbst die von ihr aufgestellte Vorschrift, da sie sich auf alle nur denkbaren Typen und somit auch auf sich selbst bezieht. Offensichtlich kann die Reflexivität ebensowenig völlig eliminiert werden, wie die formalen Sprachen unabhängig von der natürlichen Sprache existieren können. Bezüglich der mengentheoretischen Antinomien formuliert Quine 26, als gegenüber der Typentheorie noch gröberes Ausschließungsprinzip: „ I f we withhold our principle of class existence from cases, where the membership condition mentions membership, Russell's antinomy and related ones are no longer forthcoming."

Auch diese Forderung hält sich nicht an das von ihr Geforderte 27 ! Insbesondere entsteht schließlich so die Menge all der eine Menge definierenden Prinzipien, deren Bedingungen nicht „membership" erwähnen. Gemeinsam ist nach Quine (1962, S.207) allen mengentheoretischen Ausschlußprinzipien, daß sie keine Klassen zulassen, die sich selbst als Element enthalten. U m auch die „semantischen" oder „epistemologischen" Antinomien 2 8 , die nicht mengentheoretische Begriffe, wie „wahr von", „beschreibbar" etc. enthalten, fügte Russell noch das „circulus viciosus"-Prinzip ergänzend hinzu: Keine Gesamtheit kann Glieder enthalten, die nur mit Hilfe dieser Gesamtheit definiert werden können 29 .

Demzufolge sind dann auch keine Eigenschaften definierbar, die sich auf „alle Eigenschaften" beziehen. Der Grund für dieses strikte Ausschlußgebaren ist wiederum das Festhalten am Identitätspostulat um jeden Preis. Denn der „Allquantor" einer solchen Definition transzendiert gleichsam seine intendierte Bedeutung durch die Aufnahme des, in der Definition postulierten „verallgemeinerten" Subjekts in den Objektbereich. Die neue Invariante, die neu entdecke Eigenschaft, transformiert die alte „Invariante", die All-Menge, die damit zu einem werdenden evolutiven Objektbereich wird. Durch die Einführung der Typentheorie wird somit das Denkbare in eine unreflektierte Objektwelt zurückversetzt.

26

Quine, 1962, S.206. Wilden, 1972, S.l 22 ff. spricht in diesem Zusammenhang vom „Paradox of Paradox" bzw. vom „Limiting Paradox". Auch Bateson, 1983, S.256 weist auf den Umstand der sich selbst verletzenden Regel hin. 28 Carnap , (1), S.99 auch Quine, 1973, S.186. Zu diesen Antinomien gehört z.B. die von Greiling (heterologisch) oder „die kleinste natürliche Zahl, die nicht mit weniger als 28 deutschen Silben beschreibbar ist" (Berry). 29 Russell, 1973, S.215: „The vicious circles in question all arise from supposing that a collection of objects may contain members which can only be defined by means of the collection as a whole." 27

2.4 Metatheorie

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Nach Quine 30 ist es weiterhin notwendig, nach optimal konsistenten Kombinationen von diesbezüglichen Vorschriften zu suchen. Dabei erweist es sich als nicht ausreichend, einfach die Antinomien-unterdrückenden Vorschriften zu beachten und ansonsten alle Klassen zuzulassen, da diese für sich unproblematischen Klassen zusammen wieder auf neue Wiedersprüche führen können. Bezüglich der vorhandenen Vorschläge schreibt Quine 31 : ^,Each proposed scheme is unnatural, because the natural scheme is the unrestricted one, that the antinomies discredit."

Insbesondere ist nicht einzusehen, warum so harmlose Formulierungen wie „das schnellste Auto seiner Klasse" oder „dieser Satz hat dreißig Buchstaben" zugleich mit den Antinomien verboten sein sollten 32 . Im Wiederspruch zu Morgenstern (1976, S.392) ist die Typentheorie somit keine Lösung, sondern die Verdrängung der Krise, in die das Denken mit der Entdeckung der Antinomien geriet 33 . Die hier vertretene Auffassung ist, daß Antinomien keine Gespenster sind, die es zu verjagen gilt, sondern sie decken die unnatürliche Zerlegung der Welt durch das Identitätspostulat auf und entlarven die Logik als Artefakt, das in seiner strikten Geltung auf die Zusammenhänge, die sich als unreflektierte, leblose Objektbereiche interpretieren lassen, beschränkt bleiben muß.

2.4.5 Meta-Mathematik M i t dem Auftauchen der nichtlösbaren Paradoxien wurden neue Fragestellungen an die Mathematik herangetragen 34, die besonders mit den metasprachlichen Prädikaten „widerspruchsfrei", „vollständig", „unabhängig" und „entscheidbar" verknüpft sind. Die entsprechende mathematische Theorie, die zum Gegenstandsbereich deduktiv axiomatische Theorien hat, wird Meta-Mathematik 3 5 genannt. Die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik wurde zuvor als unmittelbar evident empfunden 36 . Erst mit der Verunsicherung durch die Antinomien wurde sie zum Problem, insbesondere da nach dem vorherrschenden Existenzverständnis mathematischer Strukturen die Widerspruchsfreiheit als „conditio sine qua 30

Quine, 1962, S.207. Ebenda. 32 Zu einer erweiterten Interpretation reflexiver Konstruktionen siehe Kap.5. 33 Vgl. Quine, 1962. „... that the discovery of antinomy is a crisis in the evolution of thought. In general set theory the crisis began 60 years ago and is not yet over." 34 Zum historischen Zusammenhang vergleiche Bourbaki, S.54 ff. 35 Vgl. Lorenzen, S.13, auch Tarski, S.31. 36 Siehe auch Nagel/ Newman, S.58. 31

6

Blaseio

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2. Formale Systeme

non" erachtet wurde und wird. Widerspruchsfrei ist eine formale Theorie, wenn es keinen Satz gibt, der zusammen mit seiner Negation innerhalb der Theorie ableitbar ist; vollständig, wenn man keinen nicht-herleitbaren Satz hinzufügen kann, ohne daß ein Widerspruch entstünde; unabhängig, wenn kein Axiom aus den anderen herleitbar ist; und entscheidbar, wenn es ein festes Verfahren gibt, das zu jeder Aussage der Theorie in fini ter Zeit entscheiden kann, ob diese aus den Axiomen ableitbar ist oder nicht 3 7 . Beispielsweise läßt sich nicht entscheiden, ob der Kreter in der Antinomie von Epimenides gelogen hat oder nicht. Die Ergebnisse, die bis heute zu diesen zentralen Fragen vorliegen, sind im wesentlichen negativ 38 . Den entscheidenden Durchbruch zu ihrer Behandlung erzielte 1931 Gödel mit seinem berühmten Un Vollständigkeitsbeweis. Die Verwirrung, die sein Resultat auch in der Philosophie auslöste, mag ein Gedanke von Quine 39 illustrieren: „Die Gödelsche Entdeckung traf die vorgefaßten Meinungen wie ein Schock. Man hatte allgemein geglaubt, vollständige Beweismethoden für die allgemeine Zahlentheorie, ja für die gesamte Mathematik sei nicht nur im Prinzip möglich, sondern tatsächlich schon vorhanden, zumindest in grober und einfacher Form. Worin besteht die mathematische Wahrheit, wenn nicht in der Möglichkeit des Beweises? Aber so verwirrend die Situation ist, wir müssen uns damit abfinden, daß das Gödelsche Ergebnis nicht von ungefähr aufgestellt wurde. Wir können wohl in seinem Licht neu philosophieren, wegphilosophieren können wir es nicht."

Wir wollen im folgenden nur die Idee des nichttrivialen Gödehch&n Beweises illustrieren; bezüglich einer genaueren, verständlichen, aber dennoch nicht zu umfangreichen Darstellung sei auf die Arbeit von Nagel/ Newman verwiesen 40. Gödel zeigte 41 , daß es möglich ist, zu einem beliebigen Beweisverfahren Β der Zahlentheorie einen Satz S der Zahlentheorie 42 zu konstruieren, der genau dann wahr ist, wenn er nicht beweisbar durch Β ist. Wäre S beweisbar, so ist demzufolge Β nicht widerspruchsfrei, da dann ein falscher Satz bewiesen wäre; ist aber Β widerspruchsfrei, dann ist S auch nicht beweisbar, also Β unvollständig. Insoweit ähnelt der Beweisgang dem Cantorschen Diagonalverfahren, da 37

Zu formal sauberen Definitionen siehe Tarski, Lorenzen, Essler und von Neumann. Sieht man diese Ergebnisse von einem evolutionären Standpunkt, so sind sie eher als Glücksfall zu bewerten. 39 Quine, 1969, S.313. 40 Eine faszinierende Darstellung, jedoch mit knapp tausend Seiten sehr umfangreich, findet sich bei Hof stadter, 1979. 41 Die vorgelegte Skizze orientiert sich an den Darstellungen von Nagel/Newman, Quine, 1969, und einer Kurzfassung der Ergebnisse von Gödel selbst. 42 Mit Sätzen der Zahlentheorie oder Arithmetik sind nach Gödel solche Sätze gemeint, in denen keine anderen Begriffe vorkommen als Addition, Multiplikation, Identität und zwar jeweils bezogen auf natürliche Zahlen, ferner die logischen Verknüpfungen des Aussagenkalküls und schließlich das All- und Existenzzeichen, aber nur bezogen auf Variable, deren Laufbereich die natürlichen Zahlen sind. 38

2.4 Metatheorie

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ausgehend von einer angenommenen Eigenschaft (statt Abzählbarkeit die Vollständigkeit) ein Gegenbeispiel konstruiert wird. Die entscheidende Beweisidee betrifft aber die Konstruktion des Satzes S. Gödel entwirft zunächst eine eineindeutige Abbildung, die jedem Satz der elementaren Zahlentheorie eine Nummer, die sogenannte Gödelnummer zuordnet 4 3 . Dabei ist die Abbildung so gewählt, daß wahren metamathematischen Sätzen immer wahre arithmetische Sätze entsprechen (wahrheitsinvariant). Unter Zuhilfenahme dieser Abbildung wird dann eine Aussage ,A(x)' formuliert, die genau dann bezüglich χ zutrifft, wenn χ die Gödelnummer eines durch Β beweisbaren Satzes ist. Durch einfache Negation entsteht daraus der Satz,nicht A(x)\ der genau dann wahr ist, wenn χ nicht die Gödelnummer eines durch Β beweisbaren Satzes ist. Schließlich zeigt Gödel, daß man χ so wählen kann, daß es genau die Gödelnummer des Satzes ,nicht A(x)' ist, in dem χ vorkommt. Der Satz ist somit genau dann wahr, wenn nicht durch Β beweisbar. Ganz offensichtlich läßt sich eine starke Analogie zu der Antinomie von Epimenides (noch genauer dem Richardschen Paradoxon) in der Konstruktion erkennen. Man könnte nun meinen, hier läge eine Verletzung der in der Russellschen Typenlehre aufgestellten Prinzipien vor, indem ein Satz seine eigene Unbeweisbarkeit behauptet. Diese Gefahr einer Vermischung von Objekt- und Metasprache, ist aber gerade durch die raffinierte Wahl der Gödelschm Abbildung gebannt, die es erlaubt, das metasprachliche Prädikat „beweisbar" mit rein formalen objektsprachlichen Mitteln als Aussage der Zahlentheorie auszudrücken. Durch den zirkulären Charakter dieser reflexiven Kostruktion ist es somit gelungen in die vom Identitätspostulat geschützte Domäne der ahistorischen Gesetzmäßigkeit einzubrechen und dort ein historisches Element zu etablieren. Wir bringen nun noch eine Interpretation, die der Bedeutung des Wiederholungs- bzw. Kognos-Konzepts (vgl. Kap.l, 5 und 6) in diesem Beweis Rechnung trägt. Die Schlüsselrolle des Beweises spielt eine Abbildung, wobei wie bekannt, Abbildungen immer dann verwendet werden, wenn eine bestimmte Struktur invariant von einem System auf ein anderes zu übertragen ist, wenn sich die Struktur wiederholen soll. Hier wird eine Aussage der Metasprache über eine Formel bezüglich χ eindeutig auf die Objektebene übertragen (wahrheitsinvariant, vergleiche weiter oben), sie wird zu einer arithmetischen Formel, die den Metasatz vertritt, eben die Formel, über die der Metasatz spricht (Wiederholung). Diese Formel, die eine Aussage über eine Zahl χ macht, wird mittels der Gödelisierung (wieder Abbildung!, wieder Wiederholung!) selbst zur Zahl, 43 Gödel nutzt dabei die Eindeutigkeit der Primzahlzerlegung der natürlichen Zahlen aus. Jedem Zeichen einer Aussage wird eine unter Umständen recht hohe Primzahlpotenz zugeordnet, die zu den einzelnen Zeichen gehörenden Nummern werden schließlich miteinander multipliziert — es ergibt sich die Gödelnummer. Die entstandenen Zahlenungetüme erreichen mehr als astronomische Größenordnungen, was jedoch für den Beweisgang irrelevant ist. Bezüglich einer ausführlicheren Schilderung vergleiche Nagel/ Newman. 6*

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2. Formale Systeme

sagen wir y, und nun kann man χ so wählen, daß χ = y gilt — damit ist der Kreis von der Metaebene zur Objektebene und zum Objekt über Wiederholungen geschlossen. Zudem gilt: die Menge von Axiomen und Schlußregeln spannt eine Art Zustandsraum der mit diesen Möglichkeiten beweisbaren Sätze auf, und die ursprüngliche Behauptung lautet: Wenn dieser Raum vollständig ist, dann findet sich jede wahre Aussage der Theorie dort wieder, sie wiederholt sich. Gödel entdeckte nun mit Hilfe seiner Abbildung, daß sich gegenüber jedem solchen System eine Konstruktionsmöglichkeit wiederholt (Diagonalisierung), die einen wahren Satz der Theorie liefert, der nicht in diesem Raum liegt, sich also insofern nicht wiederholt. Wir finden wieder die Interferenz von Wiederholungen zweier verschiedener Kontextebenen, ähnlich wie z.B. in Fußnote 11 in Kapitel 2.3.2. Mit Hilfe seines bahnbrechenden Beweises hat Gödel gezeigt, daß zu jedem beliebigen, aber widerspruchsfreien Axiomensystem der Arithmetik immer wahre arithmetische Sätze konstruierbar sind, die aus diesem System nicht abgeleitet werden können, die unentscheidbar sind. Selbst für Systeme mit unendlich vielen Axiomen lassen sich danach immer unentscheidbare arithmetische Sätze gewinnen 44 . Es gibt somit für die Axiomatik, d.h. zugleich für jeden Formalismus eine in ihrem Wesen liegende Begrenzung. Der Erfindungskraft lassen sich damit sogar in einem sehr begrenzten formalen Gebiet, so bezüglich der Entwicklung neuer Beweisverfahren, keine Grenzen setzen45, sie ist prinzipiell unerschöpflich. Für die bisherige (vgl. Kap.2.3.2) und die weitere Argumentation ist das Gödelschz Resultat vor allem in der Interpretation von C.F.Weizsäcker 46 zentral, nach der dieser Satz die prinzipielle Unmöglichkeit einer Theorie aller Möglichkeiten sichert. Aus dem Resultat für die Arithmetik folgt das entsprechende Ergebnis für die Mengentheorie 47 . Eine eigentümliche Ambivalenz tut sich damit auf: Während das Resultat jedes Wissen über Mengen und Zahlen grundsätzlich beschränkt, wird das Wissen in einem anderen Kontext, nämlich das Wissen über das Wissen erheblich bereichert (Vgl. dazu die grundlegende Ambivalenz des KognosKonzepts, besonders in Kap.5). Über die Unvollständigkeit hinaus bewies Gödel 48 den nicht minder zentralen Satz, daß in allen formalen Systemen, für welche die Existenz unentscheidbarer 44

Vergleiche Gödel, S.l50. Vergleiche NageljNewman, S.97. 46 C.F.v. Weizsäcker, 1977, S.585. Die Annahme, die Menge aller Möglichkeiten (oder Erfindungen) müsse jetzt aufgrund von Gödels Resultat als unendlich angesehen werden, trifft noch nicht den Kern. Schließlich würde niemand es als besondere Überraschung, als neue Möglichkeit oder gar als Erfindung akzeptieren, wenn man ihm eine vorher noch nicht gedachte Zahl aus der unendlichen Menge der natürlichen Zahlen präsentierte. 45

47 Vgl. Quine, 1969, S.l 13. Es gilt sogar für alle eigentlichen (d.h. genügend reichhaltigen) mathematischen Systeme (Frey, S.l26).

2.4 Metatheorie

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arithmetischer Sätze gezeigt wurde, insbesondere auch die Aussage der Widerspruchsfreiheit des betreffenden Systems, zu den unentscheidbaren Sätzen gehört. Es ist sogar das Problem, für beliebige axiomatische Theorien zu entscheiden, ob sie entscheidbar oder unentscheidbar sind, seinerseits unentscheidbar 49 . Nach dem zweiten Ergebnis von Gödel kann die Widerspruchsfreiheit der meisten formalen Systeme nur von außen gezeigt werden, d.h. über die intuitive Hinzunahme weiterer Schlußweisen, die in den Systemen selbst nicht formalisierbar sind 50 . Die erweiterten Systeme sind wiederum nur von außen als widerspruchsfrei erkennbar, und so entsteht ein infiniter Regreß, der in jeder Stufe die schöpferische Entwicklung und Hereinnahme neuartiger Schlußweisen voraussetzt. Darin zeigt sich wieder die formalistische Restriktion, daß die Erklärung einer Wirklichkeit selbst niemals Teil dieser Wirklichkeit werden darf: Die Subjekt-Objekt-Dichotomie ist strikt einzuhalten, und dies letztlich, wie gezeigt, um das Postulat der Identität nicht zu verletzen. In ihrer Bedeutung für unser Weltbild sind die Gödelschen Resultate, wie auch die anhaltenden Diskussionen zeigen 51 , längst nicht in ihrer vollen Tragweite ergründet. Insbesondere sind diese Resultate auch im Hinblick auf die Überlegungen zum Problemkreis „artifical intelligence" und damit zugleich zur Formalisierbarkeit menschlichen Verhaltens relevant. Es sind danach immer wahre Aussagen möglich, die ein deduktives System 52 , z.B. eine kybernetische Maschine, niemals erschließen kann, die aber dem nichtformalen System Mensch über metatheoretische Überlegungen, z.B. in der Umgangssprache zugänglich sind. Der Grund liegt immer noch in der der Maschine nicht zugänglichen Reflexivität, sie kann nicht innerhalb des formalen Systems über dieses, d.h. über sich reflektieren, ohne den Formalismus zu sprengen, indem sie die logische Identität verletzt. Um diesen Zusammenhang noch einmal klar zu demonstrieren, sei zum Abschluß noch die Beweisidee des berühmten Haltetheorems skizziert 53 , das die Unmöglichkeit einer formalen Maschine Τ beweist, die zu jeder beliebigen, formalen Maschine T' bei beliebigem Startwert entscheidet, ob T' hält oder nicht 5 4 . Bei diesem Beweis wird mit Funktionen gearbeitet, die auf Zeichenrei48

Gödel, S.150. Lorenzen, S.l39. 50 Ein Beweis der Widerspruchsfreiheit über die Hinzunahme des Prinzips der transfiniten Induktion erfolgte 1936 von Gentzen. 51 Vergleiche Nagel/ Newman oder Hof stadter, 1979. 52 Zur Definition siehe z.B. Tarski, S.33. 53 Für einen ausführlichen Beweis siehe z.B. Paul oder Loeckx. 54 Unter formaler Maschine wird die Turing-Maschine verstanden, die aber alle nur denkbaren formal arbeitenden Maschinen umfasst. Das Haltetheorem ist ebenso in der Theorie der rekursiven Funktionen, der Algorithmentheorie etc. formulierbar (vergleiche Kap.2.3.3, insbesondere die Bemerkung zur Äquivalenz der verschiedenen Ansätze). 49

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2. Formale Systeme

hen operieren, z.B. H(x), wobei χ eine Zeichenreihe und Η eine Funktion vertritt. Dabei ist die Tatsache wesentlich, daß die Funktionen durch Turingmaschinen (T-Maschinen) dargestellt werden können und die Zeichenreihen Beschreibungen von T-Maschinen und damit zugleich der Funktionen sein können. Der Beweis ist ein Widerspruchsbeweis. Erster Schritt: Es wird eine Funktion H(x,y) definiert, wobei χ eine Wortbeschreibung der TMaschine Τ und y der Startwert von Τ ist. Der Funktionswert von Η ist 1, falls Τ hält und 0 sonst. Zweiter Schritt: Der Startwert y der T-Maschine Τ kann ebenfalls die Beschreibung von Τ sein, also statt H(x,y) dann H(x,x). Dritter Schritt: He sei die Einschränkung von Η auf den Argumentebereich x, für den gilt H(x,x) = 0. Vierter Schritt: Sei T(He) eine T-Maschine für He und y eine Wortbeschreibung dieser Maschine. Gefragt ist nun, ob der Wert He(y,y) = 0 ist (d.h. ob T(He) hält), dann wäre He(y,y) definiert und deshalb H(y,y) = l . Hieraus folgt aber im Widerspruch zur Annahme He(y,y)4=0, was jedoch nicht definiert ist et vice versa. Es wird also eine Funktion erklärt, die angibt, ob eine bestimmte TuringMaschine Τ mit einem bestimmten Startwert hält. Mit Τ ist aber die T-Maschine gemeint, die die Funktion selbst beschreibt. Und als Startwert wird ebenfalls eine Beschreibung einer Maschine eingesetzt, und zwar die Bechreibung der Maschine selbst, die auf den Startwert angesetzt ist, und diese ist wiederum gleichzeitig eine Beschreibung der Funktion, die auf beides angewandt wird 5 5 . Man beachte vor allem das erneut wiederholte Auftreten derselben Identität in mehreren Kontextebenen, wodurch eben diese Identität aufgehoben wird. Im Gegensatz zu formalen Kalkülen sind reflexive Zusammenhänge im sozialen Kontext eher die Regel. So bezieht sich sicher nahezu jede Kommunikation nicht ausschließlich auf ein ihr gegenüber Äußeres, sondern reagiert auf den Verlauf und die Ergebnisse der Kommunikation selbst — sie erzeugt den Kontext oder Raum in dem sie sich ereignet. Ebenso ist Kreativität immanent in sozialen Kommunikationszusammenhängen, kaum jemand wird von sich behaupten wollen, daß er dem Gegenüber im Gespräch gar nichts „Neues" mitteilen will, daß er roboterhaft Leerformeln kombiniert, oder wie Orwell 56 beschreibt: „... Winston had a curious feeling that this was not a real human being but some kind of dummy. It was not the man's brain that was speaking, it was his larynx. The stuff that was 55 56

Statt von Maschine könnte man jeweils auch von einem Programm sprechen. Orwell, S.47.

2.5 Symmetriebetrachtung

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coming out of him consisted of words, but it was not speach in the true sense, it was a noise uttered in unconsciousness, like the quacking of a duck."

Gödeh Entdeckung ist nicht nur eine Sensation vom Inhalt her, der die Unerreichbarkeit des Intellekts durch formale Kalküle im klassischen Sinne sichert, indem neue Beweisverfahren immer entdeckt und erfunden werden können. Die Gödehcht Entdeckung ist selbst auch der empirische Beleg dafür, daß das Resultat nicht bloß eine theoretische Möglichkeit bleibt.

2.5 Symmetriebetrachtung Die schon in Kapitel 1 aufgetretenen Symmetriefiguren der Zeitsymmetrie, der Selbstreferenz und des Symmetriewechsels erfahren in Kapitel 2 eine theoretische Fundierung. Die klassische Logik und mit ihr der darauf aufbauende Formalismus erweisen sich als die perfekteste Ausgestaltung zeitlicher Symmetrie (vgl. Kap. 2.2). Als Garant dieser Symmetrie fungiert dabei das Hauptmotiv der Logik, das Identitätspostulat. Die Analyse zeigt, daß jeder Versuch, das Subjekt in die formale Argumentation zur Wiedergabe autonomer Systeme einzubringen, an der Identitätsannahme scheitert, während andererseits die Aufrechterhaltung der Zeitsymmetrie zur Ausblendung des Subjekts führt — es wiederholt sich hier das Wechselspiel zwischen Symmetrieerstellung und -aufgabe. Besonders deutlich kommt dieser Sachverhalt in den Überlegungen zur Dynamik (Kap. 2.3.3) zum Ausdruck, nach denen autonome Dynamik die Zurückwendung invarianter, rekursiver Transformationsregeln auf sich selbst, d.h. Selbstreferenz erfordern würde, wodurch die Invarianz (Zeitsymmetrie) verletzt wäre. In Abschnitt 2.3 wird der Symmetriebegriff selbst in einer allgemeinen, sich auf „Wiederholungen" beziehenden Form präzisiert. Insbesondere kann dabei auch die grundlegende Bedeutung von Symmetrien für die Orientierungsleistung demonstriert werden. Mathematik stellt sich danach als Wissenschaft räumlicher Symmetrien dar — räumlich insofern, da die umfassende zeitliche Symmetrie bereits durch das Identitätspostulat axiomatisch erzwungen wird. Die Entwicklung der Mathematik ist entsprechend als „Suche nach räumlichen Symmetrien" zu verstehen. Der Versuch, diese Entwicklung selbst in einen formalen Kalkül zu überführen, scheitert am Gödelschen Unvollständigkeitssatz (vgl. Kap. 2.3.2 und Kap. 2.4), indem die Inhaltsabstraktheit der Form eben dadurch außer Kraft gesetzt wird, daß der Form durch die Gödelisierung Inhalte über genau diese Form zugewiesen werden. Es kommt zu einer Bedeutungsevolution und damit zu einer Verletzung des Identitätspostulats, welches für den Kalkül einer vollständig entwickelten Arithmetik gelten müßte. Zentrale Symmetrie dieser Konstruktion ist die Selbstreferenz hinsichtlich Inhalt und Form — das symmetrische Wechselspiel zwischen Symbol und Symbolisiertem (Selbstreferenz) verhindert die Subsumption der Entwicklung

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2. Formale Systeme

zeitsymmetrischer, d.h. räumlicher Symmetrien (des Formalismus) unter die Kategorie der zeitsymmetrischen Strukturen selbst. Selbstreferenz in diesem Zusammenhang erweist sich als inkompatibel zur Zeitsymmetrie, d.h. die Thematisierung der Entwicklung bedingt einen Symmetriewechsel.

3. Mathematik der Evolution 3.1 Der Anspruch moderner formaler Methoden „Dans cette vision de la science, seul le mathématicien, qui sait caractériser et engendrer les formes stables à longue portée, a le droit d'utiliser les concepts (mathématiques); seul, au fond, il a le droit d'être intelligent." Thom 1 „Catastrophe theory is a new mathematical method for describing the evolution of forms in nature." Zeeman 2 Z w a r lassen sich aus der vorangehenden Diskussion über die Grundlagen M a t h e m a t i k die Möglichkeiten u n d die Grenzen formaler Beschreibungen, auf eben diesen Grundlagen aufbauen, bereits abschätzen, dennoch zeigen obigen Zitate, wie v o n einigen Exponenten neuerer formaler Entwicklungen sich aus den Grundlagen ergebenden Restriktionen ignoriert oder doch wie Prigogine zumindest versteckt werden.

der die die die bei

„We recognize that we are beginning to clarify these notions of ,invention4 and elaboration of what is absolutely new4 by the mechanism of successive instabilities caused by critical fluctuations. 44 „The discovery of such mechanisms, which play such an essential role in a vast domain stretching from physics to sociology, is obviously a preliminary step toward some harmonisation of the points of view developed in these different sciences.'4 Prigogine 3 Die Gefahr dieser neuen, meist komplizierten Ansätze liegt i n der mystifizierenden Präsentation des zugrundeliegenden Formalismus. Oftmals w i r d nur soviel erläutert, daß die Akzeptanz des Lesers gesichert ist, dieser aber nicht i n die Lage versetzt wird, das Instrumentarium selbst zu beherrschen 4 . Statt der 1

Thom, 1975, S.373. Thom ist der mathematische Begründer der Katastrophentheorie. Zeeman (1), S.l. Zeeman ist einer der bekanntesten Vertreter mit einer Unzahl einschlägiger Veröffentlichungen. 3 Prigogine , 1976, S. 126. Er erhielt für seine Theorie der „dissipativen Strukturen 44 1977 den Nobelpreis. 4 Vergleiche insbesondere z.B. die Einführung der wichtigen „Mastergleichung 44 bei Prigogine in seiner Arbeit „Vom Sein zum Werden 44, die umfangreiche Präsentation der verschiedenen Entwicklungen bei Haken, 1982, bevor das eigentliche Gebiet thematisiert wird, und die überaus abstrakte, differentialtopologische Einführung in die Katastrophentheorie bei Ursprung, die für Nichtmathematiker eine beinahe unüberwindbare Anfangshürde darstellen muß. 2

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3. Mathematik der Evolution

verständlichen formalen Unterweisung wird dafür eine freizügige Interpretation angeboten, die wie bei Prigogine/ Stengers (1981) z.B. mit den Begriffen Kommunikation und Evolution nicht geizt, obwohl die Erfahrungen mit der Informationstheorie längst gezeigt haben, welch bislang unüberwindbarer Abstand zwischen menschlicher Kommunikation und dem formalen, syntaktischen Ansatz besteht. Eine Überschätzung der formalen Möglichkeiten wird durch diese Publikationspraxis geradezu provoziert. Aus diesem Grund ist es notwendig, die Relevanz der vorangegangenen Überlegungen auch hinsichtlich neuerer Ansätze zu demonstrieren. Die Tatsache, daß die meist-diskutierten Ansätze, d.h. Katastrophentheorie, Synergetik und Fuzzy-set-Theorie, zugleich diejenigen sind, die einen vehementen Anspruch auf einen breiten Einsatz in den Sozial Wissenschaften erheben 5, schließt somit den Kreis von den Erörterungen der Grundlagenproblematik formaler Ansätze zu aktuellen Fragestellungen, insbesondere zu Fragestellungen in der Ökonomik hinsichtlich der Erfassung von Strukturwandel bzw. allgemein evolutionären Entwicklungen. A n den Anfang der Besprechung moderner Ansätze wird in Abschnitt 3.2 die Darstellung der eng verwandten Theorien „Synergetics", „Dissipative Strukturen" und „Katastrophentheorie" geteilt, an die sich in Abschnitt 3.3 Überlegungen zu Zadehs „Fuzzy-set-Ansatz" anschließen.

3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen 3.2.1 Nichtlineare Geometrien der System-Zustandsräume in der Katastrophentheorie Ein dynamisches System S mit den Elementen x(i) 0 < i < n und dem aus den Elementen gebildeten Zustandsvektor χ wird gewöhnlich durch eine Anzahl von Differentialgleichungen beschrieben dx(i)/dt = F f (x,t) für 0 < i < n. Die Differentialgleichungen sind, wie in Kapitel 2.3.3 dargelegt, die kontinuierliche Erweiterung rekursiver diskreter Zusammenhänge. Durch die Hereinnahme der Umwelt erfährt die Beschreibung eine natürliche Erweiterung, die die Abgrenzung des Systems nach außen kennzeichnet. Die ursprüngliche Gleichung verändert sich leicht zu dx(i)/dt = Fj(x,u,t), wobei u der die Umwelt charakterisierende Zustandsvektor ist. Je nachdem, welche Zielsetzung der Ansatz verfolgt, kann man nun zwei Richtungen unterscheiden. In einer tritt der Beobachter nicht nur als Beschreibender auf, sondern wird gleichsam in die System-Umwelt-Konstellation involviert, indem er die Kontrollgewalt über bestimmte Umweltparameter u(j) erhält. In dieser Betrachtung ist für den Kontrollierenden die sich selbst überlassene, d.h. autonome 1 Entwicklung des ? Z . B . Weidlich)Haag,

Ilaken,

Prigogine , sowie Zeeman (2).

1980, S.333 ff., das eingange angeführte Zitat von

3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen

91

Systems relativ uninteressant; für ihn ist meist eine Zielfunktion (das kann z.B. ein Funktional L = J(l(x,u,t))dt sein) wichtig, die den für ihn relevanten Aspekt des Systemverhaltens charakterisiert. Unter der Maßgabe, daß vermittels der Variation der Kontrollparameter die Zielfunktion ein Extremum annimmt, entsteht so der bekannte kontrolltheoretische Ansatz, bei dem zum Mittelpunkt der Analyse das Input-Output-Verhalten von S gewählt ist. Unter einer anderen Zielsetzung treten die Umweltparameter mehr in den Hintergrund, sie werden eher als Quelle von Störungen betrachtet, die das System nur gelegentlich in seinem Verhalten merkbar beeinflussen. Diesem Ansatz liegt die Frage nach dem eigentlichen Systemverhalten zugrunde, wie es sich aus den Wechselwirkungen der Elemente ergibt. Dies ist der Ansatz, der in den hier zu besprechenden Theorien verfolgt wird. Dabei kann zur Behandlung der Katastrophentheorie zunächst von der Umwelt, d.h. den exogenen Störungen abgesehen werden, es genügt das Differentialgleichungssystem dx(i)/dt = F(x,t). Ausgangspunkt der Katastrophentheorie ist die Beobachtung, daß viele natürliche Phänomene einen quasi-diskontinuierlichen Charakter aufweisen. Quasi deshalb, da es sich nicht um Nullzeitsprünge handelt, sondern lediglich die systemtypische Reaktionszeit bei bestimmten Verhaltensänderungen erheblich unterschritten wird. Natürliche Phänomene dieser Art sind plötzliche Kriegsausbrüche, Börsenzusammenbrüche, Streikwellen, Wetterumschwünge etc. Die Idee liegt darin begründet, daß man versucht, diesen quasi-diskontinuierlichen Zusammenhang mit den kontinuierlichen analytischen Funktionen der Differentialgleichungssysteme zu modulieren. Betrachten wir dazu z.B. einen einfachen linearen Zusammenhang y = a(0) + a(l)*x(l) + a(2)*x(2) + ... + a(n)*x(n), den wir hier etwa aus einer Menge von empirischen Daten heraus vermittels der Regressionsanalyse geschätzt haben; y sei beispielsweise eine Produktionsfunktion. Aus der Schätzung erhält man gemäß der Linearitätsannahme eine Hyperebene im (n+l)-dimensionalen euklidischen Raum, die durch die Koeffizienten a(i) bestimmt ist. D.h. jedem Wert des x-Vektors ist genau ein Produktionsvolumen zugeordnet. Wenn man den x-Vektor variiert, bewegt man sich annahmegemäß mit dem (y,x(l),...,x(n))-Tupel auf der „linearen" Hyperebene. Mithin ist die Änderung des Produktionsvolumens nur von der Variationsrichtung und dem Variationsbetrag abhängig und nicht vom Ausgangspunkt; überraschende Sprünge sind nicht zu erwarten. Dies ändert sich aber sofort, wenn wir die Hyperebene durch eine Hyperfläche mit einer reichhaltigen morphologischen Struktur, die z.B. auch Singularitäten und Faltungen enthält, ersetzen (vgl. Abb.3-1). 1 Das Attribut autonom wird hier im mathematisch nachvollziehbaren Sinne und nicht im Sinne der Entfaltung von Eigeninitiative wie in den vorhergehenden Überlegungen verstanden.

92

3. Mathematik der Evolution

Die Variation der Produktionsfaktoren x(l) und x(2) kann an bestimmten Stellen nun eine sprunghafte Veränderung des Produktionsvolumens auslösen, etwa bedingt durch den Einsatz einer von katalytischen Prozessen geprägten Produktionstechnologie. Zur Modellierung der Hyperflächen bieten sich Polynome an, die durch geeignete Wahl der Koeffizienten 2 die gewünschten Extrema aufweisen. Das Polynom y = ( x 3 / 3 ) - 9 x besitzt z.B. zwei Extrema, ein Minimum und ein Maximum. Von der einfachen Kurve gelangen wir zu einer gekrümmten Fläche im dreidimensionalen euklidischen Raum, wenn wir einen der Parameter als Variable interpretieren. Wenn wir z.B. 9 durch x(2) ersetzen, erhalten wir ( x ( l ) 3 / 3 ) - x ( 2 ) * x ( l ) = y. Bezeichnen wir dann noch y als x(3), dann ergibt sich die übliche Flächendarstellung: x ( l ) 3 / 3 - x ( 2 ) * x ( l ) - x ( 3 ) = 0 = f(x(l),x(2),x(3))

Diese Fläche f, die als kritische Fläche 3 bezeichnet wird, läßt sich in der Flächendarstellung auch als Gleichung der Extrema eines Polynoms F vierten Grades 4 in der Variablen x(l) formulieren, das wir durch die partielle Integration des linken Teils der Flächengleichung dritten Grades über x(l) erhalten. Es gilt F = x(l ) 4 / l 2 - x(2)*x(l) 2 /2 - x(3)*x(l) - x(4) 2

Nach Rapoport, 1980, S.91, auch Kontrollparameter genannt. Vgl. Sussmann/Zahler, S.145, „critical set" oder Rapoport, 1980, S.89, „Kritische Mannigfaltigkeit", wobei der Begriff Mannigfaltigkeit auch allgemeinere als die von uns betrachteten Fälle umfaßt. Die dynamische Betrachtung wird zeigen, daß es sich hier oft um eine Gleichgewichtsfläche handelt. Der zur Darstellung von F auftretende Parameterwert 1/12 bei der vierten Potenz von x(l) ist willkürlich so gewählt, um bequeme Ableitungswerte zu erhalten. 3

4 Dieses Polynom wird meist als Potential bezeichnet (vgl. Prigogine, 1979, S.l 18 oder Haken, 1982, S.l31 und S.145 f.). Der Grund wird bei der dynamischen Betrachtung unmittelbar klar werden.

3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen

93

und die Gleichung dF/dx(l) = 0 ergibt genau die kritische Fläche. Betrachten wir nun die Eigenschaften der Fläche: x(l) 3 /3 - x(2)*x(l) - x(3) = 0

Um ein unmittelbar anschauliches Bild zu bekommen, stellen wir uns die Fläche gemäß Abbildung 3-2 derart in ein Koordinatensystem gelegt vor, daß x(l) die vertikale Achse bezeichnet. Wir fragen jetzt nach den Stellen der Fläche, an denen diese vertikale Tangenten besitzt, d.h. nach den Stellen, an denen die Geometrie der Fläche das System, das sich auf dieser Fläche bewegt, zu Sprüngen veranlaßt. Das Gebiet mit den vertikalen Tangenten ist eine Singularitätsmenge (x(l),x(2),x(3)). Wir bekommen diese Menge einfach über die Gleichung 5 df/dx(l) = 0.

Nach Auflösung und Einsetzen in f erhält man für unser Beispiel ( + > _ )2x(2) )/x(2) = 3x(3)

Die Menge (x(2),x(3)), die dadurch bestimmt ist, und die anschaulich der Projektion der Singularitätsmenge auf die x(2),x(3)-Ebene entspricht, heißt Katastrophenmenge oder Bifurkationsmenge. Wiederum zeigt schon die Anschauung in Abbildung 2, daß diese Katastrophenmenge den Übergang markiert, an dem die Anzahl der x(l)-Werte, die den Punkten der x(2),x(3)Ebene zugeordnet sind, sich ändert. Aus einer leicht veränderten Perspektive gibt die Katastrophenmenge genau die Stellen an, an denen sich die Anzahl der Extrema des Potentials F bei einer Variation der Parameter x(2) und x(3) ändert. 5 Man beachte, daß derselbe Schritt, der uns aus dem Potential die kritische Fläche liefert, ebenfalls aus der kritischen Fläche die Singularitäten bestimmt.

94

3. Mathematik der Evolution

Die Katastrophenmenge kennzeichnet also die Möglichkeiten, in die sich die ursprüngliche Singularität des Potentials F in seiner einfachsten Form, d.h. F = x(l) 4 /12 - x(4) für x(2) = x(3) = 0 „entfalten" kann. In der kritischen Fläche der Abbildung 2 lassen sich drei Klassen qualitativ verschiedener Punkte unterscheiden, die gewöhnlichen Punkte (Abb.3-3a), die Faltungspunkte (Abb.3-3b) und die Kuspe (Abb.3-3c).

a

b Abb.3-3

Schließlich sind in Abb.3-2 noch mögliche Wege des Systems sowohl mit als auch ohne diskontinuierliche Übergänge (Katastrophen) eingezeichnet. Die Eigenschaften der verschiedenen Systemtrajektorien brauchen hier nicht eigens erörtert zu werden, sie sind unmittelbar aus der Abb. 3-2 ablesbar 6. Für ein Anwendungsbeispiel kann man sich etwa eine Funktion vorstellen, die die Produktion x(l) von Gütern in Abhängigkeit von der Nachfrage x(3) und der bei der Produktion eingesetzten Technologiemenge x(2) wiedergibt. Man kann sich dazu vergegenwärtigen, daß bei bestimmten hochtechnisierten Produktionsverläufen mit entsprechend hohem Splittingfaktor x(2) erst eine beträchtliche Steigerung der Nachfrage abgewartet wird, bis die zur Erhöhung der Produktion notwendige Erweiterung des Maschinenparks vorgenommen wird (Weg 4 in Abb.3-2). Ebenso ist denkbar, daß bei vielen nichttechnisierten Produktionsvorgängen eine einigermaßen kontinuierliche Ausweitung der Produktion mit dem Anstieg der Nachfrage möglich ist (Weg 1), sofern nicht andere Restriktionen, etwa über den Arbeitsmarkt, hineinwirken. Die zur Demonstration ausgewählten Funktionen f bzw. F erscheinen zunächst als ziemlich willkürlich herausgegriffen. Grundsätzlich müßte man bei einem Potential vierten Grades 7 x(2)*x(l) 4 + x(3)*x(l) 3 + x(4)*x(l ) 2 + x(5)*x(l ) + x(6) = a*x 4 + b*x 3 + c*x 2 + d*x + e 6

Für eine ausführliche Diskussion der Eigenschaften siehe z.B. Bigelow. Die Potentiale werden hier für die Katastrophentheorie vereinfacht als in eine Potenzreihe entwickelbar vorausgesetzt. 7

3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen

95

die Variation aller Koeffizienten bei der Entfaltung der Singularität des Potentials berücksichtigen. Das Klassifikationstheorem 8 von Thom sichert jedoch, daß man über entsprechende äquivalenzerhaltende Transformationen 9 die Zahl der zu berücksichtigenden Koeffizienten oder Parameter auf wenige Repräsentanten von Äquivalenzklassen einschränken kann. Z.B. gehören die Polynome vierten Grades zu der durch die Normalform x ( l ) 4 / l 2 + x(2)*x(l) 2 /2 + x(3)*x(l)

vertretenen Äquivalenzklasse 10 . Nach dem 77zömschen Theorem für zwei Parameter x(2),x(3) (entspricht unserem Beispiel) gilt, daß für die meisten 11 unbeschränkt nach x(l) differenzierbaren Funktionen f(x(l),x(2),x(3)) die Punkte der kritischen Menge entweder gewöhnliche Punkte, Faltungspunkte oder Kuspen sind 12 . Die Normalform eines Potentials mit einem Glied fünften Grades F = (x 5 /5 + (a*x 3 /3) + (b*x 2 /2) + c) beansprucht drei Parameter 13 a,b,c (entspricht x(2),x(3),x(4)), und dementprechend ist die Katastrophenmenge nicht mehr durch eine Kurve, sondern durch eine Fläche im dreidimensionalen Raum gekennzeichnet. Die kritische Fläche läßt sich hier, da sie eine dreidimensionale Hyperfläche im vierdimensionalen Raum ausfüllt, nicht mehr anschaulich darstellen. Für vier Parameter, d.h. für Potentiale mit Gliedern bis zur sechsten Potenz, nennt das Thomsche Theorem sieben Elementarkatastrophen mit den Namen Kuspe, Faltung, Schmetterling, hyperbolischer Nabel, Schwalbenschwanz, elliptischer Nabel, parabolischer Nabel 1 4 . Bereits ab sechs Parametern gibt es unendlich viele nicht-äquivalente Singularitäten. Jedoch sind diese Ergebnisse eher mathematisch interessant, da nach SussmannjZahler (S.l52) in 8 Dieser Satz ist ein gutes Beispiel für die Symmetrieausnutzung bei der Beschreibung abstrakter Räume, wie in Kap.2.3.2 geschildert. Überhaupt läßt sich der ganze Abschnitt als Demonstration des zu Kap.2.3.1 bis Kap.2.3.3 Gesagten verstehen. 9 Z.B. erlaubt die Wahl des Maßstabs und eine Koordinaten transformation zur Versetzung des Nullpunktes gleich die Normierung von x(2) auf 1 und den Verzicht auf die explizite Berücksichtigung des Koeffizienten x(6). 10 Vgl. z.B. Haken, 1982, S.148. Man stelle sich die den Zustandsraum aufspannende kritische Fläche für zwei Parameter wie ein Blatt Papier vor, welches derart zerknüllt wurde, daß zwar Ecken, aber möglichst keine scharfen Kanten auftreten. 11 Die Einschränkung „meisten" bedeutet, daß jede entsprechend differenzierbare Funktion beliebig gut durch Funktionen, für die die Behauptung ohne Einschränkung gilt, approximiert werden kann. D.h. die Menge der zur Approximation zulässigen Funktionen liegt dicht in der Menge der im Theorem angesprochenen Funktionen, ähnlich wie die rationalen Zahlen dicht in der Menge der reellen Zahlen liegen (vgl. Sussmann/Zahler, S.183 f.). 12

Siehe Sussmann/Zahler, S.151 f. Vgl. Haken, 1982, S.149. 14 Der Versuch einer anschaulichen Darstellung all dieser Flächenstücke findet sich bei Sch wegler ! Bäch tie. 13

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3. Mathematik der Evolution

den meisten Anwendungen nur zwei zu variierende Parameter wie in Abb.3-2 auftreten.

3.2.2 Dynamische Beschreibung Im letzten Abschnitt wurden die morphologischen Eigenschaften des Zustandsraumes entwickelt, d.h. in unserem Falle der Fläche, in der sich das System aufhält. Genau genommen ist der Begriff Zustandsraum für die kritische Fläche nicht ganz korrekt, denn wie gleich zu sehen ist, kann ein System sich auch außerhalb bewegen (z.B. Weg 4 und 5 in Abb.3-2); die kritische Fläche gibt nur den bevorzugten Aufenthaltsraum an. Zur dynamischen Darstellung bringen wir einfach die linke Seite der Bestimmungsgleichung der kritischen Fläche unseres Beispiels (x(l) 3 /3 - x(2)*x(l) - x(3)) in eine Differentialgleichung dritten Grades erster Ordnung bezüglich t und x(l) ein: dx(l)/dt = - (x(l) 3 /3 - x(2)*x(l) - x(3))

Aus der kritischen Fläche ist jetzt eine Gleichgewichtsfläche geworden, denn die zeitliche Änderung der x(l) verschwindet genau dann, wenn der Klammerausdruck rechts gleich Null wird. Dies ist aber die Bestimmungsgleichung der kritischen Fläche f (statt dessen könnte man auch sagen: die Bestimmungsgleichung der Extrema des Potentials F). Die Differentialgleichung ist nicht-linear, wie an der rechts auftretenden höheren Potenz abzulesen ist. Diese Gleichung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der in Kapitel 2.3.3 angeführten logistischen Differentialgleichung. Da ungestörte Wachstumsprozesse wegen irgendwelchen Restriktionen nur selten oder gar nicht auftreten, wird in beiden Gleichungen dem das Wachstum anzeigenden, positiven Glied ein hemmender (negativer) Term höherer Ordnung beigestellt 15 . Die exakte analytische Lösung der Gleichungen ist für die hier angestellten Überlegungen unerheblich, die wichtigsten Eigenschaften der Lösung lassen sich bereits unmittelbar aus der Differentialgleichung ersehen. Dazu vereinfachen wir die Gleichung noch etwas, indem der Splittingfaktor x(2) zu 1 normiert wird. Es ergibt sich dann folgende Gleichung: dx(l)/dt = - (x(l) 3 /3 - x(l) - x(3)), in der nur noch ein variierender Parameter, nämlich x(3) vorkommt. Die Gleichgewichtsfläche erhält damit ihr Aussehen gemäß Abb.3-4. Befindet sich das durch die Werte x(l) und x(3) lokalisierte System über der Gleichgewichtsfläche, dann ist der Klammerausdruck (x(l) 3 /3 - x(l) - x(3)) positiv und die zeitliche Veränderung von x(l) infolgedessen negativ, d.h. das System strebt der Gleichgewichtsfläche zu. Genau entgegengesetzt ist die Situation unterhalb von f, d.h. auch hier strebt das System auf die Gleichgewichtsfläche zu. Die Fläche f ist demnach mit 15 Hinsichtlich einer ausführlichen Diskussion der Wirkungsweise hemmender und aktivierender Faktoren bei der Ausbildung von räumlichen Mustern siehe z.B. Gier er.

3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen

97

Ausnahme der Strecke zwischen den Extrema (Katastrophenpunkte) ein Attraktor, sie zieht das System an. X(l)

Abb.3-4 Ein besonderer Fall liegt, wie bereits mit den Pfeilen angedeutet, zwischen den Extrema vor. Bereits kleine Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage genügen, um das System auf einen der ausladenden Äste von f zu treiben, das Gleichgewicht ist dort instabil oder, mit anderen Worten, die Fläche ist dort ein Repellor. Die Situation läßt sich auch sehr gut über das Potential F beschreiben. Die Repellor-Kurve entspricht genau den Orten, an denen das System sich auf einem Maximum des Potentials F befindet, von dem aus kleine Schwankungen genügen, das System in ein Minimum fallen zu lassen16 (vgl. auch Abb.3-5 weiter unten). Bis jetzt ist die Systemdynamik noch ein ausgesprochener Kurzläufer; das System startet irgendwo und kommt über kurz oder lang auf einem Attraktorast der Gleichgewichtskurve zur Ruhe (Voraussetzung ist allerdings, daß der Startpunkt nicht auf dem Repellor liegt). Interessanter wird die Dynamik, wenn wir eine zweite Differentialgleichung, die die zeitliche Veränderung von x(3) erklärt, hinzufügen. Diese darf einfachster linearer Art sein, z.B. dx(3)/dt= - x ( l ) . Das System kann nun auch seine horizontale Position verändern, der einzige Punkt, an dem es hierbei bezüglich beider Differentialgleichungen im Gleichgewicht verharrt, ist der Nullpunkt. Wir müssen jetzt allerdings noch dafür sorgen, 16

Dies ist genau die Schnittstelle zu den Theorien der Synergetik und der Dissipativen Strukturen, die Vvir im Anschluß diskutieren werden. 7

Blaseio

98

3. Mathematik der Evolution

daß das System, den eingangs getroffenen Voraussetzungen gemäß, sich hauptsächlich auf der Gleichgewichtsfläche aufhält, allenfalls unterbrochen durch vereinzelte Sprünge (Katastrophen). Dies erreichen wir, indem wir die Differentialgleichung zu x(l) im Vergleich zu der anderen „schnell" machen, d.h. einfach mit einem genügend kleinen Faktor ε zwischen 0 und 1 multiplizieren: e*dx(l)/dt = - (x(l) 3 /3 - x(2) + x(l) - x(3))

Auf jede Auslenkung von der Gleichgewichtsfläche dx(l)/dt = 0 reagiert das System jetzt mit einer schnellen Rückkehr auf den Attraktor. Die ganze Dynamik mündet damit in einen Zirkel, der bereits in Abb.3-2 durch die Wege 4 und 5 markiert ist. Sobald das System auf einem Attraktorast angelangt ist, läuft es, dominiert von der zweiten Differentialgleichung, diesen entlang zum nächsten Katastrophenpunkt, stürzt von hier gemäß der schnellen Differentialgleichung auf den gegenüberliegenden Attraktorast und wandert von da wieder auf einen Katastrophenpunkt zu usw. Somit wird auch klar, was mit dem eingangs so genannten „quasi-diskontinuierlichen" Übergang gemeint ist. Eine echte Diskontinuität tritt erst beim Übergang ε—*oo auf, d.h. wenn die Sprünge in unendlicher Geschwindigkeit erfolgen 17 .

3.2.3 Dissipative Strukturen und Synergetik Die Systemdynamik in der Katastrophentheorie erlaubt nur deterministische Bewegungen; die Neuerung der Theorie betrifft die Einführung quasi-diskontinuierlicher Übergänge, modelliert durch kontinuierliche Funktionen. Insofern drückt die so beschriebene Dynamik ausschließlich notwendige Bewegungen des Systems aus. Die Idee der neuen Ansätze 18 besteht nun darin, die in den herkömmlichen Beschreibungen vernachlässigten oder unterdrückten Störungen (Schwankungen beliebiger Art) mit zu berücksichtigen 19 . Von der Philoso17 Wir haben somit die wesentlichsten Kennzeichen in der Katastrophentheorie anhand eines sehr anschaulichen Beispiels, der Kusp-Katastrophe, die zudem nach Sussmann/Zahler, S.l52, den häufigsten Anwendungsfall vertritt, erläutert. Die abstrakte differentialtopologische Fassung (z.B. bei Ursprung), in der etwa nur lokale Stetigkeit der Funktionen vorausgesetzt wird, erweitert zwar infolge der Ausnutzung einer größeren Anzahl von Symmetrien die Zahl der möglichen Anwendungsfalle, bringt aber qualitativ keine neuen Ideen in die Theorie. Wir können daher für unsere Argumentation auf eine solche abstrakte mathematische Darstellung verzichten. 18 Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wie auf der einen Seite Thom (1981, S.54) und auf der anderen Seite Prigogine (1979, S.118) und Haken (1982, S.145 f.) versuchen, die jeweils andere Theorie als Spezialfall ihrer eigenen einzuordnen. 19 Der Weg, der von Prigogine oder Haken beschritten wurde, war geradezu zwingend. Wenn sich bestimmte, wohlerkannte Phänomene der Erklärung hartnäckig widersetzen, dann ist es naheliegend, nach Faktoren zu suchen, die bislang als vernachlässigt oder unerwünscht aus der Untersuchung ausgeschlossen waren, und ihnen eine konstruktive Funktion zuzuweisen. Solche „Aschenbrödel des Denkens" sind im Bereich der Naturwissenschaften das sogenannte allgegenwärtige „Weiße Rauschen", und im menschlichkommunikativen Bereich die Selbstreferenzen bzw. Paradoxien. Auf letzere werden wir im Kap.3.3 und Kap.5 noch einmal eingehen.

3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen

99

phie her eröffnen sich damit faszinierende Gedanken. Sollten hier die originäre Veränderung des Nicht-Seins gemäß unserer Überlegung in Kapitel 2.2 und die invarianten Strukturen des mathematisch-logischen Seins zu einer Theorie des evolutorischen Wandels zusammengefunden haben? Ist somit die Paradoxie der Strukturbildung, die jeden formalen Ansatz des evolutionären Wandels bedroht, überwunden, indem Prigogine das Strukturlose (die Schwankungen) in die Theorie mit aufgenommen hat? Natürlich hat die Einbeziehung des „white noise" in die Theorie nur dann einen Sinn, wenn zwischen „noise" und Struktur eine Koppelung besteht, in dem Sinne, daß das Rauschen für die Strukturbildung maßgeblich mit verantwortlich wird. Darin liegt aber auch schon die Crux des neuen Ansatzes, denn die Koppelung der formalen Theorie der Struktur des Seins mit den Schwankungen des Nicht-Seins kann im herkömmlichen Sinne nur innerhalb des Seins erfolgen. Von der Idee der Fluktuationen bleibt infolgedessen nur übrig, was die formale Theorie der Stochastik zuläßt. D.h. die Möglichkeiten des Systemwandels sind grundsätzlich vorher bekannt 20 , das System wird niemals von sich aus aktiv und schafft etwas Unerwartetes. Dennoch bedeutet der neue Ansatz einen wesentlichen Fortschritt wie folgende Bemerkung von Pattee 21 zeigt: „ I n dynamical systems, any error in initial conditions eventually leads to chaos, while in statistical systems only chaos in initial conditions leads to simple behaviour. What we need for hierarchical control is something in between these extremes, or more precisely, a combination of both."

Genau diese Lücke wird durch die neuen Theorien von Prigogine und Haken geschlossen. Die Kapitelüberschriften „Zufall und Notwendigkeit" 22 und „Ordnung durch Schwankungen" 23 bei Prigogine und Haken kennzeichnen schlaglichtartig das zentrale Prinzip der beiden Theorien „Synergetics" und „Dissipative Strukturen", in denen deterministische Beschreibungsweisen, wie wir sie in der Katastrophentheorie kennengelernt haben, mit stochastischen Prozessen verknüpft werden. Prigogine verbindet seine Überlegungen mit dem in der Physik zentralen zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, indem er betont auf die Gleichgewichtsferne abhebt:

20 Der Zufall ist nur definierbar bezüglich eines fest abgegrenzten und genau bekannten quantifizierbaren Möglichkeitsfeldes. Diese Einschränkung ist in der Naturwissenschaft nicht einschneidend, da man das Möglichkeitsfeld durch Beobachtung abgrenzen kann, anders jedoch im sozialen Bereich. Mehr zum Zufall im Kap.3.3 und den nachfolgenden Kapiteln. 21

Pattee, 1973 (2), S.95. Prigogine/ Stengers, Kapitel VI, Punkt 6 und Haken (1982) Kapitel 6. Ebenso Prigogine (1976) „Order through Fluctuation". 23 Prigogine/ Stengers, Kapitel VI. 22

Ί*

100

3. Mathematik der Evolution

„Contrary to equilibrium structures, dissipative structures occur at a sufficient distance from thermodynamic equilibrium when the system is described by equations containing an appropriate feedback." 24

Die Bedingungen für dissipative Systeme müssen dergestalt sein, daß sie fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht gehalten werden, da innerhalb und in der Nähe des Gleichgewichts zufällige Schwankungen keinerlei prägenden Einfluß auf das System haben können. Der Grund dafür ist in der Tatsache zu finden, daß erst fern vom Gleichgewicht die zur Verstärkung der Schwankungen notwendigen, nicht-linearen Beziehungen auftreten 25 . Es muß demnach irgendeine beeinflussende Aktivität vorhanden sein, die die Systeme daran hindert, gemäß dem zweiten Hauptsatz dem Gleichgewicht zuzustreben. Diese Aktivität wijd vermittelt durch Flüsse, die aus energetischen, chemischen oder ähnlichen Reservoiren stammen, nach Prigogine/ Stengers: „...es sind schwankende Flüsse, welche das System fern vom Gleichgewicht halten." (S.182) „... daß dissipative Strukturen gewissermaßen Übersetzungen' der Flüsse sind, von denen sie aufrechterhalten werden." (S.l83)

Z.B. ist die Sonne ein derartiges Reservoir, dessen stetiger Energiefluß verhindert, daß das Leben auf unserem Planeten dem thermodynamischen Gleichgewichtstod entgegendriftet. Ich stelle mir immer einen Wirbel an einer Kante im Wasserstrom vor, der sich ohne das stetige Fließen auflösen würde. Der ständige Energiezufluß läßt dennoch die Systeme nicht zu einer Bombe werden, sie „dissipieren" die Energie, daher ihr Name. Die Gleichgewichtsferne ist für uns, obwohl sie von Fehl 26 zum zentralen Punkt erhoben worden ist, nur in dem Sinne relevant, insofern sie in bestimmten, z.B. chemischen Zusammenhängen das Auftreten der nicht-linearen Beziehungen sichert. Hingegen sind letztere, die „nicht-linearen Beziehungen" die entscheidenden Schlüssel zur Konstruktion dissipativer Strukturen und zum Verständnis synergetischer Effekte; gemäß Prigogine (1976, S.95):

24

Prigogine , 1976, S.93. Prigogine , 1979, S.89-114; S.115 wörtlich: „Von besonderer Bedeutung ist für uns die Tatsache, daß weit vom Gleichgewicht entfernte chemische Systeme, die katalytische Mechanismen enthalten, zu dissipativen Strukturen führen können." Prigogine/ Stengers, S.145: „Im Gleichgewicht sind die Entropieerzeugung, die Flüsse und die Kräfte jeweils gleich 0. In der Nähe des Gleichgewichts ... sind die Raten J(k) lineare Funktionen der Kräfte. Den dritten Bereich bezeichnet man als ,nichtlinear', da die Rate in ihm allgemein eine kompliziertere Funktion der Kraft ist." 26 Vgl. später zur Diskussion der von Fehl hergestellten Analogie zu ökonomischen Prozessen. Es ist sehr fraglich, inwieweit die Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht mit der Nicht-Gleichgewichtsökonomie in Beziehung zu setzen ist. 25

3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen

101

„ I n order to be able to take form, a dissipative structure requires a nonlinear mechanism to function. It is this mechanism which is responsible for the amplification mechanism of the fluctuation."

In chemischen und molekularbiologischen Systemen finden sich die Nichtlinearitäten in den autokatalytischen Prozessen 27. Ein chemischer Prozeß heißt autokatalytische Reaktion, wenn ein Molekül durch dasselbe Molekül, das als Katalysator wirkt, produziert wird 2 8 , d.h. wenn die zeitliche Änderung einer Größe von ihrem Vorhandensein mitdeterminiert wird, wenn also das Reaktionsprodukt als Konstituent in der seine Entwicklung bestimmenden Differentialgleichung in irgendeiner Form auftaucht. Unter bestimmten Bedingungen ist die Gleichung der autokatalytischen Reaktion auch nicht linear, wie folgendes bei Prigogine (1976, S.99), und Haken (1981, S.283), diskutiertes Modell des bekannten „Brüssellators" zeigt: Aus dem Reaktionsschema A —» X B + X —• Y + D 2*X + Y —• 3*X

E ergeben sich unter Vernachlässigung der Diffusion die Reaktionsgleichungen: dx/dt = a + x 2 * y - ( b + l)x dy/dt = b * x - x 2 * y

wobei die Kleinbuchstaben die Konzentrationen der Stoffe bedeuten. Jantsch verallgemeinert das Prinzip der Autokatalyse auf beliebige Systeme und findet es auch beinahe überall: 29 „ I m menschlichen Bereich tritt das autokatalytische Prinzip in sehr vielfaltiger Weise auf, vom Bevölkerungswachstum bis zum ökonomischen Prinzip der Mehrproduktion von Geld durch den Einsatz von Geld."

Wenig weiter (Jantsch, S.l 14) stellt er fest, daß wirtschaftliche Aktivität allgemein autokatalytisch wirkt. A n anderer Stelle finden sich z.B. bei Prigogine 30 für den gleichen funktionalen Zusammenhang die Begriffe Rückkoppelungsmechanismus oder Feedback. Es ist ein regelrechtes Wortspiel, dessen 27 Z.B. Haken, 1981, S.l 17, Prigogine/ Stengers, S.l 54. Nach Jantsch, S.37, gilt, daß die Grundbedingungen für Ordnung durch Fluktuation Offenheit, hohes Ungleichgewicht und Autokatalyse sind. Prigogine, 1979, S.107: „Es ist jedoch ein allgemeines Resultat, daß Instabilität des thermodynamischen Zweiges notwendig autokatalytische Reaktionen voraussetzt." 28 Vgl. Haken, 1982, S.275. 29 Jantsch, S . l l l ; Prigogine, 1976, S. 122, schließt darüber hinaus: „Social phenomena are described by nonlinear equations." 30 Prigogine, 1979, S.107 und Prigogine, 1976, S.93.

102

3. Mathematik der Evolution

Kenntnis die Einsicht über die nahe Verwandtschaft der sich so verschieden gebärdenden Theorien wesentlich erleichtert 31 . So ist die Erkenntnis, daß in sozialen Zusammenhängen Feedbacks (statt Autokatalyseschleifen) häufig anzutreffen sind, in dieser Formulierung eher eine Trivialität. U m das Wortspiel zu vervollständigen, seien die in dieser Hinsicht diesbezüglich verwendeten mathematischen und systemtheoretischen Begriffe Rekursion und Regelkreis noch hinzugestellt 32 . Es handelt sich also immer um Rückkoppelungen und zwar in den besprochenen Theorien um nicht-lineare, die gewöhnlich durch nicht-lineare Differentialgleichungen (ähnlich denen zum Brüssellator) ausgedrückt werden. Genau so eine nicht-lineare Differentialgleichung wurde aber auch schon in den Erörterungen zur Katastrophentheorie diskutiert, und zwar die Gleichung: e*dx(l)/dt = - (x(l) 3 /3 - x(2)*x(l) - x(3))

Damit kann die Besprechung der neuen Ansätze sich auf die Vertrautheit mit dieser Gleichung stützen. Zur Veranschaulichung der Dynamik sind grundsätzlich zwei Sichtweisen möglich. Außer der in Kapitel 3.2.2 favorisierten Vorstellung, daß das untersuchte System sich in einem Raum mit der kritischen Fläche als Attraktor bewegt, ist auch ein sich auf der Potentialkurve (in unserem Beispiel: x ( l ) 4 / 1 2 - x ( 2 ) * x ( l ) 2 / 2 - x ( 3 ) * x ( l ) ) bewegendes System denkbar, wobei die Potentialminima als Attraktoren fungieren. Die Bewegung des Systems auf der kritischen Fläche erweist sich so als Bewegung des Systems bei einer Deformation des Potentials. Zum Beispiel verläuft der Weg 5 der Abb.3-2 gemäß nachfolgender Abb.3-5.

Abb.3-5 31 Es lassen sich in den einzelnen Darstellungen vielfaltig „Symmetrien" finden, die lediglich durch die unterschiedliche Wort- und Begriffswahl verborgen sind. 32 Dadurch wird auch die Relevanz der im Kap.2.3.3 gezeigten Grenzen rekursiver Beschreibungen zur aktuellen Diskussion deutlich.

3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen

103

In der Nähe der Kuspe ergibt sich folgendes Bild:

Abb.3-6 Die Rolle, die der Zufall oder winzige Fluktuationen bei den neuen Ansätzen spielen können, ist jetzt leicht zu verstehen. Die Fluktuationen entscheiden z.B. bei einem Systemverlauf gemäß Abb.3-6, in welchem Potentialminimum das System zu einem Gleichgewicht kommt; sie induzieren einen Symmetriebruch, indem sie zwischen mehreren, vorher gleichberechtigten Möglichkeiten entscheiden. Übertragen auf Abb.3-2, entscheiden zufallige Schwankungen zwischen den beiden Wegen 2 und 3. Die Kuspe ist ein sogenannter Bifurkationspunkt, an dem das System zwischen unterschiedlichen dynamischen Regimes wählen kann. Zwischen zwei Verzweigungspunkten gehorcht ein System deterministischen Gesetzen, während in der Nähe der Verzweigungspunkte die Schwankungen eine wesentliche Rolle spielen und den Zweig bestimmen, auf dem sich das System weiter bewegen wird 3 3 . Während Schwankungen im allgemeinen also eine untergeordnete Rolle spielen, die bei hinreichender Größe des Systems vernachlässigt werden können, was sich auch im Gesetz der großen Zahlen ausdrückt, das es erlaubt, klar zwischen Mittelwerten und Schwankungen zu unterscheiden, werden sie in der Nähe von Verzweigungen wesentlich 34 . Gewissermaßen versagt dort das Gesetz der großen Zahlen, die Schwankungen ziehen gleichsam den Mittelwert mit sich („Ordnung durch Schwankungen"). Aber auch entfernt vom Kusp-Punkt können genügend große Schwankungen durch die Überwindung der Potentialschwelle den Wechsel des Systems herbeiführen (Abb.3-7). Grundsätzlich kann ein System wieder auf seinen Ausgangspunkt zurückkehren, allerdings läuft es dabei nicht genau denselben Weg rückwärts, wie man etwa bei den Wegen 4 und 5 der Abb.3-2 sehen kann. Dieser asymmetrische Effekt hat den Namen Hysterese 35. Berücksichtigt man diesen Effekt und läßt 33

Vgl. Prigogine , 1979, Kapitel V. Vgl. Prigogine , 1979, Kapitel VI und Prigogine/ Stengers ebenfalls Kapitel VI. 35 Die Tatsache, daß dissipative Systeme wieder zu ihrem Ausgangszustand zurückfinden, wird von Prigogine , 1979, S.l 18, Prigogine/ Stengers, S.l70, als historisches Element und von Jantsch, S.86, gar als Gedächtnis interpretiert. Diese Analogien sind nicht ungefährlich, da historische Zeit in sozialen Zusammenhängen sowie menschliches Gedächtnis mehr als potentielle Wiederholbarkeit implizieren, insbesondere nämlich z.B. Lernfähigkeit. Diejenigen, die sich ohne genaue Kenntnis des mathematischen Hintergrunds nur auf die verbale Beschreibung der Theorie stützen, können so zu einer 34

104

3. Mathematik der Evolution

eine genügende Zahl von Verzweigungen zu, dann erhält man etwa folgendes Bild:

! Thermodynamischos Regime

ι 1 Diesipative Struktur (DS)

Abb.3-8

ι 2. OS

ι 3. DS.

m

Zunehmendes Ungleichgewicht

(Jan t sc h, S.85)

Unter Einbezug der Schwankungen ist es auch möglich, das Systemverhalten über die zeitliche Deformation des Verteilungsgebirges zu beschreiben (Abb.3-

9). Die mathematische Darstellung kann direkt aus den Gleichungen der deterministischen Dynamik gewonnen werden, indem man einen, die zufallige, ungeordnete Bewegung ausdrückenden Term hinzufügt. Dies ist zumeist ein Diffusionsterm. Es sei dazu angenommen, daß das betrachtete System durch eine Wahrscheinlichkeitsdichte s in Abhängigkeit von den Koordinaten x(2) und x(3) repräsentiert wird, also s(x(2),x(3)), wobei s als genügend oft differenzierbar Überinterpretation veranlaßt werden. Besser wäre es in diesem Zusammenhang nur von gespeicherter Information ähnlich wie bei digitalen Rechenanlagen zu sprechen.

3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen

105

vorausgesetzt wird. Die Änderung der Dichte, abhängig von einem beliebigen Richtungsvektor r, ergibt sich dann als ds/dr = (ds/dx)*dx 4- (ds/dy)*dy = (ds/dx)*cos0 + (ds/dy)*sin φ = Ds*r,

wobei Ds der Gradientenvektor von s, Ds*r ein skalares Feld und r der Einheitsvektor der Richtung dr ist. Unter der Annahme, daß sich die Dichte zeitlich proportional zur Stärke des Gradienten ändert, ergibt sich: ds/dt = PDs*r

(P...Diffusionskonstante)

Es gilt, daß die gesamte Veränderung von s während der Zeit dt in einem infinitesimal kleinen Flächenstück -fJJ(ds/dt)dxdydt= - (ds/dt)dxdydt

gleich dem Fluß durch die Begrenzungslinie 1 des Flächenstückes in der Zeit dt, d.h.gleich JJ-PDsdldt mit dl = r*dl ist 3 6 . Nach dem Gaußschen Satz kann der Fluß eines Vektorfeldes durch eine geschlossene Linie durch das Integral der Divergenz des Vektorfeldes über die durch 1 eingeschlossene Fläche ersetzt werden, d.h. es gilt: j j - PDsdldt = - JJJdiv( - PDs)dxdydt = div( - Afc)dxdydt

36 Das negative Vorzeichen vor dem ersten Integral gibt an, daß infolge der Diffusion die Dichte abnimmt, während das negative Vorzeichen bei Ρ erzwingt, daß der Fluß entgegen dem Gradientenvektor in Richtung abnehmender Konzentration fließt.

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3. Mathematik der Evolution

Nach Kürzung und der Ersetzung von div( - PD) durch den Ausdruck -P*A mit Δ = divgrad = d 2 /dx 2 + d 2 /dy 2 als Laplace-Operator ergibt sich 37 : ds/dt = P*zls

Die so unter Berücksichtigung der Schwankungen mit der Diffusion erhaltene Gleichung heißt Langevin-Gleichung 38. Für unser Beispiel ergibt sich: dx(l)/dt = ( - 1/ε)*(χ(1) 3 /3 - x(2)x(l) - x(3)) + Ρ*Λχ(1)

Ähnlich sind auch die weiter oben angegebenen Gleichungen für den Brüssellator durch Diffusionsterme zu ergänzen. Wie beim Brüssellator implizit durch Bestimmung des Systems über Konzentrationen, die selbst Funktionen der Ortskoordinaten sind, schon vorgegeben, müssen jetzt als neue Dimensionen die Raumkoordinaten, die im Laplace-Operator ausgewiesen sind, mit berücksichtigt werden. Das bedeutet, daß die x(i) ebenfalls Funktionen der Ortskoordinaten sind, also wie Dichten behandelbar sind. Die neuen Gleichungen sind partielle Differentialgleichungen und unterscheiden sich in der Berücksichtigung von Diffusionstermen, durch die zufalligen Fluktuationen Ausdruck verliehen wird. Prigogine/ Stengers (z.B. S.l81) setzen die Diffusion sogar mit Kommunikation gleich und schreiben schließlich gar (S.177): „,Kommunikation 4 und ,Wahrnehmung' sind die für das neue Verhalten der Materie fern vom Gleichgewicht entscheidenden Begriffe 39 ."

Eine andere probabilistische Beschreibungsmöglichkeit derselben Sachverhalte von einem makroskopischen Standpunkt aus erhält man über die Masterund die Fokker-Planck-Gleichung. Dazu werden die zufalligen Störungen nicht durch additive Überlagerung der deterministischen Prozesse wie in der Langevin-Gleichung berücksichtigt, sondern direkt über die Herleitung der partiellen Differentialgleichung für die Wahrscheinlichkeitsverteilung erfaßt 40 . Die Fokker-Planck-Gleichungen sind nur für Gauß-Prozesse exakt und damit äquivalent zu den Master-Gleichungen, ansonsten sind sie Approximationen der Master-Gleichungen, die explizit mit den Übergangswahrscheinlichkeiten der Werte der Makro variablen pro Zeiteinheit und Raumteil arbeiten 41 . Die 37 Eine sehr anschauliche, aber dafür umfangreichere Abbildung der Diffusionsgleichung über die Taylor-Entwicklung findet sich bei Rosen. 38 Vgl. Weidlich/ Haag, S.3 bzw. Haken, 1982, S.175. 39 Die Vergleiche zur menschlichen Kommunikation verleiten noch mehr zur Fehlinterpretation des tatsächlichen Vermögens der formalen Beschreibung, als dies durch den Vergleich zur historischen Entwicklung (vgl. Fußnote 35) geschieht. Tatsächlich liegen die Grenzen der formalen Beschreibung der Kommunikation weiterhin bei der Erfassung syntaktischer Komponenten. Von einer formalen Theorie der Semantik oder Pragmatik kann keine Rede sein. 40 Zur Herleitung und Behandlung der Fokker-Planck-Gleichung siehe z.B. Haken, 1982, S.171 f. 41 Vgl. dazu Weidlich/ Haag, S.8 und Haken, 1982, S.177.

3.2 Katastrophen theo rie, Synergetik und dissipative Strukturen

107

Herleitung der genannten Gleichungen und die Erweiterung der Modelle auf mehr Dimensionen (bisher nur eine: x(l)) erfordern einen erheblichen formalen Aufwand, der für den hier verfolgten Zweck der Diskussion des formalen Prinzips jedoch entbehrlich ist. Die bisher untersuchten Fälle waren jeweils durch nicht mehr als zwei, das System charakterisierende Parameter bestimmt. Bei sehr komplexen Systemen, die eine Vielzahl von — über Gleichungen gekoppelten — Parametern enthalten, könnte man nun entsprechend der Menge an Potentialextrema ein regelrecht chaotisches Verhalten erwarten 42 . In vielen Fällen zeigen jedoch diese komplexen Systeme ein überraschend wohlgeordnetes Verhalten, da es einigen wenigen Parametern, den sogenannten Ordnungsparametern, gelingt, einen dominierenden Einfluß zu erlangen. Wir betrachten dazu ein System, das einer Dämpfung (Relaxation) und einem nicht-linearen Term F (z.B. einer Kraft) unterliegt: dx(l)/dt= - y * x ( l ) + F(t)

Ist die Dämpfung y sehr hoch, dann paßt sich das System sehr schnell an ein verändertes F an, es reagiert instantan (z.B. stark gedämpfte Feder). D.h. für entsprechend langsame F(t) kann näherungsweise dx(l)/dt = 0 bzw. x(l) = (l/y)*F eingesetzt werden (adiabatische Näherung 43 ). Es sei nun angenommen, daß F(t) als ein zu einem selbständigen Untersystem gekoppelter Ausdruck dargestellt werden kann, z.B. F(t) = b*x(2) 2 mit dx(2)/dt= - A * x ( 2 ) - a * x ( l ) x ( 2 ) , wobei die Dämpfung λ dieses Untersystems gering gegenüber y ist, d.h. λ 0 gibt es wegen des Fehlens eines konstanten Gliedes nur die Lösung x(2) = 0 und damit auch keine Wirkung bei x(l), d.h. auch x(l) wird 0. Jedoch können bei einem Vorzeichenwechsel des nahe bei 0 gelegenen Relaxa42 Tatsächlich tritt ein solches unregelmäßiges oder auch turbulentes Verhalten unter bestimmten Bedingungen auf (vgl. Haken, 1982, S.341 f.). 43 Vgl. Haken, 1982, Kapitel 7, über Selbstorganisation. 44 Haken, 1982, spricht in diesem Zusammenhang von gegenseitiger Versklavung der Systeme.

108

3. Mathematik der Evolution

tionsparameters λ unterschiedliche Lösungen in der kritischen λχ(2) + (ab/y)x(2) 3 = 0 realisiert werden.

Fläche

Vermittels der Reduktion der Gleichungszahl bzw. über das Versklavungsprinzip können somit auch komplexe Systeme ein wohlgeordnetes Verhalten zeigen 45 . Nach Jantsch (S. 308) wird zusätzlich zum zeitlichen Symmetriebruch in der Gleichgewichtsthermodynamik (Zukunft unterscheidet sich von der Vergangenheit) beim Übergang zur nicht-linearen Ungleichgewichts-Thermodynamik nun auch räumliche Symmetrie gebrochen, indem spontane Strukturierung und Polarisierung erfolgen.

3.2.4 Zur Anwendbarkeit der Theorien Charakteristisch für die Katastrophentheorie sind Sprünge bzw. quasidiskontinuierliche Übergänge oder Katastrophen und Verzweigungen bzw. Divergenz 4*. Die Divergenz drückt aus, daß zunächst parallel verlaufende Pfade bei nur geringfügig unterschiedenen Startpunkten zu sehr unterschiedlichem Verhalten führen können, wie etwa bei den Pfaden 2 und 3 der Abbildung 3-2, die auf unterschiedliche Niveaus einer Faltungsfläche führen. Ursache der Faltung ist, daß der die kritische Fläche bestimmende funktionale Zusammenhang für einen bestimmten Satz von Parameterwerten mehrere Gleichgewichtslösungen zuläßt. Die Entscheidung darüber, welche der Lösungen von einem System realisiert wird, trifft die Systemgeschichte, d.h. sie determiniert durch den bisherigen Systemverlauf das Niveau auf der Fläche. Bei jedem vollständigen Überqueren der Bifurkationsmenge (vgl. Abb.3-2) kommt es zu einem katastrophenartigen Wechsel der Gleichgewichtslösung, bedingt durch das Verschwinden einer solchen Lösung. Die Besonderheit der Katastrophentheorie besteht darin, daß die charakteristischen Eigenschaften über kontinuierliche Funktionen modelliert werden können (diskontinuierliche Wirkungen kontinuierlicher Ursachen), wodurch der gesamte Apparat der Differentialrechnung verfügbar wird. Dies ist vor allem für die Naturwissenschaften interessant, da hier sehr viele Prozesse als kontinuierlich angesehen werden. Ansonsten sind speziell bei der diskreten Beschreibung Sprünge und Verzweigungen durchaus verbreitete Darstellungsmittel. Ohne bedingte Befehle mit Sprüngen und Verzweigungen, ausgelöst durch bestimmte Zustandsabfragen (If-Operator), ist elektronische Datenverarbeitung kaum denkbar. Plötzliche Verhaltenswechsel treten auch schon in einfachen Modellen auf (z.B. im Multiplikator-Akzelerator-Modell der MakroÖkonomik), wenn die Lösung der charakteristischen 45 Vgl. die Darstellung des Lasersystems bei Haken, 1982, und die Modellierung eines Meinungsbildungsprozesses bei Weidlich!Haag. 46 Dies sind nur die Merkmale, die die Katastrophentheorie gegenüber anderen dynamischen Beschreibungen kennzeichnen. Die Menge aller Eigenschaften bekommt man leicht über die Auswertung der möglichen Wege auf einer kritischen Fläche, z.B. nach Abb.3-2.

3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen

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Gleichung einer Differenzengleichung vom reellen in den komplexen Bereich übergeht. Aus welchen Gründen evolutionäre Entwicklungsprozesse plötzlich so viel weitergehender und nicht nur eleganter beschreibbar sein sollen, als vordem mit der gewöhnlichen If-Anweisung oder der mathematischen Dirichlet-Funktion, ist kaum einzusehen47. Die Katastrophentheorie zeigt, wie bei bestimmten morphologischen Eigenschaften des Zustandsraumes, die sich insbesondere bei rückgekoppelten Systemen ergeben, kleine Ursachen große Wirkungen zeigen können, daß sie gewissermaßen Zünglein an der Waage spielen. Die Tatsache, daß dies auch in kontinuierlichen Zusammenhängen formuliert werden kann, ist erstaunlich. Darüberhinaus läßt die Synergetik und die Theorie dissipativer Strukturen eine zufallsgesteuerte Auswahl unter den im Ansatz angebotenen Alternativen zu, wobei diese Entscheidungen nur in bestimmten Verzweigungsbereichen zugelassen sind. Dem Anspruch Zeemans aber, die Evolution beschreibbar zu machen 48 , kann weder die Katastrophentheorie noch die Synergetik oder die Theorie dissipativer Strukturen genügen. All diesen Ansätzen ist gemeinsam, daß die für das betrachtete System möglichen Alternativen bereits von vornherein im Modellansatz implementiert sein müssen, was bedeutet, daß auch diese neuen Ansätze den in Kapitel 2 diskutierten Restriktionen formaler Beschreibungen unterworfen sind. Auf evolutionäre Prozesse gerichtet drückt dies Schmeikal (S. 608) so aus: „ I f a formal theory of some evolutionary process is developed the sytem dynamics will always stay within the framework that has been presumed."

Für die Naturwissenschaften sind diese Überlegungen wiederum nur peripher relevant. Durch genügende Beobachtung können die Alternativen ausreichend erfaßt werden, d.h. der kreative Prozeß der Natur erstarrt in der Beschreibung zur Struktur, zum Möglichkeitsraum 49 . Allerdings ist Prigogine schon an dieser Stelle so vorsichtig, daß er mögliche Grenzen dieser Vorstellung in Erwägung zieht. In diesem Sinne schreiben Prigogine IStengers, S. 184:

47

Ähnlich schreiben Sussman/Zahler, S.206: „... even for the situations discussed by Simon, simple minded classical mathematics (at high-school-level) can do much better than the cusp-catastrophe." SussmanIZahler geben überdies eine umfangreiche Übersicht über mathematisch und inhaltlich falsche und ungerechtfertigte Anwendungen der Katastrophentheorie. Ökonomische Modelle unter Einbeziehung der Dirichlet-Funktion verwendet z.B. Holub. Vgl. Holub, 1978, und Holub/Matzka, 1982. 48 Vgl. Fußnote 1 in Kap.3.1. 49 Das hierbei entscheidende Faktum, das wir später noch gründlicher diskutieren werden, ist, daß aufgrund der Annahme eines real existierenden Möglichkeits- und Objektraums von dem allgegenwärtigen und nicht nur auf Menschen beschränkten Beobachtungsprozeß abstrahiert werden kann. Es sind genau die selbstreferentiellen Phänomene, wie die Unschärferelation, an denen die Annahme einer vom Beobachter unabhängig real existierenden Welt kollabiert.

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3. Mathematik der Evolution

„Das Problem der Strukturstabilität kann nicht vollständig auf quantitative Weise beantwortet werden, da wir nicht einmal hoffen dürfen, eine erschöpfende Beschreibung aller möglichen Verhaltensweisen zu liefern. Der Erfindungsreichtum der Natur geht über die mathematischen Klassifizierungen hinaus." 5 0 ' 5 1

Solange diese Grenzen nicht sichtbar werden, können ausgewählte Strukturen als Möglichkeiten in die Modellansätze ähnlich wie bei der Software von Rechenanlagen einprogrammiert werden; die Möglichkeiten werden jedoch nicht evolutionär durch den Formalismus selbst generiert. Damit ist wieder die Unterscheidung zwischen einfacher und relativistischer Komplexität aus Kapitel 1 nagegelegt, zwischen Bereichen, in denen die Kreativität des beobachteten Systems durch den Beobachter vorweggenommen werden kann, und Bereichen, wo dies im Regelfall nicht möglich ist. Sofern relativistische Komplexität vorliegt, bzw. beim Auftauchen neuer, überraschender Möglichkeiten, muß jeder Ansatz exogen von außen, d.h. vom Modellkonstrukteur an die neuen Verhältnisse angepaßt werden. Für die Anwendung der Synergetik auf soziale Zusammenhänge wird dieser Tatbestand sehr deutlich von Weidlich!Haag (S. 14) angesprochen: „For instance, a new ideology or a new scientific discovery may gain decisive influence. In this case, the attitude space and the socio-configuration may have to be extended by including new dimensions in order to model the dynamics of the new macro variables."

In der bereits skizzierten, durch Prigogine und Haken vorgenommenen Erweiterung der Katastrophentheorie wird den untersuchten Systemen eine eigene Entscheidungsfahigkeit zwischen bestimmten Alternativen zugestanden. Die Entscheidungen erfolgen allerdings nicht reflektiert wie beispielsweise beim Wirtschaftssubjekt, sondern sie unterliegen einem Zufallsprozeß. Zudem liegen, wie gezeigt, die Alternativen fest. Natürlich wird dabei durch den Übergang zur statistischen Beschreibung, der durch die prinzipiellen Grenzen der exakten Beobachtbarkeit und die möglicherweise sehr unterschiedlichen Verläufe anfanglich fast identischer Trajektorien erzwungen wird 5 2 , der Laplacesche Dämon in der Darstellung von Prigogine/ Stengers (Kapitel II), als der Dämon, der kraft seines Allwissens über die deterministische Beschreibung der Welt 50

An anderer Stelle (1979, S.l20) schreibt Prigogine zur Strukturstabilität: „Der Begriff der Strukturstabilität scheint am kompaktesten die Idee der Innovation auszudrücken ..." 51 Diese Formulierung erinnert unwillkürlich wieder an die Paradoxie der Menge aller Mengen oder die Unmöglichkeit einer Theorie aller Möglichkeiten nach Gödel. 52 Aufgrund dieser Unschärfen geht Prigogine von der Beschreibung einzelner Trajektorien zu der ganzer Bündel von Trajektorien (Ensembles) über. Diese Ensembles sind zunächst kleine Volumina des Zustandsraums, d.h. den Punkten dieser Ensembles entsprechen nahezu identische Anfangsbedingungen. Die Untersuchung zeigt dann, ob die Ensembles beieinander bleiben, bestimmte Teile des Raumes überstreichen oder mit der Zeit über den ganzen Zustandsraum verschwimmen (vgl. Prigogine 1979, S.50 ff. oder Prigogine /Stengers, S.245 ff.).

3.2 Katastrophen theo rie, Synergetik und dissipative Strukturen

111

verfügt, undenkbar. Versteht man aber unter dem Dämon das personifizierte Prinzip, daß autonomes Handeln und originäre Veränderung, d.h. Ideen, Neuerungen, Selbstorganisation etc., in der formalen Beschreibungswelt in ein extramundanes, dämonisches „Außen" verdammt sind, dann hat sich durch die neuen Ansätze nicht viel verändert. Im Gegenteil, es hat eher den Anschein, als wären nun zwei Laplacesche Dämonen am Werk. Einer, der kraft seines Allwissens über die determinierte Palette aller Alternativen verfügt, einer Palette, als deren Fragmente z.B. die Potentiale mit ihren Extrema und den aus ihnen abgeleiteten kritischen Flächen erscheinen, und der andere, der mit winzigen, von außerhalb der Welt gesteuerten Nadelstichen die Systeme zu Sprüngen veranlaßt, Sprünge, die, sofern an der Kante einer Falte der kritischen Fläche ausgeführt, zu großen Sätzen werden. Entstanden ist so ein neues kompliziertes Glasperlenspiel, wobei die Perlen vom Strom des Zufalls, leblos wie zuvor, über ein bizarr geformtes Spielfeld getrieben werden. In ihrer Kritik zur Anwendung der Katastrophentheorie führen Sussmanj Zahler den Erfolg dieser Theorie auf die einschüchternde Wirkung des zugrunde liegenden formalen Apparates zurück 53 . Hinzu kommen nach ihrer Meinung der Anspruch auf universelle Anwendbarkeit, der Anspruch, allseits bekannte und bisher in ihrer Kausalität rätselhafte Phänomene, angefangen von der Aggression bis hin zur Evolution, zu erklären 54 , und schließlich die redundante Häufung sich gegenseitig stützender Veröffentlichungen. Alle drei Theorien (Katastrophentheorie, Theorie dissipativer Strukturen und Synergetik) sind von ihrer Natur und ihrem Entstehungszusammenhang her formale Theorien, die daher auch nur unter Einbeziehung des Formalismus adäquat zur Anwendung gelangen können. Aus diesem Grund ist eine Anwendung, die sich ausschließlich auf Analogien zu den verbalen Interpretationen der Vertreter dieser Theorien stützt, wie die „Analyse von Innovationsproblemen in alternativen Wirtschaftsordnungen" von Fehl, schon von der Form her problematisch. So ist es für die Vertreter der Theorien durchaus rational, in der verbalen Besprechung mit Begriffen wie „Kommunikation", „historisches Moment", „Evolution", „Selbstorganisation", „Wandel" etc. zu operieren. Versprechen diese Begriffe doch sensationell Neues, universalen Geltungsbereich und die Lösung drängendster Probleme, insbesondere für die Sozialwissenschaften, für die der evolutionäre Wandel im Hier und Heute und nicht in Zeiträumen von Millionen von Jahren stattfindet 55 . Doch erst in der Verbindung mit dem formalen Apparat wird sichtbar, in welch reduzierter Form die Begriffe tatsächlich in den Theorien Verwendung finden können, und welche 53

Sussmanj Zahler, S.206 ff., z.B.: „Mathematics, in the perception of many, is like sorcery." 54 Zu einer eingehenden Erläuterung dieser Argumente vgl. Sussmanj Zahler. 55 Neben den hier besprochenen Aufsätzen von Fehl und Koblitz/Rieter sieht offenbar auch Röpke, 1977, S.43, eine Theorie der Evolution sozialer Systeme aus der Theorie dissipativer Struktur erwachsen.

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3. Mathematik der Evolution

Restriktionen der Anwendbarkeit damit gesetzt sind. U m die Anwendbarkeit der Theorien zu beurteilen, ist daher die verbale Analogie notwendigerweise durch eine formale Übertragung zu unterstützen. Die folgende Besprechung der Aufsätze von Fehl und Röblitz/ Rieter soll am Beispiel ökonomischer Zusammenhänge diese Problematik aufzeigen, die besonders brisant wird, wenn der formale Ansatz — wie in diesem Fall — aus der naturwissenschaftlichen Sphäre in einen sozialwissenschaftlichen Bereich mit relativistischer Komplexität übertragen werden soll. Es entsteht bei der Lektüre des Fehischen Aufsatzes an mehreren Stellen der Eindruck, daß die komplizierte Theorie nur als Hintergrund benötigt wird, um verhältnismäßig einfache Einsichten mit einem mystifizierenden Komplexitätsgrad zu unterlegen. So sind z.B. Überlegungen, daß Innovationen ein System aus einem einmal erreichten Gleichgewichtszustand treiben können und daraufhin Anpassungsprozesse gebunden an die Apperzeption des komparativen Vorteils der Innovation einsetzen, eher trivial und auch ohne theoretischen Hintergrund unmittelbar einsichtig. Unverständlich ist etwa auch in diesem Zusammenhang, wieso zur Einsicht einer treppenförmigen Grenzkostenkurve aufgrund von Innovationen ein Formalapparat mit Gleichungen vom Kaliber einer Fokker-Planck-Gleichung als verbale Stütze bemüht wird. Ein weiterer kritischer Punkt ist die Verwendung des Begriffes „Ungleichgewicht". Bei aller verbalen Analogie darf nicht übersehen werden, daß Prigogine den Begriff im thermodynamischen Sinne verwendet, und die Gleichgewichtsferne der Thermodynamik vor allen Dingen das Auftreten der nicht-linearen funktionalen Zusammenhänge sichert, die wiederum das Rückgrat der genannten Theorie bilden. In Fehls Analyse ist kein Nachweis zu finden, daß der nach seiner Ansicht das Ungleichgewicht bedingende „ökonomische Energiefluß" der Neuerungen (S.78) gerade die nicht-linearen Beziehungen hervorbringt, die für dissipative Struturen charakteristisch sind. Die Analogie von thermodynamischem und ökonomischem Ungleichgewicht bleibt somit zumindest fragwürdig. Der entscheidende Kritikpunkt ist jedoch die Gleichsetzung von Innovationen mit den zufälligen Schwankungen der formalen Theorie, die Gleichsetzung von Zufall und Erfindung. Dadurch, daß in den Naturwissenschaften häufig ein Möglichkeitsraum der Fluktuationen angebbar ist, sind die „evolutiven" Veränderungen begrenzt und in ihrer inneren Struktur bekannt. Fluktuationen sind hier die logischen Atome eines bekannten Raumes. In sozialen Systemen bedingt jedoch die nicht-prognostizierbare innere Struktur der Innovationen den evolutiven Verlauf. Während im naturwissenschaftlichen Kontext das, was sich zufällig ereignet, in einem genau definierten mathematischen Raum lokalisiert und daher grundsätzlich immer vorher bekannt ist, läßt sich für die Menge aller zukünftigen Erfindungen kein formal konsistenter Raum angeben. Die Begründung hierfür wird von Fehl sogar implizit mitgeliefert, indem er zentralverwaltete und marktwirtschaftliche Systeme durch das Kriterium der Selbstorganisation voneinander unterscheidet. Selbstorganisation bedeutet

3.2 Katastrophentheorie, Synergetik und dissipative Strukturen

113

aber autonome Veränderung, deren formale Darstellung jedoch würde das Identitätspostulat der Logik verletzen. Selbstorganisation beinhaltet unter anderem auch selbstreflexive Überlegungen 56 , die im Gegensatz zu autokatalytischen Prozessen mehr beinhalten als blindes Befolgen eines absolut festgelegten Feedback-Prinzips 57. Selbstreflexiòn bedeutet reflektierte Rekursion, d.h. mit Veränderung der Rekursionsvorschrift, im Gegensatz zum Verständnis der Autokatalyse bei Prigogine und anderen. Jedem zufalligen Ereignis in der Theorie der dissipativen Strukturen entspricht ein genau definierter Impuls, da die Natur des Ereignisses genau bekannt ist. Dies ist jedoch ganz und gar nicht der Fall bei Erfindungen, die unter Umständen das ganze System strukturell revolutionieren oder transformieren, sofern die Veränderung sich in einem größeren Zeithorizont abspielt. Die Schwankungen der formalen Theorie bestimmen lediglich den schon vorher als möglich bekannten Zweig der Entwicklung 58 , während Innovationen zugleich den Möglichkeitsraum des Wandels definieren, sofern man der Ökonomik nicht die Rehabilitation des eigentlich schon überholten und widerlegten Laplaceschen Dämons unterstellt, dem alle Möglichkeiten einschließlich der Erfindungen seit jeher bekannt sind. Das heißt, das soziale System wandert nicht von einem definierten in einem anderen definierten Zustand, sondern immer in einen Undefinierten, historisch neuen. Der Marktprozeß reproduziert sich aus sich heraus, jedoch nicht den starren Gesetzen der Logik folgend, sondern evolutiv, bedingt durch die prinzipiell nicht exakt prognostizierbare innere Struktur der logischen Atome „Innovationen". Fehl bezweifelt an einer Stelle (S.83) die Möglichkeit formaler Beschreibungen dissipativer Strukturen in der Ökonomie (wegen der Komplexität der Ökonomie). Damit spricht er aber gerade den kritischen Punkt an. Stellt es sich nämlich heraus, daß eine formale ex ante Beschreibung solcher Strukturen in der Ökonomie prinziell unmöglich ist, und genau dieser Sachverhalt wurde im Vorangehenden begründet, dann gibt es entgegen seiner Behauptung (S.75, S.83, S.87) gar keine derartigen Strukturen in der Ökonomie 59 , denn dissipative Strukturen sind als formale Systeme definiert und die zugehörige Theorie ist eine formale Theorie 60 . Nimmt man umgekehrt einmal mit Fehl das Marktsystem als eine dissipative Struktur und damit auch als formal beschreibbar an, dann gibt 56

Der Zusammenhang von Selbstorganisation und Selbstreflexion wird z.B. bei Jantsch, S.44 betont. 57 Wie mag z.B. die formale Darstellung der dissipativen Struktur eines sozialen Systems aussehen, die als eine der möglichen Schwankungen die Erfindung ihrer selbst (d.h. der dissipativen Struktur) und deren Konsequenzen formal richtig beschreibt? 58 Vgl. Prigogine , 1979, S.l 18. 59 Fehl, S.83, ist so vorsichtig, darauf hinzuweisen, daß sein Vergleich eventuell über den Status einer Analogie nicht hinauskommt. Ob dieser Hinweis genügt, eine Veröffentlichungslawine zu verhindern, ist fraglich. 60 Unbenommen bleibt dennoch die ex-post-Beschreibung, sofern ausreichende Möglichkeitsräume formulierbar sind. 8

Blaseio

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3. Mathematik der Evolution

es unter dieser Annahme entgegen der im Aufsatz vertretenen Auffassung durchaus Gründe, die eine Zentralverwaltungswirtschaft als vorteilhafter erscheinen lassen. Unter diesen Umständen sind sowohl die durch die jeweiligen Neuerungen erreichbaren Zustände miteinander vergleichbar als auch die kritischen Zonen, in denen es zu Sprüngen und Verzweigungen kommen kann, bekannt 61 . Durch zentral geplante und ausgelöste, gezielte und exorbitant hohe Schwankungen in ausreichender Distanz von den Bifurkationsstellen ließe sich dann mit einiger Sicherheit eine nach Optimalitätskriterien gewünschte Verzweigung „triggern". Gerade das macht jedoch Selbstorganisation aus, daß das mögliche Ergebnis keiner zentralen Stelle vorher genau genug bekannt sein kann, sonst könnte diese mit ihren größeren Ressourcen an Experten die besseren Entscheidungen fallen. Von daher entspricht jeglicher Formalismus grundsätzlich eher dem Weltbild der Planung und zentralen Lenkung, da er zu vorgegebenen Randbedingungen (Kriterien, Anforderungen) richtiges bzw. optimales Verhalten bestimmen läßt, während freies, spontanes und schöpferisches Handeln auf „richtiges Verhalten" reduziert wird. Wesentlich euphorischer noch als von Fehl wird das Prigogine sehe Konzept der dissipativen Strukturen von den Autoren KoblitzjRieter eingeschätzt. Sie sehen darin den entscheidenden Schritt zur endgültigen Überwindung des Gleichgewichtskonzepts62. Koblitzj Rieter (S.257) argumentieren, daß mit der Kernaussage der Theorie der dissipativen Strukturen, die nach ihrer Sicht in der Formel „Ungleichgewicht kann Ordnung schaffen bzw. vermehren" konzentriert ist, ein „wichtiges Prinzip von höchster Allgemeinheit" entdeckt worden ist 6 3 . Tatsächlich ist diese Aussage jedoch eher selbstverständlich oder gar trivial, denn wenn Systeme aus dem Gleichgewicht zur höheren Ordnung tendieren würden, dann müßte Gleichgewicht synonym zu Unordnung und nicht zu Ordnung stehen. A n keiner Stelle des Aufsatzes wird klar, daß die Autoren sich tatsächlich mit der Theorie über das Zitieren einiger Bemerkungen Prigogine s hinaus auseinander gesetzt hätten, schon gar nicht können sie die unterstellten Eigenschaften des neuen Ansatzes in einem Anwendungsfall demonstrieren 64 . So kommt es zu auffälligen Widersprüchen. Z.B. wird Prigogine auf S.267 eine ablehnende Haltung gegenüber „quantitativer Analyse, 61 In ähnlichem Zusammenhang schreibt Hayek in seinem Aufsatz „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" sehr treffend (S.249): „Wenn irgendjemand tatsächlich all das wüßte, was die ökonomische Theorie als ,Daten4 bezeichnet, so wäre Wettbewerb gewiß eine höchst verschwenderische Methode zur Herbeiführung einer Anpassung an diese Tatsachen." 62 Vgl. Koblitzj Rieter, S.247 und S.257. 63 Hayek schrieb übrigens schon längst (vgl. z.B. Hayek (4), S.254) von der spontanen Ordnung, die der Markt herbeiführt, und er sah den Markt dabei sicherlich nicht im neoklassischen Gleichgewicht. 64 S.264 wird behauptet, daß in den vorangegangenen Seiten Prigogine s Ansatz aufrißweise dargestellt worden wäre. Außer unklaren Bildern und Zielvorstellungen, die Prigogine in eher populären Veröffentlichungen abgab, ist allerdings von der Theorie nichts zu finden.

3.3 Vage Prädikate

115

mathematischer Präzision" und „arithmomorpher Modellbildung" in Anlehnung an eine Begriffsbildung von Georgescu-Roegen unterstellt. Dabei ist an die Autoren die Frage zu stellen, was Prigogine s Theorie dissipativer Strukturen denn anderes sei als ein formaler Ansatz? Ebenso wird auf S.247 eine Umwälzung ontologischer Grundpositionen versprochen, ohne daß aber gezeigt wird, inwieweit dieses Versprechen durch nicht-lineare Differentialgleichungen und stochastische Prozesse, die allesamt klassische mathematische Konzeptionen sind, eingehalten werden kann. Die Ursache derartiger Fehleinschätzungen ist aber letztlich bei den Begründern der Theorien selbst zu suchen. Durch deren populäre, d.h. verbal gehaltene Veröffentlichungen werden falsche Hoffnungen geweckt. Es wird vor allem der Verwechslung von Erklärung und Darstellungsmethode Vorschub geleistet. Die neuen Methoden sind in erster Linie Hilfsmittel zur Darstellung quasi-diskontinuierlicher Übergänge und nur in besonderen (meist physikalischen) Fällen fügen sie sich auch unmittelbar einem Erklärungsansatz. Abschließend kann festgestellt werden, daß trotz der neuen formalen Ansätze folgendes Urteil von C.F.w.Weizsäcker 65 seine volle Aktualität behält: „Den Übergang über das organische Leben zum Bewußtsein hat die Naturwissenschaft noch nicht vollzogen, aber sie sieht ihn als Aufgabe vor sich."

Anzunehmen ist diesbezüglich nach den bisherigen Überlegungen, daß eine Verfeinerung des traditionellen formalen Apparates, die keine Neuformulierung der logischen Grundlagen einbringt, diese Aufgabe nicht löst.

3.3 Vage Prädikate 3.3.1 Die Fuzzy-Set-Theorie Argumentiert man im Rahmen der Hypothese einer objektiven, d.h. unabhängig vom beobachtenden Subjekt existierenden Realität, so folgt, daß auch die Ähnlichkeit zweier beliebiger Objekte objektiv unzweideutig festgelegt ist, sofern dem Prädikat „ähnlich" überhaupt eine objektive Bedeutung zuerkannt werden kann. Selbiges gilt dann natürlich auch für Prädikate wie „schön", „rot", „stabil" etc. Nun können allerdings zwei Frauen schön sein, ohne daß sie deswegen schon gleichermaßen schön sind. Den Prädikationen der obigen Art haftet der Makel des Ungefähren, der Unbestimmtheit an, weshalb ihr operationaler Wert ziemlich gering ist. Die theoretische Argumentation in formalen Modellen verlangt jedoch präzise Begriffssysteme um Aussagen in mathematischer Trennschärfe generieren zu können. Ein formaler Algorithmus benötigt z.B. die exakte Definition des „Sandhaufens", um zu wissen, nach wieviel zusätzlichen 65

8*

C.F.w.Weizsäcker,

1977, S.385.

116

3. Mathematik der Evolution

Sandkörnern die Abstraktion von den Körnern zum Sandhaufen gerechtfertigt ist (Sorites Paradox). Formale Modelle des rationalen Verhaltens müssen exakt sein aufgrund der Bedingungen, die der Formalismus selbst an die Analyse stellt. Wir müssen allerdings fragen, ob menschliches Denken und Handeln jemals voll und ganz formaler Präzision entsprechen kann. Natürliche Sprache ist immanent unpräzise, gerade deshalb spiegelt sie aber „exakt" unser Denken wieder, das eben nur in idealisierender Abstraktion formalen Anforderungen genügt. In Reaktion auf die eingeschränkte Operationalität vorhandener formaler Systeme wurden neue Theorien und Logiken entwickelt, die diese Restriktionen überwinden sollen. Wohl am bekanntesten davon ist die Theorie der „Fuzzy Sets" von Zadeh und die zugrundeliegende unendlichwertige Logik von Lukasiewicz. Die Idee der Fuzzy-Set-Theorie basiert auf der Annahme eines kontinuierlichen Teilmengenprädikats. Der Ausdruck Ax = 0.6 wird darin interpretiert als die Aussage: Das Element χ ist zu einem Grad von 0.6 in der Menge A enthalten (vgl. Gaines, S.628). Akzeptiert man solche Strukturen in der Mengenlehre, dann kann man sie in beliebigen Prädikationen einsetzen, ja der Prädikationsraum wird sogar noch um einige klassische Antinomien erweitert, die in der neuen Fassung nicht mehr im Widerspruch zum Axiom der Komprehension stehen (vgl. Gaines, S.624 u. 646ff.). Analog der Teilmengeneigenschaft wird die Dichotomie wahr-falsch in ein Kontinuum umgewandelt. Die Aussage „dieser Text ist langweilig" hat dann den Wahrheitswert, der sich aus dem Grad der Teilmengeneigenschaft dieses Textes bezüglich der Menge aller langweiligen Texte ergibt. Offensichtlich wird sich dieser Wahrheitsgrad noch mehr oder weniger kontinuierlich mit dem Wachstum des Textes verändern. Ähnlich kann man den Wahrheitswert einer vermittels logischer Operatoren verbundenen Aussage definieren. Die Aussage „x impliziert y" ist dann wahr, wenn und nur wenn der Wahrheitswert von y (W(y)) größer gleich dem von χ ist, oder in anderer Definition gleich W(y), wenn W(y) < W(x) 1 . Man muß sich aber fragen, was das Ganze für einen Sinn haben soll. Einmal bleibt es vollkommen unklar, wie der exakte Teilmengengrad festgestellt werden kann, letztlich ist es ja wohl die inhärente Präzisierungsproblematik, die die Verwendung vager Prädikate wie „schön" oder „nützlich" notwendig macht. Die Aussage „Fräulein Adelheid ist zu 0.894 schön" wird daher trotz des Postulats kontinuierlicher Prädikate niemals in dieser Form nachweisbar sein, und so bleibt es dem objektiven Beobachter einer objektiven Realität — wer immer dies auch sein mag — überlassen, sich an dieser 0.894-Schönheit zu erfreuen. Aber auch eine subjektive Interpretation ergibt nicht mehr Sinn, denn wäre es dem Aussagenden wirklich möglich (d.h. wäre er aufgrund einer Entscheidung 1

Vgl. dazu und zu weiteren Definitionen Gaines, S.641.

3.3 Vage Prädikate

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auf exakt quantifizierbare Kriterien hinsichtlich des Prädikats „schön" festgelegt), eine 0.894-Schönheit zu beobachten, dann ist das von Natur aus vage Prädikat vermittels der Entscheidung durch eine klare funktionale Abhängigkeit auf die exakt quantifizierbaren Kriterien reduziert. Die vage Eigenschaft ist damit nur noch scheinbar und vordergründig in Verwendung, tatsächlich aber durch Prädikate völlig anderer Natur, nämlich exakt quantifizierbarer Art, ersetzt. Statt unscharfer Eigenschaften P, wie „harmonisch", werden nun exakte Prädikate x*P mit χ aus dem Intervall (0,1) postuliert (z.B. 0.7-harmonisch) — mithin erfährt der Prädikationsraum eine ungeheure Erweiterung. Hiermit erweist sich der ganze Ansatz aber geradezu als kontraintentional, denn statt der erklärten Absicht, die Operationalität vager Prädikate zu verbessern 2, wird jegliche Unbestimmtheit aus dem Fuzzy-Reasoning-Kalkül kurzerhand von vorneherein ausgeschlossen. Fuzzy-Reasoning erzwingt die Formalisierbarkeit vermittels der Aufgabe unbestimmter Prädikate; diese verändern somit nicht einfach ihren Charakter, sondern sie gehen gänzlich verloren. Schließlich kommt man zu Aussagen wie „Die Fuzzy-Menge aller harmonischen Objekte gehört zum Grade 0.6 zur Fuzzy-Menge der präzisierbaren Prädikate", in denen sich das Konzept durch die simultane Verwendung in zwei Abstraktionsebenen selbst aus den Angeln hebt. In der Kurzfassung der obigen Argumente wird offenbar, daß sich das FuzzyKalkül gewissermaßen zirkulär selbst im Wege steht, d.h. gerade dann, wenn es empirische Relevanz gewinnt, wird es zugleich entbehrlich. Insbesondere ist es in der Regel weder rational noch empirisch möglich, den Teilmengengrad exakt zu terminieren (vgl. hierzu McGoveran, S.50f.). Sollte es aber dennoch einmal möglich sein, diese Schwierigkeit bei manchen vagen Prädikaten zu überwinden, dann können die vagen Prädikate jederzeit durch exakte ersetzt werden und es bedarf keines Fuzzy-Kalküls mehr. Was bleibt ist die abstrakte mathematische Struktur, die Fuzzy-Transformation des Logik-Kalküls ohne sinnvolle semantische Interpretation, in McGoveran" s Worten (S.51): „...empirical fuzzy logic is relegated to the realm of a mathematical curiosity."

Ohne Zweifel sind Anstrengungen, unscharfe Begriffe zu präzisieren, weiterhin notwendig, nur besteht nach den wenigen Erfolgen (z.B. hinsichtlich des Wärmebegriffs in der Physik) und trotz neuer Methoden, wie z.B. multidimensionaler Skalierungstechniken, keine Rechtfertigung für den induktiven Schluß, dies wäre grundsätzlich bei allen Begriffen möglich. Vielmehr scheint es, als wäre semantische Unschärfe infolge grundsätzlicher Restriktionen der Beobachtbarkeit nicht nur eine unvermeidliche 3, sondern sogar eine inhärent notwendige 2 „... it is the main motivation of studying and formalizing fuzzy reasoning that it allows equal facility of inference with such,non-physical' and,ill-defined' terms as one normally has with those more amenable to precisiation." (Gaines, S.650). 3 Konträr dazu Gaines, S.650.

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3. Mathematik der Evolution

Eigenschaft unserer Welt. Darauf verweisen zumindest die Unschärferelation der Physik 4 , aber auch uns näherstehende Probleme, insbesondere die, die mit der Präzisierung streng subjektiver Begriffe wie Schönheit, Ästhetik, Gesundheit oder Nutzen einhergehen. Ein geeignetes Prädikat, um dies zu zeigen, ist „Kenntnis dieser Welt". Wir wissen zwar, daß wir Kenntnis von dieser Welt haben, aber wir wissen nicht, welchen Bestandteil des möglichen Wissens diese Kenntnis ausmacht. Eine Präzisierung dieses Verhältnisses erfordert jedoch als Vergleichsmaßstab das vollständige Wissen. Dann ist aber eine Präzisierung nicht mehr notwendig. Als Resultat ergibt sich, daß „Kenntnis dieser Welt" entweder ein vages, nicht präzisierbares Prädikat ist, oder immer vollständiges Wissen verfügbar ist. Letzteres kann allerdings nie der Fall sein, denn die Tatsache, daß die Kenntnis von dieser Welt, als integraler Bestandteil dieser Welt, Teil ihrer selbst sein müßte, führt auf die bekannten Paradoxien der klassischen Logik.

3.3.2 Nutzen „Das Ding ist Ich; in der Tat ist in diesem unendlichen Urteile das Ding aufgehoben; es ist nichts an sich; es hat nur Bedeutung im Verhältnisse, nur durch Ich und seine Beziehung auf dasselbe... Die Dinge sind schlechthin nützlich und nur nach ihrer Nützlichkeit zu betrachten." Hegel, S.577.

Besonderes Augenmerk verdient das oben genannte Prädikat „Nutzen", das in der Ökonomik eine tragende Rolle spielt. Entscheidungstheoretische Aussagen erfordern ein Maß, das Vergleiche sowohl intra- wie interpersoneller Art zuläßt. Der Vergleich zweier oder mehrerer Objekte im weitesten Sinne (z.B. auch Ereignisse) kann nur über einen Maßstab erfolgen, der insbesondere gemeinsam sein muß. Gemeinsam heißt, daß sich bezüglich der zu vergleichenden Objekte Kriterien finden lassen, die sich bei all diesen Objekten wiederholen und die eine dem Vergleichszweck genügende Aussage erlauben, oder in anderen Worten: eine genügend hohe Abstraktion muß auf problemadäquate Wiederholungen hinsichtlich der Objekte führen. Solche Kriterien können z.B. physikalische Dimensionen, wie Größe, Gewicht, Volumen, oder aber unbestimmte, subjektbezogene Größen, wie Sympathie, Sicherheit, Vertrauen und eben auch Nutzen sein. Der Nutzen oder vielmehr die Nutzenzunahme kann demnach als ein Erklärungsprinzip verstanden werden, von dem unterstellt wird, daß es sich bei allen Wirtschaftsindividuen bezüglich der Ceteris-paribus-Vermehrung einer Güterart wiederholt. Dem Erklärungsprinzip als solchem wird somit eine 4 Vgl. z.B. C.F.v.Weizsäcker, Ökonomen Chalk.

1971, S.481 ff., Mengesj Skala, S.53 f. oder den

3.3 Vage Prädikate

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objektive Existenz im Sinne einer subjektunabhängigen Bedeutung (bezogen auf den Eigenschaftsträger sowie auf den Beobachter) zugeschrieben, während die quantitative Bewertung zwar noch als beobachtbar, aber wegen der individuellen Wahl des Maßstabs bzw. der Ordnungsrelation als nicht mehr subjektunabhängig angenommen wird (keine strikte intersubjektive Wiederholung). Der Nutzenbegriff erhielt seine Bedeutung mit der Neuorientierung der Wertlehre in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch Menger, Jevons und Walras 5, deren Einführung des Nutzenkonzepts zur Auflösung des Wertparadoxons zwischen Tausch- und Gebrauchswert führte. Versteht man unter Nutzen einen Zustand erreichter Bedürfnisbefriedigung und unterstellt man, daß der Grenznutzen eines Gutes stets mit steigender Menge abnimmt, so folgt, daß mit zunehmender Ausstattung, trotz hohem Gebrauchswert, der Grenznutzen unter den eines Gutes mit niedrigem Gebrauchswert fallen kann. M i t der Einführung des neuen Konzepts waren allerdings die Schwierigkeiten nicht beseitigt, es entstanden neue Probleme. Wie oben schon angedeutet handelt es sich beim Nutzen um ein vages Prädikat, und die seit Jahrzehnten andauernden Diskussionen belegen, daß eine befriedigende Begriffs-Präzisierung zur Steigerung der empirischen Relevanz noch nicht gelungen ist. Die Ergebnisse der bisherigen Diskussion können grob auf drei unterschiedliche Standpunkte konzentriert werden. Die Vertreter der älteren Wohlfahrtstheorie gingen davon aus, daß der Nutzen sowohl kardinal meßbar als auch interpersonell und intertemporal vergleichbar sei. Das Fehlen eines Maßstabs mit derartigen Eigenschaften gab Anlaß zur Kritik, die mit der Einführung des Konzepts der ordinalen Nutzenmessung durch Pareto zur Gründung der neueren Wohlfahrtstheorie führte. Dieser Verzicht auf interpersonelle Vergleichbarkeit und kardinale Meßbarkeit und ihr Ersatz durch eine Ordungsrelation gingen einher mit einem Verlust an theoretischer Aussagekraft, was wiederum gerade Vertreter der formalen Ausrichtung zu dem Versuch bewog, das Konzept des kardinalen Nutzens (genauer: semikardinal, vgl. Matzka S.104) durch die Entwicklung eines geeigneten Maßstabs zu retten. Der Ansatz von Morgenstern und von v.Neumann ermöglicht die exakte Bestimmung des Nutzens über die funktionale Kombination des Erwartungsnutzens eines Güterbündels mit der Eintreffwahrscheinlichkeit. Allerdings setzen Morgenstern und w.Neumann die objektive Bestimmung der Eintreffwahrscheinlichkeiten voraus 6 , womit sie den Schwarzen Peter lediglich einem anderen Begriff zugeschoben und das Problem keineswegs gelöst haben. Analog gilt im umgekehrten Fall, daß über einen gegebenen Nutzenmaßstab die Wahrscheinlichkeiten bestimmt werden können 7 . Interessant ist in diesem Zusammenhang, 5

Vgl. Hansmeyer, S.493 ff. Genauer hierzu die Erörterung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs im Zusammenhang mit der Theorie des Fuzzy-Reasoning weiter unten. 7 Vgl. die ausführliche axiomatische Darstellung von Matzka, S.104 ff. sowie Schneeweiss, S.l 13 ff. 6

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3. Mathematik der Evolution

daß beidemal die Ableitung des jeweils anderen Maßstabs auf der Fähigkeit des Individuums, Wiederholungen entdecken zu können, beruht. Die dritte Gruppe 8 schließlich hält jegliche Objektivierbarkeit des Nutzenbegriffs, im Sinne einer Meßbarkeit, bis auf Sonderfälle für fragwürdig und verweist damit die darauf begründeten formalen ökonomischen Theorien, wie etwa die Werttheorie nach Debreusohzm Muster, in den Bereich formaler Kuriositäten. Zu klären bleibt noch die Beziehung des Nutzenkonzepts zum eingangs diskutierten Fuzzy-Reasoning. Wie die obigen Überlegungen zum Nutzenbegriff zeigen, sind nicht nur die Schwierigkeiten bei der Bestimmung des semantischen Gehalts ganz dieselben. Als zweifelsfrei vages Prädikat kann man das Nutzenkonzept sogar problemlos im Rahmen des Fuzzy-ReasoningKalküls thematisieren. In umgekehrter Richtung lassen sich darüberhinaus aber auch aus der fortgeschrittenen Kontroverse über das Nutzenkonzept wesentliche Aussagen über Fuzzy-Reasoning gewinnen. Ja wir erhalten sogar das überraschende Resultat, daß die Technik des Fuzzy-Reasoning, zwar eingeschränkt auf das Prädikat Nutzen, sonst aber strukturell äquivalent, schon längst, d.h. Jahrzehnte vor der Einführung durch Zadeh 1965, bei den Ökonomen in der Wohlfahrtstheorie, Werttheorie, Verteilungstheorie usw. verbreitet war und angewandt wurde. Es handelt sich bei der Theorie des FuzzyReasoning also lediglich um eine Generalisierung und vielleicht bessere formalabstrakte Fundierung eines in der Ökonomie wohlbekannten und bestens reflektierten Ansatzes. Die Fragen, die im Zusammenhang mit der Theorie des Fuzzy-Reasoning erörtert werden, sind also keineswegs neu. Im Gegenteil, man könnte meinen, der Wert oder Unwert der Hypothese eines objektiv exakten Hintergrunds zur vagen Kulisse menschlicher Kommunikation wäre in der Ökonomie längst ausdiskutiert und von daher als unentscheidbar und somit selbst als vage begriffen worden. Die Relevanz der Argumentation mit vagen Begriffen und die Relevanz des Begreifens eben dieser Argumentation zum Verständnis unserer Welt ist deswegen unbestritten, jedoch wird diese Argumentation durch die Projektion auf einen postulierten exakten Hintergrund lediglich formal, aber keineswegs inhaltlich zugänglicher. Aufgrund der Erfahrungen der Ökonomen mit dem Nutzenkonzept erscheint mir daher der Optimismus des Fuzzy-Lagers im Hinblick auf die Forschungen im Bereich „Artificial Intelligence" speziell, „Pattern Recognition" 9 , nicht gerechtfertigt. Kennzeichnend für die aktuelle Situation hinsichtlich der Veröffentlichungen ist wohl folgende Notiz von Jain (S.130):

8 Vgl. z.B. Georgescu-Roegen, etwa 1971, S.336 oder S.52 oder auch die Auffassung der .Österreicher", beschrieben bei Kirzner, S.148 ff. 9 Vgl. Gaines, S.625, Jain , S.130 sowie Wang ?./Wang C., S.196.

3.3 Vage Prädikate

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„There is no dearth of papers discussing mathematical aspects of fuzzy set theory, but the number of papers giving non-trivial applications of fuzzy set theory is surprisingly very small."

Sie bestätigt den Verdacht, daß mit dem Kalkül des Fuzzy-Reasoning dem Wissenschaftler wieder einmal zwar formal konsistente, aber doch reichlich fremdartige Welten zur Verfügung gestellt werden, deren empirische Relevanz, entgegen den Ankündigungen, nicht über die der sogenannten Arrow-DebreuWelten in der Ökonomik hinausgehen. Als pragmatische Konsequenz wäre zu fordern, daß sich die Wissenschaft wieder mehr der natürlichen Sprache bedient, deren Funktionieren zwar noch nicht genau verstanden ist, das andererseits aber unbestritten ist.

3.3.3 Ähnlichkeit „When are two things the same?... we shall see how deeply this simple question is connected with the nature of intelligence." Hofstadter , 1979, S.148.

Statt der Gleichheit verwenden wir lieber den Begriff „Ähnlichkeit", denn die Aussage „zwei Objekte sind gleich" birgt in sich die Gefahr eines logischen Widerspruchs. Allein die Tatsache von zwei Objekten sprechen zu können, die Fähigkeit sie auseinanderzuhalten, setzt bereits ihre Unterscheidbarkeit im Widerspruch zur Aussage voraus. Exaktheit ist von daher inhärent problematisch und bedarf einschränkender Annahmen, um damit sinnvoll operieren zu können. Anders dagegen Ähnlichkeit; logische Probleme treten hier zunächst nicht auf, dafür sind eher Schwierigkeiten bei der Interpretation des semantischen Gehalts zu erwarten. Was heißt das: zwei Objekte sind einander ähnlich? Wir versuchen zunächst folgende einfache Definition: Zwei Objekte sind einander ähnlich, wenn sie gemeinsame Eigenschaften besitzen 10, d.h. wenn sich etwas bei beiden wiederholt, das sogenannte „tertium comparationis".

Zum Beispiel sind zwei Dreiecke ähnlich, wenn sie gleiche Winkel haben, oder zwei Hunde, wenn sie der gleichen Rasse angehören usw. Leider reicht diese Definition nicht aus, denn es entstehen zwei Schwierigkeiten: — Einmal besteht die Gefahr, daß der Begriff in dieser Definition tautologisch wird, weil letztlich alles zu allem ähnlich ist, da sich wenigstens die Objekteigenschaft wiederholt. — Zum anderen taucht in der Definition mit der Wiederholung implizit der Begriff der Gleichheit auf, den wir ursprünglich vermeiden wollten.

Offensichtlich bedarf die Ähnlichkeit einer näheren Spezifikation, was durch eine zweifache Kennzeichnung des Abstraktionszusammenhangs gewährleistet werden kann. Das ist einmal der Sprachbereich, in dem von den zu vergleichen10

Vgl. zur Definition der Vergleichbarkeit weiter oben!

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3. Mathematik der Evolution

den Objekten die Rede ist, wir nennen ihn gewöhnlich den „Kontext". Je nach Kontext können Ähnlichkeiten auftreten — der Begriff Ähnlichkeit wird kontextabhängig bzw. sogar subjektabhängig, denn schließlich ist es das Subjekt, das den Kontext definiert. Beispielsweise sind zwei Güter ähnlich bezüglich ihres Preises, oder weil es sich beide Male um Investitionsgüter handelt; hinsichtlich der Nutzenüberlegung eines Individuums können sie jedoch sehr unterschiedlich sein. Die Angabe des Kontextes macht den Begriff der Gleichheit wieder zugänglich, sie vermittelt die einschränkende Annahme, die wir weiter oben zur Vermeidung des logischen Widerspruchs gefordert haben. Die zweite Kennzeichnung betrifft das Abstraktionsniveau innerhalb des Kontextes, das wir wählen müssen, um von Wiederholungen sprechen zu können, jedoch, ohne daß aufgrund einer zu weitgehenden Abstraktion die Aussagen tautologisch werden. Damit ergibt sich folgende Definition: Zwei Objekte sind einander ähnlich, wenn hinsichtlich der Objekte sich wiederholende Eigenschaften (Invarianten, tertium comparationis) erkennbar sind, und sowohl der Kontext als auch das tertium comparationis ausreichend gekennzeichnet sind.

Es ist also gar nicht möglich mit dem Begriff Ähnlichkeit vernünftig zu operieren, ohne dabei mehrfach auf die kreative Leistung des Subjekts Bezug nehmen zu müssen, die sich in der Abstraktion, d.h. in der Entdeckung von Wiederholungen oder, ebenfalls synonym dazu, im Generieren von Symmetrien äußert, die wiederum Orientierung ermöglichen. Die angesprochenen Spezifikationen erfolgen im vertrauten Kommunikationszusammenhang in der Regel automatisch, weshalb wir ihnen gewöhnlich wenig Bedeutung beimessen. So wenig sogar, daß im wissenschaftlichen Kontext, insbesondere in formalen Beschreibungen meist auf den subjektiven Ursprung der Abstraktion kein Bezug mehr genommen wird. Die Menge der Objekte, d.h. Alternativen, Kontexte usw. wird vereinfacht als objektiv vorgegeben angenommen. Die Möglichkeit der Abstraktion, um weitere Kontexte zu erschließen, Informationen zu erzeugen usw., taucht innerhalb der Theorie nicht auf. Eine solche Vorgehensweise ist natürlich selbst eine Abstraktion. Hierbei wird vom Subjekt, das zu Abstraktionen fähig ist, abstrahiert. Ganz in diesem Sinne schreibt Schrödinger (1979, S.33) zum Objektivierungsstreben der Wissenschaften: „Wir meinen (mit Objektivierung; Anm.d.Verf.) das, was wohl auch als die Hypothese der realen Außenwelt bezeichnet wird. Es ist nicht trivial, daß es sich dabei, wie ich behaupte, um eine vorerst unbewußt und unvollständig vorgenommene Vereinfachung des Problems der Natur durch vorläufige Ausschaltung des erkennenden Subjekts aus dem Komplex des zu Verstehenden handelt."

Der Ähnlichkeitsbegriff, interpretiert im Sinne der obigen Analyse, erlaubt jetzt, da er offensichtlich zu den vagen Prädikaten zählt, die durch das formale

3.3 Vage Prädikate

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Fuzzy-Konzepts implizierte Welt genauer zu charakterisieren. Die Subjektabhängigkeit, die sich bei diesem Prädikat deutlich in den beschriebenen Abstraktionsbezügen zeigt, tritt in der Darstellung innerhalb des Fuzzy-Reasoning nicht mehr auf. Es liegt offenbar eine Projektion vor, die das lebendige Kommunikationsgeschehen auf einen fiktiv objektiven und exakten Hintergrund abbildet, eine Projektion, der das Subjekt zum Opfer fallt. Dies ist besonders schwerwiegend, da es gerade in der Intention des Fuzzy-Konzepts liegt, den Bedingungen der menschlichen Kommunikation besser gerecht zu werden. Die Vernachlässigung der Abstraktionszusammenhänge äußert sich in der Theorie der „fuzzy-sets" schon in der Vorwegnahme der Arithmetik 1 1 . Die Entwicklung der Arithmetik aus der Mengenlehre mit genauer Darstellung der dazu nötigen Abstraktionsschritte zeigt Quine (1969, S.295 ff.). Eine Mengentheorie (Fuzzy-set-Theorie), die zur Definition der Teilmengeneigenschaft einen Kalkül voraussetzt (die Arithmetik), der sich erst aus der Abstraktion aufbauend auf dieser Mengentheorie ergibt, scheint nicht geeignet, soziale Zusammenhänge wiederzugeben, die gerade wegen der Fähigkeit des Menschen zu abstrahieren dem formalen Zugriff bisher entzogen waren. Der Ersatz des „tertium non datur" durch ein kontinuierliches Spektrum aus Wahrheitswerten löst die Aporien, die sich aus der Differenz unserer Welterfahrung zur Logik ergeben, nicht. Es bleibt eine Logik dessen, was ist, ohne Verbindung zum „Werden", eine Logik der Distanz, die sich an die invarianten Strukturen der Vergangenheit wendet und dem Sein des Werdens ratlos gegenübersteht.

3.3.4 Wahrscheinlichkeit Der axiomatische Aufbau formaler Theorien kommt ohne eine inhaltliche Definition seiner Grundbausteine aus. Zudem ist, wie die bisherigen Bemerkungen zur klassischen Logik gezeigt haben, eine inhaltliche Interpretation eher problematisch und schafft Verwirrung. Für die Theorie genügt es, die formalen Eigenschaften der Bausteine zu spezifizieren. So ist die mathematische Theorie der Wahrscheinlichkeit durch den axiomatischen Aufbau gemäß Kolmogoroff\ ohne inhaltliches Wissen über die Wahrscheinlichkeit, dennoch ausreichend bestimmt 12 . Für die Sozialwissenschaften können jedoch inhaltsabstrakte Formalismen zur Erklärung einer Welt, die sich nicht allein in syntaktischer Kombinatorik erschöpft, nicht genügen. Die Zuordnung einer Wahrscheinlichkeit p, mit ρ aus (0,1), zu einem Ereignis verbindet zwei Aussagen: Einmal nehmen wir damit zur Möglichkeit des Ereignisses Stellung, die lediglich für p = 0 ausgeschlossen ist. Zum anderen geben wir quantitativ Auskunft, welchen Neuigkeitswert der Eintritt des 11 12

Vgl. den Hinweis bei Gaines, S.635. Vgl. Bauer, S.129, siehe auch z.B. Pageis, S.98 ff.

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3. Mathematik der Evolution

Ereignisses für uns haben wird. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff setzt also Möglichkeit und Information (definiert als negativer Logarithmus der Wahrscheinlichkeit I: = - log p) zueinander in Beziehung — er ist quantifizierte Möglichkeit 13 . Das von beiden schwächere Prädikat ist „Möglichkeit", es bezieht sich aber ebenfalls auf zukünftige Ereignisse und wird bei C.F.w.Weizsäcker dementsprechend als eine temporale Modalität beschrieben 14 . Bezeichnen wir ein Ereignis als möglich, so ordnen wir es der Menge der zukünftigen Ereignisse zu, allerdings nur im Sinne einer Kontingenzaussage, d.h. wir wissen nicht zu welchem Grade dieses Ereignis in der Menge der zukünftigen Ereignisse liegt. Möglichkeit ist folglich ein vages Prädikat und läßt sich damit wie Ähnlichkeit und Nutzen im Kontext des Fuzzy-Reasoning thematisieren. Andererseits erlaubt die strukturelle Äquivalenz der quantifizierten Möglichkeit zum Fuzzy-Konzept, analog wie beim Nutzen, den Zugriff auf die Interpretationen des Wahrscheinlichkeitsbegriffs und deren Verwertung zur Analyse des Fuzzy-Reasoning. Mittels der Präzisierung des Möglichkeitsprädikats im Wahrscheinlichkeitsbegriff wird eigentlich, wie oben gezeigt, ein echter Prädikatswechsel vorgenommen, und im Gegensatz zum Fuzzy-Konzept wird diesem Wechsel hier durch die Änderung der Bezeichnung (statt Möglichkeit: Wahrscheinlichkeit) konsequent Rechnung getragen. Die Verwendung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs bedarf jedoch genau wie die Präzisierung anderer vager Prädikate durch das Fuzzy-Konzept der Rechtfertigung, daß es sich nicht lediglich um ein theoretisches Konstrukt ohne empirische Relevanz handelt. Die Präzisierung der Möglichkeit vermittels dem Wahrscheinlichkeitsbegriff gelingt am ehesten, wenn die Menge der Möglichkeiten oder Alternativen in einem bestimmten Kontext bekannt ist. Diese Forderung impliziert einen streng deterministischen Zusammenhang hinsichtlich der Ereignismenge, d.h. es gilt als sicher, daß eines der Ereignisse der Menge eintritt. Der Eintritt des Ereignisses erfolgt zwar zufallig, die Ereignismenge gehorcht jedoch einem Gesetz. In der Regel kann man dieser Einschränkung nur approximativ gerecht werden und auch dann nur in genau abgegrenzten Laborsituationen oder im Bereich der Naturwissenschaft. Schon im normalen sozialen Kontext ist die Spezifizierbarkeit der Alternativenmenge (wie die Diskussion in Kap.l und Kap.2 gezeigt hat) wegen der Anwesenheit von Subjekten im Gegenstandsbereich oft nicht mehr gewährleistet. Die Bestimmung der einzelnen Wahrscheinlichkeiten ist einmal denkbar aus der Beobachtung von Wiederholungen bei einer Versuchsserie, z.B. über die 13 Diese Umschreibung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs verwendet C.F.v .Weizsäcker, 1977, S.428. 14 Ebenda.

3.3 Vage Prädikate

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Berechnung der relativen Häufigkeiten der beim Würfelspiel resultierenden Augenzahlen. Im einfachen Induktionsschluß werden die relativen Häufigkeiten dann als Wahrscheinlichkeiten interpretiert. Eine mögliche Alternative ist der Induktionsschluß aus dem Erkennen von Symmetrieeigenschaften des Gegenstandsbereichs. Das bedeutet, auch hier ist der Prozess des Entdeckens von Wiederholungen wieder zentral (mithin wiederholt auch er sich). Bezogen auf den Würfel erhalten wir: Die symmetrische Anordnung der Begrenzungsflächen, die Homogenität seines inneren Aufbaus und die angenommene Invarianz des Schwerkraftgesetzes geben Anlaß zur Vermutung, daß die Eintrittswahrscheinlichkeiten der jeweiligen Augenzahlen bei wahllosen Würfen des Würfels identisch sind 15 (vgl. zur Bestimmung der Gleichheit). Natürlich können wir solche Beobachtungen nur cum grano salis anstellen — der ideale Würfel ist eine Abstraktion. Unsere Erfahrung zeigt aber, daß derartige Induktionsschlüsse sehr wohl sinnvoll sind und eine Orientierung ermöglichen. Die eben beschriebene Alternative zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeiten ist eng verwandt zur Methode der relativen Häufigkeiten, denn interpretiert man diese Häufigkeiten als zeitliche Symmetrien, so wird deutlich, daß der Induktionsschluß beidemale auf Symmetrien (Wiederholungen), einmal zeitlicher und das andere Mal räumlicher Art gründet. Der bisher abgeleitete Wahrscheinlichkeitsbegriff ist durch eine Mengenaussage charakterisiert. Er gibt an, wie oft ein bestimmtes Ereignis in einem sehr großen Ensemble von Ereignissen auftritt, und gibt keine Hilfestellung, wie Wahrscheinlichkeit in der Reduktion auf ein einzelnes Ereignis zu interpretieren ist, d.h. wenn keine Möglichkeit einer Symmetriebetrachtung der obigen Art besteht, sei es, weil der Prozess nicht unabhängig wiederholbar ist (fehlende zeitliche Symmetrie), die Beobachtungsmöglichkeiten fehlen (keine räumliche Symmetrie) oder es sich um ein historisch einmaliges Ereignis handelt. Die Schwierigkeit besteht nicht allein in der Gewichtung der alternativen Ereignisse mit Wahrscheinlichkeitswerten, auch über die Klasse der möglichen Ereignisse sind in der Regel nur wenig Informationen zugänglich. Wie bei der Diskussion der anderen vagen Prädikate wird die Quantifizierung in solchen Fällen, die wohl in sozialen Zusammenhängen überwiegen dürften, unmittelbar von der Einschätzung des einzelnen Individuums abhängen, man spricht daher auch von der subjektiven Wahrscheinlichkeit 16 . Ein mögliches Maß dazu ist die Wettbereitschaft eines Individuums auf das Eintreffen eines Ereignisses, wobei die Beobachtbarkeit grundsätzlich ungeklärt ist. Fraglich ist auch, ob der erhaltene Wert mehr über das wettende Individuum oder die der Wette zugrundeliegende Situation verrät. Mithin erhalten wir hinsichtlich der Präzisierbarkeit und damit 15 Vgl. auch den dazu ähnlichen Propensity-Begriff der Wahrscheinlichkeit nach Popper, der diese als Merkmal eines Objekts unter bestimmten experimentellen Bedingungen ansieht (beschrieben z.B. bei Zucker, S.52). 16 Vgl. Matzka, S.l 15 f. oder Zucker, S.51 ff.

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3. Mathematik der Evolution

der wissenschaftlichen Verwertbarkeit die bekannten Muster, die auch die Diskussion zu den Prädikaten Schönheit, Nutzen usw. gezeigt hat 1 7 . Die Problematik hinsichtlich der Quantifizierung der subjektiven Wahrscheinlichkeit ist offenbar nicht geringer als die anderer vager Prädikate oder mit Popper' s Worten (S.28): „Das Streben nach Exaktheit entspricht dem Streben nach Gewißheit..."

Der oben angesprochene Vorschlag zur Nutzenmessung von v.Neumann und Morgenstern liefert folglich keine Verbesserung, das Problem wird lediglich auf das zu ihm analoge Problem der Wahrscheinlichkeit abgebildet. Der Vergleich mag bestritten werden, da man den Wechsel zu einer zeitbezogenen Fragestellung als grundlegenden qualitativen Sprung empfinden könnte. In der Tat werden Raum und Zeit oft als die basalen Kategorien überhaupt betrachtet, in die alles Geschehen eingebettet ist. Man muß jedoch zu bedenken geben, daß ein Raum- oder Zeitbegriff ohne die Möglichkeit Wiederholungen zu entdecken, d.h. Mengen zu bilden, kaum vorstellbar ist (vgl. Kap.5.3). Die Begriffe Raum und Zeit sind folglich ebenfalls Abstraktionen und können somit schlecht als ein Apriori einer Mengenvorstellung verstanden werden. Ein Vergleich innerhalb der Mengentheorie ist also zulässig bzw. der durch die Theorie der Fuzzy-sets aufgespannte Rahmen wird durch den Wechsel nicht verlassen. Darüberhinaus ist eine zumindest formale Analogie schon deswegen nicht erstaunlich, da Raum und Zeit formal gewöhnlich völlig äquivalent behandelt werden. Faßt man die bisherigen Überlegungen zusammen, so folgt daraus, daß der Vorteil des Fuzzy-Konzepts weniger in seiner empirischen Relevanz, als vielmehr in der Verallgemeinerungsfahigkeit der Aussagen zur Präzisierbarkeit vager Prädikate liegt — ein formalismus-typisches Resultat, da die Inhaltsabstraktheit bzw. bloße Form der Formalismen gerade die wiederholte Verwendung in unterschiedlichen Zusammenhängen ermöglicht, die sich eben in der Form gleichen (wiederholen). Die Erfahrungen mit dem subjektiven Wahrscheinlichkeits- und dem Nutzenbegriff, beim letzteren insbesondere die Überlegungen zur ordinalen oder kardinalen Meßbarkeit, lassen sich somit weitgehend übertragen. Die strukturelle Äquivalenz vager Prädikate basiert auf der Abhängigkeit von subjektiver Bewertung. Der Übergang zu exakter Prädikation führt zur Abstraktion von dieser Abhängigkeit, das heißt von genau der Eigenschaft, die die vagen Prädikate charakterisiert. Eine strukturelle Äquivalenz bleibt jedoch in den zwangspräzisierten Formen als formale Analogie bestehen und ist bezüglich Nutzen und Wahrscheinlichkeit wohlbekannt 18 . Natürlich bedeutet 17 Hinweise auf die Analogie des Fuzzy-Konzepts zur subjektiven Wahrscheinlichkeit finden sich auch bei Hisdal, S.87 und Jain, S.129/131. Gleichzeitig mit der Wahrscheinlichkeit wird auch der unmittelbar damit gekoppelte Shannon'sehe Informationsbegriff vage. 18 Vgl. zur Dualität von Nutzen und Wahrscheinlichkeit Matzka, S.l32 und Schneeweiss, S.l 13 ff.

3.3 Vage Prädikate

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Analogie nur eine teilweise Gleichheit, die sich erst bei einer gewissen Abstraktionsstufe einstellt. Zum Beispiel gibt es für das Prädikat „Nutzen" kein dem „sicheren Ereignis" äquivalentes Gut. Es verbleiben demnach Unterschiede, was nicht weiter verwundert, da man sonst alle Kommunikation mit einem einzigen Prädikat abwickeln könnte. Durch das Fuzzy-Konzept wird die formale Analogie auf alle vagen Prädikate fortgesetzt. Wie beschrieben, entstehen dadurch neue Prädikate, denen aber lediglich beim Möglichkeitsbegriff durch den Wechsel zur Wahrscheinlichkeit Rechnung getragen wird. Grob gesprochen generalisiert das Fuzzy-Konzept den Übergang Möglichkeit-Wahrscheinlichkeit, indem es gewissermaßen räumliche Wahrscheinlichkeiten einführt, ohne bei diesen Prädikaten den Mangel an Präzisierbarkeit, der den zeitlichen Wahrscheinlichkeitsbegriff auszeichnet (subjektive Wahrscheinlichkeit), beheben zu können.

3.3.5 Fuzziness Wir sollten uns der Tatsache bewußt sein, daß eine Beschreibung der Welt nur aspekthaft sein kann, da wir — die beobachten und reflektieren — uns niemals aus der Beschreibung ausschließen können. Eigen, 1983, S.57

Im abschließenden Teil dieses Kapitels steht die Frage nach der Beziehung zwischen Unbestimmtheit und Formalismus im Mittelpunkt. Die bisherigen Überlegungen nähren den Verdacht, daß in der Theorie der Fuzzy-sets mit den formalen Strukturen und den vagen Prädikaten zwei prinzipiell unvereinbare Kategorien eine Zwangsehe eingehen mußten. U m dieser Hypothese nachgehen zu können, benötigen wir mehr Informationen über das Wesen vager Prädikate; Informationen, die die Fuzzy-set-Theorie nicht liefern kann, da sie lediglich die syntaktische Kombinatorik regelt, ohne Bezug auf den semantischen Gehalt zu nehmen. Was wir also brauchen, ist eine Theorie vager Prädikate, eine Beschreibung der Invarianten oder des sich Wiederholenden hinsichtlich „schön", „harmonisch", „nützlich", „ordentlich" usw. Nehmen wir z.B. „ordentlich" oder besser „Ordnung". Ist folgende Zahlenfolge geordnet? 1; 1/2; 1/6; 1/24; 1/120; 1/720; ...

Offensichtlich, und zwar dem Betrag nach. Es ist sogar eine vollständige Ordnung im mathematischen Sinne, und mit ein wenig Überlegung läßt sich auch die Vorschrift angeben, die zur Bildung jeder neuen Zahl der Folge wiederholt angewendet wird: x(i) = x(i-l) * 1/i = 1/i!

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3. Mathematik der Evolution

Weitere Beispiele für geordnete Strukturen sind Kristalle, das monofrequente und gleichphasige Licht in einem Laser, der Straßenverkehr oder der Warenaustausch. Ich glaube, man kann ohne Zögern der Aussage, daß es sich in den Beispielen um geordnete Phänomene handelt, beipflichten. Die Aussage ist also objektiv oder zumindest unmittelbar konsensfähig, von Vagheit bislang keine Spur. Wie steht es aber mit folgender Zahlenreihe, ist diese auch geordnet? 2; 7; 1; 8; 2; 8; 1; 8; 2; 8; 4; 5; 9; 0; 4; 5; 2; 3; 5; ...

Das ist zunächst nicht ohne weiteres einzusehen, es könnte sich um eine zufallige Folge handeln. Tatsächlich ist sie aber der weiter oben vorgestellten Zahlenfolge nahe verwandt. Erste gibt die Reihenentwicklung und letztere die Dezimalentwicklung der Eulerschen Zahl „e" an. Die nächste Folge 7; 1; 8; 3; 5; 7; 4; 8; 2; ...

habe ich bewußt ohne ordnenden Hintergedanken aufgeschrieben, das ordnende Prinzip war „Unordnung". Ist das auch schon Ordnung? — Egal, jedenfalls stehen die Zahlen geordnet in einer Zeile. Die letzten Beispiele waren nicht mehr ganz so klar und objektiv, ihre Ordnung war etwas versteckt. Der Unterschied zwischen Ihrer und meiner Beurteilung der Ordnung lag in meinem Informationsvorsprung begründet, beidemal war es mir möglich durch kurze Erläuterung einen gemeinsamen Kontext einzurichten, in dem sich der Konsens einstellen konnte. Damit haben wir jedoch immer noch kein vages Prädikat, jedenfalls war es möglich bestehende Unklarheiten schnell auszuräumen. Betrachten wir als nächstes einmal Ihren Schreibtisch. Ist er geordnet? Zugegeben, ich kenne Ihren Schreibtisch nicht, aber ich stelle mir gerade vor, Sie hätten mehrere Tage unter Zuhilfenahme von viel Literatur an einem wichtigen Manuskript gearbeitet, und meine Frage trifft Sie mitten in der Schlußphase. Möglicherweise werden Sie mir antworten: Natürlich halte ich Ordnung, und um das zu beweisen, demonstrieren Sie vielleicht, wie Sie mit geschlossenen Augen zielsicher bestimmte Bücher, Stifte oder Texte herausfinden. Auf der anderen Seite, sollte ich einmal tatsächlich Ihren Schreibtisch zu Gesicht bekommen, könnte ich mir vorstellen, daß ich die Ordnung nicht auf Anhieb erkennen kann. Sicher ist es auch hier denkbar, durch genügend Hintergrundinformationen einen Konsens herzustellen, es dürfte aber kaum realistisch sein, anzunehmen, daß irgendwo sehr lange Informationen über die Ordnung einer Schreibtischplatte ausgetauscht würden. Was ist nun der genaue Unterschied zwischen den jeweiligen Verwendungen des Begriffs „Ordnung"? Während in den ersten Beispielen ein intersubjektiver Erfahrungsschatz unmittelbar zum Konsens über die Bedeutung des Begriffs „Ordnung" führte, spielten in den folgenden Aussagen zunehmend Informationen eine Rolle, über die nur der Aussagende verfügte (die Bestandteil des

3.3 Vage Prädikate

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Aussagenden waren). Das heißt die Aussage gab nicht allein Informationen über das Objekt wieder, sie war zugleich mit Informationen über das aussagende Subjekt vermengt. Das gilt natürlich grundsätzlich, aber solange diese Informationen Bestandteil eines intersubjektiven Erfahrungsschatzes sind, entsteht der Eindruck von Objektivität, da die Mitteilung sogleich nachvollzogen werden kann. So finden wir alle die selben Dreiecke ähnlich, da wir die mathematische Definition kennen, aber bei der Beurteilung der Ähnlichkeit zweier Situationen treten vermutlich bereits größere Unterschiede auf. Ob es sich nun um die Prädikate „ähnlich", „nützlich", „wahrscheinlich", „schön" oder andere der Klasse vager Prädikate handelt, immer werden darauf gestützte Aussagen unscharf, wenn die strikte Trennung zwischen Subjekt und Objekt verletzt wird, wenn in die Beschreibung eines Gegenstandsbereichs Elemente der Beschreibung des Beschreibenden mit einfließen 19 . Hinsichtlich der subjektiven Wahrscheinlichkeit haben wir weiter oben bereits explizit auf diesen Umstand hingewiesen. Extrem wird der Fall, wenn der Gegenstandsbereich und das ihn beschreibende Subjekt identisch werden, d.h. wenn eine vollkommen selbstreferentielle Situation eintritt. Die Mitteilung „Ich lüge" ist prinzipiell vage, erst vollständige Information über das Subjekt, vollständige De-Individualisierung würde den wahren Sachverhalt freigeben. Vollständige Information ist aber, wie wir schon am Beispiel des Prädikats „Kenntnis dieser Welt" gesehen haben, prinzipiell unmöglich. „Kenntnis dieser Welt" ist unser Weltbild, und dieses wiederum sind wir selber; wenn wir also unsere Kenntnis dieser Welt quantifizieren wollen, dann brauchen wir eine Schablone für uns selbst. Das Resultat ist voll kompatibel zu den Ergebnissen der Analyse zur Komplexität weiter oben, bei der festgestellt wurde, daß Beschreibbarkeit im klassischen Sinne eine höhere Komplexität des Beschreibenden gegenüber der Komplexität des zu Beschreibenden erfordert. Indem der Aussagende, z.B. im Falle der subjektiven Wahrscheinlichkeit oder bei der Beurteilung eines Bildes als „schön", nicht nur etwas über den Objektbereich sondern gleichzeitig eine Menge über sich verrät, tritt wiederum das Phänomen auf, daß die Komplexität des Beschreibenden sich in der Beschreibung selbst gegenübertritt — im Resultat erhalten wir Unbestimmtheit. Als Ausnahmefall taucht in der Physik die Vagheit bislang nur in der Unschärferelation auf. Wird der Beobachter durch den Beobachtungsprozeß wirksam gegenüber dem Beobachteten (das gilt natürlich immer), und ist die Größenordnung dieser Wirkung nicht vernachlässigbar klein gegenüber dem Gegenstandsbereich, dann wird das Beobachtungssubjekt relevanter Teil des 19

Dieser Zusammenhang muß in jeder Theorie sozialer Zusammenhänge, die nicht explizit auch eine Theorie des Beobachters ist, verkannt werden. In einem Weltbild, das vom Beobachter abstrahiert, ist Vagheit daher ein vorläufiger, behebbarer Kompromiß, dessen Überwindung erklärtes Ziel jeder wissenschaftlichen Arbeit sein muß. 9

Blaseio

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3. Mathematik der Evolution

Beobachtungsobjekts20, d.h. der Beobachter sieht sich genötigt, sich selbst zu beschreiben — die Objektion wird letzhin fragwürdig. Die Intentionsrichtung der Beschreibung, die in der Regel vom Beschreibenden weg auf das Objekt gerichtet ist, wird quasi auf das Subjekt zurückgekrümmt 21 . Das ist Inhalt der Unschärferelation, die der nichtmetaphysischen Objektion prinzipielle Grenzen setzt. Gewöhnlich tritt dieser Sachverhalt in den exakten Naturwissenschaften nicht auf. Sie beschäftigen sich mit Objekten und, wie der Name „Objekt" expressis verbis schon kundtut, fehlen im Gegenstandsbereich die Subjekte, es gibt keine Beobachter; den Molekülketten, Maschinen, Plasmen und Gesteinsformationen wird vorneweg unterstellt, daß sie nichts schön finden können, obendrein nichts beschreiben und schon gar nicht auf die Idee kommen sich selbst zu beschreiben. Damit erhalten wir wiederholt das Resultat, daß der grundlegende Unterschied zwischen Sozial- und Naturwissenschaften in der Tatsache liegt, daß erstere in ihrem Gegenstandsbereich Subjekte, d.h. insbesondere Beobachter vorfinden. Nun könnte man einwenden, das Problem der Unbestimmtheit in den Sozialwissenschaften ließe sich verringern, wenn nicht gar überwinden, wenn nur genügend Forschung betrieben wird, so viel Forschung, bis schließlich jeder über jeden derart viel weiß, daß letzlich über jede Aussage aufgrund des entstandenen, ungeheuren intersubjektiven Wissensschatzes spontan Konsens einträte, und Unbestimmtheiten undenkbar würden. Die dann entstehende Welt wäre nicht nur eine eigenartige Welt, die sehr an Morgensterns Charakterisierung der Systeme aus der allgemeinen Gleichgewichtstheorie in der Ökonomik erinnerte 22 , sie wäre zudem, wie wir in den Kapiteln 4 und 5 zeigen, eine Welt, die in einem historischen Sinne nicht existieren könnte. 20

C.F.w. Weizsäcker, 1977, S.420, schreibt zu diesem Thema: „ M a n kann in der Quantentheorie ein mögliches Ereignis nur noch in Bezug auf einen möglichen Beobachter definieren. Die Subjekt-Objekt-Beziehung wird hier, zum erstenmal in der neuzeitlichen Physik thematisch." 21 Es handelt sich genau um dieses In-sich-zurückgekrümmt-sein, das wir bezüglich rekursiver Strukturen bei der Behandlung der Dynamik in Kap.2.3.3 gefordert hatten. 22 Z.B. Morgenstern, 1963, S.50: „Die unwahrscheinlich hohen Ansprüche, die an die intellektuelle Leistungsfähigkeit der Wirtschaftssubjekte gestellt werden, beweisen zugleich, daß in den Gleichgewichtssystemen keine gewöhnlichen Menschen erfaßt werden, sondern mindestens untereinander genau gleiche Halbgötter, falls eben die Forderung voller Voraussicht erfüllt sein soll." Eine detaillierte Kritik an der Theorie des allgemeinen Gleichgewichts ist bei Morgenstern,, zu finden. Es wäre jedoch falsch, aus der Kritik Morgensterns herauszulesen, daß dieser in den Unzulänglichkeiten der Theorie schon eine Unverträglichkeit mathematischer Strenge mit der Beschreibung belebter Welten gesehen hätte. Im Gegenteil, in seiner Arbeit über die Grenzen der Anwendung mathematischer Verfahren in der Wirtschaftswissenschaft (S.21 -42) macht er deutlich, daß eventuelle Unvereinbarkeiten mathematischer Theorien mit der beobachteten Wirtschaftsrealität in der mangelhaf-

3.3 Vage Prädikate

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Kehren wir zurück zum Ausgangs-Resultat, gemäß dem eine Aussage desto vager wird, je mehr von der individuellen Persönlichkeit des Aussagenden in die Aussage mit einfließt, je mehr Subjekt und Objekt infolge der Selbstbeschreibung miteinander verschmelzen. Eschers Zeichnung „Bildergalerie" illustriert diese Situation.

Abb.3-10 Escher : Bildergalerie (aus: „Leben und Werk, M.C. Escher" Amsterdam 1984, RVG, Eltville)

Gewöhnlich, d.h. zumindest in den Naturwissenschaften, sind Objektbereich und beobachtendes Subjekt genügend weit voneinander „entfernt", daß die Verschränkung beider Kategorien nicht relevant wird und die vereinfachende Annahme einer vom Subjekt getrennten, objektiven Welt brauchbare Ergebnisse liefert — die Orientierung kommt ohne eine Theorie des Beobachters aus. Bei ten Anwendung der mathematischen Kunst lägen und nicht in grundsätzlichen Eigenheiten der mathematischen Methodik selbst zu suchen seien. Die Tatsache, daß die Physik sich im Gegensatz zur Wirtschaftswissenschaft keine Gedanken zur Anwendbarkeit macht, führte er auf die Reife der Physik zurück (S.25), und die Feststellung von Grenzen hinsichtlich der Anwendung der Mathematik hielt er für unmöglich (S.41).

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3. Mathematik der Evolution

den vagen Prädikaten verringert sich bildlich gesehen der Durchmesser des Zirkels, die Überlappung der Kategorien wird zunehmend relevanter, bis schließlich im Falle des Prädikats „Kenntnis dieser Welt" oder der Aussage „Ich lüge" eine vollständige Durchdringung, bzw. Reduktion des Durchmessers auf Null, erfolgt. Versuche, die vagen Prädikate zu objektivieren, sei es durch DeIndividualisierung, indem eine exakte Theorie des Subjekts wie in der allgemeinen Gleichgewichtstheorie der Ökonomik unterstellt wird, oder durch Beschränkung auf syntaktische Kombinatorik wie im Fuzzy-Reasoning, erscheinen von daher als Anstrengungen, den Durchmesser künstlich zu erweitern, so daß die von den exakten Wissenschaften gewohnte Sicht der Trennung von Subjekt- und Objektbereich, derart, daß in letzterer das erkennende Subjekt nicht auftritt, unter allen Umständen aufrechterhalten werden kann. Zusammengefaßt will ich dieses Phänomen als kategoriale Entkopplung bezeichnen, der Ausdruck soll die geschilderte Negation zirkulärer Zusammenhänge umschreiben. Selbstreferenz auf dem Wege der Selbstbeschreibung kennzeichnet den Gegenstand der Sozialwissenschaften nicht nur im Zusammenhang mit vagen Prädikaten, wie sie im Bereich normaler Kommunikation auftreten. Gerade der Sozialwissenschaftler bewegt sich auch in der Realität, die er beschreibt. Er wendet seine Ergebnisse an, propagiert sie, beurteilt dann wieder die Realität, schreibt Gutachten, formuliert Lösungsprofile, die wiederum Beachtung finden usw. Der Wissenschaftler steht deshalb nicht außerhalb, er ist Teil dessen, was er beschreibt, und die Beschreibung selbst ist integraler Bestandteil des sogenannten Wirklichen. So transformiert sich der Inhalt der Theorie zum Gegenstand der Theorie; es ist die Realität, die wir schaffen, indem wir beschreiben, wie wir sie beschreiben, die Realität, in der wir als Beschreibende sind... Ihren unmittelbarsten Ausdruck finden diese selbstreferenten Zusammenhänge in den bekannten Phänomenen der selbsterfüllenden oder selbstzerstörenden Prophezeiungen (vgl. Kap.2.4.3). Der Transmissionsweg zwischen Subjekt und Objekt in den Sozialwissenschaften ist jedoch nicht nur unidirektional, so daß lediglich das WissenschaftsSubjekt im Objekt wirksam und damit ein Teil desselben werden könnte. Macht, Einfluß, Ansehen, Geld sind Beispiele für Kanäle, über die der Gegenstandsbereich im Subjekt Wirkung entfalten kann. Solange Realität in irgendeiner Form beschrieben wird, ist die Gefahr auf die eine oder andere Weise von eben derselben korrumpiert zu werden, indem der Objektbereich das Subjekt internalisiert, nicht auszuschließen. Auch das zunehmende Eindringen der einzelnen Sozialwissenschaften in Gebiete, die nicht zu ihren ursprünglichen Gegenstandsbereichen gehören, mündet in einer anderen Form, wenngleich nicht so offensichtlich, in eine Verbindung von Wissenschaft und Objektbereich zu einer zirkulär wechselwir-

3.3 Vage Prädikate

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kenden Einheit. Gibt es keinen Fortschritt in der Methodologie, wird der Gegenstandsbereich der vorhandenen Methodologie ausgeweitet. Resultat kann einmal eine Anpassung des Instrumentariums an das veränderte Milieu des neuen Gegenstandsbereichs sein, zum anderen sind darüberhinaus aber zunehmend Überlappungen der jeweils für sich beanspruchten Gegenstandsbereiche der Einzelwissenschaften denkbar. Dieser Sachverhalt wird auch innerhalb der Einzelwissenschaften diskutiert, wie folgende Notiz von H.A.Simon zeigt 23 : „ I n recent years there has been considerable exploration by economists even of parts of this domain that were thought traditionally to belong to the disciplines of political science, sociology, and psychology."

Die Überlappung wirft das Problem auf, wie das Wirken der jeweils anderen Wissenschaftsdisziplinen auf den Gegenstandsbereich berücksichtiget werden kann. Sind diese nicht bereits integrale Bestandteile des Gegenstandsbereichs ab dem Zeitpunkt, ab dem sie sich mit ihm beschäftigen und, wie oben beschrieben, Wirkung entfalten? Wird letztere Frage bejaht, werden die klassischen Grenzen zwischen Wissenschaft und dem von ihr untersuchten Realitätsbereich gleichsam gesprengt. Jede objektbezogene Analyse beinhaltet dann gleichzeitig einen metawissenschaftlichen Diskurs; Gegenstandsbereich und wissenschaftliche Ebene sind dann wechselseitig selbstreflexiv aufeinander bezogen — Wissenschaft beschreibt sich selbst. Während es sich bei den eben skizzierten Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und ihrem Gegenstand um Selbstreferenz und daher Unschärfe im Makro-Zusammenhang handelt, sind die vorher besprochenen, vagen Prädikate wie „schön" usw. durch Selbstreferenz im Mikro-Zusammenhang gekennzeichnet 24 . Immer ist jedoch Selbstreferenz und der damit verbundene Widerspruch zum Identitätspostulat entscheidend für das Auftreten einer Unschärfe. Überlappung und damit Verletzung des principium contradictionis, wie von Georgescu-Roegen (vgl. 1971, S.45 ff.) behauptet, stellt dann lediglich eine Folge und nicht die Ursache der Vagheit dar (vgl. auch Kap.4.3.6). Insgesamt ist das Phänomen der Unbestimmtheit in diesem Kapitel in drei Varianten aufgetreten. Zunächst fiel bei der Erörterung des Begriffs „Ähnlichkeit" auf, daß dies Prädikat nur in Verbindung mit der Angabe des Kontextes sinnvolle Verwendung findet. So sind zwei Objekte niemals „gleich", wenn man 23

H.A. Simon, 1979, S.493. Auf die Unschärfe als Kennzeichen des Gegenstands der Ökonomik hat u.a. auch Shackle (1972) hingewiesen. Er schreibt z.B. S.72: „Economics ... is fundamentally, essentially, imprecise and blurred." Er grenzt damit Ökonomik auch von den Naturwissenschaften ab, allerdings wird diese Unbestimmtheit eher als empirisches Fakt eingeführt, eine zwingende Begründung, wie es zu dieser Unbestimmtheit kommt, und warum diese unaufhebbar an die Existenz von Subjekten gekoppelt ist, habe ich bei ihm nicht gefunden. (Vgl. auch S.9, S.48/49, S.142, S.362-364.) 24

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3. Mathematik der Evolution

nicht durch Spezifikation des Kontextes von den Ungleichheiten abstrahiert und in diesem Sinne den wahren Sachverhalt nur unpräzise wiedergibt. Durch diese Form der Unbestimmtheit sind alle Wissenschaften, da sie alle mit Abstraktionen arbeiten, gekennzeichnet, mit Ausnahme allerdings der Mathematik, weil in der reinen Mathematik die Angabe des Kontextes niemals von sogenannten realen Gegebenheiten abstrahiert, sondern jeweils eine von diesen Gegebenheiten unabhängige Ausgangsbasis bildet. Auffallend ist, daß auch hier wieder die Beobachterrolle des beschreibenden Subjekts für den Verlust an Präzision verantwortlich ist. Es scheint, daß erst die Abstraktion vom Beobachter und damit die Verleugnung des Subjekts wie in der Mathematik, exakte Wissenschaft, so wie wir sie kennen, zuläßt. Die beiden anderen Formen der Unbestimmtheit waren Selbstreferenz im Mikro- und im MakroZusammenhang. Sie sind hauptsächlich für die Sozialwissenschaften relevant, wenngleich in abgeschwächter Form, sicher auch für Biologie und verwandte Wissenschaften sowie als Ausnahmefall in der Quantentheorie der Physik. „Erkennen heißt in einem Beschreibungszusammenhang zu leben, nicht Gegenstände zu beschreiben, sich in operationalem Konsens mit anderen zu bewegen, nicht eine vom Erkennenden unabhängige Realität zu erwerben." Maturana,19Z2, S.28.

3.4 Symmetriebetrachtung Außer rein formalen Symmetrien, die sich themabedingt in Kapitel 3.2 ergeben, finden in Kapitel 3.2 die Aussagen zur autonomen Entwicklung der Kapitel 1 und 2 ihre Entsprechung. Das heißt, trotz der ausgefeilten FormaiTechnik der besprochenen Ansätze erweist sich die axiomatisch festgelegte Zeitsymmetrie als unüberwindbar. Eine Symmetrieerrichtung im Sinne der Aufgabenstellung — daß sich also in den formalen Ansätzen autonome Selbstorganisation widerspiegelt, ist daher ohne Symmetriewechsel, d.h. Aufgabe der strikten Zeitsymmetrie, nicht möglich. In sehr vielfältiger Ausprägung zeigt sich der Symmetriegedanke in Kapitel 3.3: In der Analogie des Fuzzy-Reasoning zur Verwendung des Wahrscheinlichkeits-, Nutzen- und Ähnlichkeitsbegriffs; in der Definition der Ähnlichkeit, Vergleichbarkeit und objektiven Wahrscheinlichkeit; der Anwendung vager Prädikate in zwei Abstraktionsebenen; dem Nachweis der Unvermeidbarkeit vager Prädikate etc. Im Abschnitt Fuzziness dominiert die Selbstreferenz die Diskussion. Aus ihr begründet sich auch die Notwendigkeit vager Prädikate; Unschärfe erwächst aus Situationen, in denen die Beobachtung nur schwer von einer Selbstbeobachtung getrennt werden kann.

3.4 Symmetriebetrachtung

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Dieses spezielle Phänomen der Selbstreferenz findet sich analog zum MikroZusammenhang, allerdings weniger auf bestimmte Prädikate als auf die Situation der Sozialwissenschaften allgemein bezogen, darüberhinaus auch im MakroZusammenhang wieder (Wiederholung!). Je nach Kontext tritt in Kapitel 3.3 der Wiederholungs- oder Symmetriebegriff in den Synonymen Äquivalenz, Ähnlichkeit, Gleichheit, Synonym, Verallgemeinerung, Analogie, Erfahrung, Muster, tertium comparationis, typisch, Ordnung, Zusammenhang, etc., etc. auf. Weitere, zum Teil entferntere Synonyme sind z.B.: Spiegelung, Regel, Kongruenz, Parität, Gesetz, Invarianz, Stabilität, Kooperation, Gemeinsamkeit, Sequenz, Gleichgewicht, Norm, Kreis, simultan, zyklisch, Modell, Balance, Schwingung, parallel, Art, Systematik, Kreis, Rück-kehr, Kohärenz, Routine, Anpassung, Übereinstimmung, Entsprechung, Charakteristik, Schema, Typus, Periode, Kopie, Frequenz, synchron, Gewöhnung, Koordination, Iteration, Konvergenz, konform, (iso-) homomorph, Abbild, Wirbel, Echo etc.

4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik „(For) the element of Time, which is the centre of the chief difficulty of almost every economic problem ..." A. Marshall (Principles; Preface to First Edition)

4.1 Die Entsprechung von Subjekt und Zeit Das Zeitverständnis, das üblicherweise formalen dynamischen Modellen unterlegt ist, sieht die Zeit als eine Art Rahmen oder Äther, in der das Geschehen, also z.B. Handlungen, Wirtschaftssubjekte, Güter, Preise etc. eingeordnet werden können. Analog zur Zeit wird auch der Raum als ein Kontinuum begriffen, das alles umfaßt — allem ein Apriori, selbst jedoch nirgends enthalten1. So gesehen agiert das Wirtschaftssubjekt zwar in der Zeit, es benötigt Zeit, um als Agens hervortreten zu können, umgekehrt ist Zeit aber an und für sich objektiv. Sie ist gewissermaßen mit dem Raum die feste Bühne, auf der das Geschehen abläuft. Soweit das Bild, das gewöhnlich durch formale Modelle etabliert wird. Es wurde andererseits in Kapitel 2 gezeigt, daß die Konstruktion eines formalen Modells zur Wahrung der logischen Konsistenz durch und durch gesetzmäßige Zusammenhänge voraussetzt. Indem die Zukunft berechenbar wird, wird die Zeit jedoch verzichtbar; die umfassende Gesetzmäßigkeit erlaubt jegliche Art von Zeitreisen 2. Dies klingt sensationeller als es ist, denn infolge der Interpretation einer Raumdimension als Zeit in formalen Modellen (vgl. Kapitel 2) ist eine solche Zeitreise auch als räumliche Orientierung vermittels Berechnung interpretierbar. Freilich ist dann auch das Modellsubjekt verzichtbar, denn auch dieses agiert gesetzmäßig; das Gesetz, nach dem es handelt, ist kodifiziert unter dem Begriff „Rationalität". Statt von Subjekt kann dann mit 1

Vgl. z.B. Boulding, S.19. Ausgenommen sind hierbei stochastische Beschreibungen, denn durch den Zufall kommt bereits ein formalismusfremdes Element hinein. Dies äußert sich z.B. darin, daß Zufallsfolgen im formalen Kalkül nur approximativ durch deterministische Verfahren generiert werden können. Allerdings ist die Wirkung dieses formalismusfremden Elements noch sehr rudimentär, sie führt gerade dazu, daß in der wissenschaftlichen Betrachtung die Zeitrichtung verankert wird (2. Hauptsatz der Thermodynamik). Ähnlich schreibt Geotgescu-R., 1971, S.194: „... life rs manifested by an entropie process that, without violating any natural law, cannot be completely derived from these laws, including those of thermodynamics." 2

4.2 Das formal-analytische Paradigma der Neoklassik

137

gleicher Berechtigung von einem Programm gesprochen werden, einem Programm, das ähnlich wie Zeit in Struktur oder gleichbedeutend damit in Raum auflösbar ist. Erst eine Einschränkung der unabdingbaren Gesetzlichkeit formaler Darstellung führt Zeit, diesmal unreduzierbar in Form historischer Momente, wieder ein 3 . Solche historischen Momente, die sich ex ante nicht gesetzmäßig erschließen lassen, gehen im ökonomischen Kontext fast ausschließlich auf Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte zurück 4 . Es sind dies Momente, die auf menschlicher Originalität, d.h. Ideen, technischen Entwicklungen, unternehmerischer Initiative etc. begründet sind, und die es erlauben von einer zeitlichen Entwicklung statt von gesetzmäßiger Gleichmäßigkeit (Symmetrie bzw. Wiederholung!) zu sprechen. Der Umstand, daß historische Zeit in der Regel Ausdruck nicht-programmierbarer menschlicher Subjektivität ist, berechtigt in unserem Kontext die Begriffe Zeit, Subjekt, Evolution, Kreativität, Neues als beinahe synonym zu behandeln, denn jedes dieser Phänomene schließt gleichzeitig das Auftreten der übrigen Phänomene mit ein 5 . Im folgenden wird eine Auswahl wichtiger Stationen der Auseinandersetzung mit der Zeitproblematik in der Ökonomie diskutiert, wobei entsprechend den vorstehenden Überlegungen nicht explizit zwischen Subjektproblematik oder dem Problem der Neuerungen unterschieden wird 6 .

4.2. Das formal-analytischeParadigma der Neoklassik Ausgehend von den bisherigen Überlegungen zu den Grundlagen des Formalismus verwenden wir auch die Bezeichnung „formal-analytische Ökonomik" statt des gebräuchlicheren Begriffes „Neoklassik". Die Verwendung des Namens rechtfertigt sich vor allem aus der im folgenden zu zeigenden Tatsache, daß die vorherrschende inhaltliche Kritik am neoklassichen Konzept sich in einer einzigen formalen Überlegung konzentrieren läßt 1 . 3 Wir zeigen in Kap.5 und 6, daß die Möglichkeiten der Darstellung mit einer Ergänzung der vorherrschenden formal-gesetzlichen Beschreibungsform durch eine historische Aufzeichnung noch nicht erschöpft sind. 4 Vernachlässigt werden dabei z.B. Naturkatastrophen, Epidemien und Ähnliches, d.h. die Umgebung wird ganz im naturwissenschaftlichen Sinne als sich gesetzmäßig verhaltend interpretiert. 5 Dieser Zusammenhang läßt sich auch in der Philosophie ausmachen. So schreibt z.B. Whitehead , 1979, S. 62: „Kreativität ist das Prinzip des NeuenVom Neuen zur historischen Zeit und von der Kreativität zum Subjekt ist es dann nur noch ein ganz kurzer Schritt. 6 Eine konsequente Analyse der Zeitproblematik in der Ökonomie müßte zur Demonstration versuchen, die Entwicklung des Zeitverständnisses ebenso nach gesetzmäßigen und historischen Momenten zu ordnen. Dies würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 1 Gemeint ist, es wiederholt sich in allen diesen Kritiken ein formal begründetes Problem, das es erlaubt, die Kritiken von der inhaltlich ökonomischen Seite zu abstrahieren.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Nach einer Darstellung von Blaug 2, die der wissenschaftstheoretischen Methodologie von Lakatos folgt, sind die metaphysischen Grundlagen („hard core") des neoklassischen Weltbildes durch Maximierungsverhalten, vollständiges Wissen, Unabhägigkeit der Entscheidungen und perfekte Märkte gekennzeichnet. Diesem „harten Kern" sind weitere Annahmen wie „Homogenität der Produkte", „große Anzahlen" und andere beigeordnet, die zusammen das Gerüst der Theorie bilden, aus dem die komparativ-statischen Eigenschaften der Gegenstandsbereiche abgeleitet werden können. All dies sind natürlich zuallererst inhaltliche Gesichtspunkte, die dementsprechend auch in aller Regel inhaltlich diskutiert werden. Andererseits ist all diesen Theorien die formalanalytische Darstellung zu eigen, und demgemäß ist auch das zugehörige Menschenbild zu dieser Darstellung kompatibel. Dabei werden vollständige Alternativenmengen unterstellt, in denen das handelnde Individuum gemäß einem Rationalkalkül versucht seinen Nutzen (dem eine objektive Realität zugesprochen wird) zu optimieren. Implizit wird angenommen, daß Entscheidungsprobleme als Maximierungsaufgaben hinsichtlich einer wohl definierten Zielfunktion beschrieben werden können, was wiederum die eindeutige oder probabilistische Bestimmung der möglichen Handlungsergebnisse sowie die Fixierung einer Rangordnung voraussetzt. Die zentrale Konstruktion ist das auf Walras zurückgehende und von Arrow und Debreu weiterentwickelte Modell des allgemeinen Gleichgewichts mit totaler Markträumung im Tauschoptimum bei gleichzeitiger Interdependenz aller Märkte. Vornehmlicher Analysegegenstand solcher gleichgewichtstheoretischer Konzeptionen ist die Allokationseffizienz eines vorgestellten Marktsystems. Die neoklassische Theorie ist heute die dominierende Lehre der Ökonomik und entsprechend ihrer Bedeutung und Verbreitung ist ein imposantes Theoriegebäude entstanden, das nicht mehr allein aus den Inhalten der allgemeinen Gleichgewichtstheorie heraus charakterisiert werden kann. Das all diesen Ansätzen3 Gemeinsame überhaupt inhaltlich zu suchen, ist ein problematisches Unterfangen, das sich leicht in der Komplexität des entstandenen Systems verlieren kann. Dagegen bietet sich als leicht zugänglicher Weg der Charakterisierung die Form an, in die der Inhalt jeweils gekleidet ist (the medium is the message), nämlich die formal-analytische Darstellung, deren Realisierung (zumindest jedoch die Möglichkeit dazu) als sicher angenommen wird. Verharrt man allerdings in der Argumentation von Morgenstern oder Jevons, dann ist eine solche Charakterisierung inhaltsleer, denn hiernach legt die Form dem Inhalt keinerlei Restriktionen auf, der Formalismus, bestehend aus Mathematik und Logik, wird von ihnen als universale Sprache verstanden 4. Aus dieser Annahme 2 3 4

Blaug, S.175. Eine Kurzübersicht der neoklassischen Ansätze findet sich z.B. bei Kühne. Vgl. Kap.2 und Morgenstern, 1976 (2), S.392 und S.393 und Jevons, S.5.

4.2 Das formal-analytische Paradigma der Neoklassik

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heraus verstieg sich Morgenstern sogar zu der Vorstellung: „ I believe, that it is quite possible to axiomatize economics." 5 ; mehr noch: „... that any theory ultimately will have to be axiomatized." 6 — dabei völlig übersehend, daß die Mathematik selbst niemals vollständig axiomatisierbar ist. Tatsächlich führt die Verwendung der mathematischen Sprache, wie die Diskussion in Kapitel 2 gezeigt hat, über die logischen Implikationen zu sehr restriktiven Annahmen hinsichtlich des durch die Form ausdrückbaren Inhalts. Bestimmte Charakteristika der Neoklassik sind daher aus der Form erschlossen, wenn gezeigt werden kann, daß wesentliche Teile der den Modellen zugrunde liegenden Annahmen inhaltliche, auf den Erklärungskontext zugeschnittene Übersetzungen eben der von den formalen Sprachen gesetzten abstrakten Anforderungen sind. Dabei ist es für die wissenschaftliche Diskussion durchaus ausreichend, sich auf die Modellannahmen zu beschränken, da die hieraus über formale Entscheidungslogiken, Maximierungstechniken und über andere dem formalen Apparat zur Verfügung stehende Verfahren abgeleiteten Ergebnisse im Sinne einer logischen Implikation symmetrisch in ihrem Erklärungsgehalt an die Annahmen gebunden sind. Sind also Bedenken hinsichtlich der Realitätsnähe in den Ergebnissen vorhanden, so müssen diese Bedenken immer auch in den Modellannahmen begründbar sein; jedenfalls ist ein Widerspruch zu den formalen Schlußregeln bislang noch nicht aufgetreten. Letzteres ist nur natürlich, denn logische Konsistenz oder Widerspruchsfreiheit ist ja gerade das Kennzeichen formaler Systeme (vgl. Kap.2), nachdem die Existenz- oder Realitätsforderung bezüglich der Axiome durch die implikative Darstellung ersetzt wurde. Eine Voraussetzung der logischen Konsistenz ist, wie bereits angesprochen, umfassende Gesetzmäßigkeit bzw. Invarianz des Modellsystems dahingehend, daß das als Notwendigkeitsforderung (vgl. Kap.2.2.) angesehene Identitätspostulat der Logik nicht verletzt wird. Das bedeutet nicht nur die Invarianz der den Modellraum aufspannenden Menge Ω, welche inhaltlich meist mit einem Alternativen- (Entscheidungs-), Präferenz-, Güter-, Preisraum und ähnlichem identifiziert wird. Das bedeutet zugleich, daß die im Modell der Menge Ω zugewiesenen Inhalte selbst nur als invariante Strukturen manifest werden können (vgl. zur Dynamik Kap.2.3.3). Somit findet man in formalen Modellen nur Struktur; Strukturbildung (vgl. Kap.3.2) in solchen Betrachtungen ist nur eine Wortspielerei, die über die Interpretation einer Raumdimension als Zeit 7 hinzukommt. 5

Morgenstern, 1976 (2), S.397. Morgenstern, 1976 (1), S.269. 7 Ein denkbarer Einwand wäre hier, daß mit Einsteins Relativitätstheorie die Äquivalenz von Raum und Zeit nachgewiesen sei. Das stimmt allerdings nicht, denn die Theorie hat lediglich eine Beziehung zwischen beiden Kategorien etabliert, die den beiden eine zueinander komplementäre Struktur zuweist und zwar vermittelt durch die relative Geschwindigkeit von Koordinatensystemen. 6

140

4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Nichtsdestoweniger kann auch die auf Struktur projizierte Zeitvorstellung unterschiedlichste Züge aufweisen. Z.B. legt das folgende makroökonomische Modell (nach Joung, S.169, von diesem als Pasinettis Modell der Keynesschen Allgemeinen Theorie vorgestellt) eine eindeutige Reihenfolge bei der Lösung der Gleichungen fest, insofern besitzt es eine kausalähnliche Struktur, bzw. ist es asymmetrisch. 1 Y = C+ I

Y.. .Volkseinkommen

2 C = f(Y) 3 I = g(K,E,i) 4 i = h(Lp,M)

C...Konsum I... Investition K...Kapital E... Erwartungen i...Zins Lp... Liquiditätspräferenz M... Geldmenge

Setzt man in Gleichung 2) f: = f(Y,i) und in Gleichung 4) h: = h(Lp,M,i) — nach Joung, S. 168, ergibt dies Hicks Vorstellung der Keynesschen Allgemeinen Theorie — geht diese Struktur wieder verloren, entsprechend werden solche Systeme in Joungs Taxonomie als konkurrierend bezeichnet. Zeit kann selbst als ein Gut, z.B. als Freizeit, betrachtet werden oder als knappe Ressource, bezüglich der die Allokationseffizienz zur Steigerung des Nutzens zu optimieren ist. Informationssuchzeiten als Opportunitätskosten zu erfassen, ist eine andere Möglichkeit, Zeit als Struktur (gewissermaßen objekthaft) zu behandeln. Schließlich kann man noch die Objektwelt nach Zeitpunkten differenzieren, etwa in dem Sinne, daß jedes Gut für jeden Zeitpunkt als eigenständiges Objekt betrachtet wird, daß also Gut χ zur Zeit t(0) ungleich dem Gut χ zum Zeitpunkt t ( l ) ist. Ein solches Vorgehen folgt offensichtlich einer speziellen Form der in 2.4.1 beschriebenen Beziehung von Reduktionismus und Formalismus; die Objektzahl einer derartigen Welt potenziert sich. Im Ergebnis wird Zeit jedoch immer als Struktur und nicht im Sinne von Strukturbildung interpretiert. Wenn formale Welten prinzipiell invariant und strukturhaft sind, so heißt das auch, daß es sich grundsätzlich immer um nichts anderes als Konstellationen von Objekten handelt, wobei die Konstellationen selbst das Objekt „Modell" repräsentieren. Infolgedessen dürfen Modellsubjekte keine über einen Objektcharakter hinausgehenden Eigenschaften haben. Sie sind prinzipiell durch nichts außer ihrem Etikett qualitativ von Automaten oder Programmen unterscheidbar (immer Gedachtes). Überraschungen, die nicht a priori in die Struktur implementiert worden sind — was sich aber von selbst ausschließt, da sie dann keine Überraschungen mehr sein können —, kann der Formalismus nicht dulden. Das bedeutet im einzelnen:

4.2 Das formal-analytische Paradigma der Neoklassik

141

— Information kann von Modellsubjekten niemals autonom erworben werden, sondern muß immer vollständig (in dem Sinn, daß keine neue Information entstehen kann) zur Verfügung gestellt werden. Entsprechend ist auch kein über das Vorgegebene mögliches Lernen denkbar. — Alle nicht statistischen Entscheidungen werden auf einen fiktiven Zeitpunkt (es ist wohl am sinnvollsten ihn mit der Modellerstellung zusammenfallend zu denken) gebündelt. In der Ökonomik drückt sich dies z.B. durch die Tâtonnement-Annahme aus. — Unsicherheit kann nur über Wahrscheinlichkeiten erfaßt werden, d.h. der Systemendzustand ist zwar nicht mehr deterministisch gegeben, immer aber wird er aus einer Menge vorgegebener Alternativen entnommen. — So wenig wie autonomes und nicht programmiertes Lernen implementiert werden kann, sind die Idee, das schöpferisch innovative Handeln, Evolution oder technischer Fortschritt erfaßbar. Das Modellsubjekt handelt nach Vorschrift, d.h. nach einem Programm mit dem Namen Rationalität — es ist dieses Programm. Das Subjekt ist objektiviert, indem es einer Menge von Alternativen gegenübersteht und die optimale Lösung nach bestimmten Normen über einen festen Algorithmus selektiert. Derartige Subjekte sind zwangsläufig langweilig — sie wiederholen sich bzw. sie handeln gesetzhaft. Salopp ausgedrückt, läßt ein traditionelles Modell nicht zu, daß eines der ModellSubjekte" autonome Aktivität entfaltet und sich z.B. abfällig über das ihm zugedachte Modell selbst äußert. Die von außen aufgespannte Rationalität kann gewissermaßen nicht von innen her rationalisiert werden. — Ein traditionelles Modell kann keine Veränderung berücksichtigen, die nicht schon implizit im Modell-Raum implementiert ist, d.h. die formalen Welten müssen in sich geschlossen sein. Exogene Störungen von außerhalb der Modellwelt (gemeint sind solche, die eine innen nicht definierte neue Qualität einbringen) würden eine originäre Veränderung erzwingen und damit einen Widerspruch zur Strukturbedingung zur Folge haben. Es bleibt nur als Möglichkeit, ein neues Modell zu konstruieren oder das Modell durch die Ceteris-paribus-Annahme nach außen zu immunisieren. — Durch die Annahme einer objektiv gegebenen und unabhängigen Welt kann vom Beobachtungsprozeß (dies wäre ebenfalls Strukturbildung und damit Identitätsverletzung) abstrahiert werden 8 . Damit wird der Beobachter irrelevant, er wird somit weder über das Lernen innerhalb des Modells noch beim Modellbauer selbst thematisiert. Die Konsequenz dieser Überlegungen ist, daß Zeit als Bedingung historischer Entwicklung, wie w i r sie i n K a p i t e l 4.1 charakterisiert haben, i n formalen M o d e l l e n nicht implemetiert sein kann. Ebenso sind damit auch die Katgorien Subjekt, Evolution, K r e a t i v i t ä t etc. aus solchen M o d e l l e n ausgeschlossen, da sie originären Wandel implizieren u n d dieser — wie i n K a p i t e l 2 gezeigt — sich der formalen Erfassung entzieht. Formale Welten sind daher grundsätzlich anonyme Welten. Vergleicht m a n dieses ausschließlich aus Überlegungen z u m Formalismus abgeleitete Ergebnis m i t K r i t i k e n zur Neoklassik, die aus inhaltlichen Erwägungen bezüglich vorhandener Ansätze hervorgegangen sind, so zeigt sich eine frappante Übereinstimmung: 8 In selbstreferentiellen Zirkeln kollabiert diese Annahme (vgl. Kap.2 und Kap.5 und 6), Selbstreferenz heißt immer auch Verletzung einer Gesetzmäßigkeit bzw. Invarianz.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Die Argumente verweisen vor allem auf die Realitätsferne der in den gleichgewichtstheoretischen Ansätzen unterstellten Annahmen. Interessant ist hierbei die Ambivalenz der Argumente. So richtet sich die Kritik einmal gegen die übermenschlichen Fähigkeiten, die den Wirtschaftssubjekten in solchen Modellen beigemessen werden (Aufhebung naturbedingter Restriktionen), andererseits sind es gerade wieder unrealistische Restriktionen, die moniert werden. Wie aus dem folgenden zu entnehmen ist, entsteht diese Ambivalenz nicht zufällig; es ist gerade die Aufhebung von Restriktionen, die andererseits neue Restriktionen impliziert. Als übermenschliche Eigenschaften werden insbesondere vollkommenes Wissen, vollkommene Transparenz und unendliche Reaktionsgeschwindigkeit beanstandet9. Shackle fragt etwa, wie ein Mensch über seine eigenen zukünftigen Handlungen informiert sein könne, wobei diese wiederum von anderen, ebenfalls noch zukünftigen Handlungen abhängig sind. Alle Wahlakte müßten sich demzufolge simultan ereignen. Vollständiges Wissen schließt automatisch „ignorance" und Unsicherheit aus. Auf die Tatsache, daß in neoklassischen Modellen Regeln zum Umgang mit „ignorance" und Unsicherheit fehlen, haben z.B. Blaug (S.180-185) und Loasby (Kap.4) hingewiesen. Nach Georgescu-R. (1971, z.B. S.330) verbietet schon die evolutionäre Natur des ökonomischen Prozesses die Annahme vollständigen Wissens (ähnlich Röpke, 1980, S.144). Die Gleichgewichtsvorstellung zusammen mit den wirklichkeitsfremden Hypothesen einer perfekten Welt vermitteln das Bild einer absoluten Metrik, nach der alle Abstände vom Gleichgewicht kardinal erfaßbar wären, und dieses zugleich als Referenzpunkt alle Zeitlichkeit auf sich vereinigen würde. Perfekte, vollständige Information bedeutet zugleich aber auch Wissen über Art und Zeitpunkt zukünftiger Entdeckungen (Erfindungen). Damit hätten die „Allwissenden" jegliche Erfindung bereits selbst antizipiert. Es gäbe folglich keine Erfindungen mehr — der Begriff „Erfindung" würde inhaltsleer. Hierin liegen die durch die Aufhebung von Restriktionen implizierten neuen Restriktionen. Alles, was nur im entferntesten mit dem Begriff „neuartig" zu tun hat, fallt den Vollkommenheitsprämissen zum Opfer 10 . Im einzelnen bedeutet dies etwa den Ausschluß von Ereignissen sowie der Reaktionen darauf, falls die zugehörigen Daten nicht schon von vornherein in das Modell eingegangen sind 11 . Die Umstände der Welt, auf die überhaupt eine Reaktion erfolgen kann, werden in neoklassischen Modellen somit als exogen 9

Morgenstern spricht, wie in Kap.3.3 schon hingewiesen wurde, wörtlich von „Halbgöttern". Vgl. auch z.B. Röpke, 1980, Shackle, 1972, Kapitel 24, Shackle , 1979, S.30, sowie Morgenstern, 1963, S.43 ff. 10 Die unnatürliche Stringenz der Zusammenhänge und die Unveränderlichkeit der Gesetze in der theoretischen Ökonomik ganz im Widerspruch zum historischen Wandel wurden schon von Schumpeter klar erkannt (vgl. Schumpeter , 1954, S. 149). 11 Vgl. Röpke, 1980, S.141.

4.2 Das formal-analytische Paradigma der Neoklassik

143

und vor allem als unveränderlich angenommen 12 . Jegliche Störung ist fernzuhalten 1 3 , womit zugleich auch ernstzunehmende Probleme nicht mehr denkbar sind, da die Lösung schon in den Ausgangsdaten versteckt ist 1 4 . Hicks 15 bringt den gleichen Inhalt auf folgende Kurzformel: „There is no room for the unexpected." Vehikel dieses Immunisierungsphänomens ist die Ceteris-paribusKlausel, mit der die Modellwelten abgeschottet werden können 16 . Kris toi 11 vermerkt dazu zynisch, daß eben über dieses Instrument die Ökonomie versucht, die Physik nachzuäffen. Unvereinbar mit dem Ausschluß alles Neuartigen sind weiterhin jegliche Lernprozesse, denn wo nichts mehr hinzukommt, kann fraglos auch nichts mehr gelernt werden. Fragen, etwa welchen Einfluß Folgen von Lernschritten auf Konkurrenz-Marktprozesse ausüben, ob diese nicht überhaupt erst durch derartige Lernschritte in Gang gehalten werden, sind mit perfekten Modellwelten nicht diskutier bar 1 8 . Unter den Tisch fallen, sofern die Betonung auf dem Wirtschaftssubjekt liegt, ebenso unternehmerische Entdeckungen 19 , innovatives Verhalten 20 sowie Kreativität ganz allgemein 20 . Entsprechend sind auf der dinglichen Seite technischer Fortschritt und das Auftauchen neuer Produkte eliminiert 21 . Über solche Annahmen werden aber gerade die Phänomene absorbiert, die die eigentlichen Motoren des Marktgeschehens sind: spontane Wahlakte, innovatives Handeln, Entscheidungen unter echter Unsicherheit etc. Shackle 22 schreibt: „ I f we elect to suppose that each present is rigidly necessitated in every detail by its antecedent present...then choice is the empty name of a delusion of human consciousness. I f so, choice repudiates in every aspect and character what we ascribe to it in the intuitive and unselfconscious discourse of life. Each ,choice', is so, could not be other than it is; choices, if so are not made and themselves essentially make nothing." 2 3 Sollte man ähnliche Modelle auch der Entwicklung der ökonomischen Wissenschaft selbst unterstellen, so müßte man verneinen, daß je ein wissenschaftlicher Fortschritt stattgefunden hat. Im selben 12

A.a.O. S.142. A.a.O. S.146. 14 Das Verschwinden aller eigentlichen Probleme zeigt sich auch in der Problemreduktion auf deduktiv lösbare Fragestellungen. Rein deduktiv erschließbare Lösungswege implizieren aber, daß alle Lösungsideen bereits vorgedacht zur Verfügung stehen. 15 Hicks, 1976, S.144. 16 Vgl. Graf\ S.35-42. 17 Kristol S.265. 18 Vgl. Kirzner, 1984, S.148. 19 A.a.O. 20 Röpke, 1980, S.142. 21 A.a.O. S.143 und 144. 22 Shackle, 1979, S.20. 23 Ähnlich Loasby, Kap.l. 13

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Tenor äußert sich Georgescu-R ,24: „...that new means are continually invented, new economic wants created, and new distributive rules introduced. The question is why a science interested in economic means, ends, and distribution should dogmatically refuse to study also the process by which new economic means, new economic ends, and new economic relations are created." An anderer Stelle 25 bringt er diese Unzulänglichkeiten ausdrücklich mit prinzipiellen Restriktionen mathematischer Modelle in Verbindung, offen bleibt jedoch die genaue Natur und der Ursprung dieser Restriktionen (vgl. auch weiter unten Abschnitt 4.3.6). Entscheidender Mangel ist für Georgescu-R 26 wie für Kirzner 21 die offensichtliche Vernachlässigung der Prozeßhaftigkeit des Marktgeschehens in der ökonomischen Analyse. Kirzner (1984, S.153) spricht von der mechanischen Qualität, die die neoklassische Theorie der ökonomischen Analyse verliehen hat, und der nach Georgescu-R. der evolutionäre Charakter der Realität entgegensteht28. Das Entscheidungsverhalten in „standard economics" ist nach seiner Meinung 2 9 reduziert auf eine Nutzenmechanik, was sich schließlich dahingehend auswirkt, daß: „... standard economics takes special pride in operating with a man-less picture." 30 Shackle 31 begründet analog aus der oben diskutierten Verdrängung jeglicher „Neuartigkeit" in der formalanalytischen Ökonomik die ausschließliche Zurückführbarkeit des Verhaltens auf Vernunft in den entsprechenden Modellen. Er bemerkt: „ I t is only in the timeless fiction of general equilibrium that reason can prevail alone." Desgleichen betonen Kirzner 32 und Röpke 33 zum rationalen Verhalten in neoklassischen Modellen, daß aus Ökonomisieren und Optimieren kein neues Wissen (keine neue Gelegenheit) hervorgehen kann. Auf den Zusammenhang zur Zeitproblematik deuten schließlich Hollis/Nell 34 genau wie Shackle durch den Hinweis, daß eine Erklärung historischer Ereignisse die Abkehr von logischer und die Berücksichtigung historischer Zeit erfordern. Die nahezu vollkommene Kongruenz der nur aus Überlegungen zum Formalismus abgeleiteten Restriktionen mit den aus der Literatur zu ersehenden, inhaltlich begründeten Kritiken 3 5 an neoklassischen, formal-analytischen 24

Georgescu-Roegen, 1971, S.320. Georgescu-Roegen, 1976, S.2. 26 Georgescu-Roegen, 1971, K a p . l l . 27 Vgl. Kirzner, 1984, S.146. 28 Vgl. z.B. Georgescu-Roegen, 1971, S.325. Ähnlich hebt auch Chalk den unvorhersehbaren Wandel realer Prozesse hervor (S.110). 25

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Georgescu-R1971, S.318. Georgescu-R., 1971, S.343. 31 Shackle , 1972, S.96, ähnlich auch Boulding, S.72. 32 Kirzner, 1978, S.33. 33 Röpke, 1980, S.142 ff. 34 Hollis/Nell, S.184. 35 Zweifellos ist die vorgestellte Kritik nur eine Auswahl. Dennoch halte ich es für wahrscheinlich, daß andere Kritiken ebenfalls mit den von der formalen Darstellung 30

4.2 Das formal-analytische Paradigma der Neoklassik

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Ansätzen ist k a u m ein Zufall. Es herrscht offenbar, u m m i t Weizenbaum 36 zu sprechen, ein irrationales Vertrauen i n die Berechenbarkeit bzw. darüberhinaus i n die Formalisierbarkeit der Realität, u n d dieses erwächst z u m L e i t m o t i v der Entscheidungsfindung. A u s diesem Zusammenhang lassen sich wichtige Schlußfolgerungen ziehen: — Die bestechende Harmonie neoklassischer Welten erklärt sich somit aus den Bedingungen, die die Darstellungsweise dem Inhalt auferlegt 37 . Die theoretische Ökonomie paßt folglich ihr Instrumentarium nicht den in der Realität zu beobachtenden Verhältnissen an, sondern versucht vielmehr umgekehrt das bewußt handelnde, reale Individuum als ideal handelndes Konstrukt in eine für ihre Möglichkeiten zweckmäßigere, d.h. aber formale Welt zu stellen. — Der kardinale Irrtum, der diese Vorgehensweise rechtfertigt, liegt nicht in ökonomischen Überlegungen begründet, sondern erwächst aus dem auch in vielen anderen Disziplinen vorherrschenden irrigen Glauben, daß formale Sprachen, insbesondere die Mathematik, auch universelle Sprachen seien 38 . Es ist in diesem Zusammenhang schier paradox, wenn die Adäquatheit wissenschaftlicher Arbeiten oftmals daran gemessen wird, inwieweit sie die klassische Mathematik, die die ihr aus der Grundlagenkrise erwachsenden Fragen niemals gelöst, sondern sich elegant darüber hinweg gesetzt hat (vgl. Kap.2), unangetastet läßt. Es wird einem das Bild vermitelt, daß hier der Schlüssel zum Verständnis sozialer Phänomene einfach im Kegel des hellsten methodologischen Lichts, welches nämlich seit geraumer Zeit von der Mathematik und den „exakten" Naturwissenschaften, insbesondere der Mechanik ausgeht, gesucht wurde und wird. Exaktheit ist bequem, aber nicht a priori ein Maß aller Phänomene. Die Überlegungen zu Kapitel 3.3 haben deutlich gezeigt, wie exakt der Begriff „exakt" sein kann. Selbstreferentielle Zusammenhänge stehen außerhalb des von der Mathematik gespannten Rahmens — wie operationalisierbar ist beispielsweise der Begriff „operational" 39 , wie formalisierbar ist die Entwicklung der Mathematik (vgl. Kap.2.3.2 und Kap.2.3.4)? Die Defizienz der formal-analytischen Ö k o n o m i k erwächst somit aus der Defizienz des Formalismus selbst. Es wäre n u n aber verfehlt zu sagen, was k ü m m e r t das, mögen sich doch Mathematiker, Logiker oder andere Formalisten m i t diesen Problemen herumauferlegten Restriktionen in Verbindung stehen. Anderenfalls spräche nämlich kaum etwas dagegen, den Ansatz auch formal in einer der Kritik genügenden Weise zu erweitern. 36 Weizenbaum, S.29. 37 Daß die reale Welt, trotz ihrer im wesentlichen nicht-formalen Ereignishaftigkeit nicht in Anarchie und Chaos versinkt, sondern sogar Harmonie erzeugen kann, ist, sobald man die formale Betrachtungsweise verläßt, zunächst verblüffend. Eine Erklärung für dieses Phänomen wird in Kap.5 und 6 über die Entwicklung des ^fögnös-Konzepts erarbeitet. 38 Tatsächlich wird dieser Glaube, der wohl in der Ökonomik zuerst von Morgenstern so vehement vertreten wurde, unverändert auch in modernen Lehrbüchern zur Methodologie der Ökonomik noch vertreten, z.B. Kromphart/Clever/ Klippert, S.132 ff. 39 A . M . K . Müller, 1972: „Ist daher Erstmaligkeit konstitutiv für die wirkliche Zukunft von Mensch und Welt, so transzendiert das Herbeiführen der Zukunft jedes streng operationale Vorgehen."

10

Blaseio

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

schlagen. Vielmehr erweist sich das Problem des neoklassischen Ansatzes als Unfähigkeit, die nomologische Herausforderung anzunehmen 40 , die sich aus der Abwälzung der Grundlagenkrise in der Mathematik an die anwendungsorientierten Wissenschaften ergibt 41 (vgl. Kap.3.2.2), wobei diese Ablehnung der Herausforderung in der Ökonomik vermutlich im Abbruch des Methodenstreits zwischen theoretischer und historischer Schule lokalisiert ist. Infolgedessen entpuppt sich die Problematik als ureigenstes Thema der Sozialwissenschaften und man wird sich ihr wohl oder übel annehmen müssen. Dadurch, daß jetzt die schon bekannte Kritik gegenüber der Neoklassik wegen der Entsprechung der Argumente auch aus Überlegungen zum Formalismus fundiert werden kann, ist diese Kritik nur vordergründig die gleiche geblieben. Denn während sie bisher für jeden einzelnen Ansatz durch Vergleich mit der „Realität" neu rechtfertigt werden mußte, erlaubt nun der höhere Abstraktionsgrad der Herleitung die damit verbundenen Symmetrien auszunutzen (vgl. Kap.2). Es genügt mithin schon die formal-analytische Form, um die Behandlung gewisser Phänomene ausschließen zu können. Dadurch ändert sich aber die Situation grundlegend. Denn gerade weil mit rein ökonomischen Überlegungen dieser abstrakte Standpunkt nicht zu gewinnen war, erweist sich das irrationale Vertrauen in die Berechenbarkeit der Realität für die formalanalytisch ausgerichteten Sozialwissenschaften paradoxerweise als ausgesprochen rational 42 . Die formal-analytische Ökonomik konnte sich so, salopp ausgedrückt, beinahe ungehindert zu einem Selbstläufer entwickeln, zu einem durch die Eleganz und die Überzeugungskraft der Methodik abgesicherten Tummelplatz der Wissenschaft, der sich immer wieder aus sich selbst heraus zu regenerieren vermochte. Natürlich blieb die von außen hereinkommende Kritik nicht ohne Wirkung 4 3 ; statt neue Wege zu eröffnen, entstanden aber lediglich „more sophisticated" Theorien, die die alten Probleme, allerdings auf eine meist subtilere Art und Weise, reproduzierten. 40 Vielleicht muß man zugeben, daß nur sehr wenige bisher diese Herausforderung gespürt haben. 41

Tatsächlich stellen sich Fragen nach dem Wandel oder nach dem „Neuartigen" in der Mathematik überhaupt nicht. Relevant werden solche Probleme erst in der Anwendung, insbesondere natürlich in der Meta-Mathematik, d.h. in der Anwendung der Mathematik auf diese selbst. Leider werden auch innerhalb der formalen Disziplin die in diesem Zusammenhang entstehenden Fragen zumeist als exotische Randprobleme abgetan. Bedauerlicherweise macht sich die Immunisierungsstrategie der Mathematik auch in der theoretischen Ökonomik bemerkbar. Wenn Mathematik noch als Kunst an und für sich akzeptiert werden kann, so fallt einem ein solches Verständnis für die Ökonomik schon viel schwerer. Wenn alles in frei schwebende Implikationen eingekleidet ist, dann landet die Grundlagenkrise schließlich beim Studenten und Anwender in der Praxis. Die Antwort auf die Frage, ob dies im wissenschaftlichen Interesse liegen kann, erübrigt sich, wie ich meine. 42 Es ist gewissermaßen rational, weil es irrational ist. Genauere Angaben zur Eigendynamik, die sich in selbstreferenten, scheinbar paradoxen Strukturen versteckt, welche sich aus sich heraus ständig neu reproduzieren können, folgen in Kap.6. 43 Vergleiche Blaug, Kap.7, Simon, 1979, Davidson oder Kirzner, 1984.

4.2 Das formal-analytische Paradigma der Neoklassik

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Formale Theorien können immer mit dem „platten" Argument entschuldigt werden, man hätte offensichtlich einen wichtigen Aspekt z.B. Informationssuche vergessen; was aber, wenn das „Vergessene" gerade in der Erfindungskraft des beschriebenen Systems liegt, etwas, was grundsätzlich der formalen Methode verschlossen bleiben muß? Rein inhaltliche Auseinandersetzungen treiben somit nur ein Perpetuum mobile an. Es entstehen laufend neue formale Theorien, eine Entwicklung, die von H.A. Simon 1979 als „neoclassical revival" apostrophiert wurde. Bekannte Beispiele sind die „economics of information", die Theorie rationaler Erwartungen oder die Theorie statistischer Entscheidungen. Die Tendenz folgt einmal dem schon in Kapitel 2.4.1 analysierten Weg eines zunehmenden Reduktionismus, zum anderen oder gerade deswegen werden die Theorien schließlich so komplex im Sinne der Vielheit 44 , daß sie schon aus denk-ökonomischen Gründen einer gewissenhaften Überprüfung trotzen 45 . Scheinbar gelingt es so der formal-analytischen Theorie, sich sogar mit Kategorien wie der Information sinnvoll auseinanderzusetzen. Bei genauerer Analyse erkennt man aber, daß all diese Kategorien zuvor auf ein dem Prokrustesbett des Formalismus adäquates Format reduziert wurden 46 . Während Information in zwischenmenschlichen Zusammenhängen niemals ohne Neuigkeitswert, ohne einen Anteil an Erstmaligkeit 47 ausgetauscht wird, erlaubt der gezähmte, formal-taugliche Rest nach Shannonschem Muster gerade noch inhaltsentleertes Umordnen von Zeichen nach festen Regeln (vgl. Kap.5.4). Eine Unterhaltung auf diesem Niveau wäre geradezu beleidigend — espritloses Geplapper. So schreibt auch H.A. Simon (1979, S.504) zur Informationsökonomie: „Hence, to some extend, the impression that these new theories deal with the hitherto ignored phenomena of uncertainty and information transmission is illusory." Auch Kirzner (1984, S.152f.) 4e vermutet, daß die Verbesserungsbemühungen statt einer Ausweitung des technischen Instrumentariums, eher der Reorganisation der gesamten theoretischen Struktur von den Grundlagen her gelten sollten. 44

Das zugrundeliegende Weltbild beschreibt Georgescu-Roegen, 1971, S.334, so: „Pareto like Cournot before him, saw in the immensity of equations the only obstacle to economics' being a numerical science, like astronomy." 45 Salopp gesprochen, wird solange kosmetisch operiert, bis der Patient nicht mehr zu erkennen ist. 46

Es ist ein folgenschwerer Irrtum, anzunehmen, daß die Neoklassik ihren Widersachern zum Trotz fortwährend neues Terrain erobert. In Wahrheit werden vielmehr auf dem alten Terrain neue Parzellen abgesteckt und das dort Entstehende, was das hinsichtlich der Unzulänglichkeiten dort schon immer Entstandene ist, entsprechend der neu ausgewiesenen Parzellierung mit neuen Etiketten versehen und als Sensation verkauft. 47 Die Darstellung der Information als Kombination von Erstmaligkeit und Bestätigung wurde von E .y .Weizsäcker eingeführt und später z.B. auch von Jantsch übernommen. Diese Darstellung ist ein wichtiger Ausgangspunkt in Kap. 5. 45 Ähnlich Davidson, S.201. 10*

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Das gesamte, neoklassische „revival" bewertet Simon (1979, S.506) schließlich mit den Worten: „... I do not believe that they solve the problems that motivated their development." Gerade H.A. Simon hat mit seinen früheren Arbeiten (bis ca. 1970) das formal-analytische Bild vom Menschen maßgeblich mitgeprägt und verdient daher, obwohl nicht voll dem neoklassischen Weltbild zurechenbar, besondere Beachtung. Im Gegensatz zur Neoklassik und zur Spieltheorie 49 gingen seine Überlegungen zur Entscheidungs- und Problemlösungstheorie von mit nur begrenzten Informationen ausgestatteten Akteuren aus, weshalb seine Probleme auch nur unvollständig strukturiert sind. Statt durch vollkommene Rationalität ist dementsprechend das Verhalten dieser Akteure durch „bounded rationality" gekennzeichnet, statt „maximizing" ist „satisficing" ihr Streben, statt „economic man" jetzt „administrative man" 5 0 . Nichtsdestoweniger verharrt Simon nicht nur im formal-analytischen Horizont, sondern erklärt diesen geradezu für universell. Ganz deutlich kommt dies in seinen Erwartungen bezüglich der Fähigkeiten von Rechenmaschinen zum Ausdruck, Maschinen, die ja gewissermaßen die Inkarnationen formal-analytischer Kalküle sind. Wörtlich schreiben Simon/Newell (1958) 51 : „... that there are now in the world machines that think, that learn and that create. Moreover, their ability to do these things is going to increase rapidly until — in a visible future — the range of problems they can handle will be coextensive with the range to which the human mind has been applied."

Entsprechend dieser beinahe euphorischen Einschätzung formaler Möglichkeiten geht Simon von einem grundsätzlich irgendwie real gegebenen Entscheidungsraum aus, dessen Kenntnis durch die einzelnen Akteure lediglich umständebedingt unvollständig ist. In der Funktion ähnlich wie der Ereignisbaum bei Debreu (vgl. Kap. 2.3.3) manifestiert sich dieser Raum bei Simon 52 ebenfalls in einem Entscheidungsbaum, dessen Äste von jedem Entscheidungsknoten aus auf die Verhaltensalternativen führen; den Akteur kann man sich dabei in einer Position befindlich vorstellen, aus der ihm die Sicht auf einige dieser Äste 49 Die der Spieltheorie zugrundeliegende Realitätsvorstellung wird treffend von Rapoport, 1968 (3), S.487 wiedergegeben und zeigt in dieser Darstellung die Übereinstimmung zur neoklassischen Sicht: „Game theory ist an attempt to bring within the fold of rigorous deductive methods those aspects of human behaviour in which conflict and cooperation are conducted in the context of choices among alternatives whose range of outcomes is known to the fullest extend to the participants." 50 Vergleiche Simon H.A., 1976 (3rd edition from 1945), S.XXVIII ff. 51 Simon/Newell , 1958, S.8. Simon preist darin die Computer an, wie seinerzeit Morgenstern die Neue Logik (Vgl. Kap.2.1) und heute Koblitz/Rieter die Theorie der dissipativen Strukturen, ohne jeweils mit konkreten Ergebnissen aufwarten zu können, die den Optimismus rechtfertigen können. 52 Simon , 1976, S.XXXII f.: „ I f we are to find a common conceptual roof under which both economic man and administrative man can live, that roof can include only item (I) of the above list — the ,tree' of possible future behaviours."

4.2 Das formal-analytische Paradigma der Neoklassik

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verdeckt ist. Diese Grundposition Simons wiederholt sich auch in seinem Problem Verständnis, das er wie folgt artikuliert 53 : „Wenn wir eine Darstellung dessen liefern (was erwünscht ist, unter welchen Bedingungen, vermittels welcher Werkzeuge und Operationen, mit welcher Augangsinformation begonnen wird und welche Quellen zugänglich sind) und wenn wir annehmen, daß die Interpretation (der Symbolstrukturen, die diese Informationen repräsentieren) im Programm des problemlösenden, informationsverarbeitenden Systems implizit enthalten ist, dann haben wir ein Problem definiert."

Es ist offensichtlich, daß die Kategorien des Neuen und der Kreativität bei Simon eher wie ein Mißverständnis behandelt werden, welches sich, sofern diese einmal auf Computern realisiert und damit unter Rationalität subsumierbar geworden sind, in Wohlgefallen auflösen wird. So schreiben Simon/Newell schon 1958 54 : „Intuition, insight, and learning are no longer exclusive possessions of humans; any largë high-speed computer can be programmed to exhibit them also."

Eine Reihe weiterer, schier unglaublicher Prognosen von Simon sind bei Weizenbaum, Kapitel 5,6 und 9 zu finden. Neben H.A. Simon darf Forrester als gleichfalls entschiedener Proponent des formalen Menschenbildes nicht unerwähnt bleiben. Seine Behauptungen sind teils noch weitgehender als die Simons, decken sich, wie von Weizenbaum 55 schlüssig gezeigt, jedoch im Grund tenor weitgehend mit diesen. Weizenbaum, dessen hier zitiertes Werk schon 1976 abgeschlossen war, stellt klar heraus (vgl. S.238 und S.321), daß die von Simon gemachten Prophezeihungen im Sinne Simons sich schlichtweg nicht erfüllt haben, und es nach seiner Meinung auch keine Chancen gibt, daß sich diese Hoffnungen in der vorgetragenen Form noch erfüllen könnten. Inzwischen sind weitere Jahre vergangen und die Prognosen haben sich immer noch nicht bestätigt, aber etwas anderes, viel Entscheidenderes ist eingetreten, etwas, das die ausführliche Diskussion seiner Arbeiten überhaupt erst rechtfertigt: Simon hat offensichtlich seine Einschätzung inzwischen revidiert. Wie anders ist seine weiter oben zitierte Haltung zum „neoclassical revival" zu interpretieren, ja er bemerkt, ebenfalls anläßlich seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis 56 noch viel unmißverständlicher: „The flowering of mathematical economics and econometrics has provided two generations of economic theorists with a vast garden of formal and technical problems that have absorbed the energies and postponed encounters with the inelegancies of the real world.

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Übersetzt bei Weizenbaum, S.239, aus Newell and Simon, „Human Problem Solving", S.73. 54 Simon und Newell, 1958, S.6. 55 Siehe Weizenbaum, S.322 ff. 56 Simon, 1979, S.504.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

I f I sound mildly critical of these developments, I should confess that I have also been a part of them, admire them and would be decidedly unhappy to return to the premathematical world they have replaced."

Die Geschichte gewinnt schließlich eine hintergründige Komik durch den Umstand, daß sich manche der frühen Prophezeihungen dennoch geradezu auf eine sibyllinische Weise erfüllen. So schrieben Simon/Newell 51, 1958: „The research on heuristic problem solving will be applied to understanding the human mind. With the aid of heuristic programs, we will help man obey the ancient injunction: know thyself. And knowing himself, he may learn to use advances of knowledge to benefit, rather than destroy, the human species."

Tatsächlich führten die Forschungsanstrengungen zur Selbsterkenntnis, allerdings besagt diese: Die menschliche Natur entspricht keiner heuristisch Probleme lösenden Maschine. Natürlich muß die systemimmanente Eigendynamik der formal-analytischen Ökonomik mit der Thematisierung eben dieser Eigendynamik nicht schlagartig in sich zusammenbrechen. Grundsätzlich gilt aber frei nach Wittgenstein, daß man ein Spiel 58 in dem Augenblick nicht mehr naiv weiterspielen kann, in dem man das Spiel als anderes zu begreifen gelernt hat. Die Einführung der Form als eigenständige Spielregel führt in unserem Fall zu einer solchen Verständniskorrektur. Eine sehr eingängige Darstellung des Spielverlaufs präsentiert Hicks in seiner autobiographisch gefärbten Auseinandersetzung mit der Zeitproblematik (Some Questions of Time in Economics). Folgt man dieser Schilderung, dann war Hicks nachgerade in klassischer Manier 5 9 in das Spiel gemäß seinem bisherigen Kontext verstrickt. Sein Aufsatz kennzeichnet entschieden die mangelnde Berücksichtigung der Zeitkategorie in den vorherrschenden Ansätzen als das zentrale Problem der Ökonomik. Zeit wird in diesen Ansätzen als „spatial coordinate" 60 repräsentiert, eine Darstellung, die, so wörtlich 6 1 : „always leaves something out". Diese Vereinfachung bestimmt danach auch die 57

Simon/Newell, 1958, S.8. Der aufgezeigte Zusammenhang ist kein Spiel im formalen spieltheoretischen Sinne (auch diesen Begriff hat der Formalismus verstümmelt), sondern ist ein Spiel in dessen Verlauf die Regeln (innerhalb der Restriktionen der Logik) selbst transformiert werden können; ein heimtückisches Spiel, dessen Hauptcharakteristik (Motor der Eigendynamik) darin besteht, daß ein jeder Spielzug gleichzeitig die scheinbare Notwendigkeit eines weiteren Spielzugs der gleichen Art rechtfertigt. Das Spiel, einmal begonnen, macht sich unentbehrlich, es regeneriert sich zirkulär aus sich heraus. Dies erklärt, daß es für einen Spieler erst dann zu Ende ist, wenn er das Spiel als ein solches und seine prinzipiell infinite Fortsetzbarkeit erkannt hat. 58

59 Hier muß man eher Gefangener und nicht Spieler sagen, denn Hicks findet die Situation selbst höchst unbefriedigend (vgl. Hicks, 1976). 60 Hicks, 1976, S.135. Dieselbe Kennzeichnung findet sich auch z.B. bei Mises , Shackle oder Georgescu. 61 A.a.O.

4.2 Das formal-analytische Paradigma der Neoklassik

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fortgeschrittenen Theorien: „... there are highly sophisticated models which, in effect, do the same thing. It is quite hard to get away, in any part of our thinking, from the spatial representation." 62 Hicks verbindet diese Einschränkung mit dem Gleichgewichtskonzept: „... the use of an equilibrium concept is a signal that time, in some respect at least, has been put on one side." 63 Kennzeichen der Gleichgewichtvorstellung ist in seiner Sicht eine zeit-eliminierende Invarianzannahme: „ A state of equilibrium, by definition, is a state in which something, something relevant, is not changing..." 64 Teile seiner eigenen Arbeit sieht Hicks selbst dieser zeit-eliminierenden Wissenschaftstradition verhaftet, so z.B. die bekannte IS-LM-Repräsentation von Keyness „General Theory" 6 5 . Die zur Überwindung des Gleichgewichtsgedankens konzipierten Theorien beruhend auf den Vorstellungen einer „Regulary Progressive Economy" 6 6 bzw. synonym dazu „steady-state-economics"67 nach Harr od, Robinson, Kaldor, von Neumann, Solow und anderen stuft Hicks als ein „tremendous come-back of equilibrism" 68 ein. Sein Argument ist 6 9 : „ I n ratio terms, the Steady State was still quite stationary. Thus, so long as attention was fixed on ratios (and the growth rate itself is a ratio) the Steady State could be absorbed into full-blown equilibrium economics, in which one point of time is just like another. It was just as much ,out of time' as the Stationary State itself." Selbst hinsichtlich noch weitergehender Entwicklungen z.B. der auf Arbeiten von von Neumann und Ramsey zurückgehenden „turnpike theorems, optimum saving theorems and the like" gilt für ihn: „Though these are not steady-state theories, they are nevertheless equilibrium theories." 70 Hicks Einschätzung gipfelt in der bereits weiter oben zitierten Formel: „There is no room for the unexpected." 71 Es wird deutlich, daß Hicks auf höchstem inhaltlichen Abstraktionsniveau die Annahme zeit-eliminierender Invarianzen 72 als das sich bei all den angesprochenen Theorien Wiederholende herausgearbeitet hat. Bedauerlicherweise ist das aber noch nicht ganz der Schlüssel zur Lösung des Dilemmas, denn es fehlt die entscheidende Implikation, die diese Wiederholung erzwingt. Was sich nämlich 62

A.a.O. A.a.O. S.140. Ein Gleichgewichtszustand G im formalen Sinne liegt vor, wenn eine das Gleichgewicht definierende Zustandstransformation Z, angewendet auf G invariant ist, d.h. wenn gilt Z(G) = G. Vgl. hierzu auch Kulla, S.40 oder Ashby, S.115. 64 A.a.O. Im Einklang dazu ergibt sich aus den Überlegungen eingangs dieses Kapitels und den Konsequenzen, die das Identitätspostulat nach sich zieht, daß prinzipiell jede formale ökonomische Theorie eine Gleichgewichtstheorie sein muß. 65 A.a.O. S.141. 66 A.a.O. S.142. 67 A.a.O. S.143. 68 A.a.O. S.142. 69 A.a.O. S.142. 70 A.a.O. S.144. 71 A.a.O. 72 Hier sollte sich bei jedem die Assoziation einer Ω-Menge einstellen (vgl. Kap.2). 63

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

bei all den Theorien außerdem noch wiederholt, ist die formale Sprache, und deren Defizienz äußert sich inhaltlich, wie gezeigt, immer im Fehlen des Neuartigen, des historischen Moments, bedingt letztlich durch die Einbettung des Gegenstandsbereichs in eine absolut invariante Menge Ω. Bleibt dieser Zusammenhang unentdeckt, entsteht eine prinzipiell unendliche Geschichte einander ablösender, immer komplizierterer Theorien. So vergleicht Hicks die Theorieentwicklung mit einem Fluch, der die intellektuelle Kraft vieler Ökonomen an komplizierte Konstruktionen gebunden hat, an Konstruktionen: „... which are so much out of time, and out of history, as to be practically futile and indeed misleading." 73 Sein eigener Werdegang ist ebenfalls gekennzeichnet von diesem Fluch, er ist gewissermaßen Gefangener des Spiels, der scheinbar vollständigen Alternativen, die er sich als aktiver Spieler sogar selbst setzt. Er beschreibt diesen Werdegang entsprechend, z.B.: „ I must however admit that I have myself spent much time in steady state economics." 74 Oder: „ I had to learn the matrix algebra... and it took me quite a time." 7 5 Offenbar akzeptierte Hicks die formale Sprache als ein notwendiges Übel „exakter" Wissenschaft, das zwar Zeit und Energie kostet, sonst eben aber nur Form ist, die mit dem Inhalt nicht interferiert: „For my part, I am very ignorant of science; though I have dabbled in mathematics my spiritual home is in the Humanities." 76 Die fehlende Auseinandersetzung mit der Form ließ Hicks somit, obwohl sich selbst als „evolutionist" 77 bezeichnend, zum Gefangenen des Spiels werden; des Spiels, in dem, wie die paradoxe Bemerkung Hicks zu seinem Werk „Capital and Growth" demonstriert: „This was a first attempt at a formal theory of an economy ... which has a history" 7 8 , jede Spielrunde bereits die nächste Runde vorprogrammiert. Tatsächlich hat Hicks schon 1979 — offenbar die Konsequenzen aus seinen negativen Erfahrungen ziehend — in seinem meta-ökonomischen Werk „Causality in Economics" die Auseinandersetzung mit der Form zumindest indirekt aufgenommen. Er schreibt 79 : „The more characteristic economic problems are 73

A.a.O. S.143. A.a.O. S.143. 75 A.a.O. S. 143. Die Einführung des Matrizenkalküls führt Hicks an dieser Stelle auf die Ausdifferenzierung des „Capital Stock" in eine Anzahl kleinerer Komponenten zurück. In seiner Beschreibung präsentiert sich dieser Prozeß geradezu als Paradebeispiel des in 2.4.1 erarbeiteten Zusammenhangs zwischen Formalismus und Reduktionismus. 76 A.a.O. S.149. 77 A.a.O. S.149. 78 A.a.O. S.144. 79 Hicks, 1979 (1), S .XI. Auch den Wahrscheinlichkeitsbegriff dehnt Hicks explizit (vgl. S.103 ff.) über den formal darstellbaren Bereich aus. A n anderer Stelle (1979 (2)) in seinem Aufsatz „Is Interest the Price of a Factor of Production"definiert Hicks seine neue Position sogar als beinahe der Österreichischen Schule zugehörig (vgl. S.51 und S.63). Er schreibt z.B. S.63: „... I now rate Walras and Pareto, who were my first loves, so much below M enger." 74

4.2 Das formal-analytische Paradigma der Neoklassik

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problems of change, of growth and retrogression, and of fluctuation. The extend to which these can be reduced into scientific terms is rather limited ... We need a theory that will help us with these problems..." 80 Diese geforderte neue Theorie echter Dynamik kann, wie in Kapitel 5 gezeigt wird, auf der Grundlage der in Kapitel 2 erarbeiteten genauen Kenntnis des in der formalen Sprache verkörperten Satzes von Spielregeln gewonnen werden. Aus den vorangehenden Überlegungen folgt nicht, daß die meisten der in den neoklassischen Modellen beschriebenen Gesetzmäßigkeiten obsolet würden. Zweifellos manifestiert sich unsere Kultur in der Hauptsache aus Gesetzmäßigkeiten 81 , wie kämen wir sonst z.B. zu einer gemeinsamen Sprache? Die Sprache ist aber gleichzeitig auch ein gutes Beispiel nicht einfach sturer Gesetzmäßigkeit, sie ist lebendig und entwickelt sich weiter (zu einer eingehenderen Erörterung vgl. Kap.5 und 6). Genauso falsch wie das Ignorieren der Gesetzmäßigkeiten, die unsere Gesellschaft stabilisieren, wäre es, die Defizienz pauschal der zu hohen Abstraktion in den formal-analytischen Ansätzen zuzuschieben und nur noch raum-zeitlich lokale Zusammenhänge beschreiben zu wollen. Prinzipiell gilt, daß nachgerade nur über Abstraktion wissenschaftliche Aussagen gewonnen werden können, die in ihrem Geltungsbereich nicht ausschließlich lokal an okkasionelle Daten gebunden sind. Erst durch systematische Informationsselektion können allgemein gültige, wissenschaftliche Zusammenhänge generiert werden 82 , die dann im okkasionellen Zusammenhang als Orientierungshilfe dienen. Natürlich muß man Komplexität der Vielheit über Abstraktion reduzieren, um sich orientieren zu können; dabei dürfen aber nicht Komplexität konstituierende Phänomene hinwegabstrahiert werden, bis daß der Gegenstandsbereich zur Trivialität verkümmert ist. Entscheidend bleibt, von was abstrahiert wird und hier muß erkannt werden, daß nicht nur der Sozialwissenschaftler, sondern buchstäblich jeder in seinem Kontext abstrahiert, um sich orientieren und um überleben zu können. So wie der Naturwissenschaftler bestrebt ist, Gesetze zu erkennen, jeder einzelne sich nach erkannten Sprach-, Gesetzes-, Verkehrsregeln, Umgangsformen usw. orientiert, der Unternehmer Regelmäßigkeiten im Produktionsablauf zur Rationalisierung ausnutzt, und auf der anderen Seite gedanklich projizierte Regelmäßigkeiten den Schlüssel zur Normierung bzw. Standardisierung, angefangen von der Küche über Verkehr, Bauwesen bis hin zum Handel, Geldmarkt und zur Landwirtschaft bilden, ist 80 Vieleicht wäre Hicks dieser Schritt nicht gelungen, hätte er damals schon, ähnlich wie Fehl mit seiner in Kap.3.3 diskutierten Arbeit, Notiz genommen von den durch Prigogine und Haken geprägten formalen Entwicklungen mit ihrem Slogan: „Order through fluctuation". 81 Diese Gesetzmäßigkeiten oder besser Regelmäßigkeiten sind jedoch im sozialen Kontext niemals völlig invariant, sie sind einem beständigen Strom von Veränderungen, insbesondere Neuerungen ausgesetzt, durch die sie jederzeit stabilisiert oder auch destabilisiert werden können (zur selben Thematik aus einer neuen Perspektive vgl. Kap.5). 82 Ähnlich Boulding, S.19.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Abstraktion nicht einfach Privileg der Wissenschaft, sondern die Quelle unserer sozialen Ordnung. Die Welt ist somit nicht einfach Gesetzmäßigkeit, sondern auch das Werden von Gesetzmäßigkeiten, Strukturbildung bzw. Abstraktion. Das Fatale ist nun, daß der formal-analytische Ansatz den Sozialwissenschaftler zwingt, gerade davon zu abstrahieren, was seine eigene Tätigkeit auszeichnet, nämlich von der Abstraktion 8 3 , und damit implizit zugleich vom Beobachter (vgl. Kap.l, Kap.3.3 sowie Kap.5.1). Eine formale Theorie des Beobachters wäre aber schlichtweg paradox. Abstraktion führt nämlich auf Neues 84 , auf einen neuen Orientierungszusammenhang und verletzt notwendig das Identitätspostulat der Logik. Der Symmetrien suchende bzw. sich ökonomisch in abstrakten Räumen orientierende Beobachter aus Kapitel 2 demonstriert diesen auf Paradoxien führenden Sachverhalt. Den Vorgang der Abstraktion (nicht einfach das Ergebnis) formal erfassen zu wollen, läßt das formale Gerüst in selbstreferenten Zirkeln einstürzen (vgl. Kap.2). Um eine alte Fragestellung wieder aufzunehmen: Es ist gerade die relativistische Komplexität, von der in formalen Analysen abstrahiert werden muß. Mathematik ist Ergebnis einer Abstraktion (Gedachtes), aber niemals Abstraktion selbst (Denken). Genau das ist der Grund, weshalb in formalen Sprachen nicht über diese gesprochen werden kann (vgl. Kap.2, ähnlich Kap.5.1). Die Ökoiiomik ist somit nicht einfach nur Gesetzeswissenschaft wie die Naturwissenschaften, sondern immer auch Geschichtswissenschaft, d.h. immer auch historisch 85 . Die Synthese kann allerdings nicht lediglich darin bestehen, formal-analytische Beschreibungen durch historische Aufzählung zu ergänzen, denn das hieße, sich nur ex post bzw. retrospektiv mit dem Wandel auseinanderzusetzen; das hieße die intellektuelle Herausforderung nicht anzunehmen, nämlich das Wesen des Wandels zu erfassen (was nicht heißen kann, die Struktur des Wandels zu erkennen, denn das würde auf eine erneute Paradöxie führen (vgl. Kap.5)). Im gleichen Tenor hat auch Schumpeter in seiner Würdigung Schmollers schon darauf hingewiesen, daß die historische Sicht der Emergenz des Individuellen und des Neuen mit dem Gespür für Verallgemeinerung, wie es die theoretische Ökonomik an den Tag legt, zueinander finden müssen. Weder ist 83 F.H. Hahn verweist 1973 in seinem Aufsatz „On the Notion of Equilibriutn in Economics", S.3, unter Berufung auf Russell, auf die Bedeutung und die Notwendigkeit der Abstraktion. Befremdend ist, daß Hahn diese Bemerkung ausgerechnet anläßlich seiner Würdigung der Gleichgewichtstheorie macht, einer Theorie, die gerade von der Abstraktionsfahigkeit der Wirtschaftssubjekte abstrahiert. 84

Dies ist bereits der Schlüssel zur Synthese in Kap.5, in dem dieser Zusammenhang in noch wesentlich allgerneingültigerer Form (wenn man so will abstrakter) erarbeitet Wird. 85 Diesen Schluß zieht ähnlich auch Hicks in der zuletzt zitierten Arbeit (1979 (1)), in der er versucht, die formalen Fesseln abzustreifen: „As economics pushes on beyond ,statics4, it becomes less like science, and more like history."

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

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die Verallgemeinerung verzichtbar, noch darf durch die Theorie der historische Wandel ignoriert werden 86 . Man könnte die geforderte Darstellungsweise kaum besser als mit Schumpeter s Worten (1954, S.199) selbst ausdrücken: „Diese Form der Darstellung macht keinen Effekt, aber sie atmet Leben ..." Die Synthese besteht auch nicht in der Kombination Zufall und Notwendigkeit (vgl. Prigogine , Haken bzw. Kap.3.2), denn diese Kombination ist nur wieder ein Fragment, das die formal-analytische Tunnelperspektive aus einem im Prinzip guten Gedanken herausgeschnitten hat (vgl. Kap.3.2). Schließlich und endlich liegt die Synthese auch nicht in dem dichotomen Rahmen zwischen Rationalität im Sinne der Neoklassik und Irrationalität. Das Entdecken neuer Zusammenhänge ist jenseits dieser Alternativen angesiedelt, es entspricht kreativem Verhalten.

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion Obgleich die Zeitkategorie in vielen Abhandlungen nicht explizit thematisiert wird, ist sie vermöge der weitgehenden Entsprechung von Subjekt, Neuerung, echter Dynamik und Zeit (Vgl. Kap.4.1) dennoch impliziter Mittelpunkt vieler Überlegungen zum Begriff des Unternehmers, der Innovation, des Wettbewerbs oder der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Reihe der im nachfolgenden Teil besprochenen Arbeiten stellt eine subjektive Auswahl der dem Verfasser von der vertretenen Idee her relevant erscheinenden Ansätze dar. Ein Großteil dieser Arbeiten entspringt dem sich in der Nachfolge von Menger formierenden Autorenkreis der Österreichischen Schule. Zwar wiederholen sich viele Gesichtspunkte bei den einzelnen Autoren, dies sogar, obwohl das Entstehungsdatum mancher Arbeiten Jahrzehnte auseinander liegt. Dennoch erlauben die vielschichtigen individuellen Ausprägungen kein klares, die Reihenfolge bestimmendes Ordnungskriterium. Erforderlich wäre eigentlich ein Netzwerk, in dem die Autoren jeweils nach verschiedenen Gesichtspunkten einander gegenüber gestellt werden. Ein solches Unterfangen würde allerdings den hier möglichen Rahmen sprengen. Trotz allem sei der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß sich in dieser, in vieler Hinsicht unbefriedigenden und unvollständigen Darstellung dennoch die zentralen Ideen zur Zeitproblematik in der Ökonomie wiederfinden lassen. Wir knüpfen zunächst direkt an die zum Abschluß des letzten Abschnitts angeklungenen Gedanken Schumpeter s zur historischen Entwicklung an. Schumpeter erscheint auch deswegen zu Beginn, weil seine gründlegenden Überlegungen richtungweisend die Diskussion bis heute bestimmt haben. Wir schließen die Besprechung mit Shackle , dessen Gedanken wohl am weitesten über traditionelles Terrain hinausragen.

86

Vgl. Schumpeter , 1954 (1), S.149, S.166, S.183 und S.199.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

4.3.1 Schumpeter Schumpeter s Auseinandersetzung mit der Zeitproblematik umfaßt viele Stationen und behandelt ebensoviele Aspekte; die oben angesprochenen Überlegungen zum gesetzmäßigen Ablauf, der durch den einmaligen Wandel im historischen Prozeß ergänzt und ersetzt wird, spiegeln nur eine Facette davon wieder. Offensichtlich war sich Schumpeter der vereinigenden Thematik all dieser Betrachtungen wohl bewußt, denn er identifiziert schon 1914, anläßlich seiner Würdigung Böhm-Bawerks, als zentrales Problem die „...Behandlung des Zeitmoments, aus dem sich neun Zehntel der Grundschwierigkeiten der theoretischen Konstruktion des sozialen Wirtschaftsprozesses ergeben." 1 Schumpeter sah klar, wenn er sich auch nicht explizit auf den Formalismus bezog, den Unterschied zwischen theoretischer Analyse und historischem Ablauf: „Der Gedankengang der Theorie setzt ein Sichgleichbleiben dieser Dinge, eine Stringenz des kausalen Zusammenhangs, eine Unveränderlichkeit der ,Gesetze' voraus ..." 2 Theorie ist für ihn zentriert „... unter dem Gesichtspunkt eines »Kreislaufs 4 in jahraus, jahrein wesentlich gleicher Bahn." 3 Kaum irgendwo anders ist der Kern des Formalismus (der „Theorie" in seiner Terminologie) so klar erfaßt als in diesen Worten Schumpeter s. Im Kreislauf, einem interpretierenden Synonym für die sich als Symmetrien zeitlos wiederholenden formalen Objekte, drückt sich das die „Theorie" beherrschende Identitätspostulat der Logik aus. Die historischen Veränderungen hingegen „absolvieren" in Schumpeter s Worten „weder einen Kreislauf, der sich immer wiederholte, noch sind sie Pendelbewegungen um ein Zentrum." 4 Solche Veränderungen können „den Rahmen, die gewohnte Bahn selbst verändern und vom,Kreislauf her nicht verstanden werden." 5 Entsprechend rechnet Schumpeter zur Entwicklung nur Veränderungen, die die Wirtschaft aus sich heraus hervorbringt und die ein qualitativ neues Element hervorrufen. Bloßes Wachstum zählt somit nicht zur Entwicklung, sondern drückt einfach Datenänderungen aus, bleibt also innerhalb des einmal gewählten Beobachtungsrahmens 6. Schumpeter weist schon über das bloße Konstatieren und Aufzählen einer historischen Entwicklung hinaus, indem er unter vorangehender Abgrenzung gegen das Konstatieren und Aufzählen die in die Zukunft gerichtete Frage stellt: „Wie vollziehen sich solche Veränderungen und welche wirtschaftlichen Erscheinungen lösen sie aus?"7 1

Schumpeter , 1954, S.46. Schumpeter , 1954, S.149. 3 Schumpeter , 1952, S.93. 4 A.a.O. S.89. 5 A.a.O. S.93. 6 Vgl. a.a.O. S.95 ff. Offenbar hat Schumpeter mit dem Hinweis auf den Rahmen (vgl. Text mit Fußnote 5) bereits implizit den Beobachter thematisiert. Statt Rahmen verwenden wir in Kap.5 und 6 den Begriff Kontext. 2

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

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Freilich korrespondiert diesem Verständnis historischen Wandels keinerlei Mechanismus der Entwicklung, sondern die notwendige Einbeziehung autonom handelnder Subjekte8. Ganz dieser Logik folgend ist so der Schumpetersche Unternehmer das Agens des Wandels. Dabei interpretiert Schumpeter den Unternehmerbegriff anders als er gewöhnlich in der Literatur verstanden wird. Für ihn ist dieser Begriff direkt aus dem Entwicklungsbegriff abgeleitet, da Entwicklung eine unmittelbare Folge unternehmerischen Handelns ist. Infolgedessen sind alle Wirtschaftssubjekte Unternehmer, die über die aktive Durchsetzung neuer Kombinationen die historische Entwicklung bedingen9. Der Wirtschaftsprozeß braucht Führerschaft, d.h. Subjekte, die bereit sind, Neues zu wagen und dabei aus der Gesetzmäßigkeit heraus treten, insbesondere eben auch aus der Gesetzmäßigkeit, welche Kennzeichen der formalen Theorie ist. 1 0 Die Durchsetzung neuer Kombinationen wird bei ihm nach mehreren Kriterien differenziert 11 , zusammengefaßt vereinigen diese Kriterien all die Eigenschaften, die wir heute mit kreativem Handeln 12 in Verbindung bringen. Der Schumpetersche Unternehmer ist also ein innovatorischer Unternehmer, der sogar ausschließlich über seinen innovatorischen Charakter definiert ist 1 3 . Gleichgewichtsvorstellungen sind naturgemäß inkompatibel mit Innovationen; Innovationen wirken gleichgewichtszerstörend, sofern jemals ein Gleichge7 A.a.O. S.94, vgl. auch Fußnote zu Schumpeter in Kap.4.2. Hier gelangt Schumpeter an eine kritische Stelle: gelingt es ihm eine Gesetzmäßigleit solcher Veränderungen festzustellen, geraten diese Veränderungen in einen Widerspruch zu seiner Definition von Entwicklung (übrigens auch zu der unsrigen). Ohne Gesetzmäßigkeiten besteht dagegen die Gefahr der Aufzählung. Zur Lösung muß erkannt werden, daß Strukturbildung jenseits formaler („theoretischer" nach Schumpeter) Beschreibung nicht Struktur sein kann (vgl. auch Kap.5). 8 Hier zeigt sich wieder die schon in Kap.4.1 erläuterte Entsprechung von Subjekt und Zeit. 9 Vgl. a.a.O. S . l l l . Unternehmergewinn resultiert folglich in großem Maße aus kreativem Verhalten (vgl. S.216). 10 Vgl. a.a.O. S.124. 11 A.a.O. S.100. 12 Wir sagen ausdrücklich „kreatives Verhalten", da im ökonomischen Kontext nicht nur der schöpferische Einfall, sondern mehr noch die Durchsetzung der Idee entscheidend ist. In diesem Sinne spricht Schumpeter auch von der Durchsetzung neuer Kombinationen. Allerdings identifiziert Schumpeter diese „Durchsetzung" neuer Kombinationen so sehr mit dem Entwicklungs- und dem Neuheitsbegriff, daß nach meiner Auffassung die in der Literatur Schumpeter unterstellte Trennung zwischen Erfinder und Innovator (z.B. Röpke, 1977, S.122) etwas überinterpretiert erscheint, wiewohl Schumpeter zweifellos die ökonomisch relevantere Funktion des Durchsetzens der Ideen mehr betont. In diesem Sinne meinen wir mit innovatorischem Handeln auch das kreative Handeln, wiederum mit Betonung auf der Durchsetzung. 13 In unserer heutigen Terminologie wäre Schumpeter s Sicht als evolutionsbetont einzuordnen; in seiner Analyse des Kapitalismus (Schumpeter, 1950, S.136 f.) spricht Schumpeter auch explizit vom evolutionären Prozeß und industrieller Mutation.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

wicht bestand 14 . Entsprechend kann Wettbewerb, soweit er sich im innovatorischen Handeln, also weder allein im Preiswettbewerb noch im Qualitäts- oder Servicewettbewerb, sondern über das starre System hinaus in der Emergenz des Neuen äußert, niemals ein Kennzeichen des Gleichgewichts sein 15 . Vielmehr ist Wettbewerb, in diesem Sinne verstanden, ein Signal für das Fehlen von Gleichgewicht, für den „ewigen Sturm der schöpferischen Zerstörung" 16 starrer Strukturen.

4.3.2 Kirzner Zwar arbeitet Kirzner in seinen Überlegungen zu Wettbewerb und Unternehmertum nicht formal und grenzt sich als „Österreicher" sogar ausdrücklich dagegen ab 1 , dennoch steht Kirzner dem formal-analytischen Denken viel näher als etwa Schumpeter. So sieht Kirzner ebenso wie Schumpeter im findigen Unternehmer die treibende Kraft des Marktprozesses 2, allerdings interpretiert Kirzner verglichen mit der neoklassischen Lehre, diese Fähigkeit wesentlich konventioneller als Schumpeter. Während für Schumpeter Findigkeit im Erfinden, in Kreativität, Innovation und Evolution besteht, assoziiert Kirzner Findigkeit mit „Finden" insbesondere von bisher unausgenutzten Gelegenheiten 3 . Für Kirzner sind die durch den Unternehmer eingeleiteten Veränderungen Reaktionen: „... auf die vorhandenen Fehlentscheidungen, die durch verpaßte Gelegenheiten gekennzeichnet sind ..." 4 Somit bringt in seiner Betrachtungsweise „...der Unternehmer nicht-übereinstimmende Elemente, die aus früherer Marktunwissenheit entstanden waren, zu gegenseitiger Anpassung." 5 Die verpaßten bzw. unausgenutzten Gelegenheiten sind für Kirzner in einer nicht näher erläuterten Form vorhanden, sie werden lediglich nicht gefunden 6. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen Kirzner und Schumpeter, ; für Kirzner ist alles schon in irgendeiner Weise existent, man muß es nur finden, wärend Schumpeter dem Unternehmer Kreativität zuerkennt, ihn sogar über Kreativität 14

Vgl. Schumpeter , 1952, S.342. Schumpeter , 1950, S. 139 ff. 16 Schumpeter , 1950, S. 138. 1 Vgl. Kirzner, 1984, S.145. 2 Vgl. Kirzner, 1978, S.6, 7 und S. 103. Kirzner verweist ausdrücklich darauf, daß seine Ausführungen zu „Wettbewerb und Unternehmertum" als Explikation des von Mises entwickelten Gedankenguts zu verstehen sind (1978, S.68). 3 Ohne dabei wörtlich den Unternehmer anzusprechen, schreibt auch Hayek in seiner Arbeit „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" (S.260) von den „Kundschaftern" im Wettbewerb, die „... auf der ständigen Suche nach unausgenützten Gelegenheiten sind..." 4 Kirzner, 1978, S.59. 5 A.a.O. 6 Vgl. a.a.O. S.103 und S.59. 15

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definiert. Der Kirznersche Unternehmer ist somit ein lernender 7, während der Schumpetersche ein innovativer Unternehmer ist! Alle weiteren Unterschiede in den Auffassungen lassen sich ohne weiteres aus dieser Differenz ableiten. Solange Unternehmer noch Gelegenheiten auslassen, solange sie also noch Fehler begehen, kann nach Kirzner 8 überhaupt kein Gleichgewicht, sondern nur Ungleichgewicht bestehen; jede anfangliche Gleichmäßigkeit des Kreislaufs wäre somit eine Illusion. Langfristig jedoch, wenn das Potential an Gelegenheiten vollkommen ausgeschöpft wäre, wenn es keine Marktunwissenheit mehr gäbe, entstünde eine Struktur von genau zueinander passenden Entscheidungen bei vollkommener Information, es herrschte Gleichgewicht 9 . „Der Marktprozeß entsteht" somit bei Kirzner „aus den Wirkungen", und das kann nichts anderes bedeuten, als aus Lernschritten und nachfolgend revidierten Aktionen, „die aus der anfänglichen Unwissenheit der Marktteilnehmer resultieren." 10 Im Gleichgewicht kommt dieser Prozeß natürlich sofort zum Stillstand 11 . Damit sind für Kirzner die durch den Unternehmer eingeleiteten Veränderungen, d.h. der Marktprozeß, immer auf den Gleichgewichtszustand ausgerichtet 12. Das Gleichgewicht ist, um in der Terminologie des Abschnitts 3.2 zu sprechen, ein Attraktor des Marktprozesses. Bei Schumpeter hingegen kann sich der Marktprozeß allenfalls kurzfristig im Gleichgewicht befinden, während er langfristig durch den „ewigen Sturm der schöpferischen Zerstörung" 13 immer wieder aus diesem ausgelenkt wird. Folglich besitzt der Marktprozeß bei ihm auch keine eindeutige Tendenz, sondern tendiert einmal mehr in die eine, einmal mehr in die andere Richtung. Gleichgewicht ist jedoch bei ihm zumindest kurzfristig immer wieder möglich; Gleichgewicht ist kein entfernter Fluchtpunkt der Entwicklung, sondern reale Möglichkeit. Insbesondere unterstellt Schumpeter im Gegensatz zu Kirzner den Wirtschaftssubjekten kein Fehlverhalten, wenn sie in den Schumpeterschen Gleichgewichtsphasen nichts (er-)finden. Beide Ansätze werden ausgehend von der jeweiligen Unternehmerdefinition schlüssig und konsequent verfolgt, und daher verwundert es, daß Kirzner an 7

Vgl. Kirzner, 1978, S.57 und 1984, S.148. Kirzner, 1978, S.103. 9 A.a.O. S.104 und S.8. 10 A.a.O. S.8. 11 Vgl. a.a.O. S.8. Folgerichtig schließt Kirzner, daß eine Ökonomik mit Betonung des Gleichgewichts die Unternehmerrolle übersieht. So schreibt Kirzner 1967, S.797 (vgl. auch 1978, S.21): „For a market in equilibrium, there is no room for entrepreneurship and the situtation is entirely explainable in terms of Robbinsian economizing. But for the vitally important notion of market process, economizing is a grossly inadequate conception of decisionmaking." 12 Vgl. a.a.O. S.59, S.65 und S.103. 13 Schumpeter , 1950, S. 138 (vgl. auch weiter oben). 8

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verschiedenen Stellen schwere Vorwürfe gegen Schumpeter , wie z.B. „völlig irrige Meinung" oder „Inhaltsleere" 14 erhebt. Diese Vorwürfe sind nur haltbar, wenn man den Unterschied in der Unternehmerkonzeption nicht berücksichtigt, und zwar wider besseres Wissen, denn bei Kirzner selbst wird dieser Unterschied ausgiebig diskutiert 15 . Wie für Schumpeter ist auch für Kirzner der Wettbewerb direkt mit der Unternehmerrolle gekoppelt. Ob Wettbewerb, Marktprozeß oder Unternehmertum, jeweils handelt es sich dabei um Facetten ein und desselben Erklärungskomplexes, wobei die autonome Rolle des Subjekts, des Unternehmers, in beiden Erklärungsansätzen die anderen Phänomene generiert. So schreibt Kirzner 16: „... daß eine brauchbare Erklärung des Marktprozesses ein Wettbewerbskonzept benötigt, das von der Ausübung des Unternehmertums analytisch nicht getrennt werden kann." Und an anderer Stelle 17 „... daß Unternehmertum und Wettbewerblichkeit zwei Seiten derselben Medaille sind." In diesem Zusammenhang macht Kirzner 18 die für uns wichtige Bemerkung, daß der vollkommene Wettbewerb in neoklassischer Sicht, wie er die heutige Lehre beherrscht, nicht immer die dominierende Vorstellung war. So sei statt des „Zustands" des vollkommenen Wettbewerbs, in dem der eigentliche Wettbewerb nach Kirzner 19 bereits ein Ende gefunden hat, für Adam Smith Wettbewerb als ein aktiver Prozeß charakterisiert gewesen, und das „Konzept des wettbewerbslosen Zustands" wäre erst durch das Interesse Cournots an den Wirkungen des Wettbewerbs aufgekommen. Hier muß man wohl hinzufügen, daß die Verschiebung des Interesses von der Prozeßhaftigkeit zu den Wirkungen eine Einfallstraße für formale Konzepte eröffnet hatte. Denn mit den Wirkungen rücken Konnotate wie Struktur, Gesetzhaftigkeit und Gedachtes (vgl. Ausführungen in Kap.2) im Gegensatz zu Strukturbildung und Denken in den Vordergrund. So sehr bei Kirzner wie bei Schumpeter das Subjekt, repräsentiert in seiner Unternehmerfunktion, im Vordergrund steht, so unterschiedlich ist doch die ontologische Basis, die beide ihren Analysen zugrunde legen. Für Kirzner sind die von ihm so genannten „verpaßten Gelegenheiten" irgendwie real existent 20 , d.h. es gibt ein Potential aller Gelegenheiten, oder in unseren Worten, eine Menge bzw. einen Raum aller Möglichkeiten. Nun zeigt jedoch unsere Analyse in Kapitel 2, daß ebendiese Vorstellung, wie sie naturgemäß auch von allen 14

Vgl. Kirzner, 1978, S.59 und S.105. Vgl. a.a.O. S.101 ff. Noch mehr befremdet dieses Verhalten, da es Kirzner nicht gelungen ist, zwingende Argumente anzugeben, die die Richtigkeit seiner Konzeption begründen. Zur diesbezüglichen Analyse beider Konzeptionen siehe weiter unten. 16 A.a.O. S.7, vgl. auch Kirzner, 1984, S.146 f. 17 A.a.O. S.76. 18 A.a.O. JS.73. 19 A.a.O. S.75. 20 Vgl. a.a.O. S.105, 103 und S.59. 15

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formalanalytischen Ansätzen nahegelegt werden muß 2 1 , auf unüberbrückbare Paradoxien führt, d.h. auf Zusammenhänge, die mit den ontologischen Annahmen der klassischen Logik ebenso wie mit der Potentialvorstellung von Kirzner prinzipiell unvereinbar sind. In dieser formal-typischen Annahme eines begrenzten und real existierenden Potentials aller möglichen Gelegenheiten22 zeigt sich auch die eingangs behauptete Nähe von Kirzners Überlegungen zu formal-analytischen Ansätzen. Im Gegensatz zu seinen späteren Arbeiten (vgl. Kirzner, 1984, S.145 bzw. Fußnote hierzu weiter oben), in denen sich Kirzner (wie bereits angesprochen) gegen den Formalismus eher abgrenzt, schrieb er noch 1967 23 : „We remain content to stay at the purely formal level at which economic theorists have always aimed their discussion." Interpretiert man Kirzners Gelegenheitsraum als die Menge aller möglichen Informationen, dann ist sein Lernprozeß aus systematischen Planrevisionen, der irgendwann bei vollständiger Information zum Stillstand im Gleichgewicht führt 2 4 , vom Entwurf her deckungsgleich mit dem von Simon in seinen früheren Arbeiten verfolgten Konzept des Wirtschaftsakteurs mit „bounded rationality" (vgl. Kap.4.1). Insbesondere wären moderne formale Entwicklungen, wie etwa die Synergetik, durchaus denkbar als Instrumente zur Simulation von Kirzners Lernprozessen 25. Es wäre nun allerdings ein Irrtum anzunehmen, daß mit der offensichtlichen Unhaltbarkeit von Kirzners Basisannahmen dessen Konzept als völlig indiskutabel vom Tisch wäre und Schumpeters Bild des kreativen Unternehmers in der Darstellung Kirzners in jeder Hinsicht obsiegen würde. Genausowenig wie die Existenz einer Menge aller Gelegenheiten ist das andere Extrem, nämlich eine von allen Bindungen losgelöste Kreativität, eine sinnvolle Annahme. Schon aus der unmittelbaren Erfahrung heraus ist nicht von der Hand zu weisen, daß Wissen sich ausnahmslos kulturell gebunden entwickelt. Keinesfalls ist denkbar, daß Wissen (ebenso Möglichkeiten oder Alternativen) quasi zu jeder beliebigen Zeit unabhängig und unbeschränkt entstehen könnte. Betrachten wir etwa die Entwicklung der Sprache (oder auch der Mathematik), so ist die Vorstellung, daß jederzeit irgendwo im sprachlosen „Raum" Inseln ohne Bezug, ja ohne Wurzeln zur bestehenden Sprachstruktur auftauchen könnten, ebenso widersinnig wie die Annahme einer irgendwie schon existierenden Menge aller möglichen sprachlichen Inhalte. Schumpeter selbst distanziert sich übrigens (von Kirzner offenbar nicht bemerkt 26 ) — der grotesken Vorstellung einer „creatio ex nihilo" 21

Wegen des Identitätspostulats der Logik. Will man Vergleiche zu Shackle ziehen, so muß man Gelegenheiten durch Alternativen ersetzen. 23 Kirzner, 1967, S.799. 24 Vgl. a.a.O. S.8. 25 Das sind sie in der Tat auch in Fällen, in denen begründet von einer begrenzten und prinzipiell erkennbaren Anzahl von Alternativen ausgegangen werden kann. 26 Dies wird von Kirzner, 1978, offenbar nicht bemerkt, wie aus seinen Bemerkungen auf S.59 hervorgeht. 22

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Blaseio

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wohl bewußt — klar von einer solchen Extremvorstellung 27 : „Das wahrhaft Einzigartige wäre unverständlich und mangels jeder Beziehung zum Betrachter uninteressant." 28 Offensichtlich ist die von Kirzner in seiner Abgrenzung zu Schumpeter aufgebaute, scheinbar vernünftige Alternativenstellung von der Konzeption her eine Illusion. Danach wird die Entscheidung zwischen der Existenz und der Nichtexistenz eines vollständigen Alternativenraums gefordert, wobei nach der ersten Alternative die menschliche (Er-)findungskraft an prinzipielle und endgültige Grenzen stößt und irgendwann auf einen Gleichgewichtszustand führt, während die zweite Alternative augenscheinlich ungebundene Kreativität zuläßt. Die Sinnlosigkeit der Alternativenstellung ergibt sich dabei nicht nur aus den obigen inhaltlichen Überlegungen sondern auch unmittelbar aus der Konstruktion. In dieser Konstruktion verbirgt sich eine der (aus Kap.2 vertrauten) reflexiven Strukturen, denn hier wird die Menge aller Alternativen selbst zur Alternative, d.h. die Alternativenstellung ist wiederum Teil eines Teils ihrer selbst. Die Konstruktion ist also analog zur Menge aller Mengen oder Theorie aller Möglichkeiten 29 . Zum eigentlichen Problem wird offenbar wieder der nicht hinterfragte und augenscheinlich stark mit dem Identitätspostulat korrespondierende Existenzbegriff, welcher den Kontext der Fragestellungen fixiert. Derartige Fragestellungen können aufgrund ihres zirkulären Charakters ad infinitum fruchtlos und unentschieden diskutiert werden, wenn man nicht das Phantom der Zielsetzung verjagt und damit den Kontext oder Rahmen der Fragestellung verändert 30 .

4.3.3 Boland Bolands Analyse „Time in Economics versus Economics in Time" von 1978 ist aus zweierlei Gründen interessant: Einmal besteht eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Kirzners und seinem Standpunkt, zum anderen kennzeichnet Boland deutlich die Stellung seiner und damit implizit auch Kirzners Auffassung hinsichtlich Logik und Formalismus. 27

Schumpeter , 1954 (1), S.173. Es ist höchst bemerkenswert, wie in dieser Überlegung plötzlich wieder der Beobachter an Relevanz gewinnt. 29 Tatsächlich befindet sich Schumpeter s Vorstellung überhaupt nicht in dem von Kirzners Alternativen aufgespannten Kontext. Dadurch, daß seine Innovationen zwar einerseits jeden Rahmen sprengen können (vgl. Fußnote 5 in Kap.4.3.1) und damit auch außerhalb Kirzners Potential an Gelegenheiten auftreten, aber andererseits auch nicht in dem genannten Sinne (vgl. Fußnote 26) einzigartig sein können, geht Schumpeters Vorstellung weiter, als sie Kirzner interpretiert. In dieser scheinbar widersprüchlichen Konzeption von unbegrenzter, aber dennoch nicht schrankenloser Freiheit weisen Schumpeters Gedanken bereits auf die in Kap.5 angestrebte Lösung hin. 30 Eine typische Problemstellung dieser Art ist auch die Frage, ob der Mensch frei oder unfrei sei. Der implizite Zirkel solcher Fragen muß erst herausgearbeitet werden, etwa indem man darüberhinaus nach der Freiheit zur Freiheit oder der Freiheit zur Unfreiheit fragt (vgl. Kap.6.1). 28

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Boland geht aus von einer Fragestellung, die er das „Hayek-problem" nennt, nämlich: „How can we explain the process of change in economics and remain consistent with the principles of (individual) rational decision-making?"1 Ein Verständnis des Wandels bzw. der Zeit muß für ihn, genau wie für Kirzner, eine Berücksichtigung des Lernprozesses beinhalten. Er schreibt 2: „To solve the problem, the individual's process of acquiring his knowledge must be endogenous; it must be something to be explained." Noch deutlicher wird die Entsprechung zwischen Kirzner und Boland in seiner Analyse der Bedingungen des Lernprozesses. Voraussetzung des Lernprozesses ist auch für Boland das begrenzte Wissen jedes einzelnen Wirtschaftsakteurs 3. Dies führt für ihn auf zwei mögliche Gründe des Wandels4: „First, an actor may change his behaviour because exogenous changes in the givens can cause the actor's knowledge to be 'out-of-date', i.e. false. ... Secondly, an actor's mistakes which result from acting on the basis of false knowledge (even when the givens have not changed) will directly and endogenously cause changes in the future givens." Es ist also immer ein Irrtum seitens eines Wirtschaftsakteurs, der einen Wandel (gewissermaßen learning by mistakes) provoziert. Dementsprechend schreibt Boland 5: „... economics in time is a sequence of unintended consequences of acting on the basis of (unknowingly) false theories." 6 In einem wichtigen Punkt weicht Boland von Kirzners Auffassung ab: „... knowledge incompatibility is always possible." 7 Aus diesem Grunde müssen die Lernprozesse für ihn auch nicht zwangsläufig zu einem Gleichgewichtszustand führen. In seinen Worten 8 bedeutet dies: „ I f the actors learn with each decision their knowledge may always be changing. They would therefore always be in a state of disequilibrium." Obwohl er somit dem Wandel nicht nur eine vorübergehende Rolle wie Kirzner einräumt, besteht für ihn keine Veranlassung an den Grundlagen der Logik zu zweifeln 9. Entsprechende Versuche von GeorgescuRoegen und Shackle , diese Grundlagen zu ändern, stuft er als Niederlage bzw. 1

Boland, S.240. A.a.O. S.250. 3 Vgl. a.a.O. S.242. 4 A.a.O. S.255. 5 A.a.O. S.251. 6 Ähnlich beschreibt Hayek (4), S.257, die Entstehung von Ordnung: „... daß gerade durch die Enttäuschung von Erwartungen ein hohes Maß an Übereinstimmung der Erwartungen herbeigeführt wird." An anderer Stelle (S.258): „... daß alle wirtschaftlichen Entscheidungen durch unvorhergesehene Veränderungen notwendig gemacht werden ..." 2

7

Boland, S.260. Dennoch scheint Boland den Glauben Kirzners an eine unabhängig existierende Menge aller richtigen Informationen zu teilen, jedenfalls deutet seine Ansicht, daß Wissen unabhängig von jeder Überprüfung wahr sein kann, daraufhin. (Vgl. S.250 ff., insbesondere S.252 und S.260). 8 A.a.O. S.260. 9 Vgl. a.a.O. S.242. 1

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Resignation gegenüber dem Problem ein 1 0 . Allerdings wird nicht völlig klar, wie er den für ihn zentralen Lernprozeß mit formalen Sprachen vereinbaren will 1 1 . Eine prinzipielle Kritik ist noch zu seiner und zu Kirzners Vorstellung von „learning by mistakes" anzumerken. Unser Beispiel vom Lernen in abstrakten Räumen in Kapitel 2.3.2 (wir sprachen genauer von Orientierung) zeigt klar, daß Lernen in überschaubaren Zusammenhängen keineswegs auf vorhergehenden Fehlern oder Widersprüchen basieren muß und daß es trotzdem, auf sich aufbauend, prinzipiell unvollendbar sein kann.

4.3.4 Hayek Obschon zentrale Gedanken von Kirzner und Boland zum Wettbewerb bereits in Hayeks Aufsatz „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren" formuliert sind 1 , bringen wir die Erörterung seiner Arbeiten erst jetzt im Anschluß. Der Hauptgrund ist, daß Hayeks Werk mit den hier aus Überlegungen zum Formalismus entwickelten Gedanken sehr schwer zu beurteilen ist. Einmal bieten seine Ausführungen einen sehr breiten Interpretationsspielraum, zum anderen scheinen viele seiner Gedanken zwar zunächst genau in die hier vertretene Richtung zu weisen, dann jedoch treten bei näherer Analyse seiner Argumentation manchmal erhebliche Unstimmigkeiten auf. Wären Hayeks Arbeiten nicht so zentral, hätte ich wegen dieser Schwierigkeiten eine Auseinandersetzung mit seinen Überlegungen gerne vermieden, schon da eine gewissenhafte Auseinandersetzung eine eigenständige und umfangreiche Arbeit umfassen müßte. Der entstandene Kompromiß kann nicht befriedigen, aber vielleicht kann er einige Probleme beleuchten, die eine Analyse von Hayeks Werk in dem hier erarbeiteten Kontext aufwirft. Nach Hayeks eigener Beurteilung war er selbst bis zu seinem 1937 erschienenen Aufsatz „Economics and Knowledge" ein sehr reiner und enger Theoretiker 2 , bis er auf mehr philosophische Fragestellungen geführt wurde. Diese Aussage charakterisiert seine Position aber noch zu wenig pointiert, denn in einigen Arbeiten nimmt er eine eher antitheoretische Haltung ein 3 . 10

A.a.O. S.258 und S.259. Seine Beispiele zum Wandel S.255 lassen jedoch die Vermutung zu, daß es für ihn im Gegensatz zu Schumpeters Auffassung einen den Rahmen sprengenden Wandel überhaupt nicht gibt. Insofern jedenfalls kann für ihn folglich gar keine Veranlassung zu einer kritischen Einschätzung der Logik bestehen. 1 Vgl. die entsprechenden Fußnoten weiter oben. Damit sei jedoch nicht behauptet, daß Kirzner und Boland sich an Hayeks Vorstellungen angelehnt hätten. Kirzner (1978, S.68) selbst betont etwa, daß er seine Gedanken aus denen von Mises entwickelt habe. 2 Hayek (3), S.85. „Economics and Knowledge", erschien deutsch unter dem Titel „Wirtschaftstheorie und Wissen" (Hayek (14)). 3 Vgl. etwa die Aufsätze „Die Gegenrevolution der Wissenschaft" (Hayek (9)) und „Arten des Rationalismus" (Hayek (3)) oder „Die Tatsachen der Sozialwissenschaften" (Hayek (10)). 11

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Ähnlich wie etwa Schumpeter und Kirzner steht auch er mit seinem Wettbewerbsverständnis im scharfen Gegensatz zur formal-analytischen Ökonomik. Anders aber als bei diesen veranschlagt, ist Hayeks Konzept nicht so sehr auf der Fähigkeit bestimmter Individuen, nämlich der Unternehmer, sondern eher auf der Unfähigkeit derselben aufgebaut, der Unfähigkeit, alle ökonomisch relevanten Umstände zu kennen 4 . Im Ergebnis ist sein Konzept aber dem von Kirzner sehr ähnlich. Wettbewerb ist für ihn ein Entdeckungsverfahren, das eine zentrale und sehr effiziente Informationsversorgung ermöglicht 5 . Wie für Kirzner ist auch für ihn bei vollkommenem Wettbewerb der Wettbewerb schon beendet6, da es dann nicht mehr des Wettbewerb treibenden Individuums, das auf der Suche nach unausgenutzten Gelegenheiten ist 7 , bedarf. Da für Hayek „die Ergebnisse eines Entdeckungsverfahrens notwendig unvoraussagbar" 8 sind, kann Hayek keinen deterministisch formal beschreibbaren Prozeß mit Wettbewerb meinen. Auch ein stochastisch formal beschreibbarer Prozeß scheidet aus, da für ihn aus Komplexitätsgründen niemals alle Daten erfaßbar sind 9 . Diesen Schluß unterstreicht Hayeks Bemerkung 10 „... daß sich die Markttheorie oft den Zugang zu einem wirklichen Verständnis des Wettbewerbs damit verbaut, daß sie von der Annahme einer gegebenen' Menge knapper Güter ausgeht." Demzufolge versteht Hayek unter Wettbewerb einen dynamischen Prozeß mit echter Dynamik, d.h. eine Dynamik, die nicht in einer formalen Beschreibung zu Struktur gerinnen kann. So scheint es jedenfalls zunächst zu sein, aber bei genauerer Analyse entsteht eher der Eindruck, daß Hayek offenbar in seinen Arbeiten (jedenfalls in den hier zugrundegelegten) die Klärung des Dynamikbegriffs oder die Zeitproblematik kaum im Auge hatte (obwohl diese Fragen natürlich implizit in seinen Arbeiten eine große Rolle spielen), so daß hierzu teilweise unvereinbare Aussagen zu finden sind. Immerhin sieht er einen Zusammenhang zur Zeitproblematik, denn er spricht an einer Stelle 11 „... von den vielen Punkten, in denen die Vernachlässigung des Zeitmoments das theoretische Bild des vollkommenen Wettbewerbs so völlig von allem entfernt, was für das Verständnis des Prozesses des Wettbewerbs wesentlich ist." Unproblematisch sind zunächst zwei Grundthesen, die immer wieder bei ihm auftauchen. Wir bezeichnen mit These 1 die Aussage, daß es unmöglich sei, alle relevanten Daten zugleich zu kennen 12 . Die zweite Grund these bezieht sich 4

Vgl. Hayek (4), S.249 oder S.252. A.a.O. 6 A.a.O. S.254 und S.255 f. 7 A.a.O. S.260. 8 A.a.O. S.255, vgl. auch S.250. 9 A.a.O. S.252. 10 A.a.O. S.253. 11 Hayek (11), S.135. 12 Vgl. z.B. Hayek (6), (3) oder (4). Aus These 1 folgt unmittelbar auch die Behauptung der Unmöglichkeit, konkrete Einzelergebnisse in Marktprozessen vorauszusagen, sowie 5

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darauf, daß Ordnungen spontan ohne bewußte Planung oder Absicht aus der Tätigkeit einzelner Individuen entstehen können 13 . Aus These 1 ist derselbe Realismus herauszulesen, der schon bei Kirzner ganz deutlich darin zum Ausdruck kommt, daß dieser die entdeckten Gelegenheiten als real vorhandene Gelegenheiten betrachtet. Wenn auch Hayek nirgends sehr klar dazu Stellung bezieht, lassen viele Textstellen bei ihm auf die gleiche Haltung schließen14. Hayek spricht von Daten, Fakten, Tatsachen und realen Gegenständen, die es im Marktprozeß zu entdecken gilt. Die Menge der entdeckbaren Tatsachen ist in seiner Sicht offenbar begrenzt, denn er schreibt 15 : „Wir dürfen selbstverständlich auch nicht vergessen, daß der Markt nicht mehr herbeiführen kann als eine Annäherung an irgendeinen Punkt jener ndimensionalen Oberfläche, durch die die reine Theorie den Horizont der Möglichkeiten beschreibt..." Dieser Aussage liegt unzweifelhaft die Vorstellung einer realen Menge aller Möglichkeiten zugrunde, die, wie wir wissen (vgl. Kap.2), inkonsistent sein muß. Für Hayek finden die Wirtschaftssubjekte demnach „unausgenützte Gelegenheiten"; sie entdecken die Gelegenheiten und erfinden sie nicht, wie bei Schumpeter 16. Prinzipiell ist somit für Hayek ein „Verstand, dem alle Tatsachen bekannt wären" 1 7 vorstellbar, d.h. das Versagen der formal-analytischen (in seinen Worten: „theoretischen") Ökonomik kann daher nur in These 1, in der Unfähigkeit, genügend Daten zu finden und damit umzugehen, d.h. in der Unfähigkeit, Komplexität der Vielheit zu beherrschen, liegen 18 . Darin besteht ein grundsätzlicher Unterschied zu der hier vertretenen Auffassung, wonach fehlendes Verständnis hinsichtlich Zeit und Subjekt zu solch einseitigen Konzepten wie dem des vollständigen Wettbewerbs geführt haben. Komplexität der Vielheit ist danach nur eine Folge dieses mangelnden Zeitverständnisses (vgl. zum Verhältnis von Formalismus und Reduktionismus Kap.2.4.1), eine Folge unverstandener Dynamik und nicht die Basis einer Dynamik des Entdeckens von Tatsachen im Wettbewerb. Die Einschätzung, daß Hayeks Wirtschaftssubjekte bestehende Daten und Tatsachen entdecken, wird übrigens von Lachmann geteilt, weshalb nach die bei Hayek (2) begründete Notwendigkeit, sich abstrakten Regeln zu unterwerfen. Ebenso gründet hierauf Hayeks Kritik an dem Umgang mit der Information in der Ökonomik, die nach seiner Ansicht mit der Annahme der Verfügbarkeit aller relevanten Informationen das eigentliche Problem als schon gelöst betrachtet (vgl. Hayek (8), S. 103 f.) 13 Vgl. Hayek (2). 14 Vgl. z.B. Hayek (2) S.45; Hayek (4), S.249 f., S.255 f., S.260; Hayek (1), S.92 ff. 15 Hayek (4), S.257. 16 Allerdings verwendet er (Hayek (6), S. 10) im Zusammenhang mit Mustern auch den Begriff „Erfinden". 17 A.a.O. S.257. 18 Hierzu z.B. Hayek (4), S. 249: „... daß überall dort, wo wir uns des Wettbewerbs bedienen, dies nur damit gerechtfertigt werden kann, daß wir die wesentlichen Umstände nicht kennen, die das Handeln der im Wettbewerb Stehenden bestimmen."

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Lachmann Hayek wie Mises das Gleichgewicht als Endstadium des Marktprozesses ansehen19. Hayeks Realismus legt nun also doch, im Gegensatz zu unseren vorherigen Schlußfolgerungen bezüglich der diesem Realismus impliziten Dynamikvorstellungen, wie bei Kirzner einen Vergleich zu Simons formaler Theorie des wirtschaftlichen Verhaltens mit "bounded rationality" nahe. Andererseits ist sein Realismus auch wieder nicht konsequent genug, denn er schreibt, daß wir alle geistigen Phänomene nicht als Qualitäten der realen Gegenstände, sondern als vom Gehirn vorgenommene Abstraktionen ansehen müssen 20 . Wie er dann ohne Kategorienmißbrauch von Tatsachen oder physischen Fakten sprechen kann, da diese ja auch nur wieder geistige Kategorien bzw. Abstraktionen sein können, bleibt rätselhaft. Kaum einen Absatz weiter relativiert Hayek diesen Subjektivismus schon wieder, indem er, übrigens im krassesten Gegensatz zu der hier vertretenen Auffassung, schreibt, daß es nicht unmöglich sei, ein allgemeines Prinzip der Abstraktion zu finden, so daß diese als mechanischer Vorgang von einer Maschine ausgeführt werden könnte 21 . Auch diese Vorstellung wird im folgenden wieder relativiert, so daß es äußerst schwierig ist, hinsichtlich der hier gestellten Fragen bei Hayek „festen Boden" zu finden. Hayek führt das Konzept der Muster-Voraussagen 22 ein, derart, daß man ohne Kenntnis der individuellen Eigenschaften eines Gegenstandsbereichs auf die Art des auftretenden Musters schließen kann. Das klingt wie eine verbale Einführung in Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik, wenige Seiten später grenzt Hayek jedoch sein Konzept der Muster-Voraussagen gegenüber der Statistik scharf ab 2 3 . Allerdings ist seine hierbei getroffene Annahme, daß eine Information über die numerischen Häufigkeiten einer statistischen Masse die Grundlage jeder Statistik sein müsse, und in ihr Strukturgesichtspunkte keine Rolle spielen 24 , ungenügend, denn statistische Aussagen können auch über Symmetrieüberlegungen (vgl. Kap.3.3) gewonnen werden, und umgekehrt führen sie auf symmetrische Beziehungen. Ebenso, wie aus Hayeks Ausführungen der Unterschied der Muster-Voraussage zur Statistik nicht klar wird, ist auch der Unterschied zur Abstraktionsform nicht genügend geklärt. Da, wie angesprochen 25, Hayek jedes Denken in gewisser Weise als abstrakt ansieht, gerät sein Konzept somit in Gefahr, tautologisch zu sein. Er bestärkt diesen Verdacht noch, indem er selbst bei der Erläuterung seines Konzepts mit den Begriffen Formel, Variable und algebraische Theorie arbeitet 26 . Algebraische 19

Vgl. Lachmann, 1976, S.60; auch bei Graf ist diese Beurteilung herauszulesen. Hayek (1), S.61, S.92, oder Hayek (2), S.33. 21 Hayek (1), S.62. Da für Hayek jegliches Denken mit Abstraktion einhergeht, ist zu fragen, worin, wenn überhaupt, sich für ihn nicht-mechanistisches Denken äußert? 22 Vgl. Hayek (6), S. 15 ff. 23 Hayek (6). 24 Hayek (6), S.19. 25 Vgl. z.B. nochmals Hayek (1) S.61 und S.92. 20

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Aussagen sind Abstraktionsformen, die sich auf Klassen von Strukturen beziehen. Keinem formalen Struktural gehorchend, sondern sich im Gegenteil nach unseren Überlegungen auf nicht formal erfaßbare Dynamik beziehend, ist die Evolutionstheorie, die Hayek sodann als Beispiel für Muster-Voraussagen anführt 27 . Letztlich ist das zweifellos sehr fundamentale Konzept der MusterVoraussage zu widersprüchlich erläutert, um in dieser Form schon als gute Orientierungshilfe dienen zu können 28 . Von Evolution nicht getrennt werden können spontane Ordnungen und selbstorganisierende Systeme. Hayek erklärt beides an einer Stelle beiläufig durch negative Rückkopplungen 29 . Dem kann ebenfalls nicht zugestimmt werden. Wenn schon Rückkopplung, dann wenigstens positive Rückkopplung 3 0 , und auch diese erklärt noch nicht die Selbstorganisation, welche selbstreflexive Phänomene mit umfaßt. Obwohl zu den zentralen Aussagen Hayeks wesentliche Übereinstimmungen bestehen, läßt sich, wie aus den vorstehenden Überlegungen ersichtlich, seine Argumentation im einzelnen im Rahmen der in dieser Arbeit entwickelten Konzeption kaum nachvollziehen, ohne an vielen Stellen zu seiner Auffassung in Konflikt zu geraten 31 . Es werden daher im folgenden nur mehr einige für diese Arbeit wichtige Positionen angesprochen, ohne auf seine Argumentation im Detail einzugehen. Der für unsere Fragestellungen wichtigste Aspekt ist die überragende Bedeutung, die Hayek der Abstraktion im sozialwissenschaftlichen Kontext beimißt 32 . Die Rolle der Abstraktion wird bei uns sogar noch höher einge26 Vgl. Hayek (6) S.17. An anderer Stelle (Hayek (2) S.35) bringt er mit dem Beispiel der Kristallbildung wiederum Statistik ins Spiel. Auf S.9 in Hayek (6) schreibt er: „Systematische Konstruktion solcher neuer Muster ist die Aufgabe der Mathematik." Wiederum von Algebraik und Gleichungssystemen im Zusammenhang mit Mustern spricht er dann auf S.10. Durch solche unglücklichen Zusammenstellungen wird der Unterschied zwischen formal-analytisch gewonnenen Voraussagen innerhalb des neoklassischen Paradigmas und Hayeks Muster-Voraussagen vollkommen unklar. 27

Hayek (6) S.21 ff., vgl. auch Hayek (2) S.36. Trotz der Unstimmigkeiten in der Erklärung und trotz der unglücklichen Namensgebung (vielleicht besser Rahmen-Voraussagen), die zu vielerlei Mißverständnissen Veranlassung geben, greifen wir das Konzept der Muster-Voraussagen in Kap.6 wieder auf, allerdings nur in der Bedeutung, die das Konzept bei Hayek in Verbindung mit der Evolutionstheorie erhält (vgl. Hayek (6), S.29 ff.). 29 Hayek (4), S.256. 30 Vgl. Kap.3.2. 31 Seine eigentümliche Kombination von Realismus und Subjektivismus ist meist der tiefere Grund für die Konflikte. Dagegen wird im hier vertretenen Standpunkt versucht, sich außerhalb des von diesem Alternativenpaar aufgespannten Rahmens zu etablieren. 32 Vgl. dazu nochmals Hayek (1), S.61 ff., S.92 ff. sowie Hayek (2), S.33 und S.45. Er schreibt z.B. S.45: „Es ist die große Lehre der Wissenschaft, daß wir zum Abstrakten Zuflucht nehmen müssen, wo wir das Konkrete nicht meistern können." Hayek hat allerdings nicht nur die Bedeutung der Abstraktion sondern überhaupt die Bedeutung der 28

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

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schätzt, insbesondere haben wir schon in Kapitel 2 gezeigt, daß sie entgegen Hayeks Auffassung kein mechanisches Prinzip sein kann 3 3 . Durch Abstraktion entstehen unterschiedliche Kontextebenen, die oftmals sogar interferieren können. Indem Hayek mehrere Paradoxien herausarbeitet 34, treten auch bei ihm schon solche Interferenzerscheinungen auf, allerdings bleiben ihm ohne genaue Analyse der Abstraktionsebenen und ohne Bezugnahme auf die Typentheorie auf diesem Gebiet wichtige Instrumente versagt. Bei Hayek findet man auch, wie bei Schumpeter , die Komplementarität von theoretischer und historischer Arbeit herausgestellt 35. Für ihn sind beide Erkenntnisarten gleichermaßen erforderlich, und es wäre in seinen Worten eine „contradictio in adjecto", zu verlangen, daß Geschichte eine theoretische Wissenschaft würde 36 . Obendrein gewinnt bei ihm an einer Stelle auch der Beobachter Relevanz, indem geschichtliche Erkenntnis, relativiert durch den Standpunkt des Beobachters, an diesen gekoppelt wird 3 7 . Noch ausdrücklicher als Schumpeter grenzt sich Hayek gegen die Vorstellung einer „creatio ex nihilo" ab. Besonders deutlich wird seine Auffassung, daß Entwicklung sich nur aus dem historischen und kulturellen Kontext heraus ereignen könne, in seinen Reflexionen zur Sprache. Er schreibt 38 : „Das Ausmaß, in dem die Sprache, die wir in früher Kindheit erlernen, unsere ganze Art des Denkens und unsere Anschauung und Interpretation der Welt bestimmt, ist wahrscheinlich viel größer, als wir bis jetzt wissen. ... die Struktur der Sprache selbst enthält gewisse Anschauungen über die Natur der Welt, und indem wir eine bestimmte Sprache lernen, erwerben wir ein gewisses Bild der Welt, einen Rahmen unseres Denkens, innerhalb dessen wir uns, ohne es zu wissen, hinfort bewegen." Eine unmittelbare Folge dieser notwendigen Eingebundenheit in übergeordnete Zusammenhänge ist die Unmöglichkeit, absolut Neues zu erschaffen 39 und die dazu analoge Aussage zum Beobachtungsprozeß: „Etwas Wissensproblematik (vgl. seinen Aufsatz „Economics and Knowledge") für die Ökonomik herausgearbeitet. (Vgl. zur Bedeutung der Abstraktion in der Wissenschaft z.B. auch Heisenberg, 1984, S.151 ff.) 33 Statt von Abstraktion, haben wir dort vom Entdecken von Symmetrien gesprochen. 34 Vgl. z.B. Hayek (1), S.63, S.71, S.106 ff.; Hayek (2), S.42 oder Hayek , (6) S.26. 35 Hayek (1), S.99. 36 A.a.O. S.88. 37 Vgl. a.a.O. S.95. Die Rolle des Beobachters wäre bei ihm mit der dem Beobachter von uns zugesprochenen Bedeutung vergleichbar, würde Hayek statt seines sonst vertretenen Realismus (vgl. weiter oben) die gegenüber der geschichtlichen Erkenntnis ausgeübte relativierende Einschätzung konsequent gegenüber jeglicher Erkenntnis und vorallem auch gegenüber dem Realitäts- und Tatsachenbegriff vertreten. Gerade letzteres wäre einschneidend, da die Beobachtung dann eine völlig neue, gewissermaßen realitätkonstituierende Qualität, wie bei uns in Kap.5, bekäme. (Vgl. Hayek (1), S.61 -63, auch S.106 ff., wo Hayek den angesprochenen Standpunkt mit Ausnahme des Realitätsbegriffs tatsächlich schon einnimmt.) 38 39

Hayek, (3) S.80. Hayek , (7) S.23.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

von allem, was wir je wahrgenommen haben, völlig verschiedenes könnten wir nicht wahrnehmen." 40 Hayeks Einstellung zum „Streben nach Rationalität im Sinne einer volleren Abwägung aller voraussehbaren Folgen" 4 1 entspricht inhaltlich weitgehend den Folgerungen, die wir aus unseren Überlegungen in Kapitel 2 ziehen können, obwohl Hayek aus einem anderen, für uns nicht akzeptablen Begründungszusammenhang argumentiert 42 . Vernunft, gemäß dem obigen Verständnis, ist für Hayek Irrationalität 43 , die einer Fehldeutung der Welt, in der wir leben, entspringt 44 . Aus den Überlegungen zu formalen Sprachen in Kap. 2 müssen wir folgern, daß ein übermäßiges Setzen auf Vernunft im Sinne der rationalen Kontrolle, der deduktionistisch formalen Beherrschung der „Realität", der bewußten und konkreten Planung einer zukünftigen Gesellschaft, nicht nur dem Gedanken der freien Marktwirtschaft völlig zuwider läuft, sondern letztlich auch die Beziehungen zwischen den Menschen und die Beziehungen zwischen Menschen und Umgebung desorganisieren muß 4 5 . Hayek geht sogar soweit, daß er diesem Rationalismus die Zerstörung aller moralischen Werte zur Last legt 46 . Er schließt damit den Kreis zu einem wichtigen Ergebnis aus Kapitel 2, nämlich daß verantwortliches Handeln in einer offenen, unvollständigen Welt durch keinen Rationalkalkül substituiert werden kann. Den Schluß der Betrachtungen zu Hayek mag folgende Bemerkung von ihm bilden, die in unserem Kontext eine andere Interpretation erfährt: „And it is probably no exaggeration to say that every important advance in economic theory during the last hundred years was a further step in the consistent application of subjectivism." 47 Betrachtet man die Entwicklung vom Nutzen40

Hayek, (1) S.61. Hayek , (2) S.45. 42 Hayek bezieht sich vor allem auf die weiter oben zitierte These 1, in der für uns die Zeitproblematik zu wenig berücksichtigt ist. Ähnliche Einstellungen wie Hayek zum Rationalismus vertreten z.B. auch Capra oder Schrödinger. Bei Weizenbaum und Horkheimer findet sich eine analoge Haltung unter dem Slogan „Wider den Imperialismus der instrumentellen Vernunft". 43 Vgl. Hayek (2), S.45, Hayek (3), S.77 oder auch bei Hayek (1) bzw. (5). 44 Vgl. Hayek (3), S.84. S.87 verwendet Hayek implizit eine der zirkulären Konstruktionen, die für das Kognos-Konzept, welches in Kap.5 vorgestellt wird, von großer Bedeutung sind. Er schreibt: „...daß die Erkenntnis der Grenzen rationaler Kontrolle eine der wichtigsten Anwendungen der Vernunft ist." Ersetzt man „rationaler Kontrolle" durch „der Vernunft" dann erkennt man, daß in dieser zirkulären Aussage Vernunft in einem dynamischen, einem jenseits des Identitätspostulats der Logik liegenden Verständnis erscheint. 45 Wir müssen außerdem folgern, daß ein bislang unentdecktes Verfahren zum „Handling" mit jeglicher Komplexität nicht existieren kann. 41

46 Hayek (3), S.83. Hayek zitiert an dieser Stelle eine höchst aufschlußreiche Bemerkung von Keynes , nach der dieser gemäß eigenem Bekenntnis sehr lange einem amoralischen Rationalismus nachgehangen habe. 47 Hayek (5), S.52 (vgl. auch S.54).

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

171

konzept zu Präferenzen, Erwartungen, Plänen usw. so scheint darin die Aussage Hayeks ihre Bestätigung zu finden, aber es ist auch eine andere Deutung denkbar. So kann die Entwicklung mindestens ebenso als ein erfolgreiches Festhalten am Objektivismus (Realismus) interpretiert werden, wonach ganz im Sinne unserer These in Kapitel 2.4.1 auf reduktionistischem Wege immer neue und kleinere logische Atome (eben jene Präferenzen, Erwartungen, Pläne etc.) postuliert werden, um eine echtes Vordringen subjektivistischen Gedankengutes zu verhindern 4®.

4.3.5 Röpke Die Auseinandersetzung mit der Zeitproblematik verläuft bei Röpke implizit über die Behandlung spezieller ökonomischer Fragestellungen. Dreh- und Angelpunkt ist für ihn die Defizienz der Neoklassik in der Behandlung der Kategorie des „Neuen". Danach scheitert die Neoklassik am „Problem der Evolution, Kreativität und Komplexität" 1 . Der Zusammenhang der von ihm aufgeworfenen Fragen zum Zeitproblem ist ihm bewußt, denn er schreibt an einer Stelle: „... etwas Neues, Überraschendes, prinzipiell Unvorhersehbares ist (innerhalb der neoklassischen Ökonomik; Anm.d.Verf.) nicht möglich, das ökonomische Geschehen bleibt historisch zeitlos." 2 Daß diese Defizienz, wie von uns gezeigt, nicht einfach Ausdruck inhaltlicher Vereinfachungen, sondern notwendige Folge jedes formalen Ansatzes ist, bleibt ihm allerdings verborgen, weshalb seine Kritik am neoklassischen Paradigma entsprechend voluminös ausfällt. Sie muß zudem, da sie am Kern der Problematik vorbeigeht, zwangsläufig immer unvollständig bleiben. Besonders deutlich wird diese Fehleinschätzung in einer Bemerkung 3 , in der er eine formale Theorie der Evolution sozialer Systeme mit Bezugnahme auf die Theorie dissipativer Strukturen für möglich hält. Die Positionen, die Röpke als Antwort auf das neoklassische Paradigma einnimmt, sind, sofern man nicht nur ökonomische Ergebnisse zum Vergleich heranzieht, nicht grundsätzlich neu 4 , aber eine 48 In der vorstehenden Überlegung liegt auch der Grund, warum wir auf Hayeks Konzept des Gleichgewichts als dem Zustand wechselseitiger Kompatibilität individueller Pläne (vgl. z.B. Hayek (4), S.256; auch Hayek (14)) nicht mehr ausführlich eingehen. Es müßte nämlich erst geklärt werden, inwieweit bezüglich Hayeks Definition der Begriff des Planes statisch, als logisches Atom, oder im Sinne echter Dynamik, sich zeitlich entwickelnd, verstanden werden kann. Ähnliche Überlegungen sind ebenso bezüglich der Erwartungsbildung, des Nutzens usw. notwendig (vgl. auch Kap.3.3 zum Nutzenkonzept). 1 Vgl. Röpke, 1977, S.7. Zur Kritik Röpkes an der Neoklassik vergleiche auch seine Ausführungen S.253 ff. bzw. in unserer Arbeit weiter oben Kap.4.1 . 2 Röpke, 1977, S.21. Der Einschub in Klammern stammt vom Verfasser. Röpke wiederholt diese Bemerkung leicht verändert nochmals S.273 und bezieht sich dabei auf einen Autor namens Krüsselberg. 3

Vgl. Röpke, 1977, S.43 Fußnote 29. Dies ist nicht abwertend gemeint, Röpke verweist in seinem Vorwort selbst darauf und schließlich äußert sich Kreativität genauso in der zielgerichteten Umsetzung interdisziplinären Wissens. 4

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Vielzahl von Ergebnissen aus unterschiedlichen Disziplinen mit Schwerpunkt auf System- und Evolutionstheorie wird gebündelt und für die Ökonomik verfügbar gemacht. U m in Röpke s eigener Terminologie zu sprechen, handelt es sich um „kreative Selektion" und „Adaptation" 5 relevanter Theorien für ökonomische Fragestellungen. Der Unternehmer ist nach Röpke der Träger der schöpferischen Funktion im Teilsystem Wirtschaft 6 , er ist gewissermaßen die Keimzelle der Evolution im ökonomischen Kontext. Ähnlich wie bei Schumpeter liegt hierbei dem Unternehmerbegriff ein funktionales Verständnis zugrunde, das nicht mit der wirtschaftlichen Position des Subjekts verwechselt werden darf. Auch spricht Röpke wie Schumpeter von der Entdeckung und Durchsetzung neuer Kombinationen 7 , aber anders als jener legt er kein einseitiges Gewicht auf die Durchsetzung neuer Kombinationen, sondern für ihn ist der Unternehmer immer Ideenmann und Durchsetzer zugleich8. Unternehmerfunktion und Wettbewerb bedingen nach diesem Verständnis einander gegenseitig — um im Wettbewerb bestehen zu können, braucht der Unternehmer Ideen 9 , und umgekehrt wird der Wettbewerbsprozeß nur über Ideen echt dynamisch. Ein solcher Wettbewerb ist naturgemäß außerhalb des neoklassischen Rahmens angesiedelt. Entsprechende wettbewerbliche Systeme sind grundsätzlich keine Gleichgewichtssysteme10. Da der Unternehmer als Keimzelle der Evolution angesehen werden kann, ist zufolge der wechselseitigen Bedingtheit von Unternehmerfunktion und Wettbewerb letzterer der Evolutionsmotor komplexer Systeme11. Röpke geht in seiner Verknüpfung von Evolution und freier Marktwirtschaft sogar noch weiter und verlangt, daß Wettbewerbstheorie notwendig Teil einer Evolutionstheorie sein muß 1 2 . Von Evolution kann man nach seiner Auffassung sprechen „...wenn ein System seine Eigenkomplexität steigert oder seine Vielfalt erhöht und deswegen mehr Zustände einnehmen oder mehr Möglichkeiten tolerieren kann." 1 3 Röpke s Erklärungsansatz des evolutionären Prozesses entspricht nahezu unverändert den gängigen naturwissenschaftlichen Evolutionstheorien. So versteht er in Anlehnung an Campbell Evolution als Interaktion dreier Teilprozesse, nämlich dem Prozeß der Variation, der Selektion, sowie der Erhaltung und Ausbreitung selektierter Veränderungen 14 . Neuerungsträchtige WandlungsVorgänge sind dabei: nicht vorherseh5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Vgl. Röpke, 1977, S.82 und 83. Vgl. a.a.O. S.122. Röpke, 1980, S.134. Vgl. Röpke, 1977, S.122. Vgl. Röpke, 1980, S.144. Vgl. a.a.O. S.144 und 148. A.a.O. S.133 f. . Röpke, 1977, S.82. Röpke, 1980, S.150. A.a.O.

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

173

bare Änderungen der Umwelt, durch Systemmotivation angetriebene Umweltexploration und zufällige Mutationen 15 . Die aktive Rolle des evolvierenden Systems verweist auf die eher lamarckistische Position, die Röpke in seinem Erklärungsansatz einnimmt. Bemerkenswert ist die Einordnung von Regeln unter den Selektionsbegriff. Die Interpretation orientiert sich an Poppers Vorstellung von Theorien, wonach Theorien den Charakter von Verboten haben 16 . Analog den Theorien schließen nach Röpke auch Regeln Möglichkeiten aus, sie absorbieren Unsicherheit und schaffen somit Information 17 . Da man prinzipiell nur von einem Teil aller Möglichkeiten Kenntnis haben kann, ist nach unserer Auffassung diese Interpretation etwas zu einseitig. Insbesondere spricht sie eine Funktion der Regeln an, die diese wegen der Kenntnis-Restriktion nur beschränkt ausfüllen können. Es ist daher zweckmäßiger, stattdessen von einer Normierung durch Regeln zu sprechen. Die Reduktion von Unsicherheit durch Regeln muß streng kontextabhängig gesehen werden. So gilt z.B. nicht, daß man in Gesellschaften mit vielen Regeln weniger Unsicherheit ausgesetzt ist, als in Gesellschaften mit wenigen Regeln. Wie wir in Kapitel 5 zeigen werden, gilt sogar, daß viele Regeln zwar in einem Kontext Unsicherheit absorbieren, in einem anderen Kontext jedoch die Bildung von Unsicherheit geradezu provozieren. Röpke verweist außerdem auf einen gleichgerichteten Zusammenhang zwischen abstrakten Regeln und Freiheit 18 . Auch diese Aussage ist problematisch, sofern sie nicht genau auf ganz bestimmte abstrakte Regeln spezifiziert wird. Einmal tritt der genannte Zusammenhang nicht nur bei abstrakten, sondern auch bei konkreten Regeln auf, zum anderen lassen sich jeweils auch beliebig viele Gegenbeispiele finden. So ist das Verbot der freien politischen Meinungsäußerung zweifellos eine abstrakte Regel, aber offenbar nicht zur Förderung der Freiheit geeignet. Wesentlich für uns in Röpke s Interpretation ist auch die Betonung der schöpferischen Natur der Teilprozesse. Sowohl im Zusammenhang mit Imitation, Adaptivität als auch Selektion ist von kreativen Prozessen die Rede 19 . Etwas unbefriedigend in seiner Position bleibt allerdings die Abgrenzung von Kreativität und Originalität zu sequentiellen, deduktiven oder rationalen Problemlösungsstrategien. Weder wird die Kategorie des Neuen genau genug identifiziert, noch schließt sein Erklärungsansatz klar die Möglichkeit einer „creatio ex nihilo" aus. Weit wichtiger als dieses geringfügige Erklärungsdefizit ist ein weiterer Unterschied zu unserer Auffassung, der sich aus einem anderen Aspekt in 15

Röpke, 1977, S.79. Röpke, 1980, S.125 ff.. Auch von Hayek (vgl. Hayek (3)) wird der Institution abstrakter Regeln ein großer Stellenwert eingeräumt. 17 A.a.O. S.129. 18 A.a.O. 19 Vgl. Röpke, 1977, S.72, S.82 und S.122; vgl. auch 1980, S.131. 16

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Röpkes Ansatz ergibt. Röpke versteht die Beziehung zwischen der Evolution organischer Systeme und der Entwicklung sozio-kultureller Systeme nicht nur als Analogie, sondern sieht beide Entwicklungsphänomene sogar als identisch an, wobei nach seiner Meinung die Isomorphic der Beschreibungsansätze über einen systemtheoretischen Filter hergestellt werden kann 2 0 . Nach unserer Auffassung wird mit dieser Behauptung auf unzulässige Weise vom Beobachter abstrahiert. Eine solche Isomorphic könnte nur für einen omnipotenten Beobachter feststellbar sein, einen Beobachter, der gewissermaßen über den Dingen steht 21 . Bei Einbeziehung des Beobachters in den Erklärungsansatz ist erkennbar, daß die vermutete Identität durch den unterschiedlichen Komplexitätsgrad der Beschreibungssituationen verletzt wird. Jede Beschreibung ist eine Subjekt-Objekt-Beziehung, in der die Subjektseite nur bei einfacher Komplexität vernachlässigt werden darf. Die relativistische Komplexität in der Beschreibungssituation hinsichtlich der Evolution soziokultureller Systeme erfordert einen, den veränderten Bedingungen angepaßten, neuen Erklärungsansatz 22 . Aus diesem Grunde können die Analogien zur Evolutionstheorie für uns lediglich von heuristischem Wert sein. Der für unsere Fragestellung interessanteste Punkt bei Röpke findet sich jedoch beinahe beiläufig in der Charakterisierung des marktwirtschaftlichen Systems. Unter Bezugnahme auf eine Bemerkung von Wilden 23 zur Leistung homöostatischer Systeme schreibt Röpke: „Die Stabilität marktwirtschaftlicher Ordnungen zeigt sich damit in der Veränderlichkeit des Systems ,.." 2 4 Die selbstreferentielle Struktur der Aussage wird sofort deutlich in leicht veränderter Formulierung: Eine Invarianz der marktwirtschaftlichen Ordnung ist ihre Varianz. Während gewöhnlich zur Definition wirtschaftlicher (und anderer) Zusammenhänge lediglich die üblichen Invarianzen in ihrer objekttypischen Darstellung verwendet werden, handelt es sich hier um eine völlig andere Sichtweise25. Die Struktur der Aussage ist z.B. äquivalent zu Sokrates berühm20 Mit diesem Filter meint Röpke in der Terminologie unseres zweiten Kapitels einfach eine Abstraktion von den okkasionellen Daten, die die Symmetriebeziehungen aufdeckt. Zu Röpke s Identitäts-These siehe Röpke, 1977, S.73 f. 21 Röpke nimmt in seinem Erklärungsansatz die Position des Laplace sehen Dämons in Anspruch, eine fiktive Position, durch die er sich selbst, zweifellos ungewollt, wieder in die Nähe des neoklassischen Paradigmas rückt. 22 Zur Unterstützung der Vorstellung kann man sich dazu einen Wechsel der Fragestellung denken, wobei nicht mehr nur gefragt wird: was passiert?, sondern auch: was tut es? So wird dem Gegenstandsbereich also auch eine Subjektqualität zuerkannt. 23 Bateson, Von Foerster, Watzlawick und Wilden gehören zu den wenigen, die bereits auf die Problematik der Typentheorie hingewiesen haben. Bei Bateson ging aus diesen Überlegungen das bekannte Konzept des „Double-Bind" zur Erklärung der Schizophrenie hervor. 24 Röpke, 1977, S.43 und 1980, S.150. 25 Das sich Wiederholende ist hier die Tatsache der Nicht-Wiederholung — nichts ist so dauerhaft wie der Wandel. Durch den selbstreferentiellen Charakter wird die strikte Gesetzmäßigkeit verletzt, die Voraussetzung für jede formale Beschreibung ist (vgl. Kap. 2).

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

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tem Ausspruch: „Ich weiß, daß ich nichts weiß." Mit dieser Bemerkung hat Röpke wissend oder unwissend den Bereich formaler Ausdrucksmöglichkeiten verlassen und sich gleichzeitig jenseits des durch die Typentheorie und das Identitätspostulat der Logik gesetzten Rahmens gestellt. Über die Interferenz unterschiedlicher Abstraktionsebenen entsteht so ein neuer Aussagentyp 26 mit dem simultan der formale Bereich und das Gleichgewichtsparadigma konstruktiv überwunden wird 2 7 . Dies, obwohl Hicks noch 1979 das Gleichgewichtsparadigma zum unentrinnbaren Schicksal erklärt hatte 28 : „Now we know that the actual experience was not an equilibrium experience; there were surprises, and unforeseen changes of cause. But it is hardly possible that the hypothetical experience should not be an equilibrium experience, for it is under our control, so there can be no surprises in it. I f then we compare the actual experience, which is not an equilibrium experience, with a hypothetical experience, which is, we are cheating; so to make the comparison fair we are bond to doctor the actual, suppressing the surprises, even though we admit that they are important." Die Eliminierung von Überraschungen ist für Hicks notwendiges Element jeder ökonomischen Erklärung. Andernfalls, ohne Berücksichtigung dieser Notwendigkeit, gelte für jeden Wissenschaftler: „...he must confine himself to description." 29

4.3.6 Georgescu-Roegen In seinem bekanntesten Werk „The Entropy Law and the Economic Process" erhebt Georgescu-R. den Nachweis, daß der ökonomische Prozeß in seiner Gesamtheit kein mechanisch erklärbares Phänomen sein kann, zur Hauptaufgabe 1 seiner Untersuchung. Unter Prozeß versteht er, im Gegensatz zu einem mechanistischen Bewegungsablauf, qualitativen Wandel, dadurch daß neue Mittel, Wünsche, Regeln etc. entstehen, dadurch daß sich die Emergenz des Neuen vollzieht 2 . Als Sammelbegriff des qualitativen Wandels dient wie bei Röpke die Bezeichnung Evolution, speziell „economic evolution" 3 . Das Wirken der Evolution ist dabei für Georgescu-R. universell vorhanden, ja Wesen und 26

Diese neue Sprachform erlaubt uns in Kap.5 Aussagen zu generieren, die die Funktion von Hayek s Muster-Voraussagen erfüllen, verstanden allerdings nur im Sinne seines Beispiels zur Evolutionstheorie. 27 Wie in Kap.5 noch deutlicher werden wird, gelten diese Überlegungen trivialerweise nur bezüglich der ex ante Aussagen, da nur hinsichtlich der Zukunft Zeit noch nicht zu Struktur geronnen ist. Ansonsten gilt das, was Hicks im unten angeführten Zitat ausdrückt. 28

Hicks, 1979 (2), S.56. Hicks, 1979 (2), S.56. Mit „description" ist hier offenbar ein Analogon zu der von uns mehrfach angesprochenen „historischen Aufzählung" gemeint. 29

1 2 3

Georgescu-Roegen, 1971, S.139. Vgl. a.a.O. S.320, S.355, S.122 und S.62. Vgl. z.B. a.a.O. S.122, S.330 oder 1976, S.l.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Ausdruck alles Seienden. Er schreibt 4 : „ I n the sense proposed here evolution is reflected in the life of any individual part of the universe, be it a galaxy, a species, or a miniscule worm". Allerdings ist die Natur des Wirkens der Evolution nicht überall gleich, sondern mit bereichstypischen Unterschieden versehen. So trägt für ihn wie für Röpke die soziale Revolution eher larmarckistische Züge, was sich besonders in der (Gen-ähnlichen) Weitergabe von Werten und Institutionen durch Tradition zeigt 5 . Es sind gerade die evolutionären Aspekte des Wirtschaftsprozesses, die nach Georgescu-R. in der Standardlehre ignoriert werden: „The egregious sin of the standard economist is of another kind. Because he denies the necessity of paying any attention to the evolutionary aspects of the economic process ..." 6 Infolgedessen ist z.B. der Versuch, in der Standardlehre eine realistische Wachstumstheorie zu begründen, solange „...all happenings consist of quantitative changes within the same qualitative spectrum of commodities." 7 , prinzipiell zum Scheitern verurteilt, denn „... as the result of the mechanistic epistemology all our models of economic growth reduce this phenomenon to a complex of locomotions." 8 In Kontrast zu jeder Art „complex of locomotions" setzt Georgescu-R. die evolutionäre Entwicklung 9 , die sich nach seiner Überzeugung einer analytischen Erfassung widersetzt: „After the numberless fiascos in predicting evolutionary phenomena (some as simple as evolution of nations populations or of the value of money) by analytical formulae, the sensible conclusion is to accept the postulate that evolutionary laws are not amenable to analytical expressions." 10 Die Unmöglichkeit, die entstandenen Muster auf Kausalgesetze zurückzuführen, ist für ihn eher die Regel als die Ausnahme, was aber dennoch die Entwicklung der Natur nicht regellos werden läßt 1 1 . Entsprechend findet man auch bei Georgescu-R. wieder die Ablehnung der Vorstellung eines absoluten Neuen 12 , so daß trotz der Probleme Evolution nicht völlig unbeschreibbar erscheint: „... the most we can do is to bend our efforts to discover historical trends inspite of the difficulty and uncertainty of the task." 1 3 4

Vgl. Georgescu-Roegen , 1971, S.206. Vgl. a.a.O. S.359. 6 A.a.O. S.325, ähnlich auch S.234, S.320, S.330 und 1976, S.l ff. 7 Georgescu-Roegen, 1976 S.l; vgl. auch S.5 sowie Georgescu-Roegen, 1971, S.52 und S.234. 5

8

Georgescu-Roegen, 1976, S.l; vgl. auch S.7. Georgescu-Roegen, 1971, S.196 ff., insbesondere S.207. 10 A.a.O. S.209, vgl. auch S.330. 11 Ebenda. 12 Vgl. a.a.O. S.206 und S.209. 13 A.a.O. S.209. Es ist hier wichtig von analytisch ausdrückbaren Trends zu unterscheiden (vgl. die Diskussion dazu bei Georgescu-Roegen, S.208 f.). Man ist versucht, Georgescu-Roegens Begriff des „historischen Trends" mit Hayeks Muster-Voraussagen in Zusammenhang zu bringen. Da jedoch das Material zu einem solchen Vergleich nicht unproblematisch ist (vgl. die Diskussion zu Hayek weiter oben) sei die Analogie lediglich angedeutet. 9

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

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Schon der Titel von Georgescu-Roegens Hauptwerk „The Entropy Law and the Economic Process" verweist auf den naturwissenschaftlich ausgerichteten Denkansatz, den dieser in seiner Arbeit verfolgt. Naturwissenschaftliche Autoritäten wie Böhm, Bohr, Boltzmann, Borei , Bridgman, Broglie, Heisenberg, Planck, Poincaré , Schrödinger, Wey/ u.a. liefern wesentliche Gesichtspunkte in seiner Argumentation. Dies mag verwundern, da die mechanistische Weltsicht ja eigentlich von der Physik ausging und die Physik somit eher den natürlichen Opponenten zu Georgescu-Roegens Ansatz abgeben müßte. Tatsache ist, daß es aber gerade wieder Physiker waren (wie etwa Bohr, Heisenberg oder Schrödinger), die zu denen gehörten, die das mechanistische Weltbild wieder überwunden haben. Die Bemerkung: „Actually, the object, the instrument, and the observer form an indivisible whole...", die Georgescu-R. 1971 unter Bezugnahme auf Bohr an einer Stelle trifft 1 4 , kann als Schlüssel zum Verständnis seines Ansatzes zur Erfassung evolutionärer Vorgänge dienen. Danach gibt es Ganzheiten, die sich aus unterschiedlichen Bausteinen konstituieren, wobei in einer isolierten Betrachtung nur der Einzelbausteine zwangsläufig das Verständnis der Ganzheit verloren geht. In Georgescu-Roegens Worten „Cutting the Whole ... creates endless difficulties." 15 Die (auf Information bezogen) nicht verlustfrei mögliche Trennung der Bausteine einer Gesamtheit impliziert gleichzeitig, daß es Aspekte gibt, unter denen diese Bausteine einander überlappen bzw. fließend ineinander übergehen. Das Vorhandensein solch fließender Übergänge gibt Georgescu-R. Veranlassung eine grundlegende Unterscheidung einzuführen, nach der den isolierbaren Phänomenen „arithmomorphe" Konzepte und allen ohne scharfe Abgrenzung ineinander übergehenden Phänomenen „dialektische" Konzepte zugeordnet werden. Die Bezeichnung „arithmomorph" orientiert sich dabei an der diskreten Natur logischer bzw. numerischer Kalküle: „Since any particular real number constitutes the most elementary example of a discretely distinct concept, I propose to call any such concept arithmomorphic." 16 Für Georgescu-R. liegt in der Enge arithmomorpher Konzepte die eigentliche Restriktion des Denkens: „The arithmomorphic regidity of logical terms and symbols ends by giving us mental cramps." 17 Auch hier wird wieder die unmittelbare Verbindung zur Naturwissenschaft deutlich, wenn er schreibt: „Among the Nobel lauréats, at least P.W. Bridgman, Erwin Schrödinger, and Werner Heisenberg have cautioned us that it is the arithmomorphic concept (indirectly, Logic and mathematics), not our knowled14

A.a.O. S.68. A.a.O. S.203. 16 A.a.O. S.44. Ähnlich definiert Georgescu-Roegen S.14: „... that Logic can handle only a very restricted class of concepts, to which I shall refer as arithmomorphic for the good reason that everyone of them is as discretely distinct as a single number in relation to the infinity of all others." 17 A.a.O. S.80. 15

12

Blaseio

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

ge of natural phenomena, that is deficient." 18 Alle Probleme hinsichtlich der Erfassung des qualitativen Wandels und evolutionärer Vorgänge werden nun dem arithmomorphen Denken zur Last gelegt: „The undeniable difficult problem of describing qualitative change stems from one root: qualitative change eludes arithmomorphic schematization." 19 Die Berechtigung arithmomorpher Konzepte liegt nach Georgescu-R. allein in der Fehlerkontrolle dialektischer Argumentation 20 . Die dennoch herausragende Rolle solcher Konzepte im Wissenschaftsbetrieb führt er unter anderem darauf zurück, daß „... unfortunately, we are apt, it seems, to be fascinated by the merits of arithmomorphic models to the point of thinking only of the scalpel and forgetting the patient." 21 Den arithmomorphen Konzepten werden die dialektischen Konzepte gegenübergestellt, die mit vagen Bedeutungsumfängen operieren: „... among them are the most vital concepts for human judgements, like ,good\ justice 4 , ,likelyhood', ,want\ etc. they have no arithmomorphic boundaries; instead, they are surrounded by a penumbra within they overlap with their opposites." 22 Die im Schlußsatz zu findende Bemerkung zur Überlappung mit dem Gegenteil zeigt, daß hier ein Konflikt mit den Grundpostulaten der Logik entsteht. Wie aus seiner Definition zum dialektischen Konzept hervorgeht, versucht Georgescu-R. sich bewußt einen neuen Rahmen außerhalb des klassischen logischen Kontextes zu setzen: „ I propose to refer to the concepts that may violate the Principle of Contradiction as dialectical." 23 Zwangsläufig ist dialektische Argumentation aufgrund dieser Definition nicht mehr exakt, wenngleich sie aber nach Georgescu-R ,24 weiterhin bzw. gerade deshalb korrekt sein kann. Das dialektische Konzept liefert allerdings selbst wiederum kein neues Instrumentarium, es verweist die wissenschaftliche Denkweise zurück auf die Umgangssprache, die so eine wissenschaftliche Rennaissance zusammen mit den Forschern erlebt, die sich nicht der Masse der „formula spinners" 25 angeschlossen haben. 18 A.a.O. S.80. Neben der naturwissenschaftlichen Ausrichtung ist vor allem Hegels Einfluß zu spüren, was sich allein schon in dem Terminus „dialektisch" zur Bezeichnung vager Konzepte äußert. Daß Georgescu-Roegen dabei tatsächlich die Hegelschz Dialektik meint, wird von ihm z.B. S.63 erläutert. 19 A.a.O. S.62 f. 20 A.a.O. S.341; vgl. auch S.50. 21 Ebenda. 22 A.a.O. S.45, vgl. auch S.14. 23 A.a.O. S.46. An anderer Stelle (S.14) führt Georgescu-Roegen das Konzept noch etwas genauer aus: „... dialectical concepts, i.e., such that each concept and its opposite overlap over a contourless penumbra of varying breadth." 24 Vgl. a.a.O. S.337. 25 A.a.O. S.341. In welchem Licht die nicht-formal arbeitenden Ökonomen bislang standen, zeigt deutlich folgende Bemerkung bei Georgescu-Roegen , 1976, S.2: „But nothing may reflect the orientation of standard theory better than the censuring of the works of Karl Marx and Schumpeter of being ,vague and impressionistic 4."

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

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Dem Verlust an Exaktheit steht bei dialektischer Argumentation nach Georgescu-R. ein Gewinn an Aussagereichtum gegenüber, wobei insbesondere die evolutionären Aspekte der Wirklichkeit berücksichtigt werden können. In letzterem kann er sich vor allem auf eine Aussage Hegels stützen: „... wherever there is movement, wherever there is life, wherever anything is carried into effect in the actual world, there Dialectic is at w o r k " 2 6 — Dialektik, die er als dessen Leitmotiv interpretiert. Dialektik und Wandel erscheinen somit wie zwei Seiten ein und derselben Medaille, erkennbar z.B. in folgender Bemerkung: „... no sience can completely avoid dialectical concepts. The reason, as I have explained, is that no sience can ignore Change forever." 27 Gegenüber unseren Vorstellungen gibt es keine Differenzen zu Georgescu-R., was die Notwendigkeit der Erfassung evolutionären Wandels und den Mangel der von ihm als Standardökonomik bezeichneten Lehre betrifft. Allerdings ist nach unserer Meinung das von ihm vorgeschlagene Lösungskonzept der dialektischen Argumentation unbefriedigend 28 . Einmal wird nicht klar, wieso vage bzw. in seinen Worten „dialektische Konzepte" das Wesen des qualitativen Wandels ausdrücken. Daß zwischen ihnen eine Verbindung besteht ist natürlich naheliegend, wenn man annimmt, daß die arithmomorphen Konzepte zur Erklärung nicht hinreichen. Man könnte sich das Bild vom arithmomorphen Denken, wie es Georgescu-R. entwirft, anschaulich wie eine Photographie bei extrem kurzer Belichtungsdauer und deshalb mit hoher Auflösung bzw. scharfen Kontrasten vorstellen. Die abgebildeten Objekte sind dann leicht isolierbar und identifizierbar, jedoch ist die Information über Bewegung, Interaktion bzw. allgemein über Dynamik verloren, sofern sie der Beobachter nicht aus seinem Wissensrepertoir spekulativ ergänzt. Analog entspricht dem dialektischen Konzept eine Photographie mit vergleichsweise langer Belichtungsdauer, bei der infolge der Dynamik nur noch schemenhafte Eindrücke mit verwaschenen Konturen auszumachen sind. Es ist nun zwar möglich, hinter einer solchen Zeitaufnahme Dynamik jeder Art zu vermuten, die Natur derselben bleibt jedoch weiterhin verborgen und überdies fällt es schwer, sich des (vielleicht neoklassischen) Vorwurfs zu erwehren, der Photograph habe die Aufnahme lediglich verwackelt. Was fehlt, ist ein grundlegend neues Konzept, das Dynamik wirklich erfahrbar macht, welches die dichotome Trennung von Dynamik und Statik wiederaufhebt, ähnlich wie 26 Georgescu-Roegen, 1971, S.63. Es sei allerdings dahingestellt, ob Georgescu-Roegens Interpretation Hegelscher Dialektik ganz dem Hegelschen Geist entspricht. 27 A.a.O. S.336. 28 Unbefriedigend nicht im Sinne von falsch, sondern im Sinne unbefriedigender Orientierung. Die hier vertetene Auffassung ist, daß die dialektische Konturlosigkeit eher eine Begleiterscheinung anderer, für das Verständnis des Wandels aufschlußreicherer Phänomene, wie etwa von Zirkularitäten ist (vgl. auch weiter unten, sowie Kap.2.3.3 und Kap.5).

12*

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

der Film Photographie und Bewegung in gelungener Weise verbindet. Das dialektische Konzept ist somit eher ein Wortspiel, das die Aufmerksamkeit auf den Reichtum der natürlichen Sprache lenkt — welcher ja auch von uns betont wird (vgl. Kap.2) —, ohne aber grundsätzlich neue Möglichkeiten zu eröffnen und ohne die Funktionsweise der unscharfen Begriffsformen im Hinblick auf Wandel schlüssig zu erläutern. Diese Unschärfe wirkt in Georgescu-Roegens Darstellung eher wie ein Schleier oder Vorhang, der einen Spielraum einräumt, hinter dem sich nun Wandel vollziehen kann — Wandel, der aber deswegen genauso rätselhaft bleibt wie zuvor. Auch hat die Beziehung zwischen evolutionärem Wandel und Unschärfe bei uns einen anderen Charakter. Für uns ist evolutionärer Wandel als solcher nicht ex ante exakt beschreibbar, was der Vagheit eine metasprachliche Bedeutung (vgl. auch Kap.3.3) zumißt. Besonders aber ist dieser Wandel keineswegs auf vage Bereiche beschränkt. So findet Evolution auch innerhalb der Mathematik statt 2 9 , ohne daß deswegen dialektische Konzepte — sieht man von den umgangssprachlichen Grundlagen ab — eine besondere Rolle spielen würden. Bezüglich eines anderen Aspektes, nämlich betreffend die Verletzung des principium contradictionis, besteht zwar Übereinstimmung, aber nur hinsichtlich der Tatsache selbst und nicht hinsichtlich der Begründung. Die Verletzung des principium contradictionis und die zumeist uno actu einhergehende Übertretung des tertium non datur sind für uns nicht die auslösenden Momente, sondern nur eine Folge der Verletzung des Identitätspostulats, die sich bei jedem autonomen Wandel einstellt. Wie sich — im Zusammenhang mit Selbstreferenzen — dabei Unschärfe ergeben kann, haben wir eingehend in Kapitel 3.3 bei der Diskussion der Fuzzy-set-Theorie behandelt. Zu eben dieser Theorie lassen sich einige Parallelen in Georgescu-Roegens Ansatz finden. Beide Ansätze ziehen die selben formal-logischen Konsequenzen nach sich (Verletzung des tertium non datur und des principium contradictionis) und beide gehen von der Existenz vager Begriffe aus. Indes unternimmt Georgescu-R. keine Anstrengungen, wie Zadeh mit einer neuen formalen Sprache bei veränderter Logik in die — infolge der Ablehnung des diskretionären arithmomorphen Denkens entstandene — Lücke vorzustoßen, wenn auch einige Bemerkungen bei ihm zunächst genau in dieselbe Richtung deuten, die in der Fuzzy-set-Theorie eingeschlagen wurde. Die Zuordnung eines dialektischen Konzepts, wie etwa Demokratie zu einem Staat, kann nach Georgescu-R. kaum eindeutig entschieden werden: „... because the concept itself appears as Many, that is, it is not discretely distinct." 30 Genau diese Einschätzung ist in der Fuzzy-set-Theorie operationalisiert, in der Unscharfen Prädikaten, gemäß selbiger Interpretation als Vielheit, ganze Kontinua der Ausprägung analog dem Wahrscheinlichkeitskonzept zugewiesen werden. Scheinbare Bestätigung findet dieser Vergleich in einem Hinweis 29

Wie in Kap.2 gezeigt, kann Mathematik nicht auf eine mechanistische Argumentation zurückgeführt werden, sie ist unvollständig. 30

Georgescu-Roegen, 1971, S.45.

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

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Georgescu-Roegens , in dem er „probability" als „the most edifying dialectical concept of all" apostrophiert 31 . Genau wie Zadeh beschränkt auch er sich dabei nicht auf objektive Wahrscheinlichkeit im Sinne relativer Häufigkeit, sondern vereinnahmt auch subjektive Komponenten für sein Konzept vager Argumentation 3 2 . Indes hier endet die Analogie aprupt, denn Geogescu-R. verfolgt den mit den dialektischen Konzepten eingeschlagenen Weg konsequent weiter und ist, wie seine Überlegungen zum Begriff der Wahrscheinlichkeit zeigen 33 , nicht bereit, den Halbschatten, wie er die Vagheit nennt, eine präzise Intensität in Form einer numerischen Größe zuzuordnen. Für ihn ist „probability" ein grundlegend dialektischer Begriff und jeder Versuch einer objektivistischen Definition wird für ihn daher notwendig zirkulär und endet ergebnislos bezüglich des Objektivierungsziels in einem infiniten Regreß 34 . Bezeichnend für seine Sicht ist etwa folgende Bemerkung: „ I f probability is the ultimate element of nature, then forcibly its definition must rest on probability." 35 Die entstehenden infiniten Regresse haben mit ihrer Bodenlosigkeit für Georgescu-R. nichts Befremdliches an sich, sondern werden als natürliche Begleiterscheinungen dialektischer Prozesse akzeptiert. „Undoubtedly, a penumbra surrounded by another penumbra confronts us with an infinite regress."... „Far from being a deadly sin, the infinite regress of the dialectical penumbra constitutes the salient merit of the dialectical concepts ..." 3 6 Wenn qualitativer Wandel und historische Zeit wechselseitig aufeinander bezogen sind 3 7 , dann verändert die dialektische Sichtweise des Wandels unmittelbar auch das Bild von der Zeit. Gestützt vor allem auf Aristoteles, Bergson und Whitehead begründet Georgescu-R. die These, daß die Vorstellung eines zahlähnlichen Zeit-Augenblicks wenig Sinn ergibt: „The ultimate facts of nature vanish completely as we reach the abstract concept of point of Time." 3 8 Insbesondere lassen sich natürlich dialektische Konzepte mit ausgeprägtem 31

A.a.O. S.14. Vgl. Text zu Fußnote 22, in dem auch „likelihood" zu den dialektischen Konzepten gerechnet wird. 33 A.a.O. S.52 ff. 34 In Georgescu-Roegens Überlegungen zur Wahrscheinlichkeit besteht eine fast vollständige Übereinstimmung zu der hier vertretenen Auffassung. Während GeorgescuRoegen aber das Hauptaugenmerk seiner Überlegungen im weiteren Verlauf seiner Arbeit den dialektischen Konzepten mit ihren fließenden Konturen zuwendet, sehen wir vor allem in den zirkulären Phänomenen, die den dialektischen Konzepten zugrunde liegen, die Chance, mehr Informationen über den qualitativen Wandel, sowie insbesondere über die Subjekt-Objekt-Dichotomie (implizit auch über den Beobachter) und das Zeitphänomen zu gewinnen. 32

35 36 37 38

A.a.O. S.56. A.a.O. S.47. Vgl. a.a.O. S.69. A.a.O. S.69.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Prozeßcharakter nicht eindeutig einer arithmomorphen Zeitstruktur zuordnen (was ja die dialektischen Konzepte entbehrlich machen würde), weshalb auch der Zeit eine dem Wandel in dialektischer Sicht adäquate Form zugestanden werden muß: „The texture of Time consists not of abutting, but of overlapping durations (...). Moreover, they overlap in a dialectical, not arithmomorphic, structure." 39 Die so gewonnene Zeitvorstellung ist nun zwar nicht mehr anfallig für Widersprüche, allerdings hat sie als dialektische Amorphie auch nur noch einen eingeschränkten Orientierungswert. Immerhin gibt Georgescu-R. den Hinweis auf mögliche zeitliche Voraussagen des Wandels analog zum Entropiegesetz40 der Thermodynamik 41 , was wiederum den Vergleich zu Hayeks MusterVoraussagen nahelegt. Bemerkenswert für uns sind schließlich noch Georgescu-Roegens Überlegungen zur Stellung des Individuums in der theoretischen Ökonomik. Objektivität ist danach inkompatibel zur adequaten Erfassung des Individuums: „Objectivity, as this criterion is often called, requires then that a proper scientific description should not include man in any capacity whatever ,.." 4 2 Eine fatale Konsequenz ist demzufolge, daß gerade die Sozialwissenschaften das Individuum der Objektivität und den ihr zugeschnittenen arithmomorphen Konzepten opfern; Georgescu-R. wörtlich: „... that for a science of man to exclude altogether men from the picture is a patent incongruity." 43 Erstaunlicherweise stellt Georgescu-R. in diesen Betrachtungen keinen expliziten Bezug zwischen dem Individuum und dem qualitativen Wandel her, wie es z.B. Schumpeter in seiner Auffassung der Unternehmerrolle zum Ausdruck bringt. Hier zeigt sich offenbar die schon angesprochene Problematik seiner einseitigen Betonung der dialektischen Konzepte, die von der (nach unserer Auffassung die dialektische Sichtweise erst bedingenden) Subjekt-ObjektWechselwirkung (Zirkularität) ablenkt, und so die aktive Rolle des Subjekts, die sich vor allem auch in der Beobachterfunktion artikuliert, nicht genügend herauszuarbeiten vermag 44 .

39

A.a.O. S.130, vgl. auch S.70. Wir übergehen in unserer Besprechung Georgescu-Roegens Ausführungen zur Bedeutung der universellen Entropiezunahme für den ökonomischen Prozeß, da diese für unsere Fragestellungen nicht so relevant sind und zudem einen sehr großen Raum beanspruchen würden. Letzteres, weil einmal die Thermodynamik inzwischen u.a. durch Prigogine wesentlich weiter entwickelt wurde und weil Georgescu-Roegen den Entropiebegriff in stark verfremdeter Form hinsichtlich sozialwissenschaftlicher Probleme einführt (vgl. S.187 ff., insbesondere S.194 ff., auch S.135). 40

41 42 43 44

Vgl. a.a.O. S.138. A.a.O. S.342. A.a.O. S.343. Vgl. zu unserer Auffassung in Kap.3.3 und Kap.5.

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

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4.3.7 Shackle Während subjektivistisches Gedankengut i n der Österreichischen Schule 1 , etwa bei Kirzner u n d Hayek , noch verhalten, gewissermaßen erst unter der abschirmenden Oberfläche der objektivistischen Hypothese einer zwar weitgehend unbekannten, jedoch real existierenden Menge aller Möglichkeiten oder Gelegenheiten zum Ausdruck kam, w i r d der subjektivistische Ansatz v o n Shackle i n aller Konsequenz verfolgt. Dementsprechend massiv bezieht Shackle Stellung gegen die allgemeine Gleichgewichtstheorie, die nach seinem U r t e i l nahezu alles ignoriert, was den Menschen v o n einem A u t o m a t e n unterscheidet. Sehr plastisch drückt die sich aus solcher Ignoranz ergebende Situation folgende i m Zusammenhang m i t „expectations" gemachte Bemerkung aus: „Weather forecasting, also, w o u l d be easier i n the absence o f an atmosphere." (Shackle, 1972, S.231). Die H a u p t m o t i v e , die sich bei A b s t r a k t i o n v o n den einzelnen ökonomischen Kontexten, i n die seine K r i t i k e n eingebettet sind, immer wieder finden lassen, decken sich m i t den v o n uns gefundenen weißen Flecken i m Bedeutungsspekt r u m formaler Sprachen. Es sind dies Zeitlosigkeit, Determinismus u n d Ausschluß alles N e u e n 2 — Phänomene, die, wie w i r wissen (vgl. K a p . 2 u n d Kap.4.1), alle eine gemeinsame Wurzel haben. 1

Obwohl die Argumentation z.B. zu Hayek (der für einige Zeit Shackles „Supervisor" in London war) eine nahe Verwandschaft aufweist und durchaus auch als Fortsetzung z.B. der Überlegungen von Schumpeter interpretierbar wäre, wird Shackle von Lachmann (1976, z.B. S.54) und Littlechild (1979, S.39) nicht zur Österreichischen Schule gezählt. 2 Shackles Kritik-Schwerpunkte sind ersichtlich auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau angesiedelt, ein Umstand, der ihnen in Übereinstimmung zu unseren Überlegungen bzgl. Abstraktionen in Kap.2.3 ein sehr großes Wirkungsspektrum eröffnet (Symmetrien gemäß Kap.2.3!). Da Shackle die ihm hierdurch gebotenen Möglichkeiten in seinen breit angelegten und detaillierten Werken (z.B. Shackle 1966, 1969, 1972) weitgehend ausschöpft, ist es kaum möglich, die sich daraus ergebenden vielen kontextspezifischen Kritikpunkte hier im einzelnen wiederzugeben. Wir beschränken uns daher auf wenige Zitate, die unmittelbar die Hauptmotive widerspiegeln und in etwa den Tenor, in dem die Kritik gehalten ist, nachvollziehen lassen:

„ I n the notion of general equilibrium the rejection of time imposes itself inexorably." rr· A·· · * e « Shackle, 1972, S.254. „Time is a denial of the omnipotence of reason. Shackle, 1972,S.27, vgl. auch S.l51. „Only when novelty is eliminated and all is known can reason be that the sole guide of conduct." Shackle , 1972, S.96. „But above all, novelty, new knowledge, invention and origination are wholly alien to the rational, timeless, static system." Shackle, 1972, S.92. „... time and complete knowledge are utterly incompatible" Shackle, 1972, S.l51. „The theoretician of value shows how men would choose if there were no need for choice, if there were no possibility, no freedom, no meaning for choice." Shackle, 1979, S.$0. „Creative decision ... is unconceivable except on condition of the non-existance of a determinate future." Shackle, 1966, S.85.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Die Lektüre von Shackles Arbeiten läßt in eindrucksvoller Weise erfahren, daß subjektivistische Positionen nicht frei schwebende Hirngespinste sind, die wissenschaftliches Arbeiten in Frage stellen, sondern daß sie vielmehr notwendige Voraussetzungen abgeben, die überhaupt erst einen wissenschaftlichen Zugang zu den Kategorien des Neuen und der Zeit eröffnen. Natürlich werden die gewohnten Kategorien der Exaktheit und Objektivität durch die veränderte Gewichtung nicht obsolet. Sie verlieren allerdings ihre Unabhängigkeit, indem ihre Bedeutung subjektivistisch an das Individuum gekoppelt wird 3 . In diesem Sinne definiert Shackle (1979, S.30): „Objectivity is public and general acceptance." Mehrfach, jedoch ohne daß die volle Tragweite bereits sichtbar würde, führen seine subjektivistischen Überlegungen schon implizit auf zirkuläre Argumente, in denen das Subjekt unauflöslich in den Objektbereich involviert wird. Im Anschluß an seine Definition der Objektivität schreibt Shackle etwa: „The question whether some idea is ,objective4 is itself a matter for subjective judgment." 4 Dahinter steht unausgesprochen die Frage nach der Objektivität von Objektivitätsurteilen, offensichtlich eine analoge Konstruktion zu der bei uns in der Überschrift zu Kapitel 2.2 gestellten illustrativen Frage „Wie logisch ist die Logik?". Zur zentralen Thematik erklärt Shackle , wie schon aus den obigen Zitaten hervorgeht, die Zeitproblematik: „ I n order to reflect the human predicament, he (the economic theoretician; Anm.d.Verf.) must consider time as the fact above all facts, conditioning every thought, act and meaning." 5 Aus Shackle s Gewichtung 6 des Zeitphänomens gehen in der Folge unmittelbar viele neue Interpretationen zu ökonomisch relevanten Konzepten wie „choice", „decision", „uncertainty" etc. hervor. Zeit ist für ihn gleichsam die Quelle jeglicher Entwicklung, z.B.: „Time is what brings new knowledge." 7 3 Während Georgescu-Roegen eine objektive Darstellung und die Erfassung des Individuums für unvereinbar hält, zieht Shackle die Konsequenz aus der Tatsache, daß es eine subjektunabhängige Definition des Begriffs „objektiv" gar nicht geben kann, und koppelt den Begriff mit dem Individuum — ein nach unserer Auffassung viel eleganterer und tragfahigerer Weg. 4 Selbstreferent ist z.B. auch seine Frage nach der „expectation of change of own expectation" (Shackle, 1969, S.197 ff.) oder auch die Schlußfolgerung hinsichtlich rationaler Kalküle: „... reason cannot anticipate itself." (Shackle, 1972, S.25). 5 Shackle, 1972, S.255. Der Titel eines früheren Werkes (first edition 1958) von ihm lautet einschlägig „Time in Economics". Auch in unserer Arbeit liegt als Kern die Behandlung der Zeitproblematik zugrunde. Es ist jedoch wichtig, die nahezu äquivalenten Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit den Begriffen Subjekt, Neues und Dynamik ergeben, gleichermaßen zu berücksichtigen. 6 Während wir Shackle s Gewichtung und Interpretation der Rolle der Zeit in vollem Umfang teilen, bleibt ein Defizit hinsichtlich der Erklärung und Darstellung des Zeitphänomens selbst bestehen. Zu dessen Aufklärung beizutragen, sehen wir als das wichtigste Ziel dieser Arbeit an. 7 Shackle, 1972, S.151.

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Bevor wir auf seine Neu-Interpretationen genauer eingehen, bedarf es noch einer kurzen weiteren Abklärung seiner grundsätzlichen Position. Nachdem für ihn, ähnlich wie für Schumpeter , Neues zum Wesen des ökonomischen Prozesses gehört, und Neues deduktiv nicht erschließbar ist, fallt unter seine Abgrenzung gegenüber der Gleichgewichts-Ökonomik zugleich die Abgrenzung zur logischen Strenge, die er in aller Schärfe formuliert: „Rigid logic has a high score of succès in conquering men's minds." (1979, S.30) „Time and logic are alien to each other." (1972, S.254) oder „ I n order to achieve demonstrative proof, the economic theoretician must reject time." (1972, S.255)8. Zwar wird der Terminus „Zeit" auch in der formal-analytischen Ökonomik verwendet, Zeit in dieser Bedeutung ist allerdings, wie Shackle mehrfach erläutert 9 (vgl. auch unsere Darstellung weiter oben), entgegen ihrer Natur einer Raumachse „assimiliert". Ein weiteres Argument zur Abgrenzung gegenüber Formalwissenschaften im Sinne der Meßbarkeit und Berechnung liegt gemäß Shackle in der vagen Natur vieler seiner Objekte 10 : „Economics has veritably turned imprecision itself into a science: economics, the science of the quantification of the unquantifiable and the aggregation of the incompatible.... It has tried for a precision, certainty and reach of prediction whose basis is not there." 11 Die Nähe dieser Bemerkungen zum Ansatz der „dialektischen Konzepte" bei Georgescu-Roegen darf jedoch nicht überbewertet werden, da die Unschärfe bei Shackle einen wesentlich geringeren Stellenwert in der Argumentation einnimmt 1 2 und — im Gegensatz zur Auffassung Georgescu-Roegens — keinen so unmittelbaren und bestimmenden Bezug zu den Phänomenen Zeit und Evolution besitzt.

8 Seinen Urteilen fehlt jedoch manchmal die Basis, da sie ohne argumentative Bezugnahme auf die logisch-mathematischen Grundlagen und ohne Klärung der diesbezüglichen Konsequenzen gewissermaßen ad hoc gefällt werden. 9 Vgl. Shackle , 1972, S.277 ff., 1969, S.16 oder 1967, S.13. Wie bemerkt, weisen auf diese Reduktion auch Georgescu-Roegen sowie Mises in seinem Werk „Nationalökonomie", S.578, hin. Auf die Besprechung der wichtigen Arbeiten von Mises haben wir hier aus Platzgründen verzichtet. Hinsichtlich eines Vergleichs von Mises und Shackle siehe z.B. Lachmann, 1976, „From Mises to Shackle". 10 Wir haben auf diesen Gesichtspunkt in Shackles Argumentation bereits weiter oben anlässlich der Besprechung des Fuzzy-set-Ansatzes verwiesen. 11 Shackle , S.360, 362; vgl. auch S.9, S.48, S.72 und S.142. 12 Zentral ist für ihn eher die Stellung des Subjekts als Keimzelle echten Wandels: „ I t is not even the lack of exactness in its measurements ... but the extent to which their subjectmatter consists of thoughts and not of objects , which makes the assimilation of economic analysis to mechanical science dangerous." (Shackle, 1972, S.66). Implizit verweist diese Aussage auch auf den in weiten Bereichen selbstreferenten Charakter der Ökonomik (noch deutlicher Shackle , 1972, S.71 : „... economics is composed of thoughts about thoughts."), gleichzeitig wird aber darin auch unsere Einordnung der Ökonomik in den Bereich relativistischer Komplexität bestätigt.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Shackles Ziel ist die Vermittlung des Bildes einer sich entwickelnden Welt, in der Freiheit kein leerer Begriff ist und Gechichte sich im Sinne der Emergenz des Neuen ereignet, er schreibt: „For what I am seeking to describe is a conception of the engenderment of history, the notion of continuously originated history, of history taking form from beginnings in the extreme sense."13 Das die Geschichtlichkeit ausmachende Neue ist fraglos nicht in der Vergangenheit determiniert, sondern setzt einen Anfang, ohne ein berechenbares Ende zu sein. In Shackle s Worten heißt dies: ,Jn using these words, origin , uncause, beginning , we implicitily invoke the notion of temporare succession."14 Von dieser Grundposition aus, die die historische Zeit ins Zentrum aller Überlegungen rückt, entwickelt Shackle nun seine Interpretation menschlicher Verhaltensweisen. Insbesondere gilt sein Augenmerk natürlich, dem ökonomischen Kontext Rechnung tragend, dem Entscheidungs- und Wahlverhalten 15 . Für Shackle fungiert Wahlverhalten als Quelle der Geschichte und kann daher nicht in das neoklassische Paradigma eingeordnet werden. Es gilt vielmehr: „Economic choice does not consist in comparing the items in a list, known to be complete, òf given fully specified rival and certainly attainable results. It consists in first creating, by conjecture and reasoned imagination on the basis of mere suggestion^ offered by visible or recorded circumstance, the things on which hope òan be fixed." 16 Das Rationalvefhalten neoklassischer Prägung wird damit von Shackle nicht bestritten, sondern vielmehr ergänzt um die in seiner Sicht allerdings entscheidende „power of imagination", ohne die die Theorien des Wahlverhaltens zeitund grundlos bliebfen 17: „Theories of choice seem to be unconcerned with the 13

Shackle , 1979, S.27. A.a.O. $.19. 15 Shackles Übergang von der abstrakt-philosophischen Reflexion zür Neuformulierung menschlicher Verhaltensweisen mögen folgende Zitate skizzieren: „To supposé that origin and beginning in otir extreme senses have references in the Work of mind is to suppose that histdry can be nondeterminate and it is to suppose that this nondeterminâcy has its seat in men's power of imagination." Shackle , 1979, S.20, „Choicé which itself Contributes ih a fundamental sense, in the seiise of an fcssehtiàl origination, to the form that history takes from moment to moment..." (a.a.O. S.27) 14

odef in kortzentriertester Foriti: „... choicé as a source of history" (a.a.O. S.20). 16 Shackle , 1972,3.96. Vgl. hierzu alich z.B. 1967, S.21, 1969, S.101 oder 1979, S.20. Aus ähnlichen Überlegungen begründet Shackle auch seine Kritik an der NeumannMofgens fernsehen Spieltheorie, die wegen der rationaltypisëhen Verdrängung des „Neuen" keinen Piati für dâa in der „Realität" §o wichtige Überraschungsmoment hat (vgl. Shackle, 1972, S.92, anòh S.422 ff.; zu einer guten Charakterisierung der Spieltheorie, auf deren Öruridfage Shackles Argumentation sehr einleuchtend wird, siehe Rappoport, 1968 (3), „Critics of Garfte Theory"). 17 „ Î h e vtorld ó f metìiÌhgful choice, of choice as beginning , is the kaleidic world where imagination in action generates the unitfiagined," (Shackle, 1979, S.31; zur Zeitlosìgkeit von „choice" ohne „imagination" vgl. 1972, S.254).

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

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question of the source of the choosable entities." 18 Die Antwort auf die hierin angesprochene Frage lautet nach Shackle 19: „... choosables are originated by the chooser ." und in wesentlich abstrakterer Fassung: „... future is not there to be discovered, but must be created." 20 „Imagination" wäre freilich mit einer Welt der Sicherheit und vollständigen Information 21 nicht vereinbar. Es ist jedoch eine unbestreitbare Tatsache, daß diese Welt keine vollständige Sicherheit gewährt: „There is not certainty, therefore there can be decision; but there is bounded uncertainty, therefore there can be meaningful choice even in face of the absence of certainty." 22 „Imagination" vertritt somit im Kontext der Diskussion zum Wahlverhalten die Zeit-Kategorie, während „reason" für das Wahlverhalten neoklassischer Theorien steht. „Time divides the entire of things into that part about which we can reason, and that part about which we cannot. Yet the part about which we cannot reason has a bearing on the meaning of the part that is amenable to reason." 23 Beide Teile zusammen begründen eine komplementäre, autonome Einheit: „Imagination and Reason are two faculties that make us human." 2 4 Shackle s Bild des homo agens, der mit kreativer Imagination operiert, entspricht mehr Schumpeter s schöpferischem als Kirzners Gelegenheiten entdeckendem Unternehmer. Für Shackle „Choice ... is a seeking to realize ambitions rather than to discover preexistents." 2 5 ' 2 6 Konsequenterweise 27 18

Shackle, 1979, S.22. A.a.O. S.23. 20 Shackle , 1969, S.16, vgl. auch S.l 13. In anderer Formulierung läßt sich in bezeichnender Weise die subjektivistische Position Shackle s und die selbstreferente Struktur der Aussage herauslesen: „... there is nothing among which the individual can make a choice, except creations of his own thought." (1979, S.26) 21 Zur Problematik der Annahme vollständiger Information vgl. etwa Shackle , 1972, S.221 ff. 22 Shackle , 1969, S.271. Diese These wird von Shackle als Zentralaussage des angegebenen Werks apostrophiert. Sie findet sich in ähnlicher Form z.B. auch 1967, S.107. Zum Begriff „bounded uncertainty" vgl. die Ausführungen weiter unten. 23 Shackle , 1972, S.27. 24 A.a.O. Preface. 25 Shackle , 1979, S.27. Zur Behauptung betreffs der Gleichgewichtstheorie „... there could be no enterprise ..." vgl. Shackle , 1972, S.92. Das vollständige Wissen der Gleichgewichtstheorie vermittelt eine ganz falsche Vorstellung des wirtschaftlichen Verhaltens. „The firm's insistent, oppressive, overriding difficulty in real business life is how to gain knowledge of its situation,..." (a.a.O. S.94). 26 Als weiteres Motiv für Wahlverhalten findet sich auch das Bedürfnis fläch Ästhetik bei Shackle , a.a.O. S.24. Kategorien, wie die der Ästhetik, werden im formal-anâly tischen Paradigma, da formal nicht ausdrückbar, unterschlagen. 27 Die Konsequenz, die Shackle insbesondere fnit der ausdrücklichen Akzeptanz der Kategorie des „Neuen" demonstriert, ist allerdings mit der Preisgabt verbreiteter ontologischer Grundpositionen und defreft Ersetzung durch subjektivistisches Gedankengut gekoppelt, wie weiter oben schon besprochen wurde. 19

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

entwickelt sich daher in seiner Sicht der Wirtschaftsprozeß auch nicht auf ein Endstadium des Gleichgewichts hin, denn dies würde ganz im Gegensatz zu seiner Zeitauffassung das Ende der Geschichte bedeuten 2 8 ' 2 9 . Offensichtlich um die herausragende Rolle der Kreativität zu unterstreichen, vermeidet Shackle nicht nur den Terminus „Entdecken" sondern auch den des „Lernens", obwohl besonders letzterer implizit eine große Rolle spielt. So etwa in der Beobachtung, daß menschliches Verhalten wegen der Nicht-Wiederholbarkeit der Situation nicht in gleicher Weise wie ein naturwissenschaftlicher Zusammenhang über Labor-Experimente zugänglich ist 3 0 . Die überragende Bedeutung der „Kreativität" bei Shackle wirft die Frage auf, wo denn die Grenzen dieses Phänomens liegen, warum wir alle noch mit beiden Füßen auf der Erde stehen, um nicht zu sagen im Schlamm stecken, und es nicht gelingt, uns wie weiland Münchhausen vermittels dieser Kreativität in eine sorgenlose Zukunft zu hieven. Shackle sieht dieses Problem, und die Antwort darauf nimmt einen zentralen Platz in seiner Argumentation ein. Schrankenlose Kreativität (vgl. auch unsere früheren Ausführungen zur „creatio ex nihilo") steht offenbar im Widerspruch zur Erfahrung, ja sie würde ein Chaos verursachen und die Möglichkeit der Erfahrung selbst ad absurdum führen. Es muß offensichtlich eine Grauzone der Kreativität geben, die zwischen Willkür Und Ordnung liegt 3 1 , die gewissermaßen beides ist, oder in Shackle s Worten paradox sein muß: „... decision, which is both non-arbitrary and non-predictable. ... Decision is paradoxical." 32 A n anderer Stelle wird die Grauzone besonders deutlich: „... that in a determinisi world, decision is illusory; that in a world of certainty, it is empty; that in a world without discernible order, it is powerless." 33 28

Stattdessen entwirft Shackle das Bild einer „kaleidic world", in der instabile, gewissermaßen verletzliche gleichgewichtsartige Zustände den historischen Ablauf prägen (vgl. Shackle , 1972, S.427 ff., insbesondere S.437). 29 Kirzner argumentiert an einer Stelle (1967, S.798 f.), daß Shackles Ansatz aufgrund seiner Betonung der Kreativität eher psychologisch als ökonomisch geraten sei: „Shackle wishes tö see history as having injected into it as each instant of decision-making, a novel element not predictable from and not determined by previous history. ... Shackle is concerned with the psychology of decision-making." Dieses Argument ist nach unserer Auffassung nicht nur polemisch, es ist sogar geradezu absurd, die Zeitproblematik ausgerechnet und alleine den Psychologen aufzubürden. 30 „The one-way traffic of human history allows no repetition of the kinds of experiment which change men's ideas. They are self-destructive experiments." (Shackle, 1969, S.57). In diesen Gedanken äußert sich klar die relativistische Komplexität sozialer Zusammenhänge. Wir können das Lernverhalten anderer großenteils nicht vorwegdenken und somit auch nicht experimentell ausschliessen. 31 Hier spielt das in Kap.2 angesprochene Problem hinein, daß durch das dichotome Denken Kreativität im Nicht-Sein lokalisiert wird oder besser verschwindet und sich damit als „Undenkbares" präsentiert. 32 Shackle , 1969, S. 10. Die in seiner Formulierung liegende Verletzung des principium contradictionis legt einen Vergleich zu Georgescu-Roegens „dialectical concepts" nahe, den wir hier aus Platzgründen jedoch nur andeuten.

4.3 Zeit in der nicht formalen ökonomischen Diskussion

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Die Grauzone erhält auch einen Namen, nämlich „bounded uncertainty". Es muß jedoch betont werden, daß sie hierdurch nicht erklärt ist, sondern der Name vermag lediglich als Etikett des Problems zu fungieren, ähnlich wie der Name Gravitation das Problem der Schwerkraft keineswegs erklärt, sondern es lediglich lokalisiert. Dies zeigt auch folgende Bemerkung: „ I f history is determinate, he (man; Anm.d.Verf.) cannot alter its predestinate course. I f history is anarchy and randomness, he cannot modify this randomness nor mitigate the orderlessness of events. It is only a bounded uncertainty that will permit him to act creatively." 34 Trotz der tiefgehenden Einsichten, die obige Zitate zum Ausdruck bringen, ist die Erklärung als eigentliches Problem von Shackle noch kaum berührt worden. Shackles Leistung umfaßt die Herausarbeitung der Schlüsselstelle, die die Kreativität in sich entwickelnden ökonomischen Zusammenhängen einnimmt, die Rollenabklärung und Einordnung des Zeitphänomens, die Einsicht in den notwendig hohen Stellenwert des Subjekts, nicht nur in ökonomischen Analysen, und die Freilegung weiterer wichtiger Komponenten in der Gesellschaft, wie etwa „committment", oder „esthetic", die von der formal-analytischen Erosion des Denkens verschüttet wurden. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß mit der kreativen „imagination" in Shackle s „bounded uncertainty" erst eine Art Residualhypothese geschaffen wurde, der gerade soviele Freiheitsgrade zugestanden werden (bounded uncertainty), daß genau alle bislang ungeklärten Phänomene in ihr Platz finden. Die Erklärung des Neuen, der Zeit und des Subjekts sowie die genauere Erläuterung ihrer Funktionen stehen noch aus. Wenn wir versuchen auf diese offenen Probleme in Kapitel 5 und 6 eine weitergehende Antwort zu geben 35 , dann ist Shackle s Werk dazu allerdings die Basis, in der vor allem die Relevanz der Problemstellung in ökonomischen Zusammenhängen abgeklärt ist. Als richtungweisend zur Klärung der offenen Fragen wird folgende in Shackle s Arbeiten von mir als weitestgehend empfundene Interpretation der Kategorie des Neuen angenommen: „Novelty is the transformation of existing knowledge, its reinterpretation; in some degree necessarily its denial and refutation." 36 33

Shackle , 1966, S.74. Obwohl der Punkt sehr wichtig ist, können wir hier nicht alle Überlegungen Shackles dazu wiedergeben. Vgl. daher etwa Shackle , 1969, S.4 bis 28, S.42 ff., 1966, S.71 ff. sowie S.85 ff., 1979, S.20-23. 34 Shackle , 1966, S.86, vgl. auch 1969, S.43 (der Einschub in Klammern stammt vom Verfasser). An anderer Stelle 1966, S.l33 vermittelt Shackle eine Vorstellung von „bounded uncertainty", die auf Einsichten in zukünftiges Geschehen verweist, Einsichten, welche in dieser Form sehr an Hayek s Muster-Voraussagen erinnern. „Bounded uncertainty" bei Shackle darf nicht mit selbigem Terminus bei Simon verwechselt werden, vielmehr muß die subjektivistische Position Shackles bei der Interpretation in Rechnung gezogen werden: „We thus define uncertainty as a state of mind and as subjective." (Shackle, 1966, S.86). 35 Natürlich sind das offene Fragen, die nicht nur im ökonomischen Kontext eine Schlüsselrolle einnehmen.

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4. Subjekt und Zeit in der Ökonomik

Zweifellos haben wir erst einen Bruchteil des vielschichtigen Werks von Shackle angesprochen, in dem auch die Begriffe „expectation", „probability" und „uncertainty" 37 eine der Berücksichtigung des Zeitphänomens adäquate Bedeutung zuerkannt bekommen, und in dem Begriffe wie „surprise", „ascendancy" und „ignorance" 38 einen ökonomisch relevanten Inhalt gewinnen. Shackle s Ansatz spiegelt allerdings so weitgehend die hier vertretene Auffassung wider, daß es hierzu keiner weiteren Besprechung bedarf und statt dessen bezüglich der in der Diskussion gelassenen Lücken ein Verweis auf seine Werke genügen mag. Wichtiger scheint es zunächst zu sein, von ihm noch unbeantwortete Fragen aufzugreifen.

4.4 Symmetriebetrachtung Das Kapitel 4 beginnt mit Äquivalenzüberlegungen, deren Symmetriegesichtspunkte leicht nachvollziehbar sind. Zentral ist in der Folge dann die Symmetrie, die sich daraus ergibt, daß die aus inhaltlichen Erwägungen folgende Kritik an der formal-analytischen Ökonomik sich (nicht-zufällig) mit den durch die Form dem Inhalt auferlegten Restriktionen deckt. Die Form wird damit mehr als nur Informationsträger, sie bestimmt den Inhalt und sie trägt vor allem die formale Grundlagenkrise, ähnlich einem trojanischen Pferd, in die anwendungsorientierten Disziplinen hinein. Eine unmittelbare Konsequenz für die formal-analytische Ökonomik ist die strikte Zeitsymmetrie sowie der Ausschluß sowohl modell-immanenter Symmetriewechsel als auch der Selbstreferenz. Letzterer äußert sich in der gegenüber einem ähnlichen Gedanken in Kapitel 1 erweiterten Symmetriefigur der Abstraktion von der Abstraktion. Die Symmetrien in Kapitel 4.3 ergeben sich als einfache Beziehungen zwischen den Autoren, den Autoren und der hier aufgeworfenen Problemstellung usw. Gelegentlich, wie etwa bei Hayek oder Shackle taucht auch die Symmetriefigur der Selbstreferenz auf.

36 Shackle , 1972, S.26. Wie bei Günther (3), S.183, nachzulesen ist, handelt es sich hierbei um einen Gedanken, wie er fast identisch schon von Hegel formuliert worden ist. 37 Zu allen drei Begriffen vgl. Shackle , 1966, 1967, 1969 und 1972. 38 Zu „surprise" vgl. Shackle , 1967, 1969 und 1972 (1972 mit Bezug zur Spiel- und Werttheorie), zu „ascendancy" Shackle , 1969 und zu „ignorance" Shackle , 1972. Der Begriff „ignorance" wird vor allem von Loasby in seinem Werk „Choice, Complexity and Ignorance" aufgegriffen und dort zu einem zentralen Thema gemacht.

5. Das Kognos-Prinzip 5.1 Das Subjekt als teilnehmender Beobachter In den Überlegungen zu den vorangehenden Kapiteln sind wiederholt Grenzen sichtbar geworden, so etwa Grenzen der Exaktheit, der Beschreibbarkeit, der möglichen Vollständigkeit oder der formal-analytischen Erfaßbarkeit. Offenbar erweist sich der vermeintlich vorgezeichnete Weg der Sozialwissenschaften als zunehmend ungangbar, überdies auch als zunehmend sinnlos 1 , was die Relevanz vornehmlich der formal-analytisch hergeleiteten Ergebnisse angeht. Ein im Grunde genommen sehr negatives Resultat, das dem ersten Anschein nach die Konvergenz theoretischer sozialwissenschaftlicher Erkenntnis auf ein „rien ne va plus" postuliert. Ich betone allerdings, dies gilt nur dem ersten Anschein nach, denn tatsächlich läßt sich leicht einsehen, daß in Wahrheit genau das Gegenteil der Fall ist. Wie in Kapitel 4.2 im Zusammenhang mit der Ambivalenz neoklassischer Modellannahmen ausdrücklich gezeigt wurde, sind es nämlich gerade diese Annahmen, die der Erkenntnis enge Grenzen setzen. So unglaublich die fiktiven Eigenschaften der dem formalen Ansatz zugehörigen, gleichsam omnipotenten Modellsubjekte sind, so eng ist andererseits ihre Welt, die ihnen die Entdeckung neuer Probleme, autonome Entwicklung, Kreativität, Selbsterkenntnis, d.h. insbesondere das Erkennen ihrer Situation, Individualität usw. versagt. Eben diese unrealistischen Restriktionen werden durch unsere Ergebnisse wieder aufgehoben. Zwar bedingen diese Ergebnisse tatsächlich Grenzen, es sind jedoch im Kontext der Restriktionen Grenzen eines höheren logischen Typus. D.h. indem sie bislang angenommenen Grenzen selbst wieder Grenzen setzen, schaffen sie Freiraum, der mit den Phänomenen der Kreativität, des Wandels und der historischen Zeit besetzt werden kann. 2 Im Zuge der Aufhebung der die Autonomie ausschließenden Grenzen gewinnt Robbins' Prinzip des ökonomischen Verhaltens, der Allokation knapper Ressourcen im Hinblick auf konkurrierende Ziele 3 , ein neues Profil. Neben den 1 So unterschiedlich unsere Auffassung zu der Morgensterns sonst sein mag, es herrscht Übereinstimmung, wenn er schreibt (1963, S.43): „Man pflegt sich in der Ökonomie, angesichts einer Reihe von Fragen, die heute noch völlig ungelöst sind, allzu rasch zu beruhigen und geht auf Spezialfragen über, zu denen sich um so weniger aussagen läßt, je länger der andere Zustand andauert." 2 Die Analogie mag in mancher Hinsicht hinken, doch erinnert dieser Zusammenhang sehr an den Prozeß, durch den die Alchemie nach Aufgabe der irrigen Vorstellung, Blei in Gold verwandeln zu können, in die wissenschaftliche Chemie einmündete. 3 Vgl. Robbins, Chapter I, II.

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5. Das Kognos-Prinzip

wie bisher als vorgegeben annehmbaren Ressourcen tritt jetzt als weitere neue Ressource das geistige Leistungspotential, in dem sich die Autonomie des Handelnden artikuliert. M i t dieser Ressource wird eine neue Qualität 4 eingeführt, ihr Einsatz bedeutet Erkennen 5 sowie Selektion von Zielen, Mitteln und Alternativen. Sie ist quasi eine „Ressourcen-Ressource" oder eine „RessourcenQuelle", deren Allokation weitere Ressourcen freisetzen kann 6 . Man könnte aus der meta-sprachlichen Konstruktion schließen, daß die „Ressourcen-Quelle" für eine Menge versteckter Ressourcen steht, von denen das Wirtschaftssubjekt erst bei Zugriff auf die Quelle etwa nach Art eines zufallsgesteuerten Prozesses Kenntnis erhält. Die Annahme einer solchen Menge im formalsprachlichen Sinn, die einem platonischen Ideenhimmel gleichkäme, verbietet sich jedoch aus zwei Gründen. Einmal wäre die IdeenMenge nach unseren Überlegungen in Kapitel 2 niemals vollständig und ebenso niemals konsistent. Z.B. müßten Ideen über Ideen, insbesondere also auch Ideen über die Ideen-Menge ausgeschlossen sein. Der andere Grund ergibt sich aus der relativistischen Komplexität, die die Situation des Sozialwissenschaftlers kennzeichnet. Eine solche Situation schließt anders als die Situation der einfachen Komplexität in den Naturwissenschaften die Vorwegnahme aller Alternativen und Ideen des Gegenstandsbereichs aus, denn eine derartige Vorwegnahme wäre ebenso widersinnig wie die Vorwegnahme der eigenen Ideen. Der eigentlich substantielle Unterschied in der Interpretation liegt in der Neuaufnahme des Begriffs „Erkennen". Hierdurch kann einmal die Reduktion der Wirtschaftssubjekte in der theoretischen Ökonomik auf berechenbare, repräsentative Automatenwesen, zum andern aber auch die damit eng gekoppelte funktionale Spaltung von Wissenschaft und Gegenstandsbereich in Beobachter einerseits und Teilnehmer andererseits überwunden werden. Dem Beobachter korrespondiert im traditionellen Wissenschaftsbild der Wissenschaftler, er ist der Erkennende, er ist aber nicht Teilnehmer des von ihm beobachteten Gegenstandsbereichs. Verstünde man ihn selbst als Teilnehmer, dann würde dies 4 Es handelt sich dabei nicht um eine neue Dimension der Ressourcen, da kein formaler Raum denkbar ist, der die unterschiedlichen Abstraktionsebenen konsistent aufnehmen könnte (vgl. hierzu die ausführlichere Diskussion ab Kap.5.5). 5 Der Begriff der Selektion scheint mir übrigens den Gedanken des Aufopferns oder Opferns beiRobbins (z.B. S.25: „But if the attainment of one set of ends involves the sacrifice of others, then it has an economic aspect.") auf eine mehr pragmatische und allgemeinere Weise gerecht zu werden. 6 Über die „Ressourcen-Ressource" kommt echte Unsicherheit in die Diskussion. Beispielsweise spielt die Allokation dieser Ressource auch bei der Abfassung dieser Arbeit eine wichtige Rolle. Dabei stellt sich mir die Frage, soll ich unter den schon gefundenen Möglichkeiten wählen, oder soll ich mit ungewisser Erfolgsaussicht nach neuen, besseren Ideen oder eleganteren Formulierungen suchen. Weder sind die Ressourcen bekannt, die über den Einsatz der „Ressourcen-Quelle" freigesetzt werden, noch weiß man, ob überhaupt irgendwelche und wenn, wieviele davon, in der eingeräumten Zeit zugänglich werden. Als weiteres Beispiel kann jede Situation, in der Kreativität eine Rolle spielt, angesprochen werden.

5.1 Das Subjekt als teilnehmender Beobachter

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die bislang gescheute Thematisierung des Erkennens, d.h. philosophisch die Reflexion auf die Reflexion erfordern 7 ' 8 . Auf der anderen Seite repräsentiert das vom Wissenschaftler beschriebene Wirtschaftssubjekt den Teilnehmer — den Teilnehmer im Wirtschaftsprozeß gemäß der wissenschaftlichen Beobachtung. Um eben aber auch hier wieder die Reflexion auf die Reflexion zu vermeiden, darf dieser Teilnehmer kein Beobachter sein, und deshalb bekommt er sein Material, das Beobachtbare, vom Wissenschaftler gestellt. Das Modellsubjekt wird quasi vom Wissenschaftler in den besagten platonischen Himmel versetzt. Damit kann sich das Wirtschaftssubjekt voll und ganz der Funktion der Teilnahme widmen und geht so — ganz im Sinne des Robbinsschen Ökonomisierers — vollständig in den Rationalitätsaxiomen der Neoklassik 9 auf. Aus dem soeben skizzierten Gedankengang ergibt sich eine wichtige These: Danach ist es die in Beobachter und Teilnehmer gespaltene und daher unbefriedigende Konstellation in der Sozialwissenschaft bzw. mit anderen Worten die Verweigerung der Reflexion auf die Reflexion, aus der der größte Teil des gegenwärtigen Unbehagens in der theoretischen Ökonomiediskussion gespeist wird. In Reaktion auf dieses Unbehagen, um die in den Kapiteln 1 und 2.2.1 geforderte Symmetrie zu unserer Erfahrungswelt zu reetablieren, regen wir die vorgestellte, erweiterte Konzeption des ökonomischen Verhaltens als Ersatz für die bisherigen Vorstellungen an. Das Wirtschaftssubjekt fungiert in der

7

Wir haben in Kap.3.3 bei der Diskussion zur Vagheit einige Überlegungen zum teilnehmenden Wissenschaftler angestellt — es kam dabei zu interessanten Zirkeln und überraschenden prinzipiellen Unschärfen. 8 Die Reflexion auf die Reflexion ist nur eine andere Umschreibung dessen, was wir in Kap.l mit relativistischer Komplexität ausgedrückt haben. Ebenso sind unsere Überlegungen zur Defizienz formaler Sprachen (die nicht auf sich reflektieren können) in Kap.2, zu Unschärfe, die aus der Selbstbeschreibung resultiert in Kap.3 und zur Abstraktion von der Abstraktion am Ende von Kap.4.2 alles nur Facetten in einem Kaleidoskop, in dem jeweils der gleiche Inhalt unter neuer Fragestellung und verändertem Blickwinkel in das Zentrum der Aufmerksamkeit hineingespiegelt wird. Selbstverständlich bewegt sich die Diskussion dabei immer außerhalb der formalen Möglichkeiten, denn wie wir aus Kap.2.4.2 wissen, ist es das Charakteristikum formaler Sprachen (Identitätspostulat!), daß in ihnen nicht über sie selbst reflektiert werden kann. In unnachahmlicher Weise beschreibt Hegel (S.585) das sich in der Reflexion auf die Reflexion originär entfaltende Selbst: „Diese Substanz aber, die der Geist ist, ist das Werden seiner zu dem, was er an sich ist; und erst als dies in sich reflektierende Werden ist er an sich in Wahrheit der Geist" 9 Zu diesen Rationalitätsaxiomen gehören z.B.: — Ein Entscheidungsproblem läßt sich auf die Maximierung einer Zielfunktion zurückführen. — Die Ergebnisse einer Handlung sind deterministisch oder probabilistisch bestimmt. — Handlungsergebnisse können in eine Reihenfolge gebracht werden. Zusätzlich zur Spieltheorie: — Maximierungsabsicht der Beteiligten — Einzelne Entscheidungsträger können das Ergebnis nicht allein gestalten. 13

Blaseio

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5. Das Kognos-Prinzip

neuen K o n z e p t i o n nicht mehr nur als Teilnehmer, der i n einer strikt vorgegebenen Welt optimierendes Verhalten an den Tag legt, sondern auch als a u t o n o m erkennendes S u b j e k t 1 0 , das sich i m Erkennen die die Teilnahmebedingungen konstituierende U m g e b u n g m i t erzeugt. Das neue B i l d des H o m o oeconomicus ist somit das des teilnehmenden Beobachters 11. Z u m Aspekt des Teilnehmers bietet die ökonomische Literatur bereits eine Überfülle v o n Erkenntnissen an, so daß die Diskussion sich i m folgenden ganz auf Erkenntnisse v o m E r k e n n e n 1 2 (den Bereich relativistischer K o m p l e x i t ä t ) konzentriert.

5.2 Erkenntnis des Neuen „They (social studies; Anm. d. Verf.) deal not with the relations between things, but with the relations between men and things or the relations between man and man." Hayek (5), S.41. „... but that our data must be man and the physical world as they appear to the men." Hayek (5), S.60. U m der v o n Hayek als notwendig erachteten Differenzierung zwischen „ m e n " u n d „ t h i n g s " gerecht zu werden, ist es natürlich nicht ausreichend, den Menschen verdinglicht als berechenbares Automatenwesen i n formale Modelle hineinzuzwängen. E i n Schlüssel z u m Verständnis des Unterschieds liegt sicher i n der Kategorie des Neuen, die zufolge der v o n Whitehead betonten Äquivalenz, 10

Es muß betont werden, daß die Frage nach der Dynamik des Wissenserwerbs, des Erkennens bzw. die Reflexion auf die Reflexion von prinzipieller Bedeutung ist, daß sie mit der Zeitproblematik, d.h. jeglicher originären Entwicklung aufs engste korreliert ist (vgl. Kap.5.3) und daß sie nicht wie bei Kirzner (vgl. Kap.4.3.2) als psychologische Fragestellung abgetan werden kann. Schon Hegel sah den Unterschied klar und grenzte in der Vorankündigung zu seiner „Phänomenologie des Geistes" seine Theorie des „werdenden Wissens" gegen die Psychologie ab (vgl. Hegel S.593). Es wäre beispielsweise auch absurd, die Entwicklung von „artificial intelligence" allein den Psychologen zu übertragen. 11 Man könnte die Schwerpunkte noch etwas sensibler setzen und daher vom Wissenschaftler als dem „teilnehmenden Beobachter" und vom Wirtschaftssubjekt als dem „beobachtenden Teilnehmer" sprechen, doch für eine erste Einführung bietet eine solche Differenzierung noch kaum Vorteile bei der Orientierung. 12 In Kap.2.3.2 wurde in ausführlicher Diskussion demonstriert, daß das Erkennen von Zusammenhängen bzw. von Symmetrien selbst von überragender ökonomischer Bedeutung ist und dem Erkennenden bzw. sich effizienter Orientierenden entscheidende Vorteile verschaffen kann. In konzentriertester Form bringt dies schon die Volksweisheit „Wissen ist Macht" zum Ausdruck.

5.2 Erkenntnis des Neuen

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nach der Kreativität das Prinzip des Neuen 1 verkörpert, das Wesen des Subjekts phänomenologisch vom Objekthaften abgrenzt. Wie in Kap.4.3 angesprochen, setzt Neues nach unserer Auffassung einen Anfang, ohne berechenbares Ende zu sein. Wäre es berechenbar, dann bestünde eine klare gesetzmäßige Verbindung, eben die der formalen Herleitung aus dem Alten, d.h. den Prämissen oder dem Gegebenen. Man ist nun leicht geneigt, diese Forderung, die den primären Zugang zum Neuen als nichtformal postuliert, mit dem Wegfall jeglicher Verbindung bzw. mit der Vorstellung eines völlig von jeder Beziehung losgelösten Neuen 2 gleichzusetzen. Dies ist eine Vorstellung, die jedoch in sich widersprüchlich ist. Tatsächlich ist das absolut Neue, Einzigartige schlichtweg gar nicht vorstellbar. Etwas, das in jeder Beziehung neu wäre, würde sich durch keine uns bekannte Eigenschaft auszeichnen, es wäre weder rund noch eckig, es dürfte keinen Schatten und keine Form, keinen Wert und keinen Durchmesser haben; nichts, aber auch gar nichts aus unserer Welt dürfte sich an ihm wiederholen. Wir könnten es offensichtlich überhaupt nicht wahrnehmen, denn selbst die Eigenschaft der Wahrnehmbarkeit dürfte sich an ihm nicht wiederholen. Es wäre uns mit unseren Mitteln nicht zugänglich 3 . Wenn aber nichts absolut Neues erfunden werden kann 4 ' 5 , dann sind damit auch der Freiheit Grenzen gesetzt. Wir bleiben gewissermaßen immer in Reichweite, wir können nicht über unseren Schatten springen, den unsere Welterfahrung prägt. Das hat sicher den Vorteil, daß wir nicht einem Chaos, einer Anarchie von Ideen ausgesetzt sind, sondern immer nur gerichtet, gemessen an unserer Welterfahrung, assoziieren können. Wenn wir also weder determiniert noch frei sind, wenn es kein Neues ohne das Alte gibt, was dann? 1

Zitiert in Kap.4.1. Es muß betont werden, daß die Prädikation „neu" immer ein subjektives Urteil darstellt, selbst bei intersubjektivem Konsens bleibt die oberste Instanz dem Subjekt verhaftet. 3 Natürlich ist diese Überlegung selbst nicht neu, sie ist unter dem Gesichtspunkt der „creatio ex nihilo" in Kap.4 schon angesprochen und z.B. bei Schumpeter , Hayek , Georgescu-Roegen und Shackle angeführt. Auch außerhalb der Ökonomik z.B. bei Carnap , 1931, S.233 bis 236, Whitehead, , 1979, S.74, Schrödinger unter Bezugnahme auf Kant, 1959, S.38, A.M.K. Müller, 1974, S.314 u.a. findet sich derselbe Gedanke. Konsequent schließt vor allem Carnap, 1931, S.233: „Es kann keine Erkenntnis von prinzipiell neuer Art hinzukommen.... Daher kann uns auch kein Gott und kein Teufel zu einer Metaphysik verhelfen." 4 Die Vorstellung dieser Welt ohne jegliches Neue, also des absolut Alten läßt sich analog ad absurdum führen. 5 Außer der Unmöglichkeit, sich absolut Neues vorzustellen oder zu erfinden, ließe sich das Neue auch niemals vollständig charakterisieren, denn die vollständige Beschreibung wäre selbst schon wieder neu und müßte sich daher selbst enthalten. Wir gelangen dabei in einen infiniten Regreß analog der Menge aller Mengen oder der endlosen Selbstbeschreibung. Wie man es auch anpackt, das Neue an und für sich erweist sich als ein unfaßliches Etwas, gerade so, wie wir es anläßlich der Einordnung ins Nicht-Sein in Kap.2.2 angedeutet haben. 2

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5. Das Kognos-Prinzip

Offenbar muß erst die Fragestellung verändert werden, die Fragestellung, die in der bloßen Suche nach dem „Neuen an sich" ersichtlich in eine Sackgasse führt. Eine erfolgversprechende Annäherung an das Erkenntnisproblem der Reflexion auf die Reflexion 6 bietet vielleicht in Anlehnung an Shackle s brillante Charakterisierung des Neuen (vgl. Kap.4.3.7) die Frage: Wo liegt das Neue im Alten und umgekehrt? Eine erste Klärung mag dazu die Diskussion der von diesen beiden Kategorien etablierten zeitlichen Beziehung liefern.

5.3 Orientierung in der Zeit „Allein was ist dieser Beobachter? Ist er nicht selbst ein Prozeß in der Zeit?" Eigen, 1983, S.36.

Daß Neues, Zeit und Subjekt sehr eng miteinander zusammenhängen, braucht nach den bisherigen Überlegungen kaum noch betont zu werden. Insofern Neues das Alte ablöst, auf das Alte also zeitlich folgt, ist der Zusammenhang geradezu trivial. Die in fast allen Wissenschaften als naturgegeben akzeptierte Möglichkeit der Objektion innerhalb von Raum und Zeit und deren euklidische Operationalisierung wird in dem Augenblick kritisch, wenn der Gegenstand der Objektion bzw. die zu beschreibenden Phänomene selbst Raum und Zeit sind. Man kann die Problematik verschieben, wenn — statt nach Zeit oder Raum an sich — nach den Umständen unserer zeitlichen Orientierung gefragt wird. Damit tauschen wir den erstgenannten Zirkel gegen die Reflexion auf die Reflexion ein, dieses war jedoch ohnehin die in Kapitel 5.1 erklärte Absicht. Jede zeitliche Orientierung folgt gewöhnlich, wenn nicht gar ausschließlich periodischen Abfolgen. Beispiele hierfür sind Pulsschlag, Erdrotation, Atom-, Molekül-, Kristallschwingungen, Planetenumläufe etc. Denkbar sind auch kompliziertere periodische Verläufe, etwa beschleunigte Bewegungen, deren Charakteristik sich aber auf einen periodischen Vorgang zurückführen läßt, z.B. radioaktiver Zerfall. Sogar einfache Invarianten, die vordergründig kein zirkuläres Moment einschließen, lassen sich zur zeitlichen Orientierung ausnut6 Wie leicht einzusehen ist, liegt das Motiv der Reflexion auf die Reflexion auch der Überschrift dieses Abschnitts „Erkenntnis des Neuen" zugrunde. Die Selbstreferenz „Erkenntnis der Erkenntnis" ist etwas hinter der sprachlichen Formulierung verborgen, sie tritt aber über die Assoziationskette Neues — Kreativität ( Whitehead) — Erkenntnis klar zutage. Bemerkenswert dabei ist, daß „Erkenntnis" und „Neues" somit offenbar vom selben logischen Typus sind und infolgedessen sich in der von uns gewählten Zusammenstellung über die von der Typentheorie gesetzen Restriktionen hinwegsetzen. Allerdings sind beide Begriffe inhaltlich auch nicht deckungsgleich, der Begriff „Neues" erfaßt nur einen extremen Ausschnitt der Erkenntnis, was, wie gezeigt, in eine Sackgasse führt.

5.3 Orientierung in der Zeit

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zen, indem durch eine geeignete Übersetzungstechnik die zirkuläre bzw. periodische Natur herausgearbeitet wird. Eine solche Umsetzung ist etwa die Verwendung des Pendels unter dem Einfluß der Gravitationsinvarianten. Es ist leicht einzusehen, daß ein Zeitverständnis ohne jede Periodizität, oder besser ohne jede Wiederholung undenkbar ist. Zu beachten ist hierbei, daß im Begriff Wiederholung immer eine Vorstellung des „Alten" mitschwingt, denn das Alte wiederholt sich ja. Wäre das Spätere völlig anders als das Frühere, käme es erst gar nicht zu einer Zeitvorstellung, da dann ja auch die Erinnerung an das Alte verschwunden sein müßte. Eine ähnliche Überlegung führt zum selben Schluß. Eine wiederholungsfreie Welt wäre vollkommen ungeordnet und chaotisch, nichts wäre invariant und damit wäre auch nichts wahrzunehmen. Der Beobachter kann in diesem Falle gar kein Beobachter sein im Widerspruch zur Annahme. Freilich läßt umgekehrt reine Periodizität oder reine Wiederholung, wobei sich nur Altes iteriert ohne jegliches Neue, ebenfalls keine Zeitvorstellung zu. Wäre nämlich das beobachtende bzw. sich orientierende Subjekt in die Iteration des Gleichen, d.h. in die umfassende Wiederholung einbezogen, dann würde jedes Erkennen eines Zeitfortschritts den Kreislauf des Alten durch eben dieses neue Erkennen zerstören 1. Dadurch, daß der Beobachter zur Feststellung der Wiederholung seine Beobachtungen in Reihenfolge bringen muß, erzeugt er Abfolge und damit Bewegung bzw. Zeit. Notwendig ist also in jedem Falle das Erkennen der Periodizität oder Wiederholung (z.B. des Pendels) und dieses Erkennen ist — wie man sich leicht klarmachen kann — dann natürlich nicht selbst Teil der zu erkennenden Wiederholung, sondern demgegenüber neu. Aus den vorstehenden Überlegungen läßt sich nun ein überraschender Schluß ziehen. Es ist gar nicht möglich, Orientierung von der Zeitvorstellung begrifflich zu trennen, ebenso wie es eine zeitlose Welt mit Beobachter gar nicht geben kann. Orientierung führt zur Unterscheidung zwischen neu und alt und damit zur Zeitvorstellung, die Zeitvorstellung 2 schließlich impliziert wiederum Orientierungsleistung. Die Formulierung der Überschrift „Orientierung in der Zeit" wird damit gegenstandslos und muß ersetzt werden durch „Orientierung und Zeit" oder noch besser „Orientierung hinsichtlich des Wiederholungen-Erkennens", womit 1 Denkbar wären jetzt Gedankenspiele. So könnte man etwa analog der Vorwegnahme des Zählprozesses in der Menge der natürlichen Zahlen die Erkenntnis der Iteration vorwegnehmen und so der Emergenz des Neuen ein Ende setzten. Jedoch würde die Vorwegnahme aller Erfahrung in dem Eintreten der Erfahrung bestätigt (wieder Wiederholung!), und eben diese Bestätigung wäre wieder neu. Also kein Entrinnen dem Neuen (und natürlich nicht dem Alten), solange ein Beobachter agiert. 2 Es wäre vergeblich, hier nach dem Unterschied zwischen Zeit und Zeitvorstellung zu suchen. Vor allem wäre es schwierig, einen derartigen Unterschied anderswo als eben wieder in der Vorstellung zu piazieren.

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5. Das Kognos-Prinzip

w i r wieder a m Ausgangspunkt, der „Reflexion auf die R e f l e x i o n " 3 , angelangt wären4. Beinahe dieselben Überlegungen wie zur Zeit lassen sich natürlich auch zur Kategorie des Raumes durchführen. Eine Vorstellung des Raumes, ohne daß sich irgend etwas wiederholt, bzw., ohne daß eben eine solche Wiederholung erkannt wird, ist k a u m denkbar. Zeit- u n d Raumvorstellung bedingen sich überdies wechselseitig 5 . R a u m k a n n nicht gedacht werden ohne ein Mindestmaß an zeitlicher I n v a r i a n z 6 , d.h. aber nichts anderes als ein Mindestmaß an wiederholter intellektueller Zugänglichkeit. Umgekehrt verhält es sich, wie man leicht nachprüfen kann, ganz ä h n l i c h 7 . 3 Wir können an dieser Stelle einen Gedanken von Kap.5.2 aufgreifen und etwas weiter entwickeln. Danach waren die Begriffe Erkenntnis, Neues, Kreativität und jetzt natürlich auch Orientierung und Zeit vom selben logischen Typus. Denken wir uns, daß die Reflexion, auf die reflektiert wird, selbst schon die Reflexion auf die Reflexion ist usw., dann zeigt sich ein infiniter Regreß (hier zeichnet sich übrigens eine Verbindung zu den Überlegungen von Georgescu-Roegen ab). Die Konsequenz ist, daß wir das vorherige Ergebnis nicht revidieren müssen, denn infolge des Regresses sind die besagten Begriffe nicht einfach nur vom selben logischen Typus, sondern sie verkörpern in dieser Sicht sogar alle logischen Typen gleichzeitig. Sie gehören also in die gleiche Kategorie wie die Theorie der logischen Typen selbst. (Der infinite Regreß zeigt deutlich die Schwierigkeit, die genannten Begriffe als Objekte im klassischen Sinne zu verstehen.) Leider wird oft der Reflexionsprozess schon beim ersten Aufscheinen von infiniten Regressen abgebrochen, wo doch das Beispiel Cantors und seiner Nachfolger (wozu im weitesten Sinne auch Gödel gehört), welche sich mit den Phänomenen des Unendlichen in der Mathematik auseinandergesetzt haben, zeigt, daß gerade hier noch Ergebnisse folgen können. 4

Diese Überlegung macht im übrigen schon wieder eine Wiederholung sichtbar. Wir erhalten diesen Zusammenhang etwas später noch plastischer. 6 Dieses Mindestmaß wird in den formalen Sprachen in ein Übermaß verkehrt. So etwa in der Mathematik, in der den Elementen der Ω-Mengen ein ewiges, zeitloses und absolut unveränderliches Dasein unterstellt wird (vgl. Kap.2), womit dann auch jede Verbindung zum erkennenden Subjekt verlorengeht. 7 Wege und Anknüpfungspunkte für eine weitergehende Diskussion mögen folgende Original- und Sekundärzitate andeuten, die wir in aller Kürze ohne ausführlichen Kommentar wiedergeben. Leibniz (zitiert bei Wheeler , S. 17): „Raum und Zeit sind nicht Sachen, sondern Anordnungen von Sachen" (Wir würden weitergehend sagen: Zeit ist Erkennen von Sachen). Einstein ( bereits zitiert in Kap. 2.3.2): „Actually time and space are modes by which we think and not conditions in which we live." (Diese Vorstellung fügt sich exzellent in unseren anti-metaphysischen Orientierungsansatz) Heidegger (Sein und Zeit, Eingangsbemerkung S.l): „... Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seins-verständnisses ..." (Zeit wird damit in Übereinstimmung zu unseren typentheoretischen Überlegungen außerhalb des gewöhnlichen Objektbereichs angesiedelt, ohne jedoch, jedenfalls in unserem Sinne, zu einem metaphysichen Objekt zu werden). Kant (zitiert bei Becker, 1927, S.6): 5

5.3 Orientierung in der Zeit

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I m Orientieren w i r d also auch ein M o m e n t an der Zeit erzeugt, nicht i m Sinne einer unabhängig u n d real existierenden Zeit — was immer das sein mag — sondern i m Sinne einer Vorstellung, die zur Grundlage einer neuen Orientierung u n d damit z u m Verständnis eines zeitlichen Nacheinanders w i r d 8 . Das entscheidende Argument, das auf die letzten Ergebnisse geführt hatte, lag i m Erkennen v o n Wiederholungen 9 . H i e r i n scheint ein Schlüssel zur Reflexion auf die Reflexion verborgen zu liegen, bevor w i r aber dieses A r g u m e n t i n K a p i t e l 5.5 unmittelbar thematisieren, fragen w i r erst nach dem Erkennen v o n Strukturen, Informationen oder O b j e k t e n 1 0 .

„... dadurch daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge." (Wäre also Zeit der Anschauung als Ganzes verfügbar, dann wäre zugleich die Anschauung begrenzt; folglich bedingen Anschauung und Zeit wechselseitig ihre Offenheit). Aristoteles (zitiert bei Becker, 1927, S.649): „Zeit sei weder Bewegung noch ohne Bewegung." (Man möchte hinzufügen: weder Sein noch Nicht-Sein, sondern Werden des Seins) Becker, 1927, S.664: „Zeit ist ... principium individuationis." („principium", aber nicht „eventum individuationis"; Strukturbildung, aber nicht Struktur.) Die oben angesprochene, aus ihrem Typenreichtum resultierende Schwierigkeit, Zeit zu objektivieren, bestätigt sich in folgender Bemerkung von A.M.K. Müller, 1974, S.237: „Die Zeit ist so beschaffen, daß sie jedesmal, wenn sie als Ganzes zum Gegenstand gemacht werden soll, nur Teile aus sich heraussetzt, derart, daß das Ganze erst jenseits dieser Teile im Überschuß über sie, sich manifestiert." 8 Unsere Überlegungen sind übrigens den Vorstellungen der modernen Physik kompatibel, etwa zu der Wheelers (S. 17): „Die Zeit endet." „... daß es eine Zeit gibt, vor der keinerlei Vorher existiert." „... daß es eine Zeit gibt, nach der es keinerlei Nachher gibt." Interessanterweise wären nach dem traditionellen, von der Logik mitbestimmten Existenzverständnis alle drei Bemerkungen im Sinne der Typentheorie paradox. Sie sind es jedoch nicht, da oben gezeigt wurde, daß die Zeit und die anderen angesprochenen Begriffe mit ihrem Typenreichtum jenseits aller Typentheorie stehen und damit das klassische Objektverständnis transzendieren. 9 Dieses Argument durchzieht übrigens, nicht immer besonders betont, schon die ganze Arbeit. 10 Die Fragestellung darf nicht mit der Frage nach der „Struktur des Erkennens" verwechselt werden, welche die Antwort in der Festlegung auf Objekthaftes, eben die Struktur, schon vorwegzunehmen versucht.

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5.4 Objekt, Information und Struktur als Ergebnisse des Erkennens Das formale Informationsverständnis nach Shannon ergibt sich als Maßgröße für die Ungewißheit des Eintreffens von Ereignissen 1. Dabei wird durch das Eintreffen eines Ereignisses aus einer Menge vorgegebener, als möglich angesehener Ereignisse die diesem speziellen Ereignis anhaftende Unsicherheit beseitigt. War die Wahrscheinlichkeit des Auftretens des Ereignisses e = p(e), so wird dem tatsächlichen Eintreten von e der Informationsgehalt 1(e) = ld(l/p(e» = - ld(p(e))

(ld = logarithmus dualis)

zugeordnet. Der mittlere Informationsgehalt eines Elements aus einem Ereignisoder auch Zeichenvorrat ergibt sich dann als H = -Zp(i)*ld(p(i)). 2 Der zunächst plausibel erscheinende Ansatz krankt allerdings an den gleichen Unzulänglichkeiten, die schon den formalen Wahrscheinlichkeitsbegriff in seiner Anwendbarkeit beschränken. Wiederum wird ein umfangreiches Vorwissen beim Anwender vorausgesetzt, das allenfalls in technologisch-naturwissenschaftlichen Zusammenhängen angetroffen wird 3 . Wir kennen das Problem bereits: Erneut versucht in diesem Ansatz die in sich widersprüchliche Annahme einer Theorie aller Möglichkeiten Fuß zu fassen. Statt der Bezeichnung Informationstheorie wäre für Shannons Ansatz eher der Name Signaltheorie angebracht. Denn mit dem in der jetzigen Bezeichnung implizierten Anspruch erwächst die Gefahr, über die Interpretation des sozialen Systems als „informationsverarbeitend", Sozialwissenschaft mit einem völlig unzureichenden Informationsverständnis zu betreiben. Tatsächlich hat die formale Informationstheorie zur Information im Kontext menschlicher Kommunikation kaum mehr als Absurditäten beizusteuern. Nach einem Beispiel von Rapoport 4 beträgt der Informationsgewinn einer Person, die die Addition 2 + 2 = 4 gelernt hat, genau ld(n), wobei η die Anzahl der — der Person bekannten — natürlichen Zahlen angibt. Nach einem zweiten Beispiel beträgt die Information eines Buches, das sich mit einer ja/nein-entscheidbaren Frage (etwa: gibt es Gott?) befaßt, höchstens ein Bit. 1 Zum Informationsbegriff nach Shannon vgl. z.B. Klaus oder Rapoport, 1968 (3), S. 137 ff. 2 Der Shannonsche Informationsbegriff beschreibt den Neuigkeitswert des Übergangs von objektiv potentieller zu objektiv aktueller Information. 3 Z.B. schreibt EWeizsäcker, S.92: „ I n allen Wissenschaften hängt die sinnvolle Verwendung der Shannonschen Theorie daran, ob Auftretenswahrscheinlichkeiten für Signale aufgestellt werden können." 4 Rapoport, 1968 (2), S.141. Außer auf diesen Aufsatz von Rapoport sei zur Informationstheorie auch noch auf sein Vorwort zum selbigen Sammelband, in dem der Aufsatz erschienen ist, verwiesen, sowie auf den nachfolgend mehr betonten Beitrag von E.v. Weizsäcker zur Informationstheorie.

5.4 Objekt, Information und Struktur als Ergebnisse des Erkennens

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Zwei unterschiedlich bedeutungsvolle Mitteilungen dürften gleichen Shan«öAzschen Mitteilungswert haben, selbst wenn eine der Mitteilungen nur in einer sinnlosen Zusammenstellung von Zeichen besteht. Es ließe sich ein ganzes Kabinett höchst eigenartiger Ergebnisse zusammenstellen, welches jedoch noch nichts über das Wesen des Unvermögens aussagt. Aufschlußreicher ist dagegen die Frage nach dem Informationswert der Informationstheorie selbst, da die Informationstheorie als formale Sprache die gestellte Frage bezüglich ihrer selbst niemals beantworten kann (vgl. insbesondere Kap.2.4.2). Man benötigt zur Antwort eine Meta-Informationstheorie, welche wiederum Anlaß zur Entwicklung einer „Meta-Meta-Theorie" gibt usw. Um der Kategorie der Information gerecht zu werden, muß auch die Information über Information berücksichtigt werden; es gilt sogar, daß im Kontext der zwischenmenschlichen Kommunikation de facto fast ausschließlich nur Information über Information auftritt. Vermöge dieses selbstreferenten Charakters ist demzufolge die Information der gleichen Kategorienfamilie zuzuordnen, wie schon die besprochenen Begriffe „Subjekt", „Neues", „Kreativität", „Orientierung" und „Zeit". Die Sonderstellung und Vergleichbarkeit der Kategorienfamilie ist nicht zufällig, denn gerade weil eine untrennbare Verschränkung der Kategorien mit der Zentralkategorie des Subjekts besteht, ist eine objektadäquate Einordnung unter die Typentheorie nicht möglich 5 . Die Bedeutung der vorstehenden Überlegungen tritt klar hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, daß soziale Systeme nicht einfach nur Informationen verarbeiten, im Sinne der formal-beschreibbaren kombinatorischen Neukomposition (Teilnehmer!), sondern vor allem auch Informationen durch (kreatives) Erkennen (Beobachter!) verarbeiten. Die Hoffnung auf ein diesbezügliches, vollständiges und quantifizierbares Konzept der Information ist, wie wir mit der bisherigen Argumentation begründen können, eine Fiktion, obendrein eine verhängnisvolle, sofern sie den Blick auf die Suche nach fruchtbareren Konzepten verstellt. Das Beispiel der Informationstheorie zeigt erneut eindringlich, daß die in ihrem Ausmaß zumeist unterschätzte und in ihrer Ausstrahlung höchst 5 Sinnvoll ist es sicherlich auch nicht, die entstehende Verlegenheit der Einordnung durch die Fiktion metaphysischer Objekte zu überbrücken. Wir gehen hierbei in der Grundaussage völlig konform mit Carnap , 1931 (2), S.233ff., wenn er die Sinnlosigkeit aller Metaphysik konstatiert. Z.B. S.236 wörtlich: „Aber in Wirklichkeit liegt die Sache so, daß es keine sinnvollen metaphysischen Sätze geben kann. Das folgt aus der Aufgabe, die die Metaphysik sich stellt: Sie will eine Erkenntnis finden und darstellen, die der empirischen Wissenschaft nicht zugänglich ist." Da Carnap die logische Analyse statt dessen zum Maß aller Dinge erklärt, und wir diesen Absolutheitsanspruch sowie die kompromißlosen Invarianzannahmen der Logik (vgl. Kap.2) selbst als metaphysisch ansehen, bestehen allerdings Differenzen hinsichtlich der Konsequenzen seiner Grundaussage.

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suggestive Sedimentierung formaler Kalküle die Gefahr einer Verkrustung des Denkens heraufbeschwört. Was nicht formalisierbar ist, über das kann man dessenungeachtet immer noch reden, es muß noch lange nicht dem Wittgensteinschen Diktum des immerwährenden Schweigens anheim fallen. Wir suchen daher nach weitergehenden Konzeptionen der Information. Für gewöhnlich wird eine Erweiterung der Information nach Shannonschem Muster, die sogenannte „syntaktische" Information, um zwei weitere Dimensionen, die der semantischen Information (Bedeutung) und die der pragmatischen Information (finale Bedeutung, Zweck) propagiert. Im Kontext unserer Fragestellung vermag diese Differenzierung jedoch kaum einen Orientierungsgewinn beizusteuern, einmal weil die Bestimmung des Unterschieds zwischen Semantik und Pragmatik höchst problematisch ist, zum andern, weil mit Bedeutung und Zweck, wie die genauere Analyse zeigt, lediglich eine Substitution des Informationsbegriffs durch Begriffe aus derselben subjektbezogenen Kategorienfamilie erfolgt, was nicht weiterführt. Einen für unsere Fragestellung richtungweisenden Ansatz schlägt hingegen C.F.v. Weizsäcker (1971, S.351 ff.) in zwei zentralen Thesen vor: 1. Information ist nur, was verstanden wird. 2. Information ist nur, was Information erzeugt. 6

These 1 vérknûpft das vermeintliche Ansichsein der Information unmißverständlich über den Prozeß des Verstehens mit der Kategorie des Subjekts. These 2 verweist darüberhinaus auf die ganze, dem Subjekt zugeordnete Kategorienfamilie, indem implizit die Begriffe des Neuen und der historischen Zeit angesprochen werden. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Subjektbezogenheit ergeben, sind erheblich, denn der Informationsbegriff ist mit einer Reihe weiterer, scheinbar eigenständiger Begriffe aufs innigste verzahnt. So umschließt Information nicht nur von der Wortbildung her die Form, sondern auch die lateinische Wurzel „informare" bestätigt die Verwändschaft. Über die Assoziationskette Form-* Struktur-»Objekt 7 eröffnet sich somit aus dem Informationsbegriff der Zugang zurli Gegenständlichen. Beachtet man dabei unsere subjektbetonte

6

Ähnlich schreibt Wilden, 1972, S. X X I : „Knowledge without use, like pure information, signifies nothing." 7 A.M.K. Müller, 1974, S.334 schreibt ähnlich: „Das waà an der Begegnung objektivierbar ist, ist Struktur, also Form." E.V. Weizsäcker, S.97: „Jeder Gegenstand uftd alles worûbèr man reden kaiin, hat Struktur." Bei Weizsäcker, $.94 und Janisch, S.88, wird folgende tiichi-Shannonscht Définitioii der Information von P. Pong zitiert: „Information ist jdgliche, nicht zufallige räumliche oder Zeitliche Struktur oder Beziehung von Größen."

5.4 Objekt, Information und Struktur als Ergebnisse des Erkennens

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Interpretation der Information, die auch von C.F.v. Weizsäcker in seinen Thesen geteilt wird, dann erhält man zunächst folgende Konstellation: Subjekt